Kritische Texte und Deutungen: Band 6 Ginevra 9783110932799, 9783484107342

The present volume in the ongoing historical-critical edition of Ferdinand von Saar's works is devoted to "Gin

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German Pages 268 Year 1996

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Table of contents :
Vorwort
I. Text
1. Ginevra. Kritischer Text
2. Ginevra. Text der Handschrift mit integralem Apparat
II. Kritischer Apparat
1. Editorische Hinweise
2. Zur Gestaltung des Apparates
3. Sammelvarianten
a. Vokalismus und Konsonantismus
b. Groß- und Kleinschreibung
c. Angleichung von Fremdwörtern an deutsche Schreibung und Lautung
d. Der Apostroph
4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis
III. Text- und Wirkungsgeschichte
1. Die Handschrift (H: 1889)
a. Die Entstehung
b. Beschreibung von H
c. Erste Reaktionen
2. Die Erstveröffentlichung in den Dioskuren (J1: 1890)
3. Die Ausgabe Frauenbilder (F: 1891, Jahresangabe 1892)
a. Plan und Erscheinen von F
b. Die Überarbeitung für F
c. Die Rezeption der Erzählung (F) 1891-1892
4. Die 1. Ausgabe der Novellen aus Österreich in zwei Bänden (N3: 1897)
a. Plan und Erscheinen von N3
b. Die Überarbeitung für N3
5. Der Abdruck in Moderne Kunst (J2: 1902/03)
6. Die 2. Ausgabe der Novellen aus Österreich in zwei Bänden (N4: 1903, Jahresangabe 1904)
a. Auseinandersetzungen mit Georg Weiß
b. Die Überarbeitung für N4
7. Der Abdruck bei Reclam (R: 1904)
8. Entwicklung und Abhängigkeiten der autorisierten Ausgaben
9. N4 als Grundlage des kritischen Textes
10. Ginevra in der wissenschaftlichen Literatur
a. Ginevra als Saars positivstes Frauenbild
b. Ginevras epigonale Abhängigkeit von Turgenjews Frühlingsfluten
IV. Deutung
1. Die Täuschung des Ich-Erzählers
a. Das erzählende Ich
b. Ginevra
c. Lodoiska
d. Das erlebende Ich
2. Die erzählten Tatsächlichkeiten
a. Das Erzählen
b. Ginevra
c. Lodoiska
d. Der zeitgeschichtliche Hintergrund
3. Die "Erfindung" des Dichters
a. Die Konfiguration
b. Der Aufbau
c. Die Symbolik
d. "Frauenbilder"
e. Die naturwissenschaftlichen und philosophischen Bezüge
f. Die literarischen Bezüge
V. Bibliographie
1. Quellen
a. Textzeugen
b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars
c. Verträge und Abrechnungen
d. Briefe von und an Saar
e. Sonstige zitierte Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
a. Literatur zu Saar und Ginevra
b. Sonstige zitierte Literatur
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Kritische Texte und Deutungen: Band 6 Ginevra
 9783110932799, 9783484107342

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FERDINAND VON SAAR KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN Herausgegeben von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben Sechster Band

FERDINAND VON SAAR

KRITISCHE TEXTE UND DEUTUNGEN

Herausgegeben von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben

SECHSTER BAND Ginevra

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1996

FERDINAND VON SAAR

GINEVRA

Kritisch herausgegeben und gedeutet von Stefan Schröder

MAX NIEMEYER VERLAG TUBINGEN 1996

In dieser Ausgabe ist vorher bereits erschienen (im Bouvier Verlag, Bonn): Band l Band 2 Band 4 Ergänzungsband l

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen l hrsg. von Karl Konrad Polheim und Jens Stuben. - Tübingen : Niemeyer. Teilw. im Bouvier-Verl., Bonn NE: Polheim, Karl Konrad [Hrsg.] Bd. 6. Schröder, Stefan: Ferdinand von Saar, Ginevra. - 1996 Schröder, Stefan: Ferdinand von Saar, Ginevra / kritisch hrsg. und gedeutet von Stefan Schröder. - Tübingen, Niemeyer, 1996 (Ferdinand von Saar, kritische Texte und Deutungen ; Bd. 6) NE: Saar, Ferdinand von: Ginevra ISBN 3-484-10734-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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I. Text

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1. Ginevra. Kritischer Text 2. Ginevra. Text der Handschrift mit integralem Apparat

II. Kritischer Apparat

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89

1. Editorische Hinweise

91

2. Zur Gestaltung des Apparates

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3. SammelVarianten a. Vokalismus und Konsonantismus b. Groß- und Kleinschreibung c. Angleichung von Fremdwörtern an deutsche Schreibung und Lautung d. Der Apostroph

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4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis

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III. Text- und Wirkungsgeschichte

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1. Die Handschrift (H: 1889) a. Die Entstehung b. Beschreibung von H c. Erste Reaktionen

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2. Die Erstveröffentlichung in den Dioskuren Q1: 1890)

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3. Die Ausgabe Frauenbilder (F: 1891, Jahresangabe 1892) a. Plan und Erscheinen von F b. Die Überarbeitung für F c. Die Rezeption der Erzählung (F) 1891-1892

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4. Die 1. Ausgabe der Novellen aus Österreich in zwei Bänden (N3: 1897) a. Plan und Erscheinen von N3 b. Die Überarbeitung für N3

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5. Der Abdruck in Moderne Kunst (J2: 1902/03)

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6. Die 2. Ausgabe der Novellen aus Osterreich in zwei Bänden (N4: 1903, Jahresangabe 1904) a. Auseinandersetzungen mit Georg Weiß b. Die Überarbeitung für N4

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7. Der Abdruck bei Reclam (R: 1904)

141

8. Entwicklung und Abhängigkeiten der autorisierten Ausgaben

143

9. N4 als Grundlage des kritischen Textes

144

10. Ginevra in der wissenschaftlichen Literatur a. Ginevra als Saars positivstes Frauenbild b. Ginevras epigonale Abhängigkeit von Turgenjews Früklingsfluten

145 146

IV. Deutung

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1. Die Täuschung des Ich-Erzählers a. Das erzählende Ich b. Ginevra c. Lodoiska d. Das erlebende Ich

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2. Die erzählten Tatsächlichkeiten a. Das Erzählen b. Ginevra c. Lodoiska d. Der zeitgeschichtliche Hintergrund

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3. Die "Erfindung" des Dichters a. Die Konfiguration b. Der Aufbau c. Die Symbolik d. "Frauenbilder" e. Die naturwissenschaftlichen und philosophischen Bezüge f. Die literarischen Bezüge

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V. Bibliographie

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1. Quellen a. Textzeugen b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars c. Verträge und Abrechnungen d. Briefe von und an Saar e. Sonstige zitierte Primärliteratur

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2. Sekundärliteratur a. Literatur zu Saar und Ginevra b. Sonstige zitierte Literatur

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Vorwort Die in diesem Band der Historisch-Kritischen Saar-Ausgabe vorliegende Erzählung bietet in vielerlei Hinsicht neue aufschlußreiche und ergänzende Aspekte für das Verständnis Ferdinand von Saars. Ergänzend kommt hinzu, daß hier - ein seltener Fall - die Handschrift vorliegt, die in allen ihren Textbewegungen (mit integralem Apparat) wiedergegeben ist. Der Abdruck erleichten den so gern zitierten "Blick in die Werkstatt des Künstlers" und zeigt die lang andauernde, akribische Arbeit an Form, Stil und Symbolik der Erzählung. Meinen akademischen Lehrern danke ich für viele Anregungen, besonders Prof. Dr. Karl Konrad Polheim, der die Entstehung dieses Buches stets mit großem Interesse, konstruktiver Kritik und Geduld gefördert und begleitet hat. Mein Dank gilt auch der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und nicht zuletzt dem Bezirksmuseum Döbling, die meine Forschung in jeder Form unterstützten. Schließlich danke ich meinen Eltern, ohne deren langjährige Anteilnahme diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.

Bonn, Januar 1996 Stefan Schröder

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I. Text

1. Ginevra von Ferdinand von Saar

Kritischer Text auf Grund der vierten Auflage von Saars Novellen aus Osterreich 1904 (N*)

Das Diner war vorüber und die kleine Tischgesellschaft begab sich in den Garten der Villa, um dort den Kaffee zu nehmen. Nachdem man sich auf einer Terrasse niedergelassen, die den Ausblick auf die umliegenden Höhen und einen Teil der Stadt eröffnete, sagte die Hausfrau: „Erzählen Sie uns 5 doch endlich von dieser Ginevra, lieber Oberst. Versprochen haben Sie es längst. Jedenfalls muß sie etwas ganz Besonderes gewesen sein, da Sie noch immer mit einer An Andacht ihrer gedenken. Lassen Sie sich daher nicht bitten. Wir sind ganz unter uns, und hoffentlich kommt kein unerwarteter Besuch, der Sie unterbrechen könnte." 10 Der Oberst, ein hochgewachsener, schlanker Mann in bürgerlicher Kleidung, blickte nachdenklich auf die Glimmfläche der Zigarre nieder, die er sich soeben angezündet. „Nun denn," sagte er, „wenn Sie wollen, soll es geschehen, obgleich ich befürchten muß, ein recht unüberlegtes Versprechen gegeben zu haben. Denn was ich vorbringen kann, ist eigentlich doch nur 15 eine veraltete Liebesgeschichte, welche, wenn sie heute gedruckt würde, vielleicht niemand mehr lesen möchte. Indes, wie gesagt, wenn Sie es wirklich wünschen, bin ich bereit. Ist es doch ein Genuß, wenn auch ein schmerzlicher, sich in die goldenen Tage der Jugend zurück zu versetzen.

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Ich war zwanzig Jahre alt und Fähnrich bei einem Regiment, das einen Teil der Friedensbesatzung von Theresienstadt bildete. Diese Festung mag - abgesehen von ihrer anmutigen Lage in einem der gesegnetsten Landstriche Böhmens - auch noch heute kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort sein; damals aber - in den Vierziger Jahren - konnte er wahrhaft trostlos 25 genannt werden. Denn außer dem großen, mit zwei Baumreihen umpflanzten Hauptplatze, der fast durchgehends militärische Gebäude aufwies, gab es dort nur vier Gassen. Sie führten in den entsprechenden Windrichtungen nach den Toren und Wällen und bestanden zumeist aus kleinen, hüttenähnlichen Häusern, in denen sich Krämer und Handwerker, Bierwirte und 30 Branntweinschänker angesiedelt hatten. Die Offiziere waren daher ganz und gar auf den kameradschaftlichen Verkehr angewiesen, und wir Jüngeren führten nicht eben das erbaulichste Dasein. In den Vormittagsstunden mehr oder minder dienstlich beschäftigt, verbrachten wir die übrige Zeit im Militärkasino am Billard und am Spieltische, oder begaben uns nach der jenseits 35 der Elbe gelegenen Kreisstadt Leitmeritz, wo wir zum Mißvergnügen der ehrsamen Pfahlbürger in Kaffee- und Gastwirtschaften sehr anspruchsvoll 11

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auftraten, leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen suchten, und nach der Rückkehr in die Festung begaben sich manche noch in ein höchst zweifelhaftes Lokal, um dort halbe Nächte bei Punsch und Glühwein zu durchschwelgen. Was nun mich selbst betraf, so machte ich dieses wüste, gedankenlose Treiben schon deshalb mit, weil man sich nicht ausschließen konnte. Zudem war ich jung, und nach der strengen Zucht, die ich früher in einem Kadettenhause erdulden mußte, hatten derlei Ausschreitungen für mich den Reiz der Neuheit. Mein Oheim, der mich, den früh Verwaisten, gewissermaßen an Sohnesstatt angenommen und einen ziemlich hohen und einflußreichen Posten beim damaligen Hofkriegsrate bekleidete, setzte mir eine ganz ansehnliche Geldzubuße aus; ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb. So kam es auch, daß ich eines Abends, im Karneval, einsam und nachdenklich in meiner öden Kasernenwohnung saß und mich höchst unglücklich fühlte, und zwar aus folgendem Grunde. Der Festungskommandant, ein invalider General, erfreute sich einer Tochter, welche zwar weder besonders jung, noch besonders hübsch zu nennen war, aber schon vermöge ihrer Stellung Anreiz genug besaß, um einem Neuling, wie ich, den Kopf zu verdrehen. Sie war auffallend schlank gewachsen, hatte glänzend schwarze, stechende Augen, sehr weiße, leicht zwischen den Lippen hervorstehende Zähne, und wußte ihren etwas vergilbten Wangen durch zartes Auflegen von Rot künstliche Frische zu verleihen. Bei erfahrenen Kameraden galt sie als ausbündige Kokette, und man hatte mich gleich anfangs, halb im Scherz, halb im Ernst, vor ihr gewarnt. Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anläßlich einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Oratorium der Garnisonskirche beiwohnte. Obgleich sie sehr andächtig in ihr Gebetbuch versunken schien, konnte ich doch bemerken, daß sie von Zeit zu Zeit nach mir hinblickte, anfänglich nur so von der Seite, dann aber mit Zuwendung des Antlitzes immer länger und eindringlicher. Ich glaubte dies umsomehr zu meinen Gunsten auslegen zu dürfen, als sie fortan stets hinter den Fensterscheiben erschien, wenn ich - und das geschah mehrmals des Tages - am Kommandantenhause vorüberging; ja einmal konnte ich sogar wahrnehmen, daß sie in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl gestiegen war, um mich von dort aus, wie sie wohl meinte, ungesehen beobachten zu können. Ich hatte daher keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr endlich persönlich näher zu treten, und der offizielle Ball, den ihr Vater demnächst zu geben verpflichtet war, erschien mir als huldvollste Gelegenheit. Ich stellte mir bereits sehr lebhaft vor, wie auch s i e diesem Abend sich entgegen freue, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze 12

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vereint dahinfliegen würde - und was dergleichen jugendliche Erwartungen mehr waren. Aber ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung vollständig ohne den Wirt gemacht. Denn zu dem Balle wurden auch auswärtige Gäste geladen, und unter diesen befanden sich neben höheren Standespersonen vom Zivil auch die Offiziere eines Chevauxlegers-Regiments, das auf dem platten Lande stationiert war. Da hatte ich nun den Schmerz, zu sehen, wie diese interessanten Ankömmlinge die Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses derart auf sich lenkten, daß diese für mich keinen Blick, und als ich mich später vorstellen ließ, auch kein aufmunterndes Wort übrig hatte. In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht den Mut, sie zum Tanze aufzufordern, und während die Grausame fast die ganze Zeit über von einem sehr aristokratisch aussehenden Rittmeister in Beschlag genommen wurde, fiel mir durch ein Verhängnis, wie es derlei Niederlagen stets zu begleiten pflegt, die schwindsüchtige Tochter eines Kreisrates zu, welche, da sie sonst niemand aufzufordern Lust bezeigte, mit ihren rötlich blonden Schmachtlocken gleich einer Klette an mir hing, bis ich mich endlich, sobald dies in anständiger Weise geschehen konnte, aus dem Staube machte und vom Balle verschwand. So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen den kahlen vier Wänden, während die Dämmerung längst hereingebrochen war und ich kaum mehr die Rauchwolken sah, die ich aus einer langen Pfeife mechanisch vor mich hinblies. Plötzlich vernahm ich hastige Tritte, die sich draußen auf dem Gange der Tür näherten; diese wurde polternd aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien eine mantelumhüllte Gestalt, die sich schwarz in schwarz von der sie umgebenden Dunkelheit abhob. „Bist du hier?" rief eine kräftige, etwas schnarrende Stimme, an welcher ich sofort einen meinen näheren Freunde, den Leutnant Dorsner, erkannte. Und da ich mich jetzt bemerkbar machte, fuhr er eintretend fort: „Zum Teufel, was treibst du denn da im Finstern?" Ich legte die Pfeife weg und zündete eine Kerze an, bei deren zweifelhaftem Schein ich wahrnahm, daß Dorsner, der jetzt den Mantel auseinanderschlug, in eine schmucke, ganz neue Halbuniform gekleidet war und Lackstiefel an den Füßen hatte. „Ich gehe nach Leitmeritz hinüber", sagte er, meine Frage vorweg nehmend. „Es ist heute dort Ball auf der Schießstätte. Und du sollst mit mir kommen." „Wir sind ja gar nicht geladen." „Das tut nichts. Ich habe einer Dame versprochen, zu erscheinen, und so muß es geschehen."

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Ich wußte, daß er in geheimnisvollen Beziehungen zu der hübschen Tochter eines wohlhabenden Lohgerbers stehe, die er auch später geheiratet hat. „Gut," erwiderte ich; „aber wie willst du das anfangen?" „Ganz einfach; ich gehe eben hin. Was bleibt den Herren 'Ballausschüssen' anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aber deshalb siehst du auch ein, daß ich nicht ganz allein dort erscheinen kann. Ich hatte mich schon mit Heillinger verabredet; aber dieser ist im letzten Augenblick verhindert worden. Also tu' mir den Gefallen." Aber ich war an diesem Abend zu derlei Unternehmungen ganz und gar nicht aufgelegt und wand daher neuerdings ein: „Und wenn man erfährt, daß wir dort waren? Du weißt doch, wie sehr man höheren Orts dagegen ist, daß wir an derlei Unterhaltungen teilnehmen?" „Unterhaltungen? An was für Unterhaltungen?" rief er ärgerlich. „Es kommen die anständigsten Bürgerfamilien von Leitmeritz zusammen. Und überdies: auf einen Verweis mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Seit wann bist du denn so ängstlich geworden? Ich, als dein Vorgesetzter, befehle dir, mit mir zu gehen. Vorwärts! Marsch!" Noch immer konnte ich mich nicht entschließen und schützte Unwohlsein vor. Ich hätte mich auf dem Kommandanten-Balle erkältet. „Ach was! Flausen! Derlei Erkältungen tanzt man sich am besten gleich wieder aus dem Leibe. Und gib acht, was für Mädchen du da drüben in die Arme bekommen wirst. Ganz andere Geschöpfe, als diese dürren Gliederpuppen, wie sie gestern an uns herumbaumelten." Ich sah, daß es kein Entrinnen gab und da endlich doch auch der Gedanke einer möglichen Zerstreuung in mir auftauchte, so erklärte ich mich schließlich bereit und ging daran, mich umzukleiden, während Dorsner ebenfalls von Zeit zu Zeit vor den kleinen Wandspiegel trat und sein dichtes, von Natur gekräuseltes Haar unternehmend auflockerte. Endlich war ich fertig, und wir traten, die Festung hinter uns lassend, den Marsch nach Leitmeritz an. Tagsüber war Tauwetter eingefallen; nun aber hatte der Boden, sehr zum Vorteil unserer Beschuhung, wieder angezogen. Trotz des Frostes war in der herben Luft etwas wie ein Vorhauch des Frühlings zu spüren, und so schritten wir behaglich in gleichmäßigem Takt den hell erleuchteten Saalfenstern entgegen, welche von der am Eingange der Stadt gelegenen Schießstätte durch feine weiße Nebel herüberstrahlten.

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Es kam, wie Dorsner vorhergesagt. Zwei Comitemitglieder - ein älteres und ein ganz junges - waren eben im Vestibül anwesend, als wir erschienen. Sie sahen uns sehr befremdet und mit gespreizter Zurückhaltung an; da aber Dorsner mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit auf sie zutrat und, sich tief verbeugend, fragte, ob es denn nicht möglich wäre, an dem schönen Feste teilzunehmen, so zuckte es geschmeichelt um ihre Nasenflügel, ein wohlwollendes Lächeln verbreitete sich über ihre Gesichter, und indem sie etwas von „besonderer Ehre" murmelten, geleiteten sie uns zuvorkommend in den Saal, wo eben ein Tanz zu Ende ging und die Musik verstummte. Wir befanden uns also einem bunten Gewirr von sich auflösenden Paaren gegenüber und wurden anfänglich kaum bemerkt. Nachdem aber die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren, wendete sich uns nach und nach die allgemeine Aufmerksamkeit zu, die von männlicher Seite keine besonders wohlwollende zu sein schien, während der weibliche Teil eine gewisse angenehme Überraschung nur schwer verbergen konnte. Dorsner, indem er das unbärtige Comitemitglied vertraulich unter dem Arm faßte, bat, ihn einigen jungen Damen vorstellen zu wollen; denn der Schalk vermied es, geradenwegs auf sein Ziel, die rosige Gerberstochter, loszugehen, welche sein Erscheinen sofort bemerkt hatte und nun, das Antlitz hinter dem ausgespannten Fächer verbergend, mit ihren wohlbeleibten Anverwandten an einem Tische des anstoßenden Speisezimmers saß; man konnte in dieses durch eine offene Flügeltür sowohl, wie auch durch einige hohe Fenster, die nach dem Saale gingen, bequem hineinblicken. Es dauerte nicht lange, so wurde das Zeichen zu einer Polka gegeben, welche Dorsner mit einer stämmigen Brünette eröffnete, die ihn, der von kleinem, zierlichem Wüchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst hatte mich, hinter einer Reihe von Zuschauern, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurücksank. Denn die GeSeilschaft, die ich hier vor Augen hatte, zog mich in ihrer spießbürgerlichen Behäbigkeit keineswegs an, und die zwar blühenden, aber plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen erschienen mir so reizlos wie möglich. So beschloß ich denn, noch eine Weile in meinem halben Versteck auszuharren und dann unbemerkt zu verschwinden, da ich ja nunmehr meinen Freund, der sich jetzt im Tanze bereits zu seiner Holden gefunden hatte, getrost seinem Schicksale überlassen konnte. Plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt. In den Armen eines vierschrötigen, ungelenken Tänzers schwebte eine schlanke Gestalt anmutig vorüber. Ein einfaches, hellblaues Kleid reichte ihr, nach der Mode der damaligen Zeit, mit einer leichten Falbel bis an die Knöchel und ließ die zierlichen Füße sehen. Ihr Haar, von schimmerndem Aschblond, war aus der Stirn gestrichen, 15

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rückwärts zusammengeknotet und bloß mit einem weißen Sträußchen geschmückt; um den Hals war ein schmales schwarzes Sammtband geschlungen, an dem ein kleines goldenes Kreuz hing. Ich ließ die gefälligen Wendungen dieser lieblichen Erscheinung nicht mehr aus den Augen, und als sie jetzt, wieder in meine Nähe gelangend, aufsah, begegneten sich unsere Blikke. Die Polka dauerte schon ziemlich lange; die meisten Paare hatten bereits untereinander abgewechselt, nur der Tänzer der schlanken Blondine schien dies nicht willens zu sein. Er tanzte unerschütterlich weiter, den Arm gleich einer Klammer um den zarten Leib des jungen Mädchens geschlungen, den Blick starr auf ihren Scheitel geheftet. Endlich schien es ihr zu viel zu werden. Mit dem Ausdruck von Mißmut im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufatmend in einen nahen Stuhl. Es war mir, als blicke sie dabei nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten. Aber ein eigentümlich lähmendes Zögern überkam mich und als ich mich endlich entschließen wollte, hatte sie schon ein anderer junger Mann in den Reigen gezogen, der übrigens sehr bald zu Ende ging. In dem verdrießlichen Gefühl meines ungeschickten Verhaltens vermied ich es jetzt, ihren Blicken zu begegnen; später gewahrte ich, wie sie am Arme ihres früheren Tänzers in das Speisezimmer trat. Dort nahmen beide an einem Tische Platz, an welchem eine vertrocknete alte Frau saß, eine mit kupferroten Bändern verzierte Haube auf dem Kopf; ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein; auch konnte man immerhin den jungen Mann trotz seines breiten, wuchtigen Auftretens für den Sohn halten. Auch Dorsner war da drinnen zu erblicken; er verweilte bereits im besten Einvernehmen bei der Familie des Lohgerbers. Ich erwog nun, ob ich gehen oder bleiben solle, und drückte mich eine Zeitlang unschlüssig an den Wänden hin, als ich mit einem Mal rings herum eine auffallende Bewegung wahrnahm, deren Grund mir auch alsbald klar wurde. Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng anliegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach vorne gestrichen und über der Stirn in eine hoch emporstehende Schraube gedreht, war in die Mitte des Saales getreten und kündigte jetzt mit laut kreischender Stimme an, daß nunmehr eine Franchise erfolgen würde. Dieser Tanz war damals noch keineswegs etwas Gewöhnliches, er galt vielmehr in kleinen Städten als ganz besondere Neuerung, in deren Schwierigkeiten sich die wenigsten gefunden hatten. Daher trat auch, als der Alte mit einem abgenützten Klapphute, den er unter dem Arm hervorzog, dem Orchester das Zeichen zur Einleitung gab, nur eine geringe Anzahl von Paaren heran. „Was!?" rief der Sprecher, der sie sofort mit einem Blicke überzählt hatte, „was nur neun Paare!? Sind wir denn in Krähwinkel? C'est une hontel Schämen sie sich, meine Herrschaften! En uvantl Ich bitte, herbei zu kommen!"

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Diese Worte ermunterten manche, die unschlüssig gewesen zu sein schienen; sie näherten sich befangen und zögernd. „Bravo! Nur immer herbei! Ich bin überzeugt, daß noch viele da sind, die ganz gut mittanzen könnten. Pas de gene, mes damesl Keine Umstände, meine Damen! J'arrangerai toutl Es wird vortrefflich gehen. Nur Courage, meine Herren!" Diese Zurufe lockten noch einige heran, so daß nunmehr etwa zwanzig Paare Aufstellung genommen hatten. Nun aber zeigte es sich, daß ein vis a vis fehle. „Ein vis ä visl" schrie der Alte wieder. „Wir brauchen noch einen Herrn und eine Dame! Ein Königreich für ein vis ä vis\ Kommt wirklich niemand? Nun, ich werde schon irgendwo etwas Verborgenes ausfindig machen - vielleicht im Speisezimmer!" Und damit eilte er dorthin, trat auf die Schwelle und erblickte die schlanke Blondine, die mit dem Rücken gegen den Saal gekehrt saß, während ihre Tischnachbarn dem Forschenden unwillige Blikke zuwarfen. „Was?" rief er in seinem höchsten Fisteltone, „Fräulein -" er kreischte einen Namen, den ich nicht verstehen konnte - „was, die beste meiner ehemaligen Schülerinnen macht sich unsichtbar, wenn es an eine Quadrille geht?! Das muß ich mir ausbitten! Es scheint, meine Herrschaften," wendete er sich an die übrigen, „es scheint, daß Sie die junge Dame hier zurückhalten!" „Wir halten niemand zurück, Herr Tanzmeister," erwiderte die alte Frau mit scharfer, beinerner Stimme. „Wenn das Fräulein tanzen w i l l , so mag sie es immerhin." Diese aber schien in großer Verlegenheit und im Kampfe mit sich selbst zu sein. Der Alte jedoch ließ ihr keine Zeit zu weiterer Überlegung. Er ergriff sie rasch beim Arm und zog die allerdings nur schwach Widerstrebende in den Saal hinaus. Don fiel sein Blick sofort auf mich, denn ich war inzwischen dem Schauplatz dieser Szene näher getreten. „Und da haben Sie auch gleich einen vorzüglichen Tänzer!" rief er aus. „Ich habe es wohl bemerkt, wie halsstarrig der Herr Offizier vorhin meiner Aufforderung ausgewichen ist; jetzt aber, hoff ich, wird er sich nicht länger bedenken!" Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, voreinander stehen. Wir erröteten beide; verneigten uns gegenseitig und traten, nachdem ich ihr den Arm geboten, in die Reihe. Noch hatten wir in unserer Befangenheit kein Wort gewechselt, als schon die Quadrille begann, bei welcher man in jener Zeit nicht bloß nachlässig hin und her schlenderte, sondern jeden Schritt aufs genaueste markierte. Und da war es eine Freude zu sehen, mit welcher Grazie sich meine Tänzerin bewegte. Die schmächtigen Arme an den Hüften hinabsenkend, schien sie damit ein leichtes Heben ihres Kleides andeuten zu wollen, während die schmalen Füßchen, in knappen Schuhen mit Kreuzbändern, nur so 17

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über den Boden hinschwebten. Mit vollendeter Anmut streckte sie mir, wenn wir uns nach kurzer Trennung wieder zusammenfanden, die Hand entgegen. Dabei lag ein fast feierlicher Ernst in ihren Zügen; man konnte bemerken, daß sie von ihrer Aufgabe, sich als fertige Tänzerin zu erweisen, erfüllt war, indes ich nun Gelegenheit hatte, in nächster Nähe jede Einzelheit ihrer jugendlichen Schönheit zu bewundern: die schimmernde Stirn, das etwas kurze, aber fein modellierte Naschen, die durchsichtig zarte Muschel des Ohres. Noch immer verhielten wir uns schweigend; erst als der Tanz bewegter wurde und trotz der schrillen Feldherrnstimme des Alten mehrfache Irrungen und Stockungen entstanden, fand ich Anlaß zu einigen scherzhaften Bemerkungen, die sie jedoch bloß mit einem reizenden Lächeln erwiderte. Jetzt aber, als alles glücklich zu Ende war und die Paare Arm in Arm einen Rundgang durch den Saal antraten, begann ich mit der allerdings banalen, aber am nächsten liegenden Phrase: „Wahrhaftig, mein Fräulein, Sie tanzen wundervoll, und ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt war, dies an Ihrer Seite zu erkennen." Sie errötete ein wenig und sagte dann mit einer ganz eigentümlich tiefen und wohllautenden Stimme: „Nun ja, ich habe mir Mühe gegeben, die Quadrille ordentlich zu erlernen. Es ist auch gar nicht so schwer; man muß nur ein bißchen den Kopf zusammenhalten. Aber die meisten Mädchen sind so zerstreut und ziehen daher die einfachen Rundtänze vor." „Diese sind vielleicht auch in mancher Hinsicht angenehmer," erwiderte ich, noch immer sehr unsicher in der Fortführung des Gespräches. „Aber ich habe bis jetzt verabsäumt, mich Ihnen vorzustellen." Ich nannte meinen Namen. Sie verneigte sich leicht und sagte dann: „Ich heiße Ginevra - Ginevra Maresch." „Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener." „Ich bin auch eine Italienerin," entgegnete sie lächelnd, - „das heißt, eine halbe. Meine Mutter ist aus Bassano im Venezianischen, wo sie mein Vater, als er noch Offizier war, kennen gelernt." „Ihr Vater war Militär?" „Jawohl; aber er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können. Sie besaßen beide kein Vermögen. Es wurde dem Vater sehr schwer, eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubringen. Vor drei Jahren ist er hier als Einnehmer gestorben," setzte sie ernst hinzu. „Und Ihre Mutter?" „Die lebt - dem Himmel sei Dank. Aber sie hat in diesem Winter eine schwere Krankheit, - eine Lungenentzündung, durchgemacht, von der sie

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sich nur sehr langsam wieder erholt. Dies hielt sie auch ab, mich auf den Ball zu begleiten." „Sind Sie mit Verwandten hier?" „Nicht mit Verwandten. Es sind bloße Bekannte, die sich erboten, mich mitzunehmen. Aber ich hätte es vorziehen sollen, zu Hause zu bleiben." „Wieso?" „Nun sehen Sie, diese Leute haben uns vor längerem einen nicht unbedeutenden Dienst erwiesen, für welchen wir ihnen auch sehr dankbar waren. Aber sie wollen uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen besonders die alte Frau, die eine wohlhabende Witwe ist, und das verträgt sich schwer. Die Tochter wäre eigentlich ein ganz gutes Mädchen, es ließe sich mit ihr auskommen. Aber leider ist sie gar nicht hübsch, und das empfindet sie sehr schmerzlich - besonders bei solchen Gelegenheiten, wo sie kaum einer um eine Tour bittet. Da muß es ihr auch doppelt weh tun, wenn sie wahrnimmt, wie andere von allen Seiten bestürmt werden. Um ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen, wollte ich mich eigentlich von der Quadrille zurückziehen, die sie überhaupt gar nicht tanzen kann - so wie ihr Bruder, der sie gewissermaßen aus Hochmut nicht lernen will. Hingegen scheint er zu wünschen, daß ich sonst mit keinem ändern tanze, als mit ihm." „Und hat er ein Recht zu solchem Verlangen?" Sie erbleichte flüchtig. „O nein! Nicht das geringste! Aber er tut sich etwas auf seine Wohlhabenheit zugute. Ich mag ihn gar nicht leiden, und zeig' es ihm auch, so weit es angeht. Aber er will es nicht verstehen, und nur die Rücksicht auf den erwähnten Umstand hat mich bis jetzt abgehalten, es ihm rund heraus zu sagen." „Das ist freilich unangenehm." „Sehr. Und ich sehe immer deutlicher ein, daß es für mich besser gewesen wäre, den Ball gar nicht zu besuchen. Aber es war mein erster, und dieser Verlockung vermag ein junges Mädchen nicht zu widerstehen." „Konnten Sie sich denn nicht jemand anderem anschließen?" „Nein; wir haben uns im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zurückgezogen. Die Menschen hier hatten uns immer gewissermaßen als Fremde behandelt - und so sind wir es zuletzt geblieben." Wir hatten während dieses Gespräches den Saal mehrmals Umschriften und gar nicht bemerkt, daß sich die übrigen Paare allmählich verloren hatten, was uns jetzt zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit machen mußte. Nun aber begann das Orchester einen Walzer zu spielen, den man wahrscheinlich deshalb so bald folgen ließ, damit die von der Frangaise Zurückgebliebenen entschädigt würden. Von den raschen Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen 19

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dahin — und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzükken, daß ich es unwillkürlich ihrem anspruchsvollen Begleiter nachtat und sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war. Tief Atem schöpfend, das losgegangene Haar aus der Stirn zurückschüttelnd, machte sie eine Verbeugung, blickte dann, wie sich besinnend, im Saale umher und eilte in das Speisezimmer. Um mich drehte sich noch alles, und als ich mich jetzt mit hochklopfendem Herzen nach einem Stuhl umsah, trat Dorsner lächelnd an mich heran. „Nun," sagte er, „dein Geschmack ist nicht übel. Aber es ist ein noch ganz blutjunges Ding - und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gib acht, daß du nicht hängen bleibst." Ich verstand kaum, was er sagte, und wollte mich eben setzen - da gewahrte ich, wie Ginevra an der Schwelle des Speisezimmers erschien. Sie war ganz bleich und ihre blauen Augen hatten einen dunklen, metallischen Glanz angenommen. Ich näherte mich ihr; sie kam mir sofort entgegen. „Denken Sie," begann sie mit leise zitternder Stimme, „was man mir angetan! Meine Begleiter sind fön und haben mich allein hier zurückgelassen." Einen Augenblick schwieg ich betroffen. Dann aber sagte ich: „Nun, das wäre ja eigentlich das Schlimmste nicht." „Gewiß nicht, wenn ich jetzt ungescheut bleiben könnte. Und eigentlich könnt' ich es auch," fuhr sie fort, indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte, „das Gerede der Leute sollte mich wenig kümmern. Aber meiner Mutter wegen darf ich es nicht. Im übrigen ist es gut, daß es so gekommen. Diese Menschen haben nun selbst das Band zerrissen, das uns drückte. Ich will mich nur noch ein wenig abkühlen, dann gehe ich nach Hause." „Allein?" „Warum nicht? Ich kenne den Weg, und der ist kurz. Wir wohnen gleich in der Nähe - außerhalb der Stadt." „Wie glücklich wäre ich, dürft' ich Ihnen trotzdem meine Begleitung anbieten." „Das können Sie - wenn Sie meinetwegen den Ball verlassen wollen. Auch ist es ja, wie gesagt, nicht weit - in zehn Minuten sind Sie wieder da." „Ich werde nicht zurückkehren; denn was sollte ich hier noch, wenn S i e fort sind?" Jede andere würde nun, obgleich ich diese Worte in überzeugendem Tone gesprochen hatte, doch irgend eine spöttisch bezweifelnde Einwendung hingeworfen haben. Ginevra aber blickte nachdenklich zu Boden. „Wirklich?" fragte sie dann, indem sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem vollen Blick ansah. „Gewiß," bekräftigte ich.

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Sie schwieg wieder. Dann sagte sie mit ihrer weichen, dunklen Stimme: „Das freut mich." Inzwischen hatte sich der Saal fast gänzlich geleert; denn die Raststunde war herangekommen, und alles drängte und zwängte sich behufs Erquickung und Stärkung in den Nebenraum, diesen überfüllend. Ich konnte mich daher mit Ginevra ruhig niederlassen, und zwar unweit einer offen stehenden Nebentür, die zur Damengarderobe führte. Vor dieser, in einem ganz kleinen Zimmerchen, war eine äußerst primitive Konditorei eingerichtet; es gab allerlei Backwerk, Orangen und Fruchtsäfte; Eis war nicht zu haben. „Kann ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?" fragte ich. „Nein, ich danke. Oder doch - um ein Glas Wasser möchte ich bitten." Ich trat zu der alten Frau, die mit verdrießlichem Gesicht bei der Ware saß, begehrte Wasser, und um doch etwas zu erstehen, ließ ich auch einige Orangen auf den Teller legen, den ich Ginevra überreichte. „Die Orangen sind schön," sagte sie. „Ich werde eine davon nehmen und sie der Mutter bringen." Nachdem sie getrunken hatte, blieben wir noch eine Weile schweigend nebeneinander sitzen. „Nun aber bin ich bereit," sagte sie jetzt, indem sie sich erhob. „Erwarten Sie mich draußen am Eingang; ich nehme nur meine Sachen aus der Garderobe." Ich eilte nach dem Vestibül, wo mein Mantel hing. Es dauerte nicht lange, so erschien sie, in einen ganz leichten Überwurf gehüllt, ums Haupt ein schwarzes Schleiertuch geschlagen, aus welchem ihr lichtes Antlitz wundervoll hervorschimmerte. Draußen bog sie gleich links ab und schlug einen schmalen Fußpfad ein. Ich wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, und hielt mich in ehrerbietiger Entfernung an ihrer Seite. Es war eine mondlose Nacht; aber die Sterne flimmerten, und man konnte die Landschaft deutlich wahrnehmen. „Sehen Sie die Reihe kleiner Häuser?" begann sie. „Dort wohne ich." „Das ist noch näher, als ich gedacht. Nur mehr ein paar Augenblicke und Sie sind mir entschwunden. Vielleicht für immer." Sie erwiderte nichts. „Soll ich Sie wirklich nicht mehr wiedersehen?" „Ich werde die Mutter fragen," sagte sie nach einer Pause. „Und wie werde ich den Bescheid erfahren?" Sie schien zu überlegen. „Kommen Sie morgen um vier Uhr nachmittags in jene Allee." Sie deutete auf zwei Reihen kahler Bäume, die sich dunkel quer über die Felder gegen den Fluß hinzogen. „Es ist mein Lieblingsweg; besonders in dieser Jahreszeit, wo es hier herum noch ganz einsam ist. Wollen Sie?" „Sie fragen? —"

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„Es dürfte morgen gutes Wetter sein," fuhr sie, stillstehend, mit einem Blick nach den Himmel fön; „auch schlechtes würde mich nicht abhalten. Jetzt aber bleiben Sie zurück. Gewahren Sie die erleuchteten Fenster? Meine gute Mutter wacht noch." Sie reichte mir die Hand. „Also addiol Auf mor5 genr Sie eilte nach vorwärts, den matten Lichtern entgegen. ^A.ddio\" rief sie leise zurück. Dann klopfte sie leicht an eine Scheibe. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet und wieder geschlossen. Ich aber stand noch eine Weile und spähte nach dem Schatten Ginevras, 10 der sich auf den durchschimmerten Fenstervorhängen abzuzeichnen schien. Endlich trat ich den Heimweg an, die Brust voll seliger Empfindungen, in welchen jede Erinnerung an meine Festungscirce spurlos unterging.

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In welcher Aufregung ich am folgenden Tage der vierten Nachmittagsstunde entgegensah, läßt sich denken; ich zählte die Minuten und machte dabei die Wahrnehmung, wie endlos lang solch ein minimaler Zeitabschnitt unter Umständen erscheinen könne. Und wie das schon in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, stellten sich meiner fieberhaften Ungeduld noch in der letzten Stunde Hindernisse entgegen, ganz unvorhergesehene Dienstobliegenheiten, die mich fast um das Stelldichein gebracht hätten. Dennoch gelang es mir, knapp vor vier Uhr, abzukommen und mich fast laufend auf den Weg zu machen. Das Wetter hatte sich in der Tat sehr günstig angelassen. Die schönste Februarsonne strahlte vom Himmel nieder und schuf einen wahren Frühlingstag, wenn auch die Landschaft noch ihre ganze winterliche Kahlheit aufwies. Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevras zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln. Auch sie nahm mich alsbald wahr und winkte mir mit dem Fächer, den sie statt eines Sonnenschirms mitgenommen und ausgespannt hatte, grüßend zu. Sie trug ihr Mäntelchen nur ganz leicht um die Schultern geworfen, und der schwarze Schleier umwehte lose ihr blondes Haupt. „Also sind Sie doch gekommen," sagte sie lächelnd, als ich endlich atemlos und erhitzt vor ihr stand. „Ich hatte schon angefangen, ein wenig zu zweifeln." Ich wollte zu meiner Entschuldigung hastig die Gründe der Verspätung auseinandersetzen, aber sie unterbrach mich. „Das tut ja nichts. Sie sind jetzt 22

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da - und was mich betrifft, so hätte ich gewiß noch weit länger gewartet. Auch hab' ich Ihnen eine gute Nachricht mitzuteilen: meine Mutter will Sie empfangen." „Welch ein Glück!" rief ich aus. „Ich hatte es vorausgesehen," fuhr sie ruhig fort. „Denn ich kenne meine Mutter und weiß, daß sie mir keinen Wunsch abschlägt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß ich ein verzogenes Kind bin. Die Gute erfüllt meine Wünsche, weil ich nur selten einen habe - oder doch wenigstens ausspreche. Geschieht dies aber, dann ist sie auch überzeugt, daß es ein sehnlicher und wohl überlegter ist, auf welchen ich, wenn es not tut, bestehe. Als ich ihr von unserer Begegnung auf dem gestrigen Balle erzählte, sagte sie daher bloß: wenn du glaubst, daß er es redlich meint, so mag er kommen. - Und Sie meinen es doch redlich?" setzte sie hinzu, indem sie mir voll und tief in die Augen sah. Ich gestehe, daß mich diese Frage einigermaßen betroffen machte. Denn ich empfand, daß jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen. Aber schon hatte ich mich über die schmale Hand gebeugt, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte, und sie mit stummer Beteuerung geküßt. „Ich habe nicht daran gezweifelt," sagte sie in festem Tone. „Die Offiziere stehen zwar, was uns Mädchen betrifft, in keinem besonderen Rufe. Aber ich glaube, es ist ein Vorurteil, das, wie manches andere, gedankenlos nachgesprochen wird. Hatte ich doch an meinem Vater den Beweis, daß gerade in Ihrem Stande die Ehre über alles geht. - Aber kommen Sie jetzt; meine Mutter erwartet Sie. Es ist zwar noch sehr schön hier außen; allein der Tag neigt sich doch schon dem Ende zu, und in der Dunkelheit sollen Sie unser Haus nicht betreten." So schritten wir denn auf die kleinen Wohnstätten zu, die in der Entfernung vor uns lagen. Sie bildeten, von kunstlos umzäunten Gärtchen und winzigen Grundstücken unterbrochen, eine Art Vorort, der im freien Felde lag. Es wohnten sichtlich arme Leute hier; aber alles erschien wohlgehalten und reinlich. In den blanken Scheiben spiegelten sich die Strahlen der niedergehenden Sonne; hier und dort spielten Kinder friedlich vor den Türen. Das Haus, dem mich jetzt Ginevra entgegenlenkte, war etwas ansehnlieher als die übrigen; zum Eingang führten mehrere Stufen empor. Als wir diese hinanstiegen, zeigte sich am nächsten Fenster das derb gerötete, neugierig blickende Antlitz einer bejahrten Frau, welche gleich darauf im Flur an uns vorüberkam und in einer Seitentür verschwand. „Das war unsere Hauswirtin," sagte Ginevra; „die Witwe des Amtsdieners, der unter meinem Vater gestanden und sich dieses kleine Anwesen im Laufe der Jahre erwirtschaftet hatte. Sie selbst bewohnt eben nur eine Kammer; alles andere haben wir um ein Billiges gemietet." 23

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Sie öffnete eine zweite Seitentür, durch welche wir in eine helle Küche traten, und von da in eine nicht ungeräumige Wohnstube, wo die Mutter Ginevras im Lehnstuhle saß, eine zarte, schmächtige Frau, die leidend aussah, aber nicht viel über vierzig Jahre zählen konnte. Eine leichte Röte flog über ihr Antlitz, als wir eintraten und sie mit einiger Mühe sich erhob. „Da ist er, Mamma," sagte Ginevra. „Ich lasse dich mit ihm allein." Sie legte rasch Fächer, Schleier und Mäntelchen ab und eilte wieder hinaus. Ich näherte mich der blassen Frau, die sich wieder gesetzt hatte, und eine Pause gegenseitiger Verlegenheit trat ein. Endlich begann ich: „Sie waren so gütig, mir zu gestatten —" „Es freut mich, Sie kennen zu lernen," erwiderte sie in ziemlich gebrochenem Deutsch. „Bitte, nehmen Sie Platz." Ich zog einen Stuhl heran. „Ich weiß nicht," fuhr sie nach einigem Zögern fort, „ob ich recht getan, Sie zu uns zu bitten; wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben. Aber meine Tochter hat mir alles mitgeteilt, was auf dem Balle vorgefallen, und so schien es mir doch am geratensten, einem Wiedersehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ihre liebenswürdige Persönlichkeit" - sie sagte diese Schmeichelei mit einem leichten Senken des Hauptes und in jenem feinen, vornehm ausgleichenden Tone, wie er nur in Italien zu hören ist - „Ihre liebenswürdige Persönlichkeit scheint einen tiefen Eindruck hervorgebracht zu haben, und es würde vielleicht zu geheimen Zusammenkünften gekommen sein, die für ein junges Mädchen immer höchst peinlich sind. Ich selbst war, als ich die Bekanntschaft meines unvergeßlichen Gatten machte, durch die Verhältnisse im elterlichen Hause dazu gezwungen und weiß, was ich dabei gelitten habe. Denn trotz aller Liebe zu meinem Federigo empfand ich einen solchen Verkehr doch stets als Verrat an meinen Angehörigen." Ich hatte, während sie so sprach, aufmerksam ihr Antlitz betrachtet, das von der Erinnerung belebt wurde. In der ganzen Erscheinung lag eigentlich nichts Südländisches, und wäre das Charakteristische der Aussprache und mancher Bewegungen nicht gewesen, man hätte sie kaum für eine Italienerin gehalten. Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit. Sie erriet meine Gedanken und sagte lächelnd: „Nicht wahr, Sie finden, daß mir Ginevra gar nicht ähnlich sieht? Sie ist ganz nach ihrem Vater geraten. Wenn Sie sich die Mühe nehmen und jenes Bild dort betrachten wollen, so werden Sie das erkennen." Ich erhob mich und trat vor ein ziemlich verblaßtes Aquarell, das an einem Fensterpfeiler hing. Es war etwas steif, aber nicht ohne Empfindung ausgeführt und stellte einen beiläufig dreißigjährigen Mann in Offiziers24

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tracht der Jägertruppe vor. Aus dem überhohen Frackkragen ragte ein fein geschnittener, höchst ausdrucksvoller Kopf mit lichtblonden Haaren und blauen Augen. Je länger ich das Bild bei dem Ungewissen Dämmerlicht des Abends betrachtete, desto deutlicher traten mir die Züge Ginevras daraus entgegen. „Und nicht bloß im Äußeren gleicht sie ihm," fuhr die Frau auf meine laute Beistimmung fort; „auch in allem und jedem, was den Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist." „Ja, Ihre Tochter ist ein ganz einziges Geschöpf!" rief ich aus. „Nun, vielleicht sind wir beide bestochene Richter. Aber soviel glaube ich wohl selbst sagen zu dürfen: sie ist ein vortreffliches Mädchen und verdient glücklich zu werden." „Sie wird es auch gewiß!" „Das steht in Gottes Hand." Ein Schweigen trat ein, währenddessen man aus der Küche herein das Knistern des Herdfeuers, sowie leise Schritte und Hantierungen vernehmen konnte. „Ginevra bereitet den Kaffee," sagte Frau Maresch. „Sie muß ja überall mit angreifen. Eine Magd zu halten, sind wir nicht in der Lage; das Gröbste verrichtet die Frau, bei der wir wohnen. Die kleine Pension, die ich beziehe, reicht knapp zum Leben aus, und wären uns nicht vor einiger Zeit ein paar hundert Lire zugefallen, die mir ein Verwandter in Italien nachgelassen, wir würden vielleicht in Not — und was noch schlimmer, in Abhängigkeit von fremden Menschen geraten sein." „Sie haben gewiß noch mehrere Angehörige in Italien?" fragte ich. „Nein, - wenigstens niemanden, der meinem Herzen nahe steht. Eltern und ein Bruder, den ich hatte, sind schon vor Jahren rasch nacheinander weggestorben. Man hatte meine Heirat nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben und mich dann in der Fremde mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich habe, wie Sie sich denken können, trotz meines ehelichen Glückes sehr an Heimweh gelitten. Endlich jedoch verlor sich auch das, und ich möchte jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Und auch nicht anders wohin. In Graz leben noch Verwandte meines Mannes, und diese haben mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor, unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir leben müssen. Überdies sind wir, seit wir in diesem Hause wohnen, sehr zufrieden. Es ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte, aber wir sind hier vollständig für uns, haben einen kleinen Garten - und mit ein paar Schritten ist man ganz im Freien. Ich sehne mich schon nach dem Frühling, wo ich dies alles so recht werde genießen können; es soll mich hoffentlich ganz wieder herstellen."

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So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die feinfühlige Frau in dieser Hinsicht jede Frage vermied. Sie hörte mit bescheidener Aufmerksamkeit zu und sagte schließlich: „Ich sehe, daß Sie aus vornehmer Familie sind. Und Emil heißen Sie - Emilio. Ein schöner und mir wohlbekannter Name; mein armer Bruder hat ihn gleichfalls geführt." In diesem Augenblick trat Ginevra ein, in der Hand eine kleine, grün lackierte Schirmlampe, wie sie damals gebräuchlich waren und deren Schein das bereits stark verdunkelte Zimmer angenehm erhellte. „Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter," sagte sie, die Leuchte niederstellend, „und ich kann den Kaffee bringen, der eigentlich längst fertig ist - und zu welchem Sie" - sie wandte sich mit einer Verbeugung an mich - „eingeladen sind, wofern Sie dieses Frauengetränk nicht verschmähen." Und nun begann Sie rasch, ihre Anstalten zu treffen. Sie schob den Tisch nahe an die Mutter heran und breitete ein frisches Tuch darüber. Dann brachte sie aus der Küche Kanne und Tassen, welch letztere sie sorgsam füllte und lächelnd kredenzte. Nachdem das Vesperbrot eingenommen war, stand sie auf und zündete eine Kerze an. „Nun aber will ich Ihnen auch mein Gemach zeigen," rief sie. „Es ist zwar ein ganz winziges Stübchen, aber ich herrsche darin unumschränkt." Sie öffnete eine Seitentür, die ich schon mehrmals ins Auge gefaßt hatte, und ließ mich, während sie voranleuchtete, eintreten. Der Raum war allerdings verschwindend klein, so zwar, daß man sich wunderte, wie das, was darin stand, dennoch hatte Platz finden können. In der Mittelwand zeigte sich ein Fenster; rechts und links davon waren zwei eingerahmte Tuschzeichnungen angebracht, welche südliche Landschaften darstellten. Knapp am Fenster ein mit Weißzeug überhäufter Nähtisch, nahe dabei ein anderes kleines Tischchen, auf dem zwischen einigen Blumentöpfen ein Vogelbauer stand. Die eine Seitenwand deckte ein Kasten, die andere ein Regal, das sich vollständig mit Büchern in verblaßten Einbänden ausgefüllt zeigte. „Nun, hab' ich es mir nicht hübsch eingerichtet?" fragte Ginevra. „Wenn ich hier nähe, kann ich in unseren Garten blicken. Der ist freilich jetzt noch ganz kahl und wüst; dafür blühen meine Blumen am Fenster. Und das hier" - sie näherte sich mit dem Lichte dem Vogelbauer, in welchem ein Zeisig, den Kopf unter dem Flügel, bereits auf seinem Stängelchen schlief - „das ist mein piccino! Er zwitschert bei Tag ganz lustig. Und dort" — sie beleuchtete das Regal - „dort haben Sie den ganzen italienischen Parnaß: Dante, Ariosto, Tasso und so weiter. Er rührt von meinem Vater her, der seinen Stolz darein setzte, das Italienische zu verstehen, wie ein Eingeborener oder eigentlich noch besser. Er las gar nichts anderes, und Gott weiß, wie 26

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oft er diese Bände mag vorgenommen haben. Er kannte kein anderes Vergnügen. In seinen jüngeren Jahren war er auch Zeichner; jene Landschaften dort sind von ihm in Neapel aufgenommen worden, denn er hat im Jahre Zwanzig die österreichische Intervention mitgemacht." Ich hatte inzwischen einen der Bände herausgezogen und aufgeblättert. „Lesen vielleicht auch Sie italienisch?" forschte sie. „Ich sollte wohl; denn es wurde im Kadetten-Institute gelehrt. Aber ich habe es nicht weit gebracht." „Wir wollen miteinander lesen, dann wird es schon gehen. - Hast du gehört, Afamma," rief sie ins Zimmer hinein, „daß ihm unsere Sprache nicht fremd ist?" Jio compreso; ehepiacerel" ließ sich die Mutter vernehmen. „Sie können sich übrigens denken," fuhr Ginevra fort, „daß ich selbst das meiste von dem nicht kenne, was in den Büchern steht; es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen." Wir waren bei diesen Worten wieder aus dem Stübchen getreten, und da ich wahrnahm, daß eine alte Standuhr im Zimmer bereits auf Acht wies, so hielt ich es für angemessen, mich jetzt zu verabschieden. „Auf Wiedersehen," sagte die Mutter. Jiia benedetta la stta intrata da noi." Ich zog die Hand, die sie mir reichte, ehrerbietig an die Lippen und trat aus der Tür, von Ginevra mit dem Lichte begleitet. Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus. „Sie lieben mich also?" fragte sie mit einem innigen Blick. Ich zog sie an mich, und unsere Lippen schlössen sich zu einem langen Kusse zusammen.

IV.

Und nun, fuhr der Oberst fort, begann für mich eine selige Zeit. Ich suchte, so oft es nur anging, das kleine Haus auf, dessen Stille und Abgeschlossen30 heit den Reiz eines Verhältnisses erhöhte, das sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete - und dabei das reinste und lauterste blieb, das sich denken läßt. Denn bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre junge Seele erschloß, erwies sie doch eine jungfräuliche Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte. Ich 35 kam gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Dann saß Ginevra am Nähtisch und ich neben ihr, plaudernd oder still in ihren Anblick versunken, und wenn die Lampe angezündet war, lasen wir, während die Mutter 27

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zuhörte, in den Büchern des Vaters: Sonette Petrarcas, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia, und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovicos phantastischem Gedicht. Aber nicht lange mehr duldete es uns in den Stubenräumen. Denn es war Frühling geworden und sonnige, warme Tage lockten uns vor das Haus. Die Mutter ließ sich ihren Lehnstuhl in das Gärtchen schaffen, wo bereits das erste Grün schimmerte und die Knospen dem Aufbrechen nahe waren. Don weilte sie, während wir anderen in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen, und Ginevra die ersten Veilchen sowie andere frühe Blumen zum Strauße pflückte, den sie mir beim Abschied mitgab. So lebten wir wie in einem schönen Traum dahin und ahnten nicht, daß die Tage des Glückes gezählt seien Als ich einmal bei einbrechender Nacht nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Oheims vor, worin mir dieser mitteilte, daß es seinem Einflüsse möglich geworden sei, meine Versetzung zu einem in Wien befindlichen Regimente zu erwirken. Und zwar mit gleichzeitiger Beförderung zum Leutnant; eine sprungweise Vorrückung, wie sie in jener Zeit durch die Gunst eines befreundeten Regimentsinhabers nicht allzu schwer zu erreichen war. Er hoffe daher, so schloß er, mich recht bald umarmen zu können. Unter anderen Umständen wäre diese Nachricht eine höchst erfreuliche gewesen; in diesem Augenblick aber fuhr sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich nieder. Was sollte mir jetzt eine Beförderung? Was eine Versetzung nach Wien und das Wiedersehen meines Oheims, wenn mich dies alles so rasch und plötzlich von der Geliebten wegriß!? Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, und schon am nächsten Morgen wurde ich von der Angelegenheit auch dienstlich verständigt, mit dem Beisatze, daß ich binnen dreier Tage an meinen neuen Bestimmungsort abzugehen habe. Also nur drei Tage, drei kurze Tage waren mir noch vergönnt - und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den allerkleinsten Bruchteilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den kameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir auferlegte. Ich konnte also höchstens noch e i n e n vollen Abend für mich retten. Der heutige war schon von einer gemeinsamen Fechtübung in Anspruch genommen, welche allwöchentlich stattfand und mit einer Tafel im Kasino zu schließen pflegte. Drüben war man davon unterrichtet und erwartete mich daher nicht. Aber die Stunden, die knapp vor mir lagen, konnte ich erhäschen und machte mich sofort auf den Weg nach Leitmeritz. Es war ein schwerer Gang; mußte ich doch die Frauen von der so bald bevorstehenden Trennung in Kenntnis setzen!

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Ich traf die Mutter allein zu Hause. Sie war in letzter Zeit etwas zu Kräften gelangt und schien eben beschäftigt, Verschiedenes im Zimmer zu ordnen. „Ah, Emilio!" rief sie überrascht, als sie mich eintreten sah. „Wie schön, daß Sie wieder einmal vormittags kommen und uns für den verlorenen Abend entschädigen. Ginevra besorgt eben ein paar kleine Einkäufe in der Stadt; sie wird jedoch gleich wieder zurück sein. Aber was haben Sie denn?" fuhr sie mit besorgten Blicken fort, da sie meine ernste und niedergeschlagene Miene wahrnahm. „Ist vielleicht etwas vorgefallen?" „Allerdings, carissima madre" - ich pflegte sie stets so zu nennen „allerdings ist etwas vorgefallen. Etwas ganz Unerwartetes, Trauriges —" Und nun teilte ich ihr zögernd und mit aller Vorsicht mit, was nicht verschwiegen bleiben konnte. Sie mußte sich setzen. „Mein Gott," brachte sie mühsam hervor, „so rasch, so plötzlich! Und was wird Ginevra dazu sagen? Sie ist zwar ein starkes Mädchen - aber dennoch — Ich glaube, da ist sie schon," setzte sie aufhorchend hinzu. In der Tat waren draußen die leichten Schritte Ginevras zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst ins Zimmer geeilt, das Antlitz von der Luft gerötet, ein Körbchen am Arm, das sie rasch beiseite stellte, um mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust zu fliegen. „Da bist du ja!" rief sie. „Ich hab' es gewußt! Den ganzen Weg über ist es mir im Geiste vorgegangen, daß ich dich beim Nachhausekommen hier treffen würde!" „Mit deinen Ahnungen!" sagte die Mutter. „Wenn du wüßtest, was ihn hierher geführt -" Sie erblaßte leicht. „Was willst du damit sagen, Mamma?" fragte sie mit stockender Stimme, indem sie uns beide mit atemloser Spannung ansah. Und nun erfuhr auch sie, was da kommen sollte. Bei jedem Worte, das sie vernahm, wurde sie bleicher, ihre Arme sanken langsam an den Hüften hinab; so stand sie eine Weile wie erstarrt. Dann aber strich sie mit der Hand langsam über die Stirn und sagte: „Wir hätten darauf gefaßt sein können, daß dies früher oder später geschehen würde. Und da es nicht zu ändern ist, so wollen wir es mit Standhaftigkeit tragen. Wann mußt du schon fort?" „In drei Tagen." „Das ist freilich bald, sehr bald. Aber gleichviel. Wien ist nicht aus der Welt, und du wirst mich dort wie hier lieben." „Nun, wer weiß," warf die Mutter mit erzwungener Scherzhaftigkeit ein, „ob er uns in Wien nicht vergißt." „Wie kannst du nur so sprechen, madre" brauste sie auf. „Als ob du nicht aus deinem eigenen Leben wüßtest, daß selbst die größte Entfernung, 29

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die längste Trennung an Gefühlen, wie die unseren, nichts zu ändern vermögen! Im Gegenteil werden sie dadurch nur gefestigt. Nicht wahr?" wandte sie sich an mich und schlang den Arm um meine Schultern - „nicht wahr, wir gehören einander an fürs Leben?" „Für ewig!" erwiderte ich und küßte sie auf die Stirn. „Und sieh'," fuhr ich, plötzlich von einem tröstlichen Gedanken überkommen, fön, „vielleicht reißt mich das Schicksal in bester Absicht von deiner Seite. Ich treffe in Wien mit meinem Oheim zusammen, der ein vielvermögender Mann ist. Er liebt mich wie einen Sohn und wird sich gewiß bestimmen lassen, irgend etwas für unsere Zukunft zu tun. Wir sind ja beide noch jung und können warten." „Ja," erwiderte sie, wir k ö n n e n und w o l l e n warten." Aber schon hatte mich die Empfindung überkommen, eine grundlose Hoffnung ausgesprochen zu haben. Gerade von meinem Oheim hatte ich, fürs erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältnis stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswert erscheinen konnte. Um dieses unangenehme Bewußtsein zu übertäuben, sagte ich rasch: „Und wie es auch sein möge, jedenfalls komme ich nach den Waffenübungen um einen Urlaub ein, den man mir nicht verweigern kann. Ich kehre also ganz gewiß im Spätherbst zurück und werde in der Festung bei einem Freunde oder hier in einem Gasthofe wohnen. Dann können wir uns einige Wochen für die Trennung schadlos halten." „Und uns um so inniger des Wiedersehens freuen," setzte sie hinzu, mir tief in die Augen blickend. „Aber heute bleibst du doch?" „Du weißt, ich kann nicht; höchstens bis drei Uhr. Es wird uns überhaupt nur e i n Abend mehr vergönnt sein - der morgige. Ich werde so früh wie möglich kommen - zum Abschied." „Zum Abschied," wiederholte sie still. „Aber heute kannst du wenigstens mit uns zu Mittag essen. Ich werde gleich das Nötige veranlassen." Und sie erhob sich, um nach der Küche zu sehen, wo sich bereits die Hauswirtin am Herde zu schaffen machte. „Merkwürdiges Mädchen!" sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. „Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Tränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen. Und sie! Sie ist wirklich ganz ihr Vater." Später deckte Ginevra, bleich zwar, aber ruhig wie sonst, den Tisch und wir setzten uns zum Mahle, von welchem unter einsilbigem Gespräch nur wenig berührt wurde. Auch später blieb es ganz still in der vertrauten Stube. Ich saß mit Ginevra Hand in Hand auf einem kleinen Sofa, der Mutter ge30

genüber, die eine Strickarbeit vorgenommen hatte und uns dabei von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtete. Endlich war es drei Uhr und ich erhob mich. „Also m o r g e n , " sagte Ginevra, indem sie mir die Hand drückte. „Morgen - zum letztenmal!" 5 „ N i c h t zum letztenmal!" sprach sie kraftvoll. Als ich aber jetzt der Mutter die Hand reichte und mich der Tür zuwandte, da brach in ihr der zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt hervor. Laut aufweinend stürzte sie auf mich zu und umschloß mich mit den Armen. 10 So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt und mit ihren heißen Tränen benetzte; dann riß ich mich los.

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Der Oberst hielt inne und blickte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. Ich möchte am liebsten meine Geschichte hier abbrechen, sagte er dann; denn die Rolle, die ich nunmehr zu spielen beginne, ist nichts weniger als glänzend. Aber ich will mir die Buße auferlegen und im Kontext fortfahren. Der Abschied war ein tief ergreifender gewesen. Ich hatte Ginevra beim Scheiden ein Ringlein mit blauem Stein gegeben, welch letzterer im Geschmack jener Zeit ein kleines Herz vorstellte. Sie selbst löste das goldene Kreuz, das sie beständig trug, vom Halse los und reichte es mir. „Nimm!" sagte sie. „Es ist ein Andenken meines Vaters; das einzige Schmuckstück, das ich von ihm habe. Schon seine Mutter hat es getragen. Trag' es jetzt d u als Erinnerung an mich, bis wir wieder vereint sind." Ich kam mir damit wie gefeit vor und fühlte, wie siegreich das Bild Ginevras, deren im Trennungsschmerz zitternde Gestalt, deren bleiches, verweintes Antlitz ich während der Reise beständig vor Augen hatte, allen neuen Eindrücken standhalten würde. Es waren anfänglich nicht allzu viele. Denn fürs erste galt es, im Regiment, wo man den eben nicht erwünschten Einschub mit mißtrauischer Zurückhaltung empfangen hatte, festen Fuß zu fassen, was mir eine doppelt eifrige Diensteserfüllung zur Pflicht machte. Auch hatte ich in Wien keine Anverwandten außer meinem Onkel, und der war ein eingefleischter alter Hagestolz, welcher, trotz seiner hochgestellten Verbindungen, der sogenannten Gesellschaft mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging. Seine Erholung war, allabendlich ein vielgerühmtes Gasthaus in der innern Stadt aufzusuchen, wo er sich im Kreise einiger Alters- und Gesinnungsgenossen nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebte. Da hatte er nun seine Freude daran, mich dort einzuführen und, so 31

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oft es anging, auf das köstlichste zu bewirten, wobei der Champagner nicht gespart wurde. So war meine freie Zeit fast ausschließlich von ihm in Anspruch genommen, höchstens, daß ich hin und wieder einmal das Theater besuchte. Dabei war und blieb aber meine größte Freude der Briefwechsel mit Ginevra. Wir schrieben einander regelmäßig alle acht Tage, was unter den damaligen Verhältnissen dem heutigen täglichen Schreiben gleichkam, und es läßt sich nicht sagen, mit welcher Aufregung ich jeden Brief Ginevras erbrach, mit welchem Entzücken ich ihn las - und wieder las So waren mehr als drei Monate verstrichen, als der Adjutant des BatailIons, bei welchem ich stand, schwer erkrankte und ich beauftragt wurde, einstweilen seine Dienstgeschäfte zu übernehmen. Der kommandierende Major, ein Baron Dumont, stammte aus einer französischen Emigrantenfamilie und galt als höchst unfähiger Mann, dem allerdings eine gewisse Gutmütigkeit nachgerühmt wurde. Da er des deutschen Idioms niemals ganz mächtig geworden, hing er gar sehr von seinem Adjutanten ab, den er übrigens auch zu einer Art persönlichen Hofdienstes heranzuziehen liebte. Als schlechter Reiter sah er es gerne, wenn man seine schönen Pferde tummelte; bei Spaziergängen ließ er sich begleiten, und abends war man ein für allemal zum Thee gebeten, wogegen man sich freilich herbeilassen mußte, stundenlang mit ihm Pikett oder Ecarte zu spielen, das einzige Vergnügen, das er kannte. Er war mit einer polnischen Gräfin verheiratet, die zur Zeit meines Eintreffens beim Regiment auf einem Gute in der Nähe Lembergs sich befand, nunmehr aber eines Tages ganz plötzlich in Wien erschien. Beim ersten Anblick dieser Frau hatte ich eine eigentümliche Empfindung; ich wußte nicht, war es Schreck oder Wohlgefallen - vielleicht beides zusammen. Die Gräfin mochte ungefähr achtundzwanzig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war bereits leicht verwittert; bei näherer Betrachtung jedoch zeigte sich ein reizendes Profil, und die blassen Lippen enthüllten im Lächeln zwei Reihen der köstlichsten Zähne. Von nicht allzu hohem Wüchse, zeichnete sie sich durch etwas langsame, aber ungemein graziöse Bewegungen aus; Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, glanzlosen Braun, und auch die grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, das plötzlich in ein überraschendes Aufleuchten übergehen konnte. Dazu die weiche, fremdländische Aussprache, die vornehme Ungezwungenheit einer vollendeten Weltdame - und man mußte sich sagen, daß man sich hier einer höchst verführerischen Erscheinung gegenüber befinde. Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, daß sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuehe nach wie vor fortzusetzen. So spielten wir denn jetzt zu Dreien Whist mit dem Strohmanne, und nach dem Thee plauderten wir, wobei die Hausfrau es liebte, sich in träger Behaglichkeit auf einer Chaiselongue auszu32

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strecken und Zigaretten zu rauchen, was damals noch etwas ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren; sie liebte es dann, in solch ungezwungener Weise Cercle zu halten. Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Gegen mich erwies sie eine Art mütterliche Vertraulichkeit, die sich oft zu allerlei unbefangenen kleinen Zärtlichkeiten steigerte. Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter oder ließ im Gespräch ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte. Es wäre nun an der Zeit gewesen, öfter das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug. Nicht etwa, daß das Bild Ginevras durch den intimen Verkehr mit der schönen Frau getrübt oder gar verwischt worden wäre; nein, es leuchtete mir noch immer in voller Klarheit entgegen, aber aus viel weiterer Entfernung als früher, wo es mich sozusagen auf Schritt und Tritt begleitet hatte. Eines Abends, als wir wieder beim Whist saßen und ich mir einige Fehler beim Spiel hatte zu Schulden kommen lassen, sagte die Gräfin: „Aber was treiben Sie denn, mon enfant? Sie leiden ja an einer unverantwortlichen Zerstreutheit. Sind Sie vielleicht gar verliebt?" „Du stellst Gewissensfragen, Lodoiska," bemerkte ihr Gatte mit seinem stereotypen Lächeln. „Und wenn dem so wäre, Gräfin?" entgegnete ich halb im Ernst, halb im Scherz. „So würd1 ich es begreiflich finden," antwortete sie. „Denn die Liebe ist das Recht der Jugend. Und wo weilt der Gegenstand Ihrer Gefühle? Hier in Wien?" „Keineswegs. Weit - sehr weit von hier entfernt." Sie erwiderte nichts und steckte hastig ihre Karten ineinander. „Ist es ein junges Mädchen?" fragte sie nach einer Weile. „Das versteht sich wohl von selbst," sagte der Major. „Schön?" fuhr sie kurz fort. „Ungemein," warf ich hin, den angeschlagenen Ton festhaltend. „Brünett?" „Blond." Sie schwieg und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiele zu. Als der Robber beendet war, stand sie auf und sagte, sie leide heute an Migräne und wolle sich deshalb zeitig zur Ruhe begeben. So brach auch ich früher als sonst auf, vom Major wie immer mit einem wohlwollenden Händedruck verabschiedet.

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Von jenem Abend an beobachtete sie gegen mich eine gewisse Zurückhaltung. Sie nahm seltener am Spiele teil und zog sich währenddessen in den anstoßenden Salon zurück, wo sie auf dem Klavier phantasierte oder Stücke von Chopin spielte. Dann kam sie wieder herein und nahm ihre gewohnte Lage auf der Chaiselongue ein. Wenn ich nach ihr hinsah, konnte ich bemerken, daß ihr Blick mit einem ganz seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet war. Dies alles verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen, die auf den Briefwechsel mit der entfernten Geliebten nicht ohne Einfluß blieb. Es war mir, als hätte ich etwas zu verschweigen, geheim zu halten, und infolgedessen gerieten meine Briefe weniger rund und fließend als früher; sie wurden gezwungener, fragmentarischer. Ginevra aber schien nichts davon zu bemerken. Ihre Zeilen atmeten die gewohnte gleichmäßig ernste Leidenschaftlichkeit, die sich in Worten jeder Überschwenglichkeit enthielt, jedoch die reinsten und vollsten Herzenstöne anschlug. Und immer kam die stets wachsende Freude darüber zum Ausdruck, daß nun die Zeit näher und näher rücke, um welche ich auf Urlaub in Leitmeritz erscheinen würde. Das aber war es, was meine Unruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese Angelegenheit erwog, desto deutlicher wurde mir, zu welch unüberlegtem Versprechen ich mich damals hatte hinreißen lassen. Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub nachsuchen - und das gerade jetzt, wo ich mich in einer besonderen dienstlichen Verwendung befand, deren Ende sich gar nicht absehen ließ; denn der Adjutant, obwohl schon auf dem Wege der Genesung, bedurfte noch einer längeren Erholung. Und ganz abgesehen von diesen so gewichtigen Bedenken: ich mußte mein Gesuch doch irgendwie begründen. Womit? Mit Familienangelegenheiten? Man wußte ja, daß mein Oheim in Wien lebte, und wie würde sich dieser, den ich jetzt ohnehin selten genug sah, zu meiner Absicht verhalten? Gewiß verweigernd, um so verweigernder, wenn ich ihn, wozu ich einen Augenblick schon entschlossen gewesen, in den ganzen Sachverhalt einweihte. Ich war also in der Tat ganz ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte. In dieser peinlichen Gemütslage begab ich mich an einem nebligen Oktoberabende, nachdem ich einen einsamen und gedankenvollen Rundgang um das Glacis gemacht, in die Wohnung des Majors, der ich nun schon drei Tage ferngeblieben war. Im Spielzimmer brannte bereits die Astrallampe; im Halbdunkel des Salons aber saß Gräfin Lodoiska am Flügel, dessen Töne mir schon beim Eintritt entgegengeklungen hatten. Als sie jetzt mein Erscheinen gewahr wurde, rief sie mir, ohne sich zu unterbrechen, zu: „Kommen Sie nur da herein. Es ist mir draußen zu hell; die Lampe tut meinen Augen weh." Dann erhob sie sich und trat mir, von dem Schein eines leichten Feuers, das im Ofen flackerte, phantastisch be-

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leuchtet, entgegen. Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter weißer Halskragen und hohe Manschetten glänzend abhoben. Ihr volles Haar, auf welches sie scheinbar wenig Sorgfalt verwendete, umrahmte in losen Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz. „Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen," begann sie in melancholischem Tone. „Dumont hat notgedrungen eine Einladung angenommen. Ich selbst ließ mich entschuldigen; denn ich bin so gar nicht gestimmt, in die Welt zu gehen." Sie hatte sich bei diesen Worten auf einen Pouf niedergelassen, der in der Mitte des Salons stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen. „Ich bin seit einiger Zeit auch nicht in der besten Stimmung," sagte ich, mich setzend. „Ich habe es wohl bemerkt," erwiderte sie leise und nachdenklich. „Vertrauen Sie mir doch an, was Sie drückt." Es wurde mir nicht leicht, darauf zu antworten. „Nun," sagte ich endlich, „vielleicht entsinnen Sie sich noch meiner Erklärungen - oder eigentlich Andeutungen über eine Herzensangelegenheit —" „Jawohl; ich erinnere mich." „Ich hatte in dieser Hinsicht," fuhr ich zögernd fön, „um einen Urlaub einkommen wollen, sehe aber, daß sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen -" „Dann denken Sie nicht weiter daran," warf sie leicht hin. „Ja, wenn das nur so ginge. Ich habe eine bestimmte Zusage gemacht man erwartet mich —" „Nicht jede Erwartung kann erfüllt werden. Aber beichten Sie mir, rnon enfant? fuhr sie im alten vertraulichen Tone fort, indem sie meine Hand faßte, „wer ist denn eigentlich die junge Dame? Ist sie von guter Familie? Haben Sie ernste Absichten?" Es wurde mir wieder schwer, zu antworten. „Allerdings hege ich solche - obgleich -" „Sich auch in dieser Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen?" fügte sie rasch bei. „Ich verstehe. Es ist ein armes Mädchen, das Sie nicht sofort zu Direr Frau machen können. Aber sagen Sie: haben Sie ein bindendes Versprechen gegeben? Oder wäre," fuhr sie, mir höchst ausdrucksvoll in die Augen sehend, fön, „wäre das Verhältnis etwa schon so weit gediehen, daß Sie durchaus nicht mehr zurücktreten könnten?" Ich verstand, was sie meinte. „O nein!" rief ich; „das ist keineswegs der Fall." „Dann ist es ja ein wahres Glück, daß Sie hier zurückgehalten werden, lieber Freund! Bedenken Sie, wie gefährlich für Sie - und auch für Ihre Ge35

liebte ein solches Wiedersehen wäre. Es könnte Ihnen dann wirklich die Verpflichtung erwachsen, das Mädchen zu heiraten. Und wie wollten Sie das anfangen? Sie wären vielleicht gezwungen, Ihre ganze Karriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen - zu ewiger Reue. Und das alles schon in 5 I h r e n Jahren? Nein, nein; schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn!" Ich vernahm schon eigentlich nicht mehr recht deutlich, was sie sprach. Denn sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es sich wie ein schwerer, betäubender Schleier über mich legte. Ich erwiderte nichts und seufzte nur tief auf. 10 „Armes Kind," sagte sie, indem sie mir das Haar aus der Stirn strich, „armes Kind, lieben Sie sie denn wirklich so sehr?" Sie mochte in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständnis lesen, und ein Ausdruck grausamen Triumphes überflog ihre Züge. 15 „Sie werden alles vergessen, wenn Sie bei uns bleiben. Und Sie bleiben bei uns - nicht wahr?" Sie hielt mir die Hand hin, die ich ergriff und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Sie ließ es lächelnd geschehen; dann drückte sie ihr Haupt fest an meine 20 Schulter und flüsterte: „Endlich!" Ich sank ihr zu Füßen.

VI.

Mehr als ein Jahr war seitdem verstrichen, ich selbst aber ganz in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, mich mit all den 25 Qualen zu erfüllen, welche ähnliche Beziehungen mit sich bringen. Ich hatte damals Ginevra ganz kurz mitgeteilt, daß es mir unmöglich sei, einen Urlaub anzutreten; die Gründe würde ich in meinem nächsten Briefe ausführlich auseinander setzen. Das verschob ich aber von Tag zu Tag - um es schließlich zu unterlassen. Was hätte ich auch schreiben sollen? Zwei Briefe, 30 die inzwischen von Ginevra eingetroffen waren - den Empfang des zweiten hatte ich auf einem Schein bestätigen müssen - fand ich gar nicht den Mut zu lesen, sondern schob sie unerbrochen in ein Fach meines Schreibtisches und legte das Kreuz dazu, auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne. So gebärdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch 35 aus Leitmeritz keine weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit jenem Leichtsinn der Unreife, der einem in späteren Jahren ganz unfaßlich 36

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vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgetan, und die Stimme des Gewissens sprach immer seltener und schwächer. Da, an einem strahlend kalten Januartage, als ich eben im Begriff war, an einer Schlittenpartie in den Prater teilzunehmen, welche Lodoiska, die dieses Vergnügen sehr liebte, vorgeschlagen hatte, wurde mir - ich trat gerade aus meiner Wohnungstür - ein Brief überbracht. Ein Blick auf die Adresse genügte, um mich erkennen zu lassen, daß er von der Mutter Ginevras war. Erschrocken schob ich ihn rasch in die Brusttasche meines Mantels, entschlossen, mir durch diese unerwartete Mahnung die Freude des Tages nicht verkümmern zu lassen. Als ich spät in der Nacht nach Hause kam und den Brief hervorlangen wollte, fand er sich nicht mehr vor; er mußte, da ich den Mantel inzwischen mehrmals abgelegt, der Tasche entglitten sein. Dieser Verlust berührte mich höchst peinlich. Wer konnte wissen, wem das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage hegte ich die Erwartung, daß es in irgend einer Weise an mich zurückgelangen würde. Aber das geschah nicht, und ich glaubte endlich einen Wink des Schicksals darin zu erkennen. War mir doch so die bittere Wahl erspart geblieben, ob ich den Brief hätte lesen sollen oder nicht; zudem konnte ich mir ja leicht vorstellen, was er enthalten haben mochte. Dennoch wurde durch diesen Zwischenfall mein Gewissen wieder in Aufruhr gebracht, und ich mußte, trotz aller Übertäubungsversuche, in einem fort an die blasse, hinfällige Frau denken, die mir in ihrem mütterlichen Schmerze geschrieben. Mit der Zeit freilich wurden auch diese Nachwirkungen schwächer und gingen endlich ganz vorüber. So war es, seit ich Theresienstadt verlassen, zum zweitenmale Karneval geworden. Obgleich die Pariser Februarrevolution Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand. Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, wo damals die Damen weniger durch ihre Toiletten, als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen suchten und sich den Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. Lodoiska, in einen rosenroten Domino gehüllt, machte von der Maskenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch und umschwärmte fortwährend einige junge Kavaliere, die sie zu kennen schien. Sie hatte nämlich im verflossenen Sommer ein Landhaus in Hietzing bezogen und war dort wieder mit den Kreisen in Berührung gekommen, denen sie angehörte. Dabei hatten sich für mich bereits mehrfache Anlässe zu beschämender Eifersucht ergeben, die ich um so peinlicher empfand, als ich mich auch sonst mehr und mehr durch ein Verhältnis entwürdigt fand, das der Major, nach An gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte. Ich war also gegen Morgen höchst mißmutig von der Redoute nach Hause gekommen und hatte dann weit in den Tag hinein geschlafen. Als ich

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eben mit dem Ankleiden fertig war, erschien mein Diener und meldete, daß eine junge Dame in Trauer mich zu sprechen wünsche. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglichenveise eine pauvre bontettse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Offiziere in Anspruch zu nehmen pflegten. Ich sagte also meinem Diener, er möge die Dame nur ins Nebenzimmer treten lassen. Als ich, dennoch bangen Herzens, die Tür öffnete, stand sie - stand wirklich Ginevra aufrecht in der Mitte des Zimmers, die Arme, wie es ihre Art war, an den Hüften hinabgesenkt, die Hände leicht ineinandergeschlossen. Sie war auffallend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt. Eine elfenbeinartige Blässe lag über ihrem Antlitz, und die Augen hatten den mir bekannten dunkel metallischen Glanz der Erregung. Ihr Haar schimmerte noch goldiger als früher unter dem schwarzen Krepphute hervor. „Verzeihen Sie," begann sie mit einem leichten Senken des Hauptes, „daß ich Sie aufgesucht. Es würde nicht geschehen sein, wenn Sie den Brief meiner Mutter einer Antwort gewürdigt hätten." „Den Brief Ihrer Mutter -" stammelte ich in atemloser Verwirrung. Und mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung fuhr ich fort: „Ihre Mutter -" „Ist vor zwei Monaten gestorben," sagte sie ernst. „Mein Gott -" erwiderte ich tonlos. „An einem Rückfall in jene Krankheit, von der Sie ja wissen." Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen. „Mein Gott -" wiederholte ich, während sich jetzt ihre Augen langsam mit Tränen füllten. „Aber ich bitte, setzen Sie sich doch -" Sie drückte ihr Tuch an die Wimpern und machte eine kurz ablehnende Bewegung. „Ich werde Sie nicht lange stören. Ich bin nur gekommen, um eine Bitte auszusprechen, die ich durch meine Mutter an Sie richten ließ. Ich ersuche Sie, mir das Kreuz zurückzustellen, das ich Ihnen gegeben. Sie kennen den Wert, den es für mich hat - und hoffentlich befindet es sich noch in Ihrem Besitz." „Gewiß, gewiß," entgegnete ich und wollte an meinen Schreibtisch treten. Aber unwillkürlich hielt ich inne. Und S i e , Ginevra - was werden Sie jetzt —" „Ich folge dem Rufe von Verwandten, die in Graz leben; denn in Leitmeritz mag ich nun nicht länger bleiben. Aber ich werde niemandem zur Last fallen, sondern Unterricht im Italienischen erteilen, der in jener Stadt sehr gesucht sein soll." Wie sie jetzt so vor mir stand, ungebrochen von allem, was da geschehen, in mädchenhafter Selbständigkeit, im Vollbewußtsein ihrer Hoheit und Würde, da überkam mich das ganze Gefühl meiner eigenen Erbärmlichkeit 38

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und drohte mich zu ersticken. Wie aus einem Sumpfe blickte ich zu ihr empor. „Ginevra," rief ich, „Sie verachten mich - Sie m ü s s e n mich aufs tiefste verachten!" „Ich verachte Sie nicht," entgegnete sie ruhig. „Was können Sie dafür, daß Sie mich nicht geliebt haben?" „O! Nicht geliebt!" „Nicht so, wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt - nicht so, wie i c h Sie geliebt. Wie sehr ich durch diese allmähliche Erkenntnis gelitten, werden Sie mir ohne weitere Versicherung glauben. Jetzt aber habe ich überwunden und sehe ein, daß es nicht anders kommen konnte. Daher hege ich auch keine Verachtung, keinen Groll gegen Sie; vielmehr bin und bleibe ich Ihnen dankbar für die erste schöne Täuschung meiner Jugend. Sie war trotz allem die glücklichste Zeit meines Lebens - und wird es wohl in meiner Erinnerung immer bleiben. Und so stelle ich Ihnen auch" - sie zog bei diesen Worten einen Handschuh halb ab - „den Ring, den Sie mir damals gaben, nicht zurück - wie ich es vielleicht sollte. Ich werde ihn tragen bis ans Ende meiner Tage." In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle. „Ginevra!" rief ich leidenschaftlich und wollte, ihre Hand erfassend, vor ihr niederknieen. Sie trat rasch einige Schritte zurück. „Was soll das ?!" rief sie mit herber Stimme. „Es ziemt sich nicht zwischen uns." „Verzeihen Sie! Und doch, wenn Sie - wenn Sie vergessen könnten —" Sie zog die Brauen zusammen. „Nun, nun, sprechen Sie weiter!" „Es könnte noch alles gut werden," hatte ich sagen wollen. Aber ich brachte die Worte nicht mehr hervor. Denn ich empfand, wie hohl und nichtig eine solche Versicherung aus meinem Munde klingen müsse, und die unklare Vorstellung eines versöhnenden Ausgleiches, die sich meiner bemächtigt hatte, ging unter in dem Bewußtsein vollständiger Unkraft. Ich schwieg. Sie betrachtete mich mit einem Blick des Mitleids. „Sehen Sie, Sie wissen selbst nicht, was Sie sagen sollen, und fühlen, daß wir für immer geschieden sind. Und nun bitte ich: das Kreuz." Keiner Erwiderung fähig, ging ich an den Schreibtisch, suchte es hervor und reichte es ihr. Sie nahm es und wickelte mit zitternder Hand die Papierhülle los. In ihrem Antlitz zuckte es schmerzlich, als jetzt ihr Blick auf das matt schimmernde Gold fiel. Ich sah, wie sie sich gewaltsam beherrschte, um nicht in Tränen auszubrechen. Ein Schüttern ging durch ihren ganzen Körper; sie mußte sich setzen. „Mein Gott! Mein Gott!" sagte sie still. Dann stützte sie die Stirn mit der Hand und begann leise zu weinen. Ich wagte nicht zu atmen. 39

„Es ist vorüber," sagte sie endlich, indem sie aufstand und sich die Augen trocknete. „Leben Sie wohl!" Noch einmal war es mir, als sollte ich die Hand, die sie mir jetzt reichte, nicht wieder loslassen, sollte die herrliche Gestalt an mich ziehen, wie einst. 5 Sie schien es zu fühlen, und rasch sich mir entreißend, schritt sie der Tür zu. „Ginevra!" stieß ich hervor und wollte sie zurückhalten. Aber sie winkte mir heftig abwehrend zu und verschwand. Ich sank auf den Stuhl, den sie eingenommen hatte, und blieb regungslos sitzen Bald darauf folgten jene Märztage, deren stürmische Ereignisse auch 10 mich über mich selbst hinausrissen. Freilich in einem anderen Sinne als diejenigen, die damals das Banner der Freiheit entfalteten. Wir waren eben Soldaten und erfüllten unsere Pflicht. Ich selbst stand noch bei den Truppen, die Wien belagerten. Dann kam der ungarische Feldzug mit seinen wechselvollen Geschicken und blutigen Schlachtfeldern - und als spätere Jahre über 15 so vieles den Schleier der Vergessenheit breiteten, war auch über meine jugendlichen Herzenskämpfe das Gras gewachsen.

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„Und haben Sie nichts mehr von Ginevra gehört?" fragte man nach einer Weile. „Allerdings; ich war in der Lage, Erkundigungen einzuziehen. Sie lernte in Graz einen jungen Triestiner kennen, der sich im Laufe der Zeit eine sehr glänzende Stellung in Egypten gemacht. Sie hat ihn geheiratet. Auch gesehen glaube ich sie zu haben - und zwar während der Wiener Weltausstellung in einem offenen Wagen vorüberfahren, mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter. Es ist jedoch möglich, daß ich mich getäuscht." „Sie wird es wohl gewesen sein," sagte die Hausfrau nachdenklich. „Und so haben Sie wenigstens das Bewußtsein, daß sie glücklich geworden." „Daran habe ich nie gezweifelt. Denn sie war eine starke Natur; unglücklich sind allein die Schwachen." „Und die Polin?" fragte eine andere Dame. „Das wäre eine Geschichte für sich," antwortete der Oberst, indem er aufstand und den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher warf. „Vielleicht erzähle ich sie Ihnen nächstens. Jetzt aber muß ich nach der Stadt zurück; ich werde erwartet." Er verabschiedete sich und ging. Die anderen blickten ihm nach, bis seine hohe Gestalt im Abenddunkel zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte. „Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht. Sie ist 40

zwar zehn Jahre älter als er - also bereits eine Greisin -, aber er konnte nicht mehr loskommen. Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man, wie Goethe sagt, zuletzt abgewunden gleich Wocken."

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2. Ginevra

Text der Handschrift (H) datiert vom 4.3.1889 mit integralem Apparat

Das Diner war {zu Ende} (vorüber,) und die kleine Tischgesellschaft begab sich in den Garten der Villa, um dort den Kaffee zu nehmen. Nachdem man sich auf einem Plateau niedergelassen, das den Ausblick auf {einen Theil der Stadt und die grünen Gelände der Donau eröffnete}! (die umlie5 genden Höhen und einen Theil der Stadt eröffnete,)*1, sagte die Hausfrau: „{Lassen Sie sich nicht bitten,} (Erzählen Sie uns doch endlich von dieser Ginevra,} lieber Oberst. {Nun erzählen Sie. Sie haben es längst versprochen. Wir sind heute so} (Versprochen haben Sie es längst. Jedenfalls muß sie etwas ganz {Außerordentliches} ((Besonderes)) gewesen sein, da Sie noch im10 mer {an sie denken} ((mit einer Art Andacht {an sie} ihrer gedenken.)) {Aber lassen Sie sich nicht} ((Lassen Sie sich daher nicht bitten. Wir sind))) ganz unter uns, und hoffentlich kommt kein unerwarteter Besuch, der {uns stören} (Sie unterbrechen) könnte." Der {Angesprochene} (Oberst,) ein hochgewachsener, schlanker Mann 15 in bürgerlicher Kleidung, blickte nachdenklich auf die Glimmfläche der Cigarre nieder, die er sich soeben angezündet. „Nun denn," sagte er, wenn Sie wollen, soll es geschehen, obgleich ich befürchten muß, {daß ich damals ein} (ein) recht unüberlegtes Versprechen gegeben (zu haben.) Denn was ich {vorzubringen habe} (vorbringen kann), ist eigentlich doch nur eine veral20 tete Liebesgeschichte 5.\ (,) (welche, wenn sie heute gedruckt würde, ((vielleicht)) Niemand mehr lesen möchte.) Indeß, wie gesagt, wenn Sie es wirklich wünschen, bin ich bereit. Ist es doch {ein wenn auch schmerzlicher} ({x-x} immer ein) Genuß, (wenn auch ein schmerzlicher,) sich in die goldenen Tage der Jugend zurück zu versetzen.

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Der durch -viele Hinzufügungen und Tilgungen unübersichtliche Text sagte bis könnte." von Weiß mit violetter Tinte umkreist und auf der Rückseite des vorhengen Blattes wiederholt. Durch s. nebenstehend im umkreisten Text wird hieraufverwiesen. ((Besonderes)) zwischen der getilgten Zeile 7 {nun bis versprochen} und 9 ({Außerordentliches}}aus der darüberstehenden hinzugefügten Zeile. {(mit bis gedenken}) am rechten oberen Seitenrand und durch einen Platzhalter eingewiesen; nachträglich vom Verleger Georg Weiß mit violetter Tinte eingekreist. {(lassen bis sind)} unter der zunächst hinzugefügte Zeile 11 {Aber bis nicht} und vor 12 ganz eingewiesen. (zu haben} üdZ, eingewiesen nach gegeben. {{vielleicht}} üdZ, eingewiesen vor 21 Niemand in die hinzugefügte Zeile. Der Text Liebesgeschichte bis Indeß von Weiß mit violetter Tinte eingekreist und auf der Rückseite des vorherigen Blattes wiederholt. Hierbei wird Indes im Text mit ß, in der Wiederholung mit s geschrieben. (wenn auch ein schmerzlicher} üdZ, eingewiesen vor sich.

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Ich war zwanzig Jahre alt und Fähnrich bei einem Regiment, das einen Theil der Friedensbesatzung von Theresienstadt bildete. Diese Festung mag - abgesehen von ihrer anmuthigen Lage in einem der gesegnetsten Landstriehe Böhmens - auch noch heute kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort sein; damals aber - {in den} (in den) Vierziger Jahren - {mußte} (konnte) er {ein}J wahrhaft {trostloser}J (trostlos)F genannt werden. Denn außer dem großen, mit zwei Baumreihen umpflanzten Hauptplatze, der fast durchgehende militärische Gebäude aufwies, gab es dort nur vier Gassen. Sie führten in den entsprechenden Windrichtungen nach den Thoren und Wällen, und bestanden (zumeist) aus kleinen, hüttenähnlichen Häusern, in welchem sich Krämer und Handwerker, Bierwirthe und Branntweinschänker angesiedelt hatten. Die Officiere waren daher ganz und gar auf den cameradschaftlichen Verkehr angewiesen, und wir Jüngeren führt(en) nicht eben das erbaulichste Dasein. In den Vormittagsstunden mehr oder minder dienstlich beschäftigt, verbrachten wir die übrige Zeit im Militär-Casino am Billard und am Spieltische, oder begaben uns nach der jenseits der Elbe gelegenen Kreisstadt L..., wo wir zum Mißvergnügen der ehrsamen Pfahlbürger in Kaffee- und Gastwirthschaften sehr anspruchsvoll auftraten, leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen suchten, {und wenn man wieder} ({x-x} und nach der Rückkehr) in die Festung {zurückgekehrt war, verbrachte man oft noch halbe Nächte in einem höchst zweifelhaftem Lokal} (begaben sich Manche noch in ein höchst zweifelhaftes {x-x} Lokal, um dort halbe Nächte) bei Punsch und Glühwein /.l (zu {zubringen}) (durchschwelgen.) Was nun mich selbst betraf, so {x-x ich in diesem} (machte ich dieses) wüste{n}, gedankenlose{x} Treiben {x-x der_Ta.g x-x x-x. Ich} (schon deshalb mit, {weil ich mich} ((weil man sich)) nicht ausschließen konnte. Zudem) war {eben} (ich) jung, und {genoß die Freiheit, die ich} nach {langer und x-x strenger} (der strengen) Zucht, (die ich früher) in einem Cadettenhause {mit den Officiersxxxxx erlangt hatte, in vollen Zügen. Geistige Genüsse, Theater und dergleichen gab es nicht, und wenn x-x Etwas los, so waren es x-x-x auftreten. Mein Oheim, der mich} ({erduldet hatte} erdulden mußte, hatten {x-x} ((derlei)) Ausschreitungen für mich den Reiz der Neuheit, {x} Mein Oheim, der mich,) den früh Verwaisten, gewissermaßen an Sohnes statt angenommen und einen ziemlich hohen {x-x x-x} (und einfluß-

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Der durch viele Hinzufügungen und Tilgungen unübersichtliche Text (und bis mich) von Weiß mit violetter Tinte umkreist und auf der Rückseite des vorherigen Blattes wiederholt. Durch s. nebenstehend im Text wird hierauf verwiesen. Hinzufügungen üdZ, bis auf 27 ((weil man sich)) udZ.

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reichen) Posten beim damaligen Hofkriegsrathe bekleidete, {gab} setzte mir eine ganz ansehnliche Geldzubuße aus; {und daher} (ich) lebte {ich x-x glücklich x-x-x} (also {ganz sorglos} sorgenlos) in den Tag hinein, {selbst die Conflikte, in welche man nicht selten x-x überstrengen oder mißgünstigen Vorgesetzten gerieth, waren nicht imstande, mir die Laune zu verderben. Eines Abends aber, im Carneval, geschah es doch, daß ich mich an} (wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz freiblieb. So kam es auch, daß ich eines Abends, im Carneval, einsam) und nachdenklich in meiner öden Kasernenwohnung saß und mich höchst unglücklich fühlte. {Das war so gekommen.} (Und zwar aus folgendem Grunde.) Der Festungscommandant, ein invalider General, erfreute sich einer Tochter, welche zwar weder besonders jung, noch besonders hübsch zu nennen war, aber schon vermöge ihres {Ranges} (Stellung) Anreiz genug besaß, um einem Neuling, wie ich, den Kopf zu verdrehen. Sie war auffallend schlank gewachsen, hatte glänzend schwarze, stechende Augen, sehr weiße, leicht zwischen den Lippen hervorstehende Zähne, und wußte ihren etwas vergilbten Wangen durch zartes Auflegen von Roth künstliche Frisehe zu verleihen. Bei erfahrenen Cameraden galt sie als ausbündige Kokette, und man hatte mich gleich anfangs, halb im Scherz, halb im Ernst, vor ihr gewarnt. Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anlässig einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Or{x}(a)torium der Garnisonskirche beiwohnte. Obgleich sie sehr andächtig in ihr Gebetbuch versunken schien, konnte ich doch bemer{merken}(ken), daß sie von Zeit zu Zeit nach mir hinblickte; anfänglich nur so von der Seite, dann aber mit Zuwendung des Antlitzes immer länger und eindringlicher. Ich {legte} (glaubte) dies umsomehr zu meinen Gunsten {aus} (auslegen zu dürfen,) als sie fortan stets hinter den Fensterscheiben erschien, wenn ich - und das geschah mehrmals des Tages - am Commandantenhause vorüberging; ja einmal konnte ich sogar wahrnehmen, daß sie in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl gestiegen war, um mich von dort aus, wie sie (wohl) meinte, ungesehen beobachten zu können. Ich hatte daher keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr endlich persönlich näher zu treten, und der officielle Ball, den ihr Vater demnächst zu geben verpflichtet war, erschien mir als huldvollste Gelegenheit. Ich stellte mir bereits sehr lebhaft vor, wie auch s i e diesem Abend sich entgegenfreue, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde und was dergleichen jugendliche Erwartungen mehr waren. Aber ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung vollständig ohne den Wirth gemacht. Denn zu dem Balle {wurden} ({x-x} wurden) auch auswärtige Gäste geladen, und unter diesen befanden sich neben höheren Standespersonen

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vom Civil auch die Officiere eines Chevauxlegers-Regiments, das auf dem platten Lande stationirt war. Da hatte ich nun den Schmerz, zu sehen, wie diese interessanten Ankömmlinge die Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses derart auf sich lenkten, daß diese für mich keinen Blick, und als ich mich später vorstellen ließ, auch kein aufmunterndes Wort übrig hatte. In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht Muth, sie zum Tanze aufzufordern, und während die Grausame fast die ganze Zeit über von einem sehr aristokratisch aussehenden Rittmeister in Beschlag genommen wurde, fiel mir durch ein Verhängniß, wie {x-x} (es) derlei Niederlagen stets zu begleiten pflegtje}, die schwindsüchtige Tochter eines Kreisrathes zu, {die Gott weiß woher gekommen sein mochte und welche, da sie sonst Niemand aufzufordern Lust bezeigte,} (welche, {sonst Niemand aufzufordern Lust} da sie sonst Niemand aufzufordern Lust bezeigte,) mit ihren röthlich blonden Schmachtlocken gleich einer Klette an mir hing, bis ich mich endlich, sobald dies anständiger W{a}{e)ise geschehen konnte, aus dem Staube machte und vom Balle verschwand. So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen {meinen} (den) kahlen vier Wänden, während die Dämmerung längst hereingebrochen war und ich kaum mehr die Rauchwolken {xxxnahm} {{mehr sah}} (sah,) die ich aus einer langen Pfeife mechanisch vor mich hin blies. Plötzlich vernahm ich hastige Tritte, die sich draußen auf dem Gange der Tür näherten; diese wurde polternd aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien eine mantelumhüllte Gestalt, die sich schwarz in schwarz von der sie umgebenden Dunkelheit abhob. „Bist Du hier?" rief eine kräftige, etwas schnarrende Stimme, an welcher ich sofort einen meiner näheren Freunde, den Lieutenant Dorsner, erkannte. Und da ich mich jetzt bemerkbar machte, fuhr er eintretend fort: „Zum Teufel, was treibst Du denn da im Finster{e}n?" Ich legte die Pfeife weg und zündete eine Kerze an, bei deren zweifelhaftem Schein ich wahrnahm, daß Dorsner, der jetzt den Mantel auseinander schlug, in eine schmucke, ganz neue Halbuniform gekleidet war und Lackstiefel an den Füßen hatte. „Ich gehe nach L... hinüber", sagte er, meine Frage vorweg nehmend. „Es ist heute dort Ball auf der Schießstätte. Und Du sollst mit mir kommen." „Wir {{Officiere}) sind ja gar nicht geladen." „Das thut nichts. Ich habe einer Dame versprochen, zu erscheinen, und so muß es geschehen."

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(da) ädZ, am Zeilenende -vor {{Niemand}). {sah,} üdZ, vor {{mehr sah}) üdZ, eingewiesen hinter Rauchwolken.

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Ich wußte, daß er in geheimnisvollen Beziehungen zu der hübschen Tochter eines wohlhabenden Lohgerbers stehe, die er auch später geheirathet hat. {x} „Gut," erwiderte ich; „aber wie willst Du das anfangen?" „Ganz einfach; ich gehe eben hin. Was bleibt den Herren "Ball-Ausschüssen" anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiele zu machen. Aber deßhalb siehst Du auch ein, daß ich nicht ganz allein dort erscheinen {x-x} (kann) - Ich hatte mich schon mit Heillinger verabredet; aber dieser ist im letzten Augenblick verbinden worden. Also thu' mir den Gefallen." Aber ich war an diesem Abend zu derlei Unternehmungen ganz und gar nicht aufgelegt und wandte daher neuerdings ein: „Und wenn man erfährt, daß wir dort waren? Du weißt doch, wie sehr man höheren Ortes dagegen ist, daß wir an derlei Unterhaltungen theilnehmen?" „Unterhaltungen? An was für Unterhaltungen?" rief er ärgerlich. „Es kommen die anständigsten Bürgerfamilien von L... zusammen. Und überdies: auf einen Verweis mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Seit wann bist Du denn so ängstlich geworden? Ich, als dein Vorgesetzter, befehle dir, mit mir zu gehen. Vorwärts! Marsch!" Noch immer konnte ich mich nicht entschließen und schützte Unwohlsein vor. Ich hätte mich auf dem Commandanten-Balle erkältet. „Ach was! Flausen! Derlei Erkältungen tanzt man sich am besten gleich wieder aus dem Leibe. Und gieb Acht, was für Mädchen Du da drüben in die Arme bekommen wirst. Ganz andere Geschöpfe, als diese dürren Gliederpuppen, wie sie gestern an uns herum baumelten." Ich sah, daß es kein Entrinnen gab und da endlich doch auch der Gedanke einer möglichen Zerstreuung in mir auftauchte, so erklärte ich mich {endlich} (schließlich) bereit und ging daran, mich umzukleiden, während Dorsner ebenfalls von Zeit zu Zeit vor den kleinen Wandspiegel trat und sein dichtes, von Natur gekräuseltes Haar unternehmend auflockerte. Endlich war ich fertig, und wir traten, die Festung hinter uns lassend, den Marsch nach L... an. Tagsüber war Thauwetter eingefallen; nun aber hatte der Boden, sehr zum Vorteil unserer Beschuhung, wieder angezogen. Trotz des Frostes {war x-x in der Luft, wie ein Vorhauch} (war in der {reinen} Luft bereits {x-x} Etwas wie {ein leiser Hauch} ein Vorhauch} des Frühlings zu spüren, und so schritten wir behaglich und in gleichmäßigem Takt{e} den hell erleuchteten Saalfenstern entgegen, welche von der am Eingange der Stadt gelegenen Schießstätte durch feine weiße Nebel herüberstrahlten.

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(war bis Vorhauch} üdZ, eingewiesen vor 34 des.

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Es kam, wie Dorsner vorhergesagt. Zwei Comitemitglieder - ein älteres und ein ganz junges - waren eben im Vestibüle anwesend, als wir erschienen. Sie sahen uns sehr befremdet und mit gespreizter Zurückhaltung an; da aber Dorsner mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit auf sie zutrat und, sich tief verbeugend, fragte, ob es denn nicht möglich wäre, an dem schönen Feste theilzunehmen, so zuckte es geschmeichelt um ihre Nasenflügel, ein wohlwollendes Lächeln verbreitete sich über {ihr Antlitz} (ihre Gesichter), und indem sie etwas von "besonderer Ehre" murmelten, geleiteten sie uns zuvorkommend in den Saal, wo eben ein Tanz zu Ende ging und die Musik verstummte. Wir befanden uns also einem bunten Gewirr von sich auflösenden Paaren gegenüber und wurden anfänglich kaum bemerkt. Nachdem aber die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren, wendete sich (uns) nach und nach die allgemeine Aufmerksamkeit zu, die von männlicher Seite keine besonders wohlwollende zu sein schien, während der weibliche Theil eine gewisse angenehme Überraschung nur schwer verbergen konnte. Dorsner, indem er das unbärtige Comitemitglied vertraulich unter dem Arm faßte, bat, ihn einigen jungen Damen vorstellen zu wollen; denn der {geriebene} Schalk vermied es, geradenwegs auf sein Ziel, die rosige Gerberstochter, loszugehen, welche sein{en} Erscheinen sofort bemerkt hatte und nun, das Antlitz hinter dem ausgespannten Fächer verbergend, mit ihren wohlbeleibten Anverwandten an einem Tische des anstoßenden Speisezimmers saß; man konnte in dasselbe durch {die} (eine) offene Flügelthür sowohl, wie auch durch einige hohe Fenster, die nach dem Saale gingen, bequem hinein blicken. Es dauerte nicht lange, so wurde das Zeichen zu einer Polka gegeben, welche Dorsner sofort mit eine{m}(r) stämmigen {jungen Frauenzimmer, und ihn, der von kleinem, zierlichem Wüchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst} {{Brünette eröffnete, ihn fast um eine Haupteslänge überragende Brünette eröffnete. Ich selbst}} (Brünette eröffnete, die ihn, der von kleinem zierlichem Wüchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst) hatte mich, hinter einer Reihe von {Zusehern}! (Zuschauern)F, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurück sank. Denn die Gesellschaft, die ich hier vor Augen hatte, zog mich in ihrer spießbürgerlichen Behäbigkeit keineswegs an, und die zwar blühenden, aber plump und geschmack-

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(Brünette bis selbst) eingekreist auf der Rückseite des vorherigen Blattes, durch einen Pfeil hinter 26 stämmigen eingewiesen. {Zusehern} von Weiß mit violetter Tinte gestrichen und 32 (Zuschauern) üdZ eingefügt.

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los geputzten Mädchen und jungen Frauen ersch{x}(ie)nen mir so reizlos wie möglich. So beschloß ich denn, noch eine Weile in meinem halben Versteck auszuharren und dann unbemerkt zu verschwinden, da ich ja nunmehr meinen Freund, der sich (jetzt) im Tanze bereits zu seiner Holden gefunden hatte, getrost seinem Schicksale überlassen konnte. Plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt. {Im Arm} (In) den Armen eines vierschrötigen, ungelenken Tänzers schwebte eine schlanke Gestalt anmuthig vorüber. Ein einfaches, hellblaues Kleid reichte ihr, nach der Mode der damaligen Zeit, mit einer leichten Falbel bis an die Knöchel und ließ {{ein} die) zier {liehe Füßchen} (liehen Füße) sehen. Ihr Haar, von schimmerndem Aschblond, war aus der Stirn gestrichen, {und} rückwärts dicht zusammen geknotet und blos mit einem {kleinen} weißen Sträußchen geschmückt; um {das x-x zarte Hälschen} (den Hals) war ein schmales schwarzes Sammet{bändchen} (band) geschlungen, an dem ein (kleines) goldenes {Kreuzchen} (Kreuz) hing. Ich ließ die gefälligen Wendungen dieser lieblichen Erscheinung nicht mehr aus den Augen, und als sie jetzt, wieder in meine Nähe gelangend, aufsah, begegneten sich unsere Blicke. Die Polka dauerte schon ziemlich lange; die meisten Paare hatten {schon} (bereits) unter einander abgewechselt, nur der Tänzer der schlanken Blondine schien dies nicht Willens zu sein. Er tanzte unerschütterlich weiter, den Arm gleich einer Klammer um den {zarten} zarten Leib des jungen Mädchens geschlungen, den Blick starr auf ihren Scheitel geheftet. Endlich schien es ihr zu viel zu werden. Mit dem Ausdruck von Mißmuth im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufathmend in einen nahen Stuhl. Es {schien} (war) mir, als blicke sie dabei {mit ihren x-x blauen Augen} {{ihren}) nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten. Aber ein eigenthümlich lähmendes Zögern überkam mich - und als ich mich endlich entschließen wollte, hatte sie schon ein anderer junger Mann in den Reigen gezogen, der übrigens jetzt bald zu Ende ging. In dem verdrießlichen Gefühl meines ungeschickten Verhaltens vermied ich es jetzt, ihren Blicken zu begegnen; später gewahrte ich, wie sie am Arme ihres früheren Tänzers in das Speisezimmer trat. Dort nahmen Beide an einem Tische Platz, an welchem eine vertrocknete alte Frau saß, (eine mit {x}) kupferrothe(n) {Bänder} {Blumen und} Bändern {an einem haubenartigen Kopfputz}; (verzierte Haube auf dem Kopf;) ihr zur Seite ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen, das, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein mußte; auch konnte man geneigt sein, den jungen Mann trotz seines breiten, wuchtigen Auftretens für den Sohn zu

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{jetzt) üdZ, eingewiesen vor im. (kleines) üdZ, eingewiesen vor goldenes.

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halten. Auch Dorsner war da drinnen zu erblicken; er {saß} (verweilte) bereits im besten Einvernehmen bei der Familie des Lohgerbers. Ich erwog nun, ob ich {jetzt} gehen oder bleiben {Ich erwog nun, ob ich jetzt gehen oder bleiben sollte} {{solle sollte} solle,}, und drückte mich eine Zeit lang unschlüssig {{x-x}} an den Wänden hin, als ich mit einem Male rings herum eine {besondere} (auffallende) Bewegung wahrnahm, deren Grund mir auch alsbald klar wurde. {Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng an} (Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng anbiegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach vorne gestrichen und über der Stirn in eine hoch empor stehende Schraube gedreht, war in die Mitte des Saales getreten und kündigte jetzt mit laut kreischender Stimme an, daß nunmehr eine Frangaise erfolgen würde. Dieser Tanz war damals noch keineswegs etwas Gewöhnliches, er galt vielmehr in kleinen Städten {noch} als ganz besondere Neuerung, in deren Schwierigkeiten sich die Wenigsten {finden mochten} (gefunden hatten.). Daher trat auch, als der Alte mit einem abgenützten Klapphute, den er unter dem Arm hervorzog, dem Orchester das Zeichen zur {x-x} (Einleitung) gab, nur eine geringe Anzahl von Paaren heran. „Was!?" rief der Sprecher, der sie sofort mit einem Blicke überzählt hatte, {x} „was {,) {?" x} nur neun Paare!? Sind wir denn in Krähwinkel? {C'est} (C'est) une hontel Schämen sie sich, meine Herrschaften! En avantl Ich bitte, herbei {Diese Worte} zu kommen!" Diese Worte ermunterten manche, die {noch} unschlüssig gewesen zu sein schienen; sie näherten sich befangen und zögernd. „Bravo! Nur immer herbei! Ich bin überzeugt, daß noch Viele da sind, die ganz gut mit tanzen könnten. Pas de gene, mesdamesl Keine {Furcht} (Angst), meine Damen! J'arrangerai{x} toutl Es wird vortrefflich gehen. Nur Courage, meine Herren!" Diese Zurufe lockten noch einige heran, so daß nunmehr etwa zwanzig Paare Aufstellung genommen hatten. Nun aber zeigte es sich, daß ein vis a vis fehle. „Ein vis ä visl" schrie der Alte wieder. „Wir brauchen noch einen Herrn und eine Dame! Ein Königreich für ein vis ä visl Kommt wirklich Niemand? Nun, ich werde schon irgendwo etwas Verborgenes ausfindig machen - vielleicht im Speisezimmer!" Und damit eilte er dorthin, trat auf die Schwelle und erblickte die schlanke Blondine, die {,} mit dem Rücken gegen den Saal gekehrt {,} {x-x am Tische} saß, während {die Anderen} (ihre Tischna((ch))

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({solle sollte}) üdZ, noch über dem endgültigen (solle), eingewiesen vor und. ((ch)) üdZ, von Weiß mit violetter Tinte durch einen Keil in das Wort eingewiesen.

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barn) dem Forschenden unwillige Blicke zuwarfen. „Was?" rief er in seinem höchsten Fisteltone, „Fräulein -" er kreischte einen Namen, den ich nicht verstehen konnte - „was, die Beste meiner ehemaligen Schülerinnen macht sich unsichtbar, wenn es an eine Quadrille geht?! Das muß ich mir ausbitten! Es scheint, {fast} meine Herrschaften," {x-x gegen} (wendete er sich an) die Ü{e}brigen, „es scheint, daß Sie die junge Dame hier zurückhalten!" „Wir halten Niemanden zurück, Herr Tanzmeister," erwiderte die alte Frau mit scharfer, beinerner Stimme. „Wenn das Fräulein tanzen w i l l , so mag sie es immerhin." Diese aber schien in großer Verlegenheit und im Kampfe mit sich selbst zu sein. Der Alte jedoch ließ ihr keine Zeit zu weiterer Überlegung. Er ergriff sie rasch beim Arm und zog die allerdings nur {schwach} (schwach) Widerstrebende in den Saal hinaus. Dort fiel sein Blick sofort auf mich, denn ich war inzwischen dem Schauplatz dieser Szene näher getreten. „Und da haben Sie auch gleich einen vorzüglichen Tänzer!" rief er aus. „Ich habe es wohl bemerkt, wie halsstarrig der Herr Officier vorhin meiner Aufforderung ausgewichen (ist); jetzt aber, hoff' ich, wird er sich nicht länger bedenken!" Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, vor einander stehen. Wir errötheten Beide; verneigten uns gegenseitig und traten, nachdem ich ihr den Arm geboten, in die Reihe. Noch hatten wir {kein Wort gewechselt} in unserer Befangenheit kein Won gewechselt, als schon die Quadrille begann, {welche} (bei welcher man) in jener Zeit {noch kein} (nicht blos) nachlässig {es Hin- und Herschlendern war; man markirte jeden Schritt} ({hin und herschlenderte} hin und her schlenderte, sondern {x-x} jeden Schritt) aufs genaueste (markine). Und da war es eine Freude zu sehen, mit welcher Grazie sich meine Tänzerin {hin und her} bewegte. Die {jugendlich zarten} ({jugendlich} schmächtigen) Arme an den Hüften hinabsenkend, schien sie damit ein leichtes Heben ihres Kleides andeuten zu wollen, während {sich ihre} (die) schmalen, {x-x Füße mit den knappen Kreuzbandschuhen auf das zierlichste setzte.} (Füßchen, in knappen Schuhen mit Kreuzbändern, nur so über den Boden {hinzuschweben schienen} hinschwebten.) Mit vollendeter Anmuth streckte sie mir, wenn wir uns nach kurzer Trennung wieder zusammen fanden, die Hand entgegen. Dabei lag {fast} ein (fast) feierlicher Ernst in ihren Zügen; man konnte {bemerken, daß sie sich ihrer Aufgabe, als gute Tänzerin zu erscheinen, bewußt war, während ich nun x-x nächster Nähe} ({sich der

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{markirte} üdZ, an das Salzende vor den Punkt eingewiesen.

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Aufgabe, sich als fertige Tänzerin erweisen wollte indeß x-x}} (bemerken, daß sie von ihrer Aufgabe, sich als fertige Tänzerin zu erweisen, erfüllt war, indeß ich nun {in nächster Nähe Ge Gelegenheit hatte} Gelegenheit hatte, in nächster Nähe {jede Ein}) jede Einzelheit ihrer jugendlichen Schönheit {x-x} (zu) bewundern: {konnte:} die schimmernde Stirn, das etwas kurze, aber fein modellirte Naschen, die durchsichtig {zar} zarte Muschel des Ohres. Noch immer verhielten wir uns schweigend; erst als der Tanz bewegter wurde und trotz der schrillen Feldherrnstimme des Alten mehrfache Irrungen und Stockungen entstanden, fand ich Anlaß zu einigen {Witzen} scherzhaften Bemerkungen, die sie jedoch bloß mit einem reizenden Lächeln {beantwortete erwiderte aufnahm} erwiderte. {Nun} (Jetzt) aber, als alles glücklich zu Ende war und die Paare Arm {in}(in) Arm einen Rundgang durch den Saal antraten, begann ich mit der allerdings banalen, aber am nächsten liegenden Phrase: „Wahrhaftig, {mein} (mein) Fräulein, Sie tanzen wundervoll, und ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt (war), dies an Ihrer Seite zu erkennen." Sie erröthete ein wenig und sagte dann mit einer ganz eigenthümlich {xx weichen und tiefen} (tiefen und wohllautenden) Stimme: „Nun ja, ich habe mir Mühe gegeben, die Quadrille {x} ordentlich zu erlernen. Es ist {eigentlich auch ganz leicht;} (auch gar nicht so schwer;) man muß nur ein bißchen den Kopf zusammen halten. Aber die meisten Mädchen sind so zerstreut und ziehen daher die einfachen Rundtänze vor." „{Die} (Diese) sind vielleicht auch in mancher Hinsicht angenehmer," erwiderte ich, noch immer sehr unsicher in der Fortführung des Gespräches. „Aber ich habe bis jetzt verabsäumt, mich Ihnen vorzustellen." Ich nannte meinen Namen. Sie verneigte sich leicht und sagte dann: „Ich heiße Ginevra - Ginevra Maresch." „Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener." „Ich bin auch eine Italienerin," entgegnete sie lächelnd, - „das heißt, eine halbe. Meine Mutter ist aus Conegliano im Venezianischen, wo sie mein Vater, als er noch Officier war, kennen gelernt." „Ihr Vater war Militär?" Ja wohl; aber er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heirathen zu können. Sie besaßen Beide kein Vermögen. Es wurde {meinem} dem Vater sehr schwer eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubrin-

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(bemerken bis Ein}} eingekreist auf der Rückseite des vorherigen Blattes, durch zwei Pfeile zwischen 53,35 konnte und 4 jede eingewiesen. (war) üdZ, eingewiesen nach vergönnt.

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gen. Vor drei Jahren ist er hier als Einnehmer gestorben," setzte sie ernst hinzu. „Und Ihre Mutter?" „Die lebt - dem Himmel sei Dank. Aber sie hat in diesem Winter eine schwere Krankheit, (- eine Lungenentzündung,} durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt. Dies hielt sie auch ab, mich auf den Ball zu begleiten." „Sind Sie mit Verwandten hier?" „Nicht mit Verwandten. Es sind bloße Bekannte, die sich erboten, mich {mich} mitzunehmen. Aber ich hätte es vorziehen sollen, zu Hause zu bleiben." „Wie so?" „Nun sehen Sie, diese Leute haben uns vor Längerem einen nicht unbedeutenden Dienst erwiesen, für welchen wir ihnen auch sehr dankbar waren. Aber sie wollten uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen - besonders die alte Frau, die eine wohlhabende Wittwe ist, und das erträgt sich schwer. Die Tochter wäre eigentlich {x-x x-x} ein ganz gutes Mädchen, {und} es ließe sich mit ihr auskommen. {Leider} (Aber leider) ist sie gar nicht hübsch, und das empfindet sie sehr schmerzlich - besonders bei solchen Gelegenheiten, wo sie kaum einer um eine Tour bittet. Da muß es ihr auch doppelt weh thun, wenn sie wahrnimmt, wie Andere von allen Seiten bestürmt werden. Um ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen, wollte ich mich eigentlich von der Quadrille zurückziehen, die sie überhaupt gar nicht tanzen kann - so wie ihr Bruder, der sie gewissermaßen aus Hochmuth nicht lernen will. Hingegen scheint er zu wünschen, daß ich sonst mit keinem Anderen tanze, als mit ihm." „Und hat er ein Recht zu solchem Verlangen?" Sie erbleichte flüchtig. „O nein! Nicht das geringste! Aber er thut sich Etwas auf seine{n Reichthum} (Wohlhabenheit) zu Gute. Ich mag ihn gar nicht leiden, und zeig' es ihm auch, so weit es angeht. Aber er will es nicht verstehen, und nur die Rücksicht auf den erwähnten Umstand hat mich bis jetzt abgehalten, es ihm rund heraus zu sagen." „Das ist freilich unangenehm." „Sehr. Und ich sehe immer deutlicher ein, daß es für mich besser gewesen wäre, den Ball gar nicht zu besuchen. Aber es war mein erster, und dieser Verlockung vermag ein junges Mädchen nicht zu widerstehen." „Konnten Sie sich denn nicht jemand Anderem anschließen?"

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(- eine Lungenentzündung,} üdZ, eingewiesen vor durchgemacht, der Bindestrich steht in der Zeile. sie udZ, als letztes Wort der Seite eingewiesen nach wenn.

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„Nein; {wir kennen nur wenige Menschen, denn wir haben immer sehr zurückgezogen gelebt, man hat uns von jeher gewissermaßen als Fremde betrachtet und Anfangs schien man uns sogar feindlich gesinnt gewesen zu sein, da wir aber niemals Ursache hierzu gaben, so ließ man uns endlich einfach bei Seite liegen."} ({x-x-x}) (Wir) (haben uns im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zurückgezogen. Die Menschen {x-x} hier hatten uns immer gewiss{xx}((er))maßen als Fremde behandelt - und so sind wir es zuletzt geblieben.") Wir hatten während dieses Gespräches den Saal mehrmals umschritten und gar nicht bemerkt, daß sich die übrigen Paare allmählich verloren hatten, was uns jetzt zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit machen mußte. Nun aber begann das Orchester einen Walzer zu spielen, den man (man) wahrscheinlich deßhalb so {rasch} (bald) folgen ließ, damit die von der Frangaise Zurückgebliebenen entschädigt würden. Von den {hellen, aufmunternden} (raschen) Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen dahin - und doch versetzte mich die Umschlingung in (so) wonniges Entzücken, {und unbewußt ihren früheren hartnäckigen Tänzer nachahmend, ließ ich} (daß ich es unwillkürlieh ihrem anspruchsvollen Begleiter nachthat und) sie nicht eher {los} ({ließ}) (frei gab,) als bis (der) letzte Geigenstrich verklungen war. Tief Athem schöpfend, das {losgegangene schimmernde} ({x-x} losgegangene) Haar aus der Stirn zurückschüttelnd, machte sie eine {anmuthige} Verbeugung, blickte dann, wie sich besinnend, im Saale umher{,} und {begab sich x-x nach} (eilte) ({x-x}) in das Speisezimmer. Um mich drehte sich noch Alles, und als ich mich jetzt mit hochklopfendem Herzen nach einem Stuhl umsah, trat Dorsner lächelnd an mich heran. „Nun," sagte er, „dein Geschmack ist nicht übel. Aber es ist ein noch ganz blutjunges Ding - und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gieb Acht, daß Du nicht hängen bleibst." Ich verstand kaum, was er sagte, und wollte mich eben setzen - da gewahrte ich, wie Ginevra an der Schwelle des Speisezimmers erschien. Sie war ganz bleich und ihre blauen Augen hatten einen dunklen, metallischen Glanz angenommen. Ich {stand auf} näherte mich ihr; sie kam mir sofort entgegen. „Denken Sie," begann sie mit leiser, zitternder Stimme, „was man mir an-

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(Wir/ Hinzufügung mit violetter Tinte von Weiß. (so/ üdZ, eingewiesen nach in. (frei gab,,) üdZ, eingewiesen nach eher. (der; üdZ, eingewiesen nach bis, steht am Ende der Zeile.

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gethan! Meine Begleiter sind fön und haben mich allein hier zurückgelassen." Einen Augenblick schwieg ich betroffen(.) {still} Dann aber sagte ich: „Nun, das wäre ja eigentlich das Schlimmste nicht." „Gewiß nicht, wenn ich jetzt ungescheut bleiben könnte. Und eigentlich könnt' ich es auch," fuhr sie fort, indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte, „das Gerede der Leute sollte mich wenig kümmern. Aber meiner Mutter wegen darf ich es nicht. Im Übrigen ist es gut, daß es so gekommen. Diese Menschen haben nun selbst das Band zerrissen, das uns drückte. Ich will mich nur noch ein wenig abkühlen, dann gehe ich nach Hause." „Allein?" „Warum nicht? Ich kenne den Weg, und der ist kurz. Wir wohnen gleich in der Nähe - außerhalb der Stadt." „Wie glücklich wäre ich, dürft' ich Ihnen trotzdem meine Begleitung anbieten." „Das können Sie - wenn Sie meinetwegen den Ball verlassen wollen. Auch ist es ja, wie gesagt, nicht weit; in zehn Minuten sind Sie wieder da." „Ich werde nicht zurückkehren; denn was sollte ich hier noch, wenn S i e fort sind?" Jede andere würde nun, obgleich ich diese Worte in überzeugendem Tone gesprochen hatte, doch irgend eine spöttisch bezweifelnde Einwendung hingeworfen haben. Ginevra aber blickte nachdenklich zu Boden. „Wirklich?" fragte sie dann, indem sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem vollen Blick ansah. „Gewiß," bekräftigte ich. Sie schwieg wieder. Dann sagte sie mit ihrer weichen, dunklen Stimme: „Das freut mich." Inzwischen hatte sich der Saal fast gänzlich geleert; denn die Raststunde war herangekommen, und Alles drängte und zwängte (sich) behufs Erquickung und Stärkung in den Nebenraum, diesen überfüllend. Ich konnte mich daher mit Ginevra ruhig niederlassen, und zwar unweit einer offen stehenden Nebenthür, die zur Damen-Garderobe führte. Vor{x} derselben, in einem ganz kleinen Zimmerchen, war eine äußerst primi{tive}(tive) Conditorei eingerichtet; es gab allerlei Backwerk, Orangen und Fruchtsäfte; Eis war nicht zu haben. „Kann ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?" fragte ich. „Nein, ich danke. Oder doch - um ein Glas Wasser möchte ich bitten." Ich trat zu der alten Frau, die mit verdrießlichem Gesicht bei der Waare

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(sich) üdZ, eingewiesen nach zwängte. 57

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saß, begehrte Wasser, und um doch Etwas zu erstehen, ließ ich auch einige Orangen auf den Teller legen, den ich Ginevra überreichte. „Die Orangen sind schön," sagte sie. „Ich werde eine davon nehmen und sie der Mutter bringen." Nachdem sie getrunken hatte, blieben wir noch eine Weile schweigend neben einander sitzen. „Nun aber bin ich bereit," sagte sie jetzt, indem sie sich erhob. „Erwarten Sie mich draußen am Eingang; ({x}) ich nehme nur {Ich eilte, während sie sich in die} (meine Sachen aus der) Garderobe, {begab} Ich eilte nach dem Vestibüle, wo mein Mantel hing. Es dauerte nicht lange, so erschien sie, in einen ganz leichten Überwurf gehüllt, um's Haupt ein schwarzes Schleiertuch geschlagen, von dem sich ihr lichtes Antlitz wundervoll abhob. Draußen bog sie gleich links ab und schlug einen {nahen} schmalen Fußpfad ein. Ich wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, und hielt mich in ehrerbietiger Entfernung an ihrer Seite. Es war eine mondlose Nacht; aber die Sterne flimmerten,und man konnte die Landschaft deutlich wahrnehmen. „Sehen Sie die Reihe kleiner Häuser?" begann sie. „Don wohne ich." „Das ist noch näher, als ich gedacht. {Noch} (Nur mehr) ein paar Augenblicke - und Sie sind mir entschwunden. {Viel} (Viel)leicht auf immer." Sie erwiderte nichts. „Soll ich Sie wirklich nicht mehr wiedersehen?" „Ich werde die Mutter fragen," sagte sie nach einer Pause. „Und wie werde ich den Bescheid erfahren?" Sie schien zu überlegen. „Kommen Sie morgen um vier Uhr nachmittags in jene Allee." Sie deutete auf zwei Reihen kahler Bäume, die sich dunkel quer {über die Felder hinzogen und nach dem Flusse zu führ} {{gegen den Fluß zu hinzogen. „Ich gehe dort oft spazieren, besonders in dieser Jahreszeit}} über die Felder gegen den Fluß hinzogen. „Es ist mein Lieblings weg; besonders in dieser Jahreszeit, wo es hier herum noch ganz einsam ist. Wollen Sie?" „Sie fragen? —" „Es dürfte morgen gutes Wetter sein," fuhr sie, {nach dem Himmel sehend} {{stehen bleibend}} {stillstehend,} {{zum}) {{stehen bleibend und zum}) {{x-x blickend}} {mit einem Blick nach den Himmel,) fön; „auch schlechtes würde mich nicht abhalten. Jetzt aber bleiben {{x-x}) Sie zurück." „{Sehen}

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33f. 34

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{{stehen bleibend}) üdZ, (stillstehend,) noch darüber, eingewiesen nach 32 sie, am Ende der Zeile. ({stehen bleibend und zum})«WZ, eingewiesen vor 32 {Himmel}. ({x-x blickend})üdZ, eingewiesen vor 32 {sehend}. (mit bis Himmel,) udT., eingewiesen vor fort.

(Gewahren) Sie die erleuchteten Fenster? Meine gute Mutter wacht noch." Sie reichte mir die Hand. „Also adäiol Auf morgen!" Sie eilte nach vorwärts, den {matt erhellten Scheiben entge} (matten Lichtern entgegen.) „A.ddio\n rief sie leise zurück. Dann klopfte sie leicht {an 5 ein Fenster} ({die Scheibe.}) (an eine Scheibe.) Gleich darauf wurde die Hausthür geöffnet und wieder geschlossen. Ich aber stand noch {lange; es war mir, als sähe ich ihren} (eine Weile und spähte nach dem) Schatten (Ginevras,) {an den lichten} (der sich auf den durchschimmerten) Fenstervorhängen {sich} ab{zeichnend} (zuzeich10 nen schien.) Endlich trat ich den Heimweg an, die Brust voll seliger Empfindungen, in welchen jede Erinnerung an meine Festungscirce spurlos unterging-

m. In welcher Aufregung ich am folgenden Tage der vierten Nachmittags15 stunde entgegen sah, läßt sich denken; ich {begann bereits} (zählte) die Minuten^) {zu zählen} und machte dabei die Wahrnehmung, wie endlos lang ein solcher minimaler Zeitabschnitt unter Umständen erscheinen könne. Und wie das schon in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, stellten sich meiner fieberhaften Ungeduld noch in der letzten Stunde Hindernisse entgegen: 20 ganz unvorhergesehene {dienstliche Verrichtungen} Dienstobliegenheiten, die mich fast um das Stelldichein gebracht hätten. Dennoch gelang es mir, knapp vor vier Uhr abzukommen und mich fast laufend {an den On der Zusammenkunft zu begeben} ({bezeichneten x-x Ort}) (auf den Weg zu machen.) 25 {Die Prophezeiung Ginevra's war eingetroffen.} (Das Wetter hatte sich in der Tat sehr günstig angelassen.) Die schönste Februarsonne strahlte vom Himmel nieder und schuf einen wahren Frühlingstag, wenn {sich} auch {noch} die Landschaft {in} (noch) ihre{r} ganze{n} winterliche{n} Kahlheit

5 7f. 8 8f. 23f.

(an eine Scheibe.) üdZ, eingewiesen vor Gleich. (eine bis dem) üdZ, eingewiesen nach 7 noch. (Ginevras,) üdZ, mit einer Schleife, die versehentlich zu lang und eine Zeile tiefer gerät, eingewiesen nach Schatten. (der bis durchschimmerten) üdZ, eingewiesen vor 9 Fenstervorhängen. (auf bis machen.) üdZ, eingewiesen nach 22 laufend.

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{ausbreitete} {aufwies.} Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevra's zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln. Auch sie nahm mich alsbald wahr und winkte mir mit dem Fächer, den sie statt eines Sonnenschirms {aufgespannt in der Hand hielt} (mitgenommen und ausgespannt hatte,} grüßend zu. Sie trug ihr Mäntelchen nur ganz leicht um die Schultern geworfen, und der schwarze Schleier umwehte lose ihr blondes Haupt. {{Endlich hatte ich sie, athemlos und erhitzt, {erreicht} (erreicht) sie war mir lächelnd entgegangen.}} „Also sind Sie doch gekommen," sagte sie lächelnd, als ich endlich athemlos und erhitzt vor ihr stand. „Ich hatte schon angefangen, ein wenig zu zweifeln." Ich {begann hastig die Gründe} (wollte) zu meiner Entschuldigung hastig die Gründe der Verspätung auseinander setzen; aber sie unterbrach mich. „Das thut ja nichts. Sie sind jetzt da - und was mich betrifft, so hätte ich gewiß noch weit länger gewartet. Auch hab' ich Ihnen eine gute Nachricht mitzutheilen: meine Mutter will Sie empfangen." „Welch ein Glück!" rief ich aus. „Ich hatte es vorausgesehen," fuhr sie {in} ruhig{em Ton} fort. „Denn ich kenne meine Mutter und weiß, daß sie mir keinen Wunsch abschlägt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß ich ein verzogenes Kind bin. Die Gute erfüllt meine Wünsche, weil ich nur selten einen habe - oder doch wenigstens ausspreche. Geschieht dies aber, {so weiß sie auch} (dann ist sie auch überzeugt,) daß es ein sehnlicher und wohl überlegter ist, auf welchem ich, wenn es noth thut, bestehe. Als ich ihr von unserer Begegnung auf dem gestrigen Balle erzählte, sagte sie daher blos: wenn Du glaubst, daß er es redlich meint, so mag er kommen. - Und Sie meinen es doch redlich?" {fuhr sie fort} {{schloß sie}) (setzte sie hinzu,) indem sie {{mich mit ihren {hellen} (blauen) Augen}} (mir) voll und tief {ansah.} {{anblickte.}) (in die Augen sah.) Ich gestehe, daß {ich} mich diese Frage {einen Augenblick} {{im Innersten}} (einigermaßen) betroffen machte. Denn ich empfand, daß jetzt {E} etwas Ernstes, {x} feierlich Bindendes an mich herangetreten war, {darauf} darauf ich nicht vorbereitet gewesen. Aber schon hatte ich mich über die schmale Hand gebeugt, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte, und {dieselbe}! (sie)F mit stummer Beteuerung geküßt. „Ich habe nicht daran gezweifelt," {fuhr sie} sagte sie in festem Tone, {fort.} „Die Officiere stehen zwar, was uns Mädchen betrifft, in keinem

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sie letzter Buchstabe radiert und mit violetter Tinte e ersetzt. {dieselbe} mit Bleistift gestrichen und durch (sie) ersetzt.

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besonderen Rufe. Aber ich glaube, es ist ein Vorurtheil, das, wie manches andere, gedankenlos nachgesprochen wird. Hatte ich doch an meinem Vater den Beweis, daß gerade in Ihrem Stande die Ehre über Alles geht. - Aber kommen Sie jetzt; meine Mutter erwartet Sie. Es ist zwar noch sehr schön hier außen; {doch} ({aber}) (allein) der Tag {neigt} (neigt) sich (doch schon) dem Ende zu, und in der Dunkelheit sollen Sie unser Haus nicht betreten." So schritten wir denn auf die kleinen Wohnstätten zu, die in der Entfernung vor uns lagen. Sie bildeten, von kunstlos umzäunten {kleinen Gärten und} (Gärtchen und winzigen) Grundstücken {vielfach} unterbrochen, eine Art Vorort, der {x-x} im freien Felde lag. Es wohnten sichtlich arme Leute hier; aber alles erschien {wohl} (wohl)gehalten und reinlich. In den {x-x anderen F} blanken {Fensterscheiben} (Scheiben) spiegelten sich die Strahlen der niedergehenden Sonne; hier und dort spielten Kinder friedlich vor den Thüren. Das Haus, dem mich jetzt Ginevra entgegenlenkte, war etwas ansehnlicher als die übrigen; zum Eingang führten mehrere Stufen empor. Als wir diese hinan stiegen, zeigte sich am nächsten Fenster das derb geröthete, neugierig blickende Antlitz einer bejahrten Frau, welche {uns} gleich darauf im Flur {entgegen} (an uns vorüber)kam und in einer Seitenthür verschwand. „Das war unsere Hauswirthin," sagte Ginevra; „die Wittwe des Amtsdieners, der unter meinem Vater gestanden und sich dieses kleine Anwesen im Laufe der Jahre erwirthschaftet hatte. Sie (selbst) bewohnt eben nur eine {kleine} Kammer; alles Andere haben wir um ein Billiges gemiethet." Sie öffnete eine zweite Seitenthür, durch welche wir in eine {kleine} helle Küche traten, und von da in eine nicht ungeräumige Wohnstube, {wo im Lehnstuhle die Mutter Ginevras Lehnstuhle, saß die Mutter Ginevras, eine zarte, schmächtige Frau}, ({x-x-x Fenster nahe im}) (wo die Mutter Ginevras im Lehnstuhle saß, eine zarte, schmächtige Frau) die leidend aussah, aber nicht viel über vierzig Jahre zählen konnte. Eine leichte Röthe flog über ihr Antlitz, als wir eintraten und sie mit einiger Mühe sich erhob. „Da ist er, mamma" sagte Ginevra. „Ich lasse Dich mit (ihm) allein." Sie legte rasch Fächer, Schleier und Mäntelchen ab und eilte wieder hinaus. Ich {hatte} (näherte) mich der {blassen} (blassen) Frau(,) {genähert} (die sich wieder gesetzt {hatte} ((hatte,))) und eine Pause gegenseitiger Verlegenheit trat {jetzt} ein.

5 19 22 33f.

(allein) üdZ, eingewiesen vor der. (doch schon) üdZ, eingewiesen vor 6 dem. (an uns vorüber) üdZ, eingewiesen nach Flur. (selbst) üdZ, eingewiesen nach Sie. (die bis hatte,))) üdZ, eingewiesen nach 33 {genähert}.

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so

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Endlich begann ich: „Sie waren so gütig, mir zu gestatten —" „Es freut mich, Sie kennen zu lernen," erwiderte sie ({, sich wieder setzend,}} in ziemlich gebrochenem Deutsch. „Bitte, nehmen Sie Platz." Ich zog {während sie sich wieder setzte,} einen Stuhl heran. „Ich weiß nicht," fuhr sie nach einigem Zögern fön, „ob ich recht gethan, Sie zu uns zu bitten; wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben. Aber meine Tochter hat mir Alles mitgetheilt, was auf dem Balle vorgefallen, und so schien es mir doch am gerathensten, einem Wiedersehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ihre liebenswürdige Persönlichkeit" - sie sagte diese Schmeichelei mit einem leichten Senken des Hauptes und in jenem feinen, vornehm ausgleichenden Tone, wie er nur in Italien {x} {gebräuchlich ist.} (zu hören ist -} „Ihre liebenswürdige Persönlichkeit scheint einen tiefen Eindruck hervorgebracht zu haben, und es würde vielleicht zu geheimen Zusammenkünften gekommen sein, die für ein junges Mädchen immer {sehr} (höchst) peinlich sind. Ich selbst war, als ich die Bekanntschaft meines unvergeßlichen Gatten machte, durch die Verhältnisse im elterlichen Hause leider dazu gezwungen und weiß, was ich dabei gelitten, (habe.) Denn trotz aller Liebe zu meinem Federigo empfand ich {ein solches Verhältniß} (einen solchen Verkehr) doch stets als {einen} Verrath an meinen Angehörigen." Ich hatte, während sie so sprach, aufmerksam ihr Antlitz betrachtet, das von der Erinnerung belebt wurde. In der ganzen Erscheinung lag eigentlich nichts Südländisches, und wäre das Charakteristische der Aussprache und mancher Bewegungen nicht gewesen, man hätte sie kaum für eine Italienerin gehalten. Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie {gar keine} (nicht die geringste) Ähnlichkeit. Sie errieth meine Gedanken und sagte lächelnd: „Nicht wahr, {x-x} Sie finden, daß mir Ginevra (gar) nicht {im geringsten ähnlich sieht} ({gleicht} ähnlich sieht}? Sie ist ganz nach ihrem Vater gerathen. Wenn Sie sich {die Mühe nehmen} ({bemühen}) (die Mühe nehmen) und jenes Bild dort betrachten wollen, so werden Sie das erkennen." Ich erhob mich und trat vor ein ziemlich {verblasstes} (verblaßtes) Aquarell, das an einem Fensterpfeiler hing. Es war etwas steif, aber nicht ohne Empfindung ausgeführt und stellte einen beiläufig dreißigjährigen Mann in {Uni} (Offi)zierstracht der Jägertruppe vor. {Aus dem hohen, bis

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(höchst) üdZ, eingewiesen nach {sehr}. (gar) üdZ, eingewiesen vor nicht. ({bemühen}) WZ. (die Mühe nehmen) üdZ.

an die Ohren reichenden Kragen des Frackes hob sich ein feingeschnittenes, bartloses Gesicht x-x, das militärisch kurz geschnittene Haar war lichtblond. Je länger} ({Von} Aus dem überhohen Frackkragen ragte ein {fein geschnittener, höchst x-x Kopf, x-x x-x} fein geschnittener, {x-x} höchst charakteri5 stischer Kopf mit lichtblonden Haaren {x-x x-x} und blauen Augen. Je länger) ich das Bild bei dem Ungewissen Dämmerlicht des {anbrechenden} Abends betrachtete, desto deutlicher traten mir die Züge {, die blauen Augen} Ginevras daraus {hervor} entgegen. „Und nicht bloß im Äußeren gleicht sie ihm," fuhr die Frau auf meine 10 laute Beistimmung fön; „auch in allem und jedem, was {x-x x-x} (den) Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor Kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist." „Ja, Ihre Tochter ist ein ganz einziges Geschöpf!" rief ich aus. „Nun, (Nun,) vielleicht sind wir Beide bestochene Richter. Aber so viel 15 glaube ich wohl selbst sagen, (zu dürfen:) {daß} sie (ist) ein vortreffliches Mädchen {ist} und (verdient) glücklich zu werden (.") {verdient."} „{Und das wird auch gewiß der Fall sein} !" (Sie wird es auch gewiß!) „{Es} (Das) steht {in Gottes Hand.} ({bei Gott}) (in Gottes Hand.") {Es trat wieder eine Pause (Eine Pause entstand wieder) (x-x wieder) ein, 20 während welcher man von draußen (in der Küche) herein, das Knistern eines (des Herdfeuers) Feuers so wie leise (x-x x-x) Hantierungen vernehmen konnte, die dort in der Küche vorgenommen wurden.} ({Es entstand wieder eine Pause, und man konnte nahe}) ((Ein Schweigen trat ein,)) ((während {welcher man})) (((dessen man))) aus der Küche herein das Knistern des 25 Herdfeuers, so wie leise Schritte und Hantierungen vernehmen konnte.) 2 3-6

14 15 16 19 20 21 22-25 23f. 24

{militä} wegen Zeilenende getrennt, von Weiß mit violetter Tinte getilgt, da Saar den Anfang des Wortes versehentlich hatte stehen lassen. Der durch viele Hinzufügungen und Tilgungen unübersichtliche Text {Aus his Bild von Weiß mit violetter Tinte umkreist und auf der Rückseite des vorherigen Blattes wiederholt. (Nun,) mit Bleistift hinzugefügt. (zu dürfen:) üdZ, eingewiesen nach sagen. (ist) üdZ, eingewiesen vor ein am Anfang der Zeile. (verdient) üdZ, eingewiesen nach und. {{Eine bis wieder})üdZ, steht über {Es bis Pause}. {{x-x wieder}) üdZ, eingewiesen nach 19 {Pause}. {{in der Küche})üdZ, über {von draußen}. {{des Herdfeuers})üdZ, eingewiesen vor {Feuers}, {{x-x x-x})«£/Z, eingewiesen nach {leise}. ({Es} bis konnte.) eingekreist auf der Rückseite des vorherigen Blattes, durch einen Pfeil verwiesen auf den getilgten Text 19-22 {Es bis wurden.}. {{während {welcher man})) üdZ, durch Schleife eingewiesen vor 23 {{und}). {{{dessen man))) über {{{welcher man})).

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„Ginevra bereitet den Kaffee," sagte {die Mutter} (Frau Maresch.) {Gi} (Sie) muß ja überall mit {zu}(an)greifen. Eine Magd zu halten, sind wir nicht in der Lage; das Gröbste verrichtet die Frau, bei der wir wohnen. Die kleine Pension, die ich beziehe, reicht knapp zum Leben aus, und wären uns nicht vor einiger Zeit ein paar hundert Lire zugefallen, die mir ein Verwandter in Italien nachgelassen, wir würden vielleicht in Noth - und was noch schlimmer in Abhängigkeit von fremden Menschen gerathen sein." „Sie haben gewiß noch mehrere Angehörige in Italien?" fragte ich. „Nein, - wenigstens Niemanden, der meinem Herzen nahe steht. Eltern und ein Bruder, den ich hatte, sind {{x-x}} schon vor Jahren rasch nach einander weggestorben. {Sie} (Man) hatte{n} meine Heirath nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben und {und dadurch bin ich ihnen mehr und mehr entfremdet worden. Anfangs litt ich, wie Sie wohl} (mich dann in der Fremde mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich habe, wie Sie sich) denken können, {sehr an Heimweh - selbst in x-x-x möchte ich mich hier x-x x-x Licht} (trotz meines ehelichen Glückes) {{sehr an Heimweh gelitten. Endlich aber verlor sich auch das und ich möchte {x-x-x} jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Seit wir vor der Stadt wohnen, und für uns leben bin ich ganz zufrieden. Das Haus ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte; aber es ist ein Gärtchen dabei und mit ein paar Schritten ist man ganz im Freien, ich freue mich schon auf den Frühling, wo ich dies Alles wieder werde genießen können; es soll mich hoffentlich wieder ganz herstellen. (Und auch nicht anders wohin. In Gratz leben noch Verwandte meines seligen Gatten, und sie haben mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir {auch} leben müssen. Seit wir in diesem Hause wohnen, sind wir {x} auch ganz zufrieden. Es ist zwar nicht mal mehr als eine Hütte, aber wir haben einen kleinen Garten und mit ein paar Schritten ist man)}} (sehr an Heimweh gelitten. Endlich jedoch verlor sich auch das, und ich möchte jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Und auch nicht anders wohin. In Graz leben noch Verwandte meines Mannes, und diese haben {uns} mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor, unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir leben müssen. Überdies sind wir, seit wir in diesem Hause wohnen, sehr zufrieden. Es ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte, aber wir sind hier vollständig für uns, haben einen kleinen Garten - und mit ein paar Schritten ist

2 16 16-23

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(an) üdZ, eingewiesen vor greifen. (trotz bis Glückes) udZ, Seitenende. {{sehr bis herstellen}} Interlinearversion zu der Passage 23-28 {{{Und bis man) }} Beide Passagen sind zeitgleicb getilgt.

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man ganz im Freien. Ich sehne mich schon nach dem Frühling, wo ich dies alles so recht werde genießen können; es soll mich hoffentlich ganz wieder herstellen.") So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine {{x-x}) Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die fein{sinnige}(fühlige) Frau {wie ich merkte, absichtlich vermied in dieser Hinsicht Neugierde zu verrathen. Sie hörte mit bescheidener} (in dieser Hinsicht jede Frage vermied. Sie hörte mit bescheidener) Aufmerksamkeit zu und sagte schließlich: „{Sie sind} (Ich sehe, daß Sie) aus {sehr guter} vornehmer Familie (sind). Und {Robert} (Emil) heißen Sie - {Roberto} (Emilio). Ein schöner und {für mich sehr bedeutsamer Name} (mir wohlbekannter Name;) mein armer Bruder hat ihn (gleichfalls) geführt." In diesem Augenblick trat Ginevra ein, in der Hand ein kleine, grün lackirte Schirmlampe, wie sie damals {in Geb} gebräuchlich waren und deren Schein das bereits stark verdunkelte Zimmer angenehm erhellte. „Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter," sagte sie, die Leuchte niederstellend, „und ich kann den Kaffee bringen der eigentlich längst fertig ist - und zu welchem Sie" - sie wendete sich mit einer Verbeugung an mich - eingeladen sind, wofern Sie dieses Frauengetränk nicht verschmähen." Und nun begann Sie rasch, Ihre Anstalten zu treffen. Sie schob den Tisch {ganz} nahe an die Mutter {hin} (heran) und breitete ein frisches {Tuch} ({x-x}) (Tuch) darüber. Dann brachte sie aus der Küche Kannen und Tassen, welche letztere sie sorgsam füllte und lächelnd credenzte. Nachdem {wir} das Vesperbrod (ein)genommen {hatten}, (war,) stand sie auf und zündete eine Kerze an. „Nun aber will ich Ihnen auch mein Gemach zeigen," rief sie. „Es ist zwar ein ganz winziges Stübchen, aber ich herrsche darin unumschränkt." Sie öffnete eine Seitenthür, die {mir schon früher} (ich schon mehrmals) in's Auge {gefallen war}, (gefaßt hatte,) und ließ mich, während sie voranleuchtete, eintreten. Der Raum war allerdings verschwindend klein; so zwar, daß man sich wunderte, wie das, was darin stand, dennoch hatte Platz finden können. In der Mittelwand zeigte sich ein Fenster; rechts und links

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64,28-3 5 9 10 25

(sehr his herstellen.") auf der Rückseite des vorherigen Blattes, mit einem Pfeil verwiesen an den Anfang der geltilgten Passagen 64,16-64,28 {{sehr bis man}}. {{ · }) üdZ, eingewiesen nach meine. (Ich bis Sie) üdZ, eingewiesen vor aus. (sind) üdZ, eingewiesen nach 9f. Familie. (ein) üdZ, durch eine Schleife verbunden mit genommen.

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davon (waren) zwei eingerahmte Tuschzeichnungen, (angebracht,) welche südliche Landschaften {vorzustellen schienen}, (vorstellten.) Knapp am Fenster {stand} ein {kleiner} mit Weißzeug überhäufter Nähtisch, nahe bei ein anderes {ganz} kleines Tischchen, auf dem zwischen einigen Blumentöp5 fen ein Vogelbauer stand. Die {eine} ({rechte}) (eine) Seitenwand deckte ein Kasten; die {andere} ({lin}) (andere) ein Regal, das (sich) vollständig mit Büchern in verblaßten Einbänden ausgefüllt {war} (zeigte.) „Nun, {ist es nicht ganz hübsch hier?"} (hab1 ich es mir nicht {x-x} ((hübsch)) eingerichtet?") fragte Ginevra. „Wenn ich hier nähe, {blicke} 10 (kann) ich dabei in {den} (unseren) ({kleinen}) Garten {hinaus}, (blicken.) Der ist freilich jetzt noch ganz kahl und wüst; dafür blühen meine Blumen am Fenster. Und das hier" - sie näherte sich mit dem Lichte dem Vogelbauer, in welchem ein Zeisig, den Kopf unter dem Flügel, bereits auf seinem Stängelchen schlief - „das ist mein piccino! Er zwitschert bei Tag ganz lu15 stig. Und dort" - sie beleuchtete das Regal - „dort haben Sie den ganzen italienischen Parnaß: Dante, Ariosto, Tasso und so weiter. Er rührt von meinem Vater her, der seinen Stolz darein setzte, das Italienische zu verstehen, wie ein Eingeborener - oder eigentlich noch besser. Er las gar nichts anderes, und Gott weiß, wie oft er diese Bände mag vorgenommen haben. Es 20 {war sein einziges Vergnügen} (kannte kein anderes {x-x}) Vergnügen. In seine{r}(n) {Jugend hat er auch gezeichnet; und} (jüngeren Jahren war er auch Zeichner; {und}) jene Landschaften dort (sind {wurden} von ihm) in {Italien selbst} (Neapel) aufgenommen (worden); denn er hat{te} im Jahre Zwanzig die oesterreichische {Invasion} (Intervention) mitgemacht." 25 Ich hatte inzwischen einen der Bände heraus gezogen und aufgeblättert. „Lesen {Sie} vielleicht auch (Sie) italienisch?" forschte sie.

l 5 6 8f. 19-23

22 23 26

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(waren) üdZ, eingewiesen vor zwei. (angebracht,) üdZ, eingewiesen nach Tuschzeichnungen, Ende der Zeile. (eine) üdZ, eingewiesen nach {eine}. (andere) üdZ, durch Schleife an die Stelle von {andere} verwiesen. (sich) üdZ, eingewiesen nach das. {hab' bis eingerichtet?") üdZ, 9 {{hübsch)) noch über der Hinzufügung, eingewiesen vor 9 {eingerichtet.) Es bis denn von Weiß mit violetter Tinte umkreist und auf der Rückseite des vorherigen Blattes wiederholt. Durch siehe nebenstehend quer im umkreisten Text wird darauf verwiesen. Bei der Wiederholung wird das ursprüngliche 19 Es durch das richtige Er ersetzt. (sind bis ihm) üdZ, eingewiesen nach dort. (worden) üdZ, eingewiesen nach aufgenommen. {Sie) üdZ, eingewiesen nach auch.

„Ich sollte wohl; denn es wurde im Cadetten-Institute gelehrt. Aber ich habe es nicht weit gebracht." „Wir wollen mit einander lesen, dann wird es schon gehen. - Hast Du gehört, mamma," rief sie in's Zimmer hinein, „daß ihm unsere Sprache nicht 5 fremd ist?" ,fio compreso; ehe piacerel" {antwortete} (ließ sich) die Mutter vernehmen. „Sie können sich übrigens denken," fuhr Ginevra fort, „daß ich selbst das Meiste von dem nicht (kenne), was in den Büchern steht; {Früher verstand 10 ich es nicht - und jetzt giebt mir unser kleines Hauswesen dauernd zu schaffen, daß ich tagsüber nicht daran denken kann, etwas zu lesen. Abends aber fallen mir bereits vor Müdigkeit die Augen zu."} (es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen.") Wir waren bei diesen Worten wieder aus dem Stübchen getreten, und da 15 ich wahrnahm, daß eine alte Standuhr im Zimmer bereits auf Acht wies, so hielt ich es für angemessen, mich (jetzt) zu verabschieden. „Auf Wiedersehen," sagte die Mutter. „Sia benedetta {vestra} (la sua) in· trata da noi." Ich zog die Hand, die sie mir reichte, ehrerbietig an die Lippen und 20 {ging,} (trat aus der Thür,) von Ginevra mit dem Lichte {hinaus geleitet} begleitet. Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus. „Sie lieben mich also?" fragte {sie leise} ({innig}) (sie mit einem innigen 25 Blick.) Ich zog sie an mich, und unsere Lippen schlössen sich (zu) {im} (einem langen) Kusse zusammen.

9 16 20 24 25 26 26f.

(kenne) üdZ, eingewiesen nach nicht. (jetzt) üdZ, eingewiesen nach mich. (trat bis Thür) üdZ, eingewiesen vor von. (sie bis innigen) zwischen den Zeilen von {sie leise} und ({innig}) üdZ. (Blick) üdZ, eingewiesen nach 24 (innigen) wegen des Zeilenendes. (zu) üdZ, eingewiesen nach sich. (einem langen) üdZ, eingewiesen vor 27 Kusse, Zeilenanfang.

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IV.

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Und nun, fuhr der Oberst fort, begann für mich eine selige Zeit. Ich suchte, so oft es nur anging, das kleine Haus auf, dessen Stille und Abgeschlossenheit den Reiz eines Verhältnisses erhöhte, da/ßl(s) sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete - und dabei das reinste und lauterste blieb, das sich denken läßt. {Denn} (Denn) bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre {Seele} junge Seele erschloß, erwies sie doch {eine} (eine jungfräuliche {x-x}) Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte{.) {und mir auch keine Regung in x-x x-x x-x x-x} Ich kam gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Dann saß Ginevra am Nähtisch und ich neben ihr, plaudernd oder still in ihren Anblick versunken, und wenn die Lampe angezündet war, lasen wir, während die Mutter zuhörte, in den Büchern des Vaters: Sonette Petrarca's, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia, und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovico's phantastischem Gedicht. Aber nicht lange mehr duldete es uns in den Stubenräumen. Denn es {begann} {allmälig} (war) Frühling geworden und sonnige, warme Tage lockten uns vor das Haus. Die Mutter ließ sich ihren Lehnstuhl in das Gärtchen schaffen, wo bereits das erste Grün schimmerte und die Knospen {mächtig zu schwellen begannen.} (dem Aufbrechen nahe waren.) Don weilte sie, während wir Anderen in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen, und Ginevra die ersten Veilchen so wie andere frühe Blumen zum Strauße pflückte, den sie mir beim {x} Abschied mitgab. So lebten wir wie in einem schönen Traum dahin und ahnten nicht, daß die Tage des Glückes {bereits} gezählt seien Als ich einmal bei einbrechender Nacht nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Oheims vor, worin mir dieser mittheilte, daß es {ihm bei} seine/nXm) {ausgezeichneten Verbindungen} (Einflüsse) möglich geworden sei, meine {Übersetzung}! (Versetzung)F zu einem in Wien befindlichen Regimente zu erwirken. Und zwar mit gleichzeitiger Beförderung zum Lieutenant; eine sprungweise Vorrückung, {welche}! (wie sie)F in jener Zeit durch die Gunst eines befreundeten Regiments-inhabers nicht {selten}! (allzu schwer)F zu erreichen war. Er hoffe daher, {schloß mein Oheim} (so

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(eine jungfräuliche {x-x})üdZ, eingewiesen nach doch. {begann} mit violetter Tinte getilgt und durch (war) ersetzt. (Versetzung)^ üdZ, von Weiß mit violetter Tinte hinzugefügt, entsprechend tilgte er {Übersetzung}!.

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schloß er), mich recht bald umarmen zu können. Unter anderen Umständen wäre diese Nachricht eine höchst erfreuliche gewesen; in diesem Augenblick aber {schoß} (fuhr) sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich nieder. Was sollte mir jetzt eine Beförderung? Was eine Versetzung nach Wien und das Wiedersehen meines Oheims, wenn mich dies Alles so rasch und plötzlich von der Geliebten wegriß!? Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, und schon am nächsten Morgen wurde ich von der Angelegenheit auch dienstlich verständigt, mit dem Beisatze, daß ich binnen dreier Tage an meinen neuen Bestimmungsort abzugehen habe. Also nur drei Tage, {xx} drei kurze Tage waren mir noch vergönnt - und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den aller kleinsten Bruchtheilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den cameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir {noch} auferlegte. Ich konnte also höchstens noch e i n e n vollen Abend für {mich} (mich) retten. {Für den} (Der) heutige{n} war schon {früher x-x x-x Zusammenkunft im Casino verabredet gewesen, wo ein Dienstes-Jubilar mit einem Bankett gefeiert werden sollte, was ich bereits gestern drüben mitgetheilt hatte. Aber die} (von einer gemeinsamen {x-x} Fechtübung in Anspruch genommen, welche allwöchentlich stattfand und mit {x-x-x gemeinsamen} {(einer gemeinsamen)} Tafel im Kasino zu schließen pflegte. {Die Frauen drüben waren} Drüben war man davon unterrichtet und erwartete mich daher nicht. Aber die) Stunden, die {noch} knapp vor mir lagen, konnte ich {{noch}) erhäschen und machte mich sofort auf den Weg nach L.... Es war ein schwerer Gang; mußte ich doch die Frauen von der so bald bevorstehenden Trennung in Kenntniß setzen! Ich traf die Mutter allein zu Hause. Sie war in letzter Zeit etwas zu Kräften gelangt und {während die Hauswirthin draußen am Herd stand} schien {sie} eben beschäftigt, Verschiedenes im Zimmer zu ordnen. „{Ah, Rohertol Roberto} (Ab, Emilio}\" rief sie überrascht, als sie mich eintreten sah. „{Das ist} Wie schön, daß Sie wieder einmal vormittags kommen und uns für den verlorenen Abend entschädigen. Ginevra besorgt eben ein paar kleine Einkäufe in der Stadt; sie wird jedoch gleich wieder zurück sein. Aber was haben Sie denn?" fuhr sie mit besorgten Blicken fort, da sie

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(von bis die) üdZ, eingewiesen nach 16 schon. Eine getilgte Einweisungsschleife verweist die Passage nach 16 heutige. {(einer gemeinsamen)), auf der Rückseite des vorherigen Bettes, nicht eingewiesen, da die Zeile mit dieser Hinzufügung beginnt und beide auf gleicher Höhe stehen. und und schien untereinander, mit einer Schleife verbunden.

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meine ernste und niedergeschlagene Miene wahrnahm. „Ist vielleicht Etwas vorgefallen?" „Allerdings, carissima madre" - ich pflegte sie stets so zu nennen „allerdings ist etwas vorgefallen. Etwas ganz {Trauriges} Unerwartetes, Trauriges —" Und nun theilte ich ihr zögernd und mit aller Vorsicht mit, was nicht verschwiegen bleiben konnte. Sie mußte sich setzen. „Mein Gott," brachte sie mühsam hervor, „so rasch, so plötzlich! Und was wird Ginevra dazu sagen? Sie ist zwar ein starkes Mädchen - aber dennoch — Ich glaube, da ist sie schon," setzte sie aufhorchend hinzu. In der That waren draußen die leichten Schritte Ginevra's zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst in's Zimmer geeilt, (das Antlitz von der Luft geröthet,} ein Körbchen am Arm, das sie rasch bei Seite stellte, und mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust flog. „Da bist Du ja!" rief sie. "Ich hab' es gewußt! Den ganzen Weg über ist es mir im Geiste vorgegangen, daß ich Dich beim Nachhausekommen hier treffen würde!" „Mit deinen Ahnungen!" sagte die Mutter. „Wenn Du wüßtest, was ihn hierher geführt -" Sie erblaßte leicht. „Was willst Du damit sagen, mamma}" fragte sie mit stockender Stimme, indem sie uns Beide mit athemloser Spannung ansah. Und nun erfuhr auch sie, was {uns bevorstand}, (da kommen sollte.) Bei jedem Worte, das sie vernahm, wurde sie bleicher, ihre Arme sanken langsam an den Hüften hinab; so {x-x} (stand) sie eine Weile wie erstarrt. Dann aber strich sie mit der Hand langsam über die Stirn und sagte: „Wir hätten darauf gefaßt sein können, daß dies früher oder später geschehen würde. Und da es {zu geschehen} (nicht zu) ändern ist, so wollen wir es mit Standhaftigkeit tragen. Wann mußt Du schon fort?" „In drei Tagen." „Das ist freilich bald, sehr bald. Aber gleichviel. Wien ist nicht aus der Welt, und (Du) wirst mich dort wie hier lieben." „Nun, wer weiß," warf die Mutter mit erzwungener Scherzhaftigkeit ein, „ob {x-x} (er) uns in Wien ({nur}) nicht vergißt." „Wie kannst Du nur so sprechen, madre l,\ (!)" braste (brauste) sie auf. „Als ob du nicht aus {eigener} deinem eigenen Leben wüßtest, daß selbst die größte Entfernung, die längste{n} Trennung an Gefühlen, wie die unseren,

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(das his geröthet,) üäZ, mit einer Schleife eingewiesen nach 12 geeilt. ({nur}) *dZ> eingewiesen nach Wien. (brauste) von Weiß mit violetter Tinte hinzugefügt ohne den Fehler braste zu tilgen.

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nichts zu ändern vermögen! Im Gegentheile werden sie dadurch nur gefestigt. Nicht wahr?" - {fuhr sie fort, indem sie} (wandte sie sich an mich und schlang) den Arm um meine {Schultern schlang}, (Schultern -) „nicht wahr, wir gehören einander an für's Leben?" „Für ewig!" erwiderte ich und küßte sie auf die Stirn. „Und sieh'," fuhr ich, {wie} (plötzlich) von {einer plötzlichen Eingebung vertrauensvoll erleuchtet},(einem tröstlichen Gedanken überkommen,) fort, „vielleicht reißt mich das Schicksal in bester Absicht von Deiner Seite. Ich treffe in Wien mit meinem Oheim zusammen, der ein viel vermögender Mann ist. Er liebt mich wie einen Sohn und wird sich gewiß bestimmen lassen, irgend etwas für unser(e) {zukünftiges Glück} Zukunft zu thun. Wir sind ja Beide noch jung und können warten." „Ja, erwiderte sie, „wir k ö n n e n und w o l l e n warten." Aber schon hatte mich die Empfindung überkommen, eine {voreilige} ({x-x}) (grundlose) Hoffnung ausgesprochen zu haben. Gerade von meinem Oheim hatte ich, für's Erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er {daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältniß stellen würde, das ihm bei den ehrgeizige Plänen und Absichten, die er wie ich wußte, hinsichtlich meiner Person x-x hatte, für mich so wenig wünschenswerth erscheinen mußte. Um mich in dieser Hinsicht zu übertäuben} ({bei seinen ehrgeizigen Plänen und Absichten, x-x x-x die er ((, wie ich wußte,)) mit mir vorhatte sofort feindselig gegen ein Verhältniß stellen würde, das ihm für}) (sich sofort feindselig gegen ein Verhältniß stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswerth erscheinen {erscheinen} {mußte}, ((konnte.)) Um {dieses Bewußtsein} ((dieses)) unangenehme Bewußtsein zu übertäuben,) sagte ich rasch: „Und wie es auch sein möge: Jedenfalls schreite ich nach den Waffenübungen um einen Urlaub nach, den man mir nicht verweigern kann. Ich komme also bestimmt im Spätherbst wieder (und) werde dann in der Festung bei einem Freunde oder hier in einem Gasthofe wohnen /-l (.) {und Dir einige Wochen lang ganz angehören} (Dann können wir uns) einige Wochen für die Trennung schadlos halten." „Und uns um so inniger de/rl (s) {Wiedervereinigung} (Wiedersehens)

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(plötzlich) üdZ, eingewiesen nach {wie}. (grundlose) üdZ, eingewiesen vor Hoffnung. ({bei bis für}) üdZ, erste Zeile der Seite, 22 (({wie ich wußte,})) noch eine Zeile darüber. (sich bis übertäuben,) auf der Rückseite der vorherigen Blattes ganz oben, daher nicht eingewiesen.

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freuen," setzte sie hinzu, mir tief in die Augen blickend. „Aber heute bleibst Du doch?" „Du weißt, ich kann nicht; höchstens bis drei Uhr. Es wird {mir} (uns) überhaupt nur e i n Abend mehr vergönnt sein - der morgige. Ich werde so früh {xx} wie möglich kommen - zum Abschied." „Zum Abschied," wiederholte sie still. „Aber heute kannst Du wenigstens mit uns zu Mittag essen. Ich werde gleich das Nöthige veranlassen." Und sie erhob sich, {bleich zwar, aber ruhig} um {sich in die} (nach der) Küche zu {begeben}, (sehen,) wo sich bereits die Hauswirthin am Herde zu schaffen machte. „{Welch ein merkwürdiges} (Merkwürdiges) Mädchen!" sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. „Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Thränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen. Und sie! Sie ist wirklich ganz ihr Vater." Später deckte Ginevra, bleich zwar, aber ruhig wie sonst, den Tisch und wir setzten uns zum Male, von welchem unter einsilbigem Gespräch nur wenig berührt wurde. Auch {nach Tisch} (später) blieb es ganz still in der vertrauten Stube. Ich saß mit Ginevra (Hand in Hand) auf einem kleinen Sofa, der Mutter gegenüber, die eine Strickarbeit vorgenommen hatte und uns dabei von Zeit zu Zeit wehmüthig betrachtete. Endlich war es drei Uhr und ich erhob mich. „Also m o r g e n , " sagte Ginevra, indem sie mir fest die Hand drückte. „Morgen - zum letzten Mal!" „ N i c h t zum letztenmal!" sprach sie kraftvoll. Als ich aber jetzt der Mutter die Hand reichte und {{mich x-x der Thür zuwandte, da machte sich (in ihr) der lange zurückgedämmte Schmerz {in ihr} mit elementarer Gewalt Luft. (Ich sah, wie es in ihrer) {Ihre} junge Brust schüttelte und in ein fast schreiendes Weinen ausbrechend umschloß sie mich mit (die Arme) x-x Arm, x-x-x und mit ihren}} {{mich {x-x} der Thür zuwandte, da {machte sich in ihr der} (brach ihr) lange zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt {Luft}, (x-x) {Ich sah, wie es in ihrer jungen Brust schüttelte, und in ein fast schreiendes Weinen ausbrechend, umschloß sie mich mit} und (Laut aufweinend umschloß sie mich mit) (laut aufweinend) den Armen, mich krampfhaft festhaltend und uns mit ihren heißen Thränen benetzend.

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(Hand in Hand) üdZ, eingewiesen nach Ginevra. ({in ihr}) üdZ, eingewiesen nach sich. ({Ich bis ihrer})üdZ, eingewiesen vor {Ihre}. ({die Arme}) üdZ, eingewiesen nach mit._

So standen wir lange; {in schmerzlicher Umschlingung; dann} (dann) riß ich mich los.}} (mich der Thür zuwandte, da brach in ihr der {lange} zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt hervor. Laut aufweinend stürzte sie auf mich zu und umschloß mich {(mit)) den Armen. So standen wir lange, während sie mich krampfhaft fest hielt und mit {ihren} ({ihren}} heißen Thränen benetzte, dann riß ich mich los.}

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Der Oberst hielt inne und blickte eine Zeit lang schweigend vor sich hin. „Ich möchte am liebsten meine Geschichte hier abbrechen," sagte er dann; „denn die Rolle die ich nunmehr zu spielen beginne, ist nichts weniger als glänzend. Aber ich will mir die Buße auferlegen und im Context fortfahren. Der Abschied war ein {herzzerreißender} (tief ergreifender} gewesen. Ich hatte Ginevra beim {x-x} {Scheiden} ein {Pfand} Ringlein mit blauem Stein gegeben, welcher letzterer im Geschmack jener Zeit ein kleines Herz vorstellte. Sie selbst löste das goldene Kreuz, das sie beständig trug, vom Halse los und reichte es mir. „Nimm!" {sagte sie. „es ist von} {sagte sie. „Es ist} ein Andenken meines Vaters; das einzige Schmuckstück, das ich von ihm habe. Schon seine Mutter hat es getragen. Trag' es jetzt D u als Erinnerung an mich, bis wir wieder vereint sind." Ich kam mir damit wie gefeit vor und {empfand}, {fühlte,} wie siegreich das Bild Ginevra's, deren vor Trennungsschmerz zitternde Gestalt, deren bleiches, verweintes Antlitz ich während der Reise {noch x-x} beständig vor Augen hatte, allen neuen Eindrücken Stand halten würde. Deren waren auch anfänglich nicht allzu viele. Denn für's erste galt es, im Regiment, wo man den {gewiß un} {eben nicht} erwünschten Einschub mit mißtrauischer Zurückhaltung empfangen hatte, festen Fuß zu fassen, was mir eine doppelt eifrige Diensteserfüllung zur Pflicht machte. Auch hatte ich in Wien keine Anverwandten außer meinem Onkel, {Onkel} und der war ein eingefleischter alter Hagestolz, welcher, trotz seiner hochgestellten Verbindungen, {jedem} {dem} sogenannten {gesellschaftlichen Verkehr} {Weltverkehr} mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging. Seine Erholung war, allabendlich ein vielgerühmtes Gasthaus in der inneren Stadt aufzusuchen, wo

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(mich his los.) umkreist auf der Rückseite des vorherigen Blattes, mit einem Pfeil zum Beginn der Seite an den Anfang der mit allen Hinzufügungen getilgten Passage 72,26-2 {{mich his los}} verwiesen.

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er sich im Kreise einiger Alters- und Gesinnungsgenossen nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebte. Da hatte er nun seine Freude daran, mich dort einzuführen und, so oft es anging, auf das köstlichste zu bewirthen, wobei (er selbst mit dem} (der) Champagner nicht {sparte} (gespart wurde). So war meine freie Zeit fast ausschließlich von ihm in Anspruch genommen; höchstens, daß ich hin und wieder einmal das Theater besuchte. Dabei war und blieb {es} (aber) meine größte Freude der Briefwechsel mit Ginevra. Wir schrieben einander regelmäßig alle acht Tage, was {was bei den} (unter) {damaligen Postzuständen dem heutigen} ({und nach heutigen Begriffen von}) (den damaligen Verhältnissen dem heutigen) täglichen Schreiben gleichkam, und {ich kann gar} (es läßt sich) nicht sagen, mit welcher Aufregung ich jeden Brief Ginevra's erbrach, mit welchem Entzücken ich ihn las - und wieder las .... So waren mehr als drei Monate verstrichen, als der Adjutant des BatailIons, bei welchem ich stand, {lebensgefährlich} (schwer) erkrankte und ich beauftragt wurde, einstweilen seine Dienstleistung zu übernehmen. Der commandierende Major, ein {Baron} ({Marquis}) (Baron) Dumont, stammte aus einer französischen Emigranten-Familie und galt als höchst unfähiger Mann, dem allerdings eine gewisse Gutmüthigkeit nachgerühmt wurde. Da er des deutschen Idioms niemals ganz mächtig geworden, hing er gar sehr von seinem Adjutanten ab, den er übrigens auch zu einer Art persönlichen Hofdienstes heran zu ziehen liebte. Als schlechter Reiter sah er gern, wenn man seine schönen Pferde tummelte; bei Spaziergängen {mußte} ließ er sich begleiten, und Abends war man ein für alle Mal zum Thee gebeten, wogegen {x-x} (man) sich freilich herbeilassen mußte, stundenlang mit ihm Piket oder Ecarte zu spielen, das einzige Vergnügen, das er kannte. Er war {xx} (mit) einer polnischen Gräfin verheirathet, die zur Zeit meines Eintreffens beim Regiment auf einem Gute in der Nähe Lembergs sich befand, nunmehr aber eines Tages (ganz plötzlich) in Wien erschien ({x-x}). Beim ersten Anblick dieser Frau hatte ich eine {sehr gemischte} (eigenthümliche) Empfindung; ich wußte nicht, war es Schreck oder Wohlgefallen - vielleicht beides zusammen. Die Gräfin mochte ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war bereits leicht verwittert; {aber} ({aber}) bei näherer Betrachtung ({jedoch}) (jedoch) zeigte sich ein {{{ungemein} (ungemein x-x) reizendes Profil. {Von} (Bei) (Von) nicht allzu hohem Wüchse, zeichnete 10 29 34 35

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(den ins heutigen) unten auf der Rückseite des vorherigen Blattes auf gleicher Höhe mit der getilgten Passage 9 {damaligen his heutigen}. (ganz plötzlich) üdZ, eingewiesen nach Tages. {{jedoch}) (jedoch) üdZ, eingewiesen vor zeigte. ({Bei}) {{Von}) üdZ, eingewiesen vor nicht. ({Von}) versehentlich von der Gesamttilgung der Passage 34-75,8 {{{ungemein} bis weiche}} ausgenommen.

sie sich durch extrem (x-x ihre x-x zeichnete sie sich durch etwas) langsame, (doch aber) aber ungemein graziöse Bewegungen aus (besonders x-x), und ihre Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, {farblosen} glanzlosen Braun, und (auch) die 5 grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, schimmerten jedoch, im Gespräch (x-x-x) ganz eigenthümlich tief, wobei auch die blassen Lippen (im Gespräch) (x-x) zwei Reihen der köstlichsten Zähne enthüllten, dazu die weiche}} (reizendes Profil, und die blassen Lippen enthüllten ((im Lächeln)) zwei Reihen der köstlichsten Zähne. Von 10 nicht allzu hohem Wüchse, zeichnete sie sich durch etwas langsame, aber ungemein graziöse Bewegungen aus; Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, glanzlosen Braun, und auch die grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, das {x-x hin und wieder manchmal} plötzlich in ein 15 überraschendes Aufleuchten {überging} übergehen konnte. Dazu die weiche,) fremdländische Aussprache, die {ungezwungene Vornehmheit} (vornehme Ungezwungenheit) einer vollendeten Weltdame - und {{man mußte sich sagen, daß man (sich) hier eine(r) (höchst eigenthümliche x-x eigenthümlich x-x x-x x-x) {ganz einzige} Erscheinung {vor sich habe}}}, (man 20 mußte sich sagen, daß man sich ((hier)) einer höchst verführerischen Erscheinung) (gegenüber befinde.) Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesen1 2 4 6 7

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{{x-x bis etwas}) üdZ, eingewiesen nach extrem. ({besonders x-x}) üdZ, eingewiesen nach aus. {{auch}) üdZ, eingewiesen nach und. {{x-x-x}) üdZ, eingewiesen nach Gespräch. {{im Gespräch}) üdZ, eingewiesen vor zwei am Anfang der Zeile. {{x-x}) auf der Rückseite des vorherigen Blattes, mit einer Schleife eingewiesen vor zwei am Anfang der Zeile auf gleicher Höhe. (reizendes his weiche,) auf der Rückseite des vorherigen Blattes, mit einem Pfeil an das Ende der getilgten Passage vor 16 fremdländische verwiesen. {{im Lächeln)) üdZ, eingewiesen nach enthüllten. {vornehme Ungezwungenheit) üdZ, vornehme am Ende der Zeile, Ungezwungenheit am Anfang der nächsten, nur letzteres eingewiesen vor 17 einer, beide Wörter beziehen sich jedoch auf dieselbe getilgte Passage. {{sich}) üdZ, umkreist und eingewiesen nach man, von Saar versehentlich nicht getilgt. {{höchst bis x-x})üdZ, eingewiesen nach 18 {eine}. {man bis Erscheinung) auf der Rückseite des vorbeugen Blattes, mit einem Pfeil an den Anfang der getilgten Passage 17-19 {{man bis habe}} verwiesen. {(hier)) üdZ, eingewiesen nach sich. {gegenüber befinde.) über 19 {vor sich habe}, mit einer langen Linie an das Ende der Passage 19-21 {man bis Erscheinung) auf der Rückseite des vorherigen Blattes verwiesen.

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heit etwas {x-x} (beengt) zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, als sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuche nach wie vor fortzusetzen. So spielten wir denn jetzt {Whist} zu Dreien Whist mit dem Strohmanne, und nach dem Thee plauderten wir, wobei die Hausfrau es liebte, sich in träger Behaglichkeit auf {x-x} einer Chaiselongue auszustrecken und Cigaretten zu rauchen, was damals etwas noch {etwas} ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren; sie liebte es dann, in solch ungezwungener {Art} (Weise) {cercle} (Cercle) zu halten. Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Gegen mich {entwickelte} (erwies) sie eine Art mütterliche Vertraulichkeit, die sich {nach polnischer Art} (oft) zu allerlei unbefangenen kleinen Zärtlichkeiten steigerte. Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, {während eines Gespräches} ({manchmal}) das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter oder ließ (im Gespräch) ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte. Es wäre nun an der Zeit gewesen, {manchmal} (öfter) das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug. Nicht etwa, daß das Bild Ginevra's durch den intimen Verkehr mit der schönen Frau getrübt oder gar verwischt worden wäre; nein, es leuchtete mir noch immer in {ungetrübter} (voller) Klarheit entgegen, aber aus viel weiterer Entfernung als früher, wo es mich {gewissermaßen} (sozusagen) auf Schritt und Tritt begleitet hatte. Eines Abends, als wir wieder beim Whist saßen und ich mir einige {arge} Fehler beim Spiel hatte zu Schulden kommen lassen, sagte die Gräfin: „Aber was treiben Sie denn {heute}, mon enfant? Sie leiden ja (an) einer unverantwortlichen Zerstreutheit. Sind Sie vielleicht gar verliebt?" „Du stellst {seltsame} ({seltsame}) ({unanständige}) Gewissensfragen, Lodoiska," {warf} (bemerkte) ihr Gatte {gutmüthig scherzend ein}, (mit seinem stereotypen Lächeln.) „Und wenn dem so wäre, Gräfin?" {antwortete} (entgegnete) ich {gleichfalls scherzhaft}, (halb im Ernst, halb im Scherz.) „So würd' ich es begreiflich finden," {antwortete} ({erwiderte}) (antwortete) sie. „Denn die Liebe ist das Recht der Jugend. Und wo weilt der Gegenstand Ihrer Gefühle? Hier in Wien?" „Keineswegs. {Weit} (Weit -) sehr weit von hier entfernt." Sie erwiderte nichts und steckte hastig ihre Karten in einander. „Ist es ein

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(im Gespräch) üdZ, eingewiesen nach ließ. (an) mit violetter Tinte hinzugefügt üdZ, eingewiesen nach ja. {{seltsame }} ({unanständige}) üdZ, eingewiesen vor Gewissensfragen.

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junges Mädchen?" fragte sie nach einer Weile. „Das versteht sich wohl von selbst," sagte der Major. „Schön?" fuhr sie kurz fort. „Ungemein," warf ich hin, den angeschlagenen Ton festhaltend. „Brünett?" „Blo(n)d." Sie schwieg und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiele zu. Als der Robber beendet war, stand sie auf und sagte, sie leide heute an Migräne und wolle sich deßhalb zeitig zur Ruhe begeben. So brach auch ich früher als sonst auf, vom Major wie immer mit einem wohlwollenden Händedruck {xx} verabschiedet. Von jenem Abend an beobachtete sie gegen mich eine gewisse Zurückhaltung. Sie nahm {nun selten} (seltener) am Spiele theil und zog sich während dessen in den anstoßenden Salon zurück, wo sie auf dem Ciavier phantasierte oder Stücke von Chopin spielte {.) {den sie sehr liebte.} Dann kam sie wieder herein und nahm ihre gewohnte Lage auf der Chaiselongue ein. Wenn ich nach ihr hinsah, konnte ich bemerken, daß ihr Blick mit einem ganz {eigenthümlichen} (seltsamen) Ausdruck auf mich gerichtet war. Dies alles verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen, die auf den Briefwechsel mit der entfernten Geliebten nicht ohne Einfluß blieb. Es war {mich}, (mir) als hätte ich Etwas zu verschweigen, geheim zu halten, und in Folge dessen geriethen meine Briefe weniger rund und {gleichmäßig} (fließend) als früher; sie wurden gezwungener, fragmentarischer. Ginevra aber schien nichts davon zu bemerken. Ihre Zeilen athmeten die gewohnte gleichmäßig ernste Leidenschaftlichkeit, die sich im {Ausdrücken} (Worte) jeder Uberschwänglichkeit enthielt, jedoch die reinsten und vollsten Herzenstöne anschlug. {In allen aber} (Und immer) kam die stets wachsende Freude darüber zum Ausdruck, daß nun die Zeit näher und näher rücke, {xx} um welche ich auf Urlaub in L... erscheinen würde. {Dieser Urlaub aber} (Das aber) war es, was meine {Unr} Un {ruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese} ruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese Angelegenheit erwog, desto deutlicher wurde mir, zu {welch} (welch) unüberlegtem Versprechen ich mich damals hatte hinreißen lassen. Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub nachsuchen - und das gerade jetzt, wo ich mich in einer besonderen dienstlichen Verwendung befand, deren Ende sich (gar) nicht absehen ließ; denn der Adjutant, obwohl schon auf dem Wege der Genesung, bedurfte noch einer längeren Erholung. Und ganz

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(welch) üdZ, eingewiesen nach 32 zu. (gar) üdZ, eingewiesen nach sich.

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abgesehen von diesen so gewichtigen Bedenken: ich mußte mein Gesuch doch irgendwie begründen. Womit? Mit Familienangelegenheiten? Man wußte ja, daß mein Oheim in Wien lebte, und wie würde sich dieser, den ich jetzt ohnehin selten genug sah, {zu der Sache} (zu meiner Absicht) verhalten? Gewiß verweigernd, um so verweigernder, wenn ich ihm, wozu ich einen Augenblick schon entschlossen (gewesen,) in den ganzen Sachverhalt einweihte. Ich war also in der That ganz rathlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte. In dieser peinlichen Gemüthslage begab ich mich an einem neblichten Oktoberabende, nachdem ich einen einsamen und gedankenvollen Rundgang um das Glacis gemacht, in die Wohnung des Majors, der ich nun schon drei Tage ferngeblieben war. Im Spielzimmer brannte bereits die Astrallampe; {ich} im Halbdunkel des Salons aber saß Gräfin Lodoiska am Flügel, dessen Töne mir schon beim Eintritt entgegengeklungen hatten. Als sie jetzt mein Erscheinen gewahr wurde, rief sie mir, ohne sich zu unterbrechen, zu: „Kommen Sie nur da {herein} herein. Es ist (mir) draußen zu hell; die Lampe thut meinen Augen weh." Dann erhob sie sich und trat mir, von dem Schein eines leichten Feuers, das im Ofen flackerte, {eigenthümlich} ({eigenthümlich}) (phantastisch) beleuchtet entgegen. Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter (weißer) Halskragen und hohe {weiße} Manschetten glänzend abhoben. Ihr {weiches} (volles) Haar, auf welches sie scheinbar wenig Sorgfalt verwendete, umrahmte in {vollen x-x} (losen) Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz. „Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen," begann sie in melancholischem Tone. „Dumont hat nothgedrungen eine Einladung angenommen. Ich selbst ließ mich entschuldigen; denn ich bin so gar nicht gestimmt, in die Welt zu gehen." Sie hatte sich bei diesen Worten auf einen Pouf niedergelassen, der in der Mitte des Salons stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen. „Ich bin seit einiger Zeit auch nicht in der besten Stimmung," sagte ich, mich setzend. ^.Ich habe es wohl bemerkt," erwiderte sie leise und nachdenklich. „Vertrauen Sie mir doch an, was Sie {quält} (drückt)." Es wurde mir nicht leicht, darauf zu antworten. „Nun," sagte ich endlich, „vielleicht entsinnen Sie sich noch meiner Erklärungen - oder eigent-

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{gewesen,} üdZ, eingewiesen vor in. (phantastisch) üdZ, eingewiesen vor beleuchtet. (weißer) üdZ, eingewiesen nach ausgelegter.

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lieh Andeutungen über eine Herzensangelegenheit —" „Jawohl; ich erinnere mich." „Ich hatte in dieser Hinsicht," fuhr ich {fort} zögernd fort, „um einen Urlaub {einschreiten}! (einkommen)F wollen, sehe aber, daß sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen -" „Dann denken Sie nicht weiter daran," warf sie leicht hin. Ja, wenn das nur so ginge. Ich habe eine bestimmte Zusage gemacht man erwartet mich —" „Nicht jede Erwartung kann erfüllt werden. Aber {sagen} (beichten) Sie mir, mon enfant" fuhr sie im alten vertraulichen Tone fort, indem sie {mich} meine Hand faßte, „wer ist denn eigentlich die junge Dame? Ist sie von guter Familie? Hegen Sie ernste Absichten?" Es wurde mir wieder schwer, zu antworten. „Allerdings hege ich solche obgleich -" „Sich auch in dieser Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen?" {sagte} (fügte) sie rasch (bei.) ({hinzu}) „Ich verstehe. Es ist ein armes Mädchen, das Sie nicht sofort zu Ihrer Frau machen können. Aber sagen Sie: haben Sie {bindend} ein bindendes Versprechen gegeben? Oder wäre," fuhr sie, {mich hoch} (mir) höchst ausdrucksvoll in die Augen sehend, fort, „wäre das Verhältniß etwa schon so weit gediehen, daß Sie durchaus nicht mehr zurücktreten könnten?" Ich verstand, was sie meinte. „O nein!" rief ich; „das {letztere} ist keineswegs der Fall{!}." „Dann {müssen Sie es als} (ist) (es ja ein) wahres Glück(,) {betrachten, wenn} (daß) Sie hier zurückgehalten werden, lieber Freund! Bedenken Sie, wie gefährlich für Sie - {Beide} (und auch für Ihre Geliebte) ein solches Wiedersehen wäre. Es könnte Ihnen dann wirklich die Verpflichtung erwachsen, das Mädchen zu heirathen. Und wie wollten Sie das anfangen? Sie wären (vielleicht) gezwungen, Ihre ganze Carriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen - zu ewiger Reue. Und das Alles schon in I h r e n Jahren? Nein, nein; schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn!" Ich vernahm schon eigentlich nicht mehr (recht) deutlich, was sie sprach. Denn sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es sich wie ein schwerer, betäubender

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(einkommen)F üdZ, von Weiß mit violetter Tinte hinzugefügt, entsprechend tilgte er {einschreiten}!. (bei.) ({hinzu}) üdZ, beide eingewiesen nach rasch. (ist) mit violetter Tinte üdZ, vor (es ja ein) eingesetzt. (vielleicht) üdZ, eingewiesen nach wären. (recht) üdZ, eingewiesen nach mehr.

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Schleier {x-x} {{auf}} {mich legte}: (über mich {breitete} legte.) Ich erwiderte nichts und seufzte nur tief auf. „Armes Kind," sagte sie, indem sie mir das Haar aus der Stirn strich, „armes Kind, lieben Sie sie denn wirklich so sehr?" 5 Sie mochte {x} in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständniß lesen, und ein {x-x der Freude, des} (Ausdruck grausamen) Triumphes überflog ihre Züge. „Sie werden Alles vergessen, wenn Sie bei uns bleiben. Und Sie bleiben bei uns - nicht wahr?" 10 Sie hielt mir die Hand hin, die ich ergriff und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Sie ließ es lächelnd geschehen; dann {legte} (drückte) sie ihr Haupt {auf} (fest an) meine Schulter und flüsterte: „endlich!" Ich sank ihr zu Füßen.

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VI.

Mehr als ein Jahr war seitdem verstrichen, ich selbst aber ganz in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, (mich) mit all den Qualen zu erfüllen, welche ähnliche {Verhältnisse} (Beziehungen) mit sich bringen. Ich hatte damals Ginevra ganz kurz mitgetheilt, daß e{x}(s) 20 mir unmöglich sei, einen Urlaub anzutreten; die Gründe würde ich in meinem nächsten Briefe ausführlich auseinander setzen. Das verschob ich aber von Tag zu Tag — um es schließlich zu unterlassen. Was hätte ich auch schreiben sollen? Zwei Briefe, die inzwischen von Ginevra eingetroffen waren - den Empfang des zweiten hatte ich auf einem Schein bestätigen müs25 sen - fand ich gar nicht den Muth zu lesen, sondern schob sie unerbrochen in ein Fach meines Schreibtisches und legte das Kreuz dazu, auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne. So geberdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch aus L... {nicht mehr ein} (keine) weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit {x-x unbegreiflich} {{x-x}} jenem 30 {{x-x x-x}) {Leichtsinn der Jugend} (Leichtsinn der Unreife,) der Einem in

l 17 29 30

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(über his legte.) üdZ, eingewiesen nach {legte}. (mich) üdZ, eingewiesen vor mit. ({x-x})üäZ, eingewiesen nach {unbegreiflich}. ({x-x x-x})üdZ, eingewiesen nach 29 jenem. (Leichtsinn der Unreife,)

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späteren Jahren ganz unfasslich vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgethan, und die Stimme des Gewissens sprach immer seltener und schwächer. Da, an einem strahlend kalten Januartage, als ich eben im Begriffe war, an einer Schlittenpartie {nach x-x} (in den) Prater theilzunehmen, welche Lodoiska, die dieses Vergnügen sehr liebte, vorgeschlagen hatte, wurde {mir beim} {ein Brief überbracht. Ich war eben} (mir -) ich trat gerade aus meiner Wohnungsthür - ein Brief überbracht. Ein Blick auf die Adresse genügte, um mich erkennen zu lassen, daß er von der Mutter Ginevra's war. Erschrocken schob ich ihn rasch in die Brusttasche meines Mantels, entschlossen, mir durch diese unerwartete Mahnung die Freude des Tages nicht verkümmern zu lassen. Als ich spät in der Nacht nach Hause kam und den Brief hervorlangen wollte, fand er sich nicht mehr vor; er mußte, da ich den Mantel inzwischen mehrmals abgelegt, der Tasche entglitten sein. Dieser Verlust berührte mich (höchst) {peinlich. Der Himmel mochte wissen, wem (der x-x x-x hatte, x-x x-x konnte) das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage (x-x x-x)} (peinlich. Wer konnte wissen, wem das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage) hegte ich die Erwartung, daß es in irgend einer Weise an mich zurück gelangen würde. Aber das geschah nicht, und ich glaubte endlich einen Wink des Schicksals darin zu erkennen. War mir doch so die bittere Wahl erspart geblieben, ob ich den Brief hätte lesen sollen oder nicht; zudem konnte ich mir ja leicht vorstellen, was er enthalten haben mochte. Dennoch wurde durch diesen Zwischenfall mein Gewissen wieder in Aufrühr gebracht, und ich mußte, trotz aller Übertäubungsversuche, in einem fort an die blasse, hinfällige Frau denken, die mir in ihrem mütterlichen Schmerze geschrieben. {Doch} Mit der Zeit freilich wurden auch diese Nachwirkungen {immer} schwächer und gingen endlich ganz vorüber. So war es, seit ich Theresienstadt verlassen, zum zweiten Male Carneval geworden. Obgleich die Pariser Februarrevolution {ganz} Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand. Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, {diese fanden damals x-x noch in der Hofburg statt und hatten eine ganz andere Bedeutung als die modernen Bälle unserer Tage. Es traf die Creme der Wiener Ge-

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(höchst) ädZ, eingewiesen nach mich am Ende der Zeile. {{der bis konnte})üdZ, eingewiesen nach {wem}. (peinlich Ins Tage) umkreist auf der unbeschriebenen Innenseite des gefalteten Blattes, mit einem Pfeil eingewiesen vor 19 hegte.

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Seilschaft zusammen und die verlangten Damen suchten weniger} (wo damals) (die Damen weniger) durch ihre Toiletten als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen{x}, {wobei sie den anwesenden Herren oft Dinge zu hören (x-x) gaben, auf welche sie am wenigsten vorbereitet waren. Lodoiska, (der Larve die Zügel schießen ließen.)} (suchten und sich den Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. Lodoiska) in einen rosenrothen Domino gehüllt, machte von {dieser} (der) Maskenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch {x und verschwand bald im Gewühl, mit} ({sie machte sich bald von ihrer Begleitung los, im Gewühl verschwindend,}) (und umschwärmte {auch x-x} fortwährend) einige junge Kavaliere, {zu intriguiren,} die sie zu kennen schien. Sie hatte nämlich im verflossenen Sommer ein Landhaus in Hietzing bezogen und war dort wieder mit den Kreisen in Berührung gekommen, welchen sie angehörte. Dabei hatten sich für mich bereits mehrfache Anlässe zu beschämender Eifersucht ergeben, {welche} die ich um so peinlicher empfand, als ich mich (auch sonst) mehr und mehr {vor mir selbst durch ein Verhältniß} ({Beziehungen vor mir selbst} durch) ({Beziehungen}) (ein Verhältniß) entwürdigt {erkannte, das} ({x-x} fand, {x-x} daß) der Major, nach Art gewisser Ehemänner, {die die x-x als Schutz gegen regellose Ausschreitungen ihrer Frauen betrachten,} auffallend begünstigte. Ich war also gegen Morgen höchst mißmuthig von der Redoute nach Hause gekommen und hatte dann weit in den Tag hinein geschlafen. Als ich eben mit dem Ankleiden fertig war, erschien mein Diener und meldete, daß eine junge Dame in Trauer mich zu sprechen wünsche. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglicherweise eine pawore honteuse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Officiere in Anspruch zu nehmen pflegten. Ich sagte also meinem Diener, er möge die Dame nur ins Nebenzimmer treten lassen. Als ich, dennoch bangen Herzens, die Thür öffnete, stand Ginevra aufrecht in der Mitte des Zimmers, die Arme, wie es ihre Art war, an den Hüften herabgesenkt, die Hände leicht in einander geschlossen. Sie war auffal-

If. 2 6 8f.

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(wo damals) üdZ, hinter 81,33 besuchen. (die Damen weniger) üdZ, eingewiesen vor durch, Anfang der Zeile. (Lodoiska) zwei Zeilen über der gewünschten Stelle, mit einem langen Strich eingewiesen vor in. ({sie bis Begleitung}) üdZ. 9 {{los,}) wegen des Seitenendes noch eine Zeile tiefer, wurde vergesssen zu tilgen. 9 ({im Gewühl verschwindend,}) aufgrund des nächsten Seitenanfangs üdZ. (auch sonst) üdZ, eingewiesen nach mich. (ein Verhältniß) üdZ, eingewiesen vor entwürdigt.

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lend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt. Eine elfenbeinartige Blasse lag über ihrem Antlitz, und die Augen hatten den mir bekannten dunkel metallischen Glanz der Erregung. Ihr Haar schimmerte noch goldiger als früher unter dem schwarzen Krepphute hervor. „Verzeihen Sie," begann sie mit einem leichten Senken des Hauptes, „daß ich Sie aufgesucht. Es würde nicht geschehen sein, wenn Sie den Brief meiner Mutter einer Antwort gewürdigt hätten." „Den Brief Ihrer Mutter -" stammelte ich in athemloser Verwirrung. Und mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung fuhr ich fort: „Ihre Mutter -" „Ist {x} vor zwei Monaten gestorben," sagte sie ernst. {An den unabwendbaren Folgen jener Krankheit, von der Sie ja wissen."} „Mein Gott -" erwiderte ich tonlos. „An {den unabwendbaren Folgen jener} (einem Rückfall in jene) Krankheit, von der Sie ja wissen." Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen. „Mein Gott -" wiederholte ich, während (sich) jetzt {x-x} (ihre) Augen langsam mit Thränen füllten. „Aber ich bitte, setzen Sie sich doch -" Sie {brachte} (drückte) ihr Tuch {vor das Antlitz} (an die Wimpern) und machte eine kurz ablehnende Bewegung. „Ich werde Sie nicht lange stören. Ich bin nur gekommen, um eine Bitte auszusprechen, die ich durch meine Mutter an Sie richten ließ. Ich ersuche Sie, mir das Kreuz zurückzustellen, das ich Ihnen gegeben. Sie {xxx} kennen den Werth, {die Bedeutung}, {die} (den) es für mich hat - und hoffentlich befindet es sich noch in Ihrem Besitze." „Gewiß, gewiß," entgegnete ich und {machte eine Wendung nach meinem} (wollte an meinen) Schreibtisch {hin} (treten.) Aber unwillkürlich {blieb wendete ich mich wieder ihr zu.} (hielt ich inne.) „Und S i e , Ginevra - was werden Sie jetzt —" „Ich folge dem Rufe von Verwandten, die in Graz leben; {Ich werde diesen aber nicht zur Last fallen,} (denn in L., mag ich jetzt nicht länger bleiben. Aber ich werde Niemandem zur Last fallen,) sondern Unterricht im Italienischen ertheilen, der in jener Stadt sehr gesucht sein soll." Wie sie jetzt so vor mir stand, ungebrochen von Allem, was da geschehen, in {ihrer} mädchenhafter Selbständigkeit, {und in dem} (im) Vollbewußtsein ihrer Hoheit und Würde: da überkam mich {fast x-x das} (das ganze) Gefühl meiner eigenen Erbärmlichkeit und drohte mich zu erstik-

27 31 f.

(treten.) ädZ, eingewiesen vor Aber. (denn bis fallen,} üdZ. am Anfang der 2-eile, unterstrichen und eingewiesen vor 32 sondern.

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ken. Wie aus {x} einem Sumpfe blickte ich zu ihr empor. „Ginevra," rief ich, „Sie verachten mich - Sie m ü s s e n mich aufs tiefste verachten!" „Ich verachte Sie nicht," entgegnete sie ruhig. „Was können Sie dafür, daß Sie mich nicht geliebt haben?" „{Ginevra!} (O!) Nicht geliebt!" „Nicht s o, wie {ich es verstehe}! /-l (,} ({x-x x-x gesetzt})F (ich in thörichter Zuversicht vorausgesetzt -}F nicht s o wie i c h Sie geliebt (.)F {- nicht s o, wie Sie mich lieben mußten, wenn ich Ihnen m e i n e Liebe hätte bewahren sollen. Wie sehr ich durch diese almälige Erkenntniß}! (Wie sehr ich durch diese allmälige Erkenntniß)F gelitten, werden Sie mir ohne weitere Versicherung glauben. Jetzt aber habe ich überwunden{.}J (und sehe ein, daß es {(so)) {nicht anders} kommen {konnte.} {{mußte.)))F Daher hege ich auch keine Verachtung, keinen Groll gegen Sie; vielmehr bin und bleibe ich (Ihnen) dankbar, für die erste schöne Täuschung meiner Jugend. Sie war trotz allem die {schönste} (glücklichste) Zeit meines Lebens - und wird es wohl in meiner Erinnerung immer bleiben. Und so stelle ich Ihnen auch" sie zog bei diesen Worten einen Handschuh halb ab - „{das} den Ring, den Sie mir damals gaben, nicht zurück - wie ich (es) vielleicht {sollte.} {{müßte.})J (sollte.)F Ich werde ihn tragen bis ans Ende meiner Tage." In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle. „Ginevra!" rief ich leidenschaftlich und wollte, ihre Hand erfassend, vor ihr niederknieen. Sie trat rasch einige Schritte zurück, {und sah mich mit} {{„Nicht so!}" {(Was soll das ?!)) rief) sie mit herber Stimme, „{nicht in diesem Ton nicht in dieser Weise!} {{nicht in dieser}) {{Es}) {{Die}) (Es) ziemt sich nicht zwischen tt uns. „Verzeihen Sie! Und doch, wenn Sie - wenn Sie vergessen könnten —" Sie zog die Brauen zusammen. „Nun, nun, sprechen Sie weiter!" „Es könnte noch Alles gut werden," hatte ich sagen wollen. Aber ich brachte die Worte nicht mehr hervor. Denn ich empfand, wie hohl und nichtig eine solche Versicherung {aus x-x x-x sei} {{in} {(aus)) meinem Munde klingen müsse,) und die unklare Vorstellung (eines versöhnenden Ausgleiches), die sich meiner bemächtigt hatte, {zerfloß in das Bewußtsein

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7f. 12f. 15 19 20 32f.

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(ich bis vorausgesetzt -)F üdZ, eingewiesen vor 8 nicht. (und bis ((mußte.)))F üdZ, unterstrichen und eingewiesen nach 12 überwunden. (Ihnen) üdZ, eingewiesen nach 14 ich. (es) üdZ, eingewiesen nach ich. (sollte.)F üdZ, eingewiesen nach 19 vielleicht. (eines bis Ausgleiches) üdZ, eingewiesen nach 32 Vorstellung.

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meiner Unkraft.} (ging unter in dem Bewußtsein vollständiger Unkraft.) Ich schwieg. Sie betrachtete mich mit einem Blick des Mitleids. „Sehen Sie, Sie wissen selbst nicht, was Sie sagen sollen, und fühlen, daß wir für immer geschieden sind. Und nun bitte ich: das Kreuz." {Ich war keiner} (Keiner) Erwiderung fähig, ging ich an den Schreibtisch, suchte es hervor und reichte es ihr. Sie {x-x mit zitternder x-x die Papierhülle los und betrachtete es.} (nahm) es und wickelte mit zitternder Hand die Papierhülle los. In ihre/nl (m) {Zügen} (Antlitz) zuckte es schmerzlich, als jetzt ihr Blick auf das matt schimmernde Gold fiel. Ich sah, wie sie sich gewaltsam beherrschte, um nicht in Thränen auszubrechen. Ein {x-x} (Schüttern) ging durch ihren ganzen Körper; sie mußte sich setzen. „Mein Gott! Mein Gott!" sagte sie {leise.} (still.) Dann {{legte sie das Kreuz vor sich auf (blitzte) den Tisch hin {legte die Hände vor die Augen} (nahm das Kreuz in die Hand) und {weinte} begann {leise zu} (x-x still)}} ({legte} ((stützte)) sie die Stirn {in die} ((mit der)) Hand und begann leise zu) weinen. Ich {{{wagte mich nicht} stand regungslos.}} (wagte nicht zu athmen.) „Es ist vorüber," sagte sie endlich, indem sie aufstand und sich die Augen trocknete. „Leben Sie wohl!" Noch einmal war es mir, als sollte ich die Hand, die sie mir {gereicht hatte} (jetzt reichte,) nicht (wieder) loslassen, sollte die {hohe schlanke} (herrliche) Gestalt an mich ziehen, wie einst. Sie schien es zu fühlen, und rasch sich {xx} (mir {entziehend}) (entreißend,) schritt sie der Thür zu. „Ginevra!" stieß ich hervor und wollte sie zurückhalten. Aber sie winkte mir heftig abwehrend {zu bleiben,} (zu) und verschwand. Ich sank {in} (auf) den Stuhl, {auf welchem sie gesessen} (den sie {x-x}) eingenommen hatte, und blieb regungslos {im Zimmer} sitzen Bald darauf folgten jene {x-x} Märztage, {x-x} deren stürmische Ereignisse auch mich über mich selbst {hinweg} hinaus rißen. Freilich in einem anderen Sinne als diejenigen, so damals das Banner der Freiheit entfalteten. Wir waren eben Soldaten und erfüllten unsere Pflicht{,} (.) /il (I)ch selbst

14 15f. 16 21 23

({blitzte}) üdZ, eingewiesen nach {auf}. ({legte} bis zu) umkreist auf der unbeschriebenen Innenseite des gefalteten Blattes, mit einem Pfeil eingewiesen vor 16 weinen. {(stützte)) üdZ, eingewiesen nach 15 ({legte}). (wieder) üdZ, eingewiesen nach nicht. (entreißend,) üdZ, eingewiesen vor schritt.

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stand noch bei den Truppen, die {unter Windischgrätz} Wien belagerten. {Hierauf der} {{Dann folgten die}) {{Darauf}} (Dann kam{en die} der) ungarische^} Feldz{ü}ug{e} mit {ihrer} (seinen) wechselvollen {x-x} (Geschicken) und blutigen Schlachtfeldern - und als spätere Jahre {den Schleier des Vergessens über so Vieles breiteten,} (über so Vieles {x-x} den {Vergessenheit breiteten} Schleier der Vergessenheit breiteten,) war auch über meine {Herzensgeschichte} (jugendlichen Herzenskämpfe) das Gras gewachsen.

„Und {wissen} (haben) Sie {was aus} (nichts mehr von) Ginevra 10 {geworden ist?"} (gehört?"} fragte {die Hausfrau} (man) nach einer Weile. „Allerdings; {denn} ich war in der Lage, Erkundigungen {einzuziehen. Ich darf Ihnen aber nicht mehr sagen, als daß sie glücklich, sehr glücklich geworden ist, woran ich x-x x-x gezweifelt hatte. Denn sie war eine starke Natur, und unglücklich sind die Schwachen allein.} (einzuziehen. Sie lernte in 15 Graz einen jungen Triestiner kennen, de{m}((r)) sich im Laufe der Zeit eine sehr glänzende {Zukunft} {(Stellung)) in Egypten {erschlossen} {{erschlossen geschaffen)} ((gemacht.)} Sie hat ihn geheirathet. Auch gesehen glaube ich sie zu haben - und zwar während der Weltausstellung in einem offenen Wagen vorüberfahren, mit ihrem Mann und einer be{reits erwachsenen Tochter. 20 Sie war damals noch immer eine sehr schöne Frau.} reits {erwachsenen} {{{großen})) {(erwachsenen)) Tochter. {Noch immer eine sehr Aber das war möglicherweise eine Täuschung.} {(Es ist jedoch)} {es ist} möglich, daß ich mich getäuscht." „Sie wird es wohl gewesen sein," sagte die Hausfrau nachdenklich. „Und 25 so haben Sie wenigstens das Bewußtsein, daß sie glücklich geworden." 1-8

2 7 14-87,2 17 21 22

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Der durch viele Tilgungen und Hinzufügungen unübersichtliche Text {unter} his gewachsen, von Weiß mit violetter Tinte umkreist und auf der Rückseite des •vorherigen Blattes wiederholt: 1-8 ... Wien his gewachsen. Durch s. nebenstehend im umkreisten Text wird hierauf verwiesen. ({Darauf})üdZ, eingewiesen vor {Hierauf}. (jugendlichen Herzenskämpfe) üdZ, eingewiesen vor das. (einzuziehen his {allein}."} umkreist auf der unbeschriebenen Innenseite des gefalteten Blattes, mit einem Pfeil eingewiesen vor 11 {einzuziehen}. {(gemacht)) üdZ, eingewiesen vor 16 Egypten. (({groß611})) üdZ, eingewiesen nach 20 reits. ({erwachsenen}) üdZ, eingewiesen vor Tochter. {{jedoch}} vor {es ist} am Anfang der Zeile, {{Es ist)} üdZ, am Ende der vorherigen Zeile.

„Daran habe ich nie gezweifelt. Denn sie war eine starke Natur/,U (;)F (und}J unglücklich sind {(allein)) die Schwachen {allein}.") „Und die {polnische Gräfin} (Polin)?" fragte eine andere Dame. „Das wäre eine Geschichte für sich," antwortete der Oberst, indem er 5 aufstand und den Rest seiner Cigarre in den Aschenbecher warf. „Vielleicht erzähle ich sie Ihnen nächstens. Jetzt aber muß ich nach der Stadt zurück; {man erwartet mich.} (ich werde erwartet.)" {x} Er verabschiedete sich und gingDie {Anwesenden} (Anderen) blickten {dem sich Verabschiedenden 10 nach, bis seine} (ihm nach, bis seine) hohe Gestalt im Abenddunkel zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann bemerkte der Hausherr: „Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man {zuletzt,} (zuletzt,) wie Goethe sagt, {{gewunden}) abgewunden gleich Wocken."

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Ende {Blansko;4tMärzl889}

2 13 16

((allein)} üdZ, eingewiesen vor die. ({gewunden}) üdZ, Ende der Zeile, eingewiesen nach sagt. {Blansko; 4r März 1889} mit blauem Bleistift getilgt. 87

II. Kritischer Apparat

1. Editorische Hinweise Zeichen und Abkürzungen { H

O

/1 [] ab x-x x-x-x Sperrung üdZ udZ Kursiv

H J1 F N* J2 N4

R

= Tilgung. : Tilgung durch Streichung in der zweiten Hauptschicht. Diese Stellen erscheinen in J1. : Sekundäre Tilgung, eine primäre umschließend (sodaß also eine Tilgung innerhalb der Tilgung vorhanden ist). : Hinzufügung. : Hinzufügung in der zweiten Hauptschicht. Diese Stellen erscheinen ab F. Sekundäre Hinzufügung, innerhalb einer primären enthalten. getilgte Hinzufügung. - Wenn eine ganze Passage, die auch Hinzufügungen enthält, getilgt ist, wird das Tilgungszeichen innerhalb dieser Hinzufügung nicht wiederholt, dann steht also: {...(...)...}. Tilgung durch Daraufschreiben. Ergänzung des Herausgebers. Punkt unter Buchstaben: unsichere Lesung, unleserlicher Buchstabe, unleserliches Wort, unleserliche Wortgruppe. Unterstreichung in H und in der Korrespondenz, über der Zeile, unter der Zeile. Im Saar-Text: Antiqua und lateinische Schreibschrift. In den Erläuterungen zur Handschrift und im Kommentar: Herausgeber-Text. Handschrift 1889 Dioskuren 1890 Frauenbilder 1892 Novellen aus Österreich 1897 Moderne Kunst 1902/03 Novellen aus Österreich 1904 Reclams Universalbibliothek 1904

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Man sieht1, wie die diakritischen Grundzeichen, die spitze und die geschlungene Klammer, durch Vermehrung und Kombination folgerichtig weiterentwickelt, aufeinander bezogen und dergestalt für alle Situationen in der Handschrift einsetzbar sind. Ihre Anwendung kann natürlich bei besonders komplizierten handschriftlichen Verhältnissen über die oben aufgeführten Möglichkeiten hinaus entsprechend vermehrt und variiert werden. Die einfachen, doppelten oder auch dreifachen Zeichen zeigen jeweils die relativ gleiche Korrekturschicht an; relativ: denn diese Zeichen für 'Sekundäre/TertiäreHinzufügung'und 'Sekundäre/Tertiäre Tilgung'bezeichnen zwar Spätkorrekturen, aber nur solche, die durch frühere Hinzufügungen oder Tilgungen als zweite/dritte Korrekturschicht zu erkennen sind. Andere Spätkorrekturen, die zwar als solche erkannbar sind (etwa weil sie am Rande stehen), aber doch einen ersten Korrekturvorgang bilden, werden mit den einfachen Zeichen ausgewiesen. Das heißt, daß das hier angewendete Zeichensystem die relative Schichtung der Korrekturen innerhalb einer gewissen Textpassage ausdrückt, aber auf eine - ohnehin nur spekulativ mögliche - absolute chronologische Festlegung verzichtet. Indem die relativ gleiche Korrekturschicht ausgedrückt wird, ergibt sich zwangsläufig ein äußerlicher Unterschied zwischen der Anwendung der Hinzufügungs- und Tilgungszeichen: bei mehreren verschiedenaltrigen Hinzufügungen steht das einfache Zeichen außen und umschließt die später hinzugekommenen (sekundären/tertiären) Hinzufügungen; bei mehreren verschiedenaltrigen Tilgungen steht das mehrfache Zeichen außen und umschließt die schon früher vorhandenen Tilgungen. Nur dadurch ist innerhalb der betreffenden Textpassage eine konsequente Darstellung der Varianten nach ihrer inneren Zusammengehörigkeit und ihrer relativen Chronologie zu gewinnen.

Die folgende Erläuterung der diakritischen Zeichen wurde von Karl Konrad Polheim entworfen und dient in der vorliegenden Saarausgabe Kritische Texte und Deutungen als Standardtext.

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Zitate und Verweise: Zitatnachweise aus Ginevra erfolgen unmittelbar nach den Zitaten in runden Klammern., Zitate aus der Handschrift werden durch H vor der Seitenangabe gekennzeichnet. Entsprechend wird bei Nachweisen der Varianten mittels V verfahren. Ebenfalls in runde Klammern gesetzt werden die Verweise auf die Originalschriften und Briefe. Unterstreichungen werden hierbei durch Sperrsatz hervorgehoben. Titel der Primär- und Sekundärliteratur aus der Bibliographie erscheinen in den Anmerkungen in abgekürzter Form; sie sind in der Bibliographie hinter den ausführlichen Titeln verzeichnet.

2. Zur Gestaltung des Apparates Der kritische Apparat enthält die Varianten sämtlicher von Saar autorisierten Ausgaben der Novelle. Abweichungen von H zu N4 sind hier ebenfalls aufgelistet. Die in H eingetragenen Änderungen zwischen J1 und F sind bereits im Abdruck von H kenntlich gemacht. Die im fortlaufenden Variantenverzeichnis erscheinenden Varianten beziehen sich also alle auf die endgültige Fassung N4. Im Verzeichnis der Sammelvarianten werden nur die häufig auftretenden kategorisierbaren Veränderungen zusammengefaßt, die für die Interpretation eher von marginaler Bedeutung sind, so daß das fortlaufende Variantenverzeichnis entlastet wird. In diesem werden die Varianten in chronologischer Abfolge aufgeführt. Hierbei werden pro Variante bis zu fünf Stellen angegeben.

3. Sammelvarianten Viele onographische Varianten basieren auf der Uneinheitlichkeit der damaligen Rechtschreibung. Die Rechtschreibreform von 1901 wird in den Ausgaben J2, N4 und R von Saar berücksichtigt.

a. Vokalismus und Konsonantismus a) In den Fassungen nach 1900 werden ä und ü im Anlaut beinahe [!] konsequent verwendet. In H, J1, F, und N3 heißt es noch: Aehnlichkeit (16,22;

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24,34f.) (einmal (16,22) auch in J2 [!] ), Aeußeren (25,6), Ueberdies (14,16; 25,37), Ueberlegung (17,26; 28,29) (bei 17,26 auch in J2), Ueberraschung (15,16), Ueberschwenglichkeit (34,14), Uebertäubungsversuche (37,21), Ueberwurf (21,22f.), Ueberzeugung (30,15f.), Uebrigen(s) (16,16; 17,20; 19,36; 20,23; 23,35). ß) Substantive mit der Endung -nis haben in H, J1, F und N3 noch das damals gebräuchliche -ß: Erkenntniß (39,9), Kennmiß (28,40), Verhältniß (24,25; 30,16; 35,37; 37,39), Verhängniß (13,13). In diesen Fassungen heißt es auch noch Indeß (11,162; 18,5), während das -s in bischen (18,21) in den nachfolgenden Fassungen (bis auf]2) durch -ß ersetzt wird. Die Schreibung blos (17,37; 18,1 ) findet sich in N3, blos (17,37) auch in H. Das -ß in deßhalb (12,6; 14,6; 19,39; 33,39) nur in J1, muss nur zweimal (l 1,6 «m/11,13) -1» J1. In der Passung J2 wird konsequent -ss statt -ß verwendet. ) Nach der Rechtschreibreform wird in N4, J2 und R beifolgenden 'Wörtern -th durch -t ersetzt: abgethan (37,1), angethan (20,16f.), Anmuth/anmuthig (11,22; 15,38; 18,1), Athem (20,4), athemlos (22,33f.), athmen (34,13; 39,42), aufathmend (16,12), Betreuerung (23,19), bewirthen (32,1), Bienvirthe (11,29), Bruchtheilen (28,30), eigenthümlich (16,14; 18,18; 32,24), errieth (24,36), erröthen (17,33; 18,18), ertheilen (38,38), erwirtschaftet (23,41), Flügelthür (15,23), Gastwirthschaften (11,36), Gegentheile (30,2), Gemüthslage (34,33), gerathen (24,17; 24,37f.; 25,25; 34,11), geröthet (23,36; 29,20) Gutmüthigkeit (32,13f.), Hausthür (22,8), Hauswirthin (23,39; 30,32), heirathen/Heirath (14,2; 18,34f.; 25,29; 32,21; 36,2), (in J1 bereits konsequent ohne -h), Hochmuth (19,18), Hofkriegsrathe (12,11), Kreisrath (13,14), kupferroth (16,20f.), gemiethet (23,42), Mißmuth/mißmuthig (16,11; 37,41) mitgetheilt (24,16; 36,26), Muth (13,10; 36,31), nachthat (20,2), Nebenthür (21,7), Nöthige (30,31), Noth (25,24), nothgedrungen (35,7), noth thut (23,10), rathlos (34,32), rosenroth (37,32), Roth (12,24), Röthe (24,4), röthlich (13,15), Seitenthür (23,38; 24,1; 26,23), That (22,23; 29,18; 34,31), Thauwetter (14,31), Theil (11,4; 11,20; 15,15), theilnehmen (14,13; 15,7; 34,2; 37,4), theilte (29,12), Thoren (11,28), thöricht (39,8), Thränen (30,36; 31,11; 38,26; 39,39), thun (19,14; 30,10), Thür (13,24; 23,33; 27,21; 31,6; 38,8;) Verrath (24,27), Vortheil (14,32), Vorurtheil (23,22), wehmüthig (31,2), Werth (38,31), Wirth (13,3), Wohnungsthür (37,6), wünschenswert (30,18). Ausnahme: Thee (32,19; 32,41), erscheint nur in R und}2 ohne -h.

Von Weiß für die Drucklegung von F mit -s geschrieben, in F erscheint allerdings dennoch wieder -ß. Vgl.S.113.

94

b. Groß- und Kleinschreibung Ursprüngliche Großschreibung wird in den Ausgaben N4, J2 und R durch Kleinschreibung ersetzt: a. bei Indefinitpronomina und Zahlwörtern: Allem (25,7; 38,40; 39,14), Alles (18,13; 20,7; 21,4; 23,24; 23,31), Andere[n] (19,15; 20,36; 23,42; 28,7f.; 40,35) Anderes (14,6) (in einem Fall - 26,42 - nur m J1 groß), Beide (16,19; 17,33; 18,35; 25,11; 29,28), Diejenigen (40, l Of.), Einem (36,36) Einer (19,14), Einige[s] (17,7; 26,1), Etwas (21,14; 29,9; 29,11) (in J' klein), Manche (12,2; 17,1), Mancher (36,4), Niemand (11,16; 13,15; 17,11; 17,22) (in einem Fall 11,16 - bereits in J1 kleingeschrieben, 17,22 in J1 und F Niemanden), Niemandem (38,37), Niemanden (25,27), Viele (17,3) (in J1 klein}, Vieles (40,15); ß. bei den Anredepronomina: Dich (24,6; 26,10; 29,23), Dir (14,18), Du (13,27; 13,30; 13,36; 14,4; 14,7).

c. Angleichung von Fremdwörtern an deutsche Schreibung und Lautung a. Beifolgenden Verben romanischen Ursprungs ist bei den Ausgaben N4, J2 und R die Endung in -ieren geändert: commandiren (32,11), lackiren (26,8), markiren (17,38f.), phantasiren (34,3), Stationiren (13,6); ß. C wird vor -i und -e bei folgenden Wörtern romanischen Ursprungs in 4 2 N , J und^zu Z: Cigarre (11,11; 40,32), Cigarette (33,1), Civil (13,5) (auch m J2 [!]), officiell (12,39), Officier (11,30; 13,5; 17,31; 18,32; 23,20f.) (in N* bereits mit z), Scene (17,29); . C wird vor -a, -o und Konsonanten ebenfalls in N4, J2 und R analog zur deutschen Aussprache zu k: Cadettenhause (12,7f.), Cadetten-Institute (27,7), Camerad (12,25) (nur in F mit C), cameradschaftlich (11,31; 28,31 (nur in F mit c), Carneval (12,15; 37,25), Casino (11,34; 28,36), Cavalier (37,34), Clavier (34,3), Commandantenball (14,20), Commandantenhause (12,35), commandiren (32,11), Conditorei (21,8), Context (31,16), credenzen (26,18) Festungscommandant (12,18), Local (12,3) (in F schon mit -k), Octoberabende (34,33f.) (nur in J1 mit -c); . In folgenden Fällen werden französische Wörter in N4, J2 und R in der Schreibweise der deutschen Aussprache angepaßt: Carriere (36,3), Coquette (12,25) (nur in J1 mit C und -qu), Lieutenant (13,28; 28,17) (einmal in J2 [!] (13,28) Lieutnant), Piquet (32,20), Vestibule (15,3); . Die Ausgabe R [!] verwendet die französische Schreibung bei Comitemitglied (15,2; 15,18), dagegen werden eingedeutscht: Visavis (17,8; 17,10; 17,11), Puff (35,10); . Die Schreibung Sopha (30,42) tritt nur in J1 auf. 95

d. Der Apostroph In H und den Ausgaben J1, F und N3 wird der Apostroph mit beharrlicher Inkonsequenz verwendet. Er fällt in den späteren Ausgaben weg: a. bei dem sächsischen Genitiv Ginevra's (22,9; 22,27; 24,3; 25,4; 29,18; 31,24f.) in F, N3 (erscheint nur in einem Fall - (22,9) -auch in J1), Ludovico's (28,3), Petrarca's (28,1); ß. als Zeichen der Apokopierung bei den Präpositionen an's (39,18) (erscheint in H, F und N3), aufs (17,38; 39,3) (einmal auch schon - (39,3) - in P), für's (30,4; 30,15; 31,28), in's (26,23; 27,10; 29,19; 38,7) und um's (21,23) sind nur in H und F vorhanden, das Relativpronomen welch' (31,18) in F und N3.

4. Fortlaufendes Variantenverzeichnis Die Rahmenerzählung ist von der Binnenerzählung, die durch römische Zahlen in sechs Kapitel unterteilt ist, durch jeweils drei Sterne getrennt. Auf die Gliederung durch Sterne wird im Variantenverzeichnis verzichtet, die römischen Kapitelzahlen dagegen der besseren Übersicht wegen übernommen. 11, l 11,3 11, 3f. 11,5 11, 5 11,7 11, 8 11, 9 11,12 11,12 11.17 11,18

vorüber] vorüber, H einer Terrasse niedergelassen, die] einem Plateau niedergelassen, das H J1 die umliegenden Höhen und einen Teil der Stadt] einen Theil der Stadt und die grünen Gelände der Donau J1 Oberst.] Oberst! J1 es] es jaj 2 daher] also]2 ganz] ja ganz J2 Kein Absatz in N3 und R angezündet.] Absatz folgt in J1 und F er, „] er, HP doch ein] doch immer ein H J2 zurück zu versetzen] zurückzuversetzen J1 R L

11,22 11,24 96

gesegnetsten] gesegnetesten J1 wahrhaft trostlos] ein wahrhaft trostloser p

11.28 11,29 11.34 11.35 12,7 12,10 12,12 12,17 12,17 12,20f. 12,23 12.25 12.26 12,26 12,35 12,39 12,41 12,41f. 13.5 13, 5 13.6 13, 8 13.10 13,16f. 13.23 13.24 13,32f. 13,35 13,35f. 13,38 14.5 14, 5f. 14.6 14, 8 14, 8 14.11 14.12 14.15 14.16 14.22 14.23

kleinen,] kleinen]1 denen] welchem H J1 F Spieltische,] Spieltische]1 R Leitmeritz] L... H J1 F N* jung,] jung] 1 Sohnesstatt] Sohnes statt H F sorglos] sorgenlos H J1 F fühlte, und] fühlte. Und H F N3 Grunde.] Grunde: J1 einem] einen]1 Zähne,] Zähne]1 erfahrenen] erfahreneren J1 anfangs,] anfangs]1 Ernst,] Ernst J1 ja] ja,]1 treten,] treten J1 s i e ] nicht hervorgehoben in J2 entgegen freue] entgegenfreue F vom Zivil] von Civil J1 F W p Chevauxlegers-Regiments] Chevau-legers-Regiments R Schmerz,] Schmerz J1 Blick,] Blick F den Mut] Muth H]1 in anständiger Weise] anständigerweise J1 anständiger Weise H FN 3 hinblies] hin blies H F ISP auf gestoßen,] auf gestoßen F N3 R auseinanderschlug] auseinander schlug H J1 F N3 J2 Leitmeritz] L.... H Ji F N3 vorweg nehmend] vorwegnehmend J1 gar nicht] garnicht J2 einfach;] einfach: J2 Ballausschüssen] Ball-Ausschüssen H J1 F N3 Spiel] Spiele H P F N3 mit] früher mit J1 verabredet;] verabredet, J1 wand] wandte H J1 wendete R höheren Orts] höherenortes J1 höheren Ortes H F Leitmeritz] L... H J1 F N3 überdies] über dies R gib acht] gib Acht J1 J2 gieb Acht H F N3 Geschöpfe,] Geschöpfe J1 97

14.24 14.27 14.28 14.30 14.31 14.33 14.34

herumbaumelten] herum baumelten H J1 F daran,] daran H F N3 ebenfalls] ebenfellsj1 fertig,] fertig H F Leitmeritz] L.... H P FN 3 herben Luft etwas] Luft bereits Etwas H J1 herben Luft Etwas FN 3 in gleichmäßigem Takt] und in gleichmäßigem Takt H F N3 und im gleichmäßigen Takt J1 J2 II.

15, 2 15,18 15.20 15,23 15.25 15.26 15.28 15.29 15,39 16, l 16, l 16, 2 16, 7 16, 8 16,8 16,16 16.21 16,21ff.

vorhergesagt.] vorhergesagt hatte. J2 wollen;] wollen, J2 nun,] nun J1 in dieses] dasselbe H J1 F N3 mit] sofort mit H, J1 kleinem, zierlichem] kleinem zierlichem H R kleinem, zierlichen Ji Zuschauern] Zusehern H J1 J2 zurücksank] zurück sank H J1 F N3 einfaches,] einfaches J1 J2 zusammengeknotet] dicht zusammen geknotet H J1 zusammengeknotet] zusammen geknotet H J1 F N3 Sammtband] Sammetband H F N3 Samtband J2 R untereinander] unter einander H J1 F N3 willens] Willens H F N3 sein. Er] sein, er J1 sehr] jetzt J2 Kopf;] Kopf, H P ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein;] ihr zur Seite ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen, das, der Aehnlichkeit nach, die Tochter sein mußte;

HPF

16.22 16.23 16.23 16,24 16,24 16.26 16,27 98

Seite] Seite, N3 immerhin] immerhin, N3 immerhin] geneigt sein, H J1 F halten] zu halten H Ji F Auch Dorsner war] Dorsner war gleichfalls J1 solle,] solle p Zeitlang] Zeit lang H J1 F N3

16,28 16.28 16,29 16.29 16.30 16.31 16,36 16.40 16.41 17, 4 17, 4 17,15 17.20 17,22 17,29 17.33 18, 2 18, 5f. 18.21 18,25 18,28 18,31 18,34 18,35ff. 18,40f. 18,41 18,41 18,41f. 19,6 19, 7 19, 9 19, 9 19,10 19,10 19,12 19, 12 19,14 19,17f. 19,19 19,23

Mal] Male HP F rings herum] rings herum H J1 R wurde.] Absatz folgt in J1 und ]2 in] mit J1 Schuhen] in Schuhen J1 emporstehende] empor stehende H J1 wenigsten] Wenigsten H J1 F N3 was] was, H P F N3 bitte,] bitte J1 mes dames] mesdames H F N3 Umstände] Angst, H J1 dem] den R übrigen] Übrigen H Uebrigen J1 F N3 niemand] Niemanden H J1 F Schauplatz] Schauplätze}1 voreinander] vor einander H J1 F N3 zusammenfanden] zusammen fanden H J1 F N3 jede Einzelheit] die Einzelheiten J1 zusammenhalten] zusammen halten H F N3 vorzustellen."] vorzustellen. J1 Maresch."] Maresch. J1 Bassano] Conegliano H J1 F Jawohl] Ja wohl H J1 F N3 Es wurde [...] gedulden] fehlt m P in diesem Winter eine schwere Krankheit, - eine Lungenentzündung,] eben eine Lungenentzündung J2 Krankheit,] Krankheit J1 R Lungenentzündung,] Lungenentzündung J1 durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt.] durchgemacht. J2 Wieso] Wie so H J ' F längerem] Längerem H J1 F N3 wollen] wollten H N3 immer] noch immer J1 Witwe] Wittwe H F verträgt] erträgt H J1 R mit] gut mit F gar nicht] garnichtj2 weh tun] weh tun J2 so wie] sowie J1 J2 R tanze,] tanze J1 J2 zugute] zu Gute H F zu gute N3 99

19,23 19.24 19.26 19,29 19,36 19.37 19,42 20,10 20,13 20,16 20,23 20.33 20.34 21, 4 21, 7 21, 7 21,19 21,19 21,21 21,23f. 21.27 21,31 22, 2 22,2 22,10 22,12

gar nicht] garnicht J2 so weit] soweit H J1 heraus zu sagen] herauszusagen J1 R gar nicht] garnicht J2 allmählich] allmälig H J» F ISP Gegenstand] Gegenstände}1 körperlos,] körperlos H P F N3 Gib acht] Gib Acht p Gieb Acht H FN 3 an] auf H PF leise] leiser, HP FR übrigen] Übrigen H p F N3 weit-] weit; HP F „Ich] Ich P herangekommen,] herangekommen J1 F N3 R heran gekommen H Damengarderobe] Damen-Garderobe H F N3 dieser] derselben H p F N3 nebeneinander] neben einander H F N3 jetzt] dann P Garderobe."] Absatz folgt in P aus welchem ihr lichtes Antlitz wundervoll hervorschimmerte.] von dem sich ihr lichtes Antlitz wundervoll abhob. H J1 F flimmerten,] flimmerten J1 für] auf HP F N3 R „auch] auch J1 würde] wird HP F N3 schien.] Absatz folgt in J1 Festungscirce] Festungskirke J2

III. 22.15 22.16 22,19

entgegensah] entgegen sah H F N3 solch ein] ein solcher H p F N3 entgegen,] entgegen; J1 entgegen: H F N3

22,21

Uhr,] UhrHJ 1 F

22,25 22,31 22,37 23,2 23,10 23,19 23,36

Landschaft] Gegend P geworfen,] geworfen J1 auseinandersetzen] auseinander setzen H F N3 hab']habp welchen] welchem H J1 sie] dieselbe P hinanstiegen] hinan stiegen H F N3

100

23,36 24,14 24,25 24,26ff. 24,26f. 24,31 24,34 25, If. 25, 2 25, 7 25, 7 25, 8 25.11 25.16 25.27 25.28 26, 5 26.12 26,12 26.17 26,19 26,25 26,28 26,30 26.33 27, 2 27, 7 27, 9 27.14 27,19

Fenster] Fenster, H F getan,] getan J2 dazu] leider dazu H p F Denn trotz [...] Angehörigen."] fehlt in J2 Federigo] Federigo, H J1 F W Südländisches] südländisches J2 ebensolche] eben solche J1 fein geschnittener] feingeschnittener R ausdrucksvoller] charakteristischer H J1 F fort;] fort, p J2 allem und jedem] Allem und Jedem H J1 F N3 kurzem] Kurzem H F N* soviel] so viel H J1 F ISP währenddessen] während dessen H J1 F N3 nahe steht.] nahe steht; P J2 nacheinander] nach einander H F N3 wohlbekannter] wohl bekannter H F N3 ist-] ist, p J2 wandte] wendete H J l welch] welche H F N3 Vesperbrot] Vesperbrod H F N3 klein,] klein; H F N3 darstellten] vorstellten H J» F N3 R dem] welchen H J1 F N3 hab' ich es mir] habe ich mich J1 Zeichner;] Zeichner, und J1 Zeichner und H F wohl;] wohl p gehen. -] gehen. J1 meiste] Meiste H F N3 » .] » »! IV.

27.34 28, l 28, 2 28, 4 28.9 28.10 28,10 28, l Of. 28.15

erfüllte.] Absatz folgt in J1 Vaters:] Vaters. J1 divina] Divina p war Frühling geworden] begann Frühling zu werden, J1 Veilchen] Veilchen, P sowie] so wie H F J2 zum] mir zum J2 pflückte, den sie mir beim Abschied mitgab] pflückte. J2 Versetzung] Uebersetzung J1 101

28,17 28.17 28.18 28,18 28,22f. 28,29 28,33f. 28,36 28.39 29, 2 29, 5 29,5 29,20 29.20 29.21 29,27 29,38 29,41 30, l 30, l 30, 2 30, 8 30,15 30.15 30,20 30.20 30,21f. 30.21 30.22 30,36 30.40 31, l 31.3 31.4 31.5 31,11

Leutnant;] Leutnant, J2 wie sie] welche J1 Regimentsinhabers] Regiments-inhabers H'J1 F N3 allzu schwer] selten]1 Was eine] was eine J2 allerkleinsten] aller kleinsten H F e i n e n ] einen J1 Tafel] gemeinsamen Tafel H Leitmeritz] L.... H J1 F N3 Verschiedenes] verschiedenes J2 vormittags] Vormittags F N3 für] so für H J1 F beiseite] bei Seite H J1 F N3 um] und H Ji zu fliegen] flog H J1 Mamma] mamma J2 dort] dort, J1 madre,]madre\Hp Gefühlen,] Gefühlen J2 unseren,] unseren J2 Gegenteil] Gegentheile, J1 Gegenteil, J2 viel vermögender] viel vermögender H J1 F N3 J2 erste] Erste H p F N3 erwarten;] erwarten, J1 J2 möge,] möge F möge: H N3 komme [...] ein] schreite [...] nach H schreite [...] ein J1 kehre [...] zurück] komme [...] wieder H komme}1 ganz gewiß] bestimmt H J1 werde] werde dann H J1 Anlaß] Anlasse H J1 F Mahle] Male H Ji Strickarbeit] kleine Strickarbeit J2 die] fest die H J1]2 letztenmal] letzten Mal H J1 F N3 letztenmal] letzten Mal H J1 F N3 benetzte; dann] benetzte. Dann H J l J2 V.

31,13 31,13f. 31.16 102

Zeitlang] Zeitlang J1 Zeit lang H F Anführungszeichen fehlen in N3, N4 und R] fortfahren.] fortfahren." J1

31.17 31,18f. 31,22 31.25 31,27 31,27 31,27 .1,27 31.28 .1,30 31.32 31.33

tief ergreifender] tief ergreifender R Geschmack] Geschmacke J1 F d u ] nicht hervorgehoben in p im] vor H P standhalten] Stand halten H J1 F N3 Es waren] Deren waren auch H J1 F N3 allzu viele.] allzuviele J2 viele.] Absatz folgt in Ji erste] Erste HP F N3 Diensteserfüllung] Diensterfüllung J2 welcher,] welcher J l der sogenannten Gesellschaft] dem sogenannten Weltverkehr

31,34-32, 4

ging. [...] besuchte.] ging, dafür aber meine freie Zeit fast ausschließlich in Anspruch nahm. J2 innern] inneren H J1 genommen, höchstens,] genommen; höchstens H J1 F N3 gleichkam, [...] las ] gleichkam. Absatz folgt in ]2 Dienstgeschäfte] Dienstleistung H p F N3 R Emigrantenfamilie] Emigranten-Familie H F N3 Mann, [...] wurde.] Mann. J2 abends] Abends H F N3 allemal] alle Mal H J1 F N3 gebeten, [...] stundenlang] gebeten, P verheiratet,] verheiratet P Beim [...] zusammen.] fehlt in ]2 achtundzwanzig] sechsundzwanzig H sein,] sein J1 Profil,] Profil Ji J2 reiches] weiches J1 Braun,] Braun J1 weiche,] weiche J1 P Ihr [...] fortzusetzen.] fehlt in P daß] als H P rauchen, [...] war.] rauchen. P noch etwas ganz] etwas noch ganz H J1 F Damen [...] aufzunehmen.] fehlt in ]2 berührte,] berührte J1 durchrieselte. [...] hatte.] durchrieselte ... Und das Bild Ginevras leuchtete mir dann aus viel weiterer Entfernung als früher. Absatz P Schulden] schulden R

31,35 32, 3 32, 6ff. 32,11 32,12f. 32,13f. 32.18 32.18 32,19f. 32,21 32,23-26 32.26 32, 26 32,28 32.31 32.32 32.34 32,37-40 32,39 33, If. 33, l 33, 4ff. 33, 8 33,11-17

33.19

HP

103

33,22f. 33,26f. 33.29 33.30 33.31 33,34-37 33,39-41 34, 2 34, 5f. 34, 8 34, l Of. 34.12 34,13ff. 34,14 34,17 34,26 34,30 34,30 34,33 34.38 34,40 34.40 34.41 34,42f. 35, 2 35,17 35,20 35,22 35,22 35,30 35,33 35.39 36, 5 36,11 36.13 36,20

104

„Du [...] Lächeln.] fehlt in P „Denn [...] Gefühle?] „Wo weilt "Sie"? P weit von hier entfernt."] weit." J2 erwiderte nichts und steckte] steckte J2 nach einer Weile] dann. J2 festhaltend. [...] zu.] festhaltend. Absatz Sie schwieg. J2 So [...] verabschiedet.] Text fehlt m J2 währenddessen] während dessen H J1 F N3 bemerken,] bemerken J1 verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen] versetzte mich in eine gewisse Unruhe J2 infolgedessen] in Folge dessen H J1 F N3 fragmentarischer.] fragmentarischer; R Ihre [...] anschlug.] fehlt in J2 in Worten] im Worte H P Leitmeritz] L.... H p F N3 Bedenken: ich mußte] Bedenken; ich mußte J1 Bedenken; mußte ich J2 verweigernder] mehr verweigernd J1 ihn] ihm J2 nebligen] neblichten H P F N3 entgegengeklungen] entgegen geklungen H J1 F N3 unterbrechen,] unterbrechen J2 hell;] hell, P J2 mir,] mir H J1 beleuchtet,] beleuchtet H J1 dessen dunklem] dessem dunklen N3 antworten.] Absatz folgt in J1 Jawohl;] Ja wohl; H F N3 Ja wohl, J1 Jawohl, J2 einkommen] einschreiten H J1 wollen,] wollen; H Ji F N3 Haben] Hegen H J1 entgegenstellen] entgegen stellen H J1 keineswegs] durchaus nicht H J1 F N3 R nein;] nein, J1 sie denn] denn J2 lesen,] lesen H PF Endlich] endlich H

VI. 36.27 36.28 36.33 36.34 36.35 37,15 37,18 37.21 37,25 37,25 37,25 37.30 37.31 37.32 37.36 37.39 37.40 38, 5 38, 8 38, 8 38, 8f. 38,10 38, l Of. 38,12f. 38,14 38.22 38,27 38,32 38,34 38,36f. 38.37 38,42 39, 3 39, 8f.

39, 8 39, 9

anzutreten;] anzutreten, J1 auseinander setzen] auseinandersetzen J1 R daß] das P gebärdete] geberdete H J1 F N3 Leitmeritz] L.... H Ji F N3 zurückgelangen] zurück gelangen H F N3 nicht;] nicht, J1 einem fort] einemfort N3 esjesj 1 verlassen,] verlassen J1 zweitenmale] zweiten Male H J1 F N3 zweitenmal R Toiletten,] Toiletten H Ji gerne] gern H J'J 2 rosenroten] rosarothenj 1 denen] welchen H J' F N3 R Major,] Major J1 Ehemänner,] Ehemänner H J1 pauvre bonteuse] verschämte Arme J2 ich, dennoch bangen] ich bangen H J1 Herzens,] Herzens H J1 stand sie - stand wirklich] stand H J1 F hinabgesenkt] herabgesenkt H J' F N3 R ineinandergeschlossen] in einander geschlossen H J1 F N3 Antlitz,] Antlitz H Ji F N3 R goldiger] goldener J2 tonlos.] tonlos ...J2 kurz] kurze R Besitz] Besitze H J1 F Und] „Und H p F N3 J2 R Druckfehler in N4 Leitmeritz] L... H Ji F N3 nun] jetzt H P Würde,] Würde: H p F N3 m ü s s e n ] müssen R so wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt - nicht so, wie i c h Sie geliebt.] s o , wie ich es verstehe, nicht s o , wie ich Sie geliebt - nicht s o, wie Sie mich lieben mußten, wenn ich Ihnen m e i n e Liebe hätte bewahren sollen. H J1 vorausgesetzt] voraus gesetzt H F allmähliche] allmählige J1 allmälige H F N3

105

39.11

39.12 39.13 39,14f. 39.14 39,17 39,19 39,21 39,27 39,32 40, 4 40,10 40,21 40,22f. 40,23f. 40,27 40,27f. 40,35f. 40,3741,2 41,1 41, 3 41, 3

106

überwunden und sehe ein, daß es nicht anders kommen konnte.] überwunden. J1 überwunden und sehe ein, daß es so kommen mußte. F Sie;] Sie, R dankbar] dankbar, H F trotz allem] trotzdem R wohl in] in R sollte] müßte H P Gefühle.] Absatz folgt nicht in H und J1 niederknieen] hinknien J1 F N3 hin knieen H hervor. Denn] hervor, denn J1 Mitleids.] Absatz folgt m Ji ziehen,] ziehen J1 hinausrissen] hinaus rissen H J1 Egypten] Ägypten R Wiener Weltausstellung] Weltausstellung H J1 F bereits erwachsenen] erwachsenen J2 Natur;] Natur, J1 unglücklich] und unglücklich H J1 wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte.] bemerkte der Hausherr: H J1 F Sie [...] loskommen.] fehlt in H J1 F Greisin -,] Greisin - R man,] man zuletzt, H J1 F zuletzt abgewunden] abgewunden H J1 F

III. Text- und Wirkungsgeschichte

1. Die Handschrift (H: 1889) a. Die Entstehung Die Arbeiten an Ginevra und in der Folgezeit an der Geschichte eines Wienerkindes beginnen im Herbst 1888, einem Jahr, das für Saar bislang eher unproduktiv verlaufen war und ihm nur die Veröffentlichung des Novellenbandes Schicksale brachte3, deren Erzählungen4 Leutnant Burda, Seligmann Hirsch und Die Troglodytin noch 1887 beendet werden konnten5. Auch aus einem Brief Saars an Victor P. Hubl, der einen Essay über Saar plante6 und dem Saar eine chronologische Aufstellung seiner bisherigen Werke zusandte, geht diese einjährige Pause hervor7. Über die Gründe für diese zeitweilige Stagnation läßt sich nur spekulieren, gesundheitliche Probleme, die während der Entstehungszeit Ginevras häufig angedeutet werden, mögen eine Rolle mit gespielt haben. Auch im Herbst 1888 diente Blansko, der Herrensitz der Altgräfin Salm, wieder als Refugium für Saar, der seit 1880 immer mehr von der Möglichkeit Gebrauch machte, dort in Ruhe arbeiten zu können und dem Lärm der Weltstadt Wien zu entgehen. In einem Brief an Anton Bettelheim spricht er Schicksale. Drei Novellen von Ferdinand von Saar. Der Novellen dritte Sammlung. Heidelberg 1889. Dieser Band wurde, ebenso wie die Neuauflage der Gedichte 1888, der vierte Novellenband Frauenbilder und andere Erst- und Neuauflagen, die in den letzten Monaten eines Jahres erschienen, vordatiert, um zum Weihnachtsgeschäft die Neuheit des Buches zu unterstreichen. Siehe dazu auch Stuben, S.80, Anm.50 und Baasner, S.204. Im folgenden werden die Begriffe "Erzählung" und "Novelle" synonym gebraucht, da die meisten der bislang angeführten angeblich signifikanten Kriterien für die Novelle auch für die Erzählung zutreffen und letztlich eine für die strukturelle Charakterisierung völlig unbrauchbare ästhetische Wertung die Richtschnur bildet. Vgl. dazu Karl Konrad Polheim: Gattungsproblematik. In: Ders. (Hg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981. S.9-16. Auch die jüngsten Versuche einer Abgrenzung zwischen Novelle und Erzählung, wie etwa der von Winfried Freund, überzeugen nicht. Freund erwähnt die Erzählung nur am Rande und glaubt sie mit der lapidaren Bemerkung differenziert beurteilen zu können, daß Roman und Erzählung "mehr die Tat als das Ereignis, mehr die Entwicklung als die Verwicklung akzentuieren", Freund, S.8. Saar an Karl von Thaler am 27.9.1887: "Hoffentlich hat Dir der 'Lieutenant Burda' nicht übel gefallen; ich habe noch eine zweite Novelle [Seligmann Hirsch] beendet und eine dritte [Die Troglodytin] ist unter der Feder". (BrW 59). Saar an Hubl, 25.3.1889: "Was nun Ihre freundliche Absicht betrifft, über mich einen Essay zu schreiben" (BrW 25). Saar an Hubl, 19.6.1889. Hiernach sind die drei Novellen der Schicksale 1887 entstanden, es folgt als nächstes in der Aufzählung Ginevra mit dem Zusatz "bisher ungedruckt" (BrW 26).

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zum Beispiel davon, daß er "in den letzten Wiener Tagen buchstäblich zu Tode gehetzt" worden sei8. Obwohl Saar mit den Plänen für Ginevra wohl schon längere Zeit beschäftigt war, sind seine brieflichen Äußerungen darüber in den Monaten Oktober und November noch allgemeiner Natur. Im bereits erwähnten Brief an Bettelheim9 vom 10. November 1888 teilt er diesem mit: "Ich aber will jetzt wieder fleißig arbeiten und hoffe in der Ruhe und Stille, die mich hier umgibt, etwas Tüchtiges vor mich zu bringen" (BrÖ 1). Bis Anfang April 1889 bleibt Saar diesmal in Blansko, nur unterbrochen von einem Besuch in Raitz vom 2. bis 11. Dezember10. In der Korrespondenz des Winters 1888/89 fällt der Name Ginevra nicht, und erst rückblickend wird deutlich, daß es sich bei den Bemerkungen zu seiner Arbeit um die neue Erzählung handelt, deren Entstehung immer wieder unter physischen Problemen Saars leidet, die sich bis zum April 1889 hinziehen11. So schreibt er an Karoline von Gomperz12 am 25. Oktober 1888: Ein hartnäckiges [...] Fußleiden hat mich über drei Wochen an Bett und Zimmer gefesselt [...]. Dabei keine Arbeitskraft und Lust - keine innere Ruhe [...]. Ich weiß nicht, soll ich diesen Winter noch hier zubringen - oder soll ich nach Wien gehen. Das letztere würde mich jedenfalls zu keiner Arbeit gelangen lassen - und darum ist es mir doch zu thun. (BrÖ 3)

Konkret von der Konzeption einer neuen Novelle und den damit verbundenen Problemen spricht Saar erst am 26. Dezember in einem Brief an die Fürstin Hohenlohe13: 8 9 10

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Saar an Bettelheim vom 10.11.1888 (BrÖ 1). Anton Bettelheim (1851-1930), Essayist und späterer Biograph Saars (SW I). Brief an Luise von Gomperz vom 4.12.1888 (BrW 11): "Seit zwei Tagen bin ich im Schlosse Raitz, wohin ich mich eines Geburtstages wegen begeben mußte. Wenn es mir erträglich geht, bleibe ich noch 3-4 Tage und kehre dann wieder in meine Blanskoer Einsamkeit zurück. Gebe Gott, daß ich dann wenigstens die Arbeiten fertig bringe, die mir noch auf der Seele liegen". Im Brief an Marie von Hohenlohe vom 3.1.1889 (BrW 17) spricht Saar davon, 9 Tage in Raitz zugebracht zu haben. Das Thema Rheuma und Exzeme, die ihn zu keiner Arbeit kommen lassen, zieht sich durch beinahe sämtliche Briefe dieser Monate. Bereits im Brief an Cornelie v. Gomperz vom 4.10. 1888 (BrW 8) spricht er von einem Fußleiden, daß er im Brief an N.N. vom 21.12.1888 konkret beschreibt: "Ich bin [...] erkrankt an Geschwüren an beiden Füßen. Es sind nicht wenigen als s i e b e n an der Z a h l " (BrD 1). Im März leidet er dann wieder verstärkt an Rheumatismus: "Der Rheumatismus hat im März sehr zugenommen; ich bin manchen Tag halb gelähmt". Brief an Fürst Hugo Altgraf zu SalmReifferscheidt vom 31.3.1889 (BrW 55). Zu den verwandtschaftlichen Verhältnissen der Familien Wertheimstein und Gomperz siehe die Erläuterungen in Heinrich Gomperz: Briefe Wertheimstein. Fürstin Marie zu Hohenlohe (1837-1920), aus dem Haus Sayn-Wittgenstein, seit 1859 verheiratet mit Konstantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst, dem späteren Ersten Ober-

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Abgesehen davon, daß ich schon seit längerem körperlich nicht ganz wohl bin auch mancherlei dichterische Pläne und Entwürfe, die ich gemacht, wollen sich nicht recht herausgestalten - und mit einer bereits begonnenen Novelle bin ich in der Hälfte stecken geblieben. Es sollte wieder einmal etwas recht Poetisches werden. (BrW 16)

Die Schwierigkeiten mit der Arbeit an Ginevra spricht Saar auch kurz in einem Brief an Cornelie v. Gomperz vom 15. Januar 1889 an: Denn sagen Sie selbst: war es nicht ein unverzeihlicher Schwabenstreich, wenn ich mich gerade jetzt in der Beendigung meiner Arbeit, in der ich so lange zurückgeblieben, aufs Ungewisse hin unterbrechen würde? (BrW 9)

Im Januar 1889 müssen diese kompositorischen Probleme jedoch wieder ausgeräumt worden sein, denn Saar schreibt bereits am 3. Januar 1889 an die Fürstin Hohenlohe: Übermorgen beginne ich mit der Fortsetzung meiner bereits begonnenen Novelle. Die neun Tage, die ich in Raitz zugebracht, haben - oder scheinen wenigstens den Knoten gelöst zu haben. (BrW 17)

Bereits einen Monat später ist er zuversichtlich, seine Erzählung bald beenden zu können; und so kann er am 9. Februar 1889 Betty Paoli14 mitteilen: "Im Frühjahr komme ich jedenfalls nach Wien, und will's Gott, bringe ich auch eine fertige Arbeit mit" (BrW 48). Tatsächlich dauert es nur noch etwas über einen Monat, bis Saar den vorläufigen Schlußstrich unter Ginevra ziehen kann; datiert ist die Handschrift auf den 4. März 1889 (H 87,16).

b. Beschreibung von H Bei näherer Betrachtung der Handschrift erschließt sich dem Leser ein ebenso seltsamer wie komplizierter Sachverhalt. Es stellt sich heraus, daß einige Passagen des Textes, die im Erstdruck erscheinen, in der Handschrift getilgt und durch die Varianten für F ersetzt wurden. Somit diente H nicht nur dem Erstdruck J1, sondern auch der Sammlung F als Vorlage. Das in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek archivierte Manuskript stellt also die Urfassung u n d gleichzeitig zwei Druckvorlagen dar, wobei F neben Gi-

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hofmeister Kaiser Franz Josephs. Nähere biographische Angaben zu einer der wichtigsten Gönnerinnen Saars siehe Anton Bettelheim: Fürstin Marie zu Hohenlohe und Ferdinand von Saar. Ein Briefwechsel. Wien 1910. Einleitung, S. -XXIV. - Elisabeth Springen Geschichte und Kulturlehen der Wiener Ringstraße (= Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche. Die Erweiterung der inneren Stadt Wien unter Kaiser Franz Joseph. Hg. Renate Wagner-Rieger. Bd.2). Wiesbaden 1979. S.526ff. Betty Paoli (Babette Glück) (1814-1894), Lyrikerin, befreundet mit Grillparzer, Stifter, Feuchtersieben und Laube, seit 1852 Theater-und Kunstreferentin des Wiener-Lloyd und der Österr. Zeitung. Essayistin und Übersetzerin Turgenjews und Puschkins.

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nevra auch die zweite Erzählung der Sammlung, die zwei Jahre später entstandene Geschichte eines Wiener Kindes, enthält. Nach dem Erstdruck ging die Handschrift also wieder an Saar zurück, der dann anläßlich der Drucklegung für F an verschiedenen Stellen der Handschrift Änderungen vornahm, ganze Passagen tilgte und den neuen Text darüber oder an den Rand schrieb. Zwar sind die Änderungen nicht allzu zahlreich, gleichwohl liegt durch die Korrekturen eine zweite Handschriftenschicht vor. Diese spätere, zweite Schicht von H enthält neben den eigenhändigen Korrekturen und Änderungen Saars auch Eingriffe des Verlegers Georg Weiß. Dennoch läßt sich die Urfassung relativ leicht rekontruieren, denn der Verleger ist am Schreibmaterial und an seiner Schrift gut zu identifizieren. Durch den Vergleich der Tilgungen in H, die noch in J1 erscheinen, mit den analogen Hinzufügungen, die Saar für F vornahm, erreicht man den urspünglichen Zustand von H. Auf das Verfahren im Fall Ginevra, eine Handschrift für zwei verschiedene Drucke als Vorlage zu verwenden, machte bereits Minor in seinem kurzen Vorwon zur Erzählung aufmerksam15. Für die 1899 entstandene Erzählung Der Brauer von Habrovan verfuhr Saar auf die gleiche Weise. Auch hier wurde das Manuskript nach dem ersten Journaldruck noch einmal überarbeitet und dann für den Sammelband Camera ohscura als Vorlage benutzt16. Die Blätter der Handschrift sind in der Mitte geknickt, so daß sich ein Oktavformat ergibt und hintereinander angeordnet; pro Blatt sind dann jeweils die beiden Vorderseiten beschrieben. Häufig wird die leere, der beschriebenen gegenüber liegende Seite für Hinzufügungen Saars oder Reinschriften des Verlegers verwendet. Das Titelblatt wurde von Saar für die Sammlung F angefertigt, es wird daher nicht vor der Fertigstellung der Geschichte eines Wienerkindes entstanden sein17. Dieses erste Blatt wurde im Gegensatz zu den anderen Blättern nicht geknickt, sondern sauber in der Mitte abgetrennt. Das so entstandene erste Teilblatt enthält neben dem von Saar selbst geschriebenen Titel "Frauenbilder" den Zusatz von fremder Hand: "Schmutztitel" schräg oben rechts am Seitenrand. Ebenfalls oben rechts ist mit blauem Bleistift eine " vermerkt. Auf der Rückseite dieses Blattes sind Saars lieferbaren Schriften im Verlag Georg Weiß aufgelistet, die auch Preisangaben enthalten, welche nachträglich von Weiß, stets an seiner violetten Tinte identifizierbar, aktualisiert wurden. Die zweite Hälfte des ersten Blattes trägt den vollständigen, später so gedruckten Titel der Sammlung F, der von Weiß durch den Zusatz » SWK,S.163. S. Polheim: Brauer, S.292. Im Fall Ginevra sind die Änderungen der zweiten Schicht allerdings seltener. 17 Die Handschrift der Geschichte eines Wienerkindes ist auf den 15.3.1891 datiert. 16

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"Der Novellen Vierte Sammlung" ergänzt wurde18. Oben rechts folgt die Zählung der Titelblätter "II" mit blauem Bleistift. Das folgende Blatt wurde ebenfalls in der Mitte durchschnitten, vorhanden ist aber nur eine Hälfte. Diese enthält den Titel Ginevra sowie die Zählung "4" oben links und "IV" oben rechts, letztere wieder mit blauem Bleistift. Dieses Blatt dürfte als Titelblatt zur eigentlichen "Urhandschrift" gehören. Die arabische Seitenzählung von Ginevra und der Geschichte eines Wienerkindes ist fortlaufend mit Bleistift am oberen rechten Seitenrand durchgeführt worden, wird daher wohl auch erst nachträglich vorgenommen worden sein. Die Datierungen der Handschrift am Ende des jeweiligen Textes: "Blansko; 4' März 1889" (H 87,16) und "Raitz; 15 März 1891" wurden mit demselben blauen Bleistift getilgt, der auch für die römischen Ziffern beim Titelblatt verwendet wurde. Für den Druck von F wurden in H die Anfänge der einzelnen Druckbögen eingezeichnet: vor "gefälligen" (H 51,15) wird der Anfang des zweiten Bogens mit einem Strich und der Bezeichnung "2. Bog." gekennzeichnet; zum Anfang des dritten Bogens steht nur ein Strich nach "darauf" (H 61,18); hinter "(wie sie)F" (H 68,32) steht "4. Bg."; den Anfang des fünften Bogens schließlich bezeichnet ein Strich und die Kennzeichnung "5. Bogen" vor "wachsende" (H 77,27). Ebenfalls für die Drucklegung von F wurden vom Verleger Georg Weiß eigenhändig kleine Fehler korrigiert, Reinschriften einiger Passagen sowie kleinere Veränderungen mit violetter Tinte vorgenommen. Die wichtigsten inhaltlichen Änderungen listet Weiß in einem Brief an Saar vom 12. Juni 1891 auf und erbittet hierzu das Einverständnis Saars19. Im folgenden erscheinen hier sämtliche Einträge des Verlegers in die Handschrift20: (H 45,5-13) (H 45,10) (H 45,20f.) (H 46,20-34) (H 50,32) (H 52,33) (H 56,5) (H 60,28)

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"sagte bis könnte" umkreist und als Reinschrift wiederholt, "s. nebenstehend" im umkreisten Text. "mit his gedenken" umkreist. "Liebesgeschichte bis Indeß" umkreist und als Reinschrift wiederholt. Weiß schreibt "Indes". "(und bis mich)" umkreist und als Reinschrift wiederholt, "s. nebenstehend." im umkreisten Text. "(Zuschauern)", entsprechend tilgt Weiß "{Zusehern}". "{(ch))" mit einem Keil eingewiesen. "(Wir)"; Saar hatte "{wir}"(H 56,1) versehentlich mitgetilgt. "sie", am letzten Buchstaben wurde radiert, das "e" stammt von Weiß.

Diese Ergänzung wird von Weiß auch in seinem Brief (BrW 65) erwähnt, siehe S. 121. S. dazu das entsprechende Kapitel zu F, S.121. Diese Veränderungen am Text sind auch in den Erläuterungen zu H enthalten.

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(H 63,2) (H 63,3-6) (H 66,19-23) (H 68,17)

(H 68,30) (H 70,34) (H 76,26) (H 79,4) (H 79,24) (H 86,1-8)

"{militä}"; durchgestrichen, da Saar den ersten Teil des getrennten Wortes vergessen hatte zu tilgen. "(Aus) bis Bild" umkreist und als Reinschrift wiederholt. "Es bis denn" umkreist und als Reinschrift wiederholt, 19 "Es" ersetzt er durch das richtige "Er"; "siehe nebenstehend" im umkreisten Text. "(war)", entsprechend tilgt Weiß "{begann}", dessen Tilgung Saar vergessen hatte; so ergab sich die Variante für J1: (V 28,4): "es begann Frühling zu werden". "{Versetzung}11", entsprechend tilgt er "{Übersetzung^11. "(brauste)"; hier vergißt er, den Fehler "braste" zu tilgen. "(an)". "(einkommen)F", entsprechend tilgt Weiß "{einschreiten}J". "(ist)". "{unter} bis gewachsen." umkreist und als Reinschrift wiederholt: "... Wien bis gewachsen."; "s. nebenstehend" im umkreisten Text.

c. Erste Reaktionen Eine der ersten, wenn nicht die erste, die Ginevra nach der Vollendung im März 1889 noch vor der Erstveröffentlichung kennenlernen durften21, war die Fürstin Marie zu Hohenlohe. Ihre Reaktion auf die neue Erzählung in einem undatierten Brief, der um den April 1889 verfaßt sein dürfte, bietet eine Kurzinterpretation, die im wesentlichen, wenn auch nicht in so blumigen Worten, bis heute geteilt wird: Ihre Novelle hat mich tief ergriffen - ich mußte mich erst an lieben Gegenständen warm sprechen bevor ich darauf zurückkam. Der Grundgedanke darin ist so wahr daß die Jugend sich so unermeßlich reich an Liebe wähnt. Sie läßt einen reichen Schatz am Wege liegen - nur weil eine gewisse Energie erforderlich wäre, um ihn zu heben. 'Es wird noch anders kommen' - denkt sie leichtfertig. Es kömmt auch anders - aber was ihr da entgegenschimmert ist gefälschte Ware, glitzernder Tand der ihr unter den Fingern wegbröckelt. Dann überfällt sie mächtige Sehnsucht nach dem lauteren Gold - das am Wegrain gelassen wurde. Aber das Leben treibt unerbittlich vorwärts - ein Zurückgreifen nach der Vergangenheit ist nicht mehr möglich - und das einst unbedacht Verschmähte bleibt unwiederbringlich verloren. (BrW 23)

Saars Antwort auf diesen Brief vom 13. Mai 1889 zeigt die Zurückhaltung und Selbstkritik, der man in seinen Äußerungen zu den meisten eigenen Erzählungen so häufig begegnet22: 21

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Gewöhnlich las Saar seine neuen Novellen kurz nach der Fertigstellung im kleinen Kreise vor, nicht zuletzt um die Wirkung auf das Publikum zu testen. Nur sehr selten hat Saar eigene Werke von Selbstkritik verschont oder gar qualitativ hervorgehoben. Eine der wenigen positiven Äußerungen, in denen er sich mit einer vollendeten Erzählung zufrieden zeigt, stammt aus einem Brief an die Fürstin Hohenlohe vom 25.5.1892: "Meine neueste Novelle Schloß Kostenitz aber wird, glaube ich, die

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Sehr glücklich bin [ich], daß meine Novelle Eindrücke hervorgebracht; ich gestehe, daß ich gefürchtet hatte, diese gar so einfache Geschichte würde Ihnen nicht gefallen. Nun aber, da Sie damit zufrieden sind, bin ich es auch. (BrW 19)

2. Die Erstveröffentlichung in den Dioskuren Qi: 1890) Wohl schon zu Beginn des Jahres 1889 ließ Adam Müller-Guttenbrunn, Redakteur der Deutschen Zeitung2*, bei Saar anfragen, ob dieser dem Schuhereins-Kalender nicht eine aktuelle Novelle zur Verfügung stellen könne. Saar, der ja zu dieser Zeit nach den erwähnten Schwierigkeiten wieder mit der Fortsetzung von Ginevra beschäftigt war, antwortet am 10. Januar 1889: Mit einer Novelle kann ich leider nicht dienen. Ich habe zwar eine solche begonnen, aber hinsichtlich derselben bereits einen bindenden Vertrag geschlossen - und eine zweite wird wohl im Laufe dieses Jahres kaum mehr zu stände kommen, da ich auch etwas dramatisches in petto habe. (BrW 37)

Die von Saar angesprochene Vertragsschließung muß in Frage gestellt werden. Sie könnte sich nur auf die Dioskuren beziehen, wo Ginevra zu Neujahr 1890 auch erscheint. Ein Widerspruch ergibt sich jedoch aus einem Brief Saars an Victor Hubl vom 1. Oktober 1889; dieser hatte sich genau wie Müller-Guttenbrunn für Ginevra interessiert24: Die betreffende Novelle ist bereits vor zwei Monaten dem Sections-Chef Falke für die 'Dioskuren' überlassen worden. Was ist nun zu thun? (BrW 27)

Hätte Saar also nicht bereits im August mit Falke für die Dioskuren eine Übereinkunft getroffen, wäre Hubl nicht leer ausgegangen, was bei einem bereits bestehenden Vertrag ja unmöglich gewesen wäre. Ebenso unmöglich wäre der nachweisbare Versuch Saars gewesen, Ginevra in der Monatsschrift Moderne Dichtung erscheinen zu lassen, wenn solche Exklusivrechte, wie sie

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Vorzüge jener Jugendarbeit [Innocens] mit der geläuterten Reife des Alters vereinen; sie dürfte wohl das Beste sein, was ich novellistisch geleistet". (BrW 22) Adam Müller-Guttenbrunn (1852-1923), Schriftsteller, Dramatiker und Essayist, seit 1886 Feuilletonredakteur der Deutschen Zeitung, übernahm 1893 die Leitung des Wiener Raimund-Theaters, wurde jedoch 1896 abgesetzt. Er gründete 1898 das JubiläumsStadttheater (die heutige Volksoper), trat 1903 zurück und betätigte sich wieder als Feuilletonist, Herausgeber und Erzähler. Verfasser zeitgenössischer und historischer Romane. Die Anfragen Hubls und Müller-Guttenbrunns sind nicht tradiert und können nur aus den Antworten Saars erschlossen werden.

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im Brief an Müller-Guttenbrunn angedeutet werden, tatsächlich bestanden hätten25. Üblich für Jahrbücher, Kalender und ähnliche Periodika waren anläßlich der Erstveröffentlichung auch keine "bindenden Verträge", sondern die Erlaubnis zum einmaligen Abdruck gegen - wenn überhaupt - ein vereinbartes Honorar26. Darüber hinaus lehnte es Saar gemeinhin ab, über unfertige Werke Verträge abzuschließen und sich damit unter Druck setzen zu lassen27. Die Existenz des Müller-Guttenbrunn gegenüber angegebenen Vertrages ist also eher unwahrscheinlich, zumal später ein solch fester Vertrag hinsichtlich Ginevras 1890 für die Moderne Kunst tatsächlich vorliegt28. So ist anzunehmen, daß Saar den Vorschlag Müller-Guttenbrunns nicht einfach rundheraus ablehnen wollte, da er ihm ja im gleichen Brief auch ein Gedicht verspricht, eine feste Zusage über eine unfertige Erzählung jedoch unter allen Umständen vermeiden wollte. Zu Neujahr 1890 erschien Ginevra im 19. Jahrgang der Dioskuren, dem Literarischen Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereins der österreichischungarischen Monarchie. Der 1865 gegründete Beamtenverein war Wirtschaftsunternehmen und soziale Institution in einem. Im Vordergrund stand die Förderung der Beamteninteressen sowie als Träger von Renten- und Lebensversicherungen auf genossenschaftlicher Basis auch die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage seiner Klientel. Zusätzlich wurde ein Kultur- und Bildungsanspruch vertreten, der in den 1872 zum ersten Mal erschienenen Dioskuren zum Ausdruck kam. Zwar nahm die Literatur hier den größten Raum ein, doch wurden in beinahe jedem Band Themen behandelt, die auf eine politisch soziale Erziehung der Leserschaft abzielten, wie zum Beispiel: Der moderne Staat und der Beamte, Die Frauenemancipation und ihre Schranken oder Die Kinderpflege in der modernen Familie. 25 26

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28

Zum nicht erfolgten Abdruck Ginevras in der Modernen Dichtung siehe S. 119. Zur Rolle der periodischen Presse im Zusammenhang mit der Hochkonjunktur der Novelle und dem Bekanntheitsgrad der Autoren sowie dem finanziellen Stellenwert eines Vorabdrucks s. Eva D. Becken "Zeitungen sind doch das Beste". Bürgerliche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur,- Kunst- und Musikwissenschaftliche Studien. Fritz Martini zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969. S.382-408. So lehnte Saar zum Beispiel den Vorschlag der Cottaschen Buchhandlung, etwas zum in Aussicht stehenden Musenalmanach beizutragen, ab. Er schreibt an Otto Braun am 24.7.1890: "denn gewissermaßen in zwölfter Stunde Etwas ad hoc zu dichten ist mit bei der Art und Weise meines Schaffens ganz und gar unmöglich" (BrW 2). Auch ein recht früher Brief an die Fürstin Hohenlohe aus dem Jahr 1877 gibt Auskunft über Saars Arbeitsweise: "Meine schwerfällige Art zu schaffen, macht mich in der That ganz unglücklich; sie a 11 e i n zwingt mich in die Einsamkeit" (3.2.1877) (BrW 13). Siehe dazu den Brief von Richard Bong an Saar vom 17.6.1890 (BrW 1) im Kapitel zu J2, S.136f.

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Im Vorwort des ersten Jahrgangs wurden die Ziele festgeschrieben. Der Schwerpunkt lag auf der Literatur Deutsch-Österreichs, jedoch: "Im literarischen Sinne bezeichnet uns Deutsch Oesterreich nur eine engere Heimat"29. Neben Literatur aus dem deutschen Reich sollte auch die Dichtung der übrigen Völker Österreichs Eingang in das neue Periodikum finden: "Das Jahrbuch hat daher in seinem Bestreben, dem deutschen Lesepublikum auch solche, fast noch unberührte Schätze unseres geistigen National-Reichthums zuzuführen, zunächst an die magyarische Literatur angeknüpft"30. Die deutschsprachige literarische Prominenz Österreichs der Zeit gab dennoch den Ton an. Namen wie Emil Kuh, Hieronymus Lorm, Eduard von Bauernfeld, Adolf Wilbrandt, Robert Hamerling, Stephan Milow, Karl Emil Franzos, Peter Rosegger, Betty Paoli und Ada Christen waren regelmäßig vertreten. In den meisten Bänden finden sich Aphorismen und Parabeln Marie von Ebner-Eschenbachs, 1883 auch die Erzählung Krambamhuli. Saar steuerte fast jedes Jahr einige Gedichte bei, der erste Akt seines Thassilo erschien hier 1878, ebenso das dramatische Fragment Benvenuto Cellini im Jahr 1884. Im Verlauf der 90er Jahre wurden die Beiträge der Autoren von Rang allerdings seltener, was mit einer deutlichen Abnahme der Resonanz einherging. So stellten die Dioskuren im Jahr 1896 mit dem fünfundzwanzigsten Band ihr Erscheinen ein. Die erste Ausgabe der Erzählung Ginevra in den Dioskuren gibt als einzige die erste Schicht der Handschrift wieder. Sie enthält zudem einige Varianten, die sich im Vergleich mit H ergeben. Die meisten dieser Varianten stehen ausschließlich in J1, es läge daher zunächst nahe, Textfehler und Eingriffe des Setzters anzunehmen. Daß die Veränderungen - zum größten Teil wenigstens - doch von Saar stammen, beweist die Altersänderung der Gräfin (V 32,36) von sechsundzwanzig auf achtundzwanzig Jahre. Diese Änderung erscheint durchgehend in allen späteren Ausgaben. Da es jedoch nicht die Ausgabe J1, sondern ja erneut H war, die dem späteren Sammlung F als Vorlage diente, ist die Möglichkeit auszuschließen, daß sich die Änderung von Saar unbemerkt durch die verschiedenen Ausgaben erhalten hat. Es ist daher wahrscheinlich, daß Saar in den Druckfahnen von J1 die Korrekturen vornahm. Abgesehen von hier zu vernachlässigenden unwesentlichen Änderungen im Zeichensatz und kleineren Druckfehlern beruht die folgende Auflistung dieser Korrekturen auf der Veränderung von Lexemen und grammatischen Morphemen: 11,17 14,34 16,24 29 30

doch ein] doch immer ein H im gleichmäßigen] in gleichmäßigem H Dorsner war gleichfalls] Auch Dorsner war H

Dioskuren l, 1872, Vorwort. Ebda. 117

16,29 16.29 16.30 17.29 18,5f. 26,33 30.20 30.21 f. 32,26 32.31 34.30 37.32

wurde.] Kein Abiatz in H mit] in H in Schuhen] Schuhen H Schauplatz] Schauplatze H die Einzelheiten] jede Einzelheit H habe ich mich] hab' ich es mir H schreite [...] ein] schreite [...] nach H komme] komme [...] wieder H achtundzwanzig] sechsundzwanzig H weiches] reiches H mehr verweigernd] verweigernder H rosarothen] rosenrothen H

Diese wohl aus Druckfahnen stammenden Varianten beinhalten, sieht man von der Altersänderung der Gräfin einmal ab, rein stilistische Änderungen, die Saar bei der späteren Bearbeitung für F nicht mehr vornahm: ob er sie für unwesentlich hielt oder seine Meinung einfach geändert hatte, muß offenbleiben. Nach Erscheinen der Dioskuren Anfang 1890 erhielt Saar positive Reaktionen aus seiner näheren Umgebung. Die Fürstin Hohenlohe hatte Ginevra bereits gelobt; Saar schickte ihr einen Abzug31. Josefine von Wertheimstein kannte die Erzählung ebenfalls vor ihrem Erscheinen in den Frauenbildern*2. Marie von Ebner-Eschenbach muß sich anerkennend über Ginevra geäußert haben, denn Saar schreibt ihr am 23. Januar 1890: Noch habe ich Ihnen, gnädigste Gräfin, für die so überaus gütigen Zeilen zu danken, die Sie hinsichtlich der Ginevra mir haben zukommen lassen. Nun ja, sie ist ein lieber Schatz - aber eben nicht viel mehr. Zur Noth kann die Geschichte mitlaufen. (BrW 3)

In ihrem Brief vom 13. Februar 1890 würdigt Betty Paoli die kürzlich erschienene Erzählung: Daß Sie noch immer im Wachsen begriffen sind, beweist mir von Ihrem letzten Band nicht zu sprechen, die vortreffliche Novelle, die Sie in diesem Jahrgang der Dioskuren veröffentlichten. In ihr erkennt man deutlichst wie wenig am Stoff selbst gelegen ist und wie viel an der künstlerischen Behandlung33. Die sehr einfache tausendmal vorkommende Geschichte eines jungen Offiziers, der für achtes Gold 31

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Brief vom 3.4.1890: "Ich erlaube mir, einen Abzug meiner Novelle 'Ginevra' zu übersenden, welche das Glück hatte, Eurer Durchlaucht zu gefallen". (BrW 20) Vgl. den Brief Saars an Josefine v. Wertheimstein vom 9.7.1891: "Zu Weihnachten wird von mir (und wahrscheinlich auch nur für mich) ein neues 'Novellenbüchel' erscheinen, enthaltend: 'Ginevra' und 'Geschichte eines Wienderkindes'. Die erste kennen Sie". Briefe Wertheimstein, S.419. Betty Paoli spielt hier wohl auf eine Bemerkung Schillers aus einem Brief an Goethe vom 7.9.1797 an: "Das Gemüth ist es, welches hier die Grenze steckt, und das Gemeine oder Geistreiche kann ich auch hier wie überal nur in der Behandlung nicht in der Wahl des Stoffes finden". Schiller, Bd. 29, S.127.

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werthlosen Flitterkram einzutauschen bereit ist, haben Sie zu einem Meisterwerke auszuarbeiten gewußt, das man nicht wieder vergessen kann. (BrW 52)

Saars Antwort zwei Tage später zeugt wieder von Zurückhaltung, Selbstkritik und Bescheidenheit: Und in dieser Hinsicht gereichten mir Ihre anerkennenden Worte über die 'Ginevra' zu wahrem Tröste. Vielleicht ist es eine gar zu einfache, gewöhnliche Geschichte. (BrW 49)

Kurz nach dem Erscheinen Ginevrus in den Dioskuren versuchte Saar seine Erzählung in der Monatsschrift Moderne Dichtung unterzubringen. Aus welchen Gründen der Abdruck unterblieb, ist ungewiß, eine Antwort von Seiten der Herausgeber ist nicht erhalten. Die Zeitschrift hatte zuvor einen Artikel mit Bild über Saar abgedruckt. Er schrieb dazu am 14. März 1890 an Eduard Michael Kafka34: Sie gestatten mir daher, daß ich Ihnen hiermit meinen aufrichtigen Dank ausspreche. Zugleich erlaube ich mir, Ihnen meine letzte Novelle "Ginevra" zum Abdruck anzubieten. Dieselbe ist zwar zu Neujahr m den "Dioskuren" erschienen; Sie dürften aber wissen, daß dieses Jahrbuch außerhalb Oesterreich gar keine - im Lande selbst jedoch nur wenig Verbreitung hat, daß Sie also nicht fürchten müssen, Ihrem Leserkreis mit dieser Arbeit bereits Bekanntes aufzutischen. [...] Honorarforderung stelle ich keine. (BrW 28)

3. Die Ausgabe Frauenbilder (F: 1891, Jahresangabe 1892) a. Plan und Erscheinen von F Im Zusammenhang mit der vierten Auflage des Innocens und den damit verbundenen neuen Vertragsverhandlungen kam es zu ernsten Auseinandersetzungen zwischen Saar und seinem Verleger Georg Weiß. Nachdem Saar den Vorschlägen Weiß' wohl nicht zugestimmt hatte, wurde dieser in seinem Brief vom 26. März 1891 deutlich35: 34

3:1

Eduard Michael Kafka (1864-1893), Schriftsteller und Redakteur. In Verbindung mit H. Bahr 1889/90 Mitbegründer der Monatsschrift Moderne Dichtung, die im zweiten Jahrgang als Halbmonatsschrift Moderne Rundschau in Wien erschien. Volkswirtschaftlich interessiert, bekannte er sich zum Sozialliberalismus und zur Lösung der sozialen Frage ohne staatliche oder gesellschaftliche Einwirkung. Die Kontroverse um die vierte Auflage des Innocens detailliert bei Stuben, S.126f.

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[...] da muß ich mich denn, wiewohl höchst ungern, entschließen, es in bestimmter Weise auszusprechen, daß ich bei dem Verlage Ihrer Werke bis jetzt nur Opfer gebracht habe. [...] trotzdem überwiegt alles in allem der Verlust den Gewinn, denn Marianne, Steinklopfer, Die Geigerin, Die de Witt, lie Auflage haben mir viel Geld gekostet, wovon entsetzlich wenig wieder einging. (BrW 63)

Man einigte sich daraufhin nicht nur über die Neuauflage des Innocens, auch der (nicht überlieferte) Verlagsantrag zu den Frauenbildern, die neben Ginevra auch die Geschichte eines Wienerkindes enthalten sollten, wurde von Weiß in seinem Brief vom 8. Mai 1891 angenommen36: Nach unserer letzten Korrespondenz freue ich mich aufrichtig, aus Ihrem w. Briefe vom l .d.M. zu ersehen, daß kein Schatten zwischen uns liegt, und so nehme ich denn ohne Opposition Ihre beiden Verlagsanträge unter den genannten Bedingungen an und freue mich, damit wieder etwas Neues und etwas gutes Altes von Ihnen bringen zu dürfen. Also: I. Frauenbilden Erste Auflage. Auflage: 600 Ex. Übernahme der Herstellungskosten meinerseits Honorar: Teilung des Gewinnes. Erscheinen des Buches im Nov. d.J. Freiexemplare ? Bei notwendig werdender 2. Auflage neue Vereinbarungen. [...] Die Ausstattung der "Frauenbilder" soll Ihrem und meinem Wunsche entsprechend sich sehen lassen können [...] Das Papier und Format darf wohl dasselbe sein, wie bei "Schicksalen", zum Umschlage möchte ich aber gern eine weniger empfindliche Farbe wählen. Die Schicksais-Krebse sehen äußerlich recht traurig aus.37 (BrW 64)

Saar nahm nun in der Handschrift, die bereits dem Abdruck in den Dioskuren als Vorlage gedient hatte, nochmals Änderungen vor38. Der Text, der in seiner ursprünglichen Fassung bereits viele Streichungen und Hinfzufügungen zwischen den Zeilen enthielt, mußte den Setzer nun zusätzlich vor einige Probleme stellen. Nachdem Saar die so überarbeitete Handschrift an Georg Weiß geschickt hatte, brachte dieser dennoch in seinem Brief vom 12. Juni 1891 seine Befriedigung über die zwei neuen Erzählungen zum Ausdruck: Die Manuskripte sind inzwischen während meiner Abwesenheit eingegangen und die Anzeige darüber haben Sie erhalten. Es freut mich, Ihnen heute meine hohe Befriedigung über die "Frauenbilder" aussprechen zu können, von denen ich hoffe und erwarte, daß sie im Absatz die "Schicksale" hinter sich lassen werden. Die einfach edle Sprache, die feine Charakterschilderung, die in beiden Novellen meisterhaft herbeigeführte Katastrophe muß dem Buche Freunde gewinnen. Auf Wien 36 37 38

Der Vertrag über Innocens folgt im selben Brief, siehe auch Stuben, S. 128. Die Ausgabe von F entsprach schließlich äußerlich doch genau dem Band Schicksale. Die aufgelisteten Varianten von J1 zu F, die innerhalb von H vorgenommen wurden, siehe S. 122.

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wird nach dem lokalen Tone und namentlich, wenn es sich, wie ich erwarte, um wirkliche Personen handelt, natürlich wieder in erster Line zu rechnen sein. [...] Ein Voneil aber ist es, die Herstellung in den stillen Sommermonaten in aller Ruhe betreiben zu können, weiß man doch nicht, was in unserer strikereichen Zeit die lebhafteren Herbstmonate bringen. (BrW 65)

Nach der ästhetischen Würdigung macht der Verleger im selben Brief auch gleich einige Vorschläge zu stilistischen Veränderungen39: Nun noch ein paar Kleinigkeiten. Auf dem Titelblatt darf ich wohl noch hinzufügen: (Der Novellen vierte Sammlung)40 wie es dem Titel der Schicksale entspricht? Ich würde es ungern vermissen. Weiter möchte ich mir auf ein paar Ausdrücke aufmerksam zu machen erlauben, die mir störend scheinen. Sie sind wahrscheinlich in Österreich gebräuchlich und fallen dort nicht auf, es ist aber doch vielleicht besser, sie zu ändern. Es sind: S.41 "meine Ü b e r s e t z u n g (statt Versetzung) zu einem Regimente" etc. S. 58 "um einen Urlaub e i n s c h r e i t e n " (statt einkommen) S.104 "ohne f r ü h e r e Vorbereitung" (vielleicht ohne j e g l i c h e Vorbereitung?)41 S.l l "eine Reihe von Z u s e h e r n " (statt Zuschauern). Sie sehen, es sind Kleinigkeiten. Wollen Sie sie ändern, so bitte ich, es mir mitzuteilen, ferner ob ich das Manuskript jetzt schon in die Druckerei schicken darf. (BrW 65)

Saar akzeptierte offenbar die vorgeschlagenen Änderungen, denn seit F erschienen sie in den von H und F abhängigen Ausgaben. Am 16. September 1891 konnte Weiß melden: "Im nächsten Monat kündige ich die 'Frauenbilder' im Buchhandel an" (BrW 66). Knapp sechs Wochen später schrieb Weiß schließlich: Die "Frauenbilder" liegen zur Ausgabe fertig, ich muß aber ein paar anderer Bücher wegen, die gleichzeitig versandt werden sollen, noch etwa 12-14 Tage damit warten, und ich bitte deshalb nicht ungeduldig werden zu wollen. Ich muß auch warten, weil die Bestellungen erst nach und nach eingehen. Von Wien liegen schon befriedigende Bestellungen vor, ein guter Teil aber, darunter auch Gerold, ist noch rückständig. Nach Graz, Prag, Brunn und anderwärts habe ich Offerten gemacht. (BrW 67)

39

40

41

Siehe dazu die Auflistung sämtlicher von Weiß vorgenommenen Veränderungen an H, S.113f. Vgl. S.l 13. Bezieht sich auf Geschichte eines Wienerkindes. 121

b. Die Überarbeitung für F Für die Drucklegung von F wurden für die Interpretation nicht unwichtige Veränderungen innerhalb von H vorgenommen42. Es folgen hier also die auch in H erscheinenden Varianten von F im Vergleich zu J 1 : ll,3f. 11,24 28.17 28.18 39,8f.

39.11 39,17

die umliegenden Höhen und einen Theil der Stadt] einen Theil der Stadt und die grünen Gelände der Donau J1 wahrhaft trostlos] ein wahrhaft trostloser}1 wie sie] welche J1 allzu schwer] selten J1 so wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt - nicht so, wie i c h Sie geliebt] s o , wie ich es verstehe, nicht s o , wie ich Sie geliebt - nicht s o , wie Sie mich lieben mußten, wenn ich Ihnen m e i n e Liebe hätte bewahren sollen. J1 überwunden und sehe ein, daß es so kommen mußte.] überwunden. J1 sollte] müßte J1

Auffallend ist hierbei, wie Saar Äußerungen Ginevras (V 39,8f. und V 39,11) zurücknimmt, ihren Charakter eher verschleiert und die Deutung somit erschwert. Auf der anderen Seite ist die Tendenz festzustellen, geographisch konkreter zu werden und die Schauplätze der Handlung deutlicher anzugeben. In den späteren Ausgaben wird sich dies fortsetzen. Außer den Änderungsvorschlägen von Weiß und den Eingriffen in die Handschrift nahm Saar noch weitere Korrekturen vor, die in H nicht erscheinen. Die Annahme liegt hier nahe, daß er diese Änderungen in die Druckfahnen von F eintrug: 11.3 13,10 14,33 15,25f. 16,1 17.4 23,10 26.12 29.20 29.21 30.20 30,21f. 30.21 30.22 31,3 42

einer Terasse niedergelassen, die] einem Plateau niedergelassen, das H J1 nicht den Muth] nicht Muth H J1 herben Luft Etwas] Luft bereits Etwas H J1 Dorsner mit] Dorsner sofort mit H J1 rückwärts zusammengeknotet] rückwärts dicht zusammen geknotet H Ji Keine Umstände] Keine Angst H J1 welchen] welchem H J1 wandte] wendete H J1 um mir] und mir H J1 Brust zu fliegen] Brust flog H J1 komme [...] ein] schreite [...] nach H schreite [...] ein J1 kehre [...] zurück] komme [...] wieder H komme}1 ganz gewiß] bestimmt H J1 werde] werde dann H J1 mir die] mir fest die H J'

Die Änderungen innerhalb von H sind in der Textwiedergabe durch {...}J und (...)F gekennzeichnet, ihr Erscheinen in H ist also im Variantenverzeichnis nur dann aufgeführt, wenn sich die Varianten auf N4 und nicht auf F beziehen. Die von Georg Weiß vorgenommenen Veränderungen werden hier ebenfalls nicht berücksichtigt. Sie sind bereits im Zusammenhang mit der Beschreibung von H aufgelistet, siehe S.113f.

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31,25 31,33 31,35 32,39 34,14 35,30 39,19 40,28f.

im Trennungsschmerz] vor Trennungsschmerz H J1 der sogenannten Gesellschaft] dem sogenannten Weltverkehr H J1 innern] inneren H J1 daß] als H J1 in Worten] im Worte H J' Haben] Hegen H J1 Gefühle] Absatz folgt nicht in H und J1 unglücklich] und unglücklich H J1

Neben den ähnlich wie in J1 auftretenden stilistischen Änderungen43 sind was auch schon bei den Korrekturen in H für F zu beobachten war - inhaltliche Änderungen zu verzeichnen, die der Abmilderung allzu deutlicher Hinweise auf die Charaktere dienen. So wird zum Beispiel Ginevras fester Händedruck am Ende des vierten Kapitels (V 31,3) geändert und das "fest" gestrichen.

c. Die Rezeption der Erzählung (F) 1891-1892 Eine Gepflogenheit Saars bestand darin, nicht nur ihm bekannten Rezensenten, sondern auch seiner ihm freundschaftlich verbundenen Umgebung Freiexemplare seiner Neuerscheinungen zu schicken44. So hatte Saar bereits am 28. Mai 1891 in einem Brief an Betty Paoli das Erscheinen des neuen Bandes Frauenbilder angekündigt: An meinem neuen Novellenbuch (das freilich auch die Ihnen schon bekannte "Ginevra" enthält) werden Sie hoffentlich einige Freude haben, wenn auch vielleicht keine volle. (BrW 50)

Sofort nach Erscheinen des Buches im November schickte Saar der Schriftstellerin ein Exemplar, für das sie sich am 21. November 1891 bedankte: Heute schreibe ich Ihnen nur, um Ihnen den richtigen Empfang Ihres Buches anzuzeigen, und um Ihnen für das hochwerthe Geschenk zu danken, das mir vor einer Stunde zugekommen ist. Wenn ich es gelesen haben werde, schreibe ich Ihnen dar43 44

Siehe S. 117f. So zum Beispiel dem Literarhistoriker und Essayisten Emil Söffe (1851-1922): "Die 'Frauenbilder' kamen Ihnen über meinen Auftrag vom Verleger zu" (BrW 57). Auch die Fürstin Hohenlohe bedankte sich für Saars etwas verfrühtes Weihnachtsgeschenk am 23.12.1891: "Ihre Ginevra habe ich mit Entzücken wieder gelesen" (BrW 24). Daraufhin Saars Antwort vom 1.1.1892: "Daß die 'Ginevra' wieder Wohlgefallen gefunden hat, beglückt mich sehr" (BrW 21). - Saars Gewohnheit, Freiexemplare an Rezensenten zu schicken, sah sein Verleger als völlig unnütze Verschwendung an: "Es scheint, daß solche Literatur-Artikel beinahe nur von Schriftstellern gelesen werden, denn wenn auch vielleicht keine einzige Bestellung aus den Reihen des Publikums daraufhin eintrifft, so ist doch Eines unausbleiblich, das Einverlangen von Freiexemplaren von seiten der Rezensenten" (Weiß an Saar, 12.8.1890. BrW 62).

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über. [...] Es ist mir auch sehr lieb, Ginevra wieder zu lesen, denn wenn auch der Eindruck, den diese Erzählung auf mich machte, in mir noch sehr lebendig ist, bedarf es bei einem so feinen Kunstwerk doch einer wiederholten Lecture um verschiedene kleine, aber deshalb nicht minder wichtige Züge nach Gebühr zu würdigen. (BrW 53)

Ihr Brief vom 9. Dezember 1891 gibt nicht nur die Gedanken zu der ihr neuen Erzählung Geschichte eines Wienerkindes wieder, sie äußert sich noch einmal zu Ginevra: Ihre Ginevra kannte ich bereits, daß ich sie ein zweites Mal mit unverminderter Theilnahme lesen konnte, ist wohl ein sicherer Beweis ihres inneren Gehaltes und ihres Reichthums an feinen individuellen Zügen, von denen man immer wieder angezogen wird, wenn man auch die Vorgänge selbst bereits kennt. [...] Ihre "Novellen aus Österreich" sind in der That Beiträge zur Psychologie des Stammes, den Sie schildern. (BrW 54)

Saars Antwort vom 19. Dezember 1891 auf die anerkennenden Worte Betty Paolis fällt wie gewöhnlich selbstkritisch aus. Möglich ist auch, daß er derartigen Beifall in den meisten Fällen als höfliche Phrase ansah45: Also für's Erste: herzlichen Dank für das meinen Novellen verständnisvoll gespendete Lob. Den verständnisvollen Tadel haben Sie schonend verschwiegen - und so will ich ihn selbst besorgen. Das letzte Drittel des Wiener-Kindes ist nicht ganz in Ordnung. (BrW 51)

Noch im Dezember des Jahres 1891 erschienen die ersten Besprechungen der Frauenhilder46. Die erste stammte von Anton Bettelheim in der Beilage der Allgemeinen Zeitung. Bettelheim geht zunächst auf Saars Gesamtwerk ein, um sich dann nur kurz mit den neuen vorliegenden Erzählungen zu befassen. So wird Ginevra nur beiläufig angesprochen: Oesterreicherinnen sind auch die beiden weiblichen Charaktere, mit denen uns Saar diesmal bekannt macht, so verschieden im übrigen nach Wesen und Schicksal das tapfere, selbstsichere Soldatenkind Ginevra und das leicht bewegliche, liederliche Wiener Blut Elise Schebeste sich entwickeln. In seiner Lieblingsmanier, der Ichform 45

46

Nur sehr selten findet man in der Korrespondenz Saars offene Kritik an seinen Werken. Allein die Fürstin Hohenlohe gab von Zeit zu Zeit auch ihrem Mißfallen deutlichen Ausdruck. Sonst herrscht der höfliche Umgangston der Wiener "Ringstraßengesellschaft" vor. Auch Saar hütete sich, an seinen Gönnerinnen und Mäzenen Kritik zu üben. Dies geschah nur über Dritte, und auch da sehr vorsichtig, wie sein Urteil über die von ihm auch tatsächlich sonst hochgeschätzte Marie von Ebner-Eschenbach in einem Brief an Necker vom 9.5.1892 zeigt: "Gerade das Lehrhafte und Erzieherische in den Schriften der hochbegabten Frau muthet mich bei aller Vollendung der Darstellung und trotz der wahrsten und edelsten Empfindung ein bischen dilettantisch an. Der Künstler bildet, redet nicht (Goethe)" (BrW 44). Die Darstellung der Rezeptionsgeschichte kann nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sie versucht gleichwohl eine ausführliche Dokumentation zu liefern und damit einen umfassenden Überblick zu vermitteln.

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des Improvisators oder Memoirenschreibers, gibt Saar in den "Frauenbildern" mit der Hauptfigur zugleich die Schilderung ihres ganzen Kreises. Die Beichte des Obersten, der sich an seiner Jugendgeliebten Ginevra versündigte, versetzt uns mit einem Schlage in das Leben und Treiben groß- und kleinstädtischer Garnison.47

Drei Tage später erschien im Wiener Fremden-Blatt eine anonyme Rezension der Frauenhilder unter der Rubrik Von unseren Erzählern. Hier geht der Verfasser etwas ausführlicher als zuvor Bettelheim - wenn auch genauso nichtssagend - auf Ginevra ein, wobei er selbst poetisch zu werden versucht: In der ersten Novelle: "Ginevra" erzählt ein Oberst eine Fähnrichsliebe aus der Festung Theresienstadt. Das Mädchen, eine Halbitalienerin, ist ein ungewöhnlicher Charakter ... ohne alles Ungewöhnliche. Einfach, natürlich, ganz: das sind ihre Haupteigenschaften. Doch darin liegt ja eben das Seltene; die selbstverständlichen Dinge sind unter Umständen die überraschendsten. In der Schilderung solcher inniger Seelen von einfachem Nervenbau ist Saar heute von keinem übertroffen. Ein zarter Reif liegt auf ihnen und was man für Perlen hält, sind eigentlich nur Thautropfen... aber echte.48

Am 20. Dezember 1891 veröffentlichte Müller-Guttenbrunn in der Deutschen Zeitung einen Aufsatz, der sich neben biographischen Angaben und der Würdigung der bislang erschienenen Novellen vor allem den Frauenbildern zuwendet und hier das Fundament legt für die hundert Jahre dauernde klischeehafte Vorstellung von der Protagonistin und die einseitige Interpretation der Erzählung49: " G i n e v r a " , die liebliche, willensstarke und tugendsame Tochter einer armen österreichischen Offizierswitwe, und Lodoiska, die Gattin des Regimentskommandanten, eine exzentrische polnische Gräfin, welche den jeweiligen Adjutanten ihres Mannes auch zu dem ihrigen zu machen weiß, sie stehen in der ersten Novelle einander gegenüber. [...] Ginevra ist das moderne Mädchen, das, in seiner Liebe betrogen, mit gebrochenem Herzen aufrecht bleibt und sich einem praktischen Beruf zuwendet, aus dem es allerdings wieder durch die Liebe erlöst wird: Lodoiska ist die in Unthätigkeit und Langeweile hindämmernde, ihre Nerven durch die Musik aufreizende moderne Frau, die fortwährend nach männlicher Beute auslugt zur Stillung ihrer unbefriedigten Sinnlichkeit.50

Die überaus große Wertschätzung Saars, die den ganzen Aufsatz beherrscht, war für Saar ein Grund, sich umgehend bei Müller-Guttenbrunn geradezu euphorisch zu bedanken. Bereits am nächsten Tag, dem 21. Dezember 1891 schreibt Saar51: Ihr Feuilleton hat mir ungemeine Freude bereitet - eine der größten und schönsten, die mir im Leben zu Theil geworden. Was mir am wohlsten that, war die verständ47 48 49 50 51

Bettelheim, S.7, 15.12.1891. L.,H-i.,S.ll. Vgl hierzu auch Stuben, S. 118 und 122f. Müller-Guttenbrunn: Novellist. Vgl. Stuben, Anm. 212, S. 124. 125

nisvolle Anerkennung meiner novellistischen An, meiner novellistischen Absichten, welchen gegenüber die Leute bis jetzt fast gänzlich mit Blindheit geschlagen waren. Ich weiß recht wohl, daß eine Darstellungsweise, wie die meine, ihre Kehrund Schattenseite hat; Sie haben dieselben schonend verschwiegen, um den Leser nicht zu verwirren. Der Artikel wird mir außerordentlich nützen. Lassen Sie sich also aufs wärmste und aufrichtigste danken. (BrW 38)

Einen Monat später, am 28. Januar 1892, bezieht sich Saar in einem Brief an Müller-Guttenbrunn noch einmal auf dessen Artikel und fährt mit seiner Laudatio fort: Ich habe bis jetzt gezögen, Ihnen zu schreiben, weil ich mit großer Spannung eine Nachricht von meinem Verleger erwartete, wie sich denn in Folge Ihres Artikels der Absatz meiner Novellen gestaltet habe. Nun schweigt aber der Mann (wie es übrigens seine Art ist) beharrlich [...]. V o l l e s Verständnis derselben [der Novellen] habe ich bis jetzt nur bei I h n e n gefunden; was sonst darüber (auch Beifälliges) geschrieben wurde, ist ungenau und trifft den Nagel niemals auf den Kopf. Auch deßhalb ist mir Ihre warme und rückhaltlose Anerkennung so werthvoll, weil ich glaube, als Novellist und Lyriker (wenigstens in Oesterreich) eine solche auch von Seiten der Allgemeinheit wirklich zu verdienen52 [...]. Als Dramatiker dagegen fühle ich mich vollständig überwunden und abgethan. Es haben mehrfache, zum größten Theil in mir selbst wurzelnde Übelstände zusammen gewirkt, um mich in dieser Richtung hin zu keiner vollen und ausgiebigen Entwicklung gelangen zu lassen. (BrW 39)

Obwohl sich das Lob Saars auf die Würdigung seines gesamten Novellenschaffens bezieht, erwecken diese beiden Briefe den Eindruck, als wolle Saar auch Müller-Guttenbrunns Interpretation der Ginevra zustimmen. Bevor man jedoch vorschnell Müller-Guttenbrunns Deutung als quasi 'autorisiert' ansieht, sollte man einen wichtigen Punkt nicht übersehen, der in beiden Briefen ebenfalls angesprochen wird. Aussagen wie: "Der Artikel wird mir außerordentlich nützen" oder der Hinweis auf eine mögliche Absatzsteigerung seiner Novellen lassen stark vermuten, daß Saar beim Lob eines wohlmeinenden Kritikers nicht zuletzt auch seine eigene wirtschaftliche Situation im Auge hatte. Die fortdauernde Gewogenheit der Kritiker, die ihn schätzten, war ihm daher sicher wichtig. Auch in einem Brief an Stephan Milow vom 1. August 1897 sprach er die Macht der mißgünstigen Kritiker 52

Im Gegensatz zur großen Selbstkritik gegenüber einzelnen Erzählungen ist die Überzeugung Saars vom Wert des eigenen Gesamtwerkes häufiger zu finden. So schreibt Saar selbstbewußt an Josephine von Wertheimstein am 10.1.1881: "Sind mir (aber) die äußeren Umstände nur halbwegs günstig, so kann ich noch manches Gute und Bedeutende leisten - namentlich in der Novelle und in der Lyrik" (Briefe Wertheimstein, S.359). Auch rückblickend gibt sich Saar in einem Brief an Cornelie von Gomperz vom 2.11.1897 zufrieden: "Meine künstlerische Arbeit aber halte ich dabei unverrückt im Auge, und ich darf sagen, daß ich in dieser Hinsicht am späten Abend meines Daseins allen Grund habe, zufrieden zu sein" (BrW 10).

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an: "Dann sind sie Feinde - und s c h a d e n kann jederman" (BrW 34)53. So war Saar, zuweilen wohl auch notgedrungen, gehalten, gute Beziehungen zu den Rezensenten zu pflegen, die ihn schätzten. In diesem Zusammenhang ist auch Saars Engagement zu sehen, einen ihn lobenden Aufsatz von Moritz Necker in einer Zeitung möglichst wirkungsvoll zu plazieren54. Emil Reich55 glaubt in seiner Besprechung im Berliner Magazin für Litteratur, daß einiges aus dem Saarschen Werk "zu dem Besten zählt, was seine Generation hervorgebracht hat". Seine Bemerkungen zu Ginevra dagegen bleiben eher vage: In "Ginevra" erzählt der Oberst die Geschichte aus seinen Leutnantstagen, wie er ein junges, liebevolles Herz der verführerischen, nur allzuentgegenkommenden, üppigen Polin Lodoiska, der Gattin seines Majors, geopfert [...] auch Ginevra selbst ist ein eigentümlich fester, willenskräftiger Charakter. "Sie war eine starke Natur, unglücklich sind allein die Schwachen" sagt der Oberst von ihr. Die Szene, wo die Verratene ruhig und gefaßt dem einst Geliebten gegenübersteht, sie ungebeugt, fast trotzig, er unsicher, wie aus einem Sumpf zu ihr emporstrebend, gehört zu jenen, die man nicht wieder vergißt.56

Auch Saars Freund Karl von Thaler57 besprach in seinem Feuilletonbeitrag Erzählungen aus Deutsch-Oesterreich in der Neuen Freien Presse vom 9. März 1892 die Frauenbilder positiv: Daß wir zuerst Ferdinand von Saar nennen, bedarf wohl keiner Begründung. Er ist seit Hamerling's Tod der bedeutendste Dichter Deutsch-Oesterreichs; unter dem jungen Nachwuchs sehen wir Keinen, der ihm diesen Rang streitig machen könnte. Von ihm liegen zwei neue Novellen unter dem Titel "Frauenbilder" vor, in jener vornehmen Einfachheit geschrieben, welche so leicht scheint und so schwer zu erreichen ist. [...] Hat man zu seinem Leidwesen gerade irgend einen Autor der modernsten Schule gelesen und fühlt sich in Folge dieses Vorwitzes unwohl, so wirkt Saar's Schreibart wie ein stärkendes Stahlbad. Sie wirkt so, obgleich seine neuen Novellen beide unbefriedigend enden. "Ginevra" erzählt von einer Lieutenantsliebe, welche durch die Verführungskunst einer üppigen Majorsfrau schnöde zerstört wird. Eine alte Geschichte, doch interessant durch die Behandlung und den Schluß. Ginevra stirbt nicht an gebrochenem Herzen, sondern der Treulose sieht sie nach vielen Jahren als Gattin eines Ändern und Mutter erwachsener Töchter wieder. Das 53 54 55

56 57

Die zitierte Passage steht im Zusammenhang mit dem Erscheinen von N3, s. S. 136. Vgl. S.128f. Der Mitbegründer der Grillparzer-Gesellschaft Emil Reich (1864-1940) (vgl. auch Stuben S.122 Anm. 203) stand mit Saar in persönlichem Kontakt, der allerdings erst nach Reichs Rezension der Frauenbilder entstand, was bereits aus einem Brief Saars an Necker (BrW 40) hervorgeht. In seiner Rezension vom 5.3.1892 schreibt Reich noch: "Diesen [den Menschen Saar] kenne ich nicht, den Poeten aber schätze ich hoch", Reich, S. 152. Reich, S. 151. Karl von Thaler (1836-1916), Schriftsteller, Publizist, Redakteur der Neuen Freien Presse und Herausgeber der Deutschen Zeitung, einer der engsten Freunde Saars.

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ist Realismus in gutem Sinne. [...] Er [Saar] kann auch boshaft sein. Stellenweise hat er mit dem Bewußtsein, zu züchtigen, die Feder geführt, aber er straft als echter Poet.58

Saars Brief vom 11. März 1892 an Thaler geht auf dessen Besprechung der Frauenbilder ein. Die Feststellung Thalers, Saar könne "auch boshaft sein", bezog sich nur auf die Geschichte eines Wienerkindes; Saar jedoch hält sie generell für richtig: Heute aber muß ich Dir innig danken für Deine Besprechung der "Frauenbilder" und die damit verbundene Auszeichnung meiner dichterischen Persönlichkeit. Das wird mir ungemein nutzen - aber auch rings umher Neid erwecken. Was Deine Bemerkung hinsichtlich der "Bosheit" betrifft, so magst Du wohl recht haben: man wird eben älter und daher auch schärfer. Zudem bleibt dem Dichter von heute nichts übrig, als nach dem Leben zu schreiben. (BrW 60)

Saars Briefe an Moritz Necker59 im Verlauf der ersten Hälfte des Jahres 1892 geben Auskunft über dessen feuilletonistische Beschäftigung sowohl mit Saar60 als auch mit den erschienenen Frauenbildern. Am 24. März hatte Necker in der Grillparzer-Gesellschaft einen Vortrag gehalten, den Saar bereits im Vorfeld mit regem Interesse begleitete. So schrieb er am 22. März 1892 an Necker: Zum Schlüsse schreiben Sie: "Sie selbst sind bedeutender als Ihre Werke, das heißt in deren Gesammtheit steckt mehr als in jedem einzelnen." Dem pflichte ich v o l l s t ä n d i g bei und Sie können diesen Satz auch u n b e d i n g t in ihrem A u f s a t z bringen [...]. Aber um Gottes willen nur ja nicht beim V o r t r a g ! [...] Und nun mögen die Götter segnend über dem D o n n e r s t a g walten! (BrW 41)

In diesem Vortrag ging es in erster Linie um die Würdigung des gesamten Werkes, Ginevra erscheint hier nur am Rande, die Frauenbilder werden bezeichnet als "Erscheinungen des österreichischen Lebens", die "unglückliche junge Lieutenantsliebe" in Ginevra als "unendlich rührend"61. In seinem nächsten Brief an Necker vom 31. März erkundigt sich Saar, ob der "Vortragsabend gut besucht" gewesen sei und stellt Überlegungen zu einem möglichen Abdruck an: 58 59

60 61

Thaler, S.l. Moritz Necker (1857-1915), Journalist und Literarhistoriker, Schüler Erich Schmidts, schrieb z.B. für den Grenzboten, die Allgemeine Zeitung, die Neue Freie Presse und die Deutsche Zeitung; Verfasser der ersten geschlossenen Nestroybiographie (die auch Saar kannte: "Daß Sie eine Biographie Nestroy's geschrieben, wußte ich [...] wenn Sie mir das betreffende Heft zusenden wollen, würde es mich sehr freuen - als Abendlektüre." BrW 42) und Herausgeber einer kommentierten Grillparzerausgabe. Zur Entwicklung und Ende der Beziehung Saars zu Necker s. Stuben, S.124, Anm 215. Zitiert nach dem Abdruck in der Beilage der Allgemeinen Zeitung vom 28.5: Necken Saar, S.5.

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Wollen nun sehen ob Sie den Aufsatz irgendwo unterbringen. In der "Allgemeinen" würde er sich nicht übel ausnehmen - und auch im "Reich" einiges Begehren nach meinen Schriften hervorrufen. (BrW 42)

Tatsächlich wurde der Vortrag der Allgemeinen Zeitung übergeben. Einige Zeit später erinnerte sich Saar jedoch daran, daß in dieser Zeitung bereits die Besprechung Bettelheims erschienen war. Dies teilt er Necker am 30. April 1892 mit: Hinsichtlich der "Cotta'schen Allgemeinen" muß ich mich selbst einen K r a u t e s e l nennen. In meinem Freudentaumel hatte ich ganz vergessen, daß Dr. Anton Bettelheim dort vor ungefähr zwei Monaten62 die "Frauenbilder" besprochen und dabei mein g a n z e s Schaffen gestreift u. berührt hatte. Nun wird man in der Redaction wirklich in einer Art K l e m m e sein. Ich denke sie sollten mit einigen artigen Worten und Andeutung des Bettelheim'sehen Artikels den Vortrag zurückfordern. Ich will inzwischen nachdenken, wo man ihn am w i r k s a m s t e n unterbringen könnte. (BrW 43)

Dennoch erschien der Vortrag in der Beilage der Allgemeinen Zeitung am 27. und 28. Mai63, denn Saar hatte befunden, "daß die Bettelheimische Manifestation in der 'Allgemeinen' kein A r t i k e l war [...]. Es war eine sogenannte 'Besprechung', ganz klein gedruckt, hinter allen Artikeln auf der letzten Seite des Blattes"64. In seinen zwei Briefen an Necker vom 29. Mai und 2. Juni zeigt sich Saar hoch befriedigt über den abgedruckten Vortrag: Über den Artikel in der "Cotta'schen" bin ich, wie Sie sich denken können, hoch erfreut. Wie herrlich liest sich das Alles gedruckt. (BrW 45) Und dieses Gefühl erhabener Sicherheit hat mir Ihr Aufsatz verliehen. Was Sie darin ausgesprochen haben, wollte ich einmal aussprechen h ö r e n . [...] Sie haben zugestanden, daß ich ein ö s t e r r e i c h i s c h e r Poet von Bedeutung und eigenthümlicher Individualität sei - und das ist mir genug. (BrW 46)

Der Rezensent des Grazer Wochenblattes, Heini von Steier, kommt zu dem Schluß, der Band Frauenbilder sei "bis in seine unbedeutendsten Einzelheiten von h o h e m künstlerischen und dichterischen Werte", in Ginevra "sind die Heldin und der Oberst voll Kraft und Leben" und faßt beide Erzählungen zusammen: Wenn auch die in den Frauenbildern geschaffenen Männergestalten nicht unser Herz erheben und es sich erobern können, so heischen sie doch Bewunderung wegen ihrer überraschenden Wahrheit, die allerdings nicht sonderlich erbaulich klingt.65

62 63

64 65

Die Besprechung war am 15.12.1891 erschienen, vgl. S. 124f. Vgl. Anm. 61. Saar an Necker, 9.5.1892 (BrW 44). Steier, 13.11.1892.

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Auch Peter Rosegger besprach in seiner Zeitschrift Der Heimgarten die Frauenbilder66. Deutlich wird die hohe Wertschätzung, die er Saar entgegenbringt: " F e r d i n a n d von S a a r wird mit Recht der bedeutendste Novellist Österreichs genannt"67. Rosegger läßt in dieser Rezension einen guten Blick für die Erzähltechnik Saars erkennen, allerdings auch eine völlige Fehleinschätzung der Saarschen Lebensanschauung: Saar liebt die Ichform, woraus sich leichter die Natürlichkeit und Unmittelbarkeit ergibt; er weiß da von seinen handelnden Personen nichts, als was er durch zufällige und flüchtige Begegnungen oder noch zufälligere Correspondenzen Dritter erfährt, aber mit diesen anscheinend so geringen Mitteln erreicht er das Größte, was an Charakterzeichnung, Schilderung und Anschlagen der Stimmung geleistet werden kann. [...] Welcher Lebensanschauung ein Dichter huldigt, ist auch wichtig, Ferdinand von Saar deutet den seinen in einem Ausspruche bei der 'Ginevra' an: 'Sie war glücklich, sie war eine starke Natur. Unglücklich sind allein die Schwachen'. - Also wird es auch der Leser bestätigen müssen, dass Ferdinand von Saar ein ganzer Dichter ist.68

Völlig konträr zu Roseggers Gedanken über die Verwendung der IchForm bei Saar fällt die Meinung des anonymen Rezensenten der Deutschen Revue aus, der den Erzähler mit dem Autor gleichsetzt69: Nichtsdestoweniger machen sie [Saars Novellen] den Eindruck des Schwächlichen und lassen ziemlich gleichgültig. Von diesen neuen Novellen gilt das in höherem Grade als von seinen vorletzten "Schicksale" betitelten, von denen "Leutnant Burda" vielleicht Saars beste Leistung ist. Warum Saar beide Erzählungen in die unnatürliche Ich-Form gezwängt hat, ist nicht ersichtlich. Daß die Erzähler doch immer wieder diese fatale Technik wählen! In der zweiten Novelle macht sich die Eitelkeit des Autors bemerkbar, indem wiederholt von der Berühmtheit des "Ich" die Rede ist. Wie kann ein reifer Mann so kindisch eitel sein!70

Derartig negative Kritiken sind allerdings selten. Der Rezensent in den Blättern für litterarische Unterhaltung findet wieder - entsprechend der fast

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68 69

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Saar erhielt von der Redaktion der Zeitschrift einen Rezensionsbeleg vom 28. April 1892 über die Besprechung der Frauenbilder (DW 3). Die Achtung beruhte auf Gegenseitigkeit. In der Beilage der Zeit, der Sonntags-Zeit vom 26.7.1903, schreibt Saar unter dem Titel Was ich an Rosegger bewundere: "Was ich an Rosegger am meisten bewundere, das ist seine so reich quellende, unerschöpfliche Erfindungskraft. Er selbst sagte einmal zu mir (dem nur selten etwas einfällt): 'Sehen Sie, ich brauche bloß zum Fenster hinauszuschauen. Wen immer ich da erblicke, alt oder jung, männlich oder weiblich: gleich schießt mir um die Gestalt herum eine Geschichte an.' Das ist charakteristisch für sein Schaffen und beweist, daß er ein echtes Erzählergenie ist. Rosegger wiederholt sich nicht und wird sich nie 'ausschreiben'". Rosegger, S.635. Ein Fehler, der selbst noch Runggaldier unterläuft, die von einer "verifizierbaren Identität" zwischen Autor und Ich-Erzähler spricht. Runggaldier, S.82. Anonym, S.374.

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einhelligen Meinung - lobende Worte, die sich im Tenor an die Besprechung Müller-Guttenbrunns anschließen71: Vortrefflich sind die zwei Erzählungen von F e r d i n a n d von Saar: "Frauenbilder" [...] Die erste sehr einfach, eine alltägliche Geschichte, wenn man will, aber wirkungsvoll erzählt und sehr anziehend durch das Bild Ginevra's: eine rührende Verherrlichung jungfräulicher Unbefangenheit und reinen Vertrauens, aber auch ein rührender Gesang der Untreue, der menschlichen Schwachheit.72

Auch Georg Weiß nahm diese "gute Besprechung" mit Wohlwollen zur Kenntnis und fragt Saar: "besitzen Sie sie vielleicht schon oder soll ich Sie Ihnen übersenden?" (BrW 68). Saar kannte die Rezension tatsächlich längst, denn er erwähnt sie bereits in einem Brief an Necker vom 9. Mai 1892: Wissen Sie, daß in Numero 7 der "Blätter für litterarische Unterhaltung" meine Frauenbilder" von einem Herrn Dr. Benno Rüttenauer sehr lobend besprochen wurden? Markant und interessant. Freut mich umsomehr als ich auf Kosten des großen Brustkastenmannes Wilbrandt herausgestrichen wurde. (BrW 44)

Der in der Berliner National-Zeitung zu Beginn des Jahres 1893 erscheinende Aufsatz von Karl Pröll über Ferdinand von Saar als Novellist und Lyriker setzt sich zwar nicht mehr in erster Linie mit den Frauenbildern auseinander, steht aber noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe dazu und schließt sich im Tenor den vorangegangenen Rezensionen an: "Ginevra" setzt als Herzensidyll ein, welches sich zwischen einem jungen Offizier und einer armen Offizierswaise entspinnt. Während sie den Zusammenbruch ihres Herzenstraumes mit starker Seele erträgt, bezahlt er den kurzen Sinnenrausch mit schmählicher Reue.73

Trotz der zum Teil euphorischen Kritiken war der Absatz der neuen Novellensammlung nicht übermäßig hoch, obgleich der Verleger im August 1892 guten Mutes war. "In der letzten Zeit", so schreibt er, "sind die 'Frauenbilder' auch wieder mehr bestellt worden, auch außerhalb Wiens"74. Auch 71 72

73 74

Siehe S. 125, Müller-Guttenbrunn: Novellist. Rüttenauer, S.100. Der Hinweis auf die "Einfachheit" einer Saarschen Novelle bleibt nicht auf Ginevra beschränkt. Auch dem Innocens wurde ein einfacher Inhalt bescheinigt (vgl. z.B. Stuben S.85 und 92). Ebenso wird von Saar selbst wiederholt darauf hingewiesen, siehe z.B. S.115 (BrW 19) und S.119 (BrW 49), wobei man jedoch die "Einfachheit" der Geschichte nicht mit Simplizität der Erzählung verwechseln sollte. Pröll, S.2. Brief von Weiß an Saar vom 14.8.1892 (BrW 69). Mit dem Absatz an Frauenbilder bei den Wiener Leihbibliotheken war Weiß jedoch alles andere als zufrieden: "Was nun den Absatz an Leihbibliotheken angeht, so habe ich mich schon oft gefragt, weshalb so wenige Ihre Bücher bestellen, und ich kann keine andere Antwort finden als die, daß das Publikum der Leihbibliotheken nicht das Ihrige ist" (5.5.1892), (BrW 68). An die Wiener Bibliotheken gingen hiernach "zuerst 12 Ex. (dazu 2 Freiex.) und nachträglich noch 6 Ex.". 131

lagen die Verkaufszahlen noch über denen der Ende 1888 erschienenen Schicksale, wie aus dem Brief Weiß1 vom 25. August 1892 zu ersehen ist: Von der 4r- Sammlung der Novellen, den "Frauenbildern", ist der Absatz im Erscheinungsjahr, wie sich jetzt schließlich herausstellte, doch erheblich höher gewesen als der entsprechende Absatz der 3. Sammlung, um ca. 50 St. mehr. Zu verrechnen gibt's freilich noch nichts, denn die Kosten sind noch nicht ganz gedeckt, es ist aber nur noch ein Minimum rückständig, und der Ueberschuß dürfte im nächsten Jahre verhältnißmäßig beträchtlich sein. (BrW 70)

Es gab tatsächlich erst im August des Jahres 1893 etwas "zu verrechnen"; in diesem Monat nämlich erhielt Saar die Abrechnung über die Frauenbilder, die die Ausgaben und den Absatz der Sammlung in einem Zeitraum von 1891 bis 1892 enthielt75. Nach dieser Abrechnung belaufen sich die Kosten für Druck, Papier, Bindung sowie Vertriebskosten, die Ankündigung, Versand, Porto und ähnliches umfassen, zusammen auf 597,06 Mark. Demgegenüber stehen die Einnahmen aus den letzten Monaten des Jahres 1891 und dem Jahr 1892 mit 543 verkauften Exemplaren (gebunden und broschiert), die sich auf 943,50 Mark belaufen. Der Reingewinn betrug also 346,44 Mark. Unter diese Abrechnung schreibt Weiß: "Vom Gewinn ist Ihnen die Hälfte mit 173 M. 22 G. laut umstehender Abrechnung gutgeschrieben" (DW 2)76. 75

76

Große Erwartungen und Hoffnungen setzte Saar in den 90er Jahren schon nicht mehr in seine Verkaufszahlen. Er schreibt am 11.10.1895 etwas resignierend an Stephan Milow: "Ich arbeite mit Weiß in Heidelberg auf Theilung des Gewinnes - der allerdings meistens illusorisch bleibt. Starken Schaden haben wir auch nicht" (BrW 31). Bei einer derart niedrigen Gewinnspanne ist es nicht verwunderlich, wenn Saar in seiner Korrespondenz häufig seine finanziellen Sorgen anspricht. So zum Beispiel in einem Brief an Thaler vom 16.1.1882, der noch dazu deutlich macht, daß Saars Bücher in jener Zeit oft noch ein Verlustgeschäft darstellten : "bis jetzt mußte ich auf alle meine Bücher daraufzahlen. Vielleicht bringen's die Gedichte doch zu einer zweiten Auflage und ich erhalte wieder einmal ein paar Banknoten, die wir, das weißt du, im Kampf um's Dasein Alle so nöthig haben" (BrW 58). (Auf den in letzter Zeit oft diskutierten sozialdarwinistischen Hintergrund bei Bemerkungen wie dem "Kampf um's Dasein" wird noch ausführlich einzugehen sein, siehe S.216f.). In einem Brief Saars an Betty Paoli vom 15.2.1890 werden konkret die Kosten angesprochen, die entstehen, wenn man sich den Luxus einer Kur leistet: "Hier [in der Kur] brauche ich mit Einrechnung der unvermeidlichen Nebenauslagen circa 50 fr [Umrechnungskurs l fr - 0,8 Mark] wöchentlich - also 200 fr monatlich, ein hübsches Sümmchen für einen Poeten, dessen Stücke nicht aufgeführt, dessen Bücher nicht gelesen werden" (BrW 49). Zum Vergleich und zur Verdeutlichung der realen Kaufkraft des Erlöses aus dem Jahresabsatz der Frauenbilder bieten sich einige aufgelistete Ausgaben aus dem Anhang des Jahres 1889 der Tagebücher von Marie von Ebner-Eschenbach an: Hiernach kostet z.B. die Fahrt mit der Eisenbahn von Wien nach St. Gilgen 30 fl. ö.W. (S.811), ein "souper" 5 fl. ö.W. (S.813), einem "Rauchfangkehrer" zahlt sie 2 fl.ö.W. (S.817), und ein "Schlafrock maison de blanc" kostet 50 fLö.W. (S.810). Ebner-Eschenbach: Tagebücher, Bd 3. [lfl.= 1,05 fl. ö.W.=l,71 Mark]. Währungsparitäten nach: Handbuch der europäischen

132

Für die folgenden Jahre 1894 und 1895 sind die Abrechnungen über die Frauenbilder erhalten. Die zweite Auflage der Novellen aus Österreich, die Ende 1893 erschienen war, ließ den Absatz der Frauenbilder erheblich zurückgehen. Während von den Novellen aus Osterreich im Jahr 1894 noch 269 Stück verkauft wurden, waren es im gleichen Jahr nur 47, im Folgejahr 69 Exemplare der Frauenbilder.

4. Die 1. Ausgabe der Novellen aus Österreich in zwei Bänden (N3; 1897) a. Plan und Erscheinen von N3 Bereits am 17. Januar 1896 dachte Georg Weiß in einem Brief an Saar laut über eine Neuauflage der Novellen aus Österreich nach, die nun auch die inzwischen erschienenen Erzählungen umfassen sollte77: Die Vorräthe der "Neuen Novellen", "Schicksale" und "Frauenbilder" sind stark zusammengeschmolzen, so daß ein Vergriffenwerden in diesem Jahr wohl möglich ist, und da hat mir dann allerdings der Gedanke vorgeschwebt, nicht so lange zu warten, sondern schon vorher eine Ausgabe dieser Novellenbände mit "Schloß Kostenitz" zu veranstalten, die willig der 2£ Auflage der "Novellen aus Oesterreich" entspricht, und die wohl zwei Bände stark werden würde. [...] Ob ich Ihnen den Vorschlag wirklich machen kann, das hängt doch noch vom Resulthat der Ostermesse ab, vor Juli würde ich mich darüber nicht bestimmt aussprechen können [...]. (BrW 71)

Auch in seinem Brief vom 24. April drückt sich der Verleger sehr vage über die geplanten Bände aus: Mit der Neu-Ausgabe der übrigen Novellen ist es allerdings noch recht unsicher. [...] aber dessen bin ich sicher, daß wir, wenn nicht früher, im nächsten Jahr an eine Neuausgabe gehen können. (BrW 72)

Erst im Dezember geht Weiß an die Neuausgabe und macht konkrete Vorschläge: [...] die Gesamtausgabe Ihrer Novellen sollte ohne Zögern in Angriff genommen werden. Ich stelle auf Anlage einen Plan dafür auf, und ich bitte, ihn zu prüfen.

77

Wirtschafte- und Sozialgeschichte. Bd 5. Hrsg. v. Wolfram Fischer. Stuttgart 1985. S.429, 506, 779. Zum Plan und Erscheinen von N} vgl. auch Stuben, S.142f. und Kopp, S.134f. Zu den vorangegangenen Verhandlungen im Jahr 1894 über einen möglichen Verlagswechsel siehe Kaiser, S.74-80 und Stuben, S.142.

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Wenn wir dann über das Wie einig sind, so sollte sofort mit der Herstellung begonnen werden. Am ersten Bande haben Sie ja doch wohl nichts zu ändern, und der müßte so wie so bald neu gedruckt werden, denn es sind davon jetzt höchstens noch 18 Exemplare vorhanden. Mir wäre es recht, wenn im April die erste Lieferung der Gesamtausgabe erscheinen könnte. (BrW 73)

Nachdem es wohl noch zu Auseinandersetzungen um den Vertrag gekommen war, teilte der Verleger Saar zu Anfang des Jahres 1897 mit, daß er "es mit der zweibändigen Ausgabe wagen" wolle und "mit den Vorschlägen Ihres Briefes vom 10. d.M. Einverstanden" (BrW 74) sei. Nachdem Saar auch mit der "Ausstattung der Novellen" (BrW 75) zufrieden war, erschienen die beiden Bände der Novellen aus Osterreich noch im Spätsommer des Jahres 1897. Dennoch mußte es bei den Verhandlungen zuvor böses Blut gegeben haben, denn Saar machte in einem Brief an Stephan Milow78 vom 4. Februar 1897 seinem Ärger Luft: Die Sache steht so: Es sind nun alle vier Sammlungen bis auf je 20 oder 30 Exemplare vergriffen. Aber die Nachfrage ist nicht derart, daß Weiß mit frischem fröhlichem Muthe an neue Auflagen gehen könnte, was vielleicht einem sehr unternehmenden und vertriebsfähigen Verleger möglich wäre, der aber Weiß keineswegs ist. Er schrieb mir vielmehr: "die Bände dürften wohl in einem Jahre vergriffen sein a b e r was d a n n ? " Mit einem Wort: er traut sich nicht recht. Endlich sind wir nach langwierigen Verhandlungen mit Ach und Krach einig geworden, von den Novellen (mit Ausschluß des Herbstreigens) eine Gesamtausgabe in z w e i Bänden zu veranstalten. Honorar keines natürlich. Theilung des Reingewinns. Was aber bei dem - auf weiß Gott wie viele Jahre vertheilt! - heraussieht, kannst Du Dir an den Fingern abzählen. (BrW 33)

b. Die Überarbeitung für N3 Für die Novellen aus Österreich wurden an den zu edierenden Texten zahlreiche Veränderungen vorgenommen, die bei weitem nicht nur Textfehler der früheren Ausgaben betrafen. Diese anfallenden Korrekturen nahmen Saar bis zum Anfang des Jahres 1897 sehr in Anspruch. Im Februar schreibt er an Altmann: "Ich bin nun von den Correkturen der neuen NovellenAusgabe derart in Anspruch genommen, daß ich gar nichts arbeiten kann"79. Auch an Ginevra wurden in diesem Zusammenhang zahlreiche Veränderungen vorgenommen, die zum großen Teil stilistische Ursachen haben,

78

79

Stephan Milow (d.i. Stephan von Millenkovich, 1836-1915), Schriftsteller; bereits seit den 50er Jahren mit Saar befreundet. Mehr dazu bei Stuben, S.73, Anm.14. BW Altmann, S. 114.

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von denen einige aber auch für die Interpretation interessant sind. Aufgelistet sind hier diese Varianten im Vergleich zu F: 12,12, 16,21ff.

sorglos] sorgenlos F ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tocher sein] ihr zur Seite ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen, das, der Aehnlichkeit nach, die Tochter sein mußte; F 16.23 immerhin] geneigt sein, F 16.24 halten] halten F 16,28 Mal] Male F 17,22 niemand] Niemanden F 18.31 Bassano] Conegliano F 19.12 mit] gut mit F 20.13 an] auf F 20,16 leise] leiser, F 21,23f. aus welchem ihr Antlitz wundervoll hervorschimmerte] von dem sich ihr lichtes Antlitz wundervoll abhob. F 24.25 dazu] leider dazu F 25,2 ausdrucksvoller] charakteristischer F 27.2 Zeichner] Zeichner und F 29,5 für] so für F 30,36 Anlaß] Anlasse F 31,18f. Geschmack] Geschmacke F 33,1 noch etwas ganz] etwas noch ganz F 38,8f. stand sie - stand wirklich] stand F 38.32 Besitz] Besitze F 39,11 nicht anders kommen konnte.] so kommen mußte F 39,21 niederknieen] hinknien F 40,22f. Wiener Weltausstellung] Weltausstellung F 40,35f. wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte.] bemerkte der Hausherr: F 40,37-41,2 Sie [...] loskommen] Text fehlt in F 41.3 man,] man zuletzt F 41,3 zuletzt abgewunden] abgewunden F

Bemerkenswert und wichtig bei diesen zahlreichen Varianten ist vor allem die Änderung des Herkunftsortes der Mutter (V 18,31) von Conegliano zu Bassano sowie die genauere Angabe der Wiener Weltausstellung (V 40,22f.), die eine exakte zeitliche Einordnung möglich macht. Diese Tendenz zur geographischen und zeitlichen Konkretisierung war bereits in den Änderungen für F zu beobachten80. Die hinzugefügte Passage (V 40,37-41,3) zum immer noch bestehenden Verhältnis des Oberst zu Lodoiska läßt überdies weitergehende Rückschlüsse auf den Charakter Emils zu, die für die Interpretation nicht ohne Bedeutung sind. 80

Vgl. S.122.

135

Saar sah der Neuausgabe der Novellen aus Österreich mit einer Mischung von Hoffnung und Skepsis entgegen. "Vielleicht hat die 'neue zweibändige Ausgabe der Novellen' bessere Aussichten", schreibt er an Milow am 28. Mai 1897, "Wenn ich denke, daß Hauptmanns 'Glocke' bereits 18 Auflagen hat, so bleibt mir der Verstand still stehen" (BrW 33). Die Kritik nahm das Erscheinen der zweibändigen Novellen aus Österreich weitgehend mit großem Lob auf. Die Rezensionen beschränkten sich hierbei jedoch meist auf das Hervorheben des alle Novellen verbindenden Elementes des "Österreichischen" und auf Bemerkungen zu den bekannten älteren Erzählungen wie Marianne und Innocens. Auf Ginevra im besonderen wurde nicht eingegangen81. Saar selbst legte offenbar Wert auf kompetente Rezensionen, die ihm, wie er wohl glaubte, von Nutzen sein konnten. In diesem Zusammenhang kam es sogar mit seinem Freund Thaler zu Differenzen, denn Saar schrieb am 1. August 1897 an Milow: So sagte mir unlängst mein F r e u n d Thaler, dem ich nahelegte, über meine neue zweibändige Novellenausgabe zu schreiben: "Das wird nicht gehen, Deine Sachen sind schon zu oft besprochen." Und die kleineren Götter vollführen nur Schläge ins Wasser. Dafür aber hat man sie auf dem Halse - bis man sich nothgedrungen mit ihnen überwirft. Dann sind sie Feinde - und s c h a d e n kann Jedermann. (BrW 34)

5. Der Abdruck in Moderne Kunst (J2: 1902/03) Kurz nach dem Erscheinen Ginevras in den Dioskuren hatte Saar das exklusive Journalabdruckrecht über die Erzählung an die Zeitschrift Moderne Kunst verkauft82. Der Herausgeber der Zeitschrift mit Hauptsitz in Berlin, Richard Bong, schrieb Saar am 17. Juni 1890: Ich sende Ihnen anbei per Anweisung M. 100.- als Honorar für das mir überlassene alleinige Journalabdruckrecht Ihrer Erzählung. [...] Die B r o s c h ü r e , welche Sie mir als Manuskript übermittelten, ist mir leider abhanden gekommen und möchte

81

82

Detaillierte Angaben zur Rezeption von N3 bei Stuben, S.143-154, Koch, S.135ff. und Haberland, S. 116-120. Die Zeitschrift bemühte sich noch im gleichen Jahr auch um die Geschichte eines Wienerkindes, was aus einem Brief Saars an Bettelheim vom 22. November 1890 hervorgeht: "Gegen Ende Jänner hoff ich eine neue, nicht ganz kurze Wiener-Novelle fertig zu haben, um welche sich bereits drei deutsche Zeitschriften raufen: Spemann, Universum in Dresden, und Moderne Kunst in Berlin" (BrÖ 2).

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ich Sie daher bitten, mir ein anderes Exemplar freundlichst zukommen lassen zu wollen. (BrW 1)

Bei der Broschüre, von der Bong schreibt, handelt es sich um den Abdruck in den Dioskuren. Obwohl Saar dem Wunsch Bongs, ihm ein neues Exemplar zu schicken, offenbar nachkam, erschien Ginevra erst zwölf Jahre nach Abschluß des Vertrages: in den Heften 12-14 des XVII. Bandes 1902-1903. Auf die Kapiteleinteilung wurde bei der Verteilung auf mehrere Hefte keine Rücksicht genommen. Angekündigt wird die Erzählung mit dem Titel: Ginevra. Eine Novelle aus Österreich von Ferdinand von Saar. Der Anfang reicht in Heft 12 bis ins zweite Kapitel: "geblieben."' (19,34), im 13. Heft zunächst bis zum dritten Kapitel: "geführt."' (26,6) und 9 Seiten weiter bis ins fünfte Kapitel: "würde" (34,17). Der Schluß folgt dann im 14. Heft. Die Textanfänge der verschiedenen Hefte beginnen jeweils mit einer großen Jugendstilinitiale. Zum Teil umrahmen die Erzählung in den verschiedenen Heften Landschaftsbilder, Stadtansichten und Photographien, die mit dem Inhalt nichts zu tun haben. Wohl aus Platzgründen wurden von Seiten der Redaktion erhebliche Veränderungen im Text vorgenommen: ganze Passagen wurden getilgt und neue Sätze eigenmächtig eingefügt. Im folgenden werden nur die wesentlichen Eingriffe und Tilgungen aufgeführt; kleinere Änderungen wie (V 11,7) "sich also" statt "sich daher" oder (V 11,8) "sind ja ganz" statt "sind ganz", die ausschließlich in J2 erscheinen, bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt: Es wurde [...] gedulden] fehlt in J2 in diesem Winter eine schwere Krankheit, - eine Lungenentzündung] eben eine Lungenentzündung J2 18,4lf. durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt.] durchgemacht. J2 24,26ff. Denn trotz [...] Angehörigen."~\ fehlt in J2 28, l Of. pflückte, den sie mir zum Abschied mitgab] pflückte. J2 31,34-32,4 ging. [...] besuchte.] ging, dafür aber meine freie Zeit fast ausschließlich in Anspruch nahm. J2 32,6ff. gleichkam, [...] las ] gleichkam. Absatz folgt in J2 32,13f. Mann, [...] wurde.] Mann. J2 32,19f. gebeten, [...] stundenlang] gebeten, J2 32,23-26 Beim [...] zusammen.] fehlt in ]32,37-40 Ihr [...] fortzusetzen.] fehlt in J2 33,1 rauchen, [...] war.] rauchen.}2 33,4ff. Damen [...] aufzunehmen.] fehlt in ]2 33,11-17 durchrieselte. [...] hatte.] durchrieselte ... Und das Bild Ginevras leuchtete mir dann aus viel weiterer Entfernung als früher. Absatz J2 33,22f. .Du [...] Lächeln] fehlt in J2 33,26f. „Denn [...] Gefühle] „Wo weilt "Sie"? J2 33.29 weit von hier entfernt."] weit." J2 33.30 erwiderte nichts und steckte] steckte J2 18,35ff. 18,40f.

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33,31 33,34-37 33,39-41 34,8 34,13ff.

sie nach einer Weile] dann. J2 festhaltend. [...] zu.] festhaltend. Absatz Sie schwieg. J2 So [...] verabschiedet.] fehlt in J2 verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen] versetzte mich in eine gewisse Unruhe J2 Ihre [...] anschlug.] fehlt in J2

Die Liste zeigt die Häufung der willkürlichen Kürzungen an einigen Stellen der Erzählung. Der Grund dafür liegt in den bereits erwähnten Bildern, die im Umfeld dieser Passagen erscheinen, so daß der Redaktion offenbar aus Platzgründen eine drastische Kürzung des Textes notwendig erschien. Daß nun tatsächlich die Ausgabe in den Dioskuren als Vorlage für J2 diente, zeigen folgende beispielhafte Stellen besonders deutlich. Im Vergleich mit N4 zeigt sich, daß diese Varianten, die zunächst ausschließlich in H und J1 erschienen, nun auch bei J2 auftreten. 14,34 15.28 16,29 31,3

in gleichmäßigem Takt] und im gleichmäßigen Takt J1 J2 Zuschauern] Zusehern H J1 J2 wurde.] Absatz folgt in J1 und J2 die] fest die H J1;2

Neben der bereits im Vertrag erwähnten zur Druckvorlage verwendeten "Broschüre", den Dioskuren, muß Saar selbst vor dem Abdruck Korrekturen am Text vorgenommen haben, denn sämtliche Varianten, die erst in N4 auftreten, erscheinen bereits im Sommer 1902 in J2, zu einem Zeitpunkt, als N4 als potentielle Vorlage noch nicht existierte83. Saar hat also bereits über ein Jahr vor der Drucklegung von N4 die Änderungen für Ginevra durchgeführt und auch der Redaktion der Modernen Kunst zur Kenntnis gebracht. Die Ausgabe J2 ist also nicht nur durch einen Vertrag autorisiert. Offenbar hatte Saar auch vom verspäteten Erscheinen der Erzählung gewußt, und er war auch an der Veröffentlichung zumindest so weit interessiert, daß er sich bemühte, Jahre nach der Vertragsschließung Korrekturen anzubringen. Dennoch ist es fraglich, ob Saar die schließlich vorgenommene Verstümmelung seines Textes wortlos hingenommen hätte. Allerdings war er zur Zeit des Erscheinens bereits gesundheitlich sehr angeschlagen, so daß sich seine Korrespondenz hier in großen Teilen um seine Krankheit dreht, Urteile über J2 sind jedenfalls nicht erhalten.

83

Vgl. die Liste der anläßlich der Drucklegung von N4 vorgenommenen Änderungen, S.140f. Unterlagen wie etwa Korrespondenz zwischen Saar und der Redaktion der Modernen Kunst oder Hinweise auf Übersendung der Fahnen zur Korrektur sind nicht vorhanden.

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6. Die 2. Ausgabe der Novellen ans Österreich in zwei Bänden (N4: 1903, Jahresangabe 1904) a. Auseinandersetzungen mit Georg Weiß Im Vorfeld der Neuauflage der Novellen aus Österreich war es erneut zu ernsten Auseinandersetzungen zwischen Saar und seinem Verleger gekommen84. Aus einem Briefentwurf an Weiß vom 20. Januar 190385 gehen die Streitpunkte, die wohl in erster Linie aus Mißverständnissen resultierten, deutlich hervor: Als sich im Herbst v.J. eine lebhafte Nachfrage nach meinen Schriften und vor allem die Notwendigkeit einer neuen Auflage der "Novellen aus Österreich" herausstellte86, habe ich, gleich Ihnen, die Empfindung gehabt, daß wir nunmehr [...] n e u e V e r l a g s v e r t r ä g e werden schließen müssen. [...] Da mir aber die neue Auflage schon auf die Nägel brannte, so schrieb ich Ihnen, daß mit der Herstellung begonnen werden könne [...] und zwar unter Aufrechterhaltung der früheren Bedingungen. (BrW 61)

Weiß muß kurz danach langfristige Verträge verlangt haben, woraufhin Saar glaubte, daß der Verleger gewillt sei, ihm sein " E i g e n t h u m s - und B i l l i g u n g s r e c h t vorzuenthalten" (BrW 61). Konsequent verlangte Saar in einem scharfen Brief die sofortige Unterbrechung der Produktion. Weiß gibt in seinem Schreiben vom 5. Januar 1903 seinen Eindruck von diesem Brief Saars wieder: Mich befremdete es deshalb sehr, als [...] die Mitteilung eintraf, daß die neue Auflage der N.a.O. vorläufig zu unterbleiben habe, und dies zwar in einem Ton und in einer strengen Form, die sich so sehr von den bisherigen freundlichen unterschieden87. (BrW 76) 84 85

86

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Siehe Stuben, S. 154 und Kopp, S. 139. Datiert ist der Brief vom 20.1.1902, kann aber nur Anfang des Jahres 1903 verfaßt worden sein, was sich aus dem Kontext ergibt. Saars Irrtum bei der Jahreszahl dürfte sich aus der fehlenden Gewöhnung an die neue Zahl zu Anfang des Jahres ergeben haben. Nach Saars eigener Buchführung über den Absatz seiner Werke, die von 1895 bis zum Januar 1903 reicht, wurde die zweibändige Ausgabe der Novellen aus Österreich seit ihrem Erscheinen bis zum Januar 1903 983 mal verkauft, dazu noch separat 33 Exemplare des zweiten Bandes (DW 2). Weiß dürfte mit seiner Schilderung nicht übertrieben haben; Saar neigte gelegentlich zu starken emotionalen Ausbrüchen, einen beschreibt Marie Ebner eindrucksvoll in ihren Tagebüchern: "Saar hatte wieder einmal einen Anfall von Verfolgungswahn, raste im Zimmer herum und misshandelte die Meubel; daß Moriz ihn einmal ums andre ermahnte: 'Aber Saar! Saar, meine Sessel!' half gar nichts" (3.3.1875). Ebner Tagebücher, Bd 2. S.329.

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Um die Kontroverse nicht weiter eskalieren zu lassen, wohl auch weil Saar wieder zu Cotta wechseln wollte88, lenkte Weiß schließlich ein: Ihre Gesinnungen kenne ich zu gut, um nicht zu wissen, daß Sie nur Gerechtes und Billiges verlangen, und in der Beziehung sehe ich ruhig Ihren Vorschlägen entgegen, ich glaube aber, daß wir darüber verhandeln können, ohne die bevorstehende Auflage darunter leiden zu lassen. (BrW 76)

Im Herbst 1903 erschien die neue Auflage dann auch tatsächlich mit einer Auflage von 1500 Exemplaren und, wie so oft praktiziert, auf 1904 vordatiert89.

b. Die Überarbeitung für N4 Auch in N4 wurden von Saar Änderungen am Text vorgenommen, deren Gründe allerdings fast ausschließlich in einer stilistischen Angleichung an den modernen Sprachgebrauch der Zeit zu suchen sind; für die Interpretation ertragreich ist allein die Auflösung von (V 11,35 etc.) L.... in Leitmeritz. Die neue Auflage der Novellen aus Österreich kann für diese neuerlichen Eingriffe nicht unmittelbar ausschlaggebend gewesen sein, da sie bereits im Abdruck der Modernen Kunst 1902 erscheinen. Eher wahrscheinlich ist, daß die stilistischen Korrekturen im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Novellen nach den Regeln der Rechtschreibreform von 1901 erfolgten, was Saar von seinem Verleger bereits im Juni 1900 dringend geraten worden war90; außerdem hatte ihm Weiß im selben Jahr eine Neuauflage der Sammlung in Aussicht gestellt91. Zu dieser Zeit dürften demnach diese letzten Veränderungen am Text entstanden sein. Im Vergleich zu N3 sind es im wesentlichen folgende: 11,29 11,35 13,16f. 14,6 14,34 15,23 21,31 22,2 88

denen] welchem N3 Leitmeritz] L.... N3 entspr. 13,35; 14,15; 14,31; 28,39 etc. in anständiger Weise] anständiger Weise N3 Spiel] Spiele N3 in gleichmäßigem Takt] und in gleichmäßigem Takt N3 dieses] dasselbe N3 für] auf N3 würde] wird N3

siehe Stuben, S. 154, Anm. 339. Am 11.9.1903 schreibt Saar an Marie von Ebner-Eschenbach, daß "in den nächsten Wochen" (BrW 4) die Novellen aus Österreich in zwei Bänden erscheinen. Ebners Antwort zwei Tage später zeigt einmal mehr den Grund für die häufige Vordatierung: "Wie freue ich mich über Ihre neuen Auflagen und wie kommen sie mir zurecht! Ich weiß jetzt, was ich meinen Lieben allen zu Weihnachten schenken werde" (BrW 7). 9 ° Siehe, Kopp, S. 140. 91 Ebda,S.139. 89

140

22.16 26.17 26,28 26,30 31,27 32,11 34,33 35,39 37,36 38,10 39,9

solch ein] ein solcher N3 welch] welche N3 darsstellten] vorteilten N3 dem] welchen N3 Es waren] Deren waren auch N3 Dienstgeschäfte] Dienstleistung N3 nebligen] neblichten N3 keineswegs] durchaus nicht N3 denen] welchen N3 hinabgesenkt] herabgesenkt N3 allmähliche] allmälige N3

7. Der Abdruck bei Reclam (R: 1904) Am 11. Januar 1904 schreibt Saar an Max Morold, den Sohn seines alten Freundes Milow92: "Bei Reclam erscheinen jetzt zwei Novellen von mir: Ginevra. Troglodytin mit einer langen Einleitung von Adolf Bartels" (BrW 36). Nur drei Tage zuvor hatte Saar einen Vertrag mit Philipp Reclam abgeschlossen, der besagte, daß Reclam "gegen einmalige Zahlung eines Honorars von M. 150" sowie "mit Zustimmung des Verlegers Herrn Georg Weiss in Kassel" das Recht erwirbt, die Novellen Ginevra, und Die Troglodytin "auf unbeschränkte Dauer in beliebig hohen, je nach Bedürfniss herzustellenden Auflagen zu drucken und zu vertreiben "(D W 1). In der tatsächlich langen Einleitung geht Bartels auf Saars Gesamtwerk ein, liefert biographische Informationen, vergleicht ihn mit Storm und schätzt Saars "Novellistik" am meisten, von der er glaubt, daß sie sein "dauernder Anspruch auf Unsterblichkeit" (S. 11) sei. Es fehle bei Saars Novellen zwar "die scharfe Silhouette, die die Novelle nach Heyses bekannter 'Falken'-Theorie haben muß, aber jede ist eben ein Stück Leben für sich" (S. 13). Offenbar fällt Bartels nicht auf, daß er kurz darauf die Novellen Saars so zusammenfaßt, wie dies von Heyse in der Einleitung zu seinem Novellenschatz auch gefordert wird: "die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen, ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen"93. So lauten Bartels1 Worte über Ginevra knapp und ungenau: '"Ginevra1 - ein junger Offizier wird seiner Geliebten untreu" (S.14).

92 93

Max Morold (d.i. M. von Millenkovich, 1866-1945), siehe Stuben, S. 74, Anm. 26. Heyse, S.XK.

141

Als Textgrundlage wurden vom Verlag allgemein die Novellen aus Österreich angegeben, und ein Vergleich der Varianten macht deutlich, daß beide Ausgaben als Vorlage dienten. Nicht alle stilistischen Änderungen für N4 wurden übernommen, sondern in einigen Fällen auch auf die ältere Ausgabe N3 zurückgegriffen. Von den bereits im Kapitel zu N4 aufgezählten Varianten sind dies: (V 21,31), (V 26,28), (V 32,11), (V 35,39), (V 37,36) und (V 38,10). Selbständig geändert wurde nur die Form (V 14,11) "wand" zu "wendete". Hier entschied allein der persönliche sprachliche Geschmack des Herausgebers, wobei die Auflösung der Chiffre "L..." berücksichtigt wurde. Ebenfalls bei (V 11,9) wurde analog zu N3 kein Absatz gesetzt. Es ging also bei den Abweichungen von N4 - abgesehen von den üblichen orthographischen und Interpunktionsvarianten - nur um stilistische und formale Fragen.

142

8. Entwicklung und Abhängigkeiten der autorisierten Ausgaben Aufgrund der aufgezeigten Bezüge der zu Saars Lebzeiten erschienenen Ausgaben von Ginevra ergibt sich folgendes Stemma. Die gestrichelte Linie zwischen J2 und dem Zeitstrang N3 - N4 deutet die Änderungen in J2 an, die in der Zeit zwischen N3 und N4 entstanden sein müssen und später in N4 erscheinen.

H

[erste Schicht

zweite Schicht]

J1

143

9. N4 als Grundlage des kritischen Textes Wenn im vorliegenden Band die Ausgabe N4 als Grundlage des kritischen Textes dient, so ist dies nur scheinbar ein Rückgriff auf das Prinzip der "Ausgabe letzter Hand". Da die Kriterien für die Entscheidungsfindung die laut Karl Konrad Polheim "vergleichende Interpretation der verschiedenen Fassungen" sowie "die entschiedene Wertung"94 liefert, muß die Auswahl eines ästhetischen Textes von Fall zu Fall getroffen werden, ein Patentrezept existiert hierbei nicht. Durch die Offenlegung des Verfahrens wird dem Leser die Möglichkeit geliefert, die Gründe für den einen oder anderen Text zu überprüfen95. Diese Vorgehensweise ist bereits qua Definition subjektiv und leugnet dies auch nicht im Gegensatz zu den Theorien zugunsten einer angeblich wertungsfreien Edition. Denn auch ein Versuch, zum Beispiel mit Hilfe der Rezeptionsgeschichte den Mythos der Objektivierbarkeit bei der Edition aufrechtzuerhalten, wie es noch Herbert Kraft96 versuchte, scheitert in den meisten Fällen an der Unentrinnbarkeit der subjektiv historischen Sicht des Einzelnen sowie an der Unmöglichkeit einer exakten und damit objektiven Bewertung der Wirkung eines Textes im Lauf der Geschichte. Wenn man also bei der Auswahl eines kritischen Textes zunächst alle Fassungen als gleichrangig betrachtet, müssen die autorisierten Ausgaben Ginevras als potentielle Textgrundlage in Betracht gezogen werden. Durch die bereits erfolgte detaillierte Beschreibung der Ausgaben beschränken sich die folgenden Überlegungen auf die wesentlichen Punkte zur Charakterisierung. Der wichtigste Unterschied zwischen der Erstveröffentlichung J1 und der Ausgabe F besteht in der Abmilderung der Äußerung Ginevras über ihre Liebe (V 39,8,f.), die Saar wohl als allzu deutlicher Hinweis zur Interpretation erschien. Hinzu kommen neben einigen weiteren inhaltlichen Veränderungen zahlreiche sprachliche und stilistische Verbesserungen, die erst in F auftreten, wodurch dem Entwicklungsstrang ab F der Vorzug zu geben ist. Die in vielen Fällen auf J1 basierende Fassung J2 enthält zwar viele der im Laufe der Entwicklung vorgenommenen Verbesserungen bis hin zu den Korrekturen, die erst in N4 erscheinen, ist aber durch die häufigen Streichungen und Eingriffe völlig unbrauchbar. Vom rezeptionsästhetischen Standpunkt aus gesehen würde F als der Text anzusehen sein, der im Laufe der Entwicklungsgeschichte Ginevras zu Lebzeiten Saars die größte Wirkung hervorgebracht hat; abzulesen zunächst 94 95 96

Polheim: Textkritik, S.132. s. ebda, S.DOff. Herbert Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition. Bebenhausen 1973.

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allein an der publizistischen Resonanz in den Jahren 1891 bis 1892. Demgegenüber stehen jedoch die ungleich höheren Verkaufszahlen der dritten und vierten Ausgabe der Novellen aus Osterreich, bei deren Besprechungen Ginevra zwar keine Rolle mehr spielt, der mögliche Grad einer Wirkung Ginevras auf das Publikum jedoch nachträglich nicht abzuschätzen ist97. N3 weist gegenüber F wiederum - abgesehen von der hinzugefügten Passage über das immer noch andauernde Verhältnis des Oberst zur Gräfin Lodoiska (V 40,37-41,3) - eine Fülle von stilistischen und inhaltlichen Änderungen und psychologischen Feinheiten auf und stellt somit eine Verbesserung gegenüber der Fassung F dar. N4 schließlich bietet neben der Auflösung der Chiffre "L...." noch den Vorteil der orthographischen Angleichung gemäß der Rechtschreibreform von 1901. Die Ausgabe R unterscheidet sich zwar kaum von N4, ist aber durch ihre Kontamination einiger Wendungen von N3 und N4 sowie einiger Textfehler zu vernachlässigen.

10. Ginevra in der wissenschaftlichen Literatur Ist bereits die Literatur über die bekannteren Erzählungen Saars wie Innocent oder Marianne lange Zeit hindurch eher spärlich zu nennen und als wenig aussagekräfig zu qualifizieren, so erscheint Ginevra bei der Beschäftigung mit Saars Prosa nur am Rande. Für diese Nichtbeachtung sind im wesentlichen zwei Gründe ausschlaggebend. Es wurde konstatiert, daß Ginevra zu den wenigen klar positiv gezeichneten Frauenfiguren Saars gehört. Aus der Übernahme des in der Erzählung suggerierten tugendhaften und reinen Ginevrabildes resultierte das Desinteresse an einem scheinbar so klaren und eindeutigen Charakter. Hinzu kam, daß man einige - tatsächlich vorhandene - Parallelen zu Turgenjews Früblingsfluten entdeckte. Es entstand die weit verbreitete Ansicht, daß sich Saar im Falle Ginevra zu stark an Turgenjew angelehnt habe, letztlich wurde also der Vorwurf des Epigonentums erhoben. Daher wurde Ginevra fast ausschließlich zur Behandlung von werkübergreifenden Detailfragen herangezogen, eine differenziertere Behandlung der Erzählung blieb aus.

97

Bei aller notwendigen Berücksichtigung des Rezipienten bei der Behandlung eines literarischen Textes zeigt sich jedoch auch hier die hermeneutische Schwierigkeit auf einer historischen Basis ( vgl. dagegen z.B. Felix V. Vodicka: Die Rezeptionsgeschichte literarischer Werke. In: Ders.: Struktur der Entwicklung. München 1975. S.60ff.), als auch die Fragwürdigkeit einer Übertragung als Editionstheorie.

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a. Ginevra als Saars positivstes Frauenbild Die angebliche Klarheit und Eindeutigkeit von Ginevras Charakter und die damit verbundene Leugnung einer poetischen Mehrschichtigkeit und tieferen Aussage der Erzählung stand bereits seit dem Erscheinen der Frauenbilder bei der wenn auch positiv gemeinten Literaturkritik im Vordergrund. Dieses Bild veränderte sich in der Folgezeit kaum. Was Josef Nadler in seiner Literaturgeschichte Österreichs für Saars Gesamtwerk konstatierte: die bloße Abbildung der österreichischen Gesellschaft in Saars Novellen aus Osterreich nämlich98, das traf nach Meinung der Sekundärliteratur besonders auf Ginevra zu. Noch zu Lebzeiten Saars erschien Ella Hruschkas Aufsatz über Saar, in dem sie Ginevra als "starke Seele" bezeichnet, "die vermöge ihrer inneren Kultur die Kraft gewinnt, sich nach schweren Schicksalsschlägen zu erheben und ein neues Glück zu erobern"99. Hruschka bezeichnet einen wesentlichen Punkt im Charakter Ginevras: "Sie geht gerade auf das Ziel los"100. Hiermit liefen sie einen wichtigen Ansatz zu einer möglichen neuen Sicht Ginevras, geht aber im weiteren nicht auf die Tragweite und Problematik dieser Feststellung ein, sondern verharrt im überkommenen verklärten Frauenbild Ginevras. Bereits kurz nach Saars Tod meldete sich Müller-Guttenbrunn wieder zu Wort101. Die Ausführungen zu Ginevra in dieser Arbeit übernimmt er wortgetreu aus seinem 15 Jahre zuvor in der Deutschen Zeitung erschienenen Artikel102. Ebenfalls nichts Neues bringt Karl Martin Brischar in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1910. Auch er sieht in der Figur Ginevra eine Ausnahme von Saars übrigen Frauengestalten, immerhin spricht er ihr jedoch "sinnliche" Züge nicht ab: "Hoch über all diesen Frauengestalten steht nur die keusch sinnliche 'Ginevra'"103. Latzke setzt den Schwerpunkt in seiner Geschichte der deutschen Literatur in Niederösterreich wieder mehr auf eine eher naturalistische Deutung, wobei er Schloß Kostenitz [!] der Sammlung Frauenbilder zuordnet: Immer mehr tönen, wie die Fürstin Hohenlohe klar erkannte, die schneidenden Dissonanzen eines erbarmungslosen Realismus vor. So auch in der nächsten Samm-

98

S. Nadler, S.356. Hruschka, S. 117. 100 Ebda, S.117. 101 Adam Müller-Guttenbrunn: Ferdinand von Saar. Nach persönlichen Erinnerungen von Adam Müller-Guttenbrunn. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Litteratur und Musik. Amtliches Blatt des Deutschen Bühnenvereins. Berlin/Leipzig/Wien. 8. Jg. (1906). Nr.33, Sept. Heft 1. S.980-986. 102 Vgl. S. 125, Müller-Guttenbrunn: Novellist. 103 Brischar, S. 12. 99

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lung "Frauenbilder", enthaltend "Ginevra", "Geschichte eines Wienerkindes", "Schloß Kostenitz".104

Quenzel erkannte in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1928 ebenso wie schon Rosegger vor ihm105 einen der Kernsätze der Erzählung: "Er [Saar] hat auch kraftvolle Naturen gezeichnet, vor allem jene herrliche Ginevra, von der er es ausdrücklich heißt: 'Sie war eine starke Natur.' 'Unglücklich', fährt der Dichter fort, 'sind allein die Schwachen'"106. Die daraufhin zu stellenden Fragen bleiben allerdings unbeantwortet: die Folgen, die diese Bemerkung für die Deutung ergeben, ebenso wie der augenscheinliche Widerspruch dieses sentenziösen Mottos zu Saars oft geäußerter kritischer Einstellung gegenüber dem Glück der Starken. Auch Kroeber bleibt bei der einseitigen Betrachtungsweise: "Nur so starke Charaktere wie Raphaela von Reichegg und Ginevra finden die Kraft, sich mit der Enttäuschung abzufinden"107. Bei dieser Einschätzung Ginevras verwundert es nicht, daß die gesamte Erzählung für ihn uninteressant wird. Hier drückt sich Kroeber sehr deutlich aus: Ein [...] wahrer Engel an Tugend und Reinheit tritt uns in Ginevra entgegen. An ihr kann man deutlich beobachten, daß ein Charakter ohne Fehl und Tadel ebenso wie reine, regelmäßige Schönheit im Grunde kalt läßt. Was Ginevra tut, denkt und spricht, ist gut und edel und vernünftig. Sie liebt treu und rein, hängt mit vorbildlicher Liebe an ihrer Mutter, liest viele und nur gute Bücher, überwindet klaglos mit großer Seelenstärke bittere Enttäuschungen und ist doch erst sechzehn Jahre alt. Kurz, sie ist langweilig, und es erscheint durchaus verständlich, daß der Offizier, der allerdings mit seinem Hang zur Einsamkeit in dem ganzen Idyll bei Mutter und Tochter etwas weich und empfindsam gezeichnet ist, in Wien, in der großen Welt und unter dem Einfluß einer reifen, erfahrenen, interessanten Frau dieses Mädchen vergißt. Von Saars sonstiger feiner Charakterisierungskunst ist hier nichts zu spüren.108

Wäre Kroebers Interpretation zutreffend, so könnte man gegen seine konsequente negative Beurteilung nichts einwenden. Eine solch oberflächliche Betrachtungsweise führt jedoch ebenso wenig weiter wie die Behauptungen Fröhlichs, der die Erzählung zwar schätzt, mit seiner Beschreibung aber Kroeber ungewollt völlig recht gibt: "Ginevra", deren anmutiges Bild Saar in der Novelle gleichen Namens zeichnet, schenkt ihr großes echtes Gefühl dem jungen Leutnant, der später dem wissenden Zauber einer anderen verfällt. [...] Ein prächtiges Mädchen steht vor uns, tapfer er-

104

Latzke, S.49. Vgl. S.130, Roseggers Rezension aus dem Jahr 1892. 106 Quenzel, S.248. 107 Kroeber, S.32. 108 Ebda, S.42. 105

147

trägt es das letzte Wiedersehen mit dem Geliebten. [...] Sie stellt sich, ein Kind ihrer Epoche, auf sich selbst, nimmt den Kampf mit dem Alltag mutig auf.109

Walter Feiner glaubt, Saar habe mit Ginevra "sein positivstes Frauenideal gezeichnet", die "in ihrem Wesen Züge eines kraftvollen, lebenstüchtigen Charakters aufweist, die sie befähigen, tapfer auch ein Leben zu meistern, das ihr die herbste Enttäuschung, die ihrer ersten jungen Liebe, gebracht"110. Völlig unreflektiert übernimmt Feiner die subjektive Sicht des Ich-Erzählers und stimmt in dessen Hymne auf Ginevra mit ein: In "Ginevra" gestaltet Saar die Frau, die alle Vorzüge eines einfachen naturverhafteten Gemüts mit Klugheit, Kraft und Tiefe des Erlebens vereint. [...] Ihre selbstbewußte, in sich klare, gefestigte Natur weiß das für den unwürdigen Mann verschwendete Gefühl in reiner Gesinnung von sich abzulösen und findet über die Liebesenttäuschung hinweg den sicheren Weg ins Leben in einer glücklichen Ehe, der auch der Kindersegen nicht versagt bleibt.111

Nach dieser Beschreibung kommt Feiner zu dem nahe liegenden Schluß, Saar habe hier "nicht bloß sein positivstes Frauenideal gestaltet, [...] sondern [...] auch ein Wunschbild des Dichters seine eigene Natur betreffend, der gerade diese Vorzüge des Charakters der Ginevra fehlten: der entschlossene Wille zum Glück wie zur Ueberwindung jedes verlorenen Gefühls, um rasch und unbeschwert ein neues zu entwickeln"112. Feiner fährt mit den Spekulationen und biographischen Rückschlüssen fort und kommt zu dem Resultat: Und daß Saar gerade in einer Frau die Eigenschaften zur Geltung bringt und in der harmonischen Weise, ganz eins mit tiefem, ursprunghaft-natürlichem Wesen, gestaltet, jene Eigenschaften, die er selbst als eigenen Mangel empfunden, der nicht zum wenigsten die Ursache dafür bildete, daß der Dichter so wenig und nur so vorbehaltlich imstande war den edlen, echten, fruchtbaren Bestrebungen der modernen Frauenbewegung eine erfreulichere Seite abzugewinnen, wird auch den versöhnlicher zu stimmen vermögen, der ihm in diesem Punkte nicht folgen kann.113

Man ist sich grundsätzlich einig über Ginevras eindeutig edlen, guten - und damit letztlich langweiligen Charakter; Nagler spricht von einem "reinen, liebesfähigen Mädchenherzen" das "in der Ehe das verdiente Glück"114 findet, Soukup nennt sie ein "reines Kind"115, Schadauer glaubt, Ginevra gehöre "zu den seelenvollsten und gesündesten Gestalten, die uns Saar geschenkt

109

Fröhlich, S.2.

110

Feiner, S.137f. Ebda, S.138 112 Ebda, S.138f. 113 Feiner, S. 139. 114 Nagler, S.241. 115 Soukup, S.21. 111

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hat"116 und Castle hält Ginevra für eine "höchst anständige, bürgerliche Leutnantsbraut"117. Hodge glaubt in ihr ein "simple country girl"118 erkennen zu können und Horvath kommt in seiner Dissertation aus dem Jahre 1971 zu einer ähnlich negativen Beurteilung der gesamten Erzählung wie schon zuvor Kroeber: The story is sentimental and contains little beyond the description of the initial encounter between Emil and Ginevra, which is of interest. [...] Ginevra is both the more forceful and the better of the two principal characters within the story. In the majority of von Saar's works, however, such a combination of qualities is rare

b. Ginevras epigonaleAbhängigkeit von Turgenjews Frühlingsfluten Das eigentliche Manko, das Ginevra nach Ansicht eines Teils der Forschung disqualifiziert, ist die Nachahmung von Turgenjews Frühlingsfluten, die man festgestellt zu haben glaubte. Der erste in dieser Reihe ist Anton Bettelheim, der die These der Abhängigkeit der Erzählungen Sündenfall und Ginevra von Werken Turgenjews noch zu Saars Lebzeiten aufstellte: "Sündenfall" [...] knüpft geradezu an Turgenjews "Frühlingsfluten" an. Der Schwächling in "Ginevra", der einer alternden Kokette halber willenlos die Braut voll holder, heldenhaft herber Jungfräulichkeit verräth, ist aus der Sippe Rudin's.120

Visscher sieht als Hauptmotiv der Erzählung den "Kampf zwischen einer zarten, reinen Liebe und schwüler, sinnlicher Leidenschaft" und erkennt in Ginevra ebenfalls nur ein "Seitenstück zu Turgenjews 'Frühlingswogen"'121. In diesem Punkt glaubte auch die Forschung der DDR nicht widersprechen zu können. Hans-Heinrich Reuter schreibt in seinem Vorwon zu einer Novellensammlung Saars 1965: "Die Novelle 'Ginevra' ist trotz aller erlebnisechten Einverwandlung ins Heimisch-Vertraute unverkennbar nach dem Vorbild von Turgenjews 'Frühlingswogen' gestaltet"122. Am deutlichsten in der Wertung wird Ernst Alker in seiner deutschen Literatur im 19. Jahrhundert: "Ginevra, eigentlich nur eine Nachzeichnung der ebenfalls italieni116

Schadauer, S.20. Castle, S.I. Es spricht hierbei nicht gerade für Castles Sachkompetenz, wenn er für die Entstehung Ginevras das Jahr 1887 ansetzt. 118 Hodge, S.165. 119 Horvath, S.76f. 120 Bettelheim, Acta, S. 175f. 121 Visscher, S. 100. 122 Reuter, S. XLIII. 117

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sehen Heldin in Turgenjews Frühlingsfluten, mit dem Thema: der Mann im Übergang von der einen zur anderen Frau"123. Diese Ansicht Alkers wird auch noch von Kasim Egit 1981 kritiklos übernommen: "Turgenjews Frühlingsfluten [...] wird in Ginevra in wesentlichen Zügen nachgezeichnet. Nicht nur das Thema, [...] sondern auch die Heldin Ginevra hat Saar von Turgenjews ebenfalls italienischer Heldin in Frühlingsfluten übernommen"124. Auch Stocken: ist von der Adaption des Stoffes überzeugt; Saars Ginevra stehe "gleichsam im Schatten des großen Vorbilds für diese Novelle: Turgenjews Frühlingsfluten"125. Ebenso lapidar wie unkritisch stellt auch Klauser fest: "Saars 'Ginevra' ist in Stil, Technik, Thema und Grundstimmung sehr stark von Turgenjews Novelle 'Frühlingsfluten1 beeinflußt"126. Angesichts der tatsächlich deutlichen Hinweise und Anspielungen auf die Erzählung Turgenjews wäre Mißtrauen ob einer so offensichtlichen Ähnlichkeit am Platz gewesen, denn Ginevra bildet, wie noch ausführlich darzulegen sein wird, so etwas wie ein Gegenstück und nicht etwa ein Seitenstück zu Turgenjews Frühlingsfluten. Da Saar allerdings noch dazu aus seiner Verehrung für den russischen Dichter nie ein Geheimnis gemacht hatte, fiel es leicht, Ginevra als eine Art Hommage an ein großes Vorbild zu betrachten und ihr damit den eigenständigen ästhetischen Wert abzusprechen.

123

Alker, S.129. Egit, S.54. 125 Stocken: Nostalgie, S.129. 126 Klausen Poet, S.95 124

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IV. Deutung

1. Die Täuschung des Ich-Erzählers

In der narrativen Literatur fungiert der Erzähler als das Medium, das dem Leser das fiktionale Geschehen vermittelt. Durch diese vermittelnde Funktion verhindert er jedoch, anders als im Drama, das unmittelbare Miterleben. Innerhalb der vom Autor geschaffenen fiktionalen Welt kann sich der Leser gewöhnlich auf die redliche Schilderung des Erzählers verlassen. Warum auch sollte ein Erzähler etwas vorbringen, was nicht der vom Autor intendierten - fiktiven - Realität entspricht? Wenn jedoch die Schilderungen eines Erzählers den erzählten Tatsächlichkeiten widersprechen, so ist es sinnvoll, zunächst diese beiden innerhalb der Erzählung erscheinenden gegensätzlichen Welten darzustellen, um schließlich über die Interpretation auch nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Reibung von verzerrender Erzählperspektive und dargestellter Wirklichkeit zu fragen127. Die von Saar und im Realismus allgemein so geschätzte Form der Rahmenerzählung bedingt zumeist das Erscheinen zweier Erzähler128. Auch Ginevra gehört zu der Gruppe von Saars Novellen, bei der durch die Trennung von Rahmen- und Binnenerzählung zwei verschiedene Erzähler, ein Er- und ein Ich-Erzähler, auftreten129. Der Rahmen bietet die Möglichkeit, 127

Das Gegenteil zur Täuschung wäre Tatsache oder Wirklichkeit. Da jedoch diese Wirklichkeit ebenso wie die Täuschung fiktiv ist, und um diesem Grundsatz der Fiktionalität Rechnung zu tragen, wird im folgenden für die dargestellte fiktive Wirklichkeit der Terminus "Tatsächlichkeit" verwendet. 128 Schloß Kostenitz bildet eine Ausnahme; hier kann man Anfang und letztes Kapitel als Rahmen ansehen, wenngleich Runggaldier diese Erzählung zunächst als rahmenlos einstuft (S.82), um dann dennoch den Rahmen zu behandeln (S.95). 129 Stuben (S.254) stellt Ginevra irrtümlich in die Reihe der Erzählungen Saars, die keinen Ich-Erzähler haben. Ebenfalls falsch ist die Katalogisierung Hodges, bei der Ginevra zu den Novellen mit nur einem Erzähler gezählt wird, s. dort, S.97. Schon Hock war 1906 die Häufigkeit der Ich-Erzählungen bei Saar aufgefallen: "Die retrospektive Technik, die vor Saar schon Stifter mit Meisterschaft geübt hatte, ist in der eigenartigen Form, daß der Dichter den Helden selbst seine Geschichte erzählen läßt, fast stereotyp geworden", S.229. Als Begründung führt er jedoch den so häufig unterstellten kruden Realismus an: "All das ist nicht nur technisches Mittel; es entspringt im tiefsten der unbedingten Wahrhaftigkeit des Dichters, der nichts erzählt, was er nicht erlebt hat, und der es nur so erzählen kann, wie es allmählich in seinen Gesichtskreis getreten ist", S.230. Ebenfalls falsch ist die Behauptung Runggaldiers, Saar habe nur deshalb den ErErzähler in Novellen wie Schloß Kostenitz, Die Pfründner oder Die Steinklopfer gewählt, um angesichts der sozialpolitischen Brisanz nicht mit einem Ich-Erzähler identifiziert zu werden und "eine Trübung seines Verhältnisses zu den adeligen Frauen" (S.93) zu vermeiden. Hier wird verkannt, welch große Bedeutung die Wahl des Erzählers für den Stoff und Gehalt der Erzählung besitzt. So würde die erzählerische Möglichkeit der Innensicht oder der erlebten Rede eines Er-Erzählers im Falle Ginevra der Absicht

153

Distanz zum Erzählten aufzubauen130, während die Binnenerzählung durch das erzählende wie auch erlebende Ich das scheinbar direkte Miterleben ermöglicht. Bei der vorliegenden Erzählung muß also zunächst getrennt werden zwischen dem Er-Erzähler des Rahmens und dem Ich-Erzähler der Binnenhandlung. Schließlich muß auch die Erzählerfigur differenziert betrachtet werden: der Oberst als erzählendes und Emil als erlebendes Ich131. Die Rolle des erzählenden Ich gilt es zu Beginn zu analysieren: sie bildet den Ausgangspunkt für die weitergehenden Untersuchungen.

a. Das erzählende Ich Der Ich-Erzähler läßt zunächst noch den zeitlichen Abstand, den er zur Handlung gewonnen hat, vom Standpunkt des rückblickend Berichtenden durch kritische Reflexionen über seine eigene Person einfließen: "ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb." (12,12ff.) Ebenso werden die Empfindungen zur Kommandantentochter deutlich distanziert beschrieben: "So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen den kahlen vier Wänden" (13,19ff.). Auffallend hierbei ist, daß sich derlei reflektierende Bemerkungen nur zu Beginn der Ich-Erzählung finden. Zunehmend gibt der Ich-Erzähler die Geschichte aus der subjektiven Perspektive des erlebenden Ich wieder; Personen werden aus seiner individuellen Sichtweise beschrieben: die Tochter des Festungskommandanten ist nicht "besonders hübsch zu nennen" (12,19f.), die Mädchen auf dem Ball erscheinen ihm "so reizlos wie möglich" (15,32f.), und die Gräfin Lodoiska beschreibt er als eine "höchst verführerische ErSaars völlig entgegenlaufen, sie ermöglicht aber zum Beispiel bei Schloß Kostenitz die gewünschten verschiedenen Perspektiven. 130 Anders ausgedrückt besteht die Absicht des Autors laut Stocken darin, "daß er den Retro-Perspektivismus nicht verleugnet, sondern in der Rahmengestaltung objektiviert", S.190. 131 Immer noch wird, wie bei Rothbauer, der Ich-Erzähler mit dem Autor gleichgesetzt, s. dort, S.8. Wenn es darum geht, den "gesellschaftlichen Standort" des Dichters festzustellen, geht er soweit zu behaupten, es falle "dichterische und außerdichterische Wirklichkeit zusammen", S.178. Durch biographische Details in den Erzählungen verleitet, kommt auch Mühlher noch 1974 zu dem Ergebnis: "Fest steht - was viele Beispiele bezeugen - daß Saar häufig in doppelter Gestalt auftritt: als Erzähler, der den gesunden Menschenverstand und die opinio communis vertritt, und als eine Person, die sich durch betonte Charakterzüge abhebt", S.43. Schließlich nimmt Mühlher auch die Selbsteinschätzung Emils in Ginevra als biographisches Faktum: "Aber schon der junge Saar hat sentimentale und hypochondrische Anwandlungen ('Ginevra')", S.27.

154

scheinung" (32,36f.). Besonders Ginevra wird ausschließlich aus der Sicht des erlebenden Ich gesehen. Gerade im Hinblick auf Ginevra geht die Distanz und Selbstkritik des Erzählers sukzessive verloren, eine zunehmende Identifikation des Erzählers mit dem jungen Fähnrich setzt ein, ehemalige Gefühlsregungen werden erneut durchlebt132: "- und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken," (20,lf.), "Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! "(38,3), "In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle" (39,19), "Ich wagte nicht zu atmen" (39,42). Immer mehr versetzt sich das erzählende Ich in die Gefühlswelt des erlebenden Ich zurück, läßt also auch den Leser immer intensiver an Emotionen und Handlung teilnehmen. Aus erzähltechnischer Sicht bedeutet dies: der Ich-Erzähler verliert zunehmend seine Doppelfunktion als erlebendes und zugleich erzählendes Ich133. Diese erzähltechnische Beobachtung läßt bereits einen ersten Rückschluß auf den Charakter der Erzählfigur zu: die fehlende Bewältigung der einstigen Beziehung des Oberst zu Ginevra, der seine erste Liebe immer noch mit den gleichen Augen sieht wie der junge Fähnrich. Die subjektive Perspektive des erzählenden Ich hat zur Folge, daß die Figuren, die aus dessen Sicht geschildert werden, keineswegs dieser Beschreibung entsprechen müssen134. So sind alle Wertungen des Ich-Erzählers zu prüfen, als Tatsächlichkeiten können nur die Äußerungen der übrigen Figuren sowie ihre Handlungen angesehen werden, auf die der Ich-Erzähler keinen verzerrenden Einfluß hat.

132

Diese Art des Erzählens ist in Saars Novellen häufig zu finden, sie wird auch von Stuben bei Innocens beschrieben: "Längst verklungene Gefühlstöne werden wieder angeschlagen; noch einmal gerät der Pater in eine 'innere Erregung1 [...] Saar läßt den Erzähler auf die Übersicht verzichten, die dieser von seiner Warte als nachträglich Berichtender eigentlich besitzt", S.257. 133 Vgl Petersen, S.54f. Stanzeis noch von vornherein angenommene Identifikation von erzählendem und erlebendem Ich wird von Petersen zu Recht abgelehnt (Petersen, S.55). Stanzeis Systematisierung mit auktorialer, personaler Erzählsituation und IchRoman ist zudem nicht immanent logisch und faßt bei weitem nicht alle Möglichkeiten des erzählerischen Verhaltens (vgl. Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans. Göttingen 19726. [1. Aufl. 1964]). Daher wird hier, wie mittlerweile üblich, auf die differenziertere Terminologie Petersens zurückgegriffen. 134 Insofern ist Nehring nachdrücklich zu widersprechen, wenn er behauptet, von Saars Erzählern dürfe man "Eindeutigkeit der Urteile" im Sinne einer Faktizität erwarten, S. 115. Auch in diesem Punkt steht Saar Schnitzler näher als etwa Grillparzer oder Stifter, wobei die wichtige Funktion, die beide für die Prosa Saars besitzen, nicht verschwiegen werden soll, vgl. etwa: Werner Hoffmann: Ferdinand-von Saars 'Tambi' als Kontrafaktur von Franz Grillparzers 'Der arme Spielmann'. In: Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte. Tübingen 1993. S.248-270. 155

Es war gerade die geschilderte Unmittelbarkeit in der Darstellung der seelischen Zustände, die die Form der Ich-Erzählung zur Zeit des poetischen Realismus so beliebt machte. Hermann Bahr faßte es zusammen: Es handelt sich um eine Methode, die Ereignisse in den Seelen zu zeigen, nicht von ihnen zu berichten. Am nächsten liegt die "Ich-Form". Was über eine Seele ausgesagt wird, bewirkt uns nicht; aber den Bekenntnissen, welche eine Seele von sich selbst aussagt, ist unser Vertrauen geneigt. Das scheint ein einfaches und verläßliches Verfahren. Die Beichte, welche die inneren Begleitungen der äußeren Handlungen aus erforschtem Gewissen bekennt, erspart alle vermutenden Kommentare des psychologischen Professors.135

Die Behauptung Bahrs allerdings, ein Ich-Erzähler würde aus einem "erforschten Gewissen" heraus bekennen, was eine sichere Einschätzung der Charaktere zur Folge hätte, wird schon durch den Ich-Erzähler in Ginevra widerlegt. Dieser Ich-Erzähler reflektiert nur selten sein eigenes Verhalten und nie das Bild, das er sich von Ginevra macht, und so ist gerade hier der wesentliche Grund für die Widersprüche und Rätsel zu suchen, die der Charakter Ginevras dem Leser aufgibt, wenn dieser die subjektive Einschätzung des Ich-Erzählers mit den Hinweisen vergleicht, die zu der suggerierten Welt des Ich-Erzählers in krassem Gegensatz stehen136.

b. Ginevra Im Zentrum des Interesses steht für Erzähler und Leser die Titelheldin. Ginevra wird aus der subjektiven Perspektive des erlebenden Ich beschrieben, wie sehr, verrät bereits die Bemerkung der Gastgeberin zu Anfang des Rahmens: "Jedenfalls muß sie etwas ganz Besonderes gewesen sein, da Sie noch immer mit einer Art Andacht ihrer gedenken" (ll,6f.). Der Begriff der "Andacht" weist jedoch nicht nur auf die Subjektivität der folgenden Schilderung hin, sie gibt auch einen ersten Hinweis auf die besondere Art und Weise des gefärbten Erzählens: einer beinahe religiösen Verklärung. Im eingeschalteten Rückgriff auf den Rahmen zu Anfang des fünften Kapitels greift der Oberst selbst zu klerikalen Begriffen im Gefühl seiner Schuld: "Aber ich will mir die Buße auferlegen" (31,16). Äußerlich erscheint Ginevra als die Personifizierung der fragilen Makellosigkeit: "zierliche Füße" (15,40), das Haar "von schimmerndem Aschblond 135 136

Bahr, S.60. Nur bei einer unreflektierten Übernahme der Darstellung des Ich-Erzählers entsteht das im Forschungsbericht beschriebene verzeme und uninteressante Bild der Erzählung. In diesem Zusammenhang wird auch die Symbolik noch eine wichtige Rolle spielen, die mit der geschilderten Sicht des Ich-Erzählers teilweise korrespondiert, ihr aber auch widerspricht, s. S.203-211.

156

(15,41), die "schmächtigen Arme" (17,40), erneut die "schmalen Füßchen" (17,42), die "schimmernde Stirn" (18,6), das "fein modellierte Naschen" (18,7), die "durchsichtig zarte Muschel des Ohres" (18,7f.) lassen das Bild einer ätherischen Figur entstehen, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. In der Handschrift wurde bei der Beschreibung Ginevras die Diminutivflexion "-chen" geradezu inflationär verwendet, so daß Saar hier abschwächend korrigierte. Zunächst erschienen in H in nur zwei Sätzen "zierliche Füßchen" (H 51,10), das "zarte Hälschen" (H 51,13), das "Sammetbändchen" (H 51,14) und "Kreuzchen" (H 51,15). Der so entstandene erste Eindruck einer Verklärung wird im weiteren Verlauf der Erzählung fortgeführt und bis zur religiösen Überhöhung erweitert. Die engelhafte Schwerelosigkeit Ginevras, nicht zuletzt durch den immer noch häufigen Gebrauch des Diminutivs evoziert, findet etwa in der folgenden Beschreibung ihren Ausdruck: "In der Tat waren draußen die leichten Schritte Ginevras zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst ins Zimmer geeilt, [...] um mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust zu fliegen" (29,18-21). Der direkte religiöse Bezug findet sich wieder in der Beschreibung ihres Ganges: "Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevras zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln" (22,27f.). In diesem Erzählkontext bedeutet "wandeln" mehr als nur ein poetisches Synonym für ein "langsames, leichtes gehen, bei dem man kein bestimmtes Ziel vor Augen hat"137. Seit der Bibelübersetzung Luthers ist dieser Ausdruck (als Übertragung des hebräischen halach - gehen, fortgehen) im christlichen Zusammenhang gebräuchlich. Die religiöse Überhöhung Ginevras zeigt sich auch im Verhalten Emils. Seine verklärte Vorstellung von ihr grenzt an Marienverehrung: "Denn bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre junge Seele erschloß, erwies sie doch eine jungfräuliche Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte" (27,32ff.). Die Parallelen zu Maria als Jungfrau und Königin drängen sich auf, zumal Begriffe wie "Hoheit" und Würde" wiederholt auftreten (27,34 und 38,41f.). Die religiöse Mystifikation, die Ginevra für Emil verkörpert, läßt diesen in körperloser Liebe und Verehrung zu einem vergeistigten, überirdischen und unerreichbaren Idealbild aufblicken138. Wie weit sich das vermittelte Bild Ginevras von der Figur unterscheidet, die sich in der Erzählung unabhängig von der Perspektive des Erzählers präsentiert, wird im zweiten Ginevrakapitel zu untersuchen sein139. 137

Grimm, Bd. 27, Sp.1595. Zu der Symbolik, die im Zusammenhang mit der religiösen Verklärung erscheint, s. S.203f. 139 S. 170-174. 138

157

c. Lodoiska Nach Emils Beschreibung scheint Lodoiska, die Kraft und Stärke geradezu verkörpert, den Gegenpol zu Ginevra darzustellen. Es werden sich jedoch auffallende Parallelen ergeben, die diese oppositionelle Stellung fragwürdig werden lassen. Die Taktik Lodoiskas bei der Verführung Emils ist für den Leser leicht zu durchschauen; Emil dagegen schildert auch hier rückblickend ein illusionistisches Frauenbild, daß dem Ginevras in einigen Bereichen auffallend ähnelt. Wenn Emil in bezug auf Ginevra von deren "Antlitz" spricht, das "wundervoll hervorschimmert" (21,24), so benutzt er für Lodoiska die gleiche Formulierung: "Ihr volles Haar, [...] umrahmte in losen Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz" (35,3-5). Der Begriff "Antlitz" wird von Saar durchaus gezielt eingesetzt. So ersetzte er bei der Beschreibung der Comitemitglieder zu Anfang des zweiten Kapitels das zunächst gebrauchte "Antlitz" (H 50,8) durch das neutralere "Gesicht" (H 50,8). Wie auch bei Ginevra ist die Perspektive, aus der Emil Lodoiska beschreibt, die unterlegene, aufschauende, bildlich dargestellt am Ende des fünften Kapitels: "Ich sank ihr zu Füßen" (36,21). Der eigentliche Urheber für die Täuschung ist jedoch Lodoiska selbst. Ihr unkonventionelles Verhalten ist letztendlich Maske, Attitüde. So liebt sie es, "sich in träger Behaglichkeit auf einer Chaiselongue auszustrecken und Zigaretten zu rauchen, was damals noch etwas ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren" (32,42-33,3). Das Rauchen galt besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Männerprivileg, und es gab nur wenige Frauen, die dieses Vorrecht für sich in Anspruch nahmen. Die berühmteste war ohne Zweifel George Sand, die die gesamte literarische Elite von Musset bis Flaubert, die zu Sands Landhaus in Nohant bei Paris pilgerten, mit Vorliebe in Reitstiefeln und Zigarren rauchend empfing. Ebenso wie bei Lodoiska war es die Überlegenheit suggerierende männliche Attitüde, die faszinierte. In ihrer Ehe mit dem Baron Dumont ist die Dominanz Lodoiskas bereits räumlich greifbar: "Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen" (32,37f.). Hier liegt natürlich auch der Grund, warum der Baron das sich anbahnende Verhältnis "nach Art gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte" (37,39f.). Auch an ihrer Kleidung wird die Mischung von verführerischer Weiblichkeit und männlichem, fast militärischem Überlegenheitsanspruch sichtbar: "Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter weißer Halskragen und hohe Manschetten glänzend abhoben" (35,Iff.). Wie sehr sich Lodoiskas selbst aufgebaute Fassade von der Wirklichkeit unterscheidet, wird in dem Kapitel zur Sprache kommen, das sich mit der 158

tatsächlichen Lodoiska beschäftigt140. Auch im Fall Lodoiska täuscht sich der Ich-Erzähler vollständig in der Beschreibung der Wirklichkeit. Die Berührungen, die Emil treuherzig als "unbefangene kleine Zärtlichkeiten" (33,7) bezeichnet und der "polnischen Sitte" (33,9) zuschreibt, sind für den Leser schnell als Verführungsmanöver erkennbar. Auch ihre Reaktion auf Emils Urlaubsprobleme läßt sich ohne Schwierigkeiten deuten. Sie richtet sich gegen die unerwünschte, wenn auch ferne Konkurrenz: "Dann denken Sie nicht weiter daran" (35,24). Emil glaubt jedoch, ihr Verhältnis zu ihm als "mütterliche Vertraulichkeit" (33,6f.) beschreiben zu können.

d. Das erlebende Ich Nach der vorangegangenen Darstellung der subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung des Erzählers ist nun nach den Grundlagen zu fragen, die diese illusionistische Sicht der Frauenfiguren ermöglichen und die in der Figur des Ich-Erzählers zu finden sein müssen. Emils Charakter scheint auf den ersten Blick leicht durchschaubar zu sein, der Hinweis auf die unglücklichen Schwachen (40,28f.) ist als offenes, auf sich selbst bezogenes Eingeständnis zu werten und läßt sich als grundlegende Aussage zur Erklärung für sein Handeln verstehen. Hierdurch läßt sich jedoch nur ein Teil dieses Charakters erschließen141. Bereits das erste Kapitel weist auf Emils Verführbarkeit und Labilität hin, wenn er sein Leben in der Garnison beschreibt, das hauptsächlich darin besteht, "leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen" (12,1) und in einem "höchst zweifelhaften Lokal [...] halbe Nächte bei Punsch und Glühwein zu durchschwelgen" (12,2ff.). Auch seine rückblickend distanzierte Wertung dieses Lebenswandels läßt auf Konformismus schließen: "Was nun mich selbst betraf, so machte ich dieses wüste, gedankenlose Treiben schon deshalb mit, weil man sich nicht ausschließen konnte" (12,5f.). Mangelnde Individualität, Abhängigkeit von vorgegebenen gesellschaftlichen Normen stehen im Vordergrund, die auch angesichts der baldigen Trennung von Ginevra nicht hintangestellt werden: Also nur drei Tage, drei kurze Tage waren mir noch vergönnt - und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den allerkleinsten Bruchteilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den kameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir auferlegte. (28,28-33)

140 141

S.175ff. Häufig begnügte man sich mit dieser Feststellung, so auch noch Egit: "Die reine und zu große Liebe Ginevras erliegt der Labilität und seelischen Schwäche des jungen Geliebten", S.80.

159

Der Eintritt ins neue Regiment bringt für Emil nun "eine doppelt eifrige Diensteserfüllung" (31, 30) mit sich. Die früher gefaßten Urlaubspläne hält er von vornherein für aussichtslos: "Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub ansuchen" (34,20ff.). Die Begründung für diese Haltung wird im ersten Kapitel angegeben. Emil ist geprägt von "der strengen Zucht", die er "früher in einem Kadettenhause erleiden mußte" (12,7f.). Die Folge ist ein strikter Gehorsam, der bei ihm bis zur Unfähigkeit zu selbständigem Handeln führt. Dies bleibt nicht auf den beruflichen Bereich beschränkt. Selbst in seinen Träumen von der Tochter des Kommandanten wird er nicht selbst aktiv: "Ich stellte mir bereits sehr lebhaft vor, wie auch sie diesem Abend sich entgegenfreute, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde" (12,40-13,1). Die Kommandantentochter ist es, die ihn in seiner Phantasie zu sich heranzieht, Emil selbst übernimmt auch hier noch eine passive Rolle. Schon diese Episode mit der Kommandantentocher erhellt den wichtigen Charakterzug der Handlungsunfähigkeit: der Flirt in der Kirche und am Fenster des Kommandantenhauses geht stets von ihr aus. Auf dem Ball in Leitmeritz schafft es Emil trotz der aufmunternden Blicke Ginevras nicht, diese zum Tanz aufzufordern: "Aber ein eigentümlich lähmendes Zögern überkam mich" (16,14). Es ist der Tanzmeister, der schließlich die Verbindung auf dem Parkett zustande bringt. Die einzige Kußszene kommt nur auf Ginevras Initiative hin zustande142. Auch bei der Abschiedsszene sind Aktivität und Passivität eindeutig zugeordnet: "So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt" (31,10). Bezeichnend ist Emils Reaktion auf Ginevras Frage, ob er es denn ernst mit ihr meine: "Denn ich empfand, daß jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen" (23,15ff.). Auch hier beschreibt er diesen Vorgang für sich passiv: es tritt an ihn heran. Auch Lodoiska dominiert von Beginn an die Beziehung zum neuen Adjutanten ihres Mannes. Wußte die Kommandantentochter ihre Blicke vielsagend einzusetzen, so besticht die Gräfin durch direkt angewandte körperlichen Reize: "Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter und ließ im Gespräch ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte" (33,8-11). Auch bei der intensiver werdenden Annäherung bleibt Emil passiv: "sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es 142

Vgl. S.172.

160

sich wie ein schwerer, betäubender Schleier über mich legte" (36,7f.) - um schließlich zu reagieren: "Ich sank ihr zu Füßen" (36,21). Diese Eigenschaft Emils wird mit dem Goethezitat "am Schluß zusammengefaßt: "Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man, wie Goethe sagt, zuletzt abgewunden gleich Wocken" (41,3ff.). Das Zitat aus Goethes Maximen und Reflexionen lautet korrekt: "Wenn die Männer sich mit den Weibern schleppen, so werden sie so gleichsam abgesponnen wie ein Wocken"143. Hierbei bezeichnet der niederdeutsche Begriff "Wokken" "sowohl ein Spinngerät wie die davon abzuspinnende Menge Flachs, Hanf, Wolle usw.; häufig beides zugleich oder doch ohne fühlbare Unterscheidung"144. Ob mit Wocken nun die Spindel oder das Wollknäuel gemeint ist, beides symbolisert die Passivität und gesteuerte Manipulation, der Emil ausgesetzt ist. Emils hier beschriebene Charaktereigenschaften, seine Passivität und Schwäche, seine mangelnde Selbsterkenntnis und Reflexion passen auffällig treffend zu einigen Versen aus Saars Gedicht Höchstes Ziel aus der Sammlung von 1882: So lang er nicht gewahrt die eigenen Schwächen So lang auch Ist er ein Spielball Törichter Einbildung und verächtlicher Eitelkeit.145

Der religiöse Aspekt, der bei Emils Liebesbeziehungen eine so große Rolle spielt, erscheint bereits in deutlicher Form im ersten Kapitel146. Die scheinbar in sich abgeschlossene Episode Emils mit der Kommandantentochter birgt so die gesamte, später nur erweiterte Problematik: "Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anläßlich einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Oratorium der Garnisonskirche beiwohnte" (12,27ff.)147. In diesem religiös-sakralen Umfeld, das von Emil in Verbindung mit der "Angebeteten" gebracht wird, entfalten sich Emotionen, die zunächst sexueller Natur sind: "Ich stellte mir bereits sehr lebhaft vor, [...] wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde" (12,40-13,1). Obwohl sich die Beziehung nicht mehr weiter entwickelt und diese erste Episode eine Auftakt143

Goethe, Bd. 12, Maximen und Reflexionen, S.539. Grimm, Bd.30, Sp.995. i« SW II, S.123. 146 Zur Symbolik, die sich auf diese religiöse Verklärung bezieht, s. S.203f. 147 Vgl. Soukup, S.23. Soukup sieht diese Stelle allerdings im Zusammenhang mit einer von ihr konstatierten oberflächlichen Liebesauffassung der Figuren Saars und verkennt völlig die Bedeutung dieser Szene für die gesamte Erzählung. 144

161

funktion besitzt, ist in ihr bereits ein Prinzip enthalten, daß eine wesentliche Rolle bei den Beziehungen zu Ginevra und Lodoiska spielen wird: die Vermischung von Erotik und Religion. Im Fall Ginevras wird die Sexualität durch die beschriebene religiöse Verklärung sukzessive verdrängt. Der beschriebene Walzer am Anfang ihrer Bekanntschaft zeugt noch deutlich von Emils köperlicher Lust148: Von den raschen Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen dahin - und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken, daß ich [...] sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war. (19,40-20,3)

Derlei erotische Verweise nehmen jedoch im Verlauf des Verhältnisses zu Ginevra ab, die Sexualität wird unterdrückt und erscheint auf Ginevra bezogen nur noch am Schluß: "Sie war größer geworden und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt" (38,1 If.). Vorher wird sie stilisiert zur unerreichbaren Verkörperung der Reinheit, zur femme fragile, die bis zur religiösen Verklärung reicht. Die mittelalterliche Entsprechung hierfür ist der Begriff der hohen Minne, wie sie etwa Gottfried Keller in Hadlaub umschreibt, und an die Emils Verhalten Ginevra gegenüber erinnert: "daß der junge Mann die Sache nur als eine Sache der 'hohen Minne' betreibe, d.h. die Dame seiner Lieder als weit über ihm stehend und im Ernste als unerreichbar betrachte"149. Bei der Frage nach den Ursachen für die Idealisierung Ginevras durch Emil und der Verdrängung der eigenen Sexualität liefert Saar entscheidende Hinweise schon mit einer kurzen Bemerkung zu Beginn der Binnenerzählung: "ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb" (12,12ff.). Dieser fast nebenbei angedeutete Hang zur Schwermut wird nun erklärbar. Auf der einen Seite steht Emils gesellschaftlicher Konformismus, die Gebundenheit an geltende Normen und Moralvorstellungen und somit auch der Sexualmoral. Der Konflikt entsteht durch die Erotisierung einer passiven, unterlegenen und aufschauenden Haltung, die als anbetungsvoll verstanden wird. Je stärker diese überhöhende Verklärung selbst empfunden wird, umso verwerflicher und unpassender muß in diesem Zusammenhang die eigene Sexualität erscheinen.150. Hier bleibt nur der Ausweg in die platonische Liebe gegen das "böse Gespenst 148

Zur erotischen Konnotation des Walzers s. S.209. Keller, Bd. 9,1, S.75. 150 Vgl. literarische Analogien etwa bei Peter Altenberg. "Der Dichter der femme fragile [...] flieht ins Undeutliche, Uneingestandene, in die Verdrängung und damit - als Korrelat zur Perversion - in die Neurose". Thomalla, S.61. 149

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Sexualität"151. Während Ginevra für Emil so - beinahe jedenfalls - sexuell ungefährlich wird, wird seine Verdrängung der Sexualität durch Lodoiska von Anfang an fundamental bedroht; sie erweckt beim ersten Anblick bereits die Mischung aus "Schreck" und "Wohlgefallen" (32,25). Die Vorstellung der Sexualität als abzulehnende atavistische Kraft vertreten noch Autoren wie Otto Weininger um die Jahrhundertwende: "Denn was sonst noch Liebe genannt wird, gehört in das Reich der Säue. Es gibt nur eine Liebe: es ist die Liebe zu Beatrice, die Anbetung der Madonna"152. Verdrängung und Verklärung sind die psychologischen Mechanismen, die zu Emils Unvermögen, Tatsächlichkeiten wahrzunehmen, führen, und durch die er die Unzulänglichkeit der Objekte seiner Anbetung verkennt. Selbst im Falle der Kommandantentochter weichen seine Phantasien nicht der Wirklichkeit, sondern werden nur durch neue abgelöst, so daß er sie nachträglich als vermeintlich heilige Gefühle ansieht (13, 20). Hier wird also nur das Objekt ausgetauscht, nicht die "Heiligkeit" der Gefühle hinterfragt. Realitätsferne wird rückblickend nur in bezug auf seine eigene Person konstatiert. Mit Hilfe des Kreuzes153, das ihm Ginevra zum Abschied geschenkt hatte, versucht er den erotischen Eindruck - "wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte" (33, l Of.) -, den die angeblich "mütterliche Vertraulichkeit" (33,6f.) Lodoiskas auf ihn macht, zu verdrängen. Dieser Verdrängungsmechanismus läßt sich ein ums andere Mal feststellen. Die Briefe Ginevras, die nach seiner Untreue eintreffen, legt er, ebenso wie das Kreuz, in ein Fach seines Schreibtisches, "auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne" (36,33f.). Auch als ihm das Erscheinen Ginevras gemeldet wird, flüchtet er sich in Selbsttäuschungen: Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglicherweise eine pauvre honteuse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Offiziere in Anspruch zu nehmen pflegten. (38,3-6)

Bereits in der Binnenerzählung funktioniert die Verdrängung nicht vollständig, er öffnet die Tür schließlich "dennoch bangen Herzens" (38,8). Allein dieser Selbstbetrug wird rückblickend selbstkritisch beurteilt: So gebärdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch aus Leitmeritz keine weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit jenem Leichtsinn der Unreife, der einem in späteren Jahren ganz unfaßlich vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgetan. (36,34-37,1) 151

Thomalla, S.65. Weininger, S.317f. 153 Zur Symbolik des Kreuzes s. S.204. 152

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Das verklärte Frauenbild Ginevras bleibt als nostalgischer Selbstbetrug bestehen: "Ist es doch ein Genuß, wenn auch ein schmerzlicher, sich in die goldenen Tage der Jugend zurückzuversetzen" (ll,17f.) und auch die kurze Spanne der "seligen Zeit" (27,27), die Beschreibung des Frühlings wird mit einem "schönen Traum" (28,11) verglichen und somit als Idylle fiktiv. Einmal mehr eröffnen sich Parallelen zu den Thesen Schopenhauers, der in Die Welt als Wille und Vorstellung den "wundersamen Zauber" der Erinnerung ausdrücklich als "Selbsttäuschung" bezeichnet154. Stocken; ist der Ansicht, nie habe "Saar diese nostalgischen Erinnerungen in seinen Novellen ausdrücklich als 'Selbsttäuschung' einbekannt"155, und sieht die These Schopenhauers im Werk Saars damit nicht bestätigt. Dies ist nur partiell richtig. Noch im Leutnant Burda, sorgt der Ich-Erzähler für die Aufdeckung der Illusionen Burdas156, in Ginevra jedoch wird die Verklärung durch den Ich-Erzähler Teil der subjektiv beschriebenen Wirklichkeit, die sich als Täuschung entpuppt. In diesem Sinn ist auch das ebenfalls von Stocken angeführte Schopenhauerzitat zu verstehen, wobei die von Saar angestrebte Desillusionierung nicht im Widerspruch steht zu Stockens These des Zukunfts154

Schopenhauer, Bd.l, 3. Buch, § 37, S.255: "Jene Säligkeit des willenlosen Anschauens ist es endlich auch, welche über die Vergangenheit und Entfernung einen so wunderbaren Zauber verbreitet und sie in so sehr verschönerndem Lichte uns darstellt, durch eine Selbsttäuschung. Denn indem wir längst vergangene Tage, an einem fernen Ort verlebt, uns vergegenwärtigen, sind es die Objekte allein, welche unsere Phantasie zurückruft, nicht das Subjekt des Willens, das seine unheilbaren Leiden damals ebensowohl herumtrug wie jetzt [...]. Daher kommt es, daß besonders wenn mehr als gewöhnlich irgend eine Not uns beängstigt, die plötzliche Erinnerung an Szenen der Vergangenheit und Entfernung wie ein verlorenes Paradies an uns vorüberfliegt". 155 Stocken: Nostalgie, S.122f. Stocken zitiert in diesem Zusammenhang die oben angeführte Bemerkung Emils über die "goldenen Tage der Jugend" (11,18) als Beispiel, womit er völlig fehl geht, wird doch Selbsttäuschung und Verklärung gerade in Ginevra thematisert. 156 Vgl. auch Nehring, S.114f.: "Der Erzähler in Leutnant Burda [...] macht alle Anstrengung, die Illusionen Burdas als solche zu entlarven, wenn nicht für den Helden, so doch für den Leser, so daß dieser trotz vieler Zeichen und Zufälle, die den Wahn zu unterstützen scheinen, nie den festen Boden der Tatsachen unter den Füßen verliert". Dagegen behauptet Rossbacher, der Erzähler sei "ein unsicherer Führer zur Erkenntnis von Burdas Wahn", Rossbachen Burda, S.149, und verweist auf die vom Erzähler in Betracht gezogene Möglichkeit, daß Burda mit seinen Vorstellungen vielleicht doch Recht habe. Rossbacher übersieht hierbei die Progression des Burdaschen Wahnes im Verlaufe der Erzählung ebenso wie ein wichtiges Kriterium für die Sympathie des Erzählers: "Das Zarte, Vergeistigte seiner Auffassung imponierte mir, es war, als hätte ich ihm ein Unrecht abzubitten", SW EX, S.29. Wo also das Geschehen zunächst nicht eindeutig ist, kann der Erzähler, den Rossbacher aus unerfindlichen Gründen einen "IchRahmenerzähler" (S.149) nennt, auch nicht für die "Eindeutigkeit alles Geschehenden" (S.149) garantieren.

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Pessimismus und der nostalgischen Grundhaltung Saars157, die jedoch von der Verklärung von Personen und Erlebnissen zu trennen ist. "Ausdrücklich" allerdings, wie Stocken meint, wird die Desillusionierung tatsächlich auch in Ginevra nicht vorgenommen.

2. Die erzählten Tatsächlichkeiten Völlig zu Recht weist Burkhard Bittrich darauf hin, daß "ein Grundmotiv der gesamten österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts" auf die letzten Endes "barocke Antithetik von Schein und Sein"158 zurückgeht. In der Literatur des österreichischen Biedermeier bildet der Konflikt zwischen dem Streben nach dem Ideal und der Bindung an die Realität und der daraus resultierenden Resignation ein wesentliches Motiv159. Die Eigenart der resignativen Antwort auf die Wirklichkeit bei den Figuren Saars umschrieb Hofmannsthal schon 1892 treffend: "es ist ohne Heftigkeit und anklagendes Pathos, ein leises, schüchternes Hinausgehen, wie aus einer aufregenden und peinlichen Gesellschaft"160. Der Konflikt zwischen Ideal und Realität mit der Konsequenz einer resignierenden Desillusionierung steht auch in Ginevra im Mittelpunkt, allerdings nicht mehr nur, wie noch im Biedermeier, aufgrund wirtschaftlicher und politischer Frustrationen, sondern als Ausdruck eines generellen, durch Schopenhauer stark beeinflußten Pessimismus angesichts einer unzulänglichen Realität161. 157

Stocken: Nostalgie, S. 123. Bittrich, S.357. Immer wieder wird in der Literatur des 17. Jahrhunderts, besonders in den Picaroromanen nach der Art des Simplicissimus, aus der Sicht des Helden die Wirklichkeit zur "grotesken Fratze" verzerrt, Alewyn, S.858. Auch der Josephinismus hatte es nicht vermocht, barocke Traditionen des Theaters oder der Literatur verschwinden zu lassen, und so ist Bauer mit seiner These von der Sonderentwicklung Österreichs nur zuzustimmen, "daß dort die katholisch-'barocke' Tradition leichter zu erneuern war, weil sie in der Tat nie ausgestorben, nie ganz aus der Erinnerung geraten war", S.219. 159 Bietak, S.96: "Den Widerstreit von Ideal und Wirklichkeit vermag der Mensch nicht zu beseitigen, die Individualität des Menschen ist letzten Endes nur der Schauplatz, auf dem der Kampf beider Elemente zum Austrag kommt. Zugleich aber ist das österreichische Biedermeier überzeugt von der doppelten Anlage des Menschen. Sein Bewußtseinsvermögen verfügt über Kräfte, die einerseits den Dienst am Ideal, anderseits den an der Wirklichkeit versehen". 160 Hofmannsthal, S.2. 161 Hierin liegt die eigentliche Ursache für das bei Saar so häufig erscheinende Motiv der Resignation, und nicht in Saars spezifisch wienerischen Mentalität (Kroeber, S.42). Absurd ist ebenfalls Steiners (S. 114-117) Diagnose einer latenten schizophrenen Veranla158

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Nach der Darstellung der illusionistischen Sicht Emils und deren Ursachen richtet sich der Blick folgerichtig auf die erzählten Tatsächlichkeiten, die die Novelle enthält. Textimmanent sind bereits die wirklichen Charaktere zu erkennen.

a. Das Erzählen Nachdem zuerst der Ich-Erzähler als Verursacher einer verzerrten Wirklichkeitsvermittlung im Zentrum stand, soll nun der Rahmenerzähler sowie die Erzähltechnik untersucht werden. Zunächst wird im Rahmen die zu erzählende Geschichte in weite Ferne gerückt: "Denn was ich vorbringen kann, ist eigentlich doch nur eine veraltete Liebesgeschichte, welche, wenn sie heute gedruckt würde, vielleicht niemand mehr lesen möchte"(ll,14ff.). Der Oberst befürchtet gar aufkommende Langeweile durch seine angekündigte Erzählung. Dieser wird so zunächst der Reiz des Besonderen genommen, die seit Goethe geforderte Grundlage ihrer Existenz als literarische Form, die stoffliche Brisanz oder laut Goethe "unerhörte Begebenheit"162, angezweifelt; auch Friedrich Schlegels Forderung, die Novelle müsse "in jedem Punkt ihres Seins und ihres Werdens neu und frappant sein"163, erfüllt sie anscheinend nicht, sie wird ein fiktives Abstraktum: "eine veraltete Liebesgeschichte". Durch den folgenden Relativsatz mit eingeschobenem Konditionalsatz: "welche, wenn sie heute gedruckt würde, vielleicht niemand mehr lesen möchte" (ll,15f.), wird dieses fiktionale Abstraktum plötzlich konkrete Realität, denn die Geschichte liegt dem Leser ja tatsächlich gedruckt vor. Der Reiz dieser Bemerkung geht über den bloßen Witz hinaus: der Leser stellt die Beziehung Oberst - Saar her, oder eben: Fiktion - Realität. Denn das Motiv für das scheinbare Kokettieren mit der Langeweile besteht nicht nur im vermeintlichen Verlassen der fiktionalen Ebene, sondern im Verwischen der sonst so klaren Grenze zwischen Fiktion und Realität. Diese Erzähltechnik ist nicht neu, Wilhelm Raabe zum Beispiel erzielt in gung Saars. Der Einfluß Schopenhauers spielt hierbei allerdings noch eine wesentliche Rolle, schon früh untersucht von Gerta Waitz: Ferdinand von Saar. Seine Weltanschauung im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers. Diss., Wien 1947. Klauser erkennt die Faktoren richtig, kommt aber in seiner Bewertung zum falschen Schluß, wenn er die Resignation nicht als Konsequenz des Lebenskonfliktes Ideal-Realtität, sondern als illusionistische Alternative zur Wirklichkeit ansieht: "So hatte sich für Saar auch in der Realität seines Daseins das einst so gepriesene Bollwerk der Resignation am Ende als ebenso morsch erwiesen wie für die imaginären Gestalten seiner Dichtung, als eine trügerische Illusion, die vor der rauhen Wirklichkeit des Lebens zerbrach". Klauser, S.234. 162 Goethe, Bd. 6, Gespräch mit Eckermann v. 29.1.1827, S.759. 163 Schlegel, Athenäums-Fragmente, Nr.429, S.250.

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seiner Erzählung Zum wilden Mann auf dem umgekehrten Weg denselben Effekt. Wird der Leser bei Ginevra durch die Anspielung auf einen möglichen Druck aus der Fiktion gerissen, also desillusioniert, integriert Raabe den Leser spielerisch in die Erzählung, läßt ihn zu einem Teil der Fiktion werden: Wir suchen einfach, wie gesagt, vorerst unter Dach zu kommen und eilen rasch die sechs Stufen der Vortreppe hinauf; der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach [...].164

Zwar ist der von Raabe mit einbezogene Leser fiktiv, doch bietet dieser fiktionalisierte Leser165 dem realen Leser die Möglichkeit zur Identifikation mit der Leserfigur, den scheinbaren Einstieg in die poetische Welt: "Der Leser ist etwas Gedichtetes, ist eine Rolle, in die wir hineinschlüpfen und bei der wir uns selber zusehen können"166. Umgekehrt verläßt auch Saars Oberst nicht seine fiktive Welt, die Grenzen bleiben auch hier bestehen. Im Unterschied jedoch zu Raabe bedeutet für Saar der so erzielte Effekt keinen spielerischen Umgang mit Erzähltechniken, sondern er ist ein gezielter indirekter Hinweis auf den Kern der Erzählung, auf die Spannung zwischen Illusion und Wirklichkeit. Der geschaffenen Distanz zur Erzählung und der vermuteten Langeweile entgegen steht die Aussage der Gastgeberin über die Titelheldin: "Jedenfalls muß sie etwas ganz Besonderes gewesen sein, da Sie noch immer mit einer Art Andacht ihrer gedenken"(ll,6f.). Hier wird denn doch die Einzigartigkeit der Protagonistin und somit der gleichlautenden Erzählung betont und Interesse geweckt. Hinzu kommt bereits der Hinweis auf die immer noch bestehende geistige Präsenz Ginevras für den Oberst. Der Er-Erzähler bleibt hierbei jedoch zurückhaltend, wertet nicht und verhält sich so neutral wie möglich. Informationen erhält der Leser nur durch die handelnden Figuren und die Tatsächlichkeiten, die der Rahmenerzähler vorbringt. Wie sind diese beiden Erzähler nun terminologisch zu fassen? Franz K. Stanzel hatte noch den Fehler begangen, dem Ich-Erzähler eine gleichwertige Position neben dem Er-Erzähler abzusprechen167. Kayser hatte jedoch früher schon den Ich-Erzähler zu Recht aufgewertet und gezeigt, daß dieser "keineswegs die geradlinige Fortsetzung der erzählten Figur" ist168. Tatsäch164

Raabe, Bd. 11.S.163. Vgl. hierzu auch S. 201. 166 Kayser, S.203. 167 Stanzel, S. 122. 168 Kayser, S.209. 165

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lieh stehen dem Ich-Erzähler auch in Ginevra beinahe die gleichen Mittel und Fähigkeiten bei der Gestaltung seiner Geschichte zur Verfügung — von der Innensichtperspektive einmal abgesehen - wie jedem anderen Er-Erzähler auch. Dieser Ich-Erzähler bleibt nicht bei einer Perspektive. Zwar berichtet der Oberst, wie bereits gezeigt, zunehmend "aus der Perspektive der Figur"169: ein entscheidendes Kriterium für personales Erzähl verhalten. Er ist jedoch auch zu den angesprochenen distanzierenden und sich selbst kritisierenden Kommentaren fähig170. Zusätzlich tritt der Oberst aus dem Rahmen nämlich zu Anfang des vierten und fünften Kapitels persönlich wieder in Erscheinung, durchbricht so den Fluß der Binnenhandlung und reißt den Leser kurzfristig aus der geschaffenen Atmosphäre. Klassisch auktorial tritt der Erzähler hier hervor. Zuammen mit dem Oberst, der durch sein persönliches Erscheinen die Binnenhandlung im vierten und fünften Kapitel durchbricht, schaltet sich auch der Rahmenerzähler wieder ein, denn dieser ist es ja, der den Auftritt des Oberst erst möglich macht. Im Rahmen noch sehr zurückhaltend, drängt sich der Er-Erzähler hier in der Binnenerzählung wieder vor und gibt seine Zurückgezogenheit auf, die er problemlos hätte wahren können, zugunsten der beabsichtigten Wirkung auf den Leser. So ist auch der Begriff des "neutralen Erzählverhaltens" problematisch. Der Er-Erzähler in Ginevra bemüht sich zwar um Objektivität, eine Wertung durch ihn ist im kurzen Rahmen nicht festzustellen, neutral ist er jedoch keineswegs. Denn das Erscheinen des Er-Erzählers im vierten und fünften Kapitel geschieht nicht ohne Absicht. Durch sein Eingreifen in die Binnengeschichte beweist er nicht nur seine Präsenz, sondern auch seine Fähigkeit, den Leser zu lenken und zu beeinflussen. Neutralität im Sinne einer völligen Zurückgezogenheit oder Nichtbeeinflussung des Lesers ist also auch beim Rahmenerzähler nicht gegeben171. Er stellt nicht die "Nullstelle im Koordinatensystem der Verhaltensweisen des Erzählers"172 dar, die für das neutrale Erzählverhalten erforderlich wäre. 169

Petersen, S.70. Zwar hat Petersen völlig recht mit der Feststellung, ein Ich-Erzähler müsse nicht die einmal gewählte Perspektive beibehalten, er könne auktorial und später personal auftreten, also die Sicht des erlebenden Ich wählen, S.72. Da es aber genau diese "Mischform" ist, die den Ich-Erzähler in den meisten Fällen, nicht nur in Ginevra, auszeichnet, bleibt die von Petersen angebotene Lösung unbefriedigend. 171 In diesem Zusammenhang sei kurz auf die skurrilen Überlegungen Fusseneggers zur Entstehung von Saars Rahmenerzählungen hingewiesen: "Er will die Fabel A gestalten, aber er findet sich nicht imstande, diese Fabel auf geradem Wege anzusteuern. In diesem Fall müßte er sich nämlich getrauen, auktorial aufzutreten in dem Sinn, daß die in der Fabel A vorgesehene Welt seine, des Autors, Welt sei", S.127. 172 Petersen, S.74. 170

168

Es sind daher nur die Begriffe Objektivität und Subjektivität, die sich hier sinnvoll verwenden lassen. Sie bieten die Möglichkeit, den Unzulänglichkeiten der bestehenden Terminologie zu entgehen. Die Wiedergabe einer subjektiv wahrgenommenen Realität durch den Ich-Erzähler wurde bereits detailliert beschrieben. Für den Oberst als Ich-Erzähler wäre also der Begriff des subjektiven Erzählverhaltens zu wählen173. Dieser Terminus beinhaltet mehr als die subjektive Perspektive des erlebenden Ich. Die Beeinflussung des Lesers geschieht ja nicht nur durch die zunehmende Übereinstimmung von erzählendem und erlebendem Ich, die unreflektierte Wiedergabe der subjektiv erlebten Wirklichkeit, die vom Leser erst auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden muß. Denn natürlich werden auch die Tatsächlichkeiten vom Ich-Erzähler vorgestellt, er erkennt sie nur nicht oder bewertet sie falsch. Ebenso subjektiv sind auch die distanzierenden Kommentare des erzählenden Ich, die zu Beginn der Erzählung deutlich werten. Auch das persönliche Hervortreten des erzählenden Ich während der Binnenerzählung läßt sich mit diesem Terminus fassen. Im Gegensatz dazu verhält sich der Er-Erzähler objektiv. Der sparsame Gebrauch von Adjektiven dokumentiert die Sachlichkeit, mit der die kurze Rahmenszene geschildert wird. Vornehmlich über den Oberst wird etwas ausgesagt. Er ist "nachdenklich" (11,11), "hochgewachsen" und "schlank" (11,10). Auch zum Schluß wird noch einmal seine "hohe Gestalt" (40,34) betont. Diese Aussagen des Er-Erzählers sind nicht anzuzweifeln. Absichtslos werden sie jedoch auch nicht gegeben. Die Größe, der militärische Rang des Ich-Erzählers stehen in einem merkwürdigen Widerspruch zu seinem Charakter, der durch Schwäche und Passivität gekennzeichnet ist174. So wird durch die objektiven Informationen des Er-Erzählers wieder auf das Spannungsverhältnis von Schein und Sein hingewiesen.

173

Stuben verwendet den Terminus der "subjektiven Erzählperspektive", S.254-260, definiert den Begriff der Erzählperspektive aber nicht näher und gebraucht ihn synonym zum point of view, geht aber andererseits auf den eigentlichen Bereich der Erzählperspektive, nämlich Innen- und Außensicht, nicht ein. 174 Noch deutlicher ausgeprägt wird dies durch die Gegenüberstellung einer Kontrastfigur, wie sie Leutnant Dorsner darstellt, s. S.185f.

169

b. Ginevra Die Diskrepanz zwischen der Schilderung des Ich-Erzählers und der dahinter verborgenen Tatsächlichkeit muß bei Ginevra als der ausgewiesenen Hauptfigur besonders groß sein. Zunächst fallen in ihrer äußeren Erscheinung einige Punkte auf, die so gar nicht mit der vom Oberst beschriebenen Zerbrechlichkeit und überirdischen Gestalt Ginevras harmonieren175. Statt des zu erwartendenen glockenhellen Soprans hat Ginevra eine "ganz eigentümlich tiefe und wohllautende Stimme" (18,18f.), die sich in auffälliger Art von den Stimmen der anderen Figuren in Ginevras Umfeld der Ballszene, die eher unangenehm wirken, abhebt. So hat die alte Frau an Ginevras Tisch eine "scharfe, beinerne Stimme"(l 7,23); die Stimme des Tanzmeisters entwickelt sich in einem langen Crescendo von Rufen (16,39) über Schreien (17,10) zu einem "höchsten Fisteltone" (17,16) und schließlich bei der Namensnennung Ginevras zum Kreischen (17,17). Tiefe Stimmen dagegen üben nicht erst seit Zarah Leander eine männlich-sinnliche Anziehungskraft aus. Auffallend hierbei ist die Parallele zu Maja aus der später entstandenen Erzählung Hymen116, die eine starke Erotik ausstrahlt: "besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine bezwingende Macht aus"177. Eine solch sinnliche Anziehungskraft ist jedoch ein deutliches Zeichen für Erdverbundenheit und paßt ganz und gar nicht in himmlische Sphären. Darüber hinaus klingt Ginevras Stimme auch nicht immer gleich. Beim letzten Zusammentreffen wird sie "herb"(39,22) als sie Emil abweist, verliert also ihre Wärme. Auch Ginevras "etwas kurze" (18,7) Nase weist auf irdische Unvollkommenheit hin. Vollends dem vom Ich-Erzähler suggerierten Ginevrabild widerspricht dann der "dunkle, metallische Glanz" (20,14f., 38,13) in ihren Augen in Momenten der Erregung, der Kälte und entschlossene Härte evoziert, nicht aber ein zartes, engelsgleiches Wesen. Offenbar unterscheidet sich Ginevra wesentlich von der Vorstellung, die sich Emil von ihr macht, aber auch von ihrer Umgebung, in der sie geschildert wird und den Rollenerwartungen, die an junge Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt werden. Hier fallen auch äußerlich Differenzen zwischen Ginevra und ihrem sozialen Umfeld auf. Beim Ball in Leitmeritz trägt Ginevra ein "einfaches, hellblaues Kleid" (15,39); dem gegenüber werden kurz zuvor "die zwar blühenden, aber plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen" (l 5,31 f.) geschildert. Das Haus, in dem Ginevra mit ihrer Mutter wohnt, wird vom Erzähler mit den Attributen 175

Zur Symbolik, die sich auf die tatsächliche Ginevra bezieht, s. S.205-209. Abgeschlossen wurde Hymen der Handschrift zufolge im März 1905, SW XII, S.67. 177 SW XII, S.80. 176

170

"Stille und Abgeschlossenheit" (27,29f.) versehen; es ist "ansehnlicher als die übrigen" (23,34f.). Darüber hinaus betonen Ginevra und auch ihre Mutter gegenüber Emil häufig ihre Unabhängigkeit, Ginevra urteilt über ihre Tischgesellschaft: "Aber sie wollen uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen" (19,9); für die Mutter bestünde die schlimmste Not darin, "in Abhängigkeit von fremden Menschen" (25,24f.) zu geraten. Der "Abgeschlossenheit" des Hauses entspricht das Leben von Mutter und Tochter: "wir sind hier vollständig für uns" (25,38f.). Wenig gesellschaftskonform zeigt sich Ginevra auf dem Ball: '"das Gerede der Leute soll mich wenig kümmern'", sagt Ginevra, "indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte" (20,21f.). Die gesellschaftliche Abseitsstellung Ginevras wird nicht verheimlicht: "Die Menschen hier hatten uns immer gewissermaßen als Fremde behandelt - und so sind wir es zuletzt geblieben" (19,33f.). In der Handschrift kam dies zunächst noch krasser zum Ausdruck: wir kennen nur wenige Menschen, denn wir haben immer sehr zurückgezogen gelebt, man hat uns von jeher gewissermaßen als Fremde betrachtet und Anfangs schien man uns sogar feindlich gesinnt gewesen zu sein, da wir aber niemals Ursache hierfür gaben, so ließ man uns endlich einfach bei Seite liegen. (H 561-5)

Zwar milderte Saar später die Drastik der Aussage, die Abgrenzung zur umgebenden Gesellschaft jedoch blieb bestehen. Auch räumlich wird das Verlassen der kleinbürgerlichen Enge sichtbar. Schon die Mutter weist darauf hin, daß man mit ein paar Schritten "ganz im Freien" (25,40) sei, und auch während der kurzen Idylle hält es Ginevra nicht im kleinen Garten, in dem nur die Mutter zurückbleibt, während die beiden "in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen" (28,8f.). Auch Ginevras Aktivität Emil gegenüber entspricht keineswegs den bürgerlich moralischen Konventionen der Zeit, ihre Handlungen zeigen ein hohes Maß an Zielstrebigkeit und Willensstärke. Ein kurzer Blick auf eine zeitgenössische Beschreibung der strengen Werbungsrituale läßt die Unterschiede zu Ginevras Verhalten deutlich hervortreten, wenngleich hier der "Idealfall" beschrieben wird: Dem Manne steht freilich allein das Recht der Bewerbung zu, er sucht aber vorher sich zu überzeugen, ob das Mädchen auch willig dazu ist. [...] Gewöhnlich sieht das Mädchen Gottes Willen in der Bewerbung des Mannes und unterdrückt jede andere Neigung, die es etwa hat. Es ist, als dürfte sie durchaus nicht eher an's Heiraten denken, bevor nicht der Mann sich gefunden hat, der um sie wirbt.178

Ginevra dagegen trennt sich gewaltsam von ihrem Tanzpartner: "Mit einem Ausdruck von Mißmut im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufatmend in einen nahen Stuhl" (16,llf.). Sie bringt ihm alles andere als 178

Büchsel, S.243.

171

Sympathie entgegen - "ich mag ihn gar nicht leiden" (19,23) - und sucht sich ihren Panner selbst aus: "Es war mir, als blicke sie dabei nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten" (16,12ff.). Von Beginn an ist sie diejenige, die die Fäden der Handlung in der Hand hat, die sich entwickelnde Beziehung lenkt und führt. Hierbei kümmert sie sich wenig um Konventionen, sie nimmt ohne weiteres das Angebot, sie nach Hause zu bringen, von einem ihr noch Fremden an. Goethes Gretchen reagierte auf dasselbe Ansinnen ihres Verehrers noch erwartungsgemäß ablehnend: "Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn"179. Im weiteren Verlauf ihrer Beziehung behält Ginevra die aktive Rolle, von ihr geht stets die Initiative aus. So auch bei der unvermuteten Frage an Emil, ob er es denn auch redlich mit ihr meine, die ihn völlig überrascht: "Ich gestehe, daß mich diese Frage einigermaßen betroffen machte. Denn ich empfand, das jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen" (23,15ff.). Zielstrebig ist Ginevras Vorgehen, das schließlich zum ersten Kuß führt. Emil verabschiedet sich und geht zur Tür, "von Ginevra mit dem Lichte begleitet" (27,21). Die Lampe stört jedoch im folgenden nur bei Ginevras Vorhaben: "Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus" (27,21ff.). Höflich wäre es gewesen, für den Gast den dunklen Flur zu beleuchten. Dann hätten allerdings ihre auffordernd ausgebreiteten Arme mit der Lampe in der Hand eher lächerlich gewirkt. Die Szene läuft also keineswegs spontan ab, sondern wird von Ginevra überlegt gestaltet. Die Frage oder eher Feststellung von Emils Liebe ist die konsequente, wenn auch für Emil wieder überraschende Fortführung: '"Sie lieben mich also?' fragte sie mit einem innigen Blick" (27,24). Nach dieser unverhohlenen Aufforderung kann selbst Emil nicht mehr anders, als Ginevra zu küssen. Wieder, wie schon bei der Stimmenassoziation, drängt sich der Vergleich mit Maja aus Hymen auf. In der Beziehung zu Sandek ist sie die nüchtern kalkulierende, treibende Kraft, so auch beim ersten Kuß: '"Sie lieben mich also?' Und als ich, ihre Hand ergreifend, dies beteuerte, erwiderte sie: 'Nun, dann will ich sie auch lieben'"180. Die Sachlichkeit, mit der hier vorgegangen wird, trifft bis in den Wortlaut hinein auch auf Ginevra zu. Da diese Kußszene als der einzige auftretende Ausdruck körperlicher Liebe zwischen Emil und Ginevra die zentrale Stelle der Novelle darstellt, kann das Resultat der Analyse nicht hoch genug gewertet werden: das sachliche und nüchtern kalkulierte Einsetzen der Sexualität von Seiten Ginevras. Auch in diesem Punkt 179 180

Goethe, Bd.3, Faust I, V.2607f., S.84. SW XII, S.80.

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war Saar in der Handschrift zunächst zu deutlich geworden. Zu Emils Eröffnung seines baldigen Abschieds und der Hoffnung auf Urlaub bemerkt Ginevra, daß sie sich der "Wiedervereinigung" (H 71,33) freuen könnten, ihm "tief in die Augen blickend" (30,26) und damit offenkundig künftige Sinnesfreuden verheißend. Um die zu direkte Anspielung zu vermeiden, wählte Saar das neutralere "Wiedersehen" (H 71,33). Über Ginevras zielgerichtete Handlungsweise hinaus zeigt die Abschiedsszene zwischen Emil und Ginevra auch ihren starken Willen, das einmal Erreichte zu bewahren: "So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt und mit ihren heißen Tränen benetzte, dann riß ich mich los" (31, l Of.). Auch in diesem Fall milderte Saar in der Handschrift die Deutlichkeit der Aussage dieser Szene, als er Ginevras "fast schreiendes Weinen" (H 72,27; H 72,31) tilgte. Die Vorstellung Emils von Ginevra geht jedoch, wie schon gezeigt, in eine völlig andere Richtung. Sie basiert ausschließlich auf einer vergeistigten Anbetung der Reinheit und jungfräulichen "Hoheit". Im Gegensatz zu Ginevras späteren Mann nimmt er weder Ginevras angedeutete geschlechtliche Bereitschaft wahr, noch läßt er ähnliche Gefühle auf Dauer bei sich selbst zu. Schließlich wird dem Leser die hier nur angedeutete normale Sexualität Ginevras durch eine kurze und unauffällige Bemerkung am Ende des Rahmens deutlich vor Augen geführt: "Auch gesehen glaube ich sie zu haben und zwar während der Wiener Weltausstellung [...] mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter" (40,21-24). Allein schon die Existenz dieser Tochter verdeutlicht den Kontrast zwischen der Illusion Emils und der "profanen" Realität. Darüber hinaus zeigt die Möglichkeit der exakten Datierung - 25 Jahre liegen zwischen der beginnenden Revolution und der Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 -, daß Ginevra ihrem Emil nicht sehr lange nachtrauerte. Auf diese Weise erhält auch die Zeit einen verweisenden Stellenwert. Für Ginevras Charakter kann zunächst über ihr normal geschlechtliches Empfinden hinaus festgehalten werden, daß das zeittypische Rollenverhalten zwischen Mann und Frau hier umgekehrt wird. Ginevra ist diejenige, die stets die Initiative ergreift und ihre Ziele mit geschickter Berechnung verfolgt. Die Gründe für Ginevras ausgeprägte Willensstärke und Energie sind zum großen Teil bei ihrem Vater zu suchen, die enge Beziehung zu ihm fällt sofort ins Auge: ihm gleicht Ginevra sowohl äußerlich als auch "in allem und jedem, was den Charakter betrifft" (25,7f.). Dieser Vater zeichnet sich ebenfalls durch große Zielstrebigkeit und Geduld bei der Verfolgung seiner Pläne aus. Zunächst liefert Ginevra erste Informationen über ihn:

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er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können. Sie besaßen beide kein Vermögen. Es wurde dem Vater sehr schwer, eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubringen. (18,34-37)

Auch die Mutter erwähnt ihren verstorbenen Mann, mit dem es vor der Heirat "zu geheimen Zusammenkünften" (24,22f.) gekommen war: "Man hatte meine Heirat nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben" (25,29f.). Die zeitbedingt als typisch männlich angesehenen Eigenschaften Ginevras wie Entschlossenheit und zielstrebige Initiative lassen sich so als Erbe ihres Vaters erklären, sie stehen jedoch in auffälligem Gegensatz zu dem von Emil suggerierten Bild Ginevras. Historisch bedingte Sozialstrukturen und Moralvorstellungen sind jedoch auch von Ginevra nicht völlig zu abstrahieren. Sie setzt sie zum Teil gezielt für ihre Zwecke ein, zum Teil wird sie auch von ihnen geprägt. Ein wichtiges Element bei der Eroberung Emils sind Ginevras hausfrauliche Fähigkeiten. Die Mutter weist lobend darauf hin: "Sie muß ja überall mit angreifen" (2519f.). Die Prozedur des Kaffeeservierens wird eingehend beschrieben (26,15-18). Da der Einfall, Emil ihr Zimmer zu zeigen, nicht spontan kommt, entspricht der Anblick des Raumes auch Ginevras Vorstellungen. Ein "mit Weißzeug überhäufter Nähtisch" (26,29), Ginevras zusätzlicher Hinweis auf ihre Nähkunst und schließlich die bescheidene Beurteilung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten - "es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen" (27,14) - dienen der Unterstreichung von Qualitäten, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Attraktivität heiratsfähiger und -williger Frauen erheblich steigerte. Innerhalb der Handschrift wurde diese Selbstdarstellung Ginevras zunächst noch stärker angelegt, dann aber gestrichen: "Früher verstand ich es nicht - und jetzt giebt mir unser kleines Hauswesen dauernd zu schaffen, daß ich tagsüber nicht daran denken kann, etwas zu lesen. Abends aber fallen mir bereits vor Müdigkeit die Augen zu" (H 67,9-12). Hier glaubte Saar offensichtlich zu direkt geworden zu sein. Doch neben der Fähigkeit, gesellschaftliche Verhaltensmuster für ihre Zwecke einzusetzen, zeigt Ginevra auch ein hohes Maß an Integration in diese Gesellschaft. Als Emil am Ende versucht, Ginevra zu einer Versöhnung zu bewegen und vor ihr niederknien will, ruft sie: "'Es ziemt sich nicht zwischen uns" (39,23). Hiermit bezieht sie einen allgemein moralischen Standpunkt, sie lehnt nicht subjektiv ab, sondern argumentiert mit der bürgerlichen Moral. Auch hier wird das Bild der überirdischen Ginevra decouvriert.

174

c. Lodoiska Auch bei Lodoiska ist die Frage nach ihrem tatsächlichen Wesen zu stellen181. Auffallend ist zunächst ihr angedeuteter Sadismus: "Sie mochte in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständnis lesen, und ein Ausdruck grausamen Triumphes überflog ihre Züge" (36,12ff.). Er äußert sich ebenfalls in den "Anlässen zu beschämender Eifersucht" (37,37), die Emil empfindet. Auch gegenüber Lodoiska zeigt sich Emil in unterwürfiger, anbetungsvoller Pose: "Ich sank ihr zu Füßen" (36,21). In diesem, an Masochismus grenzenden Verhalten erinnert er an eine Figur Sachers-Masochs, den Saar gut kannte und schätzte182. Es ist Severin, der Protagonist der Venus im Pelz, der sein Liebesideal zusammenfaßt: "Ich will ein Weib anbeten können, und das kann ich nur dann, wenn es grausam gegen mich ist"183. Emil war schon nach kurzer Zeit "in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, mich mit all den Qualen zu erfüllen, welche ähnliche Beziehungen mit sich bringen" (36,23ff.), und dennoch oder auch deshalb184 dau181

Symbolische Verweise deuten auch bei Lodoiska auf die Tatsächlichkeit hin, s. S.209ff. Auskunft über Saars hohe Meinung über Sacher-Masoch geben zum Beispiel einige Passagen aus seiner Korrespondez mit der Fürstin Hohenlohe: "Meiner Meinung nach ist Sacher das g e n i a l s t e und wirklichste Erzählertalent der Gegenwart (in Deutschland natürlich!); zu beklagen ist, daß er im innersten Mark nicht gesund ist - und neben den herrlichsten Blüthen u. Früchten auch sehr wunderliche Auswüchse zu Tage fördert" (BrW 14). "Da ich nun den großen russischen Meister [Turgeniew] genannt habe, so will ich Ihnen sagen, daß ich jetzt in Frohnleiten seinen talentvollsten Jünger oder, wie ihn Manche, ich glaube mit Unrecht, nennen, Nachahmer kennen gelernt habe. Ich meine Sacher-Masoch" (BrW 12). Als zu weitgehend muß man allerdings die Behauptung Klausers bezeichnen, daß "das Vorbild des Schriftstellers Leopold von SacherMasoch" entscheidend sei "für Saars extrem pessimistische Einstellung gegenüber der Liebe". Klausen Poet, S.162. 183 Sacher-Masoch, S.38. 184 Emils Hang zum Masochismus erinnert bereits sehr an die Liebesästhetik der Decadence, zu vergleichen und wiederzufinden etwa in der Lyrik eines Felix Dörmann: "Ich liebe die hektischen, schlanken Narzissen mit blutrotem Mund; Ich liebe die Qualengedanken, Die Herzen zerstochen und wund; Ich liebe die Fahlen und Bleichen, Die Frauen mit müdem Gesicht, aus welchen in flammenden Zeichen, Verzehrende Sinnenglut spricht [...] Ich liebe, was niemand erlesen, Was keinem zu lieben gelang: Mein eigenes, urinnerstes Wesen Und alles, was seltsam und krank". Dörmann, S.22. 182

175

ert die Beziehung bis zum Zeitpunkt der Rahmenerzählung an: "Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht" (40,37f.)185. Ob als marienähnliche Heilige wie Ginevra oder als despotisch-grausame "Göttin" wie Lodoiska, die von Emil "angebeteten" Frauen bleiben Illusion, entsprechen nicht der Wirklichkeit. Denn abgesehen von Emils eigenen Illusionen durchschaut er auch bei Lodoiska nicht die Fassade, mit der sie sich umgibt. Während Sacher-Masochs Wanda als echte Schönheit Selbstsicherheit verkörpert, weiß Lodoiska um ihre vergehende Attraktivität, ihre Überlegenheit ist aufgesetzte Maske, Fassade. Sie ist stets Mittelpunkt reiner Männergesellschaften, stellt junge Männer dem eigenen Alter entgegen, versucht "den unnachsichtigen Gesetzen des Daseins zu entrinnen"186 und fürchtet weibliche Konkurrenz: "Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen" (33,4ff.). In bezug auf Emil hat sie Ginevra als Rivalin zu fürchten, nach der Ermittlung der großen räumlichen Distanz zwischen Ginevra und Emil gilt ihre wichtigste Frage der Jugend: "Ist es ein junges Mädchen?" (33,30f.). Aus dem Wissen um ihr leicht verwittertes Gesicht (32,27) resultiert ihre Vorliebe für Schlittenfahrten (37,4), wo sie, tief vermummt, gegen allzu kritische Blicke geschützt ist. Aus diesem Grund besucht sie auch keine großen Tanzveranstaltungen, es sei denn, es handelt sich um Maskenbälle: Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, wo damals die Damen weniger durch ihre Toiletten, als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen suchten und sich den Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. (37,28-32)

Mit ihren aufgezeigten Eigenschaften verkörpert Lodoiska einen häufig auftretenden literarischen Typus des fin du siecle187. Der "Reiz des Verfallenen"188, das Morbide als Motiv der Decadence ist bei späteren Erzählungen Saars noch stärker ausgeprägt. In seiner 1897 erschienenen Erzählung Requiem der Liebe wird die bei Lodoiska erkennbare Verführungskraft des Verfalls in der Figur der Paula erneut hervorgehoben: 185

Diese Passage wurde von Saar erst anläßlich der Ausgabe N3 eingefügt, so daß sich der masochistische Zug Emils verstärkt. 186 Müller-Funk, S.15. 187 Hierzu gehört auch Lodoiskas Vorliebe für Chopin, vgl. Hamann, S. 157: "Zwei andere Leitbilder dieser impressionistischen und zugleich dekadenten Musikbegeisterung sind Wagner und Chopin. [...] Auch bei Chopin interessiert man sich vorwiegend für das Ineinander von Weltschmerz und Harmonieverlangen und "genießt" daher seine "träumerischen Balladen und dunkel überschatteten Walzer". 188 Rasch, S.110. Dieser Frauentypus im Zusammenhang mit der glänzend untergehenden Monarchie zieht sich durch die österreichische Literatur bis hin zu der Figur der Valerie von Taußig aus Joseph Roths Radetzkymarsch.

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Die Züge hatten eine scharfe Deutlichkeit angenommen, die Wangen zeigten sich eingesunken, und mißfarbige Ringe lagen um die großen, lang und weit geschlitzten Augen. Und doch — wie schön, wie unsäglich schön war dieses Antlitz noch immer! Ja, in seiner Verfallenheit, seiner krankhaften Blässe noch interessanter, noch ergreifender als damals.189

Die starke Betonung der Sexualität in diesem Zusammenhang schließlich entspricht dem Typus der femme fatale190. Hier wird die Sexualität zur stärksten Triebkraft191, durch ihre Exzentrik, ihre Grausamkeit verkörpert die femme fatale Wunsch- und Schreckbild zugleich192, bei Emil bedeutet dies die Mischung aus "Schreck" und "Wohlgefallen".

d. Der zeitgeschichtliche Hintergrund Stets hat Saar mit Nachdruck darauf verwiesen, in seinen Novellen österreichische Zeitgeschichte zu dokumentieren193. Er selbst stellte sich in diesem Zusammenhang in eine Reihe mit Anzengruber und Hamerling, ohne qualitative Unterschiede ignorieren zu wollen: "daß Hamerling, Anzengruber und ich (möge man nun unsere dichterischen Begabungen wie immer abstufen) doch zusammen gehören wie die drei Blätter eines Kleeblattes"194. 189

SW X, S. 110. Lodoiska ist innerhalb der Charaktere der Prosa Saars keine singuläre Erscheinung. Die bereits erwähnte Paula etwa im Requiem der Liebe vereinigt die Eigenschaften der femme fatale und der femme fragile gleichermaßen in sich. Ausführlich dazu: Bittrich, Burkhard: Ein weiblicher Janus aus Döbling. In: Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Heimo Reinitzer. Bern/Frankfurt am Main/ New York/Paris 1987. S.405-415. 191 Rasch, S.67. 192 Ebda, S.75. 193 "Die künstlerischen Mängel werden aber einigermaßen dadurch aufgewogen, daß die Novellen österreichische Geschichte und Culturgeschichte im Laufe der letzten 30 Jahre in fein und sauber ausgeführten Gestalten bringen". Brief an Necker vom 22.3.1892 (BrW 41). 194 Brief an Necker vom 29.4.1893 (BrW 47). Langfristige gesellschaftliche Entwicklungen wie der Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen sind nach Saars Meinung auch unter dem seine Novellen charakterisierenden zeitgeschichtlichen Aspekt abzulesen: "Wie traurig sich das Loos der Deutschen in Prag - und vor allem das der Deutschen Universität gestaltet hat, vermag ich ganz und voll nachzuempfinden. Es war eine lang verschleppt gewesene Catastrophe, die nun mit plötzlicher Vehemenz eingetreten ist. Ihre langsame und schrittweise Vorentwicklung kann auch zum Theil meinen 'Novellen aus Oesterreich' entnommen werden [...]", Brief an August Sauer vom 13.12. 1897 (BrW 56). August Sauer (1855-1926), Germanist und Kulturpolitiker, Professor an der Prager Deutschen Universität, war Mitherausgeber der "Prager" Stifterausgabe sowie der von 1909 bis 1948 entstandenen historisch-kritischen Grillparzerausgabe, bis zu seinem Tod Leiter der Zeitschrift Euphorien. 190

Ill

Zweifellos hat der sozialhistorische Hintergrund auch in Ginevra seinen Stellenwert, der allerdings nicht losgelöst von tiefergehenden Schichten gesehen werden kann195. So sind die zeitliche Bindung der Erzählung und indirekt angesprochene Datierungen nicht nur historisch interessant, sondern sie lassen sich aufgrund ihres zusätzlichen symbolischen Gehaltes auch hermeneutisch auswerten. Zwar wird im ersten Kapitel der zeitliche Rahmen noch grob abgesteckt, die Erzählung ist in die "Vierziger Jahre" (11,24) einzuordnen, am Ende der Binnenerzählung ist sie jedoch exakt zu datieren: durch die Pariser Februarrevolution, die "Europa in Bestürzung versetzt hatte" (37,26f.) sowie die "stürmischen Ereignisse" (40,9) der Märztage, die im letzten Kapitel angedeutet werden, ist der Schluß der Binnenerzählung zeitlich auf das Jahr 1848 zu präzisieren, die Zeit in Leitmeritz liegt hier bereits zwei Jahre zurück (37,25). Zuletzt wird von Ginevra im Rahmenschluß berichtet: Emil glaubt, sie während der Wiener Weltausstellung (40,22f.) gesehen zu haben, die im Jahr 1873 stattfand. Zusammen mit den realen Orten des Geschehens bewirken diese belegbaren Fakten zusätzlich zur Form der Ich-Erzählung den Eindruck des tatsächlich Erlebten. Saar ist jedoch mit Recht immer der Ansicht entgegengetreten, er hätte seine eigene Biographie und persönliche Erlebnisse in seinen Novellen verarbeitet196. Erweckt auch die scheinbare Aufkündigung des fiktionalen Konsens zwischen Autor und Leser den Anschein einer objektiven Wahrheit, so steht dies gerade in Ginevra im direkten Bezug zum Kern der Erzählung und enthebt den Leser nicht von der Notwendigkeit, hinter die Fassade zu blicken. Im Zusammenhang mit der vorrevolutionären Situation zu Anfang des Jahres 1848 wird konkret auf die gesellschaftliche Situation der Zeit angespielt: "Obgleich die Pariser Februarrevolution Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand" (37,26ff.). Auch diese Passage läßt sich zunächst als Kritik an der Verbohrtheit und Blindheit des Adels lesen, 195

Bei aller notwendigen Berücksichtigung des sozialhistorischen Umfeldes führen Untersuchungen, die sich mit dieser Fragestellung begnügen, zu unbefriedigenden oder falschen Ergebnissen. So wertet Schadauer die subjektive Sichtweise des Erzählers in Ginevra, seine Urteile über das Bürgertum beim Ball als Faktizität, s. Schadauer, S. 19. Ebenfalls an der Oberfläche bleibt Gaßner (S.62), die jedoch dieselbe Passage richtig einzuschätzen weiß: "Ganz anders, durch die Augen des verstimmten Offiziers, ist das Bild der deutschen Bürger von Leitmeritz gesehen". 196 So schreibt er am 14.5.1897 an Altmann: "Er [Minor] ist so naiv zu glauben, daß ich, was ich da geschildert, wirklich Alles selbst erlebt hätte - alle Personen wirklich vor mir gehabt! Fast das Gegenteil ist wahr! Denn mit Ausnahme der Marianne - und im Herbstreigen., wo Portraits angebracht sind, hat keine einzige meiner Novellengestalten wirklich existirt." BW Altmann, S.141. 178

wie sie auch in Herr Fridolin und sein Glück anklingt197. Diese zunächst rein realistisch wirkende Anspielung auf die Zustände kurz vor Ausbruch der Revolution steht darüber hinaus in Zusammenhang mit der großen Thematik von Schein und Sein, Täuschung und Tatsächlichkeit, die hier gesamtgesellschaftlich ausgeweitet wird. Bedeutete doch die 48er Revolution das Ende des Biedermeier, jener Zeit, in der sich große Teile des Bürgertums in die Behaglichkeit einer zweifelhaften häuslichen Idylle zurückzogen, aber auch die Aristokratie die sich anbahnenden Umwälzungen nicht wahrnahm oder wahrhaben wollte198. Die Beschreibung des 13. März durch Moriz von 197

vgl. Kaiser, S.166f., und Rossbacher, S.127-135. Beide sehen Saar hier in Übereinstimmung zur Meinung des Kronprinzen Rudolf in seiner anonoym verfaßten Adelskritik aus dem Jahr 1878: Der Österreichische Adel (vgl. hierzu Brigitte Hamann: Rudolf. Kronprinz und Rebell. Wien/München 1978. S.98-101). Darüber hinaus sieht Rossbacher auch im Kampf um das Konkordat von 1855 deutliche Parallelen zwischen der Meinung Saars und der des Kronprinzen, s. S.189f. Durch die häufig zu undifferenzierte Verwendung des Liberalismusbegriffs bietet Rossbacher für die Diskussion nicht nur altbekannte Positionen wie zum Beispiel im Hinblick auf die Rolle Schopenhauers, die soziale Frage oder den Antisemitismus, er zeichnet zudem ein verzerrtes Bild der Auffassungen Saars. Wenngleich beide die Ablehnung von Antisemitismus und Klerikalismus verband, so läßt sich die von ihm erweckte Vorstellung, Saar hätte mit den politischen Ansichten des Kronprinzen sympathisiert, auch abgesehen von Rudolfs Fortschrittsgläubigkeit und Saars Skeptizismus nicht aufrecht erhalten. Saars Stellungnahme zum Selbstmord Rudolfs in einem Brief an Betty Paoli vom 9.2.1889 läßt die Distanz zum Kronprinzen deutlich werden, denn es ist der Kaiser, der hier Saars ganzes Mitgefühl besitzt: "Die Tragödie in Habsburg hat auch mich aufs tiefste erschütten. Unser Kaiser sollte in der Geschichte wirklich Franz Joseph der Unglückliche heißen. Ich bedauere - und bewundere ihn. Über den Todten habe ich kein Unheil, und bei dem Geheimniß, das über der Sache schwebt und bei den abenteuerlichen horrenden Gerüchten, die in dieser Hinsicht verbreitet sind, ist es auch ganz unmöglich, sich ein Unheil zu bilden. Das Ereigniß selbst aber ist auch ein 'Zeichen der Zeit', in der wir leben ..." (BrW 48). Zu Saars Konservativismus vgl. auch Magris, S. 195. Mit den letztlich pauschal verwendeten Begriffen 'liberal' und 'Liberalismus' wird man den unterschiedlichen Auffassungen der von Rossbacher behandelten Autoren nicht gerecht. Ebenfalls simplifizierend in seiner Tendenz ist das von Schorske vermittelte sozialliberale Weltbild Saars: "Saar wurde niemals Sozialist, aber er hatte teil an dem sich entwickelnden Bewußtsein einer notwendigen Sozialreform, das den österreichischen Schauplatz der achtziger Jahre bestimmte. In Gedichten und Erzählungen berichtete Saar vom Elend der Arbeiter, zunächst mit der moralischen Lektion, daß die Großzügigkeit des einzelnen dieses Elend lindern könne ('Die Steinbrecher' [!])". Schorske, S.284. Auch die Sammlung Schicksale sieht Schorske (S.285) verflachend unter dem rein gesellschaftspolitischen Aspekt: "Freimütig beschreibt Saar alle sozialen Schichten mit dem Ziel, die moralischen und psychologischen Folgen sozialer Mobilität darzustellen". 198 Dasselbe Phänomen ist nach der Meinung von Magris gegen Ende des vorigen Jahrhunderts auch während des zunehmenden Zerfalls des k.u.k. Reiches zu beobachten: "Wenngleich man in der Operette, der Maskerade und den Wellen der blauen Donau

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Ebner-Eschenbach gibt ein gutes Beispiel für die völlige Überraschung von Adel und Heer: Meinen ernsten Studien obliegend, hatte ich mich um Politik blutwenig gekümmert. [...] So glaubte ich nur einen albernen Tratsch zu vernehmen, als am 13. Maerz Vormittags mein Laborant mit der Nachricht in mein Handlaboratorium trat, es sei Revolution in der Stadt ausgebrochen.199

Für viele bedeutete die Revolution von 1848 das Ende einer Scheinwelt, einer inszenierten Wirklichkeit, ein historischer Prozeß, den Saar weder im Sinne eines reinen Zeitzeugen noch als bloße Kulisse einsetzt, sondern der eng mit der tieferen Symbolik verflochten ist. Unterschwellig wird die soziale Realität und Problematik der Beziehung zwischen Emil und Ginevra angedeutet. Emil weiß um den gesellschaftlichen Druck, der ihn erwartet, verdrängt ihn jedoch schnell: Gerade von meinem Oheim hatte ich, für's erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältnis stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswert erscheinen konnte. Um dieses unangenehme Bewußtsein zu übertäuben, sagte ich rasch [...]. (30,14-19)

Auch im Gespräch über Ginevras Vater wird die Problematik einer finanzschwachen Verbindung in Offiziers kreisen kurz erwähnt: "er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können" (18,34f.). Tatsächlich hatte das Militär bei der Heirat von niederen Offizieren ein wichtiges Wort mitzureden. So berichtet zum Beispiel Otto von Corvin von den Verhältnissen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: [...] bei seiner [des Offiziers] Heirat ist das ganze Korps beteiligt [...] so hat sich denn die Regierung das Recht beigelegt, daß zu der Heirat eines Offiziers der Konsens von ihr eingeholt werden muß [...]. Die Erteilung dieses Konsenses hängt von mancherlei Bedingungen ab. [...] das heiratslustige Paar muß außer dem Leutnantsgehalt die Zinsen seines Kapitals von 12000 Talern jährlich zu verzehren haben. Es genügt ferner nicht, daß das Mädchen von unbescholtenem Rufe ist; sie darf auch nicht sich durch ehrliche Arbeit erhalten haben [...]. Will ein Leutnant ohne Vermögen heiraten, so muß er warten, bis er Hauptmann wird.200

Lodoiskas Behauptung: "Sie wären vielleicht gezwungen, ihre ganze Karriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen" (36,3f.), hat also einen realen Hintergrund, und auch Dorsners Rat im Hinblick auf Ginevras Armut: auch zu vergessen suchte, daß die Existenz der Monarchie die eines Kadavers war, so entging den tiefer blickenden Menschen doch nicht die Wahrnehmung des unerbittlichen Endes", S.194. 199 Ebnen Erinnerungen, S.26. Ebners späteres Engagement in der sozialen Frage und seine Kritik am Kaiserhaus liegt zum guten Teil in seinen Erfahrungen aus dieser Zeit begründet. 200 Corvin, Bd.l,S.136f.

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"Gib acht, daß du nicht hängen bleibst" (20, l Of.) ist nicht zuletzt aus dem Wissen um die innermilitärischen Verhältnisse zu erklären. Wenn sich Emil auch die entstehenden Konsequenzen aus einer möglichen Verbindung mit Ginevra nicht konkret bewußt macht, so sind sie doch die Erzählung über präsent. Gerade der Vergleich mit Ginevras Vater in ähnlicher Situation verdeutlicht die Unfähigkeit Emils, konsequent zu agieren. Das einleitende Gespräch Emils mit Ginevras Mutter läßt ebenfalls überaus reale Ziele erkennen, die zwar zunächst zeittypisch sind, dann jedoch auch im Dienst der thematisierten Illusion stehen. Die Schwerpunkte und Bemerkungen, die die Mutter während dieses Gespräches setzt, sind für ihre Motive aufschlußreich. Zunächst gesteht sie ein, daß eine so schnelle Einladung zumindest ungewöhnlich sei: "wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben" (24,15f.). Sie spricht ihre Lebens Verhältnisse an und ihr Streben nach Unabhängigkeit. Auffällig ist ihr scheinbares Desinteresse an Emils Person: "So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die feinfühlige Frau in dieser Hinsicht jede Frage vermied" (26,lff.). Die Reaktion auf Emils Ausführungen ist allerdings eindeutig: "Ich sehe, daß sie aus vornehmer Familie sind" (26,4f.). Ein Blick in die Handschrift zeigt, daß Saar ein planvolles Vorgehen der Mutter zunächst stärker andeutete, dann aber tilgte: "obgleich die fein{sinnnige}(fühlige Frau) {wie ich merkte, absichtlich vermied in dieser Hinsicht Neugierde zu verrathen}" (H 65,5ff.). Die Vermutung einer durchdachten Gesprächsführung, die "Absicht" wird durch die Äußerung der eintretenden Ginevra gestützt: "Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter" (26,10). Durch ihr Fernbleiben gibt sie der Mutter die Möglichkeit, sowohl Ginevras hausfrauliche Fähigkeiten hervorzuheben, als auch die nötigen Informationen wie Herkunft und Lebensverhältnisse als Voraussetzung für ihre Zustimmung zu erhalten. Äußerlich ist ihr ein solch zielgerichtetes Vorgehen kaum zuzutrauen: "Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen" (24,33f.). Auch die Mutter unterscheidet sich also von ihrem gezeichneten Bild. So eng ist sie mit Emils Verhältnis zu Ginevra verwoben, daß Emil, als er vom Tod der Mutter erfährt, die Möglichkeit der Mitschuld sieht, obwohl Ginevra einen Rückfall als Begründung angibt: "Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen" (38,24). Als von Saar beabsichtigte Spekulation zieht der Leser analog zu Emil die Parallele vom Tod der Mutter zu dessen gescheitertem Verhältnis zu Ginevra, womit sich für die Mutter die Hoffnung verband, ihre Tochter finanziell abgesichert zu verheiraten. In diesem Zusammenhang ist es sehr auffällig, wie schnell Emil in die Familie integriert wird; "carissima madre" (29,10) nennt er die Mutter bereits nach kurzer Zeit. Auch hier zeigt sich die unterstützende, wenn auch 181

stets diskrete Initiative der Mutter. Obwohl die so geförderte Verbindung zwischen Emil und Ginevra nicht zustande kommt, stellt Ginevra letztlich doch noch einmal ihren Realitätssinn unter Beweis, indem sie einen Triestiner heiratet, der eine "glänzende Stellung in Egypten" (40,21) innehat.

3. Die "Erfindung" des Dichters Es ist ein kennzeichnendes Merkmal des poetischen Realismus, daß sich hinter der in den Dichtungen dargestellten Realität Symbolschichten verbergen, die über diese wirklichkeitsgetreue Schilderung weit hinausgehen. Einige der Autoren dieser Zeit wählten für diese besondere Art der Verschlüsselung individuelle - und zuweilen auch mißverstandene - Begriffe, die jedoch letzten Endes alle in die gleiche Richtung führen. Kellers Begriff des "Parabelhaften"201 etwa ist hier neben Fontanes "Verklärung"202 und Stifters "wirklicher Wirklichkeit"203 zu sehen. Auch Saar hat stets betont, daß er nicht bei der plakativen Wiedergabe von Zeitgeschichte stehengeblieben sei204. Aufschlußreich sind hierzu seine Äußerungen in Briefen an Altmann. Am 6. November 1896 schreibt er: "So erhalten denn meine Novellen das Gepräge des Selbst- oder Miterlebten, das die Lesewelt geringer anzuschlagen pflegt, als sogenannte 'frei erfundene' Kunstwerke. Wie viel 'freie Erfindung' wie viel 'Kunst' in diesen meinen Arbeiten steckt, ahnt man nicht einmal"205. Im folgenden Jahr verwendet er die beiden Begriffe "Kunst" und "Erfindung" im gleichen Zusammenhang wieder: Unlängst sagte mir ein Briinner Statthaltereirath über den Trojan: "wenn Sudermann auf diesen Stoff (!!) gestoßen wäre, hätte er einen ganzen Roman daraus gemacht". Der Gute meinte eben, ich hätte ein wirkliches Ereigniß bloß "berichtet". So urtheilt aber (zu meinem Schaden) auch das Publikum - und hat keine Ahnung, welche Kunst und E r f i n d u n g in meinen Geschichten steckt.206

Die "Erfindung" ist also als ein von Saar selbst gewählter Terminus im Hinblick auf die für seine Novellen charakteristische Mehrschichtigkeit definierbar. Mit diesem Begriff läßt sich die im folgenden zu behandelnde Tiefen201

Kellen Briefe, /1, S.57: "die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, d.h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen". 202 Z.B. Fontäne, Bd.l, S.910. Vgl. auch S.223f. 203 Stifter, XIII/2, S.288f. 204 Vgl. hierzu auch Polheim: Erzählkunst, S.16f. 205 BW Altmann, S.67f. 206 Brief an Altmann vom 14.5.1897. BW Altmann, S.142. 182

dimension, zu der auch die Form und die Konfiguration gehören, von der bereits aufgezeigten Schicht der Täuschung und Tatsächlichkeit sowie der Zeitgeschichte, die innerhalb des Textes natürlich auch fiktiv und von Saar "erfunden" ist, abstrahieren. Der Reiz Ginevras liegt nicht in der Einzigartigkeit des Stoffes oder der erfundenen Handlung. Es ist die Kunst des Übergangs, das bereits nicht mehr rein poetisch-realistische Erzählen und doch noch nicht der Wiener Moderne zugehörige, die daraus resultierende Vielschichtigkeit der Erzählung, die Polheim auch für den Brauer von Habrovan feststellte: die nahtlose Vereinigung der unterschiedlichsten Bezugsweisen: realistischer und historischer, psychologischer und sogar tiefenpsychologischer, philosophischer und mythologischer zu einem kunstvoll gebauten, geschlossenen Ganzen, das uns scheinbar doch nur als schlichte Erzählung entgegentritt, - das ist die Erzählkunst Ferdinand von Saars.207

Hinzu kommt hier das bis in die Erzählstruktur und die Nebenfiguren getragene Spiel mit der Wahrheit, die Reibung von Fiktion und Realität, bei der sich der Leser zuletzt nicht einmal mehr auf den Erzähler verlassen kann. Saar beschreibt realistisch und läßt diese Realität doch gleichzeitig als eine unwirkliche erscheinen. Letztlich ist hier das alte und sich lang haltende Urteil Nadlers erneut zu widerlegen, das sich mit der Oberfläche von Saars Erzählkunst begnügt: "Erzählung ist bei Saar Bericht. [...] Saars Kunst ist genau das, was der 'Naturalismus1 gemeint hat, lange zuvor, ehe es in Berlin diese 'Bewegung' gab"208.

a. Die Konfiguration In der bisherigen Forschung wurde Ginevra überwiegend gedeutet als eine Polarisation von Tugend und Laster, verkörpert von Ginevra und Lodoiska. Zwischen beiden steht Emil, zunächst hin- und hergerissen und sich dann für die verführerische Lodoiska entscheidend. Somit wurde ein Dreiecksverhältnis konstruiert, wie es ähnlich auch im Sündenfall oder Marianne^09 erscheint, auch Kaiser spricht bei Herr Fridolin und sein Glück von einem "triangle erotiqite"210. Die einzelnen Konstellationen der Beteiligten des 'Dreiecks' lassen jedoch bereits Parallelen untereinander erkennen, durch 207

Polheim: Erzählkunst, S.40f. Nadler, S.356f. Nadler bezieht sich hier auf Oskar Walzel, der schon 1898 schrieb: "Lange ehe in Deutschland von Naturalismus die Rede war, ja schon in der ersten Novelle von 1866 machte sich bei Saar ein Drang nach Darstellung des Wirklichen geltend". Walzel, Sp.1310. 209 Vgl. Kopp, S.212f. 210 Kaiser, S.221. 208

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gleichartige Funktionen der Nebenfiguren und ihr Verhältnis zu den Protagonisten ergibt sich schließlich ein gänzlich anderes Bild. Durch diese "Bezüge, Einflüsse und Abhängigkeiten"211 entsteht die endgültige Konfiguration. Im Vergleich zu den beiden anderen Frauenfiguren Kommandantentochter und Lodoiska nimmt Ginevra schon in ihrer Eigenschaft als Titelfigur eine deutlich exponierte und damit primäre Stellung ein. Abgesehen vom ersten Kapitel ist sie die gesamte Erzählung hindurch präsent. Auch im Verlauf des fünften Kapitels, das größtenteils im Zeichen Lodoiskas steht, spielt sie in den Gedanken und Gesprächen des Ich-Erzählers eine große Rolle. Lodoiska dagegen erscheint nur in den Kapiteln fünf und sechs, wobei im letzten Kapitel Ginevra erneut im Vordergrund steht. Von der Kommandantentochter ist nur retrospektiv die Rede, sie erscheint also nie persönlich, dennoch erfüllt diese Episode mit ihrem Prologcharakter und den Parallelen zum späteren Geschehen eine wichtige Funktion. Emils ständige Präsenz als Ich-Erzähler und handelnde Figur läßt ihn dennoch nicht in Konkurrenz zu Ginevra in der Frage der Hauptperson treten. Häufig tritt er in den Hintergrund, wird zum Betrachtenden. Die Position, die er zunächst beim Ball in Leitmeritz einnimmt, ist hierfür symptomatisch: "Ich selbst hatte mich, hinter einer Reihe von Zuschauern, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurücksank" (15,27ff.). Auch die folgende Passage zeigt Emils Randposition, aus der er nur von außen - hier durch den Tanzmeister - ins Zentrum des Geschehens gezogen wird: "Ich erwog nun, ob ich gehen oder bleiben solle und drückte mich eine Zeitlang unschlüssig an den Wänden hin" (16,26f.). Zu der hier anklingenden Passivität und charakterlichen Konturlosigkeit trägt auch das Fehlen seines Familiennamens bei. Zudem wird sein Vorname nur zweimal von Ginevras Mutter genannt (26,5; 29,4), die ihn noch dazu ins Italienische verfremdet212. Bei der Vorstellung gegenüber Ginevra wechselt der Erzähler unvermittelt in die indirekte Rede: "Ich nannte meinen Namen" (18,25f.), wodurch Saar mit dem Verschweigen des Namens eine klare Absicht unterstellt werden kann. Die Bedeutung des Namens als Symbol der Persönlichkeit, das den Menschen über die Stufe der rein körperlichen Existenz hinaus als Individuum definiert, ist nicht erst seit Freud bekannt213. Das Fehlen des vollständigen Namens verallgemeinert die 211

Polheim: Konfiguration, S.237. Die von Polheim hier formulierte Definition der Begriffe Konfiguration und Konstellation ist so, wie er selbst schon andeutet, auch auf die epische Dichtung übertragbar. 212 Dennoch ist der Name Emil für die Interpretation nicht zu vernachlässigen, noch dazu wo Saar ihn nachträglich in der Handschrift änderte, s. S.227f. 213 Bereits Goethe sah den Namen als wichtigen Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit an: "der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkom-

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Person Emil, läßt sie austauschbar und konturlos erscheinen. Als Hauptfigur im Sinne einer Konkurrenzstellung zu Ginvera kann man Emil demnach nicht bezeichnen. Bezieht man die bisherigen Ergebnisse der Interpretation mit ein, steht Emil drei Frauen gegenüber, die mit ihm in Beziehung stehen. Festgestellt wurde die Vergleichbarkeit von Emils Anbetung und Unterwürfigkeit in allen drei Fällen ebenso wie die Gleichartigkeit der Beziehungsstrukturen. Leitend, aktiv und energisch sind die Rollen Ginevras, Lodoiskas und der Kommandantentocher. Unter Berücksichtigung der Vorrangstellung Ginevras ergeben sich also auch indirekte Beziehungen der drei Frauenfiguren untereinander. Zu dieser Dreierkonfiguration gruppieren sich nun die Nebenfiguren mit teils verbindender, teils kontrastierender Funktion214. Zum direkten Umfeld Emils lassen sich nur zwei Personen zählen. Der Oheim taucht zwar nur indirekt und am Rande auf, die angegebenen Informationen jedoch stehen im Kontrast zum Wesen Emils. So erfährt der Leser, daß der Onkel, ein "alter Hagestolz, [...] trotz seiner hochgestellten Verbindungen, der sogenannten Gesellschaft mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging" (31,32ff.), womit dem Gesellschaftskonformisten Emil ein unabhängiger Einzelgänger gegenübersteht. Die zweite Kontrastfigur aus Emils Umfeld ist Leutnant Dorsner. Dieser vollständige Gegensatz zu Emil besteht schon rein äußerlich, während Emil von "hoher Gestalt" (40,35) ist, fällt bei Dorsner sein kleiner, zierlicher Wuchs (15,26f.) auf. Ebenso wie bei Emil stimmen bei Dorsner äußerer Eindruck und Wesen nicht überein. Emil, großgewachsen, Oberst und, so sollte man meinen, befehlsgewohnt, entpuppt sich als passiv und unterwürfig. Der kleine Dorsner dagegen, mit einer kräftigen, etwas schnarrenden Stimme (13,27) ausgestattet, ist tatsächlich energisch und kommandierend. Im zweiten Kapitel wird der Gegensatz zwischen beiden ausgeweitet: zwei völlig unterschiedliche Frauenideale stehen sich gegenüber. Dorsners Ziel ist eine "rosige Gerberstochter" (15,19), wohl auch hübsch, der eigentliche Reiz und von primärem Interesse sind jedoch ihre soliden finanziellen Verhältnisse. Der Körperumfang als Signal der Wohlhabenheit wird hier, personifiziert durch die "wohlbeleibten Anverwandten" (l 5,21 f.), eingesetzt. Vor Ginevra dagegen glaubt er Emil warnen zu müssen: "es ist ein noch ganz blutjunges Ding - und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gib acht, daß du nicht hängen bleibst" (20,9ff.). Wenn Emil dagegen "die zwar blühenden, aber plump und men passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen." Goethe, Bd. 9, Dichtung und Wahrheit, S.407. 214 Zur Methode Saars, Charaktere durch die Gegenüberstellung kontrastierender Figuren zu verdeutlichen, s. Stuben, S.320-329.

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geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen" als "so reizlos wie möglich" (l 5,31 ff.) erscheinen, so schließt er auch die Gerberstochter in die spießbürgerliche Gesellschaft (15,30) mit ein. Realitätssinn trifft hier auf träumerische Verklärung, was sich auch auf die Vorgehensweise zur Erreichung ihrer Ziele auswirkt. Wie bereits beschrieben, wird Emil im Zusammenhang mit seiner unterwürfigen und anbetungsvollen Position Frauen gegenüber handlungsunfähig und von der Aktivität anderer abhängig. Dorsner jedoch verfolgt auf dem Ball eine wohldurchdachte Strategie, indem er, um die Spannung zu steigern und seine eigenen Absichten nicht zu offensichtlich werden zu lassen, zunächst die Polka mit einer anderen, "einer stämmigen Brünetten" (15,26) eröffnet, wobei sein Selbstbewußtsein keinen Schaden durch die Tatsache erleidet, daß diese ihn "fast um Haupteslänge überragte" (15,27). Es dauert bei ihm nicht lange, bis er "im besten Einvernehmen mit der Familie des Lohgerbers" (16,25f.) am Tisch sitzt. Das Verhalten des Paares Dorsner - Gerberstochter läßt die unkonventionelle Rollenverteilung bei Emil und Ginevra noch krasser hervortreten. Dorsner ist der Aktive, die Gerberstochter verbirgt ihr Gesicht züchtig hinter dem Fächer (15,21) und bleibt in damals angemessener Weise passiv. Hier besteht noch die herkömmliche Rollenverteilung, die bei Emil und Ginevra umgekehrt wird. Über die beschriebenen Gegensatzpaare hinaus lebt die gesamte Ballszene vom Kontrast. Unmittelbar bevor Ginevras "schlanke Gestalt" (15,38) anmutig vorüberschwebt, wird durch die Beschreibung einiger anderer Figuren eine vorbereitende Szenerie geschaffen: es sind die "rosige Gerberstochter" (15,19), die "stämmige Brünette" (15,26), die "plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen" (l 5,31 f.) und schließlich der "vierschrötige, ungelenke" (15,37f.) Tanzpartner Ginevras, die das vom Erzähler entworfene Ginevrabild umso deutlicher hervortreten lassen. Die Figuren, die dem Umfeld Ginevras zuzuordnen sind, stehen ebenfalls im Dienst dieser Kontrastierung und scheinen auch die in der Rahmenerzählung geäußerte Auffassung, Ginevra sei doch "etwas ganz Besonderes" (11,6), zu bestätigen. Der Ich-Erzähler beschreibt die begleitende Familie: die Frau "alt und vertrocknet" (16,20), die kränkliche Tochter und den wuchtigen, vierschrötigen Sohn. Auch die neugierige Hauswirtin mit dem derb geröteten Gesicht (23,36) scheint aus einer anderen Welt zu stammen als Ginevra. Selbst die Ginevra am nächsten stehende Person, ihre Mutter, bietet bereits äußerlich ein gänzlich anderes Bild: "Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit" (24,33ff.). Analog dazu bildet auch ihr Charakter einen starken Gegensatz zu Ginevra. Diese nimmt beispielsweise

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Emils Versetzungsnachricht sehr gefaßt auf, während die Mutter zugibt, in einer solchen Situation ganz anders reagiert zu haben: „Merkwürdiges Mädchen!" sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. „Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Tränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen." (30,34-37)

Die emotionale Beteiligung der Mutter läßt sich nicht allein an ihren "feuchten Augen" ablesen. Auf Emils schlechte Nachricht reagiert sie heftiger als ihre Tochter: "Sie mußte sich setzen. 'Mein Gott', brachte sie mühsam hervor, 'so rasch, so plötzlich" (29,14f.). Fördernd und verbindend erfüllt sie eine Funktion, die für Emils Frauenbeziehungen bezeichnend ist. Sie ist die Hüterin eines Verhältnisses, das, wie es heißt, "sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete" (27,30f.). Schon vorher weiß sie ihre Tochter in ein günstiges Licht zu setzen, preist sie als "vortreffliches Mädchen" und übt von vornherein einen begünstigenden Einfluß aus. Der eigentliche Initiator der Verbindung ist allerdings bereits vorher zu finden. Es ist der Tanzmeister, der Emil und Ginevra auf dem Ball zusammenführt und für eine Nebenfigur auffällig detailliert beschrieben wird: "Ein kleiner, burlesk aussehender Mann in enganliegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach oben gestrichen und über die Stirn in eine hoch emporstehende Schraube gedreht" (16,29-32). Dieser alte Tanzmeister repräsentiert das vergangene, absolutistische 18. Jahrhundert. Die engen culottes, die Kniebundhosen mit den darunter offenliegenden langen Strümpfen waren seit der französischen Revolution, spätestens aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland und Österreich aus der Mode gekommen. Auch die häufig eingeflochtenen französischen Redewendungen, einst Audruck galanter und kultivierter Lebensart, galten allgemein schon seit der napoleonischen Zeit und dem Erstarken des Selbstwertgefühls einer kulturellen Identität als Relikt einer vergangenen Epoche. Der Tanzunterricht, den Ginevra erhält, war bis weit ins 18. Jahrhunden hinein nur dem Adel und dem reichen Bürgertum möglich. Erst nach der französischen Revolution entwickelte sich ein Unterricht gegen Bezahlung für jedermann215. Nicht nur, daß das Bürgertum hier den Adel nachahmte, die Tanzmeister waren auch für Fragen der Etikette und der Kleidung zuständig. "Der Tanzunterricht beschränkte sich also keineswegs nur auf die Unterweisung im Tanzen. Die 'Tantz-Kunst' war viel umfassender und im Grunde genommen eine 'Benimm dich-Schule1. Man lernte durch sie die rechten Manieren"216. Dieser Repräsentant vergangener Zeiten ist es, der 215 216

Ausführlich dazu: Otterbach, S.164f. Otterbach, S. 128. 187

Ginevra und Emil de facto zusammenführt: "Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, voreinander stehen" (17,32f.). Die zunächst vom Tanzmeister übernommene verbindende Funktion wird dann in der Folgezeit von Ginevras Mutter fortgeführt, nie jedoch ist die Beziehung auf sich allein gestellt. Dieses Phänomen läßt sich im Falle Lodoiskas und der Kommandantentochter ebenfalls beobachten und generalisieren. Die unterstützende und fördernde Rolle der Mutter Ginevras übernimmt bei Emils Beziehung zu Lodoiska deren Mann, der Baron Dumont. Bereits zur Einführung dieser Figur wird indirekt auf sein Versagen als Ehemann angespielt: "Als schlechter Reiter sah er es gerne, wenn man seine schönen Pferde tummelte" (32,16f.). Die erotische Konnotation des Reitens oder Zureitens läßt sich auch besonders klar in der entsprechenden Szene aus Schloß Kostenitz ablesen; das detailliert beschriebene Zureiten eines Pferdes verfehlt hier nicht seine Wirkung auf Klothilde: "Mit klopfendem Herzen und wachsender Erregung hatte Klothilde diesen Vorgängen zugesehen"217. Beim Baron Dumont wird kurz darauf deutlich, daß sich sein Verhalten auch in bezug auf seine Frau übertragen läßt, der er, wie seinen Pferden, nicht gewachsen ist: "Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, daß sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuche nach wie vor fortzusetzen" (32,37-40). Auch die weitere, zunehmend intimer werdende Entwicklung des Verhältnisses fördert der Major nach Kräften: "als ich mich auch sonst durch ein Verhältnis entwürdigt fand, das der Major, nach Art gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte" (37,38ff.). Die Zusammenführung und Förderung durch den Tanzmeister, Ginevras Mutter und schließlich den Major sind die notwendigen Voraussetzungen für Emils Beziehungen zu Frauen. Im Fall der Kommandantentochter allerdings stellt sich ihm jemand entgegen, die aufgestellte Regel findet durch eine Umkehrung des Phänomens ihre Bestätigung. Die Offiziere des Reiterregimentes und hier besonders der "aristokratisch aussehende Rittmeister" (13,12) verhindern eine mögliche Annäherung Emils, der sich, da ihm ein "aufmunterndes Wort" (13,9) fehlt, völlig zurückzieht: "In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht den Mut, sie zum Tanze aufzufordern" (13,9ff.). Auch in diesem Punkt zeigt sich wieder die wichtige Funktion der Eingangsepisode, die bereits alle psychologischen Elemente der späteren Verwicklungen aufweist. Durch die Schlußbemerkung des Hausherrn aus dem Rahmen wird Emils Verhältnis zu Frauen über das in der Binnenerzählung vorgestellte Gesche217

SW IX, S.306. Vgl. hierzu auch Hodge, S.178ff. und Rossbacher, S.38. Zur vorangegangenen, aus dem Bereich des Militärs verwendeten Sexualsymbolik vgl. die Ausführungen von Renner, S.126.

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hen hinaus ausgeweitet: "Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht. Sie ist zwar zehn Jahre älter als er also bereits eine Greisin -, aber er konnte nicht mehr los'kommen. Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt" (40,36-41,3). Es zeigt sich, daß das Verhältnis mit Lodoiska zwar bis zum Zeitpunkt des Rahmens dauert, aber keineswegs das einzige war. Der in der Erzählung dargestellte Umgang Emils mit Frauen wird durch diese letzte Bemerkung kennzeichnend und beispielhaft für das gesamte Leben des Ich-Erzählers. Diese auf den ersten Blick unauffällige Bemerkung eröffnet so weitergehende Perspektiven, die auf eine stete Wiederholung des Geschehenen, auf perpetuierende Abläufe von Verklärung und Sinnlichkeit hindeuten. Aus den Beziehungen der Protagonisten untereinander und den Funktionen der Nebenfiguren ergibt sich nun folgende, in einer Graphik dargestellte Gesamtkonfiguration für die Erzählung, bei der die oppositionellen Beziehungen durch Pfeile, die unterschiedlichen Gewichtungen der Figuren durch Schriftgröße und Kapitälchen angedeutet werden:

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. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Entwicklung der Transformation des naturwissenschaftlichen Determinismus auf die soziale Entwicklung des Menschen in der anthropologischen und soziologischen Diskussion in den Jahren zwischen 1860 und 1890 nachzuzeichnen300, ebensowenig wie hier die These diskutiert zu werden braucht, ob Saar in seinen späteren Erzählungen "die Vorwegnahme von Sigmund Freuds Entdeckung des 'psychischen Determinismus"'301 gelang. Auch die Bedeutung des Determinismus für die Novellen Saars wurde bereits von Jean Charue detailliert erörtert. Zu überprüfen ist für Ginevra allerdings, inwieweit die von Charue festgestellten Faktoren des Determinismus und die Vererbungstheorien Darwins und Mendels302 eine Rolle spielen und für die Interpretation von Bedeutung sind. Der von Charue gebrauchte Begriff des "geographischen Determinismus"303, die Gebundenheit von Figuren an ihre Herkunft und ihren Ursprung, ließe sich allein für die polnische Gräfin Lodoiska feststellen, denn als Slawin verkörpert sie wie so häufig bei Saar die gefährliche Verführungskraft. Ebenso wie Maruschka in Die Troglodytin oder Milada in Herr Fridolin und sein Glück kommt auch Emil schon beim ersten Anblick Lodoiskas zu der Erkenntnis, "daß man sich hier einer höchst verführerischen Er299

Auch in seinen Erzählungen verwendet Saar ähnliche Begriffe. So zum Beispiel zu Beginn der Steinklopfer, wo als Begründung für die folgende Erzählung angeführt wird, "ein schlichtes Lebensbild aus der großen Masse derjenigen festzuhalten, deren Dasein, von schweren körperlichen Mühen überbürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brot meist unbekannt und unbeachtet dahingeht", SW VII, S.114. 300 Unzweifelhaft steht Saar in seinen Auffassungen hier eher in der Tradition Spencers, dessen 1877 auch in Deutsch erschienenes Hauptwerk The Principles of Sociology auch Saar bekannt gewesen sein dürften (s. auch S.231 die Anspielung auf John Stuart Mill, dessen liberalistische Prägung für Spencer unbestritten ist, in Saars Gedicht Liebesszene); hier erscheint ebenso wie bei Saar und den meisten Sozialdarwinisten im Gegensatz zu Darwin selbst als Nichtsoziologen der "Kampf ums Dasein" nicht im Sinne einer Kollektivauslese, sondern als individueller Kampf des Einzelnen. Zu den Überschneidungen der deterministischen Soziologie und der sozialdarwinistischen Richtung in der Nachfolge Spencers bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts s. Wilhelm E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie. Frankfurt/Bonn 1968. S.110-119; ebenso Proß, S.284-291. 301 302

303

Proß, S.284. Darwins Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl, 1859 erschienen, war Saar natürlich geläufig, vgl. auch die Überlegungen Charues zu diesem Thema, S.243.

Charue, S.236.

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scheinung gegenüber befinde" (32,36f.). Fraglich ist jedoch, ob Saar bei der Verwendung solch bewährter klischeehafter Personifikationen - Charue führt selbst die Parallelen zu E.T.A. Hoffmann, Grillparzer und SacherMasoch an304 - auf einen geographischen Determinismus seiner Figuren abzielte oder ob er klare Assoziationen mit Charakteristika verschiedener Nationalitäten nicht viel eher im Sinne einer generalisierenden Emblematik einsetzte. Ähnlich sieht es mit dem zweiten Faktor, dem "historischen Determinismus" aus. Zwar sind Saars Charaktere historisch eingebunden, die Darstellung der Zeitgeschichte ist ein fester Bestandteil der Saarschen Prosa. Diese geschilderte Zeit steht jedoch ebenfalls im Dienst der Dichtung, erhält einen symbolischen Stellenwert, wie es auch in Ginevra der Fall ist. Somit werden die handelnden Figuren letztlich zeitlos, die Behauptung einer Abhängigkeit oder gar Vorbestimmung der Figuren durch die Zeitumstände geht in ihrer Pauschalität zu weit. Als dritten deterministischen Faktor führt Charue den sozialen Aspekt an, der gleichfalls in seinem Rigorismus nicht aufrechterhalten werden kann: "Armut oder Elend [...] war ein schwerwiegender, bzw. erschwerender Faktor des Determinismus im kleinen Bürgertum (so in Ginevra [...])"305. Für Ginevra gilt dies sicher nicht, denn gerade sie ist es, die ihre Ziele, die ja durchaus weltlicher Natur sind, mit festem Willen durchzusetzen weiß. Die These Charues, daß "in der österreichischen Literatur der Determinismus nie so konsequent und radikal ausgedrückt wurde [...] wie in den Werken Ferdinand von Saars"306, muß in dieser generellen Form bezweifelt werden307. Völlig anders sieht es dagegen aus bei der auch von Charue behandelten Frage der Vererbung und der natürlichen Auslese. Der Einfluß der Abstammung und der Familie auf Ginevra fällt auf den ersten Blick auf. So hat Ginevra mit ihrer Mutter "nicht die geringste Ähnlichkeit" (24,34f.), mit ihrem Vater dagegen umso mehr: „Und nicht nur im Äußeren gleicht sie ihm," fuhr die Mutter auf meine laute Beistimmung fort; „auch in allem und jedem, was den Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist." (25,6-9) 304

Charue, S.245. Ebda, S.241. 306 Charue, S.263. 307 S. auch Skreb (S.96), der ebenfalls der Meinung ist, Saar lasse "die Gestalten aber keineswegs durchgehends durch Anlage und Lage determiniert werden"; vgl. hierzu ebenfalls Horvath, S. 115. Klauser hingegen versucht durch Novellenzitate, "ein weltanschauliches Credo des Dichters Ferdinand von Saar, sein Bekenntnis zur Determiniertheit des menschlichen Schicksals" zu konstruieren. Klauser: Poet, S. 155. 303

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Ob Saar nun die Mendelschen Regeln der Vererbung kannte oder nicht, mag dahingestellt sein308, auffallend sind hier vielmehr die Parallelen zu Schopenhauers Überlegungen über die Erblichkeit der Eigenschaften, die dem Vater generell die Vererbung der charakterlichen Grundlagen zuweist: [...] so werden wir [...] es wenigstens als wahrscheinlich annehmen, daß bei der Zeugung, der Vater, als sexus potior und zeugendes Prinzip, die Basis, das Radikale des neuen Lebens, also den W i l l e n verleihe, die Mutter aber, als sexus sequior und bloß empfangendes Prinzip, das Sekundäre, den I n t e l l e k t ; daß also der Mensch sein Moralisches, seinen Charakter, seine Neigungen, sein Herz, vom Vater erbe, hingegen den Grad, die Beschaffenheit und Richtung seiner Intelligenz von der Mutter.309

Hiermit sind bei der Behandlung von Ginevras Charakter die Aussagen über das Wesen ihres Vaters natürlich von großem Interesse, da sie auch im Hinblick auf Ginevra Rückschlüsse zulassen. Bei Emil stehen die psychologischen Fragen im Vordergrund. Die Analyse des Ich-Erzählers erbrachte ein fein gesponnenes Psychogramm eines Charakters, angefangen bei seiner subjektiven Sicht, der folgenschweren Überhöhung Ginevras in Opposition zum Geschlechtstrieb, bis zur Verklärung und letztlich Verzerrung des Vergangenen. Hiermit nimmt Saar Ergebnisse der Psychologie Freuds zur Verdrängung und Sublimierung vorweg. Freud selbst räumt dem Dichter diese Vorreiterrolle auch ohne weiteres ein: Der Dichter soll der Berührung mit der Psychatrie aus dem Wege gehen, hören wir sagen, und die Schilderung krankhafter Seelenzustände den Ärzten überlassen. In Wahrheit hat kein richtiger Dichter dieses Gebot geachtet. Die Schilderung des menschlichen Seelenlebens ist ja seine eigentliche Domäne; er war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie.310

Die Affinität Saars zur Philosophie Schopenhauers ist eine lange bekannte Tatsache, die Saar selbst nie verhehlte, wenn er sich und seinen Freund Milow zum Beispiel als "alte Schopenhauerianer"311 bezeichnet. Für Ginevra drängt sich nun der Vergleich zu Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe auf312. Völlig unabhängig von ihrer wirklichen Charakteristik wird 308

Vgl. die Spekulation dazu von Charue, S.243. Schopenhauer, Bd.4, Erblichkeit der Eigenschaften, S.605. Zu den auffallenden Parallelen zwischen dem Darwinschen Materialismus und den Theorien Schopenhauers, s. Polheim: Erzählkunst, S.33. 310 Freud, S. 121. 311 Brief an Milow vom 14.2.1894 (BrW 29). 312 In abgewandelter Form wurde der Einfluß der Metaphysik der Geschlechtsliebe schon für den Brauer von Habrovan festgestellt, s. Polheim, S.30; ebenfalls von Kaiser, S.247-259, 309

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durch die subjektive Sicht des Ich-Erzählers eine Polarisation der Figuren Ginevra und Lodoiska aufgebaut. Sie erscheinen als Verkörperung einer vergeistigten und körperlichen Liebe. Diese Rivalität und Personifizierung von Agape und Eros geht als Motiv bis auf die Antike zurück313. Im Falle Emils findet das Primat des Geschlechtstriebes314 bei Schopenhauer seine theoretisch-philosophische Basis: "Als die entschiedene stärkste Bejahung des Lebens bestätigt sich der Geschlechtstrieb auch dadurch, daß er dem natürlichen Menschen, wie dem Thier, der letzte Zweck, das höchste Ziel seines Lebens ist"315. Nach Schopenhauer ist demnach auch die Leidenschaft, die Verklärung der Geliebten allein diesem natürlichen Trieb unterworfen, sie ist nur Mittel zum Zweck: Alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, specialisirter, wohl gar im strengsten Sinn individualisirter Geschlechtstrieb.316

Da der Sinn nun in der "Zusammensetzung der nächsten Generation" besteht, wird die Leidenschaft umso größer sein, "je mehr das geliebte Individuum, vermöge aller seiner Theile und Eigenschaften, ausschließlich geeignet ist, den Wunsch und das durch seine eigene Indiviualität festgestellte Bedürfniß zu befriedigen"317. Emils Geschlechtstrieb dagegen entfaltet sich offensichtlich unabhängig von seinem eigenen Willen und bleibt abhängig von der Initiative der jeweiligen Partnerin; es geht ihm nicht um die Erhaltung der Art, und damit degeneriert der Trieb nach Schopenhauer zum Selbstzweck. Die Konsequenz aus der triebgesteuerten Reduktion des Handelns ist die fehlende Erkenntnisfähigkeit, die allein die Aufhebung des Wollens ermöglicht318: "Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten der Erkenntniß"319. Für Schopenhauer bedeutet hier die Keuschheit den ersten Schritt auf dem Weg zur Überwindung des Willens,

für Herr Fridolin und sein Glück. Daher lassen sich die Ausführungen hier auf einige wesentliche Gedanken beschränken. 313 Im Hippolytos des Euripides zum Beispiel stehen sich Artemis und Aphrodite stellvertretend für die den Protagonistinnen innewohnenden rivalisierenden Kräfte gegenüber. 314 Dieses Thema zieht sich durch viele Novellen Saars, so außer im bereits erwähnten Herr Fridolin und sein Glück beispielsweise auch im Sündenfall, Sappho, Die Heirat des Herrn Stäudl. 315 Schopenhauer, Bd.2, §60, S.412. 316 Schopenhauer, Bd.4, Metaphysik der Geschlechtsliebe, S.624. 317 Ebda, S.628. "Zunächst und wesentlich ist die verliebte Neigung gerichtet auf Gesundheit, Kraft und Schönheit, folglich auch auf Jugend". 318 Schopenhauer, Bd. 2, § 60, S.413. 319 Ebda, S.412, s. auch Polheim, S.30.

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also der Freiheit im Sinne Schopenhauers320. Wenn nun Emil als dem Erzähler der Binnenerzählung aufgrund seines triebgesteuerten Handelns eine solche fehlende Erkenntnis attestiert werden kann, hat dies Auswirkungen auf seine Glaubwürdigkeit: seine Einschätzungen der erzählten Wirklichkeit werden zweifelhaft. Die Haupthesen der Interpretation werden so durch die Ergebnisse der Untersuchung der geistesgeschichtlichen Ideen, die in die Erzählung mit einfließen, bestätigt. Auch bei Vermeidung des häufig begangenen Fehlers, jedes Wort des Frankfurter Philosophen unreflektiert auf Saar übertragen zu wollen321, zeigt sich doch deutlich, daß sich der Ich-Erzähler bei der suggerierten Polarisierung jungfräuliche Keuschheit - Erotik täuscht.

f. Die literarischen Bezüge In der Forschungsliteratur wurde häufig die allzu nahe Verwandtschaft Ginevras mit Turgenjews Frühlingsfluten betont322. Der Frage nach der etwaigen Vorbildfunktion von Frühlingsfluten ist daher ausführlich nachzugehen. Noch nicht ganz zwanzig Jahre alt, im Frühjahr 1838, trat Turgenjew seinen ersten längeren Aufenthalt in Deutschland zu Studienzwecken an. Es begann eine Entwicklung, über die Turgenjew später befand: "Ich stürzte mich kopfüber in das 'deutsche Meer', das mich reinigen und erneuern sollte, und als ich endlich aus seinen Wogen wieder auftauchte - erwies ich mich als ein 'Westler1 und blieb ein solcher für immer"323. Auf seinen folgenden längeren Reisen durch Westeuropa in den 40er Jahren vertiefte er frühere Eindrücke und persönliche Bekanntschaften, so war er etwa häufiger Gast im Salon der Bettina von Arnim. 1862 ließ er sich in Baden-Baden nieder, wo er im Lauf der Zeit mit zahlreichen Größen der deutschen Literatur und Kritik zusammentraf, darunter Ludwig Pietsch, Julian Schmidt, Gustav Freytag, Theodor Storm, Friedrich Spielhagen, Paul Heyse und Friedrich von Bodenstedt. Auch nach seinem Umzug nach Paris 1871 rissen die Kontakte nicht ab. In der Folgezeit wurde Turgenjew als Wegbreiter einer neuen Literatur gefeiert, der Heinrich Hart bereits 1878 in seinem berühmten programmati320

Schopenhauer, Bd.6, Parerga und Paralipomena, S.471. Als jüngstes abschreckendes Beispiel dient Klauser, der behauptet, selten habe "sich ein Dichter die Ansichten und Aussprüche eines Philosophen so sehr zu eigen gemacht und sich mit ihnen identifiziert, oft bis zur fast wörtlichen Übereinstimmung, wie dies im Verhältnis von Saar zu Schopenhauer der Fall ist". Klauser: Poet, S.155. Vgl. dagegen Polheim: Erzählkunst, S.28. 322 Vgl.S.149f. 323 Zitiert nach: Brang, S.8. 321

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sehen Essay Neue Welt die "Tendenz auf den Naturalismus"324 und "einen in den Kern der Welt eindringenden Pessimismus"325 bescheinigte. Auch Julian Schmidt und Paul Heyse, deren literaturästhetische Programmatik sich grundlegend von der des Berliner "Hart-Kreises" unterschied, trugen mit dazu bei, daß "dem russischen Meister der Novelle"326 über Jahrzehnte hinweg eine überaus große Wertschätzung zuteil wurde327. Theodor Storm schrieb bewundernd über seine Begegnung mit Turgenjew: "Niemals hab ich eine Persönlichkeit gesehen, die mir als Mensch und Künstler zugleich einen so bedeutenden Eindruck gemacht hat; es müße denn dieser Prachtmensch Turg[eniew] sein"328. Wenn Storm auch die Werke Turgenjews nicht grundsätzlich vorbehaltlos schätzte329, lag für ihn doch der Reiz "wesentlich in diesem Ablagern träumerisch melancholischer Stimmungen; die Geschichte ist ihm [Turgenjew] eigentlich Nebensache"330. Fontäne dagegen stimmte nur bedingt in die Lobeshymnen ein. Wenn er in seinem Brief an Emilie vom 24.6.1881 die fehlende "Verklärung" in Turgenjews Werken bemängelt, richtet er sich generell gegen die neue naturalistische Richtung, die er bei Turgenjew zu erkennen glaubt331: Er [Turgenjew] beobachtet alles wundervoll: Natur, Tiere und Menschen; er hat so was von einem fotografischen Apparat in Äug und Seele, aber die Reflexionszutaten, besonders wenn sie nebenher auch noch poetisch wirken sollen, sind nicht auf 324

Als Beispiel dafür, wie verschieden die Vorstellungen und Konzeptionen des Begriffes 'Naturalismus' waren, dient die Reaktion Eduard Michael Kafkas auf Hermann Bahrs Zur Überwindung des Naturalismus, der die Aufsatzsammlung "geradezu als eine Phänomenologie des Naturalismus" ansah (E.M. Kafka: Der neue Bahr. In: Moderne Rundschau. Bd.3. Wien 1891. S.221). 323 Hart, S. 17. 326 Heyse, Paul: Neue Novellen. 4. Sammlung. Berlin 1861. Widmung. 327 Julian Schmidt verfaßte eine Fülle von anerkennenden Rezensionen und Aufsätzen zu Turgenjew. So schrieb er 1868: "An poetischer Kraft weicht Turgenjew keinem der jetzt lebenden Schriftsteller Europas". Schmidt, S.438. Zu den weiteren wichtigen Publikationen Schmidts zum Thema Turgenjew zählen: Die neuen Schriften Iwan Turgenew's. In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung. Jg. 1871. S.4365-67; Iwan Turgenjew. In: (Westermann's) Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 43. (= 3. Folge, Bd.ll, 1877/78). S.78-92, 195-213; Der russische Nihilismus und Iwan Turgenjew. In: Preußische Jahrbücher 45 (1880). S.313-320. 328 Brief an Storms Sohn Hans vom 11.9.1865. Zitiert nach Laage, S.130. 329 S. Laage, S.111. In einem nicht erhaltenen Brief Storms an Turgenjew muß jener sich über Rudin kritisch geäußert haben. 330 Storm an Ludwig Pietsch, 14.9.-22.11.1864. Schultze, S.39. 331 Wenngleich es sich auch bei den neuen ästhetischen Auffassungen nicht um eine literarische Revolution handelt, wie Fritz Martini zu Recht feststellt, so zeigt die Diskussion über Turgenjew, daß der Naturalismus gerade für die von Martini angeführten Autoren mehr bedeutete als nur die "radikalisierte Entwicklung von Tendenzen [...], die bereits im Realismus angelegt waren". Martini, S.31.

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der Höhe. Die Geschichten sind alle dreißig Jahre alt, und es ist ganz ersichtlich, daß ihm damals noch die Reife fehlte, die er jetzt hat. Diese Reife find ich denn auch wirklich in 'Rauch', das etwa 1865 oder 1866 geschreiben wurde, geradeso wie in 'Neuland', aber ich werde dieser Schreibweise nicht froh. Ich bewundere die scharfe Beobachtung und das hohe Maß phrasenloser, aller Kinkerlitzchen verschmähender Kunst; aber eigentlich langweilt es mich, weil es im Gegensatze zu den teils wirklich poetischen, teils wenigstens poetisch sein wollenden 'Jägergeschichten' so grenzenlos prosaisch, so ganz unverklärt die Dinge wiedergibt. Ohne diese Verklärung gibt es aber keine eigentliche Kunst, auch dann nicht, wenn der Bildner in seinem bildnerischen Geschick ein wirklicher Künstler ist. Wer so beanlagt ist, muß Essays über Rußland schreiben, aber nicht Novellen. Abhandlungen haben ihr Gesetz und die Dichtung auch.332

Im gleichen Tenor fiel bereits Fontanes Kritik an Turgenjews Neuland aus333. Berthold Auerbach schlägt bei aller Bewunderung in seiner Neulandrezension ebenfalls kritische Töne an. Im Unterschied zu Fontäne glaubt er in Neuland jedoch "eine Verklärung"334 zu erkennen. Wenn Auerbach seine Verehrung für den "meisterhaften russischen Dichter"335 stets offen vertrat, so registrierte er gleichwohl, daß Turgenjew seinen poetischen Vorstellungen von einer positiven Synthese zwischen Ideal und Realität nicht immer entsprach: Er [Turgenjew] ist einer der Bedeutendsten, die mit uns athmen, von einer Eindringlichkeit in das Seelenleben, einem Muthe und einer Gestaltungskraft, die nur noch George Sand hat; freilich ist er auch oft in der Dissonanz verharrend.336 332

Fontäne, Bd.l, S.910. "Man bewundert die Treue der Bilder, aber sie lassen so kalt, wie der Dichter, der sie schuf. [...] In der ersten Hälfte, wo die glänzende und doch so knappe Darstellungsweise Turgenjews noch rein als solche genossen werden kann, hat mich das Buch sehr interessiert; man hat hier eben den Meister; von da ab aber, wo Farbe bekannt, wo Gesinnung, Lebensanschauung und eigentlichstes Dichtertum gezeigt wrden sollen, läßt es einen im Stich. Das Interesse erlischt, und man ist schließlich froh, daß es ein Ende hat". Fontäne, Bd. l, S.519f. Wenn Hock davon spricht, daß Fontäne "zu einer objektiven Würdigung des Turgenevschen Romans selbst noch nicht reif" sei, "ästhetisierende Vorstellungen" und "romantische Rudimente" bei Fontäne zu erkennen glaubt, die "seiner Hinwendung zur konsequent realistischen Prosa im Wege" stehen, Hock, E.T., S.310, so läßt er die Undifferenziertheit eines marxistisch geprägten Realismusbegriffes ebenso erkennen wie auch eine völlige Ignoranz gegenüber dem ästhetisch-programmatischen Diskurs der Zeit. 334 Auerbach: Rezension, S. 1451. 335 Auerbach, Bd. l, S.295. 336 Auerbach, Bd.l, S.371. Für Auerbach bedeutete der Grundzug seiner integrativen, versöhnenden Realismusprogrammatik auch gleichzeitig die Absage an eine allzu idealisierenden Idylle: "Aus den Kreisen des Volkslebens hat ehedem ein verkehrter weichlicher Geschmack die süßlichen Tändeleien der Schäfer- und Idyllenpoesie geschaffen. Man ist aus Arkadien wieder heimgekehrt. Ebenso einseitig wäre aber ein anderes Ex333

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Auch Marie von Ebner-Eschenbach sah den russischen Autor differenzierter. "Meisterlich"337 nannte sie den Anfang von Frühlingsfluten, doch auch mit Kritik sparte sie in ihren Tagebüchern nicht338. Bei ihrer Anerkennung von Frühlingsfluten stimmt Ebner-Eschenbach mit Heinrich Hart überein, der hierzu in seinem bereits erwähnten Essay schreibt: "aber den Hauptwerth lege ich doch auf seine kleineren Novellen und Skizzen, wie 'Mumu' und 'Frühlingsfluten"1339. Saar schätzte Turgenjew sehr, er bezeichnete ihn als "den großen russischen Meister"340 und sah Ähnlichkeiten und Verbindungen zwischen sich und Turgenjew: Es ist nämlich verwunderlich, daß man weder in der Kritik noch im Publikum darauf verfällt, daß ich, wie jener große Schriftsteller [Turgenjew] die Schilderung von Menschen und Zuständen im Vaterland bezwecke (nicht besondere Conflicte u. P r o b l e m e ) und daß meine österreichischen Novellen gerade so weit hinter seinen russischen an Bedeutung zurückstehen, wie Österreich an Großartigkeit hinter Rußland zurücksteht. Talent allein thut's nicht - man muß auch einen gedeihlichen Boden unter sich haben, in dem man wurzeln und sich vollständig entwickeln kann. (Brief an Cornelie von Gomperz vom 15.1.1889. BrW 9).

Saar verweist in der Rahmenerzählung von Sündenfall explizit auf Turgenjews Frühlingsfluten und läßt gleichzeitig seine eigene Bewunderung für den russischen Autor erkennen341:

trem, jetzt vorzugsweise das Vierschrötige, oder gar das Crasse, Haarsträubende aus dem Volksthümlichen herauszuheben. [...] Freilich ist ein Wassersrurz, da der Strom sich gewaltsam einen Weg bahnt und fast sich aufzulösen scheint, anziehend, mit Recht läßt man den Blick länger bei demselben verweilen; aber es muß auch der stille Lauf des Stromes und seine reiche Segnung verfolgt werden". Auerbach: Schrift und Volk, S.121f. 337 Ebnen Tagebücher, Bd. 2, S.119, 29.6.1872. Die Äußerungen Ebners über Turgenjew hat Jiri Vesely zusammengestellt, der auch die "Berührungspunkte vielfältiger Art zwischen Turgenev und Marie von Ebner-Eschenbach" (S.276) herausstellt. 338 s. Ebner Tagebücher, Bd. 2: "Abends gelesen: Assja von Turgenief. Peinlich! peinlich!" (2.2.1872); "Habe Helene von Turgenief ausgelesen - es ist das schwächste was ich von ihm kenne. Daß der Held an den Folgen einer Lungenentzündung stirbt ist noch viel schlechter für die Novelle als für ihn" (11.10.1871); Bd. 3: "Gelesen Apres L· mort von Turgeniew. Sehr krank ist das" (5.2.1883). 339 Hart, S.21. 340 Saar an Hohenlohe, 19.9.1876 (BrW 12). 341 Der Bezug auf Turgenjew in Sündenfall wurde bereits registriert von Skreb, S.96f. und Howe, S. 141. Bereits die hier vorgenommene kurze Skizzierung der Diskussion über Turgenjew zeigt, daß er bei weitem nicht so vorbehaltlos aufgenommen wurde, wie es zunächst den Anschein hat. Sie widerlegt aber andererseits auch die Ansicht Erich Auerbachs, Turgenjew habe von Europa "im ganzen wohl mehr empfangen als gegeben". E. Auerbach, S.483.

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„Ja; ich habe auf gut Glück zugelangt und einen prächtigen Griff getan. Etwas, das ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt: Turgenjews Frühlingsfluten." „Allerdings nicht Neues." „Aber desto Besseres. Oder gehören Sie vielleicht auch zu denen, die diesen großen Schriftsteller - wie mir unlängst ein russischer Botschaftsrat sehr nachdrücklich versicherte - bereits überwunden und durch den Grafen Tolstoi in zweite Linie gerückt erachten?" „Keineswegs. Und gerade d e r Roman ist ein Meisterwerk."342

Die männliche Hauptfigur in Frühlingsfluten ist Sanin, ein junger Russe, der 1840 auf seiner Reise durch Westeuropa in Frankfurt Station macht343. In einer italienischen Konditorei lernt er Gemma kennen, die bildschöne und reizende Tochter der Besitzerin. Ritterlich duelliert er sich mit einem deutschen Offizier, der Gemmas Ehre verletzt hatte. Seit diesem Duell sieht Gemmas Bruder Emilio voll ehrfürchtiger Bewunderung zu Sanin als seinem Helden und Ideal auf und wird von diesem, der nun seine Liebe zu Gemma erkennt, ah postilion d'amour eingesetzt. Nachdem Sanin seine Liebe gesteht und Gemma einen Heiratsantrag macht, löst diese ihre Verlobung mit dem reichen Händler Klüber. Sanin will nun, um sich im Westen niederzulassen, sein russisches Gut verkaufen. Zufällig trifft er seinen Schulfreund Polozov, der ihm seine eigene reiche Frau als Käuferin vorschlägt. Polozov bringt Sanin zu seiner überaus anziehenden Frau Maria Nikolajewna nach Wiesbaden. Schnell wird deutlich, daß Polozov dieser Frau in keiner Hinsicht gewachsen ist. Sie fordert von Sanin wegen des Kaufes zwei Tage Bedenkzeit und bringt ihn dazu, während dieser Zeit in Wiesbaden zu bleiben. Im Nachhinein erfährt der Leser, daß Maria Nikolajewna mit ihrem Mann gewettet hatte, ob es ihr gelänge, Sanin zu verführen. Sie gewinnt ihre Wette schließlich während eines Ausrittes. Sanin folgt der Russin auf ihren weiteren Reisen, ohne Gemma wiederzusehen. Er bleibt ein Liebhaber unter vielen, bis sie ihn schließlich fallen läßt. Die Erzählung Sündenfall lehnt sich tatsächlich über die direkte Erwähnung hinaus in der Zeichnung der Charaktere eng an das russische Vorbild an344. Seraphine ist schon dem Namen nach die Engelsgleiche, die hier unschuldig verlassen wird. Ebenso wie in Frühlingsflttten erscheint die Verfüh342

SW X, S.241.

343

Frühlingsfluten reflektiert in besonderem Maße die starken Impulse des deutschen Kulturlebens auf das Werk Turgenjews. Vgl. hierzu Ernst Theodor Hock: Turgenev in Karlsruhe. In: 7.5. Turgenev und Deutschland. Materialien und Untersuchungen. Hrsg. v. Gerhard Ziegengeist. Bd. 1. Berlin 1965. S.270-287. 344 So stellt auch im Sündenfall der Bruder der weiblichen Hauptfigur das auslösende Moment und das verbindende Element für das Liebespaar dar. Auch die Polarisierung Madonna - Venus entspricht dem Vorbild Frühlingsfluten. Bei Saar wird die Reinheit der Protagonistin bereits durch den Namen Seraphine angedeutet.

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rerin als gefährlicher und negativer Gegenpol. Doch wie steht es um die viel zitierten Parallelen zu Ginevra} Tatsächlich stellt Saar einige deutliche Bezüge zu Frühlingsfluten her, wenn auch im Gegensatz zu Sündenfall der Name der Erzählung nicht fällt. Die Bedeutung des goldenen Kreuzes, das sich beinahe durch die ganze Erzählung zieht, wurde bereits ausführlich geschildert345; ein ähnliches Kreuz spielt auch in Frühlingsfluten eine wichtige Rolle, es erscheint bereits in der Rahmenhandlung und fungiert ebenfalls als Identifikationssymbol für die schon vergessen geglaubte Geliebte: In dem Kästchen lag zwischen einer Doppelschicht vergilbter Watte ein kleines Kreuzchen aus Granatsteinen. [...] War es Bedauern, war es Freude, was sein Gesicht ausdrückte? Einen ähnlichen Ausdruck mag das Gesicht eines Menschen tragen, der plötzlich einen einst zärtlich geliebten Menschen trifft, der jetzt ganz unerwartet, als der gleiche Mensch, und doch durch die Jahre verändert, vor ihm erscheint.346

Während der Reise zum Verkauf seines Gutes beginnt die Verführung durch Maria Nikolajewna: "Der weiche Arm der Maria Nikolajewna faßte langsam den seinigen, glitt in ihn sozusagen hinein und schmiegte sich dann fest an ihn an"347. Emil hatte angesichts der drohenden Verführung das Kreuz als Schutzzeichen angesehen: "Es wäre nun an der Zeit gewesen, öfter das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug" (33,12f.). Ebenso reagiert auch Sanin in der gleichen Situation: "tausendmal küßte er das Kreuzchen, das sie ihm gegeben hatte"348. Ähnlichkeiten der beiden Protagonistinnen bestehen in den familiären Verhältnissen und der Abstammung. Ginevra ist wie Gemma Halbwaise und von Seiten der Mutter italienischer Herkunft. Von Gemmas Vater wird berichtet, er habe sich in Frankfurt niedergelassen und "sei aus Vicenza gebürtig"349. Ginevra dagegen erzählt Emil auf dem Ball: "Meine Mutter ist aus Bassano im Venezianischen" (18,31). Saar drückt sich hier recht allgemein aus, war doch das österreichische Venetien, bis es 1866 an Italien fiel, ein großes Gebiet. Doch damals wie heute gehört die kleine Stadt Bassano zur Provinz Vicenza, der Stadt also, die Turgenjew als Geburtsort von Gemmas Vater angibt. Diese geographische Nähe ist keinesfalls zufällig, denn Saar änderte den Herkunftsort von Ginevras Mutter erst nachträglich für die Ausgabe N3. In der Handschrift steht wie auch noch in den ersten Ausgaben "Conegliano" (H 54,31), eine kleine Stadt in Norditalien, die nicht allzuweit von Bassano entfernt liegt, jedoch zur Nachbarprovinz Treviso gehört. 345

S. hierzu S.204. Turgenjew, Bd. 8, S.161. 347 Ebda, S.280. 34 *Ebda, S.287. 349 Ebda, S.169. 346

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Auch über den Namen des Ich-Erzählers zieht Saar die Verbindung zu Turgenjews Erzählung. Die Bedeutung des fehlenden Nachnamens für die Charakterisierung Emils wurde bereits angemerkt350. Auch der Vorname fällt nur zweimal: "Und Emil heißen Sie - Emilio" (26,5); "Ah, Emilio" (29,4). Zunächst jedoch hatte Saar in der Handschrift einen anderen Namen für den Oberst vorgesehen. An beiden Stellen der Handschrift tilgte er erst später den ursprünglichen Namen "Roberto" (H 65,10; H 69,30). Allein dieser nachträgliche Namenstausch läßt die besondere Sorgfalt Saars bei der Namengebung erkennen, die auch für die Interpretation von Gewicht ist351. Mit dem Namen Robert verband man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Meyerbeers Oper Robert le Diable, die seit ihrer Uraufführung 1832 ihren Siegeszug durch Europa antrat. Darüber hinaus war in Wien noch die unmittelbar nach der Uraufführung der Meyerbeeroper entstandene Parodie Robert der Teuxel von Nestroy in Erinnerung, von der 1843 eine Neueinstudierung entstand, die sich bis 1848 im Repertoire hielt; "eine Einakterbearbeitung kam im Jahre 1853 zur Aufführung, wurde aber nie mehr wiederholt"352. Während bei Nestroy das durch Bertram verkörperte Prinzip des Bösen der Lächerlichkeit preisgegeben wird, ist Robert in der Oper der Verführbare und beinah Verführte, dessen Seele durch bessere Einsicht der Verdammnis entgeht, so daß das Volk im jubelnden Chor enden kann: "II est reste fickle"*». Die Namensänderung von Robert zu Emil ist ein weiterer Hinweis auf Turgenjews Frühlings fluten. Eine zunächst unscheinbar wirkende Bemerkung der Mutter Ginevras weist in diese Richtung: "Und Emil heißen Sie Emilio. Ein schöner und mir wohl bekannter Name; mein armer Bruder hat ihn gleichfalls geführt" (26,5f.). In Frühlingsfluten finden wir diesen Bruder: es ist der Bruder Gemmas, auf den das Attribut "arm" tatsächlich zutrifft. Von labilem Gesundheitszustand, verhinderter Künstler, der zur Kaufmannslehre gezwungen wird und schließlich unter Garibaldi im Kampf um die Freiheit Italiens stirbt, schenkt dieser Bruder, der ebenfalls abwechselnd Emil und Emilio genannt wird, seine enthusiastische Liebe, welche an religiöse Verehrung grenzt, dem von ihm so bewunderten Sanin. Deutlich zum Ausdruck kommt dies bei der Erzählung Sanins vom überstandenen Duell: "Emil hörte ihm andächtig zu, unterbrach zuweilen die Erzählung durch Ausrufe, oder er erhob sich rasch und küßte unversehens seinen heldenmütigen Freund"354. Erst später wird deutlich, daß dieser Freund alles andere als «o Vgl. S.184f. 351 Vgl. auch die etymologische Deutung des Namens "Lodoiska", S.209, der ebenfalls nicht zufällig gewählt wurde. 352 Nestroy, Einführung, S.73. 353 Meyerbeer, S.366f. 354 Turgenjew, Bd. 8, S.221. 228

heldenmütig ist. Auch Turgenjews Emil gibt sich falschen Vorstellungen hin, lebt in einer Welt der Illusion und der Verklärung. Diese Namensparallele verweist gleichzeitig wieder auf den Kernpunkt in Ginevra: Täuschung und Wirklichkeit. Saar legt also die Parallele in bezug auf den Bruder an, nicht jedoch auf Sanin, wie man angesichts der auf den ersten Blick so ähnlichen Dreiecksgeschichte erwarten könnte. Der schroffe Gegensatz der beiden Erzählungen wird nämlich deutlich, betrachtet man die Strukturen der Paare Gemma - Sanin und Ginevra Emil etwas genauer. Gemma entspricht tatsächlich den Vorstellungen der Reinheit und Keuschheit, ihr Verhalten und die Kommentare des Er-Erzählers geben den Gedanken Sanins recht: "Königin ... Göttin ... reiner, jungfräulicher Marmor"355. So beschreibt der Erzähler ihr "reines, feines Profil"356, das schöne Gesicht "von Scham gerötet"357. Gemmas Verhalten entspricht den zeittypischen Klischees von jungfräulicher Schüchternheit. In der Erwartung, daß Sanin ihr seine Liebe erklärt, zittern Gemmas Finger, "mit den Falten ihres Kleides machte sie sich nur zu schaffen, um dieses Zittern zu verbergen"358. Geradezu klassisch rollentypisch gleitet ihr schließlich der Sonnenschirm aus der Hand359. Sanin dagegen behält die Initiative: er erklärt seine Liebe und stellt danach an sie die wörtlich auch in Ginevra erscheinende, dort aber völlig anders zu bewertende Frage: "Sie lieben mich also?"360. Bei Saar ist es genau umgekehrt. Ginevra, die stets Aktive, stellt hier die gleiche Frage, die Emil völlig unerwartet trifft. Über das konventionelle Rollenverhalten hinaus stellen die bei Saar dargestellten Charaktere und die damit verbundene Deutung der Erzählung ein Gegenstück zu Turgenjew dar. Während in Frühlingsfluten tatsächlich die Dreiecksgeschichte, die Polarisierung der Frauenfiguren, der femme fragile und femme fatale im Vordergrund steht, ist es bei Saar die Illusion, das Spiel der Masken, Schein und Wirklichkeit, die den Kern der Erzählung ausmachen. Der wohl unbestritten wichtigste Name der Erzählung ist, da er schon durch den Titel eine außerordentliche Tragweite bekommt, Ginevra. Anhand der Aussagekraft dieses Namens wird sich die Stichhaltigkeit der vorangegangenen Interpretation erweisen müssen. Auf die Eigentümlichkeit des Namens wird auch im Text ausdrücklich hingewiesen und ihm eine be355

Turgenjew, Bd. 8, S.240. Ebda, S.229. 357 Ebda, S.228. 358 Ebda, S.230. 359 Ebda, S.242. 360 Ebda, S.243. 356

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sondere Bedeutung beigemessen: "Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener" (18,29). Im Werk Saars erscheint der Name Ginevra ein weiteres Mal. Das Gedicht Liebesszene, das als Epilog am Schluß der kleinen Sammlung Aus dem Tagebuch der Liebe steht, findet sich schon in der ersten Auflage seiner Gedichtsammlung 1882361: Liebesszene. Als Epilog. Der Nachmittag war glühend heiß. Ich saß In eines Wirtes menschenleerem Garten; Gedankenvoll, beim kaum berührten Glas, Wollt' ich des Abends Kühlung hier erwarten. Still durch die Wipfel strich ein schwüler Hauch, Gedämpft erklang des Straßenlärmes Wogen; Nach Krume zwitschernd, wie es Sperlingsbrauch, Kam ab und zu ein kleiner Gast geflogen. Da hört ich plötzlich nahen Doppeltritt Und zwei Gestalten, hoch und schlank, erschienen: Ein junges Paar mit raschem, leichtem Schritt, Mit hellen Augen und mit klugen Mienen. Er fast ein Jüngling noch. Mit breitem Rande Saß lässig ihm der Hut auf dunklen Locken; Zartbusig sie, auf lichtere Gewände Fiel blond ihr Haar, so wie der Flachs vom Rocken. Sie sah'n mich nicht und setzten sich zur Rast Man merkte wohl, sie seien noch nicht Gatten Nach kurzem Wählen mit zufried'ner Hast Gleich in des nächsten Baumes dichten Schatten. Nachdem sie sich mit raschem Trunk erfrischt Und auch vom Brot gebrochen einen Bissen, Lag schon ein Buch vor ihnen aufgetischt Ein großes Buch, zerlesen und zersplissen. Von "Lanzelot" und von "Ginevra" war, Das sah man, nichts in diesem Buch zu lesen; Dem Kennerblicke ward sofort auch klar, Daß es ein Werk der Wissenschaft gewesen.

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Marie von Ebner-Eschenbach hob gerade dieses Gedicht in ihrer Würdigung des Bandes von 1882 besonders heraus: "Bewunderung, allerinnigste Zustimmung hätte ich bei den meisten auszusprechen. Nur gegen einige protestire ich. Sie werden unschwer errathen gegen welche. Den entschiedensten Gegensatz zu ihnen bildet eines das ich bewunderungswürdig finde in Stimmung, Gedanken und Ausführung: 'Liebesscene'". (BrW 6).

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Vielleicht von Darwin oder Stuart Mill Wie ändern sich, so dacht' ich, doch die Zeiten, Indessen jene, leidenschaftlich still, Herniedersehn auf eng bedruckte Seiten. Und er, so wie in unbewußtem Tun, Die Hand nur legt auf ihre schmale, feine Und sie, wie um beim Lesen auszuruhn, Die zarte Wange sanft lehnt an die seine. Mir aber ward der Anblick zum Gedicht, In einem neuen hohen Lied der Liebe, Da ich verklärt sah von des Geistes Licht Auf Erden schon den dunkelsten der Triebe. Und mich erhebend, tief bewegt und leis, Ging ich hinweg mit Schritten, kaum zu hören, Um solcher Herzen reinen Zauberkreis Und diese heil'ge Feier nicht zu stören.362

Lanzelot und Ginevra, das klassische Liebespaar aus der Artussage, stehen hier stellvertretend für die Sinnlichkeit, den "dunkelsten der Triebe". Darwin und Mill363, Vertreter der Naturwissenschaft, Philosophie und Logik verkörpern die spirituelle Liebe, "des Geistes Licht". Das Liebesideal, das hier besungen und gepriesen wird, entspricht Emils Verklärung seiner Ginevra, die sinnliche Liebe wirkt dagegen überholt und antiquiert: "Wie ändern sich, so dacht' ich, doch die Zeiten". Das Gedicht wird im folgenden noch einmal eine Rolle spielen364, zunächst jedoch geht es um die ursprüngliche Herkunft des Namens Ginevra, die Artussage und die mittelalterliche Textgeschichte. Der Name der Königin aus der Artussage variiert in den verschiedenen Überlieferungen. Im Altfranzösischen "Guinevere" oder "Guenievre", findet man in deutschen Handschriften "Ginover", "Ginoffer" oder eben "Ginevra". Sie erscheint in den meisten Artusromanen in einer eher passiven Rolle als Hüterin und Beschützerin junger Liebespaare, fungiert als ideelles und unerreichbares Vorbild. In der sagenhaften Liebesgeschichte mit Lanzelot jedoch wird sie zur Hauptfigur. Die sinnliche Liebe Ginevras erschüttert die Grundfesten der hohen Minne, der spiritualen Liebe, die sie als Königin 362

SW , S.lOSf. In der ersten Ausgabe von 1882 heißt es noch "Lancelot" und "Genevra", beide Namen stehen ohne Anführungszeichen. 363 Saar waren die Schriften John Stuart Mills durchaus vertraut. Sein kurzes Glückwunsch-Gedicht an Theodor Gomperz bezog sich auch auf dessen große zwölfbändige Mill-Übersetzung, die zwischen 1869 und 1880 erschienen wan "Und kommen sollst du auch zu hohen Jahren,/An Zahl dem Absatz gleich, der sich ergeben/Von englisch übersetzten Exemplaren". SW III, S.43. Vgl. auch die Ausführungen Holzers, S.30-33. 364 Vgl. S.238f.

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eigentlich repräsentieren sollte. Dieser Ehebruch ist also von hoher gesellschaftlicher Brisanz. Die älteste Überlieferung des Stoffes stammt von Chretien de Troyes. Sein Lancelot, die Geschichte vom Karrenritter ("del chevalier de la charrete"365) enthält zwar die körperliche Liebeserfüllung des Paares, doch wird dies weniger problematisiert als vielmehr die völlige Hingabe Lancelots gepriesen. In aller Breite und moralischer Problematik wird der Stoff im großen französischen Lancelot-Graal-Zykltts behandelt. Die Entstehungs- und Verfasserfrage ist bis heute ungeklärt, es fallen jedoch Parallelen zum früher entstandenen Lancelot Chretiens auf366. Einig ist sich die Forschung auch darüber, daß dieses große epische Werk die größte Bedeutung und weitreichendste Rezeption erfuhr367. Die erste deutsche Bearbeitung des Lanzelotstoffes stammte von Ulrich von Zatzikhoven um 1200, in dessen Lanzelet allerdings auf die problematische Liebe Ginevras zu Lanzelot völlig verzichtet wird. Dasselbe gilt für Ulrich Füeterers gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstandenen Lantzilet. Im Verlauf der 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an der lange vernachlässigten Artusdichtung ständig. Schon der Verweis auf Lanzelot und Ginevra im Gedicht Liebesszene zeugt von Saars Kenntnis der Artussage. Er konnte auch die hier angeführten Werke sehr wohl gekannt haben. So lagen französische Ausgaben von Chretiens Lancelot, der Geschichte vom Karrenritter, ebenso vor368 wie erste deutsche wissenschaftliche Untersuchungen über Chretien de Troyes369. Zatzikhovens Lanzelet erschien 1845370, unter den deutschen Bearbeitungen des Lancelotstoffes genoß dieser Roman die größte Popularität371. Füeterers Lantzilet wurde etwas später, 1885, von 365

Chretien, S.14. 366 Vgl. z.B. Brogsitter, S.69 und speziell zur Liebesthematik Kennedy, S.52,60,66. 367 S. z.B. Frappier: "The most widely read and the most influential group of Arthurian prose", S.295; Brogsitter spricht von der "erheblichen Bedeutung" des französischen Prosa-Lanzelot für die europäische Literatur. Im Gegensatz dazu war der deutsche Prosaroman von Lanzelot lange in Vergessenheit geraten, die erste Ausgabe erschien erst 1948: Lancelot. Hrsg. v. Reinhold Kluge. Berlin 1948. 368 Z.B.: Le roman de la Charette. D'apres Gauthier Map et Chrestien de Troies. Public par le docteur W.J.A. Jonckbloet. Le Haye 1850. - La Queste del Saint Graal: in the french prose, as is supposed of Walter Map. Edited by Frederick] J[ames] Furnivall. London 1864. 369 Holland, W.L.: Crestien von Troies. Eine literaturgeschichtliche Untersuchung. Tübingen 1854. 370 Lanzelet. Eine Erzählung von Ulrich von Zatzikhoven. Hrsg. v. K.A. Hahn. Frankfurt am Main 1845. 371 Gervinus räumt ihm in seiner Literaturgeschichte ein eigenes Kapitel ein, er verwendet auch den Namen "Ginevra", S. 261ff.

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Arthur Peter herausgegeben372. Der große französische Lancelot-GraalZyklus lag seit dem späten 15. Jahrhundert gedruckt vor. Von der immensen Verbreitung dieses Werkes zeugen die zahlreichen Bearbeitungen des Stoffes in England, Italien und Spanien, die seit dem 16. kontinuierlich bis zum 19. Jahrhundert erscheinen373, und die alle in der Tradition dieses altfranzösischen Prosa-Lanzelot stehen. 1883 erschien von Peter eine Studie über die lange vergessenen deutschen Bearbeitungen des Lanzelotstoffes. Bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem deutschen Lanzelotroman und dem früher entstandenen französischen Lancelot-Gral-Zyklus kommt Peter auch auf die zentrale Problematik des Romans zu sprechen, das "unerlaubte, ehebrecherische Liebesverhältnis"374 zwischen Lanzelot und Ginevra. Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Forschung über die mittelalterliche Dichtung stieg im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch das literarische Interesse an mittelalterlichen Stoffen wieder. Wagners Opernlibretti und Immermanns Tristan und Isolde waren ein kleiner Teil einer großen, fast ausschließlich trivialen literarischen Modebewegung. Auch Lanzelot und Ginevra waren hier, wenn auch seltener, vertreten. So schrieb Adolf Volger 1888 ein "erzählendes Gedicht" mit dem Titel Ginevra375, ein Konglomerat aus Heldenepik, Kreuzzugsideologie, Ritterromantik und Motiven der Genovevalegende, in dem Ginevra den Nachstellungen des Hofverwalters bis in den Tod widersteht und nachträglich von diesem verleumdet und der Untreue bezichtigt wird. Wilhelm Hertz hält sich in seinem 1860 erschienenen "epischen Gedicht" Lanzelot und Ginevra316 mehr an die literarische Vorlage. Die Erläuterungen und Kommentare zu den Figuren am Schluß des Textes erheben zusätzlich den Anspruch auf Authentizität. Der im ganzen triviale Text enthält den Untergang des Artushofes als Konsequenz aus dem Ehebruch Ginevras, die Schuld des Paares wird jedoch relativiert, indem Artus als alter Mann geschildert wird377. 372

Ulrich Füeterers Prosaroman von Lanzelot. Nach der Donaueschinger Handschrift hrsg. v. Arthur Peter. Tübingen 1885. 373 Zur fraglichen Zeit erschienen unter anderen eine Ausgabe von FJ. Furnivall nach einer englischen Handschrift: Le Morte Arthur. London 1864; oder auch eine italienische Bearbeitung: Dell' illustre et famosa histona di Lancillotto dal Lago alcuni capitoli a seggio. Bologna 1862. Eine Ausgabe der französischen Überlieferung in modernem Französisch lag ebenfalls von Lancelot du Lac. In: Alfred Delvau (Ed.): Collection des romans de chevalerie. Mis en prose frangaise moderne. Paris 1869. 374 Peter, S.127. 375 Volger, Adolf: Ginevra. Ein erzählendes Gedicht. Landsberg 1888. [2. Auflage 1896]. 376 Hertz, Wilhelm: Lanzelot und Ginevra. Ein episches Gedicht in 10 Gesängen. Hamburg 1860. 377 "Sie war vermählt dem müden Greis dem kahlen Baum das grüne Reis;

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Die Kenntnis des Lanzelotstoffes mit seiner problematischen, schrankenlosen Liebe zwischen Lanzelot und Ginevra blieb nicht auf die wissenschaftliche Forschung und eine kleine dichtende Elite des späten 19. Jahrhunderts beschränkt. Sie gehörte zum allgemeinen Bildungsgut der Zeit. So verzeichnet zum Beispiel der Brockhaus aus dem Jahr 1885 unter dem Stichwort "Lancelot" den Namen Ginevra ebenso wie die französische Herkunft der Sage: Lancelot (auch Lanzelet) vom See, einer der Helden des bretonischen Sagenkreises von König Artus und der Tafelrunde. Nach den nordfranzösischen Bearbeitungen hat ihn die Fee Viviane [...] an des Artus Hof gebracht [...]. Sie unterstützt ihn auch bei den Abenteuern, in die ihn seine Liebe zu Ginevra, des Artus Gemahlin [...] verwickeln. Die Sage von L. wurde im Mittelalter zunächst von Nordfrankreich aus, wo sie unter anderen der Trouvere Chretien von Troyes behandelte, weit verbreitet.

Die wesentliche Frage ist jedoch, aus welchem Grund Saar auf die mittelalterliche Königin anspielen könnte, welche Zusammenhänge zwischen ihr und Saars Ginevra bestehen. Auch scheint, wenn man konsequent weiterdenkt, die Verbindung von Lanzelot zu Emil auf den ersten Blick völlig abwegig zu sein. Zu den berühmtesten Szenen der Sage zählt ohne Zweifel der erste Kuß zwischen Lanzelot und Ginevra, wobei Ritter Galehot dem schüchternen Lanzelot zur Seite steht. Sie erscheint nur im Lancelot-Graal-Zykltts. Bis zu dieser Szene bestimmten die Regeln der hohen Minne das Verhältnis der beiden. Der erste Kuß jedoch ist Auslöser einer eskalierenden, sinnlichen Liebesbeziehung. Diese Szene diente als bevorzugtes Motiv für Illustrationen in den verschiedenen Bearbeitungen378. Als literarisches Zitat fand sie Eingang in Dantes divina commedia, auch dies wird hier noch ausführlich zur Sprache kommen379. Als Beschreibung der Szene mag die Erläuterung aus einer divina commft&z-Übersetzung des Jahres 1871 dienen, die noch dazu Aufschluß gibt über die damalige recht detaillierte Kenntnis der französischen Quelle: Lanzelot vom See, ein Ritterroman aus dem Cyclus von der Tafelrunde. Lanzelot war der Sohn des entthronten Königs Ban von Benoit und wurde von der 'Dame vom See' errettet und erzogen. Er zeichnete sich am Hofe des Köngs Arthur durch ritterliche Thaten aus und liebte Ginevra, die Königin. [...] Gallehaut (Galeotto), König d'outre les marches, ward in mehreren Schlachten gegen Arthur durch Lanzelot's Tapferkeit besiegt, bis dieser eine Versöhnung zwischen ihnen stiftete. Aus Sie war ihm gut und wohlgesinnt Doch wie den Vater liebt das Kind". Hertz, S.7. 378 S. Kennedy, S.59. Vgl. auch die berühmte Illustration aus der Handschrift, abgebildet in: Lancelot, Titel, Bd. VIII. 379 S. S. 237f.

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Dankbarkeit verschaffte Gallehaut dem Lanzelot eine Zusammenkunft mit Ginevra; da aber der blöde Ritter anfangs gar nicht mit der Sprache heraus wollte, machte Gallehaut den Dolmetscher und forderte die Königin auf, dem Ritter einen KUSS zu geben, welche auch damit nicht lange anstand.380

Tatsächlich ist es Ginevra, die im französischen Lanzelotroman schließlich die Initiative ergreift: Lors se traient tout . . ensamble et fönt samblant de conseillier. Et la roine voit que li chevaliers n'en ose plus faire, si le prent par le menton et le baise devant Galahot asses longuemnet si que la dame de Malohaut seit qu'ele le baise.381

Die so wichtige und in die Mitte der Erzählung gestellte Kußszene in Ginevra verläuft nach denselben Gesetzmäßigkeiten. Der als so ungewöhnlich und zeituntypisch festgestellte Rollentausch, die zielgerichtete Aktivität Ginevras findet in dieser berühmten Lanzelot-Szene seine Entsprechung. Ginevras deutliche Einladung zum Kuß, die weit ausgebreiteten Arme und ihre bekannte Frage "Sie lieben mich also" (27,24), die eher eine Feststellung ist, wird nur durch das beherzte und forsche Eingreifen der gleichnamigen Königin noch übertroffen: als diese merkt, daß ihr Lanzelot Hemmungen hat, faßt die Königin ihn am Kinn, um ihn zu küssen. Hier ist nun auch die Parallele von Lanzelot zu Emil zu ziehen. Beide ähneln sich in ihrer Handlungsunfähigkeit gegenüber der Geliebten. Ebenso wie bei Emil stellt Ginevra auch für Lanzelot den Inbegriff der Vollkommenheit dar. Von "Ehrfurcht und heiliger Scheu" (27,34) ist auch das Verhalten Lanzelots Ginevra gegenüber geprägt; bei ihm findet sich die verklärte Liebe wieder, die bis zur Heiligenverehrung reicht. Bei Lanzelot und Emil kapituliert auch letztlich dieses Ideal mit einem wichtigen Unterschied: Emils sinnliche Leidenschaft wird nicht von Ginevra geweckt, er wird von Lodoiska verführt. Daher bleibt sein Idealbild von Ginevra bestehen. Doch auch die Artusgemahlin entspricht ebensowenig wie Saars Ginevra dem idealisierten Bild: sie ist der sinnlichen Liebe überhaupt nicht abgeneigt. Denn im mittelalterlichen Lancelot bleibt es nicht beim Kuß: "Quant li doi chevalier estoient desarme, si fürent mene en .II. cambres et jut chascuns dales s'amie, comme eil qui moult s'entramoient, et orent toutes les joies que amant peuent avoir"382. Wenn es in Ginevra nicht zur körperli380

Dante: Philalethes, S.33f. Sehr viel kürzer drückt sich Streckfuß in seiner Ausgabe von 1871 aus: "Lancelot, [...] Liebhaber der Königin Ginevra. [...] Galeotto war im Roman der Vermittler zwischen Lancelot und Ginevra", S.51. Auch Kopisch war 1887 die Sage aus dem altfranzösischen Lancelot-Zyklus nicht unbekannt: "Lancelot, [...] dem altfranzösischen Romane nach, begünstigter Liebhaber der Königin Ginevra. [...] Galeotto heißt der Kuppler in jenem Romane", S.34. 381 Lancelot, Bd. VIII, S.llSf. 382 Lancelot, Bd. VIII, S.444. 235

chen Liebe kommt, so liegt das, wie bereits dargestellt, nicht an Ginevra, sondern es ist Emil, dessen verklärtes und anbetungsvolles Ginevrabild dies nicht zuläßt. Auch die alte Sage beinhaltet den starken Kontrast zwischen Ginevra als Idealbild der hohen Minne und der wirklichen Ginevra, der Frau aus Fleisch und Blut. Zweifellos präsentiert Saar in seiner Erzählung keine mittelalterliche Ginevra in modernem Gewand. Ebensowenig kann man Emil als Pendant zu Lanzelot ansehen. Der Hinweis auf die mittelalterliche Sage zielt vielmehr auf das hier schon häufig festgestellte Kernthema der Erzählung: die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, die als roter Faden Ginevra durchzieht und in der hier vorgestellten tieferen Schicht wieder erkennbar wird. Die Liebesbeziehung zwischen Lanzelot und Ginevra ist nur ein - wenn auch wesentliches - Motiv der Lanzelotdichtung. Sie ist ein Grund mit für den Untergang des Anushofes und der Tafelrunde, einer letztlich idealisierten Gesellschaft. Auch die ritterliche Religiosität, die Gralssuche, vermag diesen Verfall nicht aufzuhalten, ritterliche Ideale kapitulieren vor der Unvollkommenheit der Realität. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen spielt sich die Liebesgeschichte Lanzelots mit Ginevra ab. Bei Saar wird diese induktive Ausweitung ebenfalls vorgenommen. Hier wie dort wird die idealisierte Scheinwelt einzelner auf die Ebene der gesellschaftlichen Umwälzungen übertragen, die individuelle Beziehung erscheint als Teil eines allgemeinen Verfallsprozesses383. Doch Saar knüpft nicht nur an die Artuslegende an. Wenn er in seiner Erzählung Emil und Ginevra gemeinsam "Sonette Petrarcas, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovicos phantastischem Gedicht" (28, l ff.) lesen läßt, so wählt er diese italienischen Dichter nicht zufällig. Die verklärte und anbetungsvolle Liebe Emils entspricht dem Liebesideal Dantes384 und Petrarcas. Die hohe Minne italienischer Prägung war es, die 383 Ygj Jig Überlegungen zu den von Saar in die Erzählung integrierten gesellschaftlichen Umwälzungen der 48er Revolution, S.178ff. 384 Der Brockhaus von 1883 faßt unter dem Stichwort "Dante" die Liebesgeschichte zwischen dem Dichter und Beatrice zusammen: "Er lernte sie, die ein Jahr jünger war, in seinem neunten Lebensjahre kennen, sie wurde von da an der Gegenstand seiner reinen, keuschen, idealen Liebe, zugleich die unversiegbare Quelle der dichterischen Begeisterung seines Lebens". Schon Boccaccio schrieb in Das Leben Dantes: "Soviel nur möchte ich nicht ungesagt sein lassen, daß [...] höchst ehrbar diese Liebe war und weder durch einen Blick noch ein Wort noch eine Gebärde sich je eine lüsterne Begierde beim Liebenden wie bei dem Gegenstand der Liebe zeigte; kein geringes Staunen der gegenwärtigen Weh, aus der jedes ehrbare Vergnügen geflohen ist und die sich daran

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unter dem Begriff des "dolce Stile nuovo" Berühmheit erlangte. Die vergeistigte Liebestheorie des späten italienischen Mittelalters gehörte nicht erst im späten 19. Jahrhundert zum Bildungsgut, schon Goethe ließ sie bei den Beschreibungen seines zweiten römischen Aufenthaltes nicht unerwähnt: [...] nun aber bestand die Gesellschaft aus geistlichen Herren und sonstigen würdigen Personen, die sich mit dem Amor jener römischen Triumvirn [Catull, Tibull und Properz] nicht einlassen durften, den sie deshalb ausdrücklich beseitigten. Hier blieb also nichts übrig, da dem Dichter die Liebe ganz unentbehrlich ist, als sich zu jener überirdischen und gewissermaßen platonischen Sehnsucht hinzugeben, nicht weniger ins Allegorische sich einzulassen, wodurch denn ihre Gedichte einen ganz ehrsamen, eigentümlichen Charakter erhalten, da sie ohnehin ihren großen Vorgängern Dante und Petrarch hierin auf dem Fuße folgen konnten.385

Das überirdisch-aseptische, unerreichbare und anbetungswürdige Frauenbild Emils - bei Dante ist es wiederzufinden386. Doch beläßt es Saar nicht bei dieser eher allgemeinen Parallele. Über die Anspielung auf Emils Liebesideal legt die Erwähnung Dantes den direkten Zusammenhang mit einer Passage aus der divina commedia nahe, die auf die Liebesgeschichte Lanzelots und Ginevras387 verweist: Noi leggiavamo un giorno per diletto di Lancialotto come amor lo strinse: soli eravamo e sanza alcun sospetto. Per piü fiate li occhi ci sospinse quella lettura, e scolorocci il viso; ma solo un punto fu quel ehe ci vinse. Quando leggemmo il disiato riso esser baciato da cotanto amante, questi, ehe mai da me non fia diviso, la bocca mi baciv o tutto tremante. Galeotto fu il libro e chi lo scrisse:

gewöhnt hat, das, was gefällt, ihrer Unzüchtigkeit zu besitzen, bevor sie es zu lieben gewogen hat". Boccaccio, S.15f. 185 Goethe, Bd.ll, Zweiter Römischer Aufenthalt, S.481. 386 Kopisch spricht 1887 im Zusammenhang mit der in der Vita nuova besungenen Liebe Dantes zu Beatrice von einer "ätherischen Vergeistigung", S.583, und im gleichen Sinne schreibt auch schon Kannegießer 1825: "Diese Liebesgeschichte ist höchst einfach; eine bescheidenere Liebe kann es nicht leicht geben, als die, welche sich mit dem Anblick der Geliebten, mit einem Gruße von ihr, ja endlich mit dem Preise derselben begnügt und darin Seligkeit findet. Beatrice ist für Dante gleich von Anfang weniger ein irdisches als ein verklärtes Wesen", S.XXEX. Schließlich stellt auch Schopenhauer in seiner Betrachtung über die Schilderung des Paradieses durch Dante Beatrice neben die "verschiedenen Heiligen", Bd. 2, S.406. 387 Ginevra wird in der divina commedia auch namentlich genannt, s. Dante: opere, Paradiso XVI, 15. 237

quel giorno piu non vi leggemo avante.388

Francesca beschreibt hier den Beginn ihrer Liebe zu Paolo, den ersten Kuß, der durch die Lektüre der Kußszene mit Lanzelot und Ginevra angeregt wird. Der Roman besitzt für Dantes Paar also die gleiche auslösende Funktion wie Galehot in der mittelalterlichen Sage. Lanzelot und Ginevra dienen hier als prominente Vorbilder, denn auch bei Dante besitzt der erste Kuß nur eine Auftaktfunktion: "quel giorno piu non vi leggemo avante". Dieser erste Kuß stellt so für Dante den Beginn der körperlichen Liebe dar und verläßt das spirituale Ideal389. Der Bruch hat für Dantes Paar Konsequenzen: die Szene spielt im Inferno, in der Vorhölle. Denn durch ihre Sexualität verliert Francesca ebenso wie die Königin Ginevra die geforderte überirdische Reinheit, sie werden zu Wesen aus Fleisch und Blut390. So fällt auch hier wieder der Konflikt zwisschen angestrebtem Ideal und "profaner" Wirklichkeit ins Auge. An dieser Stelle ist es sinnvoll, noch einmal das Gedicht Liebesszene ins Blickfeld zu rücken. Denn auch dort wird nicht nur auf die Artussage angespielt. In erster Linie geht es um die hier angeführte Danteszene. Das Gedicht zeigt, wie genau Saar die literarischen Vorlagen studiert hatte: "Von 'Lanzelot' und 'Ginevra' war /Das sah man, nichts in diesem Buch zu lesen" heißt es bei Saar. Bei Dante verhält es sich umgekehrt. Francesca und Paolo

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Dante: open, Inferno, S.22, V. 127-138. Wir lasen eines Tags zum Vergnügen Von Lanzelot, wie Liebe ihn umstricket, Wir waren ganz allein, ohne Arges. Zum öftern trafen schon sich unsere Blicke Beim Lesen, und entfärbte sich das Antlitz; Doch was uns ganz besiegt, war eine Stelle, Als wir gehört, wie das ersehnte Lächeln Von so erhabnen Liebenden geküsst ward; Da küsste mich, der nie sich von mir trennet, Ganz bebend auf den Mund. Gallehaut ward Uns jenes Buch und wer's geschrieben hatte An diesem Tage lasen wir nicht weiter." Dante: Philalethes, S.33f. 389 Vgl. die bereits angeführten Kommentare zur Szene, S.235. 390 Hierin besteht die eigentliche Sündhaftigkeit dieser Frauenfiguren in Dantes Inferno. Vgl. Boccaccios Aussagen zu Konzeption der commeäia: "Und nachdem er lange über dem gesonnen, was er tun sollte, begann er in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahre das zur Ausführung zu bringen, worüber er gesonnen hatte, nämlich das Leben der Menschen nach Verdiensten zu geißeln und zu belohnen, je nach seiner Verschiedenheit. Dieses aber teilte er, da er wußte, daß es von dreierlei Art war, d.i. lasterhaft, oder sich von den Lastern lossagend und zur Tugend schreitend, oder tugendhaft, in drei Bücher ein, damit beginnend, das lasterhafte zu geißeln, und endigend mit des tugendhaften Preise", S.57. 238

werden ja gerade durch die Lektüre der Liebesgeschichte Ginevras und Lanzelots zur sinnlichen Liebe animiert. Ein weiteres Mal bezieht Saar sich im Gedicht auf diese Danteszene: "Mir aber ward der Anblick zum Gedicht" heißt es bei ihm. Auffällig ist die Anlehnung an den Wonlaut der Kußszene aus der divina commedia-Übersetzung von Philalethes: "Gallehaut ward Uns jenes Buch"391. Möglicherweise kannte Saar genau diese Ausgabe. Während er im Gedicht durch die variierte Anlehnung den ursprünglichen Sinn der Aussage umkehrt, die vergeistigte Liebe also euphorisch besingt, gerät sie Jahre später in der Erzählung Ginevra zur Illusion, sie entspricht nicht mehr der Realität. Durch die Erwähnung Dantes in Ginevra erreicht Saar so zunächst die eher allgemeine Parallele von Dantes spiritualem Liebesideal, der verklärenden Verehrung Beatrices, zu Emil und seiner vergötternden und geistigen Liebe. Darüber hinaus spielt auch Ginevra in der divina commedia eine Rolle. Hierdurch wird die Anspielung konkret und bezieht sich auf Saars Figur Ginevra. Bei Dante verkörpert Ginevra die sinnliche Liebe, in genau dieser Funktion erscheint sie auch wieder in Saars Liebesszene. Die Interpretation von Saars Ginevra als überaus irdisches und auch sinnliches Wesen wird durch den Verweis auf Dante gestützt, die Brüchigkeit von Emils Liebesideal aufgezeigt. Der zweite Dichter, dessen Werke Ginevra und Emil lesen, ist Petrarca. Die Liebesvorstellung Petrarcas, der bereits an der Schwelle zur Neuzeit steht, unterscheidet sich schon deutlich von der eines Dante. Petrarcas lyrisches Werk ist geprägt von der Liebe zu Laura. Zwar hält Petrarca prinzipiell an dem erstrebenswerten Ideal des "dolce Stile nuovo" fest, hat aber bereits sehr mit seinen irdischen Trieben zu kämpfen392. Erst nach Lauras Tod findet der zwischen Begierde und Entsagung schwankende Sänger völlig zur religiösen Überhöhung seiner Laura. Schon zu ihren Lebzeiten allerdings vergleicht er sie mit einer weinenden Madonna: "Piangea madonna"393, im 126. Sonett beschreibt er Lauras Schönheit als überirdisch: In quäl pane del ciel, in quäle idea Era l'exempio onde natura tolse [...] Per divina bellezza indarno misa Chi gli occhi de costei gi v a mai non vide [...].394 391

Dante: Philalethes, S.34. S. auch Försters Erläuterung zu seiner Petrarcaausgabe von 1851: "Obgleich der Geist ritterlicher Galanterie zu Petrarca's Zeit noch nicht völlig erloschen war, so war doch seine Liebe eine Erscheinung, zu einzig in ihrer Art, als daß nicht hier und da Zweifel an ihrer Reinheit hätten rege werden sollen". Petrarca: Förster, 2. Teil, S.143. 393 Petrarca: II Canzoniere, S.321. 394 Petrarca: II Canzoniere, S.324. "In welchem Himmel, welcherlei Ideen 392

239

Doch eben dieser Tod Lauras ermöglicht es erst dem lyrischen Ich, seine Geliebte vollständig zu glorifizieren. Nicht zuletzt bei Dante verhinderte der Tod Beatrices, die Frau als menschliches Wesen ansehen zu müssen. Dennoch wird Laura zuweilen Koketterie und eine gewisse Selbstverliebtheit unterstellt, also überaus menschliche Eigenschaften395: Se forse ogni sua gioia Nel suo bei viso e solo, E di tutt' altro e schiva396 Veggendo in voi finir vostro desio.397 Quella ehe sol per farmi morir naque, Perch' a me troppo et a se stessa, piacque.398

Zusammen mit der zuweilen durchbrechenden sinnlichen Begierde des lyrischen Ich399 wird eine Laura beschrieben, die durchaus irdisch und aus Fleisch und Blut ist, wie in der ersten Kanzone: I'segui' tamo avanti il mio desire, Ch'un di, cacciando, si com'io solea, Mi mossi: e quella fera Bella e cruda In una fönte ignuda Si stava, quando sol piü forte ardea. , perche d'altra vista non m'appago, Stetti a mirarla; ond'ella ebbe vergogna; E per fame vendetta, o per celarse, Fand die Natur das Muster, zu bereiten [...] Nach Himmelsschönheit rings vergebens spähet Wer nie der Augen milden Glanz ertragen". Petrarca: Förster, 1. Teil, S.174. 395 Die menschlichen Seiten Lauras waren schon im frühen 19. Jahrhundert Gegenstand der Diskussion. Vgl. Fernow, S.47f.: "Vielleicht waren diese Klagen nicht ganz ohne Grund. Wo ist die schöne Frau, welche nicht ein wenig Eigenliebe besäße, welche sich nicht im Bewußtsein ihrer Reize und der durch sie erregten Bewunderung gefiele?". 396 Petrarca: II Canzoniere, S.271. "Hat sie an sich nur Freude Und wenn von ändern Dingen Nichts bei ihr findet Gnade". Petrarca: Förster, 1. Teil, S.48. 397 Petrarca: II Canzoniere, S.171. "Wie in euch selbst sich eure Lust beschränket" Petrarca: Förster, 1. Teil, S.129. 398 Petrarca: II Canzoniere, S.429. "Sie, die, nur mich zu tödten, trat in's Leben, Weil sie sich selbst, ich ihr zu sehr ergeben" Petrarca: Förster, 1. Teil, S.77. 399 Vgl. Fernow, S.53f.: "Die Liebe dringt durch die Sinne ins Gemüth, und erregt in ihm Begierden, wie sie unserer Organisation gemäß sind, Aus demselben Leime geformt, wie die ändern Menschen, empfand sie Petrarca ohne Zweifel auf gleiche Weise, und wie keusch auch seine Muse war, so wirft sie doch an zwei oder drei Stellen diesen Zwang ab. In einer solchen Stelle wünscht er eine Nacht mit Laura zuzubringen, ohne andre Zeugen als die Sterne".

240

L'acqua nel viso co le man mi sparse.400

Hier erscheint Laura plötzlich als badende Venus. Von diesem Zwiespalt ist die Liebeslyrik Petrarcas geprägt. Die Scham vor seiner Leidenschaft empfindet und beschreibt der Sänger noch in der gleichen Kanzone, in der er vor seiner eigenen Lust flieht: Vero dirö (forse e' parra menzogna), Ch'i' senti' trarrni de la propria imago, Et in un cervo solitario e vago Di selva in selva ratto mi trasformo; Et amor de miei can' fuggo lo stormo.401

Im Fall Dantes stellte die rein geistige Liebe noch einen unumstößlichen Grundsatz dar. Als abschreckendes Beispiel wurde auf Paare wie Lanzelot und Ginevra zurückgegriffen. Bei Petrarca jedoch, eine Generation später, kommt bereits die Konkurrenz zwischen vergeistigter und sinnlicher Liebe zum Vorschein, ein Konflikt, der bei Emil eine so große Rolle spielt. Wenngleich Petrarca auch an Werten und Idealen wie Keuschheit, Tugend und anbetungsvoller Liebe festhält, so erhält das verklärte Frauenbild doch bereits Risse. Über den Vergleich der mittelalterlichen Liebesvorstellung mit Emils Idealisierung hinaus ergeben sich auch deutliche Parallelen zu Ginevra. Während Dantes Beatrice noch ausschließlich körperloses, mystifiziertes Sinnbild ist, das ausschließlich in himmlischen Sphären schwebt und ohne einen zu beschreibenden irdischen Charakter auskommt, so ändert sich dies bei

400

Petrarca: II Canzoniere, S.138. "Und so bin meiner Lust ich nachgegangen, Daß, einst so jagend, plötzlich ich erkannte Das holde, scheue Wild, das nackt ich sähe In einem Quell ganz nahe, Als glühend über mir die Sonne brannte. Ich, weil an Nichts so gern mein Blick sich weidet, Blieb stehn und sah verschämt ihr Auge sinken, Und, sich zu rächen oder sich zu schützen In's Antlitz ihre Hand mir Wasser sprützen". Petrarca: Förster, 1. Teil, S.9. 401 Petrarca: II Canzoniere, S.138. "Wahr ist es - mag es Lüg' auch Ändern dünken Ich fühlte mich vom eignen Leib entkleidet Und ward ein Hirsch, der von der Welt sich scheidet, Unstet und irr von Wald zu Wald zu ziehen, Und muß noch jetzt vor'm Schwärm der Hunde fliehen". Petrarca: Förster, 1. Teil, S.9. 241

Petrarcas Laura402. Durch seine kaum zu zügelnde auch körperliche Leidenschaft bekommt Laura irdische Züge, das Tabu der Sinnlichkeit wird vom Dichter nur mühsam eingehalten403. Auch Emil kann sich zunächst sinnlicher Eindrücke nicht erwehren. Sein erster Walzer mit Ginevra ist noch von Leidenschaft geprägt404: "und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken, daß ich es unwillkürlich ihrem anspruchsvollen Begleiter nachtat und sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war" (20,lff.). Auch bei seinem letzten Treffen mit ihr nimmt er sehr wohl Ginevras Körper wahr: "Sie war auffallend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt" (38,1 If.). Ebenso wie bei Laura wurden auch bei Ginevra die irdischen und sinnlichen Züge festgestellt, obwohl Emil als Erzähler alles tut, um diesen Eindruck zu verwischen. Die ersten Sprünge im verklärten Liebesideal lassen Petrarca hier als Bindeglied erscheinen zwischen Dante und dem letzten italienischen Dichter, der von Ginevra und Emil gelesen wird: "Meister Ludovico". In Ariosts Orlando Furioso, "Meister Ludovicos phantastischem Gedicht", ist das alte Liebesideal Gegenstand der beißenden Satire405. Ariosts Beschreibung einer abgeschlossenen, höfischen Welt des Mittelalters aus der Sicht der Renaissance ist ein oft ironisch gezeichneter Abgesang auf eine bereits versunkene Gesellschaft. Auftretende Charaktere, die sich an ritterliche Tugend und vor allem an höfisches Liebesideal halten, werden zu komischen Figuren angesichts des menschlichen Geschlechtstriebes: "sequir quel ehe natura ago402

Die letztliche doch unerfüllt bleibende körperliche Liebe ist nach Schopenhauer Bedingung für die andauernd besungene Leidenschaft: "Wäre Petrarkas Leidenschaft befriedigt worden, so wäre, von dem an, sein Gesang verstumt, wie der des Vogels, sobald die Eier gelegt sind". Schopenhauer, Bd.4, Metaphysik der Geschlechtsliebe, S.653. 403 Vgl. dazu auch die Ergebnisse der neueren Forschung: "His love has commonly no allegorical meaning. Dante's Beatrice represented divine revelation; Laura represents only herself. She is a real woman, whose faults of character are clearly stated. [...]. Petrarca loves Laura humanely before he loves her angelically. His love takes its rise from sensual desire". Bishop, S.Slf. 404 Vgl.S.162. 405 Vgl. Brockhaus 1882, Stichwort Ariost: "Der Orlando' fußt auf mittelalterlichen Heldengeschichten, die Ariost aber nicht in dem Tone eines objekiven Erzählers vorträgt, sondern in ironisierender Darstellung, welche den Leser keinen Augenblick im Zweifel darüber läßt, daß der Dichter an die Wirklichkeit seiner Schilderungen nicht glaubt, noch auch in dem Leser den Glauben an die Wirklichkeit derselben erregen will. Dadurch unterscheidet sich Ariost von seinen Vorgängern und zeigt sich, indem er sich den von ihm benutzten Quellen gegenüber skeptisch verhält, als echter Sohn der Renaissance". Der Orlando Furioso erschien bis in die Achtziger Jahre hinein in deutschen Übersetzungen, auch Paul Heyse gab ihn heraus: Anost's Rasender Roland. Illustriert von Gustav Dore. Metrisch übersetzt von Hermann Kurz, durchgesehen und herausgegeben von Paul Heyse. Breslau 1880-1881. 242

gna"406. Tugenden des Adels oder der Ritterlichkeit werden abgelöst durch den sportlichen Wettkampf der sinnlichen Liebe. Ariost setzt in seinem Orlando Furioso die Liebe jedoch nicht als Selbstzweck ein, sondern die Kapitulation des vergeistigten Liebesideals steht stellvertretend für den Untergang der ritterlichen Gesellschaft, wie ja auch Saar das Thema erweitert zu einem sozialgeschichtlichen Konflikt von Scheinwelt und Realität. Da Saars literarische Anspielungen bislang stets den direkten Bezug zur Thematik in Ginevra aufwiesen, überrascht es nicht mehr, wenn auch im Orlando Furioso eine Figur mit Namen Ginevra auftritt. Im Gegensatz zu Dante ist Ariosts Ginevra nicht mit mit der Königin der Tafelrunde identisch, obwohl natürlich - genau wie bei Saar - bewußt auf den Skandal aus der mittelalterlichen Sage angespielt wird. Bei der bereits angedeuteten Verbreitung des Lanzelotromans auch während der Renaissance konnte Ariost sicher sein, daß seine Anspielung vom zeitgenössischen Leser verstanden wurde. Seine Ginevra, eine schöne Königstochter, wird der Unkeuschheit bezichtigt und muß mit der Todesstrafe rechnen, wenn nicht ein Ritter im Zweikampf durch einen Sieg ihre Unschuld beweist. Ritter Rinaldo zeigt sich auch sofort bereit, für Ginevra in die Schranken zu treten; bis hierhin ist die ritterliche Welt des Mittelalters noch intakt. Doch Rinaldos Begründung für sein Angebot sprengt jede höfische Moral: Sia vero o falso ehe Ginevra tolto S'abbia il suo amante, io non riguardo a questo407

Völlig gleichgültig ist ihm also Ginevras Unschuld, von der er überhaupt nicht überzeugt ist: Non vo' giä dir ch'ella non l'abbia fatto; Che, nol sappiendo, il falso dir potrei408

Vielmehr kommt es Rinaldo darauf an, gegen die herrschende Doppelmoral und damit gegen die ungerechte Todesstrafe anzukämpfen: Se un medesimo ardor, s'un disir pare In china e sforza l'uno e l'ahro sesso A quel soave fin d'amor, ehe pare All' ignorante vulgo un grave eccesso; Perche si de1 punir donna o biasmare, 406

Ariost: Orlando, XLIII,141, S.399. Ariost: Orlando, IV,61, S.46 "Daß sie den Freund zu sich hinaufgehoben, Sei's wahr, sei's falsch, mir ist es einerlei". Ariost: Fleischer, S.108. 408 Ariost: Orlando, IV, 65, S.46 "Zwar sag' ich nicht, daß sie es nicht begangen, (Ich könnte lügen, denn ich weiß es nicht)". Ariost, Fleischen S.108. 407

243

ehe con uno o piü d'uno abbia commesso quel ehe I'uom fa con quante n'ha appetito, e lodato ne va, non ehe impunito?409

Die Tatsache, daß sich Ginevra schließlich als unschuldig erweist, spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist es, "daß in der ganzen Szene eine unplatonische naturalistische Auffassung der Liebe dem höfischen Minneideal bewußt entgegengesetzt wird. [...] Die wahrhafte, das ganze ritterliche Wertgebäude umstürzende Neuerung des Furioso besteht allein in Rinaldos Zweifel an der Unschuld der von ihm zu verteidigenden Prinzessin"410. Nun wird auch endgültig der hier angedeutete Zusammenhang zwischen den drei italienischen Dichtern und die Zielrichtung des Verweises für die Erzählung klar. Die angeführten Poeten stehen für eine zunehmende Desillusionierung eines Liebesideals, das zur Zeit Dantes eine Blütezeit erlebt und schließlich bei Ariost nur noch Gegenstand der Satire ist. Letztlich - Ariost markiert hier den zeitlichen Schlußpunkt - setzt sich die sinnliche Liebe durch, die verklärte, geistige Liebe wird ein nicht mehr haltbares und zeitgemäßes Ideal. Schließlich stehen sich auch in Saars Ginevra körperliche und geistige Liebe gegenüber, ein Gegensatz, der jedoch nicht, wie man nach Emils Beschreibungen glauben könnte, zwischen Ginevra und Lodoiska besteht. Die unterschiedliche Auffassung der Liebe wird zum Schluß von Ginevra selbst angedeutet, indem sie auf Emils Seufzer, daß er sie sehr wohl geliebt habe, antwortet: "Nicht so, wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt - nicht so, wie i c h Sie geliebt" (39,8f.). Zunächst war Saar in der Handschrift noch deutlicher geworden411: "Nicht s o , wie ich es verstehe - nicht s o , wie i c h Sie geliebt - nicht s o, wie Sie mich lieben mußten, wenn ich Ihnen m e i n e Liebe hätte bewahren sollen" (H 84,7-10). Ginevra spricht hier nicht von Emils Untreue, von der sie auch konkret nichts weiß, es geht hier um die Art der Liebe: "wie ich es verstehe", und sie versteht unter Liebe etwas anderes als verklärte Anbetung und platonische Verehrung. 409

Ariost: Orlando, IV, 66, S.46 "Wenn sich durch gleiche Glut, durch gleiche Triebe Gelockt, gezwungen, die Geschlechter nahn, Dies so wie jen's, dem süßen Ziel der Liebe. Das ein Verbrechen scheint dem Pöbels Wahn: Warum denn, daß ein Weib straffällig bliebe, Weil sie mit einem oder zwei gethan Das, was ein Mann, straflos, wohl gar gepriesen Mit allen that, die er sich mag erkiesen". Ariost: Fleischer, S. 108. 410 Kremers, S.89f. 411 Die Passage erschien noch in den Dioskuren und wurde erst für die Drucklegung von F innerhalb der Handschrift getilgt, s. S.84.

244

Saar begnügt sich nicht mit der realistischen Schilderung von Zeit- und Kulturgeschichte, er verweist durch die literarischen Bezüge von der Artussage über die italienische Dichtung bis hin zu Turgenjew auf die Kernthematik von Illusion und Wirklichkeit und stellt gleichzeitig das Thema als ein zeitloses dar. Die Kapitulation Emils vor der eigenen Sinnlichkeit ist in diesem Kontext nur ein weiteres, modernes Beispiel. Die eigentliche Pointe besteht jedoch darin, daß auch das Objekt der Anbetung, Ginevra, analog zur Anussage und zu Dante der verklärten Vorstellung nicht entspricht. Auch dies wird über die immanente Interpretation hinaus durch die literarischen Bezüge gestützt. Abschließend sei erinnert an Saars Bemerkung während der Entstehungszeit von Ginevra: "Es sollte wieder einmal etwas recht Poetisches werden"412. Auch wenn der Artushof im Lanzelotroman, die mittelalterliche Welt mit ihrem Liebesideal und die von Saar gezeichnete Gesellschaft des Vormärz untergeht, so bleibt das idealisierte Frauenbild, die verklärte Liebe doch Thema durch die Jahrhunderte. Auch bei Saar hält das Ideal der Liebe und das Bild von Ginevras Vollkommenheit den Tatsächlichkeiten nicht stand, als Quintessenz bleibt jedoch, dem viel zitierten Pessimismus Saars zum Trotz, die Unsterblichkeit des Ideals bestehen.

412

Brief an die Fürstin Hohenlohe vom 26.12.1888 (BrW 16).

245

V. Bibliographie

1. Quellen a. Textzeugen H

J1

F N3 J2

N4

R

= eigenhändiges Manuskript als Druckvorlage für F, enthält Gtnevra und Geschichte eines Wiener Kindes, Wiener Stadt- und Landesbibliothek p.N. 3467] = Ginevra. In: Die Dioskuren. Literarisches Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereins der österreichisch-ungarischen Monarchie. 19. Jg. Wien 1890. S.149-179. = Ginevra. In: Frauenbilder. Zwei neue Novellen von Ferdinand von Saar. Heidelberg 1892. S.3-82. = Ginevra. In: Novellen aus Österreich von Ferdinand von Saar. Erste Ausgabe in zwei Bänden. Heidelberg 1897. 2. Bd. S. 179-232. = Ginevra. In: Moderne Kunst in Meisterholzschnitten nach Gemälden und Skulpturen berühmter Meister der Gegenwart. XVII. Bd. 12 Hefte und 2 Extrahefte. Berlin 1902/03. 12. Heft, S.262266; 13. Heft, S.294-296, 305-307; 14. Heft, S.314-318. = Ginevra. In: Novellen aus Oesterreich von Ferdinand von Saar. In zwei Bänden. [2. Ausgabe in zwei Bänden, 4. Aufl. der Sammlung.] Kassel 1904. 2. Bd. S. 181-232. = Ginevra. Die Troglodytin. Zwei Novellen von Ferdinand von Saar. Mit einer Einleitung von Adolf Bartels. Reclams Universalbibliothek 4600. Leipzig o.J. [1904]. S.22-64.

b. Sonstige Werke Ferdinand von Saars Ferdinand von Saars sämtliche Werke in 12 Bänden. Im Auftrage des Wiener Zweigvereins der Deutschen Schillerstiftung m.e. Biographie des Dichters v. Anton Bettelheim hg. v. Jakob Minor. Leipzig o.J. [1908]. > SW I-XII Ferdinand von Saar. Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim: Bd. 1: Marianne. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Regine Kopp. Bonn 1980. > KTD l Bd. 2: Die Geigerin. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Heinz Gierlich. Bonn 1981. > KTD 2 Bd. 3: Seligmann Hirsch. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Detlef Haberland. Tübingen 1987. > KTD 3 249

Bd. 4: Innocens. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Jens Stuben. Bonn 1986. > KTD 4 Bd. 5: Herr Fridolin und sein Glück. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Lydia Beate Kaiser. Tübingen 1993. > KTD 5

c. Verträge und Abrechnungen vorliegend in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek: DW l = Vertrag zwischen Ferdinand von Saar und Philipp Reclam über Ginevra und Die Troglodytin. [I.N. 212733] DW 2 = Saars eigene Buchführung über den Absatz seiner Werke 1897 1903; Rechnungen und Abrechnungen von Georg Weiß an Saar. [I.N. 17850] DW 3 = Rezensionsbeleg über Frauenbilder der Redaktion des Heimgarten, Graz 25.4.1892. [I.N. 18441/2]

d. Briefe von und an Saar413 a) Gedruckte Briefe: Briefe an, von und um Josephine von Wertheimstein. Ausgew. u. erl. v. Heinrich Gomperz, 1933. Für die Drucklegung neu bearb. u. hrsg. v. Robert A. Kann. 1980-1981 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philiosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte. Bd. 390). Wien 1981. > Briefe Wertheimstein

413

250

Aus den übrigen Publikationen zu Saars Korrespondenz wird wegen ihrer großen Fehlerhaftigkeit und Unvollständigkeit - vgl. auch Stuben S.433, Anm. 2094 - nicht zitiert, sondern auf die Originale zurückgegriffen. Die Veröffentlichungen sind: Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Maria von Ebner Eschenhach. Hrsg. v. Heinz Kindermann. Wien 1957; Fürstin Marie zu Hohenlohe und Ferdinand von Saar. Ein Briefwechsel. Hrsg. v. Anton Bettelheim. Wien 1910; Adam Müller-Guttenbrunn: Ferdinand von Saar. Nach persönlichen Erinnerungen. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Litteratur und Musik. Amtliches Blatt des "Deutschen Bühnen-Vereins". Jg. 8, Nr.23. Berlin/Leipzig/ Wien 1.9.1906. S.980-986; Bnefevon Ferdinand von Saar. Mitget. v. Moritz Necker. Österreichische Rundschau (Wien) Bd. 16, H. 3 (1.8.1908). S.194-207; Karl von Thalen Erinnerungen an Ferdinand von Saar. In: Österreichische Rundschau (Wien). Bd. 11, H. 3 (15.5.1907). S.260-272; Rudolf Holzer: Villa Wertheimstein. Haus der Genien und Dämonen (= ÖsterreichReihe). Wien 1960.

Ferdinand von Saar: Briefwechsel mit Abraham Altmann. Kritisch hrsg. u. kommentiert v. Jean Charue (= Ferdiand von Saar: Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Ergänzungsband 1). Bonn 1984. > BW Altmann b) Originalbriefe An Abkürzungen werden verwendet: A. B. Ba. D. H. K. O. P. R. W. W.-D.

= Aussee = (Schloß) Blansko in Mähren = Baden bei Wien = Döbling in Wien = (Schloß) Habrovan bei Neu-Raußnitz in Mähren = Kaltenleutgeben = (Schloß) Oslavan bei Eibenschitz in Mähren = (Schloß) Pfannberg bei Frohnleiten in der Steiermark = (Schloß) Raitz in Mähren = Wien = Wien-Döbling (1891 und später)

BrD BrD l

= Brief im Bezirksmuseum Döbling (Villa Wertheimstein), Wien XIX = Saar an N.N. B., 21.12.1888

BrÖ BrÖ l BrÖ 2 BrÖ 3

= = = =

BrW BrW l BrW 2 BrW 3 BrW 4 BrW 5 BrW 6 BrW 7 BrW 8 BrW 9 BrW 10 BrW 11 BrW 12

= Briefe in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek = Richard Bong an Saar. Berlin, 17.6.1890 [I.N. 17963] = Saar an Otto Braun. R., 24.7.1890 [I.N. 17347] = Saar an Marie v. Ebner-Eschenbach. K., 23.1.1890 [I.N.49933] = Saar an Marie v. Ebner-Eschenbach. W.-D., 11.9.1903 [I.N.49965] = Saar an Marie v. Ebner-Eschenbach. W.-D., 12.7.1904 [I.N. 49973] = Marie v. Ebner-Eschenbach an Saar. 19.1.1882 [I.N. 55409] = Marie v. Ebner-Eschenbach an Saar. 13.9.1903 [I.N. 55467] = Saar an Cornelie v. Gomperz. B., 4.10.1888 [I.N.122155] = Saar an Cornelie v. Gomperz. B., 15.1.1889 [I.N. 122156] = Saar an Cornelie v. Gomperz. H., 2.11.1897 [I.N. 122136] = Saar an Luise v. Gomperz. R., 4.12.1888 [I.N. 127035] = Saar an Marie zu Hohenlohe. P., 19.9.1876 [I.N. 116243]

Briefe in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien Saar an Anton Bettelheim. B., 10.11.1888 [Sign. 921/57-7] Saar an Anton Bettelheim R., 22.11.1890 [Sign. 921/57-14] Saar an Karoline v. Gomperz. B., 25.10.1888 [Sign. 922/6-3]

251

BrW 13 BrW 14 BrW 15 BrW 16 BrW 17 BrW 18 BrW 19 BrW 20 BrW 21 BrW 22 BrW 23 BrW 24 BrW 25 BrW 26 BrW 27 BrW 28 BrW 29 BrW 30 BrW 31 BrW 32 BrW 33 BrW 34 BrW 35 BrW 36 BrW 37 BrW 38 BrW 39 BrW 40 BrW 41 BrW 42 BrW 43 BrW 44 BrW 45 BrW 46 BrW 47 BrW 48 BrW 49 BrW 50 BrW 51 BrW 52 BrW 53 BrW 54 252

= Saar an Marie zu Hohenlohe. P., 3.2.1877 [I.N. 116248] = Saar an Marie zu Hohenlohe. D., 31.8.1885 [I.N. 116282] = Saar an Marie zu Hohenlohe. B., 10.3.1886 [T.N. 116287] = Saar an Marie zu Hohenlohe. R., 26.12.1888 [I.N. 116305] = Saar an Marie zu Hohenlohe. B., 3.1.1889 [I.N. 116306] = Saar an Marie zu Hohenlohe. B., 8.2.1889 [I.N. 116308] = Saar an Marie zu Hohenlohe. W., 13.5.1889 [I.N. 116309] = Saar an Marie zu Hohenlohe. K., 3.4.1890 [I.N. 116310] = Saar an Marie zu Hohenlohe. R., 1.1.1892 [I.N. 116312] = Saar an Marie zu Hohenlohe. R., 25.5.1892 [I.N. 116313] = Marie zu Hohenlohe an Saar. Undatiert [April? 1889] [I.N. 17696] = Marie zu Hohenlohe an Saar. W., 23.12.1891 [LN. 17711] = Saar an Victor P. Hubl. B., 25.3.1889 [I.N. 4918] = Saar an Victor P. Hubl. Ba., 19.6.1889 [I.N. 4919] = Saar an Victor P. Hubl. A., 1.10.1889 [I.N. 32404] = Saar an E.[duard] M.[Michael] Kafka. K., 14.3.1890 [I.N. 49552] = Saar an Stephan Milow. R., 14.2.1894. [I.N. 68132] = Saar an Stephan Milow. R., 6.6.1895 [I.N. 68138] = Saar an Stephan Milow. H., 11.10.1895 [I.N. 68142] = Saar an Stephan Milow. R., 2.6.1896 [I.N. 68150] = Saar an Stephan Milow. R., 4.2.1897 [I.N. 68155] = Saar an Stephan Milow. R., 28.5.1897 [I.N. 68158] = Saar an Stephan Milow. W.-D., 1.8.1897 [I.N. 68162] = Saar an Max Morold. W.-D., 11.1.1904 [I.N. 70953] = Saar an Adam Müller-Guttenbrunn. B., 10.1.1889 [I.N. 34252] = Saar an Adam Müller-Guttenbrunn. R., 21.12.1891 [I.N. 43244] = Saar an Adam Müller-Guttenbrunn. R., 28.1.1892 [I.N. 34245] = Saar an Moritz Necker, R., 16.3. 1892 [I.N. 143634] = Saar an Moritz Necker. R., 22.3.1892 [I.N. 143631] = Saar an Moritz Necker. R., 31.3.1892 [I.N. 143629] = Saar an Moritz Necker. R., 30.4.1892 [I.N. 143632] = Saar an Moritz Necker. R., 9.5.1892 [I.N. 143612] = Saar an Moritz Necker. R., 29.5.1892 [I.N. 143625] = Saar an Moritz Necker. R., 2.6.1892 [I.N. 143613] = Saar an Moritz Necker. R., 29.4.1893 [I.N. 143608] = Saar an Betty Paoli. B., 9.2.1889 [I.N. 45176] = Saar an Betty Paoli. K., 15.2.1890 [I.N. 45165] = Saar an Betty Paoli. R., 28.5.1891 [I.N. 45166] = Saar an Betty Paoli. R., 19.12.1891 [I.N. 45171] = Betty Paoli an Saar. W., 13.2.1890 [T.N. 18166] = Betty Paoli an Saar. W., 21.11.1891 [I.N. 18173] = Betty Paoli an Saar. W., 9.12.1891 [I.N. 18174]

BrW 55 BrW 56 BrW 57 BrW 58 BrW 59 BrW 60 BrW 61 BrW 62 BrW 63 BrW 64 BrW 65 BrW 66 BrW 67 BrW 68 BrW 69 BrW 70 BrW 71 BrW 72 BrW 73 BrW 74 BrW 75 BrW 76

= Saar an Fürst Hugo Karl Franz Altgraf zu Salm-Reifferscheidt. B., 31.3.1889 p.N. 221039] = Saar an August Sauer. W.-D., 13.12.1897 [I.N. 163777] = Saar an Emil Söffe. R., 9.12.1891 [I.N. 39813] = Saar an Karl v. Thaler. B., 16.1.1882 [I.N. 30211] = Saar an Karl v. Thaler. O., 27.9.1887 [I.N. 30225] = Saar an Karl v. Thaler. R., 11.3.1892 [I.N. 30231] = Saar an Georg Weiß [Entwurf]. W.-D., 20.1.1902 [I.N. 138516]414 = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 12.8.1890 [I.N. 17777] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 26.3. 1891 [I.N. 17781] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 8.5.1891 [I.N. 17782] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 12.6.1891 [I.N. 17783] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 16.9.1891 [I.N. 17784] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 27.10.1891 [I.N. 17786] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 5.5.1892 [I.N. 17787] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 14.8.1892 [I.N. 17789] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 25.8.1892 [I.N. 17791] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 17. l. 1896 [I.N. 17819] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 24.4.1896 [I.N. 17821] = Georg Weiß an Saar. Heidelberg, 16.12.1896 [I.N. 17825] = Georg Weiß an Saar, Heidelberg, 16.1.1897 [I.N. 17826] = Georg Weiß an Saar, Heidelberg, 30.4.1897 [I.N. 17827] = Georg Weiß an Saar, Kassel, 5.1.1903 [I.N.17838]

e. Sonstige zitierte Primärliteratur Die folgende Primärliteratur wird in abgekürzter Form durch den Namen, die Band- bzw. Seitenzahl zitiert. Bei mehreren Werken desselben Autors wird ein zusätzliches Kürzel aufgenommen. Ariosto, Ludovico: Orlando Furioso. Hrsg.v. E.Camerini. Mailand 1875. > Ariost: Orlando Ders.: Der rasende Roland in vier Teilen. Übersetzt von H.Fleischer. Stuttgart o.J. > Ariost: Fleischer Arndt, Ernst Moritz: Sehnsucht nach der Ferne. Die Reise nach Wien und Venedig 1798. [Teilausgabe von Arndt, Ernst Moritz: Reise durch ei414

Die Datierung Saars ist falsch; der Entwurf stammt aus dem Jahr 1903. Der Fehler resultiert aus der fehlenden Gewöhnung an die neue Jahreszahl im Januar.

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nen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799.] Hrsg. v. Eva Ptak-Wiesamer. Stuttgart/Wien 1988. > Arndt Auerbach, Berthold: Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1884. > Auerbach Ders: Schrift und Volk. Grundzüge der volkstümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel's. Leipzig 1846. > Auerbach: Schrift und Volk Ders.: Turgenjews Neuland, aus dem Russischen übersetzt von H. von Lankenau, 1877. In: Allgemeine Zeitung. Nr.96, 6.4.1877. S.1449-1451. > Auerbach: Rezension Boccaccio, Giovanni: Das Leben Dantes. Übersetzt von Otto von Taube. Leipzig 1909. > Boccaccio Büchsel, Carl: Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen. Berlin 1925'°. > Büchsel Chrestien de Troyes: Lancelot. Übersetzt und eingeleitet von Helga JaussMeyer. (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. Hrsg. v. Hans Roben Jauss und Erich Köhler. Bd. 13). München 1974. > Chretien Corvin, Otto von: Ein Leben voller Abenteuer. 2 Bde. Hrsg. v. Hermann Wendel. Frankfurt am Main 1924. > Corvin Dante Alighieri: Tutte le opere. Hrsg. v. F. Chiapelli. Mailand 1969. > Dante: opere Ders.: Göttliche Comödie. Metrisch übertragen und mit kritischen und historischen Erläuterungen versehen von Philalethes. Zweiter unveränderter Abdruck der berichtigten Ausgabe von 1865-66. Leipzig 1871. > Dante: Philalethes Die Dioskuren. Literarisches Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereins der österreichisch-ungarischen Monarchie. 1. Jg. Wien 1872. > Dioskuren

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Dörmann, Felix: Sensationen. Wien 1897. (1. Aufl. 1892). > Dörmann Ebner-Eschenbach, Marie von: Tagebücher. Bd. 2. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Tübingen 1991; Bd. 3. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim und Norbert Gabriel. Tübingen 1993. > Ebner: Tagebücher Ebner-Eschenbach, Moriz von: Erinnerungen. Hrsg. v. Edda Polheim. (Deutsche Bibliothek des Ostens. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim und Hans Rothe.) Berlin 1994. > Ebner: Erinnerungen Fontäne, Theodor: Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. München 1969. > Fontäne Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva'. Hrsg. von Bernd Urban und Johannes Cremerius. Frankfurt/Main 1973. > Freud Friedeil, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd. 1. München 199310. > Friedeil Goethe, Johann Wolf gang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. München 199415. > Goethe Hart, Heinrich: Neue Welt. Literarischer Essay. In: Deutsche Monatsblätter. Centralorgan für das literarische Leben der Gegenwart. Hrsg. v. Heinrich und Julius Hart. Bd. 1. Bremen 1878. S.14-23. > Hart Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 14/1. Lutezia II. Bearbeitet v. Volkmar Hansen. Düsseldorf 1990. > Heine Hertz, Wilhelm: Lanzelot und Ginevra. Ein episches Gedicht in 10 Gesängen. Hamburg 1860. > Hertz Heyse, Paul/Kurz, Hermann (Hg.): Deutscher Novellenschatz. Bd. 1. München 1871. Einleitung S.V-XXIV. > Heyse Keller, Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Jonas Fränkel und Carl Helbling. Bern/Leipzig 1931-1948. > Keller

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Ders.: Gesammelte Briefe. Hrsg. v. Carl Helbling. 5 Bde. Bern 1950-1954. > Keller: Briefe Lancelot. Roman en prose du XIIIe siecle. Edition critique par Alexandre Micha. Paris/Geneve 1982. > Lancelot Meyerbeer, Giacomo: Robert le Diable. Opera en 5 actes. Oper in 5 Acten von Scribe. Deutsch von Th. Hell. Vollständiger Klavierauszug mit deutschem und französischem Text. Von G.P. Pixis. Berlin [o.J.]. > Meyerbeer Nestroy, Johann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Jürgen Hein und Johann Hüttner. Stücke 6. Hrsg. v. Friedrich Walla. Wien /München 1985. > Nestroy Petrarca, Francesco: II Canzoniere. Con le note di Giuseppe Rigutini. Quarta Edizione. Milano 1925. > Petrarca: Canzoniere Ders.: Francesco Petrarca's sämtliche Canzonen, Sonette, Ballaten und Triumphe. Aus dem Italienischen übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet von Karl Förster. Leipzig 185l3. > Petrarca: Förster Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke. Im Auftrage der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft. Hrsg. v. Karl Hoppe. Göttingen 1951E > Raabe Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Frankfurt/Main 1980. > Sacher-Masoch Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese). Weimar 1943ff. > Schiller Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Bd. II. Charakteristiken und Kritiken (1796-1801). Hrsg. und eingeleitet v. Hans Eichner. München/Paderborn/Wien 1967. > Schlegel

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Schmidt, Julian: Iwan Turgenjew. In: Preußischejahrbücher 22 (1868). S.432461. > Schmidt Schopenhauer, Arthur: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. (Der Text folgt der historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher, 3. Aufl. Wiesbaden 1972). Zürich 1977. > Schopenhauer Schumann, Robert: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Hrsg.v. H. Simon. Leipzig o.J. [1888]. > Robert Schumann Stifter, Adalbert: Sämtliche Werke. Hrsg. von August Sauer, Franz Hüller, Gustav Wilhelm [u.a.]. Prag [u.a.] 1901ff. (Bibliothek deutscher Schriftsteller in Böhmen). > Stifter Turgenjew, Iwan: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Otto Buek und Kurt Wildhagen. Berlin 1924. > Turgenjew Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter - Eine prinzipielle Untersuchung. Wien/Leipzig 1922. (1. Aufl. 1903) > Weininger

2. Sekundärliteratur Die Titel des nachstehenden Literaturverzeichnisses werden in abgekürzter Form zitiert. Die Kurztitel sind den vollständigen Angaben beigefügt. Weitere Literatur wird ausschließlich in den Anmerkungen nachgewiesen.

a. Literatur zu Saar und Ginevra Alker, Ernst: Die deutsche Literatur im ^.Jahrhundert, 1832-1914. Stuttgart 1969. > Alker Anonym: Rezension der Frauenbilder. In: Deutsche Revue. Jg. 1892. S.374. [Zeitschriftenausschnitt WrStB I.N. 18441/4]. > Anonym

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Aspetsberger, Friedbert: Die Typisierung im Erzählen Ferdinand von Saars. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie (87). Jg. 1968. S.246-272. > Aspetsberger Bahr, Hermann: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968. > Bahr Bettelheim, Anton: Besprechung der Frauenbilder. In: Allgemeine Zeitung, 15.12.1891. Beilage Nr. 293. > Bettelheim Ders.: Acta diurna. Gesammelte Aufsätze. Neue Folge. Wien/Pest/ Leipzig 1899. S.174-178. > Bettelheim: Acta Bittrich, Burkhard: Biedermeier und Realismus in Österreich. In: Karl Konrad Polheim (Hg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981. S.356-381. > Bittrich Brischar, Karl Martin: Ferdinand von Saar. In: Die Quelle. Zeitschrift für volkstümliche Literatur. Wien 3. Jg. Heft 4. (1.1.1910). S.10-13. > Brischar Castle Eduard: Ein Dichter aus Österreich. Zum 50. Todestag Ferdinand von Saar's am 24. Juli. In: Wiener Zeitung. (22.7.1956). Nr. 169. Beilage S.lf. > Castle Charue, Jean: Zum Determinismus bei Saar. In: Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Festschrift zum 150. Geburtstag. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Bonn 1985. S.235-263. > Charue Egit, Kasim: Ferdinand von Saar. Thematik und Erzählstrukturen seiner Novellen. Berlin 1981. > Egit Feiner, Walter: Ferdinand von Saar im Verhältnis zu den geistigen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Problemen seiner Zeit. Diss. [Masch.] Wien 1936. > Feiner Fröhlich, Otto: Saars Novellen aus Österreich. In: Wiener Zeitung. (24.7.1936.) Nr. 202. > Fröhlich

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Fussenegger, Gertrud: Poetische Notationen zum langsamen Untergang eines Reiches. In: Die Rampe. Hefte für Literatur (Linz). Jg. 9 Heft 2 (1983). S.l 10-129. > Fussenegger Gaßner, Ingund: Das Bild Österreichs bei Ferdinand von Saar. Diss. [Masch.] Innsbruck 1948. > Gaßner Gierlich, Heinz: Ferdinand von Saar: Die Geigerin. Kritisch hrsg. u. gedeutet. (= KTD 2). Bonn 1981. > Gierlich Haberland, Detlef: Ferdinand von Saar: Seligmann Hirsch. Kritisch hrsg. u. gedeutet. (= KTD 3). Tübingen 1987. > Haberland Heydemann, Klaus: Aus einer habsburgischen Provinz. Ferdinand von Saars "mährische" Novellen. In: Grenzgänge. Literatur und Kultur im Kontext. Hrsg. v. Guillaume van Gemert und Hans Ester. Amsterdam 1990. S.251-277. > Heydemann Hock, Stefan: Ferdinand von Saar. In: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog. Hrsg. v. Anton Bettelheim. Bd. 11. (= 1906). Berlin 1908. S.224-237. t> Hock Hodge, James Lee: The Novellen of Ferdinand von Saar: Anticipations of Twentieth Century Literary Themes and Techniques. Diss. Pennsylvania State University 1961. > Hodge Hofmannsthal, Hugo von: Ferdinand von Saar: Schloß Kostenitz. In: Deutsche Zeitung. (Wien). Nr.729. (13.12.1892). S.lf. > Hofmannsthal Horvath, John Joseph: The Play of Character and Circumstance in the Life and Works of Ferdinand von Saar. Diss. [Masch.] University of Pennsylvania 1971. > Horvath Howe, Patricia: The Image of the Past in Ferdinand von Saar's Novellen. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Ferdinand von Saar. Festschrift zum 150. Geburtstag, Bonn 1985. S. 137-149. > Howe Hruschka, Ella: Ferdinand von Saar. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 12. Jg. Wien 1902. S.77-139. > Hruschka

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Kaiser, Lydia Beate: Ferdinand von Saar. Herr Fridolin und sein Glück. Kritisch hrsg. u. gedeutet. (= KTD 5). Tübingen 1993. > Kaiser Klauser, Herbert: Vergänglichkeit und Resignation in den Novellen Ferdinand von Saars. In: Wissenschaft und Weltbild. Zs. f. Grundlagen der Forschung (Wien). Jg. 25, H. 3. 1972. S.224-234. > Klauser Ders.: Ein Poet aus Österreich. Ferdinand von Saar - Leben und Werk. Wien 1990 > Klauser: Poet Kopp, Regine: Ferdinand von Saar. Marianne. Kritisch hrsg. u. gedeutet. (= KTD 1). Bonn 1980. > Kopp Krischker, Helga: Ferdinand von Saar und die Problematik der Novellen aus Österreich. Diss. Wien 1948. > Krischker Kroeber, Wolfgang: Ferdinand von Saars Novellen aus Österreich. Diss. [Masch.] Breslau 1934. > Kroeber L., H-i: Von unseren Erzählern. In: Fremden-Blatt (Wien). Nr. 347. 18.12.1891. S.llf. > L, H-i. Latzke, Rudolf: Ferdinand von Saar. In: Geschichte der deutschen Literatur in Niederösterreich. Wien/Leipzig/Prag 1925. S.48-50. > Latzke Magris, Claudio: Ferdinand von Saar und die Würde des Untergangs. In: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. > Magris Mühlher, Robert: Ferdinand von Saar. Ein österreichisches Dichterleben zwischen Vormärz und Moderne. In: Jahrbuch der GrillparzerGesellschaft. 3. Folge, 11. Band. Wien 1974. S.ll-72. > Mühlher Müller-Funk, Wolfgang: Das Verschwinden der Gegenwart. Interpretatorische Überlegungen zur Traurigkeit des Glücks im Erzählwerk Ferdinand von Saars. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jg. 17 (1986). S.l-22. > Müller-Funk

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Müller-Guttenbrunn, Adam: Ferdinand von Saar als Novellist. In: Deutsche Zeitung. Sonntagsausgabe. 20.12.1891. > Müller-Guttenbrunn: Novellist Nadler, Josef: Literaturgeschichte Österreichs. Linz 1948. > Nadler Nagler, Alois Maria: Ferdinand von Saar als Novellist. In: Der Wächter. 12Jg. Wien 1930. S.86-98, 143-153, 205-212, 239-246, 276-290, 316-344. > Nagler Necker, Moritz: Briefe von Ferdinand von Saar. In: Österreichische Rundschau (Wien). Bd. 16, Heft (3. 1.8.1908). S. 194-207. > Necker, Briefe Necker, Moritz: Ferdinand von Saar. In: Allgemeine Zeitung. 27. und 28.5.1892. Beilage Nr. 123,124. > Necker: Saar Nehring, Wolfgang: Vergänglichkeit und Psychologie. Der Erzähler Ferdinand von Saar als Vorläufer Schnitzlers. In: Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Festschrift zum 150. Geburtstag. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Bonn 1985. S.100-116. i> Nehring Nowak, Karl F.: Ferdinand von Saars Werk. In: Blaubuch (Berlin). Jg. 5, H.34 (1934) S.810-813. > Nowak Polheim, Karl Konrad: Ferdinand von Saars Erzählkunst. Am Beispiel des Brauer von Habrovan. In: Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Festschrift zum 150. Gebunstag. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Bonn 1985. S. 11-42. > Polheim Ders.: Textkritik und Interpretation. Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar in wissenschaftlichen Einzelausgaben. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jg. 7 (1976). S.127-135. Wiederabdruck in: Kopp (siehe dort), S.V-XVI und Polheim: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation. Bern u.a. 1992. S. 9-22. > Polheim: Textkritik Ders: Ferdinand von Saar: Der Brauer von Habrovan. Genetisch-kritisch herausgegeben von Karl Konrad Polheim. In: Ferdinand von Saar. Ein 261

Wegbereiter der literarischen Moderne. Festschrift zum 150. Geburtstag. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim. Bonn 1985. S.291-319. > Polheim: Brauer Pröll, Karl: Ferdinand von Saar als Novellist und Lyriker. In: National-Zeitung (Morgenausgabe). Berlin, 46. Jg. Nr.27 (14.1.1893). S.l-3 > Pröll Proß, Wolfgang: Literatur und Anthropologie - ihre Berührungspunkte in der österreichischen Literatur von Herder bis Freud. In: Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung. Hrsg. v. Herbert Zeman. Bd. 3: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Graz 1982. S.279-295. >Proß Quenzel, Karl: Ferdinand von Saar. In: Alpenländische Monatshefte, eine Zeitschrift für das deutsche Haus. Graz, 4Jg. (1928) S.246-249. t> Quenzel Reich, Emil: Ferdinand von Saar: Frauenbilder. Zwei neue Novellen. In: Das Magazin für Litteratur (Berlin). Jg. 61, Nr. 9 (27.2.1892). S.51f. > Reich Renner, Ursula: Pavillons, Glashäuser und Seitenwege - Topos und Vision des Paradiesgartens bei Saar, Hofmannsthal und Heinrich Mann. In: Recherches Germaniques 20. Jg. 1990. S.123-140. > Renner Reuter, Hans-Heinrich: Einleitung zu: Ferdinand von Saar. Requiem der Liebe und andere Novellen. Leipzig 1965. S.VII-LXII. > Reuter Riemen, Alfred: Schloß Kostenitz und sein Erzähler. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd. 82 (1988). S.25-50. > Riemen Rosegger, Peter: Besprechung der Frauenbilder. In: Der Heimgarten. Hrsg. v. P.K. Rosegger. XVI. Jg. 8. Heft. Graz 1892. S.635. > Rosegger

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