Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts: Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428523870, 9783428123872

Mit der vorliegenden Festschrift für Knut Amelung wird anlässlich seines 70. Geburtstages ein Rechtswissenschaftler geeh

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German Pages 816 Year 2009

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Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts: Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428523870, 9783428123872

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Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag Herausgegeben von

Martin Böse Detlev Sternberg-Lieben

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag

Schriften zum Strafrecht Heft 202

Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Martin Böse Detlev Sternberg-Lieben

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12387-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 13. Februar 2009 begeht Knut Amelung, emeritierter ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Rechtstheorie sowie vormaliger Direktor des Instituts für rechtstheoretische und sozialwissenschaftliche Grundlagen des Strafrechts an der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden, seinen 70. Geburtstag. Dies gibt seinen Freunden und Kollegen die willkommene Gelegenheit, ihn durch eine Festschrift zu ehren und hiermit ihre wissenschaftliche und persönliche Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Seine Geburtsstadt Stettin musste Knut Amelung bereits 1943 verlassen, als die Familie angesichts der vorrückenden sowjetischen Truppen nach Helmstedt evakuiert wurde. In dieser Stadt in unmittelbarer Nähe zur späteren Zonengrenze fand er eine neue Heimat, in der er aufwuchs und die Schule bis zur Reifeprüfung im Sommer 1959 besuchte. Nachdem er in Böblingen bis zum September 1960 seinen Wehrdienst in einem Fallschirmjägerbataillon abgeleistet hatte (er verließ die Bundeswehr als Leutnant der Reserve), begann er im Wintersemester 1959 / 60 sein Jurastudium in Freiburg im Breisgau, das er nach drei Semestern in Lausanne (ein Semester) und Göttingen (vier Semester) fortsetzte; das parallel aufgenommene Studium der Soziologie ergänzte das Jurastudium in fruchtbarer Weise und schärfte sein Verständnis für interdisziplinäre Zusammenhänge, welches später sein wissenschaftliches Werk prägen sollte. Nachdem er sein rechtswissenschaftliches Studium im Juli 1965 in Göttingen mit dem Referendarexamen abgeschlossen hatte, trat der Jubilar nicht sogleich in den juristischen Vorbereitungsdienst ein. Er wurde vielmehr von Oktober 1965 bis März 1970 wissenschaftlicher Assistent bei Peter Badura in Göttingen. Die Tätigkeit an dessen Lehrstuhl für öffentliches Recht war Ausgangspunkt für die vielfältigen „Ausflüge“ des Jubilars in das Verfassungsrecht, aus denen sich häufig neue Ansätze für die sachgerechte Lösung straf- und strafverfahrensrechtlicher Probleme ergaben. Zugleich bestand aber bereits enge Tuchfühlung zum Strafrecht, die in der von Claus Roxin betreuten und von diesem als habilitationswürdig eingestuften Dissertation des Jubilars („Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“) beredten Ausdruck fand. Mit dieser wegweisenden und bis heute fortwirkenden Schrift wurde Knut Amelung am 21. Mai 1971 in Göttingen promoviert. Nachdem er den juristischen Vorbereitungsdienst beim Oberlandesgericht Celle bis zu seinem Assessorexamen im Jahre 1973 absolviert hatte, ergriff Knut Amelung entschlossen die sich ihm bietende Gelegenheit, eine wissenschaftliche Karriere an der Hochschule einzuschlagen: Vom 16. April 1975 an war er in Bochum als Wissenschaftlicher Rat und Professor für Strafrecht tätig.

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Vorwort

Zum Sommersemester 1977 folgte der Jubilar einem Ruf an die erst zum Wintersemester 1975 neu gegründete, zum damaligen Zeitpunkt aus nur 5 Ordinarien bestehende Juristische Fakultät der Universität Trier und wurde dort zum ordentlichen Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht ernannt. Dort prägte er nicht nur durch sein unermüdliches Engagement in der Lehre das Bild der Fakultät; er engagierte sich auch in der akademischen Selbstverwaltung: Knut Amelung war von 1981 bis 1982 Dekan der Fakultät und saß von 1988 bis 1992 dem Konzil der Universität Trier vor. In seine Trierer Zeit fällt auch ein Forschungsaufenthalt als Stipendiat der Stiftung Volkswagenwerk an der Columbia Universität in New York (Wintersemester 1985 / 86). Nachdem er Rufe nach Bielefeld (1981) sowie Münster (1987) abgelehnt hatte, schien sich seine Zukunft als Hochschullehrer auf Trier und der Lebensmittelpunkt seiner Familie auf die geliebte Weinlandschaft von Mosel, Saar und Ruwer zu konzentrieren. Die deutsche Wiedervereinigung änderte jedoch die Lebensplanung von Knut Amelung und seiner aus Dresden gebürtigen, 1957 mit ihren Eltern aus Ostdeutschland geflohenen Ehefrau Barbara, die einander 1965 im Seminar der Juristischen Fakultät in Göttingen kennengelernt hatten. Die Familie Amelung hatte all die Jahre vorher intensiven Kontakt zu Freunden und Angehörigen in Ostdeutschland gehalten und den ihnen durch viele Besuche vertrauten Osten Deutschlands deshalb zu keiner Zeit als ein fremdes Land empfunden. Zeugnis hierfür legt die Auskunft ab, die der Jubilar 1987 anlässlich des Trier-Besuches des damaligen SED-Generalsekretärs und DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker einem sichtlich konsternierten Fernsehreporter gab: „Ich finde es nicht gut, dass es zwei deutsche Staaten gibt“ (aus: Barbara und Knut Amelung, Über Grenzen gehen, in: Ripp / Szalai [Hrsg.], Dreizehn deutsche Geschichten: erzähltes Leben aus Ost und West, 2. Aufl., Hamburg 2002, S. 158, 191). Die Wiedervereinigung empfanden sie beide als nicht mehr erhofften Glücksfall der deutschen Geschichte, aber auch als Verpflichtung, beim Aufbau einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung in den neuen Bundesländern mitzuwirken. Im März 1991 wurde an der zur Volluniversität ausgebauten Technischen Universität Dresden eine Juristische Fakultät gegründet, deren Lehrbetrieb zunächst einmal – wie der der anderen Juristischen Fakultäten in den neuen Bundesländern – durch den selbstlosen Einsatz von „Leihprofessoren“ (in Dresden insbesondere durch baden-württembergische Hochschullehrer) gewährleistet werden konnte. Unter dem Gründungsdekanat von Thomas Hillenkamp (zusammen mit Othmar Jauernig) wurde Knut Amelung auf einen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie berufen, den er bis zu seiner Emeritierung zum 31. März 2006 innehaben sollte. Seine Familie und er fanden 1994 in ihrem neu erbauten Haus in Dresden-Bühlau am Waldrand der Dresdener Heide ihr neues Zuhause. Während Barbara Amelung außerhalb der Hochschule juristisch tätig wurde, prägte ihr Mann das Gesicht der Fakultät, deren erster Dekan er war (von April 1993 bis April 1994). Über viele Jahre hin vertrat er wie selbstverständlich die Dresdner Fakultät im Prüfungsausschuss des Landesjustizprüfungsamtes Sachsen,

Vorwort

VII

ein beredtes Beispiel für Knut Amelungs Einsatz bei der Ausbildung des juristischen Nachwuchses. Seine stets mit großem Engagement vorgetragenen, zum Ende seiner Professur angesichts der Bürde seiner schweren Krankheit in wahrhaft preußischer Selbstdisziplin abgehaltenen Vorlesungen genossen bei den Dresdener Studierenden „Kultstatus“, und dies nicht wegen ihres (auch vorhandenen) Unterhaltungswertes, sondern weil er in seinen Lehrveranstaltungen wissenschaftlichen Anspruch mit rechtspolitischem Impetus zu verbinden verstand und zugleich über die Fähigkeit verfügte, seinen Zuhörern auch hochkomplexe rechtswissenschaftliche Fragestellungen nahezubringen; sein studentisches Auditorium spürte dabei, dass er gern in den Hörsaal ging. Dass seine fulminante Abschiedsvorlesung am 6. Juli 2006 dann von vielen ehemaligen Studenten besucht wurde, ist ein eindrucksvoller Beleg für die große Resonanz seiner Lehrveranstaltungen. Darüber hinaus fand der Jubilar noch die Zeit, sich über lange Jahre in der Ethikkommission des Universitätsklinikums Dresden zu engagieren, eine verantwortungsvolle Tätigkeit, die seine langjährige Mitgliedschaft in der Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin gleichsam „erdete“. Pläne der sächsischen Staatsregierung, die Dresdener Juristische Fakultät und damit eine nun wahrhaft „blühende Landschaft“ der Ausbildung und Wissenschaft zu zerschlagen, haben den Jubilar aufs Äußerste erbost. Im allseitigen Bemühen, das Schlimmste zu verhindern, war Knut Amelung stets in vorderster Reihe zu finden. Wenn seine Dresdener Fakultät nunmehr durch die bereits bestehenden Masterstudiengänge und vor allem durch die Einführung des Bachelor-Studiengangs „Law in Context“, der großen Zuspruch erfährt, wieder in ruhigeres Fahrwasser gekommen ist, so erfüllt ihn dies mit Genugtuung. Von seinen vielfältigen sonstigen Aktivitäten sollen hier nur noch seine verantwortliche Tätigkeit im Fachbeirat des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau und mehrfache Aufenthalte in Georgien zur Beratung der dortigen Fakultäten hinsichtlich der Juristenausbildung Erwähnung finden. Seine Schüler – Knut Amelung hat 30 Doktorarbeiten und eine Habilitation betreut – förderte er mit unermüdlicher Bereitschaft zum ebenso anregenden wie fordernden wissenschaftlichen Gespräch. Dieses kommunikative Wissenschaftsverständnis offenbarte sich auch in seinen unvergesslichen Seminaren, in denen es ihm in idealer Weise gelang, die Einheit von Forschung und Lehre herzustellen, indem er die Seminarteilnehmer nicht nur an neue (und alte) rechtswissenschaftliche Fragestellungen heranführte, sondern im Rahmen des Seminars zugleich auch eigene Forschungsarbeiten (etwa zum Ehrbegriff) vorbereitete und vorantrieb. Das wissenschaftliche Werk von Knut Amelung ist von Anfang an den geistesgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen des (Straf-)Rechts verhaftet. Dies gilt nicht nur für die bereits erwähnte Dissertation, in der er seine Theorie von der Sozialschädlichkeit in Anlehnung an die Systemtheorie ent-

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Vorwort

wickelt, sondern auch für die nachfolgenden Arbeiten, in denen er insbesondere auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreift, um Gegenstand und Reichweite des strafrechtlichen Schutzes, mitunter auch – wie bei seiner Deutung des Tagebuchs als moderner Form des Beichtgeheimnisses – des verfassungsrechtlichen Schutzes zu bestimmen. Seine wissenschaftliche Sozialisation als Grenzgänger zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht hat sein Werk ebenfalls deutlich geprägt, wie sich insbesondere in seinen Arbeiten zur Rechtsschutzgarantie und zum Grundrechtsschutz im Strafverfahren sowie dem von ihm geprägten Begriff des strafprozessualen Grundrechtseingriffs zeigt. Seine Arbeiten zur Einwilligung zeigen überdies, wie Erkenntnisse aus der Normentheorie – etwa die Unterscheidung zwischen regulativen und konstitutiven Normen – für die Strafrechtsdogmatik fruchtbar gemacht werden können. Der Gedankenreichtum und die Vielfalt des imponierenden wissenschaftlichen Werkes können und sollen mit diesen kurzen Bemerkungen nicht erschöpfend beschrieben, geschweige denn angemessen gewürdigt werden. Dies müsste den begrenzten Rahmen eines Vorwortes sprengen. Die in dieser Festschrift abgedruckte Bibliographie und die Beiträge dieser Festgabe vermögen dem Leser aber immerhin einen Eindruck von der wissenschaftlichen Bedeutung des Lebenswerks von Knut Amelung zu vermitteln, bringen doch die Verfasser auch durch die Themenauswahl ihre fachliche und persönliche Wertschätzung des Jubilars zum Ausdruck. Die Beteiligung ausländischer Gelehrter an dieser Festgabe bezeugt überdies, dass die Wertschätzung, die Knut Amelung genießt, über die Grenzen Deutschlands hinausreicht. Die Herausgeber dieser Festschrift verbindet, dass sie viele Jahre mit dem Jubilar als dessen Schüler (Böse) bzw. als sein Kollege (Sternberg-Lieben) zusammenarbeiten konnten. Dankbar erinnern sie sich an die menschliche Zuwendung und die vorbildliche Kollegialität, die sie während dieser Zeit durch ihn erfahren haben. Ihr herzlicher Dank gilt dabei auch seiner Gattin Barbara Amelung, die Mühen und Lasten, die mit einem Leben für die Wissenschaft verbunden sind, stets mitgetragen und die gastfreundliche Atmosphäre des Hauses Amelung maßgeblich geprägt hat. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Beteiligung. Aufrichtiger Dank gebührt auch dem Verlag Duncker & Humblot, namentlich dem Verleger, Herrn Dr. R. Simon, dafür, dass und wie diese Festschrift in dem Verlag, dem Knut Amelung seit Langem als Autor verbunden ist, erscheinen konnte. Besonderer Dank gilt auch Frau Heike Frank für die hervorragende Betreuung im Verlag. Die Herausgeber wünschen dem Jubilar in herzlicher Verbundenheit für die Zukunft im Kreise seiner Familie alles Gute und verbinden ihre Glückwünsche mit der Hoffnung, dass die deutsche Strafrechtswissenschaft noch möglichst lange von seiner denkerischen Kraft profitieren kann. Bonn, Dresden im August 2008

Die Herausgeber

Inhalt I. Grundlagen des Strafrechts Luís Greco: Rechtsgüterschutz und Tierquälerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Bernhard Haffke: Die straftheoretische Bedeutung der Pforte des § 3 JGG . . . . . . . . . . . . . .

17

Günther Jakobs: Sozialschaden? – Bemerkungen zu einem strafrechtstheoretischen Fundamentalproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Otto Lagodny: Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsdidaktik auf der Suche nach dem Wortlaut des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Klaus Lüderssen: „Systemtheorie“ und Wirtschaftsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Hans-Ullrich Paeffgen: Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht? . . . . . . . . . .

81

Friedrich-Christian Schroeder: Die Erforderlichkeit der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Wolfgang Wohlers: Verhaltensdelikte: Standard-, Ausnahme- oder Unfall der Strafrechtsdogmatik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 II. Strafrecht (Allgemeiner Teil) Hans-Ludwig Günther: Defensivnotstand und Tötungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Rolf Dietrich Herzberg: Zum Versuch des erfolgsqualifizierten Delikts . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Hans Joachim Hirsch: Einwilligung in sittenwidrige Körperverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Volker Krey / Marcel Nuys: Der Täter hinter dem Täter – oder die Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Harro Otto, Soziale Adäquanz als Auslegungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Thomas Rönnau: Untreue zu Lasten juristischer Personen und Einwilligungskompetenz der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Claus Roxin: Einwilligung, Persönlichkeitsautonomie und tatbestandliches Rechtsgut . . 269 Hero Schall: Der Umweltschutzbeauftragte: Ein Mann ohne Eigenschaften? . . . . . . . . . . . 287 Bernd Schünemann: Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt. Dogmenhistorische, rechtsvergleichende und sachlogische Auswegweiser aus einem Chaos . . . . 303 Detlev Sternberg-Lieben: Die Strafbarkeit eines nicht indizierten ärztlichen Eingriffs . . 325 Günter Stratenwerth: Tötung und Körperverletzung mit Einwilligung des Betroffenen . . . 355

X

Inhalt III. Strafrecht (Besonderer Teil)

Hans Achenbach: Gedanken zur Aufsichtspflichtverletzung (§ 130 OWiG) . . . . . . . . . . . . . 367 Klaus Bernsmann: Im Zweifel: Geldwäsche? Überlegungen zum Verhältnis von materiellem und Prozess-Recht bei der Geldwäsche (§ 261 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Monika Harms / Sonja Heine: EG-Verordnung und Blankettgesetz – Zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Günter Heine: Zum Begriff des Glücksspiels aus europäischer Perspektive. Zugleich ein Beitrag zur praktischen Umsetzung supranationaler Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Thomas Hillenkamp: Zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik . . . . . . . . . . 425 Markus Jäger: Die Auswirkungen der Osterweiterung der Europäischen Union auf das deutsche Steuerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 IV. Medizin- und Sportrecht Hans Lilie: Patientenrechte im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Hans-Ludwig Schreiber: 10 Jahre Transplantationsgesetz – Notwendigkeit einer Weiterentwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Andrzej J. Szwarc: Das polnische Sportrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Brigitte Tag: Das Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen – Die schweizerische Rechtslage zur Transplantationsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . 507 V. Verfassungsrecht und Strafprozessrecht Peter Badura: Der Schutz des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses durch Verfassung und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Werner Beulke: Missbrauch von Verteidigerrechten – eine kritische Würdigung der jüngsten Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Martin Böse: Die neuen Regelungen zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Informationseingriffe und ihre Konsequenzen für die prozessuale Geltendmachung von Verwertungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Ulrich Eisenberg: Histrionische Zeugen und Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 359 Nr. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Helmut Frister: Erkennungsdienstliche Maßnahmen – Überlegungen zu einer Reform der §§ 81b 2. Alt., 81g StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Roland Hefendehl: Alle lieben Whistleblowing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Piotr Hofman´ski: Polnische Erfahrungen mit dem anonymen Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Hans-Heiner Kühne: Laienrichter im Strafverfahren. Eine historisch-rechtsvergleichende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657

Inhalt

XI

Joachim Renzikowski: Körperliche Zwangseingriffe und Selbstbelastungsfreiheit . . . . . . . 669 Edda Weßlau: Beweislastumkehr – eine Lösung bei der Prüfung von Beweisverwertungsverboten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Jiuan-Yih Wu: Die bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen in Taiwan . . . 705 VI. Juristische Zeitgeschichte und Kriminalpolitik Jörg Arnold: Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Hinrich Rüping: Innenansichten zur Anwaltschaft im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . 747 Hans-Dieter Schwind: Çhancenvollzug“ am Beispiel von Niedersachsen . . . . . . . . . . . . . . . 763 Thomas Vormbaum: Vergangenheitsbewältigung im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Verzeichnis der Schriften von Knut Amelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803

I. Grundlagen des Strafrechts

Rechtsgüterschutz und Tierquälerei Von Luís Greco I. Einleitung Zu den bleibenden Leistungen des Jubilars gehört die Monographie über „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“. Nach der zentralen These – oder besser, nach einer der zentralen Thesen eines Buches, dessen Reichtum man unmöglich in einem Satz zusammenfassen kann – soll sich das Strafrecht allein um die Bedingungen des Funktionierens der Gesellschaft kümmern, mit anderen Worten, nur sozialschädliches Verhalten soll Gegenstand strafrechtlicher Verbote sein.1 Die Gesellschaft aber besteht aus Menschen. Das geltende Strafrecht verbietet indes auch Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick keine Menschen betreffen – Beispiele sind die Umweltdelikte in §§ 324 ff. StGB, die Sachbeschädigung an Kunstgegenständen (§ 305 StGB) und die Tierquälerei (§ 17 TierSchG). In der vorliegenden Abhandlung geht es allein um letzteres Delikt. Sie wird sich nicht mit einzelnen Interpretationsproblemen befassen,2 sondern mit der logisch vorrangigen Begründungsfrage. Genauer: Aus welchen Gründen darf der Staat den Bürgern unter Strafe verbieten, Handlungen zu begehen, die auf den ersten Blick keine anderen Bürger, sondern „nur“ Tiere beeinträchtigen? Die Darstellung wird sich zudem auf die Frage nach der Legitimität des Verbots der Zufügung „erheblicher Schmerzen oder Leiden“ (§ 17 II TierSchG) beschränken, so dass das Verbot der Tötung eines Tieres ohne vernünftigen Grund (§ 17 I TierSchG) ausgeklammert bleibt. Da es um zwei keineswegs identische Problemkreise geht, empfiehlt es sich, sich zunächst einmal dem einfacheren Problem zuzuwenden. Die Gründe, nach denen in dieser Abhandlung gefragt wird, sind diejenigen, die jenseits von Opportunitätsgesichtspunkten liegen. Es soll nicht bestritten werden, dass es dringendere Prioritäten geben kann, die einen vorrangigen Anspruch auf die knappen staatlichen Mittel haben, als der Schutz von Tieren. Nur kann es sein, dass diesen prioritären Sorgen bereits ausreichend Rechnung getragen wird, so 1 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 350 ff., 361; ders., in: Jung / Müller-Dietz / Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 269 ff., 272, 278; ferner ders., in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 349 ff.; ders., in: Hefendehl / v. Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 155 ff., 179 ff. 2 Dazu z. B. Röckle, Probleme und Entwicklungstendenzen des strafrechtlichen Tierschutzes, 1996, S. 97 ff.; Hirt / Maisack / Moritz, Tierschutzgesetz, 2. Aufl. 2007, § 17 Rn. 1 ff.

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Luís Greco

dass es an Mitteln für den Tierschutz nicht fehlt. Man kann nun selbst in einer solchen Idealsituation die Frage nach der Legitimität des strafrechtlichen Tierquälereiverbots stellen. Um dieses Grundsatzproblem geht es, wenn man nach dem diesen Tatbestand tragenden Rechtsgut fragt. II. Geschichtliches Das vorliegende Thema hat eine eigentümliche Geschichte in der deutschen Strafrechtswissenschaft. Zumindest seit Feuerbach bemühen sich liberale Strafrechtler, Strafrecht auf den Schutz menschlicher Rechte oder Interessen zu begrenzen. Was nicht das Recht oder die Interessen von Menschen betrifft, sei demnach eine „bloße Moralwidrigkeit“, die keine Strafe legitimieren könne. Nur die wenigsten Vertreter dieses Standpunktes konnten aber die Intuition hinter sich lassen, nach der die Tierquälerei strafbar sein darf.3 Deshalb ist es seit über 200 Jahren eine beliebte Strategie der Liberalismusgegner, die Tierquälerei als Trumpf auszuspielen um nachzuweisen, dass das Strafrecht durchaus bloße Moralwidrigkeiten bekämpfen dürfe und dass die liberale Lehre unannehmbare Folgen habe. Dieser Kontext verleiht dem „kleinen“4 Thema der Tierquälerei seine grundlagentheoretische „neuralgische“5 Bedeutung. Im 19. Jahrhundert, als man sich von der Rechtsverletzungslehre mehr und mehr entfernte, und z. T. bevor man in Deutschland die Tierquälerei als Straftat kannte, widmete der Hegelianer Abegg dem Thema mehrere Abhandlungen, die nicht zufällig immer mit einer Distanzierung von der Rechtsverletzungslehre und einer Beteuerung der engen Beziehung von Recht und Sittlichkeit begannen.6 Zusätzlich zu den seit seinen ersten Schriften vertretenen Gefühlsschutz- und Gefährlichkeitstheorien7 sprach Abegg später von einer Pflicht des Menschen gegen sich selbst, also von einer Humanitätspflicht, den Tieren Milde und Mitleid entgegen zu bringen.8 Scholl sah in der (ärgerniserregenden9) Tierquälerei eine mögliche Gefährdung der Sittenordnung als Ganzes.10 3 Z. B. Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, Teil I, 1823, S. 201 f. („die Bestrafung der Mißhandlungen von Tieren . . . hängt mit religiösen Vorstellungen zusammen, wodurch sie allein gerechtfertigt werden kann“); G. Duden, Der preußische Entwurf einer neuen Strafgesetzgebung, 1843, S. 328 („moralische Bevormundung“); wohl auch Mittermaier, Über den neuesten Zustand der Criminalgsetzgebung in Deutschland, 1825, S. 173 („nicht alles was unsittlich ist, muß auch zur strafbaren Handlung gemacht werden“); heute Santana Vega, La protección penal de los bienes jurídicos colectivos, Madrid, 2000, S. 58. 4 So Abegg, NArchCrimR 1851, 102 ff., 104; Mendelsohn-Bartholdy, GS 66 (1905), 428 ff., 429. 5 Roxin, AT I, 3. Aufl. 1997, § 2 Rn. 21. 6 Abegg, NArchCrimR 1832, 620 ff., 622 f.; ders. NArchCrimR 1834, 93 ff., 96; ders. NArchCrimR 1851, 104 ff. 7 Vgl. unten Fn. 27 und 33. 8 Abegg, NArchCrimR 1851, 113 f.

Rechtsgüterschutz und Tierquälerei

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Diese Tradition wurde im frühen 20. Jahrhundert etwa von Mendelsohn-Bartholdy weiterverfolgt, der in dem Verbot der Tierquälerei in erster Linie ein Mittel zur Bekämpfung roher Gesinnung erblickte.11 Im Nationalsozialismus war der Hinweis auf den Tierquälereitatbestand ein beliebtes Argument für die Moralisierung des Strafrechts. Nach Schaffstein könne die Rechtsgutslehre die Tierquälerei gar nicht erfassen,12 Schick nannte die Tierquälerei eine „verabscheuungswürdige und dem Sittlichkeitsempfinden widersprechende Handlung“.13 Die verbotstragende Ratio war für Kempermann kein Rechtsgut, sondern eine „Kulturidee“,14 für Hellmuth Mayer die Sittenwidrigkeit des Quälens eines Tieres,15 für Klee die Rohheit der betätigten Gesinnung16. In der Nachkriegszeit, vor allem zur Zeit der Strafrechtsreform, waren moralistische Deutungen des Tierquälereitatbestands insbesondere unter Anhängern des E 1962 – der die Tierquälerei unter die „Straftaten gegen die Sittenordnung“ (BT 2. Abschnitt [§ 233]) einordnete17 – beliebt. Gallas sprach mehrere Gesichtspunkte an, vom „Schutz von Gesinnungswerten“18 über die „Selbsterniedrigung des Menschen“19 bis zu einem „Beispiel brutaler Bedenkenlosigkeit“,20 und Welzel wies u. a. auf eine Betätigung von „Gesinnungsrohheit“ hin21. Heute findet man unter Strafrechtlern kaum noch Farbe bekennende Liberalismusgegner. Eine Ausnahme bildet Stratenwerth, der den Tierquälereitatbestand als Beleg für die Notwendigkeit, die anthropozentrische Kurzsichtigkeit des Strafrechts zu erweitern, heranzieht.22 Diejenigen, die sich weder mit einem indirekten Menschenschutz (unten III.) noch mit einer Überwindung des Liberalismus abfinden können, versuchen die Tierquälerei als eng umgrenzte Ausnahme tradierter Prinzipien zu deuten.23 S.u. Fn. 28. Scholl, ZStW 13 (1893), 279 ff., 303. 11 Mendelsohn-Bartholdy, GS 66 (1905), 447. 12 Schaffstein, in: Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, S. 108 ff., 117; ders., DStr 4 (1937), 335 ff., 343. 13 Schick, Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung, 1936, S. 7, 9, 59 (Zitat). 14 Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens und seiner Elemente, 1934, S. 15. 15 H. Mayer, DStR 1938, 73 ff., 84 Fn. 51. S. auch F. Grau, ZAkdR 1938, 193 ff., 193, der von der „Zuneigung des Deutschen zu dem treuen Tierkameraden“ sprach. 16 Klee, DStR 1936, 1 ff., 10. 17 Einverstanden Lorz, in: GS K. Meyer, 1990, S. 567 ff., 581. 18 Gallas, in: Beiträge zur Verbrechenslehre, Berlin, 1968, S. 1 ff., 13. 19 Gallas (o. Fn. 18), S. 15. 20 Gallas (o. Fn. 18), S. 15. 21 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 452. 22 Stratenwerth, Das Strafrecht in der Krise der Industriegesellschaft, Basel, 1993, S. 18; ders., FS Lenckner, 1998, S. 377 ff., 387; ders., in: v. Hirsch / Seelmann / Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2005, S. 157 ff., 162; ähnlich auch Kuhlen, in: v. Hirsch / Seelmann / Wohlers, ebenda, S. 148 ff., 151 f. 9

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III. Indirekter Menschenschutz? Der traditionelle Moralist – verstanden als derjenige, der Verhaltensnormen um ihrer selbst willen, ohne dass sie „etwas ,hinter‘ ihr Stehendes schützen müssen“, für legitim erklärt24 – war politisch „rechts“. Ihm ging es um die Bestrafung der Homosexualität und der Kuppelei, der Gotteslästerung und – heute noch – des Rauschmittelbesitzes. Seit einigen Jahrzehnten weht der moralisierende Wind auch von „links“, vor allem von feministischer Seite25 – und gefordert wird u. a. die Bestrafung der sexuellen Belästigung, der Pornographie und der Freier. Der Liberale, der seinen Intuitionen folgt und das Verbot der Tierquälerei nicht ablehnt, steht also vor der doppelten Herausforderung, für diesen Tatbestand eine Rechtfertigung anzubieten, die weder von traditionellen noch von neueren Moralisten instrumentalisiert werden kann. Eines der beliebtesten Bollwerke gegen die moralistische Inanspruchnahme des Strafrechts war, wie schon bemerkt, die Begrenzung seiner Zuständigkeit auf den Schutz menschlicher Rechte oder Interessen. Obwohl der Rechtsgutsbegriff lebhaft umstritten ist, gehört der Menschenbezug zu dem kleinen Teil, über den allgemeine Zustimmung herrscht.26 Deshalb bemühte sich die liberale Tradition überwiegend darum, den strafrechtlichen Tierschutz als indirekten Menschenschutz zu deuten. So sprechen einige vom Schutz kollektiver Gefühle: Die Bevölkerung ist empört, wenn sie von einer Tierquälerei erfährt, und das rechtfertige die Bestrafung.27 Nun ist diese Begründung nicht nur deshalb wenig überzeugend, weil der Unrechtsgehalt heimlicher Tierquälereien darin unangemessen widergespiegelt wird, es 23 Etwa Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 154, und Neumann / Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 44: „normative Verständigung“; Frisch, FS Stree / Wessels, 1993, S. 69 ff., 73: Tribut an sozialen Wertvorstellungen; Rudolphi, SK-StGB, 6. Aufl. 1997, vor § 1 Rn. 11; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 52 ff. „Verhaltensdelikt“; wohl auch Bloy, ZStW 100 (1988), 485 ff., 492. 24 Amelung, in: Hefendehl / v. Hirsch / Wohlers (o. Fn. 1), S. 155 ff., 169 f. 25 Zu diesen „atypischen Moralunternehmern“ Scheerer, KrimJ-Beiheft 1986, 133 ff. 26 Z. B. Roxin, AT I, 4. Aufl. 2005, § 2 Rn. 7; Jescheck / Weigend, AT 5. Aufl. 1996, S. 258; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 23), vor § 1 Rn. 8; und erst recht bei der sog. personalen Rechtsgutslehre, etwa Hassemer, in: Philipps / Scholler (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85 ff., 91. 27 Abegg, NArchCrimR 1834, 97; W. Lange, GS 42 (1889), 43 ff., 45 f., 49; v. Hippel, Die Tierquälerei in der Gesetzgebung des In- und Auslandes, 1891, S. 125, 126 („Sittlichkeitsdelikt“); ders., DJZ 1933, Sp. 1253 ff., 1253; Vierneisel, Das Delikt der Tierquälerei und seine Reformbedürftigkeit, 1914, S. 18 f., 23; Rotering, ZStW 26 (1906), 719 ff., 736; v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 23. Aufl. 1921, S. 655 f.; heute Hirsch, in: Kühne / Miyazawa (hrsg.), neue Strafrechtsentwicklung im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 11 ff., S. 16 („Menschliches Mitgefühl mit der leidenden Kreatur“); Robles Planas, in: Actualidad Penal 1996, 686 ff., 703 f.; Serrano Tárraga, in: Revista de Derecho Penal y Criminología 2 (2004), 501 ff., 509 ff.

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letztlich unverständlich erscheint, wieso schon das Quälen, und nicht erst das Weitererzählen für strafbar erklärt wird. Gesetze, die tatsächlich diesen Standpunkt vertreten, erklären deshalb nur die öffentliche oder ärgerniserregende Tierquälerei für strafbar.28 Problematisch ist vor allem die mit jedem unqualifizierten Appell an den Schutz von Gefühlen verbundene Annäherung an die Moralisten.29 Denn dass Homosexuelle den alten, Freier den neuen Moralisten empören, ist klar. Ein weiterer Versuch, Tierschutz auf indirekten Menschenschutz zurückzuführen, ist die Behauptung eines Interesses der Allgemeinheit an der anständigen Behandlung von Tieren.30 Befriedigend ist dieser Ausweg aber auch nicht. Zum einen ist klar, dass ein solches Interesse bestehen musste, damit die Vorschrift überhaupt erlassen wurde. Zum anderen liefert dieser Hinweis aber nur eine geschichtlichkausale Erklärung und keine rechtsphilosophisch-normative Rechtfertigung der Vorschrift.31 Problematisch erscheint vor allem die mit diesem Wortgebrauch verbundene Verwässerung des Interessensbegriffs, der deshalb nicht mehr tauglich ist, als Schranke gegen die Moralisten zu fungieren: Wenn man nicht nur am eigenen Leben oder Vermögen, sondern sogar an der anständigen Behandlung von Tieren ein strafrechtlich schutzwürdiges Interesse haben kann, ist nicht mehr ersichtlich, warum es dann kein „Sozialinteresse an der Normalität des Geschlechtslebens“32 bzw. an einer Gesellschaft ohne Freier und Pornographie geben darf. Ein weiteres Argument, das eine lange Geschichte in der Moralphilosophie hat und auch von Strafrechtlern seit Hommel aufgegriffen wurde, weist auf die Gefährlichkeit des Täters hin: Wer Tiere quält, der könne auch Menschen quälen.33 Es ist aber nicht einzusehen, wieso eine derartig unsichere Prognose die Sicherheit unse28 In diese Richtung auch der frühere § 360 Nr. 13 RStGB, der die Adverbialsätze „öffentlich oder in Ärgernis erregender Weise“ enthielt. S. auch v. Hippel (o. Fn. 27), S. 107 m. Nachw.; ausf. und krit. W. Lange, GS 42 (1889), 43 ff., 51 ff. 29 Deshalb gegen jeden Gefühlsschutz Amelung, in: Hefendehl / v. Hirsch / Wohlers (o. Fn. 1), S. 155, 171 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 84. Dieses Argument auch bei Greco, Revista Brasileira de Ciências Criminais 49 (2004), 89 ff., 108 f. 30 Schwinge / Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, 1937, S. 69; auch Klee, DStR 1936, 10; einiges davon auch bei v. Hippel (o. Fn. 27), S. 125. 31 So auch Röckle (o. Fn. 2), S. 93. 32 So Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1971, S. 411 bzgl. der Homosexualität. 33 Hommel, Rhapsodia qvastionvm in foro qvotidie obvenientivm, 1769, Observatio CCLVI (S. 38 ff.); Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 1797, S. A 108 (§ 17) (dazu Baranzke, Kant-Studien 96 [2005], S. 336 ff.; Potter, FS Hruschka 2005, S. 299 ff.); Abegg, NArchCrim 1832, 638 Fn. 22; ders. NArchCrimR 1834, 97; ders. NArchCrimR 1851, 109; Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 2, 1883, S. 140; heute v. Loeper, ZRP 1996, 143 ff., 146; von einer gesellschaftsgefährdenden Abstumpfung der Mitleidsgefühle der Bevölkerung und nicht mehr des Einzeltäters spricht v. Hippel (o. Fn. 27), S. 130; teilweise auch Salkowski, Der Tierschutz im geltenden und zukünftigen Strafrecht des In- und Auslandes, 1911, S. 94, der auch die Tiere in deren Interesse schützen will. Auch der Jubilar hält diese Begründung für „denkbar“ (Rechtsgüterschutz [o. Fn. 1], S. 346 Fn. 82).

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res Urteils über das Unrecht einer Tierquälerei tragen können soll.34 Ferner sind Fälle denkbar, in denen die Prognose nicht stimmt: Soll man dann sagen, es ist nichts passiert, man hatte es nur mit einem Fehlalarm zu tun?35 Aber das Hauptproblem dieser Gefährlichkeitsbegründung ist wieder, dass man das Spiel der Moralisten spielt. Sind derartig unsichere Prognosen ausreichend, um eine Kriminalisierung zu tragen, dann ist sowohl an die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Bestrafung der Homosexualität und an den heutigen feministischen Kreuzzug gegen Pornographie zu denken, die sich teilweise auf ähnlich unwahrscheinliche Gefährlichkeitsprognosen stützen.36 Ein weiteres menschenbezogenes Argument bietet unser Jubilar an. Bekanntlich tritt er dafür ein, nur sozialschädliche Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen.37 Sozialschädlich ist aber die Tierquälerei, weil sie den Rechtsfrieden beeinträchtige, in dem Sinne, dass die Menschen den unbestraften Tierquäler im Wege der Selbstjustiz zur Verantwortung ziehen würden.38 Ob das empirisch stimmig ist, wollen wir zunächst dahingestellt sein lassen. Das Problem dieser Begründung ist, dass die Gefahr informeller Reaktionen auf ein Verhalten nur dann einen Grund liefert, das Verhalten unter Strafe zu verbieten, wenn das Verhalten aus anderen Gründen nicht sein darf. Sonst dürfte man das Verhalten nicht verbieten, sondern wäre vielmehr dazu verpflichtet, den Täter zu schützen. Das Rechtsfriedensargument ist deshalb der Moralismusgefahr noch nicht völlig entkommen. Gesellschaften, in denen Homosexuelle gelyncht wurden, sind nicht unbekannt, und es ist denkbar, dass es in Zukunft Gesellschaften geben wird, wo Freier der Gefahr von Selbstjustiz ausgesetzt sind.39 Ein letzter, neuerer Versuch, den Tierquälereitatbestand zu deuten, ist seine Charakterisierung als Umweltdelikt. 40 Das Tier gehöre zur Umwelt, Tierschutz sei also DeGrazia, Taking Animals Seriously, Cambridge, 1996, S. 42. Nozick, Anarchy, State, Utopia, Malden, 1974, S. 36; Regan, The Case for Animal Rights, Berkeley, 2004 (zuerst 1983), S. 182 f.; und die oben Fn. 344 zitierte Stelle von DeGrazia. 36 Rechter Moralismus: BVerfGE 6, 389, 437: mittelbarer Jugendschutz, aber nicht nur (s. etwa BVerfG, a. a. O., 426, 434); s. auch den E 1962, S. 376 ff., aber nicht nur (a. a. O., S. 375). Linker Moralismus: MacKinnon, Towards a Feminist Theory of the State, Cambridge u. a., 1989, S. 196; Schwarzer, in: dies. (Hrsg.), PorNO, 1994, S. 43 ff., 46 f. Wird das Argument anders gedeutet, nicht mehr im Sinne einer Gefährlichkeitsprognose, sondern der Entwürdigung oder Entmenschlichung des Täters (so etwa Erbel, DVBl. 1986, 1235 ff., 1251; Spaemann, in: Händel [Hrsg.], Tierschutz. Testfall unserer Menschlichkeit, 1984, S. 71 ff., 78), dann hat man es mit einem erklärten moralistischen (tugendethischen) Argument zu tun, das im Strafrecht keinen Platz haben darf (zu Recht gegen Bestrafungen beim Verstoß gegen die eigene Menschenwürde Roxin, AT I [o. Fn. 26], § 2 Rn. 20 ff.). 37 S. bereits Fn. 1. 38 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 345 f., 371, 378; zust. Jakobs, AT 2. Aufl., 1993, Abschn. 2 Rn. 19 f.; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 23), vor § 1 Rn. 11. Ähnlich, aber weitaus dunkler Röckle (o. Fn. 2), S. 95, der von „öffentlicher Sicherheit“ spricht. 39 Krit. auch R. Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1998, S. 306 ff. 34 35

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Umweltschutz. Dass hiermit der Gehalt der Tierquälerei verfälscht wird, liegt auf der Hand. Denn der Tierschutz ist individualistisch: Hier es geht um das einzelne Tier, während der Umweltschutz holistisch ist, da es dort um das Gleichgewicht eines Gesamtsystems geht.41 Das wird klar, sobald man an einen Hundebesitzer denkt, der nur die Tiere quält, die er selbst züchtet, so dass er in den Bestand der Umwelt nicht messbar eingreift. Die gebotene Bejahung der Tierquälerei ist in einem solchen Fall nur erklärlich, weil Tierschutz nicht Umweltschutz ist.42 IV. Direkter Tierschutz im liberalen Staat Eine Lektion sollte man aus dem Scheitern aller Versuche einer indirekten Begründung ziehen: Tiere werden im Strafrecht nicht unseretwegen, sondern um ihrer selbst willen geschützt.43 Sie müssen in einem gewissen Sinne einen Eigenwert besitzen, sonst müssten wir nach dem Versagen der indirekten Begründungsversuche dem Tatbestand der Tierquälerei jegliche Legitimität absprechen. Mit der näheren Rechtfertigung dieser Annahme des Eigenwerts von Tieren brauchen wir 40 Wiegand, Die Tierquälerei, 1979, S. 130 f.; Morié, Das Vergehen der Tierquälerei, 1984, S. 189 ff. Ob das eine indirekt menschenbezogene Deutung ist oder nicht, hängt vom eigenen anthropozentrischen oder ökozentrischen Umweltverständnis ab. Sowohl Platzgründe als auch die zweitrangige Bedeutung dieser Deutung der Tierquälerei sprechen dafür, diese Ungenauigkeit in Kauf zu nehmen und diese Ansicht an der jetzigen Stelle zu besprechen. 41 Dazu instruktiv A. Taylor, Animals and Ethics, Ontario, 2003, S. 145 ff.; deshalb kritisieren Tierethiker wie Regan (o. Fn. 35), S. 362, Umweltethiker als „environmental fascists“. Siehe auch das verfassungsrechtliche Schriftum vor 2002, das bereits zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Schutz des Tieres um seiner selbst willen nicht von der Staatszielbestimmung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG a. F.) erfasst werde (Holste, JA 2002, 907 ff., 909; Huster, ZRP 1993, 329; alle m. w. Nachw.). 42 Weitere Einwände bei Röckle (o. Fn. 2), S. 91 ff.; R. Merkel (o. Fn. 39), S. 309 Fn. 250. 43 In diesem Sinne auch Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789 (Nachdruck Oxford, 1996), Chap. XVII, § i 4 Fn. b; Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 13. Aufl. 1886, S. 628 („auch die Thiere haben ein gewisses Recht“; die Stelle erscheint in der 15. Aufl. 1888, S. 676 f. nicht mehr, wo Gefühlsschutz und Tierschutz identifiziert werden); J. Kohler, GS 47 (1892), 32 ff.; ausführlich Bregenzer, Thier-Ethik, 1894, S. 352 ff.; Emrich, MDR 1949, 675 ff., 676; Giese / Kahler, Tierschutzrecht, 4. Aufl. 1950, S. 6; Felix, JZ 1959, 85 f.; Lorz, Naturschutz-, Tierschutz- und Jagdrecht, 1961, S. 4 (zusammen mit Gefühlsschutz); Roxin, in: Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 1 ff., 16 Fn. 20; ders. AT I (o. Fn. 5), § 2 Rn. 21; Salkowski, Tierschutz (o. Fn. 33), S. 94, 96; Welzel (o. Fn. 21), S. 452; Vogel-Etienne, Der bundesstrafrechtliche Tierschutz, Zürich, 1980, S. 152 ff., 172; v. Loeper / Reyer, ZRP 1984, 205 ff., 206: „eine Art Ur-Grundrecht des Tieres“; R. Merkel (o. Fn. 39), S. 306; Hirsch, in: Modernas tendencias en la ciencia del Derecho penal y en la criminología, übersetzt v. Pastor, Madrid, 2000, S. 371 ff., 384; Greco (o. Fn. 29), S. 108 ff.; Hirt / Maisack / Moritz (o. Fn. 2), § 1 Rn. 2; wohl auch Arth. Kaufmann, FS Spendel 1992, S. 59 ff., 73. Das war auch der Standpunkt nationalsozialistischer Gesetzgebung, vgl. die amtliche Begründung des Reichstierschutzgesetzes von 1933 (Reichsanzeiger Nr. 281 vom 1. Dezember 1933, abgedruckt in Giese / Kahler, Das deutsche Reichs-Tierschutzgesetz, 1934, S. 104 ff., 105); zust. Schick, Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung, 1936, S. 7.

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uns jetzt nicht zu befassen. Wir brauchen nicht die Argumente etwa von Peter Singer oder Tom Regan zu rezipieren. Der Hinweis darauf, dass die von uns abgelehnte Tierquälerei anders nicht deutbar ist, ist eine moralische Tatsache, die als Begründung dieses moralischen Ergebnisses des Eigenwerts von Tieren für unsere Zwecke ausreicht. Nur geht es hier nicht allein um die moralische Frage, sondern um die rechtliche, oder genauer, um die strafrechtliche. Mit dem Tatbestand der Tierquälerei schützt man die Tiere um ihrer selbst willen. Ist es aber Aufgabe des Staates, Tiere ihretwegen zu schützen? Darf man die Freiheit eines Bürgers deshalb einschränken, weil diese Einschränkung einem Tier zugute kommt? Selten wird gesehen, dass dies eine weitere, von der bisher behandelten zu unterscheidende Frage ist.44 Denn nicht alles, was einen Wert darstellt, muss auch vom Staat mittels des Strafrechts geschützt und gefördert werden – man denke nur an Werte wie Liebe oder Freundschaft. Vor allem ist darauf zu achten, dass man eine Begründung liefert, die sich in die liberale Tradition einordnen lässt und nicht von einer der beiden Gruppen von Moralisten instrumentalisiert werden kann. Am leichtesten wäre es, auf das deutsche Grundgesetz zu verweisen.45 Seit 2002 findet der Tierschutz unter den Staatszielbestimmungen ausdrücklich Anerkennung (§ 20a GG).46 Dieses Argument führt aber nicht sehr weit. Erstens steht auch das Sittengesetz im Grundgesetz als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), und das wurde immerhin vom Bundesverfassungsgericht als Argument herangezogen, um den Straftatbestand der männlichen Homosexualität zu rechtfertigen.47 Zweitens und vor allem liefert der Verweis auf das Grundgesetz nur eine Verschiebung der Fragestellung und nicht deren Lösung. Denn warum der Tierschutz in das Grundgesetz gehört, wird dadurch noch nicht geklärt. Wer vom verfassungsrechtlichen Schrifttum Aufklärung hierzu erwartet, wird enttäuscht. Allgemein wird nicht mehr gesagt, als dass erstens die überwiegend anthropozentrische Struktur des Grundgesetzes der Aufnahme des Tierschutzes in die Verfas44 Vgl. immerhin v. Hippel (o. Fn. 27), S. 129. Repräsentativ für das Übersehen dieser weiteren Frage v.d. Pfordten Ökologische Ethik, 1996, der von seiner Ethik der Anderinteressen ausgeht (S. 203 ff.), um Tieren Rechte zuzusprechen (S. 243 ff., 301 f.) und sogar eine Novellierung des Tierschutzgesetztes zu fordern, welche die Tötung von Tieren nur zur Rettung menschlichen Leibs oder Lebens rechtfertigt (S. 284), was also alle Bürger zum Vegetarianismus verpflichtet (s. auch ders. in: Nida-Rümelin / v.d.Pfordten [Hrsg.], Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2. Aufl. 2002, S. 231, 242, 244). Einem staatlich angeordneten Vegetarianismus bedenklich nahe auch Hirt / Maisack / Moritz (o. Fn. 2), § 1 Rn. 56 Nr. 3. Vgl. auch Francione, in: Sunstein / Nussbaum (Hrsg.), Animal Rights, Oxford, 2004, S. 108 ff., 134, der sogar Haustiere verbieten will. Fehlendes Problembewusstsein auch bei Gruber, Rechtsschutz für nichtmenschliches Leben, 2006, insb. S. 160 f. 45 So seit der 4. Aufl. seines Lehrbuchs AT I Roxin (o. Fn. 26), § 2 Rn. 56. 46 Dazu ausführlich und statt aller Faller, Staatsziel „Tierschutz“, 2005. Zur vergleichbaren Rechtslage in der Schweiz („Würde der Kreatur“) s. Sitter-Liver und Saladin, jeweils in: Nida-Rümelin / v.d.Pfordten (o. Fn. 44), S. 355 ff. bzw. S. 365 ff. 47 BVerfGE 6, 389, 426, 434.

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sung nicht entgegenstehe,48 zweitens und vor allem, dass diese Aufnahme deshalb notwendig sei, weil man sonst nicht mit dem Argument des Tierschutzes in vorbehaltlos gewährte Grundrechte wie etwa die Religions- oder Wissenschaftsfreiheit eingreifen dürfte49 – als ob die Frage, ob der Tierschutz überhaupt eine Angelegenheit des Staates ist, schon beantwortet wäre. Man könnte einen Schritt weiter gehen und den Verweis auf das Grundgesetz deshalb für relevant halten, weil sich im Grundgesetz die demokratische Willensbildung besonders deutlich niederschlage. Tierschutz sei demnach Staatssache, weil die (qualifizierte) Mehrheit für Tierschutz sei. Überzeugte Demokraten würden sich mit einer derartigen Begründung zufrieden erklären.50 Alle anderen würden sich indes prinzipiell51 nur darüber wundern, wieso numerische Übermacht denn Recht schaffen kann, und würden sich in diesem Zweifel dadurch bestätigt fühlen, dass es nur von geschichtlichen Kontingenzen abhängt, ob nicht unsere Moralisten die Mehrheit auf ihrer Seite haben. Positivrechtliche Argumente für den staatlichen Tierschutz reichen demnach nicht aus. Der staatliche Tierschutz muss vielmehr in eine liberale Theorie der Aufgaben des Staates eingerahmt werden. Erst dann wird man über seine Legitimität urteilen können, und nur so gewährleistet man, dass den Plänen der Moralisten nicht gedient wird. Eine prominente Rolle unter den liberalen Staatstheorien spielt die Lehre vom Sozialvertrag. Könnte man nicht vielleicht aus einem Kontraktualismus die Befugnis des Staates, sich um Tiere zu kümmern, ableiten? John Rawls hat das abgelehnt: Tiere haben nicht die Fähigkeit, über Normen, die ein Zusammenleben regeln sollen, zu diskutieren und zu verhandeln. Sie sind also keine Vertragsparteien, nehmen am Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens nicht teil und verfügen also über keine originären Rechte.52 Der Tierrechtler Tom Regan hat dagegen eingewandt, der Ausschluss von Tieren aus dem Urzustand sei eine ungerechtfertigte Diskriminierung: Richtigerweise sollte auch die eigene Spezieszugehörigkeit den einzelnen Vertragsparteien im Schleier des Nichtwissens verborgen bleiben.53 Das ist aber nicht überzeugend. Denn jemand, der im Urzustand in Etwa v.d. Pfordten, in: Nida-Rümelin / v.d. Pfordten (o. Fn. 44), S. 57 ff. Huster, ZRP 1993, 326 ff., 327; Händel, ZRP 1996, 137 ff., 140; Obergfell, NJW 2002, 2296 ff., 2297; Hässy, BayVBl 2002, 202 ff., 205; Holste, JA 2002, 912; Kluge, ZRP 2004, 10 ff., 11. 50 So ausdrücklich v. Lersner, NVwZ 1988, 988 ff., 991; einiges davon auch bei Huster, ZRP 1993, 329. 51 Also ohne dass man auf die Einzelheiten der heutigen Demokratiediskussion eingeht – Überblick bei Rinderle, Der Zweifel des Anarchisten, 2005, S. 287 ff. 52 Rawls, A Theory of Justice, Revised Edition, Oxford / New York, 1999, S. 15, 441, 448 f.; ders. Political Liberalism, Expanded Edition, New York, 2005, S. 21, 245 f. 53 Regan (o. Fn. 35), S. 171 f.: „The cards as dealt in the original position are stacked against them“. Weitere ähnliche Versuche bei VanDeVeer, Monist 62 (1979), 368 ff.; B. A. Singer, in: Environmental Ethics 10 (1988), 217 ff., 221 ff. 48 49

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der Lage ist, über Normen zu diskutieren, kann weder ein Schwein noch eine Ente sein, sondern muss in der uns bekannten Welt ein Mensch sein.54 Die beiden Vertragstheoretiker, die sich mit der Tierfrage am tiefsten befasst haben, nämlich Narveson und Carruthers, kommen deshalb beide zu dem Ergebnis, dass Tiere von keiner direkten moralischen – und also erst recht nicht rechtlichen – Relevanz sind.55 Auch die der Vertragstheorie nahe stehende Diskurstheorie scheint aus ähnlichen Gründen – weil Tiere nicht am moralischen Diskurs teilnehmen können – höchstens zu einer „moralanalogen Verantwortung gegenüber Tieren“ zu kommen.56 Man könnte auf einen weiteren Strang liberalen Denkens zurückgreifen, nämlich auf den Utilitarismus, und versuchen, daraus die theoretische Einrahmung des staatlichen Tierschutzes abzuleiten. Ein mögliches utilitaristisches Argument würde lauten, Schmerzen, verstanden als unangenehme oder anstößige Sinneserfahrungen, die allgemein mit reellen oder potentiellen Gewebebeeinträchtigungen verbunden sind,57 seien intrinsische Übel; deren Verhinderung, seien sie menschlich oder tierisch, sei daher immer ein guter Grund für einen staatlichen Eingriff. Hier soll nun keine allgemeine Kritik am Utilitarismus angeboten, sondern vielmehr versucht werden, beim Argument zu verbleiben. Fraglich erscheint vor allem die vom Utilitarismus behauptete und auch auf den ersten Blick intuitiv einleuchtende rechtsethische negative Valenz des Schmerzes. Würde es sich wirklich so verhalten, dass Schmerzen Zustände sind, die man als intrinsische Übel immer ceteris paribus zu bekämpfen hat, dann müsste man bemüht sein, Vieles zu ändern, so dass es weniger Schmerz in der Welt gäbe: An erster Stelle fällt einem der Leistungssport ein,58 an zweiter die Raubtiere, die lebende Schmerzzufügungsmaschinen sind. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man statt von Schmerzen von Leiden spräche.59 Denn dadurch würden unbedenkliche Alltagserscheinungen Weitere Kritik bei Carruthers, The Animals Issue, Cambridge, 1992, S. 102 f. Narveson, Moral Matters, 2. Aufl., Toronto, 1999, S. 133 ff., 142; für seine vertragstheoretische Staatsphilosophie am ausführlichsten ders. The Libertarian Idea, Toronto, 2001, S. 131 ff., 270 (Tiere); Carruthers (o. Fn. 54), S. 121, 169. Ähnlich auch die dem Kontraktualismus nahestehende Interessensethik Hoersters, Haben Tiere eine Würde?, 2004, S. 63, 99 ff.; für seine allgemeine Theorie ders. Ethik und Interesse, 2003, S. 61 ff., 163 ff. 56 So Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1992, S. 224; s. ferner Kettner, in: NidaRümelin / v.d.Pfordten (o. Fn. 44), S. 301 ff., 303, 307. Dagegen will Ott, in: Nida-Rümelin / v.d.Pfordten (o. Fn. 44), S. 325 ff., 327 f. die hier gesuchte Begründung aus dem Gedanken des „advokatorischen Diskurses“ ableiten (ähnlich früher ders., Ökologie und Ethik, 1993, S. 107 ff., 149 ff.). Der Umweg über die (menschlichen) Diskursteilnehmer führt aber notwendig dazu, dass der moralische und rechtliche Wert des Tieres ein indirekter bleibt. 57 Definition entnommen aus DeGrazia, (o. Fn. 34), S. 107. 58 Ähnlich v.d. Pfordten (o. Fn. 44), S. 129 f. 59 Zur Unterscheidung Hare, in: Feinberg (Hrsg.), Moral Concepts, Oxford, 1969, S. 29 ff.; Frey, Interests and Rights. The Case Against Animals, New York, 1980, S. 48; DeGrazia (o. Fn. 34), S. 116 f. 54 55

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wie Prüfungen oder Trennungen in Liebesbeziehungen, die unbestritten sehr viel Leid hervorrufen, zu Staatsangelegenheiten. Am besten verlässt man die utilitaristische Perspektive völlig und versucht einen anderen Zugang zur Begründung des Verbots der Tierquälerei. Der Grund, weshalb das gequälte Tier seinetwegen geschützt werden darf, erschließt sich erst, wenn man sich auf ein Leitmotiv liberalen Denkens besinnt: nämlich auf die Sorge um den Schwächeren, die Betrachtung der Fremdbeherrschung als ein Übel, dessen Minimierung zu den ersten Staatsaufgaben zählt. Die Angst vor jeder Form von Fremdbeherrschung dürfte hinter oder neben vielen der prominentesten Ideen der liberalen Tradition stehen. Schon die Vertragstheorie, die an sich keinen Platz für Tiere hat, lebt von der Sorge um den Schwächeren: Denn sonst könnte man immer mit dem Sophisten Kallikles fragen, welche Vorteile der Starke, der gerade keinen Angriff zu fürchten braucht, aus dem Vertrag ziehen soll, damit er ihn eingeht.60 Dass es die Vertragstheorie trotz dieses Problems so weit gebracht hat, zeugt davon, dass für sie die Vorteile für den Schwächeren an erster Stelle stehen. Die Verurteilung der Fremdbeherrschung belebt auch Mills und Tocquevilles Furcht vor der Tyrannei der Mehrheit,61 Rawls’ Unterschiedsprinzip, das die ungleiche Verteilung von Gütern nur dann für zulässig erklärt, wenn der Benachteiligte noch mehr bekommt, als er gemäß einer gleichen Verteilung bekommen würde,62 das libertäre Misstrauen gegen den starken Staat, welches im freien, uneingeschränkten Markt vor allem – und vielleicht zu naiv – ein Mittel der Bekämpfung von Machtkonzentration in einer Gesellschaft erblickt,63 und den heutigen sog. Republikanismus, der zwar vorgibt, kein Liberalismus zu sein und von einem Verständnis von Freiheit als Abwesenheit von Fremdbeherrschung ausgeht64. Für diese Seite der liberalen Theorie fand Shklar die geglückte Bezeichnung „Liberalismus der Furcht“ (Liberalism of Fear) – ein Liberalismus, der vor allem in den Kategorien „stark / schwach“ denkt und der Grausamkeit und die darauf zurückführbare Furcht als summa mala begreift.65 Noch früher fasste Locke dieses liberale Anliegen zusammen, nämlich als Anliegen „to Limit the Power, and Moderate the Dominion of every Part and Member of the Society“.66 60 Platon, Gorgias, in: Loewenthal (Hrsg.), Platon. Sämtliche Werke, Berliner Ausgabe, 8. Aufl. 1982, Bd. I, 482D ff. (S. 301 ff., 352 f.). 61 Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, Bd. II, 2. Aufl., Paris, 1848, S. 135 ff.; Mill, On Liberty, hrsg. v. Himmelfarb, London, 1974 (zuerst 1859), S. 62. 62 Rawls, A Theory of Justice, Revised Edition, Oxford, 1999, S. 65 ff. 63 Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago / London, 2002, S. 9, 15 f. 64 Vor allem Petitt, Republicanism. A Theory of Freedom and Governement, Oxford, 1997, S. 21 ff., 51 ff.; gegen diese Gegenüberstellung von Liberalismus und Republikanismus überzeugend S. Holmes, Passions and Constraint. On the Theory of Liberal Democracy, Chicago / London, 1995, S. 28. 65 Shklar, in: Rosenblum (Hrsg.), Liberalism and the Moral Life, Cambridge / London, 1989, S. 21 ff., 27, 29. 66 Locke, Two Treatises of Government, hrsg. von Laslett, Cambridge, 1988, II § 222 (S. 412).

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Man könnte aber sagen, alle diese Stellen hätten bloß mit Beziehungen zwischen Menschen zu tun. Erkennt man aber, dass sie alle Fremdbeherrschung als Unwert begreifen, dann bietet sich eine Eingangstür für die Berücksichtigung von Tieren um ihrer selbst willen an. Denn im Verhältnis zwischen Tier und Mensch ist das Tier der schwächere, der möglicherweise fremdbestimmte Part. Um fremdbestimmt zu werden, braucht man kein Mensch zu sein, sondern nur die Fähigkeit einer – wenn auch eingeschränkten – Selbstbestimmung zu besitzen. Auch wenn zwar nur der Mensch autonom im vollen Sinne des Wortes sein kann – wie auch immer man volle Autonomie oder Selbstbestimmung definiert67 – wird man „höheren“ Tieren doch eine gewisse Autonomie in dem Sinne, dass sie fähig sind, Handlungen dadurch zu initiieren, dass sie Wünsche und Ziele haben und meinen, diese Wünsche oder Ziele durch eine bestimmte Handlung in einer gewissen Weise zu befriedigen oder zu erreichen, nicht absprechen können.68 Nur vereinzelt bestreitet man, dass alltägliche Sätze wie „mein Hund bellt, weil er etwas von meinem Steak will“, oder „die Maus rennt, um nicht von der Katze gefangen zu werden“, sinnvolle Sätze sind und mehr oder wenig präzise dasjenige wiedergeben können, was im Kopf der erwähnten Tiere abläuft.69 Damit ist die Brücke zur Begründung des Tierquälereitatbestands geschlagen. Die Zufügung „erheblicher Schmerzen oder Leiden“ am Tier ist nicht per se eine Angelegenheit des Staates. Angelegenheit des Staates wird sie aber dann, wenn die zugefügten Qualen eine derartige Intensität erreichen, dass dadurch ein selbstbestimmungsfähiges Wesen fremdbestimmt wird, dass also von seiner Selbstbestimmungsfähigkeit so gut wie nichts übrig bleibt. Denn die Zufügung von Schmerzen oder Leiden kann einem die ultimative Kontrolle über den anderen verschaffen, nämlich eine Kontrolle, die nicht allein die Handlungen des anderen zu bestimmen vermag – der andere kann schreien und sonst nichts –, sondern auch den Inhalt seiner Wünsche bzw. seines Willens – dass die Schmerzen aufhören – und vor allem auch den Inhalt seiner Meinungen bzw. Vorstellungen über die Welt – bis zu dem Punkt, in dem die Welt des Gequälten nichts Weiteres als die Qual beinhaltet. Die prototypische Quälerei vernichtet also die Fähigkeit zum Handeln, die Fähigkeit zum Wollen und die Fähigkeit zu denken, und insofern ist sie auch Sache eines Staates, dessen Legitimität auch daraus abzuleiten ist, dass er sich bemüht, derartige Ereignisse zu verhindern.

Dazu einige Überlegungen unten bei Fn. 73. So grdl. Regan (o. Fn. 35), S. 85, von wo ich diese schwache Definition von Autonomie entnehme, die er als preference autonomy bezeichnet; wohl bedeutungsgleich der von Dretske, in: Perler / Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere, 2005, S. 213 ff., vorgeschlagene Begriff der „minimalen Rationalität“. Weitere Diskussion unter Auswertung empirischen Materials bei DeGrazia (o. Fn. 34), S. 204 ff., der von einem Begriff von Autonomie ausgeht, und Rogers / Kaplan, in: Sunstein / Nussbaum (o. Fn. 444), S. 175 ff., 184 ff. 69 So aber Frey (o. Fn. 59), S. 78 ff., 100; ähnlich, wenn auch nicht leicht verständlich, Leahy, Against Liberation, London / New York, 1991, S. 103 ff. Kritik bei Regan (o. Fn. 35), S. 38 ff. 67 68

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V. Fazit Der Tierquälereitatbestand schützt also das Tier und nicht uns; und Tierschutz ist insofern Aufgabe des Staates, als Tiere eingeschränkt selbstbestimmungsfähig sind und deshalb uneingeschränkt anfällig für Fremdbestimmung. Die Minimierung von Fremdbestimmung gehört zu den ureigensten Aufgaben eines liberalen Staates. Diese Sichtweise hat mehrere kriminalpolitische Vorzüge und Konsequenzen, die hier nur skizzenhaft angedeutet werden können.70 Ihr Hauptvorzug ist, dass sie es schafft, einen Gesichtspunkt aufzudecken, der nicht von den Moralisten beiderlei Couleur aufgegriffen werden kann. Denn weder in den Fällen der Homosexualität, der Kuppelei, der Gotteslästerung und des Rauschmittelbesitzes, noch in denjenigen der sexuellen Belästigung, der Pornographie oder der Prostitution besteht eine derartige Fremdbeherrschung, wie sie bei der Zufügung erheblicher Schmerzen oder Leiden entstehen kann. Ein weiterer Vorzug der hier vorgeschlagenen Ansicht ist ihre Empfindlichkeit für Abstufungen zwischen Mensch, Tier und der übrigen Natur. Diejenigen, die auf Schmerzen oder Leiden abstellen, neigen dazu, Mensch und Tier auf eine selbe Ebene zu platzieren, so dass an sich sogar Fälle denkbar erscheinen, wo man das Tier über die Menschen stellt,71 wie etwa in dem hypothetischen Fall, in dem das Quälen eines Kindes erforderlich ist, um das Quälen einer Vielzahl von Tieren zu verhindern. Da Tiere prinzipiell nur eine eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit besitzen, ist Fremdbestimmung bei ihnen nicht so vertieft möglich wie beim Menschen. Denn dieser ist nicht nur fähig, seinen Wünschen und Meinungen entsprechend zu handeln (Präferenzautonomie 72); er kann auch über seine Meinungen und Wünsche Meinungen und Wünsche zweiter Ordnung hegen,73 ist ferner in der Lage, sich nach einer Vorstellung von glücklichem Leben zu richten (man könnte dies als Klugheitsautonomie bezeichnen) und sich vor allem gemäß einer Vorstellung des moralischen Gesetzes (moralische Autonomie) zu verhalten. Deshalb liegen Folter und Tierquälerei, die beide Formen der Beherrschung, der Fremdbestimmung sind,74 an sich auf völlig unterschiedlichen Ebenen: Nur die Folter kann die Fremdbestimmung so weit treiben bis hin zur Negierung der moralischen Autonomie. 70 Über die rechtsdogmatischen Folgerungen der hier angestrengten Überlegungen müsste man sich noch Gedanken machen. 71 So vor allem P. Singer, Pratical Ethics, 2. Aufl., Cambridge, 1993, S. 57, der von der Leidensfähigkeit ausgeht und deshalb zu einer sehr fragwürdigen Einebnung kommt (S. 74); zu Recht krit. Posner, in: Sunstein / Nussbaum (o. Fn. 44), S. 51 ff., 64 f.; Epstein, in: Sunstein / Nussbaum, ebenda, S. 143 ff., 156. 72 S.o. Fn. 68. 73 Frankfurt, in: The Importance of What We Care About, Cambridge, 1988, S. 11 ff. 74 Bereits Greco, GA 2007, 628 ff., 628 Fn. 2.

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Die hier vorgeschlagene Begründung erlaubt auch eine Abstufung nach unten, da sie nicht dazu aufgegriffen werden kann, um Rechte der Natur im Allgemeinen zu unterstützen. Nur die Wesen, die fähig sind, mentale Zustände wie Meinungen und Wünsche zu haben, sind anfällig für Fremdbestimmung. Weder Pflanzen, noch die Luft oder Gewässer besitzen derartige Fähigkeiten.75 Das Abstellen auf die Fähigkeit zur „schwachen“ Selbstbestimmung liefert auch ein Unterscheidungsmerkmal, das dem gesetzlich vorgezogenen Abgrenzungskriterium des „Wirbeltieres“ normativ überlegen sein dürfte. Denn nicht alle Wirbeltiere kommen als mögliche Adressaten von Fremdbestimmung in Betracht: Viele Fische, die schon Wirbeltiere sind, scheinen keinerlei mentaler Zustände fähig zu sein. Da es aber eine schwierige empirische Frage ist festzustellen, bei welchen Tieren die hier geforderten Voraussetzungen erfüllt sind, ist die gesetzgeberische Lösung zumindest unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit vorzugswürdig, wenn sie auch normativ nicht ganz angemessen erscheint. Vor allem folgt aus einer solchen Abstufungen ermöglichenden Theorie eine sich nicht nur auf Opportunitätsgründe berufende Mahnung, den Tierschutz distanzierter und weniger sentimental zu erfassen. Zwar werden Tiere vielfach dominiert, und das ist schlecht. Ihre Selbstbestimmungsfähigkeit ist aber nur eine eingeschränkte, und vielfach treten in der ganzen Welt tiefere Beeinträchtigungen anderer Dimensionen der Selbstbestimmung auf, nämlich der Dimension, die allein Menschen aufweisen können. Auch innerhalb der engen Grenzen, in denen die vor allem emotional geforderte „Befreiung der Tiere“ legitim ist, bleibt sie eine Sekundäraufgabe.76

75 Zur Diskussion um den anthropozentrischen oder ökozentrischen Charakter des Rechtsguts der Umweltstraftaten (dazu etwa Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 130 ff. m. Nachw.) verhalten sich also die vorliegenden Überlegungen insofern neutral. 76 Ähnlich Arth. Kaufmann (o. Fn. 43), S. 59; Posner, in: Sunstein / Nussbaum (o. Fn. 444), S. 51, 61; Carruthers (o. Fn. 54), S. XI, 196.

Die straftheoretische Bedeutung der Pforte des § 3 JGG Von Bernhard Haffke I. Einleitung § 3 JGG ist die Eingangspforte1 zum sog. Jugendstrafrecht. Ein Jugendlicher, der zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung nicht reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder2 nach dieser Einsicht zu handeln, ist strafrechtlich nicht verantwortlich. D. h.: Nur wenn die Schuldfähigkeit des Jugendlichen gegeben ist, dürfen die spezifischen jugendstrafrechtlichen Sanktionen (Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe) verhängt werden. Dabei sind die Anforderungen an die Feststellung dieser Schuldfähigkeit bei Jugendlichen im Verhältnis zum Erwachsenenstrafrecht deutlich erhöht: Während bei Erwachsenen diese Schuldfähigkeit grundsätzlich vermutet wird und sie dementsprechend bei diesem Personenkreis einer Prüfung nur dann bedarf, wenn sich besondere Anhaltspunkte dafür ergeben, dass sie ausgeschlossen sein könnte, muss sie bei Jugendlichen positiv festgestellt werden – so jedenfalls das normative Programm.3 Gefolgert wird dieser Unterschied aus der Formulierung des Gesetzes, das in § 20 StGB die Merkmale der Schuldunfähigkeit negativ und in § 3 JGG dagegen die Merkmale der Schuldfähigkeit positiv zum Ausdruck bringt. Jugendliche, deren Schuldfähigkeit nicht positiv festgestellt werden kann, sind also strafrechtlich nicht verantwortlich, d. h. sie unterliegen von vornherein nicht den jugendstrafrechtlichen Sanktionen; sie werden vielmehr an der Eingangspforte zum Jugendstrafrecht abgewiesen. Dieser Knut Amelung zum 70. Geburtstag sehr herzlich gewidmete Beitrag geht der wenig erörterten, straftheoretischen Frage nach, welchen Sinn die Schuldpforte 1 Wir übernehmen diesen – plastischen – Begriff sinngemäß für das Jugendstrafrecht. Er ist ursprünglich in der forensischen Psychiatrie zur Charakterisierung der Merkmale der sog. 1. Stufe der §§ 20, 21 StGB verwandt worden (vgl. Schild, in: AK-StGB, 1990, §§ 20, 21 Rn. 161; Schild, in: NK-StGB Bd. 1, 2. Aufl. 2005, § 20 Rn. 20 ff.; jeweils m. w. N.; Haffke, Recht und Psychiatrie, 1991, S. 94 ff., 96 f.). 2 Das Gesetz sagt in § 3 JGG „und“, in §§ 20, 21 StGB dagegen „oder“. Die unterschiedliche Fassung ist der Negativformulierung in §§ 20, 21 StGB („ohne Schuld handelt, . . .“) bzw. der Positivformulierung in § 3 JGG („ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, . . .“) geschuldet, bringt aber keinen sachlichen Unterschied zum Ausdruck. 3 Vgl. statt aller: Schaffstein / Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S. 63.

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des § 3 JGG eigentlich hat, wenn die jugendstrafrechtlichen Reaktionen ihrerseits ganz wesentlich vom Erziehungsgedanken oder, wie es moderner heißt, dem Gedanken der jugendgemäßen Spezialprävention,4 geprägt sind. Das Thema fügt sich ein in das Generalthema des Verhältnisses von Prävention und Schuld, weshalb – in Anbetracht der Komplexität dieser Materie – konkrete Lösungsvorschläge im Rahmen dieses Beitrages nicht erwartet werden dürfen. Die nachfolgenden Ausführungen sondieren vielmehr nur das Terrain, liefern aber keine abrufbaren Antworten. Vorangestellt sei eine knappe Bestandsaufnahme des jugendstrafrechtlichen Diskussionsstandes.5 II. Bestandsaufnahme Wenn die Schuld des Jugendlichen – und zwar in einer gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht sogar deutlich exponierten Weise – Voraussetzung für die Verhängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen ist, so müsste, möchte man meinen, diese bei der Rechtsfolgenbemessung eine zentrale Rolle spielen. Tatsächlich ist dies, jedenfalls wenn man sich die verlautbarten Äußerungen in der jugendstrafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur vergegenwärtigt, nicht oder nur eingeschränkt der Fall. 1. Schon das Gesetz sagt, dass Erziehungsmaßregeln nicht aufgrund, nicht wegen, sondern aus Anlass der Straftat eines Jugendlichen angeordnet werden (§ 5 I JGG). Dazu heißt es in einem führenden Lehrbuch6 zum Jugendstrafrecht: „Mit dieser Formulierung will das Gesetz hervorheben, dass bei der Anordnung und Durchführung der Erziehungsmaßregeln der Gesichtspunkt ahndender Tatvergeltung außer Acht zu bleiben hat. Mag die Tat auch das Eingreifen des Jugendrichters veranlasst haben, so darf dieser sich doch bei der Anordnung der Maßregel und deren Auswahl nur durch die Rücksicht auf das für die Erziehung des Täters Erforderliche und Zweckmäßige bestimmen lassen.“

Allerdings wird sogleich hinzugefügt:7 „Nur insofern hat das vom Täter begangene schuldhafte Unrecht auch für die Erziehungsmaßregeln Bedeutung, als diese durch den für alle staatlichen Eingriffe geltenden Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt werden. So würde z. B. wegen einer nur geringfügigen Tat nicht eine unverhältnismäßig harte Weisung (nach § 10 JGG) angewendet werden dürfen.“

Mit anderen Worten: Die Erziehungsbedürftigkeit, nicht die Schuld bildet ersichtlich den Rechtsgrund der Maßregel. Deren Umfang wird durch den Grundsatz 4 Vgl. etwa: Brunner / Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 11. Aufl. 2002, Einf. II, Rn. 6; Laubenthal / Baier, Jugendstrafrecht, 2006, S. 3. 5 Im Interesse einer übersichtlichen Gedankenführung können und wollen wir hier aber nicht den zahllosen Verästelungen der Diskussion im einzelnen nachgehen. 6 Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 105 f. 7 A. a. O. (o. Fn. 3), S. 106 (kursiv im Original).

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der Verhältnismäßigkeit begrenzt, wobei indes das Verhältnis dieses Grundsatzes zum Schuldprinzip im Vagen bleibt; beinahe unmerklich ist „das vom Täter begangene schuldhafte Unrecht“ zum entscheidenden Abwägungsfaktor bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung mutiert. 2. Das „Wesen“ der Zuchtmittel wird in demselben Lehrbuch8 dahingehend bestimmt, dass sie „nur eine pädagogische, vornehmlich auf ihren Eindruck auf den Täter berechnete Bedeutung haben, nicht aber der Tatvergeltung im Sinne einer überpersönlichen Gerechtigkeitsübung dienen. In diesem letzten Punkt unterscheiden sie sich von den echten Strafen, zu denen auch die Jugendstrafe gehört. Insofern trifft man das Wesen der Zuchtmittel nicht, wenn man sie als ,materielle Strafen’ bezeichnet. In Wahrheit stehen die Zuchtmittel den Erziehungsmaßregeln näher als der Strafe. Sie unterscheiden sich von jenen nur dadurch, dass sie die sühnende Wirkung des Tadels oder gar (bei Geldauflage oder Jugendarrest) der Übelzufügung als primäres Erziehungsmittel einsetzen.“

Für diese Interpretation spricht das Gesetz. In § 5 II JGG heißt es nämlich, dass die Straftat eines Jugendlichen mit Zuchtmitteln geahndet wird, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen, m. a. W. gesteigerter Erziehungsbedarf gegeben ist. Folgt man dem Gesetz, sind also Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel lediglich Ausprägungen eines gemeinsamen Prinzips, nämlich des Prinzips der Erziehungsbedürftigkeit des straffällig gewordenen Jugendlichen; sie weisen deshalb auch keine qualitativen Unterschiede auf. Folglich gilt alles, was bereits zu den Erziehungsmaßregeln soeben (1.) ausgeführt worden ist, auch hier: Wenn die Zuchtmittel keine materiellen Strafen, sondern in Wahrheit Erziehungsmaßregeln sind oder ihnen doch näher stehen als den Strafen, dann kann auch hier das Schuldprinzip als Rechtsgrund der Sanktion keine Rolle spielen. Es geht ja letztlich nur um eine erziehungstaktische Frage, nämlich darum, ob eine der „Zuchtmittel“ genannten Maßnahmen zur Erziehung des Jugendlichen besser geeignet ist als eine andere, „Weisung“ genannte Maßnahme: Rechtsgrund bleibt allemal die Prävention. 3. Am Undurchsichtigsten ist der Rechtscharakter der Jugendstrafe. a) Deren Ambivalenz ergibt sich bereits aus dem Gesetz, das ihre Anordnung entweder bei Vorliegen von schädlichen Neigungen oder bei Vorliegen der Schwere der Schuld erlaubt. Freilich ist diese Alternative nur scheinbar; denn – und dies ist in unserem Kontext der springende Punkt – auch die Anordnung der Jugendstrafe wegen Vorliegens schädlicher Neigungen hat ja die Schuldfähigkeit des Jugendlichen (§ 3 JGG) zur Voraussetzung. Die Lage ist indes noch verworrener, wenn man, wie es geboten ist, die interpretatorischen Aus- und Umformungen des Gesetzestextes durch Rechtsprechung und Lehre mit in die Gesamtbetrachtung einbezieht. 8 A. a. O. (o. Fn. 3), S. 135; eine andere – im einzelnen analysierungsbedürftige – Akzentuierung findet sich z. B. bei Laubenthal / Baier (o. Fn. 4), S. 245 f.; Brunner / Dölling (o. Fn. 4), § 13 Rn. 2; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 7 f.

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b) Orientieren wir uns zunächst am Gesetzestext. Der soeben angesprochene § 5 II JGG skaliert ja nicht nur Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, sondern Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafen. Unabhängig von der Frage, ob damit ein Schweregrad unter diesen Sanktionen benannt ist und der Richter daran gebunden ist,9 steht doch außer Frage, dass aus § 5 II JGG jedenfalls folgt, dass die Jugendstrafe auf einer gemeinsamen Skala von Erziehungssanktionen eingereiht ist, m. a. W. sie als eine Rechtsfolge begriffen wird, die sich demselben Prinzip verdankt wie Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel auch, also dem Prinzip der Erziehungsbedürftigkeit. Denn nur qualitativ Gleichartiges lässt sich skalieren, mit der Folge, dass sich dann auch sinnvoll sagen lässt: Die Jugendstrafe kommt erst dann zur Anwendung, wenn Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel nicht ausreichen. Das gilt, legt man nur den Wortlaut zugrunde, sogar für den Fall, dass Jugendstrafe nur wegen Schwere der Schuld verhängt wird.10 c) Es gibt aber noch weitere spezifische Aspekte, die allerdings nur für die eine Voraussetzung der Jugendstrafe, das Vorliegen schädlicher Neigungen, einschlägig sind. Hier sagt nämlich das Gesetz ausdrücklich (§ 17 II JGG), dass Jugendstrafe nur verhängt werden darf, wenn Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen, mithin eine längere stationäre Erziehung zur Behandlung von Erziehungsmängeln angezeigt erscheint. d) Also scheint zumindest die Jugendstrafe wegen Vorliegens schädlicher Neigungen ausschließlich unter dem Erziehungspostulat zu stehen. Doch dieser Schein trügt. Denn wiederum ist zu lesen:11 „In ihren Voraussetzungen, Bemessungsgrundlagen und in der Art des Vollzuges darf, solange das Gesetz selbst einen Unterschied zwischen Erziehungshilfe gemäß § 12 Nr. 2 JGG (in Form der Heimerziehung) und Jugendstrafe macht, nicht völlig verloren gehen, dass mit der Jugendstrafe auch Schuld geahndet werden soll und dass daher hier das Tatprinzip nicht völlig durch das Täterprinzip verdrängt werden darf.“

Das Vorliegen von Schuld legitimiert also die Verhängung einer Sanktion, die Strafe genannt wird (wobei allerdings unberücksichtigt bleibt, dass dies auch für die Heimerziehung [§ 12 Nr. 2 JGG] ebenso gilt!); und offenbar soll die Schuldobergrenze auch das Ausmaß der unter erzieherischen Gesichtspunkten an sich erforderlichen Sanktion begrenzen. Bei einem „innerlich verwahrlosten Angeklagten“ hatte das Tatgericht ein „besonderes Erziehungsbedürfnis“ registriert und deshalb aus Gründen der Spezialprävention einen Freiheitsentzug angeordnet, deren Dauer das Maß seiner Schuld überstieg. Dazu der Bundesgerichtshof:12 9 In der Lit. allgemein verneint: vgl. vor allem Rössner, in: Meier / Rössner / Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 110 ff.; P. A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 136 ff. 10 Es sei denn, man nimmt wegen der im Gesetz für die schädlichen Neigungen in § 17 II 1. Alt. JGG getroffenen Sonderregelung [vgl. sogleich bei c)] die wegen Schwere der Schuld verhängte Jugendstrafe von vornherein aus der Skalierung heraus [vgl. aber unten bei e) und f)]. 11 Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 152.

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„Eine solche strafschärfende Erwägung ist zulässig. Sie darf allerdings nicht dazu führen, dass die obere Grenze schuldangemessenen Strafens überschritten wird.“

Stellt man auf die individuelle Tatschuld ab und geht man weiter davon aus, dass die hier vom Tatgericht registrierte innere Verwahrlosung regelmäßig schuldmindernd zu Buche schlagen dürfte, dann ist die Antinomie von Schuld und Prävention ganz offenkundig: Das retrospektiv orientierte Schuldstrafrecht tendiert zur Strafmilderung, das prospektiv orientierte Erziehungsprinzip dagegen zur Strafschärfung.13 In Hinsicht darauf, dass nach h. L. und Rspr.14 die schädlichen Neigungen nicht einmal verschuldet sein müssen, hat deshalb Eisenberg15 die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zu Recht als eine Sanktion charakterisiert, die der Sache nach eine Maßregel ist. Paradox und zugespitzt formuliert: Sie ist eine Sanktion, die sowohl durch die Schuld ausgelöst (Eingangspforte des § 3 JGG) und durch sie auch begrenzt (vgl. BGH a. a. O.), gleichwohl aber schuldunabhängig bemessen wird. e) Die zweite (alternative) Voraussetzung der Jugendstrafe ist die Schwere der Schuld. Hier wird ganz offen propagiert,16 dass dafür ausschlaggebend die Erwägung sei, „dass ohne Rücksicht auf die Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit des Täters in manchen, freilich seltenen Fällen besonders schweren Verschuldens das Sühnebedürfnis der Allgemeinheit so elementar ist, dass ihm nur durch echte Kriminalstrafe, mag sie auch spezialpräventiv zwecklos sein, Rechnung getragen werden kann.“

Damit ist auf den ersten Blick für die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld die Kongruenz mit den Prüfkriterien hergestellt, die auch für den Einlass in das Jugendstrafrecht zu befinden haben. Doch auch dieser Schein trügt. Denn der Bundesgerichtshof17 hält für die Frage, ob und in welcher Höhe die „reine Schuldstrafe“ nach § 17 II JGG verhängt werden soll, in erster Linie „das Wohl des Jugendlichen“ für maßgebend. M. a. W.: Jugendstrafe darf selbst bei Vorliegen von Schwere der Schuld nur dann verhängt werden, wenn diese „aus erzieherischen Gründen“, wie es im Gesetzeswortlaut heißt, erforderlich ist.18

NStZ 1990, 389. Vgl. schon meinen Beitrag in: Kriminalsoziologische Bibliografie, 1981 (Jg. 8, H. 31), S. 11 ff., wieder abgedruckt in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 197 ff. 14 Vgl. nur Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 155; Brunner / Dölling (o. Fn. 4), § 17 Rn. 12 a. E.; jeweils unter Verweis auf BGHSt 11, 169 ff. (171). 15 A. a. O. (o. Fn. 8), § 17, der einerseits zu Recht kritisiert (Rn. 18 a), dass die Verhängung der Jugendstrafe in dieser Alternative rechtsstaatlich „unstimmig“ ist (denn ihre Verhängung ist auch in dieser Alternative vom Vorliegen von Schuld abhängig gemacht), andererseits zutreffend darauf hinweist, dass ihre Verhängung – trotz ihres materiellen Maßregelcharakters – nicht einmal vom Erfordernis der Gefährlichkeit abhängig gemacht ist (Rn. 18 b). 16 Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 153. 17 BGHSt 15, 224 ff.; 16, 261 ff., 263. 12 13

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Zwar ist der Bundesgerichtshof von diesen Formulierungen in späteren Entscheidungen abgerückt und betont nunmehr,19 dass neben der Erziehung sehr wohl auch dem Gedanken der Vergeltung und Sühne Rechnung zu tragen ist. Diese – es sei dahingestellt, ob: – Neupositionierung oder Neuakzentuierung geht einher mit der Ignorierung eines Zielkonflikts von Schuld und Prävention, indem nämlich der Gleichklang beider Prinzipien behauptet wird.20 Gleichwohl steht fest, dass auch nach dieser neueren Rechtsprechung dem Erziehungsgedanken Leitfunktion zukommt und eine „reine Schuldstrafe“ nicht für zulässig erachtet wird.21 In dem ersten Fall (schädliche Neigungen) ist es also so, dass das Tatschuldprinzip zwar den Einstieg in das Jugendstrafrecht eröffnet und wohl auch die Sanktionshöhe limitiert, nicht aber die Sanktion selbst begründet, die gerade schuldunabhängig konzipiert ist. Im zweiten Fall (Schwere der Schuld) ist es umgekehrt: Die Sanktion selbst ist schuldabhängig konzipiert, steht aber unter der Herrschaft eines schuldunabhängigen Prinzips, nämlich dem der Erziehungsbedürftigkeit; als Rechtsgrund fungiert insoweit die Prävention, nicht die Schuld. Die inhaltliche Verknüpfung dieser beiden disparaten Prinzipien aber ist das Problem. f) § 18 II JGG normiert: „Die Jugendstrafe ist so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist.“ Deshalb ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch bei Vorliegen von Schwere der Schuld die Dauer der Jugendstrafe nicht nach der Schwere der Schuld, sondern nach der Erziehungsbedürftigkeit zu bemessen. Doch auch dieser Satz erfährt, wie bereits ausgeführt, Einschränkungen: nicht nur, dass die Erziehungsbedürftigkeit zu einem Strafzumessungsgesichtspunkt unter anderen herabgestuft wird; sondern vor allem auch dadurch, dass der Erziehungsgedanke keine Strafhöhe rechtfertigen soll, die die obere Grenze der Tatschuld überschreitet.22 4. Damit können wir einstweilen folgendes Zwischenfazit ziehen: Zwar normiert das JGG an prominenter Stelle das Schuldprinzip, indem es anordnet, dass nur schuldfähige Jugendliche Einlass in das Jugendstrafrecht finden. Es zieht daraus 18 Es geht also einmal (bei Fn. 12) um die Limitierungsfunktion des Tatschuldprinzips und zum zweiten – in diesem Kontext – um die Limitierungsfunktion des Erziehungsgedankens. Vgl. dazu P. A. Albrecht (o. Fn. 9), S. 257 f.; Bruns, StV 1982, 592. 19 BGH StV 1982, 121, 173, 336; bei Böhm, NStZ 1984, 445; 1985, 447; 1986, 447; 1987, 442; 1996, 496; NStZ – RR 2001, 215; OLG Köln StV 1991, 426; 2001, 178; OLG Hamm StV 2005, 67. Vgl. im übrigen die Rechtsprechungs- und Literaturanalyse bei Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 157; Streng, Jugendstrafrecht, 2003, S. 213 ff.; Schöch, in: Meier pp. (Fn. 9), S. 233 ff.; P. A. Albrecht (o. Fn. 9), S. 256 ff.; Laubenthal / Baier (o. Fn. 4), S. 284 ff.; Eisenberg (o. Fn. 8), § 17 Rn. 34 f.; Brunner / Dölling (o. Fn. 4), Rn. 14 ff.; Nothacker, ZfJ 1985, 334 ff. 20 BGH StV 1982, 336; NStZ–RR 1998, 285. 21 Vgl. OLG Brandenburg StV 2001, 175. 22 So jedenfalls Nr. 2 der Richtlinien zu § 18 JGG: „Die vom Gesetz angeordnete vorrangige Berücksichtigung des Erziehungsgedankens bedeutet nicht, dass Belange des Schuldausgleichs ausgeschlossen wären. Sie darf nicht dazu führen, dass die obere Grenze schuldangemessenen Strafens überschritten wird“. Vgl. aus neuerer Zeit auch BGH StV 1998, 334.

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im Folgenden jedoch keine Konsequenzen. Denn sowohl die Erziehungsmaßregeln als auch die Zuchtmittel stehen unter der Herrschaft des Erziehungsgedankens. Dominant ist der Erziehungsgedanke aber auch bei der Jugendstrafe; und zwar ganz manifest, soweit diese wegen schädlicher Neigungen verhängt wird; nach der (von der überwiegenden Meinung in der Literatur freilich bekämpften23) Rechtsprechung auch bei der Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld – jedenfalls übernimmt hier der Erziehungsgedanke zumindest bei der Bemessung der Dauer der Jugendstrafe schon nach dem Gesetzesprogramm (§ 18 II JGG) deutlich die Führung. Völlig abgedankt hat das Schuldprinzip damit im Jugendstrafrecht allerdings nicht: Wenn es auch nur als Pforte, nicht aber als Rechtsgrund für die jugendstrafrechtlichen Sanktionen fungiert, so limitiert es doch die jugendstrafrechtlichen Sanktionen; deren Intensität und Dauer darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten. III. Problembeschreibung und Problemzuspitzung Damit ist das Fundament gelegt, um das Problem zu beschreiben und zu präzisieren, um das es uns in diesem Beitrag geht. Es geht uns nicht, jedenfalls nicht primär, um die (klassische24) Frage der Limitierung jugendstrafrechtlicher Sanktionen durch das Tatschuldprinzip. Thematisch ist vielmehr die Frage, welchen Sinn die in § 3 JGG normierte Eingangspforte in das Jugendstrafrecht eigentlich noch hat, wenn die nach Durchschreiten dieser Pforte verhängten Sanktionen nicht nach (Tat-)Schuldgesichtspunkten, sondern in erster Linie nach Erziehungsgesichtspunkten verhängt und bemessen werden; m. a. W. die Schuld nicht mehr, wie es im Erwachsenenstrafrecht (§ 46 I S. 1 StGB) heißt, Grundlage für die Zumessung der Strafe, kurz: Rechtsgrund der Strafe, ist, sondern nur noch einen Maßstab darstellt, um eine Sanktion, die ihre Legitimität aus anderen Gesichtspunkten – im Jugendstrafrecht eben dem der Spezialprävention – herleitet, zu begrenzen, das Schuldprinzip also ausschließlich als Mittel der Eingriffsbegrenzung fungiert. Kommt der Schuld über die bloße Tatsache hinaus, dass sie sozusagen der Schlüssel in das Reich der jugendstrafrechtlichen Sanktionen ist, noch irgendeine inhaltliche, sanktionsbegründende Bedeutung zu? Um das Problem lösen zu können, müssen wir allerdings die Komplexität drastisch reduzieren. Der obige Bericht (II) hat nämlich gezeigt, dass bereits das normative Programm alles andere als eindeutig ist: Es weist Verwerfungen und Span23 Vgl. Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 157; Streng (o. Fn. 19), S. 209 f.; Laubenthal / Baier (o. Fn. 4), S. 279 f.; Brunner / Dölling (o. Fn. 4), § 17 Rn. 14 a ff.; verhalten zustimmend: Eisenberg (o. Fn. 8), § 17 Rn. 35; Schöch (o. Fn. 19), S. 227 f.; Böhm / Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 224 ff. Die Diskussion kann hier nicht aufgenommen werden. Wie P. A. Albrecht (o. Fn. 9), S. 249 ff. zutreffend hervorhebt, hängt alles von der Klarheit über die Begriffe „Erziehung“ und „Schuld“ sowie über die kriminalpolitische Zielvorgabe ab. 24 Grundlegend: Miehe, Die Bedeutung der Tat im Jugendstrafrecht, 1964.

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nungen auf, die darauf hindeuten, dass bereits dieses normative Programm von unterschiedlichen, miteinander kaum harmonisierbaren Prinzipien beherrscht wird. Und noch komplexer wird die Lage, wenn man, wie es eigentlich geboten ist, auch noch die tatsächlich geübte Rechtspraxis in die theoretische Reflexion miteinbezieht: Die Auflösung des logischen und terminologischen Wirrwarrs zwischen Erziehung und Strafe, wie er vor allem von Peter-Alexis Albrecht z. B. für die Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe überzeugend analysiert worden ist,25 kann hier nicht geleistet werden und ist auch nicht Ziel dieser Abhandlung. Wir unterstellen vielmehr idealtypisch, dass jugendstrafrechtliche (jedenfalls die meisten) Reaktionen ihren Rechtsgrund in der Erziehungsbedürftigkeit des Jugendlichen finden und gleichwohl der Zugang zu ihnen nur durch die Pforte der Schuld, eben des § 3 JGG, eröffnet wird. Dabei gehen wir davon aus, dass die Begriffe „Schuld“ und „Erziehungsbedürftigkeit“ unterschiedlichen Bedeutungsgehalt haben, und fragen dementsprechend, welchen Sinn es macht, wenn man eine nach erzieherischen Gesichtspunkten zu verhängende und zu bemessende jugendstrafrechtliche Sanktion von einem potentiell erziehungsfremden Gesichtspunkt abhängig macht, nämlich davon, dass der Jugendliche schuldhaft gehandelt hat.

IV. Die Reichweite des Satzes „nulla poena sine culpa“ Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts26 verstößt es gegen das Verfassungsrecht, wenn Strafe ohne Schuld verhängt wird, und auch – freilich insoweit weniger gesichert –, wenn die Strafhöhe das Maß der Schuld überschreitet. Dieser „nulla poena sine culpa“ genannte Satz wird aus Art. 1 I GG (Menschenwürde), Art. 1 I, 2 I GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) hergeleitet. Man kann das oben bezeichnete Problem nun nicht damit eskamotieren, dass man argumentiert: Weil Schuld Voraussetzung für jugendstrafrechtliche Sanktionen ist, sind die jugendstrafrechtlichen Sanktionen Strafen, mit der Folge, dass die Schuld das Ob, die Art und das Ausmaß dieser Sanktionen regiert. Wäre diese Argumentation richtig, käme der Schuld in der Tat strafbegründender Charakter zu. Sie ist es aber nicht: Denn der Satz „Keine Strafe ohne Schuld“ beinhaltet nicht den Satz „Keine Schuld ohne Strafe“. Der letztere Satz hat offensichtlich einen anderen Inhalt als der erstere; er meint: Wenn Schuld vorliegt, muss gestraft werden. Solche Konnexität (i. S. einer Vergeltungstheorie) behauptet der erstere Satz nicht;27 er sagt nur: Für den Fall, dass gestraft wird, muss Schuld gegeben sein. Folglich hängt alles davon ab, ob die jugendstrafrechtlichen Sanktionen unabhänA. a. O. (o. Fn. 9), S. 247 ff., 251 ff. Vgl. die Gesamtdarstellung bei Roxin, Strafrecht, AT, Bd. I, 4. Aufl. 2006, S. 91 ff.; Heinrich A. Wolff, AöR, Bd. 124, 1999, 55 ff.; jüngst BVerfG bzw. 2008, 1137 ff. (1142). 27 Vgl. Heinrich A. Wolff, AöR, Bd. 124, 1999, 55, 76. 25 26

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gig von der Frage der Schuld des Täters als Strafen bezeichnet werden können. Verneint man dies, ist der erstere Satz nicht anwendbar; bejaht man es, so ist seine Anwendbarkeit gegeben, mit der Folge, dass das Tatschuldprinzip auch Rechtsgrund der jugendstrafrechtlichen Sanktionen ist. An dieser Stelle zeigt sich nun, dass man einen präzisen Begriff von Strafe benötigt, um sinnvoll weiter zu argumentieren. Es gibt ihn nicht. Über die vernichtenden Ergebnisse der Analyse der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung durch Volk28 im Jahre 1971 ist man bis heute kaum hinausgekommen. Und selbst wenn es ihn gäbe, dann wären noch in einem zweiten Schritt die jugendstrafrechtlichen Sanktionen spezifisch darauf zu untersuchen, ob sie diesem noch zu entwickelnden Begriff von Strafe unterfallen. So oder ähnlich müssten die Argumentationslinien beschaffen sein, wenn man aus dem nulla poena sine culpa-Satz fruchtbringend für unsere Fragestellung Erkenntnis gewinnen will. Wir verfolgen sie nicht weiter, weil sie den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würden, und legen statt dessen für alles Folgende die Prämissen zugrunde, die wir im vorherigen Abschnitt bereits formuliert haben: Schuld und Erziehungsbedürftigkeit sind unterschiedliche topoi, die unterschiedliche Folgen nach sich ziehen: eben Strafsanktionen auf der einen und Erziehungssanktionen auf der anderen Seite. Nur wegen dieser qualitativen Andersartigkeit stellt sich das Problem, ob das Tatschuldprinzip zur inhaltlichen Begründung jugendstrafrechtlicher Sanktionen taugt.29

V. Die Folie des Erwachsenenstrafrechts Die Spezifika der jugendstrafrechtlichen Regelung werden am deutlichsten, wenn man sie mit dem Erwachsenenstrafrecht konfrontiert. 1. Die zentrale Norm findet sich dort in § 46 I S. 1 StGB: Danach ist die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe. Nach einhellig vertretener Auffassung setzt Strafe nicht nur Schuld voraus; diese bestimmt vielmehr auch das Ausmaß der Strafe. Die Schuld hat daher eine (i. w. S.) strafbegründende Funktion, 28 ZStW 83 (1971), 405 ff.; sehr gründlich in neuerer Zeit vor allem Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 28 ff., 31 ff., 52, 207 ff., 417 ff. Dieser Autor, mit dessen bemerkenswerter Dissertation wir uns hier nicht näher auseinandersetzen können, erblickt seinerseits den spezifischen strafrechtlichen „Eingriffsmehrwert“ in dem „verbindlichen Vorhalt der defizitären Einstellung (des Täters) zur Norm und zur normsetzenden Instanz in einem auf eben diese Verbindlichkeit angelegten staatlichen Verfahren“ (a.a.O., S. 466 ff., 494 ff., 503). Gegenstand seiner Abhandlung ist dort allerdings nicht das gerade hier thematische Problem des Verhältnisses von § 3 JGG und jugendstrafrechtlichen Reaktionen. S. ferner Schild, in: FS Lenckner, 1998, S. 287 ff.; Jung, Was ist Strafe?, 2002; Haffke, in: FS Hamm, 2008, 137 ff. 29 Hervorgehoben sei, dass es sich dabei um vorläufige Annahmen handelt, die einerseits die Prämissen unserer Argumentation offenlegen und uns andererseits ein zügiges Argumentieren ermöglichen sollen. Sie präjudizieren aber nicht die Problemlösung.

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nämlich sowohl was die Entstehung der Strafe („Keine Strafe ohne Schuld“ – im Anschluss an Achenbach30 neuerdings häufig Strafbegründungsschuld genannt) als auch was die Höhe der Strafe („Strafe nach dem Maß der Schuld“ – Strafmaßschuld, Strafzumessungsschuld genannt) anbelangt.31 Für unseren Kontext entscheidend ist die Feststellung, dass die Schuld die Strafe nicht nur auslöst, sondern auch deren Dauer bestimmt.32 Schuld und Strafe werden solchermaßen in eine inhaltliche Konnexität gebracht, die es rechtfertigt, von einem „Gleichgewichtsverhältnis“33 von Strafe und Schuld zu sprechen. Strafbegründungsschuld und Strafmaß(Strafzumessungs-)schuld werden von demselben Prinzip regiert. Deshalb kann man sagen, dass gemeinsamer Rechtsgrund sowohl für das Ob als auch für das Wie und das Ausmaß der Strafe die Schuld ist. 2. Indem die Schuld Voraussetzung für die Strafe und deren Höhe ist, hat sie zwangsläufig auch straflimitierenden Charakter: Strafe darf eben nicht ausgesprochen werden, wenn Schuld fehlt oder das Schuldmaß überschritten wird; d. h. die Schuld setzt Grenzen. Dies ist selbstverständlich.34 Der für unseren Kontext entscheidende Gedanke geht jedoch über dieses begriffslogische Argument weit hinaus: Die Grenzen des Strafens werden nicht – wie beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – von außen an die Straftat herangetragen und gesteckt; sie wachsen vielmehr gleichsam autonom aus den Voraussetzungen der Straftat selbst (Tatbestand / Rechtswidrigkeit / Schuld) heraus; sie sind deshalb strafrechtsimmanente Grenzen. 3. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung stehen demgegenüber unter der Herrschaft des Gefährlichkeitsprinzips und werden strafrechtsextern durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) begrenzt. Sowohl die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) als auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) als stationäre Maßnahmen und die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) sowie das Berufsverbot (§ 70 StGB) als ambulante Maßnahmen sind ohnehin vollständig schuldunabhängig konzipiert; lediglich die Sicherungsverwahrung (§§ 66, 66 a StGB) und – teilweise35 auch – 30 Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 2 ff. Achenbach differenziert allerdings von den hier – allein relevanten – Rechtsanwendungsbegriffen der Schuld noch die Schuldidee. 31 Vgl. etwa Roxin (o. Fn. 26), S. 876 f.; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 107 ff. 32 Vgl. einstweilen Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 31), Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 6 ff.; zur Diskussion s. u. bei VII. 33 Vgl. BGHSt 20, 264 ff., 267; 24, 132 ff., 134: deshalb bei vorhandener Gefährlichkeit keine schuldüberschreitende Strafe (die die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung überflüssig macht), aber auch, wenn eine solche Maßregel angeordnet wird, in Hinsicht darauf keine schuldunterschreitende Strafe. 34 Vgl. Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 31), Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 6 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1967, 553 ff., 555. 35 § 68 II i. V. m. §§ 67 b, 67 c, 67 d StGB bleiben also außer Betracht.

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die Führungsaufsicht (§ 68 I StGB) haben schuldhafte Straftaten unabdingbar zur Voraussetzung. Die zuletzt genannten Maßregeln sind deshalb auch im Zusammenhang unseres Beitrages von besonderem Interesse, sind sie doch schuldabhängig (ohne Schuld keine Sicherungsverwahrung und keine Führungsaufsicht), aber gleichwohl, was ihre Dauer anbelangt, durch das Schuldprinzip weder begründet (maßregelbegründend ist die Gefährlichkeit) noch begrenzt (sie werden vielmehr durch die Prinzipien der Gefährlichkeit und der Verhältnismäßigkeit limitiert). Bei ausschließlich formaler Betrachtungsweise könnte man sich mit dem Gedanken beruhigen, in diesen Fällen würde ja immerhin die (neben Sicherungsverwahrung bzw. Führungsaufsicht) zu verhängende Strafe durch die Schuld begründet und begrenzt (und sei deshalb in unserem Kontext kein Problem). In Wahrheit ist damit aber die Problematik nur auf ein anderes Gleis, die sog. zweite Spur, verschoben: Denn warum wird dort, wo Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit die Regie führen, die Anordnung dieser Sanktionen von einem Prinzip abhängig gemacht, das maßregelfremd ist und dem folglich auch in diesem Bereich vom Gesetzgeber keine normative Steuerungsfunktion zuerkannt worden ist? Die Parallele zum Jugendstrafrecht – folgenlos bleibende Deklamation des Schuldgrundsatzes, der lediglich als Auslöser, als Etikett für eine sich nach anderen Prinzipien richtende Sanktion dient – liegt auf der Hand. 4. Die Resozialisierungsbedürftigkeit steuert nicht die Strafzumessung; sie spielt allenfalls im Rahmen des sich nach der Schuld bestimmenden Strafquantums (des Schuldrahmens) eine (dementsprechend untergeordnete36) Rolle. Der Schuld- und damit der Strafrahmen ist ein abstraktes Strafquantum,37 dessen inhaltliche Ausfüllung durch Geld- / Freiheitsstrafe oder Fahrverbot nicht vorbestimmt ist (außer vielleicht – dies wird hier nicht näher diskutiert –, dass es sich um ein „Übel“ handeln muss38). Nur so lässt sich harmonisieren, was ansonsten nicht harmonisierbar wäre, nämlich die Harmonisierung von dem an dem Gedanken der Resozialisierung orientierten Postulat des Strafvollzugs (§ 2 I, S. 1 StVollzG) einerseits mit dem Gedanken des Tatschuldstrafrechts andererseits.39 Was seit eh und je gegen das in Nr. 57 der DVollzO niedergelegte Programm der Zielpluralität eingewandt 36 Vgl. § 46 I S. 2 StGB; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 31), Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 15, 18 a. 37 Die Strafbemessung, d. h. die Umrechung der Höhe der Schuld in abstrakte Strafquanten, ist nach der hier nicht näher zu diskutierenden sog. Stellenwerttheorie bekanntlich der erste Prüfungsschritt bei der Strafzumessung i. w. S. (vgl. Henkel, Die „richtige“ Strafe, 1969, S. 22 f.; Horn, in: SK-StGB, § 46 Rn. 1 ff.; Horn und Schöch, in: FS Schaffstein, 1975, S. 241 ff., 255 ff.; Horn, in: FS Bruns, 1978, S. 165 ff.; krit. z. B. Roxin, in: FS Bruns, 1978, S. 183 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 486 ff.). 38 Vgl. Roxin (o. Fn. 26), S. 89. 39 Vgl. Haffke, MschrKrim, Jg. 58, 1975, 40 ff. Der Frage, ob und inwieweit sich dieses Antinomieproblem in Hinsicht auf die nach der Föderalismusreform in Kraft getretenen neuen Länderstrafvollzugsgesetze (z. B. in Hinsicht auf Art. 2 des BayStVollzG vom 10. 12. 2007 [GVBl. 2007, S. 866]; Drucksache 15 / 8101; dazu: Arloth, Strafvollzugsgesetz, 2. Aufl., 2008, Art. 2 BayStVollzG) anders stellt, kann im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr nachgegangen werden.

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worden ist, nämlich dass eine Organisation nicht beliebig viele und verschiedenartige Probleme zur Lösung zugewiesen werden können (es sei denn um den Preis, dass sie ihre Kraft bei der Verfolgung der heterogenen Ziele verschleißt40), gilt mutatis mutandis auch für den Strafanwender, den Richter: Auch er braucht eine klare Zielvorgabe. Die gleichzeitige und gleichrangige Berücksichtigung von Schuld und Resozialisierung ermöglicht solche klaren Lösungen nicht; sie produziert vielmehr eine logisch und terminologisch verwirrende, unklare Gemengelage, die scheinrationale Begründungen und terminologische Verschleierungen begünstigt. Die Zielvorgabe des geltenden materiellen Rechts aber lautet: Die Schuld ist Grundlage der Zumessung der Strafe. Damit stellt sich das Antinomieproblem von Schuld und Resozialisierung auf der materiell-rechtlichen Ebene nicht. Schuld und Resozialisierung werden vielmehr in ein konsekutives Verhältnis gesetzt, was freilich nur um den bereits oben angesprochenen Preis möglich ist, dass Strafe abstrakt nach der Schuldhöhe bestimmt wird. Dies – und nicht die beliebige Anhäufung aller möglichen Gesichtspunkte – ist denn auch der tiefere Sinn der sog. dialektischen Vereinigungstheorie.41

VI. Die jugendstrafrechtlichen Besonderheiten Vor diesem Hintergrund lassen sich die differentiae specificae der jugendstrafrechtlichen Regelung gut erkennen. Diese können nicht in einer etwaigen inhaltlichen Verschiedenheit der jeweils verhängten Maßnahmen gefunden werden. Da das Schuldprinzip nur den Umfang, nicht aber den Inhalt der ihr gleichgewichtig entsprechenden Sanktion determiniert (deshalb ist oben42 von einem abstrakten Schuld- und Strafquantum gesprochen worden), kann die inhaltliche Ausgestaltung der Sanktion auch kein spezifisches Unterscheidungsmerkmal darstellen: Gleich ob nun die auf die Schuld hin erfolgende Sanktion Freiheitsentziehung ist oder nicht, gleich ob sie in dem Entzug von Eigentum oder Vermögen oder in der Beschränkung von Mobilität (Fahrverbot) besteht, gleich ob sie Verwahr- oder Resozialisierungsvollzug ist, gleich ob die verhängten freiheitsentziehenden Maßnahmen vollstreckt oder aus präventiven Gründen zur Bewährung ausgesetzt werden – all diese Umstände sind zur Unterscheidung von Erwachsenen- und Jugendstrafrecht untauglich, weil die Schuld keine Aussage darüber ermöglicht, wie die auf sie folgende Sanktion inhaltlich beschaffen sein muss. Das einzig sichere Kriterium, das eine Differenzierung zwischen Erwachsenenund Jugendstrafrecht auf der Grundlage des geltenden Rechts erlaubt, ist die Funk40 Vgl. Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 23 f., 61 ff.; Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl. 1992, S. 20 ff.; Laubenthal, Strafvollzug, 2006, Rn. 148 ff.; Calliess / Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 10. Aufl. 2005, § 2 Rn. 1 ff. 41 Vgl. Roxin, JuS 1966, 377 ff.; ders. (o. Fn. 26), 85 ff.; Hans-Ludwig Schreiber, ZStW 94 (1982), 279 ff. 42 Vgl. Fn. 37.

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tion der Schuld als Strafbegründungsschuld. Diese Aussage bedarf allerdings nach allem noch weiterer Präzisierung. Denn auch darin, dass die Verhängung einer Sanktion überhaupt von Schuld abhängig gemacht wird, stimmen Erwachsenenund Jugendstrafrecht überein. Die entscheidende differentia specifica ist vielmehr darin zu suchen, ob die Schuld Rechtsgrund auch für die Bemessung der Sanktionshöhe ist, sie m. a. W. das Sanktionsausmaß determiniert. Sie tut dies, wie wir gesehen haben, im Erwachsenenstrafrecht, nicht aber im Jugendstrafrecht. Dort regiert bei der Bestimmung der Sanktionsart und der Bemessung des Sanktionsumfangs das Erziehungsprinzip; die Schuld ist deshalb dort gerade nicht Rechtsgrund der Sanktion. Stehen – wie die neuesten Strafvollzugsgesetze43 zeigen – Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug gleichermaßen unter der Herrschaft desselben Prinzips, nämlich des (prinzipiell schuldfremden) Resozialisierungs- oder Erziehungsprinzips (was freilich quantitative Unterschiede bei der Realisierung dieses Prinzips im Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug nicht ausschließt), dann sind sie gleichwohl qualitativ von Grund auf deshalb unterschiedlich, weil in dem einen Fall, was den Umfang der Sanktion anbelangt, das Schuldprinzip, in dem anderen Fall das Erziehungsprinzip die Führung innehat. Wie bei der Sicherungsverwahrung und der Führungsaufsicht im Erwachsenenstrafrecht, ist die Schuld im Jugendstrafrecht zwar notwendige Bedingung für die Verhängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen; sie bleibt aber folgenlos, weil sie ihre steuernde Kraft nach Durchschreiten der Eingangspforte des § 3 JGG sozusagen eingebüßt hat: Die Herrschaft im Hause haben dann andere übernommen. Die Sanktion ist von der sie auslösenden Sanktionsvoraussetzung abgekoppelt.44 VII. Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld Die im Vorhergehenden im Anschluss an Achenbach vorgenommene Differenzierung zwischen Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld, zwischen dem Ob und der Höhe der Strafe, und ihr Verhältnis zueinander, sind indessen nicht einmal für das Erwachsenenstrafrecht unbestritten. Da wir von dieser Diskussion wichtige Fingerzeige für das straftheoretische Verständnis des § 3 JGG erwarten dürfen, müssen wir an dieser Stelle diese Diskussion aufnehmen. Am besten eignet sich dafür der – nicht Gesetz gewordene – Vorschlag der Verfasser des AlternativEntwurfs (AE),45 wonach „Strafen und Maßregeln“ „dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft“ dienen (§ 2 I). In § 2 II heißt es dann: „Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten, Vgl. Art. 2, 121 BayStVollzG (o. Fn. 39). Deshalb wird die jugendstrafrechtliche Reaktion weiter unten [IX 2. a)] als verkappt zweispurige Reaktion charakterisiert werden. 45 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1969, vorgelegt von Jürgen Baumann u. a.; grundlegend Roxin, JuS 1966, 379 ff., 384 f.; s. jetzt ders. (o. Fn. 26), S. 91 ff. 43 44

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die Maßregel nur bei überwiegendem öffentlichen Interesse angeordnet werden“; wieder aufgenommen in § 59 I, S. 1, in dem normiert ist: „Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe“. Die Maßregelanordnung wird also durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Strafe durch die Tatschuld begrenzt. So wie aber bei den Maßregeln der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schwerlich als Rechtsgrund der Maßregelverhängung angesehen werden kann, so könnte dementsprechend auch das Tatschuldprinzip (nur) als straflimitierendes Prinzip verstanden werden. Rechtsgrund von Strafen und Maßregeln ist in dieser Sicht allein die Prävention (die dementsprechend auch primär das Ausmaß der Sanktionen bestimmt); und „das Schuldüberschreitungsverbot hat auf dieser Interpretationsgrundlage nur die Bedeutung einer Sperre, die den Teil der präventiven Reaktion blockiert, der die Grenze der Schuldangemessenheit überschreitet“.46 Damit aber – so ist weiter argumentiert worden – ist das Band zerschnitten, das Strafe und Schuldgedanken sachlich miteinander verbindet; der innere Zusammenhang von Schuldgedanke und Strafe ist aufgegeben:47 Die Schuld fungiert m. a. W. nicht mehr als Rechtsgrund der Strafe. Es ist schwer (und im Rahmen dieses Beitrags unmöglich), den auch hier zu beobachtenden logischen und terminologischen Wirrwarr aufzulösen. Wenn auch zuzugeben ist, dass durch pointierte Formulierungen das oben wiedergegebene Verständnis des AE provoziert worden ist, so ist es doch ein Missverständnis, das daraus resultiert, dass strafzwecktheoretische und strafzumessungstheoretische Aspekte unzulässig miteinander vermengt werden. Die strafzwecktheoretisch motivierte Aussage, dass das Vorliegen von Schuld nicht im Sinne der Vergeltungstheorie Strafe zwangsläufig nach sich ziehen muss, sondern dass Strafe in einer säkularen Gesellschaft nur präventiv begründet werden kann, ist nämlich eine gänzlich andere Aussage als die nach den Voraussetzungen einer (nur) präventiv zu begründenden Sanktion. Um die letztere Fragestellung geht es hier; und da kann bei unvoreingenommener Analyse gar nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass – ungeachtet vielleicht missverständlicher Formulierungen im AE selbst und den Streitschriften seiner Verfasser – Schuld eine Rechtsfolgevoraussetzung ist, die die Höhe und das Ausmaß der Strafe (wenn auch, strafzwecktheoretisch gewendet, aus präventiven Gründen) determiniert.48 46 So sehr treffend Lackner, in: FS Gallas, 1973, S. 117 ff., 125; s. a. ders., JZ 1967, 511 ff., 515. 47 Vgl. Lackner, in: FS Gallas, 1973, S. 117, 125 f.; Gallas, ZStW 80 (1968), 1 ff., 3; Grünwald, ZStW 80 (1968), 89 ff., 93 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1967, 553 ff.; Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 ff., 757; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 31), Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 109 a. 48 An der Kritik von Hirsch (ZStW 106, 1994, 746 ff., 757) ist richtig, dass die Schuld ihre Funktion als Mittel der Eingriffsbegrenzung für eine allein präventiv zu legitimierende staatliche Sanktion (Strafe) nur dann zu erfüllen vermag, wenn sie nicht ihrerseits von Vorgaben der Prävention bestimmt wird. Roxin (o. Fn. 26), S. 854 f., ist dieser Kritik mit guten Gründen entgegengetreten (vgl. a. a. O., S. 91 ff., 866 ff.). Gesetzt den Fall, diese Gründe seien richtig, dann verlieren sie ihr Gewicht nicht dadurch, dass man die Schuld (zutreffend!) als Rechts-

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Wie dem auch sei; jedenfalls hat die Gesetz gewordene, viel gescholtene49 Grundlagenformel insoweit eine Klarstellung gebracht. Die Strafbegrenzungsfunktion des Tatschuldprinzips folgt ohnehin aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben, so dass es nicht schädlich (wenn vielleicht auch aus optischen Gründen bedauerlich) ist, wenn diese Funktion des Schuldprinzips im Gesetzeswortlaut keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden hat. Weil die Schuld Rechtsfolgevoraussetzung ist (in ihr drückt sich die Anerkennung des Bürgers als freies, verantwortlich handelndes Subjekt aus), ist sie Rechtsgrund nicht nur für das Ob, sondern auch für die Höhe der Strafe (als deren Reflex dann die Limitierung der Strafe erscheint). Deshalb wird die Redeweise von der (nur) straflimitierenden Funktion des Schuldprinzips der viel weiterreichenden Bedeutung dieses Prinzips in der Tat nicht gerecht, erweckt sie doch den Anschein, als sei die Schuld etwas der Straftat willkürlich, künstlich von außen Aufgepfropftes; in Wahrheit markiert sie – in einem liberalen, die Menschenwürde der Bürger achtenden Rechtsstaat – geradezu das Wesen der Straftat. Wenn die Schuld in diesem Sinne nicht nur formal, sondern ganz substantiell Rechtsgrund der Strafe genannt werden muss, dann betrifft dies nicht nur das Ob der Strafe, die sog. Strafbegründungsschuld, sondern auch deren Höhe, die sog. Strafzumessungsschuld. Unbeschadet des in jüngster Zeit namentlich von Hörnle50 aufgeworfenen Problems, welche Faktoren in das Schuldurteil als Strafzumessungsschuld eingehen dürfen und welche nicht, steht außer Frage, dass Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld keine alia sind; „die Suche nach der schuldgerechten Strafe stellt“ vielmehr, „soweit sie . . . die Erfassung des Gewichts und der Bedeutung der Tat zum Gegenstand hat, nichts weiter als eine Fortsetzung der Qualifikation des Geschehens als Straftat dar. Was anhand bestimmter Maßstäbe als Straftat identifiziert wurde, wird nunmehr daraufhin untersucht, wie ausgeprägt es als Straftat ist. Für diese gerichtsmäßige Erfassung der Straftat können unmöglich andere Maßstäbe gelten als für die Qualifikation des Geschehens als Straftat selbst“.51 Alles andere liefe auf eine, wie es Hörnle52 so treffend formuliert hat, nicht mehr legitimierbare „freischwebende Strafzumessungslehre“ hinaus.

folgevoraussetzung charakterisiert. Im übrigen ist die Aussage, die Strafbegründungsschuld sei durch Präventionsbedürfnisse mitbestimmt, eine andere als die, dass Schuld und Prävention identisch seien. Das Thema bedarf weiterer analytischer Durchdringung. 49 Vgl. etwa Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972. 50 Tatproportionale Strafzumessung, 1999; früher beispielsweise schon Stratenwerth (o. Fn. 49); Schünemann, in: ders. (o. Fn. 13), S. 153 ff., 187 ff. 51 Frisch, in: FS Müller-Dietz, 2001, S. 237 ff., 247 f. 52 JZ 1999, 1080 ff., 1087.

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VIII. Alternativen Bevor wir – abschließend – diese Überlegungen mit dem jugendstrafrechtlichen Reaktionssystem konfrontieren, wollen wir ein analytisches Raster skizzieren, in das wir die verschiedenen Alternativen des Verhältnisses von Prävention und Schuld einordnen wollen. Dabei gilt es, sich vorweg zu vergegenwärtigen, dass eine inhaltliche Verknüpfung von Schuld und Strafe, jenes von Gallas53 so genannte Band, das Strafe und Schuld sachlich miteinander verbindet, nicht denknotwendig ist. Mag die Vorstellung einer solchen Verknüpfung auch sozialpsychologisch tief verwurzelt sein (und demzufolge entsprechende Straftheorien, wie z. B. die Vergeltungstheorie klassischer Provenienz, hervorbringen), so ist sie gleichwohl historisch kontingent. Man kann vielmehr durchaus z. B. eine straflimitierende Funktion des Schuldprinzips konzipieren, ohne dass deshalb der Schuld notwendig auch eine strafbegründende Funktion zuerkannt wird. Dies vorausgeschickt, ergibt sich folgendes analytisches Raster: 1. Modell 1: Das Schuldprinzip kann zunächst dahin verstanden werden, dass es lediglich die Funktion hat, die Sanktion anzustoßen, auszulösen oder zu initiieren. Mit dieser Funktion hat es dann auch seine Aufgabe erfüllt.54 Es ist weder mit dem Ob noch mit dem Wie noch mit dem Ausmaß der Sanktion inhaltlich verknüpft. Es sind vielmehr ausschließlich präventive, schuldfremde Zwecke, die darüber entscheiden, ob und in welcher Höhe die Sanktion verhängt wird. Die Schuld begründet weder die Sanktion noch limitiert sie deren Ausmaß. 2. Modell 2: Auch in diesem Modell ist Rechtsgrund der Sanktion lediglich die Prävention. Im Unterschied zu Modell 1 kommt hier jedoch dem Schuldprinzip eine sanktionslimitierende Funktion zu. M. a. W. die Sanktion wird hier nach anderen Prinzipien als dem der Schuld begründet, jedoch durch das Ausmaß der Schuld begrenzt.55 In dieser Sicht stellt sich das Schuldprinzip als Spezialausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar.56 3. Modell 3: Im Unterschied zu den Präventionsmodellen 1 und 2 wird der Schuld im Modell 3 eine strafbegründende Funktion zuerkannt: Der Schuld kommt nicht nur eine straflimitierende, sondern auch eine strafbegründende Funktion zu.57 Dabei wird häufig so argumentiert (und damit eine Differenz zwischen den Modellen 2 und 3 geleugnet), dass ein straflimitierendes Prinzip nur unter der Voraussetzung gedacht werden kann, dass dem limitierenden Element zugleich eine strafVgl. Fn. 47. So der Ausgangspunkt für unsere Fragestellung (vgl. oben III). 55 So das Konzept des AE (o. Fn. 45 ff.). 56 Nach der hier vertretenen Konzeption (V. 2.) deshalb, weil es insoweit als strafrechtsexternes Prinzip fungiert. Vgl. i. ü. zu dem hier nicht weiter diskutierten Verhältnis von Schuldprinzip und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Heinrich A. Wolff, AöR, Bd. 124, 1999, 55, 67 ff. m. w. N.; Roxin (o. Fn. 26), S. 96 ff.; Schild (o. Fn. 28); Appel (o. Fn. 28), S. ff., 528. 57 So wohl die h. M. im Erwachsenenstrafrecht (vgl. bei Fn. 47). 53 54

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begründende Funktion zukommt. Das ist formallogisch sicherlich ein unanfechtbarer Satz,58 der aber die entscheidende inhaltliche Fragestellung gar nicht trifft. Zwar kann man den Satz: „Aus präventiven Gründen ist eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren geboten; dieses Strafmaß wird jedoch wegen der Höhe der Tatschuld auf 5 Jahre begrenzt“ dahingehend umformulieren, dass Voraussetzung für die Bemessung der Freiheitsstrafe (auch) die Einhaltung des Schuldmaßes ist; und doch besteht zwischen den Sätzen „Die Schuld erfordert eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren“ und „Die aus präventiven Gründen an sich erforderliche Freiheitsstrafe von 10 Jahren wird aus Gründen der Schuldproportionalität auf 5 Jahre begrenzt“ ein inhaltlicher Unterschied, der eben darin besteht, dass im ersteren Fall die Schuld strafbegründend, im letzteren Fall dagegen nur straflimitierend gedacht wird. Modell 3 unterscheidet sich von Modell 2 genau dadurch, dass die Schuld nicht nur eine straflimitierende, sondern eine strafbegründende (und als Reflex davon – im Unterschied zu Modell 1 – auch eine straflimitierende) Funktion hat. 4. Modell 4: Man kann also zwischen der sanktionsauslösenden (Modell 1), der sanktionslimitierenden (Modell 2) und der sanktionsbegründenden (Modell 3) Funktion des Schuldprinzips unterscheiden. Modell 4 trägt der Überlegung Rechnung, dass das Schuldprinzip, wenn es im strafrechtlichen Reaktionssystem beheimatet ist, also nicht nur eine Schlüsselfunktion zum System innehat, systemintern zwangsläufig eine strafbegründende Funktion übernimmt (Unterschied zu Modell 1; aber insoweit in Übereinstimmung mit Modell 359). Diese drückt sich darin aus, dass der Täter nicht nur schuldfähig sein muss (um sanktioniert zu werden), sondern auch schuldig gesprochen wird. Im Unterschied zu Modell 2 übernimmt das Schuldprinzip aber keine steuernde Funktion hinsichtlich des Sanktionsausmaßes – es ist zwar im System etabliert, aber dort gegen Folgewirkungen sozusagen isoliert. Es fungiert nur – schlagwortartig gesprochen – als sanktionsbegründendes, nicht aber auch als sanktionslimitierendes Prinzip. 5. Modell 5: Unter diesem Modell sollen alle Versuche zusammengefasst werden, die die Prinzipien der Prävention und Schuld nicht hierarchisieren (wie es im Vorhergehenden vorausgesetzt worden ist), sondern sie additiv aneinanderreihen und mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung zur Anwendung bringen oder aber für bestimmte Konstellationen dem einen oder anderen Prinzip Vorrang geben, z. B. bei Vorliegen von schwerer Schuld (wie es die h. M. bei § 17 II JGG tut) dem Tatschuldprinzip.60

58 59 60

Vgl. Fn. 34. Vgl. unten bei IX. 2. c). Vgl. oben bei Fn. 23.

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IX. Diskussion und jugendstrafrechtliche Konsequenzen Dieses analytische Raster erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und bedarf sicherlich der Ergänzung und Vertiefung. Aber es erlaubt doch eine grobe Orientierung auf dem unübersichtlichen Gelände von Prävention und Schuld. 1. Zunächst zum Erwachsenenstrafrecht: Die Konzeptualisierung der Schuld als reines „Initiierungsprinzip“ (Modell 1) ist mit dem geltenden Recht unvereinbar. Denn sie ist offensichtlich Rechtsfolgevoraussetzung in dem Sinn, dass sie unverzichtbares Merkmal der Straftat ist, d. h. in diesem Sinne die Strafe begründet und legitimiert. Sie ist m. a. W. immanentes Element der Straftat und begrenzt sie nicht – wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – von außen her. Wenn es bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung heißt (§ 62 StGB), dass sie nicht angeordnet werden dürfen, „wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis“ stehen, dann wird bereits aus dieser Formulierung deutlich, dass die Voraussetzungen der Maßregeln (Gefährlichkeit) nicht die Verhältnismäßigkeit umschließen; diese muss vielmehr erst in einem zweiten Schritt durch Einbeziehung weiterer, maßregelfremder Gesichtspunkte ermittelt werden, etwa durch Vergleich der Schwere der Anlasstat mit der Schwere der Sanktion. Wiewohl die maßregelkonstituierende Gefährlichkeit hoch sein mag, kann die Verhängung oder Fortdauer der Maßregel gleichwohl unverhältnismäßig, unangemessen sein, z. B. weil die Anlasstat von geringem Gewicht ist. Deren Gewicht konstituiert die Gefährlichkeit nicht, jedenfalls nicht maßgeblich. Das ist bei der Schuld anders: Sie ist unabdingbares Merkmal der Straftat – und das findet seinen sachlichen Grund, wie bereits erwähnt, in der Subjektstellung des Bürgers, in seiner Menschenwürde. De lege lata gilt aber auch, dass die Höhe der Schuld das Strafmaß begrenzt (Modell 2; und folglich Ausschluss von Modell 4); und da sie – und nur sie – Grundlage für die Zumessung der Strafe ist (§ 46 I S. 1 StGB), scheiden auch alle Modelle aus, die der Schuld keine Führungsfunktion zubilligen bzw. ihr nur eine partielle Bedeutung zuerkennen (Modell 5). Also kommen de lege lata nur Modelle 2 und 3 in Betracht, die zwar zum selben Ergebnis führen; dass unter ihnen jedoch Modell 3 straftheoretisch vorzugswürdig ist, ist bereits dargetan worden.61 Darauf kann hier verwiesen werden. 2. Sodann zum Jugendstrafrecht: a) Eine dem § 46 I, S. 1 StGB entsprechende Regelung gibt es im Jugendstrafrecht nicht. § 3 JGG, um dessen straftheoretische Durchdringung es in diesem Beitrag geht, ist deshalb am Anfang dieses Beitrages als Eingangspforte zum Jugendstrafrecht charakterisiert worden. Ist diese Pforte durchschritten, haben die Einlasskriterien, 61

Vgl. bei VII.

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wie wir gesehen haben, ihre Bedeutung weitgehend verloren. Ähnlich wie bei der stationären Sicherungsverwahrung und der ambulanten Führungsaufsicht im Erwachsenenstrafrecht, wäre die Schuld dann nur noch formal Rechtsfolgevoraussetzung einer Reaktion, die aber mit dem Schuldprinzip nicht mehr in einem inhaltlichen Konnex steht (Modell 1). Das wäre, überträgt man die Begrifflichkeit des Erwachsenenstrafrechts auf das Jugendstrafrecht, eine verkappt zweispurige Reaktion – zweispurig deshalb, weil der Täter erstens schuldig gesprochen und zweitens zu einer (schuldfremden) Maßnahme verurteilt wird; verkappt deshalb, weil dies nicht offen ausgewiesen wird. b) Wenn Rechtsgrund der Maßnahmen im übrigen (womöglich nur und ausschließlich) die Prävention sein sollte, dann ist darüber hinaus legitimationsbedürftig, warum denn diese Maßnahmen speziell an die Schuld des Täters anknüpfen. Denn zumindest auf den ersten Blick ist dies alles andere als selbstverständlich, sind doch die Zielrichtungen des retrospektiv orientierten Schuldprinzips und des prospektiv angelegten Präventivgedankens offenkundig ganz unterschiedlich. c) Andererseits wird geltend gemacht:62 Unbeschadet der Besonderheit seiner Reaktionen sei das Jugendstrafrecht „echtes“ Strafrecht, was u. a. daran deutlich werde, dass es, was die Rechtsfolgevoraussetzungen anbelangt, auf das allgemeine Strafrecht rekurriert (§ 2 JGG) und folglich gerade auch das Vorliegen einer schuldhaften Tat (§ 3 JGG) zur Voraussetzung der Verhängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen gemacht hat. Diese Überlegung spricht (im Zusammenhang mit dem oben bei b) vorgetragenen Argument) dafür, dass Modell 1 die spezifische Typizität der jugendstrafrechtlichen Sanktionen nicht angemessen wiedergibt: Der Jugendliche wird schuldig gesprochen.63 d) Wenn die im Vorhergehenden entwickelte Prämisse richtig ist, dass die Tatschuld des Jugendlichen die Sanktion nicht nur auslöst (Modell 1), sondern auch begründet (Modell 4), dann lauten die Anschlussfragen, ob ihre systeminterne Steuerungsfunktion so weit reicht, dass sie auch das Höchstmaß der Sanktion begrenzt (Modell 2), womöglich sogar den Maßstab für die Bemessung der Sanktionshöhe liefert (Modell 3), oder ob Mischmodelle (Modell 5) vorliegen. Um diese Anschlussfragen sinnvoll beantworten zu können, müssen wiederum eine Reihe von Vorfragen geklärt werden, z. B. wie sich die – in der Rechtsprechung des BVerfG in einem Atemzug genannten – Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Tatschuld zueinander verhalten, was die differentiae specificae zwischen Erziehung und Schuld sind; wie die Höhe (welcher?) Tatschuld ermittelt wird; wie sich die Tatschuld zur Tatschwere verhält; ob die Tatschuld die Führungsrolle zu übernehmen hat u. s. f. Vgl. Schaffstein / Beulke (o. Fn. 3), S. 1. Der interessanten Anschlussfrage, ob der Strafcharakter der jugendstrafrechtlichen Reaktionen genau in dieser symbolisch-expressiven (praktisch also folgenlosen) Bedeutung des Schuldspruchs (vgl. Günther, in: FS Lüderssen, 2002, S. 205 ff.) begründet ist, kann hier nicht mehr nachgegangen werden. 62 63

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3. Wir müssen an dieser Stelle unsere Überlegungen abbrechen. All dies sind Fragen, die im Rahmen dieses Beitrages nur aufgeworfen, nicht aber mehr beantwortet werden können. Sie sind von nicht zu unterschätzender, hoher theoretischer und praktischer Relevanz. Kommt dem Schuldgrundsatz die geschilderte sanktionslimitierende Funktion nicht zu (sei es, weil er nur den Zugang zum Jugendstrafrecht eröffnet; sei es, weil er nur ein Zumessungsgesichtspunkt unter anderen ist), dann ist die Folgerung unausweichlich, dass Rechtsgrund der jugendstrafrechtlichen Sanktionen nicht die Schuld, sondern die Erziehungsbedürftigkeit des Jugendlichen ist (u. U. mit der Folge, dass Art und Höhe der durch die Erziehungsbedürftigkeit bestimmten Sanktion das Maß der Tatschuld übersteigen darf). Spricht man ihm dagegen diese Limitierungsfunktion zu und wird er dann auch nicht als eine nur verkappte Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begriffen, dann ist für diejenigen, die der Auffassung sind, dass mit der Limitierung der Sanktion durch die Schuld zwangsläufig auch die die Schuld konstituierenden Voraussetzungen benannt sind, die Schuld auch Rechtsgrund der jugendstrafrechtlichen Sanktionen. Wer dagegen der hier vertretenen Auffassung folgt, dass dieser Schluss nicht zwingend ist, wird in der Prävention (der Erziehungsbedürftigkeit) den Rechtsgrund und in der Schuld das Maß erblicken, das die unter präventiven Gesichtspunkten verhängte jugendstrafrechtliche Sanktion (nur) begrenzt. Dadurch unterscheidet sich dann allerdings das Erwachsenen- vom Jugendstrafrecht: Denn die Grundlagenformel des § 46 I S. 1 StGB hat im Jugendstrafrecht keine Entsprechung.

Sozialschaden? – Bemerkungen zu einem strafrechtstheoretischen Fundamentalproblem Von Günther Jakobs I. Gesellschaftsschutz versus Rechtsgüterschutz In der kurzen Reihe der strafrechtstheoretischen Monographien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die eine neue Sichtweise wagen und leisten, hat Amelungs Arbeit „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ einen festen Platz.1 Auch wer meint, seiner – teils beißenden – Kritik der Lehre vom Rechtsgüterschutz2 nicht zustimmen zu können, muss anerkennen, dass die minutiöse Prüfung aller Varianten dieser Lehre auf ihre strafrechtlichen, strafrechtstheoretischen, philosophischen und – nicht zuletzt – politischen Wurzeln und Implikationen hin die Argumentation auf einem Niveau fest etabliert hat, das zuvor allenfalls vereinzelt erreicht wurde, und so gilt Amelungs Werk heute für die Geschichte der Rechtsgutslehre zu recht als Klassiker. Weniger Beachtung3 und noch weniger Zustimmung4 hat bislang der (nach zwei historisch-kritischen Teilen) dritte und letzte Teil der Arbeit gefunden: „Umrisse einer Theorie der Sozialschädlichkeit“.5 Amelung knüpft an die Systemtheorie Par1 Vollständiger Titel: Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens. 1972. – Weitere Arbeiten von Amelung zum Thema: Der Einfluss des süddeutschen Neukantianismus auf die Lehre vom Rechtsgüterschutz im deutschen Strafrecht, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 363 ff.; ders., Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 155 ff. 2 Knapp zusammenfassend: Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 350. 3 Siehe aber die ausführliche Besprechung durch Hassemer, ZStW 87 (1975), 151 ff., oder die Darstellung bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Auflage2006, 2 / 116. – Die tiefschürfende, kritische Darstellung bei Loos liegt leider nur als Manuskript vor: Zur Rechtsgutslehre im Strafrecht, o. J., S. 26 ff., 30 ff. und passim; auch – wenngleich knapp – ders., Zum Rechtsgut der Bestechungsdelikte, in: Stratenwerth u. a. (Hrsg.), FS Welzel, 1974, S. 879 ff., 887 ff. 4 Zustimmend insbesondere Schall, Die Schutzfunktionen der Strafbestimmung gegen Hausfriedensbruch, 1974. 5 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 330 ff., wenig mehr als ein Sechstel des Buches.

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sons und des frühen Luhmann an6 und bezeichnet eine „Handlungsweise“ dann als „sozialschädlich . . . , wenn sie der Dauereinstellung des (sozialen, G. J.) Systems auf die Lösung seiner Bestandsprobleme abträglich ist“.7 Warum setzt Amelung beim sozialen System an und nicht bei der Person? Er antwortet: „Wenn das Strafrecht die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens gewährleisten soll, so muss die Überlegung notwendig vom Sozialsystem, nicht von der Person ihren Ausgang nehmen.“8 Das klingt politisch inkorrekt – wer solches schreibt, handelt sich leicht den Vorwurf ein, er gerate in „gefährliche Nähe zu der . . . schon überwunden geglaubten zynischen Devise ,Recht ist, was dem Volke nutzt‘“9 –, was Amelung weiß, und deshalb stellt er klar, es gehe nicht um eine politische, sondern um eine deskriptive Aussage: Die Systemtheorie legitimiere nicht, wenn sie die Bestandsbedingungen eines Systems – „Diktatur“, „Gangsterbande“ – benennt,10 und deshalb sei „eine Institution“ nur „legitim . . . , wenn sie ethisch richtig ist“.11 Mehr noch, im Gegensatz zu „Organismustheorien“, die zwar nicht zwingend, aber möglicherweise den Wert des Individuellen aus der Gemeinschaft (Volk!) herleiten, sei „die Theorie des sozialen Systems . . . ein Produkt der Entfremdung zwischen Individuum und Gemeinschaft“:12 Das Individuum sei nicht Mitglied oder Teil der Gesellschaft, sondern deren Umwelt;13 die Gesellschaft könne das Individuum weder auf- noch abwerten, da es in ihr keinen Status habe. Diese Position sichert nur die Lösung der fundamentalen Organisationsprobleme jeglichen Zusammenlebens;14 ansonsten bleibt eine relativistische Öde: „So wenig, wie sich aus der Systemtheorie ein soziologisches Naturrecht ableiten lässt, ist sie . . . in der Lage, einen ,natürlichen‘ Begriff der Sozialschädlichkeit zu begründen, der festlegt, was in concreto dem Zusammenleben in allen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften abträglich ist.“15 Amelung meint, von der Suche nach einem solchen Begriff auch entbunden zu sein; denn die „strukturellen Grundentscheidungen“ liefere „die Verfassung“, und zwar diejenige der Bundesrepublik Deutschland.16 6 Rückblickend: Amelung, Der frühe Luhmann und das Gesellschaftsbild bundesrepublikanischer Juristen, FS Lüderssen, 2002, S. 7 ff. 7 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 387. 8 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 390, schon S. 364. 9 Hirsch, in: Jähnke u. a. (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Auflage, Bd. 2, 1992 – 2003, vor § 32 Rn. 182 a, Fn. 381, freilich zu einem Text von mir. 10 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 363. 11 Wie o. Fn. 10. 12 Wie o. Fn. 10. 13 Wie o. Fn. 10. 14 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 368. 15 Wie o. Fn. 14. 16 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 363 Fn. 67, S. 369 und öfter.

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Amelung nennt drei Gründe, derentwegen der Gegensatz zwischen seinem Ansatz bei der Gesellschaft und einem solchen beim Individuum nicht übersteigert werden sollte. Erstens könnten sich die „ ,Interessen‘ der Gesellschaft und des Einzelnen unmittelbar überlappen“ (Entlastung, Erziehung); zweitens biete eine entwickelte Gesellschaft den Einzelnen bessere „Überlebenschancen“; drittens und wohl hauptsächlich ließen sich die vielfältigen „Interaktionsprozesse“ in einem „hochdifferenzierten Sozialsystem mit der Institutionalisierung von Grundrechten“ nicht oder doch nur schlecht durch Zwang (der als geordneter staatlicher Zwang ohnehin eine knappe Ressource ist), sondern besser durch eine „Erhöhung von Kommunikationschancen“ steuern.17 Mit anderen Worten, auf dem Rücken des Gesellschaftsschutzes finde sich genügend Platz für den Schutz der Individuen. Den zeitgemäßen Widerpart zu Amelungs Unternehmung, „die soziale Realität als eine Realität sui generis“ zu begreifen,18 bilden M. Marx19 und Hassemer20, die darauf beharren, nicht die Gesellschaft, sondern die Einzelheit habe den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Funktion des Strafrechts zu bilden. In aller nur wünschenswerten Klarheit formuliert M. Marx: Rechtsgüter (die also – anders als bei Amelungs Verständnis – einen fixen Begriff bilden sollen) sind „diejenigen Gegenstände, die der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht“,21 und bei Hassemer heißt es, alle Rechtsgüter müssten, um als solche, also als Güter des Rechts, anerkannt zu werden, „von der Einzelperson her funktionalisiert werden“,22 wobei freilich die Person „gesellschaftlich“ zu begreifen sei und ihre äußere Freiheit „intersubjektiv“.23 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 391. Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 350. 19 M. Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, 1972. 20 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens. Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre, 1973 (dazu Amelung, ZStW 87 [1975], 132 ff.); Hassemer / Neumann, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Auflage, 2005, vor § 1 Rn. 108 ff.; Hassemer, Darf es Straftaten geben, die ein strafrechtliches Rechtsgut nicht in Mitleidenschaft ziehen? in: Hefendehl (o. Fn. 1), S. 57 ff. – Die umfangreiche Diskussion kann hier nicht wiedergegeben werden; bislang zuletzt Günther, Die Person der personalen Rechtsgutslehre, in: Neumann u. a. (Hrsg.), „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 15 ff.; Neumann, „Alternativen: keine“. – Zur neueren Kritik an der personalen Rechtsgutslehre, in: Neumann u. a., wie vorstehend, S. 85 ff. 21 M. Marx (o. Fn. 19), S. 62. 22 Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 233; nahezu wortgleich ders., in Hefendehl u. a. (o. Fn. 1), S. 57; ders., FS Androulakis, 2003, S. 207 ff., 213. 23 Hassemer nach Gaede / Mühlbauer, Sitzungsbericht, in: Hefendehl (o. Fn. 1), S. 297. Hassemer bezieht sich auf Kahlo, in: Hefendehl (o. Fn. 1), S. 26 ff., 28: Rechtsgüter sind ,,,das äußere Freiheitsdasein einer Person ermöglichende und eben deshalb wertvolle Beziehungswirklichkeiten, deren Realität durch intersubjektives Handeln (soziale Praxis) konstituiert wird.‘“ – Zur Konstitution der Rechtsperson als „Teilnehmerin am intersubjektiven Raum der Gründe“ Günther (o. Fn. 20), S. 15 ff., 29 ff., 34. 17 18

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M. Marx entwickelt seine Position aus einer Staatszwecklehre24 mit dem Inhalt, der Staat habe die Freiheit der Menschen zu gewährleisten. Er stellt sich dabei freilich keine eremitenhaft existierenden Menschen vor, sondern – im Anschluss an A. Kaufmann25 – Menschen mit „sozialer Individualität“. 26 Was das im einzelnen heißt, lässt M. Marx offen und verweist auf den Wechsel der Lebensumstände als „Dimension der Geschichtlichkeit“.27 Hassemer begründet seine Position hingegen stärker gesellschaftsorientiert, nämlich mit der „sozialen Werterfahrung“ oder auch „normativen Verständigung“.28 Danach sollen „Universalrechtsgüter ohne Funktion zu einzelmenschlichen Interessen . . . mit einer am Grundgesetz orientierten sozialen Werterfahrung nicht vereinbar“ sein:29 „personale Rechtsgutslehre“.30 Hassemer sieht sehr wohl, dass es nicht um den Schutz individueller Marotten oder auch nur sämtlicher individueller „Güter“ geht – „Konflikte, deren Bedeutung über den Bereich der Konfliktpartner nicht hinausreicht, sind typischerweise strafrechtsirrelevant“31 –, vielmehr nur um Rechtsgüter, deren Verletzung einen Konflikt „von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung“ hervorruft.32 Auch erkennt Hassemer die Möglichkeit einer geradezu irrationalen „sozialen Werterfahrung“ und will eine solche nicht rational beiseite schieben, sondern konstatiert, eine teils irrationale Gesellschaft lasse sich nun einmal nicht gänzlich rational verwalten.33 Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen gehen Amelung wie Hassemer von einem nicht-normativen, vielmehr realitätsorientierten Gesellschaftsmodell aus; Normativität fließt nur über die nun einmal geltende Verfassung (Amelung) oder die „soziale Werterfahrung“ (Hassemer) ein. Demgegenüber arbeitet M. Marx mit einem normativen Staatsmodell, eben mit dem Staat als Freiheitsgaranten, ohne auf ein Gesellschaftsmodell überhaupt einzugehen. Eine solche Position dürfte heute die am meisten verbreitete sein, teils mit einem staatsphilosophischen Rückgriff auf einen staatsgründenden „Gesellschaftsvertrag“.34 Rechtsgüter sind M. Marx (o. Fn. 19), S. 25 ff. A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 102. 26 M. Marx (o. Fn. 19), S. 43, 51. 27 M. Marx (o. Fn. 19), S. 46, auch S. 62. 28 Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 233, auch S. 25 ff., 151 ff., 221 ff. und öfter. 29 Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 231 ff., 233. 30 Hassemer / Neumann, in: NK-StGB (o. Fn. 20), vor § 1 Rn. 132; neuestens Günther (o. Fn. 20), S. 37 ff. 31 Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 233. 32 Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 232 (Hervorhebung nicht original); Günther (o. Fn. 20) S. 38 f. 33 Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 241 ff., 244; insoweit wohl zustimmend Amelung ZStW 87 (1975), 131, 137. 34 Schünemann, in: Hefendehl (o. Fn. 1), S. 133 ff., 137 f.; ferner Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 61 ff.; Roxin (o. Fn. 3), 2 / 8 mit Fn. 22, 2 / 31, 50 und andere mehr. – Rudolphi, FS Honig, 1970, S. 151 ff., 164, belässt es beim Rückgriff auf die 24 25

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bei diesem Ansatz „alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen . . . , die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.“35 Demnach soll es sich – unter anderem – nicht um Rechtsgüterschutz handeln beim Erhalt von Moral und Sitte,36 beim Verbot bloß würdelosen Verhaltens, etwa von Sodomie,37 beim Schutz der Gefühle anderer, ausgenommen der Schutz vor einem Gefühl der Bedrohung,38 bei der Verhinderung von Selbstverletzung und von deren Unterstützung,39 beim Schutz bloßer Tabus40 oder von Objekten „von ungreifbarer Abstraktheit“41. II. Kritik der individuell-monistischen Rechtsgutstheorie „Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder Tier oder Gott.“42 Die soeben skizzierte individuell-monistische Rechtsgutstheorie setzt allerdings nicht bei einem Gemeinschaftswesen an, sondern beim Einzelnen, dessen Entfaltung offenbar das Endziel der Welt zu bilden hat. Da dieser – in einem ursprünglichen Sinn: – herrliche Einzelne nach allen Varianten der individuell-monistischen Theorie gewiss kein Tier oder auch nur Quasi-Tier sein soll und ebenso gewiss nicht Gott,43 muss ein Weg an der zitierten Weltweisheit vorbei gesucht werden, und solches, eine abgeschwächte Gemeinsamkeit, wird bei M. Marx im Rückgriff auf A. Kaufmanns (freilich wenig präzise) „soziale Individualität“ anvisiert, bei Hassemer durch die „gesellschaftlich“ zu begreifende Person und bei Schünemann oder Roxin durch die Reaktivierung der Figur des GesellschaftsverVerfassung: Rechtsgüter seien „für unsere verfassungsgemäße Gesellschaft und damit auch für die verfassungsgemäße Stellung und Freiheit der einzelnen Bürger unverzichtbare und deshalb werthafte soziale Funktionseinheiten.“ Siehe auch Freund, in: Joecks u. a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Vor § 13 Rn. 46. 35 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 7 (Hervorhebungen nicht original). 36 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 17 ff. – Aber was soll „Entfaltung“ eines in sittlich verluderter Umgebung seinerseits haltlosen Individuums heißen? Dazu Loos, Rechtsgutslehre (o. Fn. 3), S. 45. 37 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 20 ff. 38 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 26 ff. 39 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 32 ff. 40 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 43 ff. 41 Roxin (o. Fn. 3), 2 / 46 ff. 42 Aristoteles, Politik, übersetzt von Rolfes, 4. Auflage, 1980, S. 5 (I. 2.); nahezu wortgleich (aber statt „Staates“ steht „Volkes“) Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, 1802, in: Moldenhauer u. a. (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 2, S. 434 ff., 505. 43 „Götter“ hinwiederum bedürfen nicht nur einander, vielmehr auch der ihnen opfernden Menschen; Himmelmann, Der Alltag der Götter, 2003, Teil I.

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trags. Die Gangbarkeit eines solchen Wegs soll am Beispiel des sozialphilosophisch am besten elaborierten Begriffs, und das ist derjenige des Gesellschaftsvertrags, untersucht werden. Es geht nicht um einen Gesellschaftsvertrag als historisches Faktum, sondern, wie etwa bei Kant,44 als regulative Idee. Aber auch eine solche Idee muss in sich konsistent sein, und das heißt, es müssen alle Bedingungen und Implikationen eines Vertragsschlusses mitbedacht werden, nur das historische Faktum wird durch ein Als-Ob ersetzt. Die Einzelnen, die den Vertrag schließen, sind demgemäß mit der Bildung ausgestattet zu denken, die zu einem Vertragsschluß erforderlich ist, und auch die sonstigen nicht-kontraktuellen Bedingungen eines Vertrags müssen vorliegen. Was die erste Bedingung (hinreichende Bildung) angeht, so liegt es auf der Hand, dass der Einzelne sie nicht als nur Einzelner erworben haben kann, sondern dass er sie zumindest auch dem Prozess seiner Sozialisation (!) verdankt. Es sei unterstellt – so unwahrscheinlich das sein mag, aber es geht nur darum, einen bei der Argumentation vom Einzelwesen her prinzipiellen Fehler auszuweisen –, diese Sozialisation finde in einer Großfamilie statt, durchaus ohne staatliche Mitwirkung, und solches sei bei allen Einzelnen der Fall. Bei dieser Lage bestünde nicht der geringste Anlass, im zu gründenden Staat die Entfaltungsbedingungen der Einzelnen den Bestandsbedingungen der Großfamilie überzuordnen, und es wäre auch kaum vorstellbar, dass so sozialisierte Subjekte sich überhaupt als Einzelne begriffen und auf den Gedanken kämen, sich dergestalt überzuordnen; denn diese Überordnung, so sie praktisch stattfinden würde, höbe die Bedingung weiterer Sozialisationsvorgänge auf, und es käme zu einem Ende der Gesellschaft: Die Einzelnen hätten sie für sich verbraucht. Wäre das als falsch darzutun? Nein, das Fehlen von Gesellschaft ist kein Widerspruch in sich. Aber es sollte klar sein, dass eine Gesellschaft, die nun einmal Bestand hat, so nicht organisiert sein kann, mit anderen Worten, wer alle Rechtsgüter von den Einzelnen her funktionalisieren will, sollte sich nicht wundern, wenn ihm dabei die Stabilitätsbedingungen der Gesellschaft aus den Händen gleiten,45 und wenn die Gesellschaft doch stabil ist, hat eben die List der Vernunft die totale Funktionalisierung von den Einzelnen her verhindert. Nunmehr zu den weiteren nicht-kontraktuellen Bedingungen eines Vertrags! Schon bei Hume sind „Versprechungen menschliche Erfindungen . . . , die sich auf die Bedürfnisse oder Interessen der Gesellschaft gründen,“46 genauer, sie sind Ent44 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. VI, 1964, S. 125 ff., 153 (A 249). 45 Ein Hinweis auf den mangelhaften strafrechtlichen Umweltschutz dürfte genügen, um die Aktualität des Problems darzutun. – Wenn Schünemann darauf verweist, nicht die heute lebenden Individuen, sondern „das Überleben der menschlichen Gattung“ bilde „den obersten Wert“ (GA 1995, 201 ff., 206), schrumpft die Differenz zwischen Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft zu einem eher terminologischen Randproblem.

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wicklungen der Gesellschaft. Pacta sunt servanda ist vom Einzelnen aus nicht zu begründen; denn für ihn ist „der bindenden Wille . . . der Wille von gestern“.47 Zur Bindung kann es nur kommen, wenn, wie insbesondere Durkheim dargetan hat,48 aufgrund sozialer Arbeitsteilung zumindest bereichsweise ein realvertraglicher Leistungsaustausch nicht mehr genügt, etwa weil die Leistungen günstiger zeitlich versetzt erbracht werden können, und von dort an bis zur Bindung formloser Verträge über beliebige Gegenstände ist es noch ein sehr weiter Weg. Durkheim: „Zusammenfassend können wir sagen, dass der Vertrag nicht sich selbst genügt; er ist nur möglich dank einer Reglementierung des Vertrags, die sozialen Ursprungs ist. Er49 setzt diese voraus, da er viel weniger die Funktion hat, neue Regeln zu schaffen, als allgemeine, vorher festgesetzte Regeln auf Einzelfälle anzuwenden.“50 Ein Vertrag ist also nur dort ein Vehikel zu einem bindenden Ergebnis, wo der soziale Kontext die Bindung bereits präformiert hat, und selbst eine Nicht-Bindung, etwa dass man einem Staat nicht beigetreten ist, der den Einzelnen der Gesamtheit unterordnet, setzt die gesellschaftliche Überzeugung voraus, die Antwort auf Fragen solchen Inhalts ergäbe sich aus der Vertragslage. Die gesellschaftliche Struktur ist der Boden, auf dem die Einzelnen erst als Vertragsschließende konsistent gedacht werden können, und wenn sie sich selbst im Vertrag absolut setzen wollen, ziehen sie sich diesen Boden unter den Füßen weg und fallen ins Leere. Die Jahrtausende alte Argumentation mit einem Gesellschaftsvertrag51 spiegelt den objektiven Geist in den subjektiven Geistern, die damit selbständig zu gestalten scheinen, was sie nur vollziehen – etwa die kluge Unterwerfung unter den sterblichen Gott, nachdem die ehemals einigende Kraft des ewigen Gottes in Religionskriegen zur spaltenden Kraft denaturiert war (Hobbes), die Formierung bürgerlicher Freiheit (Locke), die Freiheit der politischen Person im Kollektiv ge46 Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, III., Über Moral, übersetzt von Lipps, 2. Auflage, 1923, S. 266; dazu Lahno, Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend, 1995, S. 18 ff. 47 Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Auflage, besorgt von Erik Wolf, 1956, S. 245; Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Auflage, 1999, S. 14 ff., 20 f. und passim. 48 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, übersetzt von L. Schmidt und M. Schmidt, 1988, S. 256 ff., 272, 450; ders., Physik der Sitten und des Rechts, übersetzt von M. Bischoff, hrsg. von H.-P. Müller, 1991, S. 237 ff., 245: „Der Vertrag ist . . . eine Quelle von Variationen, die einen basalen rechtlichen Fundus voraussetzt, welcher einen anderen Ursprung hat.“ Dazu Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, 1993, S. 329 ff.; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 39 ff.; Jakobs, in: Höver (Hrsg.), Verbindlichkeit unter den Bedingungen der Pluralität, 1999, S. 5 ff., 7 ff. 49 Text: „Es“. 50 Durkheim, Arbeitsteilung (o. Fn. 48), S. 272. 51 Einen dichten Überblick geben W. Schröder – Vertrag I – und Hartung – Vertrag II – in: Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, „Vertrag“; Kersting, „Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag“, in: Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990 (S. 901 ff., 914 ff.); ausführlich ders., wie o. Fn. 48.

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gen Ende des ancien régime (Rousseau) oder die Stabilisierung der Überflussgesellschaft durch Solidaritätsstandards (Rawls). Nach dem Vertragsmodell soll das Allgemeine aus Einzelheiten konstruiert werden, was Vorteile bietet, denn ein konsentierender Wille ist befriedet. Aber die Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft kann im Vertragsmodell nicht gezeigt werden, sondern nur das Vexierbild des Einzelwesens als eines Gesellschaftswesens ohne Gesellschaft.52 III. Skizze einer Theorie des Sozialschadens Damit ist nicht mehr geleistet als ein Hinweis auf die Inkonsistenz einer individual-monistischen Rechtsgutstheorie,53 jedenfalls in ihrer vertragstheoretisch eingekleideten Variante. Mindestens wären also – wenn man auf der Ebene einer Güterlehre bleibt – genuin gesellschaftliche Güter anzuerkennen, nämlich die zum Fortbestand von Gesellschaft überhaupt unverzichtbaren gesellschaftlichen und – vermittelt – staatlichen Institutionen,54 wobei hier wie bei den Gütern der natürli52 Jakobs (o. Fn. 48), S. 5 ff., 27 ff.; siehe auch Günther, (o. Fn. 20), S. 24 ff. – Das verfassungstheoretische Gegenstück dieses Vexierbildes eines Gesellschaftswesens ohne Gesellschaft bildet die „weite Tatbestandstheorie“ der Grundrechte bei Alexy (Theorie der Grundrechte, 1985, S. 249 ff., 290 ff.), wonach die „allgemeine Handlungsfreiheit“ sich „potentiell“ auch auf verbrecherisches Verhalten beziehen, freilich alsbald durch „Schranken“ auf ein sozialverträgliches Maß zu beschneiden sein soll: rechtliche Freiheit ohne Recht. Ein Recht aller auf alles ist nicht einmal denkbar, da es durch die konkurrierende Pflicht aller, alles zu dulden, konterkariert würde. Deshalb ist in einem solchen Modell nicht von potentiellen Rechten, sondern von faktischer Freiheit im rechtlosen Naturzustand die Rede; Einzelheiten lassen sich bei Hobbes nachlesen. Zur Verdeutlichung: Ein „prima facie-Recht“ auf „Stehlen“ (S. 297) setzt voraus, dass die zu stehlende Sache fremd, also gerade nicht von dem Recht des Diebes belegt ist. Wer ein Recht zu denken oder „prima facie“ anzunehmen versucht, ohne die begrifflichen Implikationen eines jeden Rechts mitzubedenken, hat offenbar keinen Begriff des Rechts. Siehe dazu Jakobs, , ZStW 110 (1998), 716 ff., 718 f. 53 Diese Theorie mag für ihren Bereich (die Beziehung freier Personen untereinander) bedingt erklärungsmächtig sein, aber eben auch nur dort: Stratenwerth, FS Lenckner, 1998, S. 377 ff., 388; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil., 2. Auflage 1991, 2 / 24; ders., FS Saito, 2003, deutscher Teil, S. 18 ff., 25; noch kritischer zur Erklärungsmacht Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 221 f.; Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz, 1994, S. 180 ff., 182; Bacigalupo, FS Jakobs, 2007, S. 1 ff., 14: Entscheidend sei „das Gesellschaftsmodell der jeweiligen Epoche“. – Siehe auch Walter, in: Laufhütte u. a. (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 12. Auflage 2007, vor § 13 Rn. 8 ff., 16: Das Rechtsgut spiele „nur die Rolle eines rhetorischen Topos“. 54 Hefendehl, Rechtsgüter (o. Fn. 34) S. 59 ff. und öfter, hat erkannt, dass sich die Gesellschaft nicht selbstbewussten und gebildeten Einzelheiten (Subjekten) nachordnen lässt. Die strukturelle Kopplung von Einzelbewusstsein und Gesellschaft ändert aber nichts daran, dass Strafrecht eine Veranstaltung der Gesellschaft ist und nicht irgendwo „zwischen“ Einzelheiten stattfindet. Deshalb raubt Hefendehls Wendung gegen ein „systemtheoretisch ausgerichtetes Modell“ dem Strafrecht den Ort seiner Möglichkeit. – Noch deutlicher geht der Einwand von Roxin (o. Fn. 3), 2 / 110, „ein soziales System“ solle „nicht um seiner selbst willen erhalten werden, sondern um der Menschen willen, die in der jeweiligen Gesellschaft leben“, am Problem vorbei: „Menschen“, die erst in einer guten Ordnung zu sich selbst kommen, können

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chen Person dahinstehen soll, inwieweit sie eines Strafrechtsschutzes bedürfen. Dieser Weg einer dualistischen, und zwar in beiden „Zweigen“ mit selbständigen Gütern ausgestatteten Rechtsgutslehre, die, wie jede dualistische55 Güterlehre, den Vorteil bringt, bei den gesellschaftlichen Gütern nicht stets auf den personalen Zweig schielen zu müssen,56 soll hier zugunsten einiger Betrachtungen zum Sozialschaden nicht weiter verfolgt werden. Ein Zustand, in dem Individuen etwas (Chancen eingeschlossen) nur faktisch besitzen, das sie für ein Gut halten, ist notwendig rechtlich leer: der hobbessche Urzustand. Um den Zustand rechtlich zu füllen, muss das faktisch Besessene als rechtlich zugeordnet, als – im weitesten Sinn, etwa den Leib durchaus umfassend – Eigentum verstanden werden, also als etwas, das alle anderen respektieren müssen, selbst wenn der Inhaber es faktisch nicht mehr besitzt. Recht begründet, kantisch gesprochen, einen intelligiblen Besitz. In dem damit eröffneten Rechtszustand ist es ohne Bedeutung, ob „jemand“ ein Individuum ist; es kommt vielmehr darauf an, ob dieser „Jemand“ Inhaber eines Rechts ist – mit zumindest einem Recht ist jemand rechtlich „da“ –, und bei den anderen wird gleichfalls ein rechtliches Dasein begründet, wenn auch mit umgekehrtem Inhalt: Sie sind als Verpflichtete rechtlich „da“. Ob es den Individuen genehm ist, dass von ihnen nicht mehr die Rede ist, sondern von Personen als Inhabern von Rechten und Pflichten – bei jedem Verbrechen oder gar einer Revolution ist es einigen Individuen offenbar nicht genehm –, kann zunächst noch dahinstehen, da im Recht Individuen nicht vorkommen. Die Beziehung zwischen den Berechtigten und den Verpflichteten ist nicht rein spirituell, nur gedacht; vielmehr ist schon im einfachsten Grundfall das Recht ein Recht am Leib oder an einer Sache, und die Pflicht, dieses Recht nicht zu verletzen, hat zum Inhalt, den Leib des Verpflichteten und seine Sachen in einem verkehrssicheren Zustand zu halten. Aber die Leiber und Sachen sind rechtlich eben solche von Personen, nicht von Individuen, wie sich am entschuldigenden Notstand zeigen lässt: Wenn die Person eine besondere Verpflichtung trägt (aus Ingerenz oder wegen ihres Status)57, hat sie existentielle Not auszuhalten, wird also mit ihrer Berufung auf die Kreatürlichkeit des Leibes nicht gehört. Wenn eine Person ihren Verkehrspflichten nicht nachkommt und eine andere Person verletzt, ist das – die weiteren Voraussetzungen sind hinzuzudenken – ein Verbrechen, und zwar durchaus ein Verbrechen gegen die andere Person; da diese dieser Ordnung nicht vorgeschaltet werden. Beispielhaft gefragt, ist die Freundschaft wegen der Freunde da, oder sind es die Freunde wegen der Freundschaft? 55 Vielleicht besser: dreifache Güterlehre – der Einzelne, der Staat, die Wirtschaft; siehe Jakobs (o. Fn. 47), S. 112 ff. 56 So schon Loos, Rechtsgutslehre (o. Fn. 3), S. 62 ff.; heute grundlegend Hefendehl (o. Fn. 34), S. 73 ff., 378 und öfter; ders., Das Rechtsgut als materialer Angelpunkt einer Strafrechtsreform, in: ders. (o. Fn. 1), S. 119 ff. 57 Einzelheiten bei Jakobs Strafrecht (o. Fn. 53), 20 / 12 ff.

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aber überhaupt nur wegen ihrer Position in der Gesellschaft eine Person ist, bleibt der Konflikt ein gesellschaftlicher. Die Sicht ist also eine andere als bei der Güterlehre, die das Verbrechen primär als Tat gegen einen im Grundsatz isoliert gedachten anderen begreift und erst in einem zweiten Gedankengang die gesellschaftliche Bedeutung des Verbrechens anstückeln muss. Beim hiesigen Konzept gibt es keinen anderen mit seinen Interessen, sondern nur – im weiten Sinn verstanden – Eigentümer, Personen im Recht, und deshalb ist Verbrechen nicht ein Entzug irgendwelcher Entfaltungsmittel anderer, sondern Störung der normativen Struktur der Gesellschaft, also das, was Amelung den Sozialschaden nennt.58 Ein so verstandener Sozialschaden besteht im Widerspruch einer kompetenten Person gegen die Verbindlichkeit einer gesellschaftlichen Institution, sei diese auch nur eine einzige Norm. Ganz abgesehen vom Problem des „Gefühlsschutzes“59 und verwandten Bereichen ist es nicht möglich, alle Institutionen auf bestehende Güter zu beziehen, da die positiven Institutionen60 die Herstellung von etwas zum Inhalt haben, das erst dann, wenn es hergestellt ist, ein Gut sein mag.61 Allenfalls kann formuliert werden, das Strafrecht garantiere den Bestand oder die Herstellung von „Gütern“ (wobei deren unterschiedliche Qualität bei einer solchen Rede freilich nivelliert zu werden droht). Beispielhaft, ein Staatsanwalt, der mit der Folge der Verjährung der Sache eine Akte nicht bearbeitet, „stört“ die ordnungsgemäße Rechtspflege nur in dem Sinn, dass er sie pflichtwidrig nicht herstellt, anders als etwa ein aus Ingerenz Verpflichteter, der den Zerfall eines bestehenden Gutes nicht aufhält. Es geht also um Institutionenschutz, der bei negativen Pflichten ein bloßer Normenschutz ist. Können diese Institutionen einen beliebigen Inhalt aufweisen? Schon theoretisch kann das nicht der Fall sein, da die Institutionen im großen und ganzen miteinander kompatibel sein müssen; bei krass gegenläufiger normativer Orientierung kann Gesellschaft im Bereich des Widerspruchs nicht stattfinden. Praktisch genügt eine solche formale Antwort nicht, denn praktisch ereignet sich Gesellschaft immer in einer bestimmten historischen Situation, von deren Gestalt sich das Rechtssystem nicht beliebig abkoppeln kann. Als Rechtssystem einer Überflussgesellschaft kann nicht dasjenige von Sparta zur Zeit des Lykurgos überAmelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 390 und öfter. Dazu Hörnle, in: Hefendehl (o. Fn. 1), S. 268 ff. mit umfassenden Nachweisen. 60 Grundlegend Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 51 ff. 61 Jakobs, Strafrecht (o. Fn. 53), 2 / 17; ders., FS Saito, 2003, S. 18, 21 f. – Roxin(o. Fn. 3), 2 / 13, wendet ein: „Die Rechtspflege, deren Rechtsgutscharakter unbestreitbar ist, wird auf das schwerste geschädigt, wenn ein Richter ein bewusst falsches Urteil spricht.“ In einem solchen Fall liegt ein doppeltes Unrecht vor: Ein richtiges Urteil fehlt und ein falsches ist in der Welt. Aber beides „beschädigt“ bezüglich des anhängigen Falls keine irgendwie schützenswerte Rechtspflege, und zwar aus dem einfachen Grund, weil eine solche nicht vorhanden ist; freilich sollte sie hergestellt werden. „Beschädigen“ mag man die Rechtspflege, wenn man den zu einer korrekten Entscheidung ansetzenden Richter am Spruch hindert oder ein sobald nicht zu ersetzendes Gerichtsgebäude sprengt oder Akten stiehlt etc. – Zutreffend Stratenwerth, FS Lenckner, 1998, S. 37 ff., 381 f., 385 f. 58 59

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nommen werden, und das interne Recht der Herrnhuter Brüdergemeine taugt wenig in einer Goldgräbergesellschaft – eine Relativität, die auch den Vertretern der Rechtsgutslehre bekannt ist.62 Die Bestrafung eines Angriffs auf eine Institution (Norm) ist nur legitim, wenn die Institution ihrerseits legitim ist63 und zur Strafe keine weniger eingreifenden funktionalen Äquivalente zur Verfügung stehen. Ein Verweis auf die Verfassung reicht allein nicht hin; denn auch diese muss als legitim ausgewiesen werden.64 Was legitim ist, bildet sich als Geist einer Zeit (den die Philosophie in Gedanken fasst) und zwar als stabiler, mit der tradierten Rechtskultur verbundener und um deren Vermehrung besorgter Geist. Dieser Geist, der die – emphatisch verstandene – Wirklichkeit der Gegenwart durchdringt wie reflektiert, lässt sich nicht überspringen, wenn das Recht wirklichkeitsbestimmend sein soll.65 Konfrontiert mit herzerwärmenden rechtspolitischen Postulaten wirkt der Geist kalt, da er an das Machbare gebunden ist, und als Geist einer komplexen Gesellschaft kann sein Inhalt nicht immer ganz einfach sein. Hassemer hat mit seiner sehr differenzierten Entwicklung der „sozialen Werterfahrung“ oder „normativen Verständigung“66 beschrieben, wie sich der Geist bildet, freilich zu subjektiv: Was anschlussfähig ist, richtet sich nach der Kommunikation, nicht nach den Subjekten. 62 M. Marx (o. Fn. 19), S. 46; Hassemer, Theorie (o. Fn. 20), S. 121 ff. und öfter; Roxin (o. Fn. 3), 2 / 115. 63 Die Lehre vom Schutz der Gesellschaft hat den Normenschutz, den ich wegen der positiven Pflichten (siehe oben den Text zu Fn. 60 f.) hier Institutionenschutz nenne, nie als per se legitim ausgegeben; siehe nur Jakobs, Strafrecht (o. Fn. 53), 2 / 1; Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 363; Müssig (o. Fn. 53), S. 142, 151 und passim; siehe auch Wohlers (o. Fn. 53), S. 47 ff., 109, 217, 239. Die gegenteilige Behauptung (Mir Puig, GA 2003, 863 ff., 866, und andere mehr; wohl auch Seher, in: Hefendehl [o. Fn. 1], S. 39 ff., 41) liegt so neben der Sache, wie diejenige läge, die Lehre vom Rechtsgüterschutz müsse das in einer beliebigen Ordnung als „Gut“ begriffene per se stets als Gut behandeln. Auch die Lehre vom Rechtsgüterschutz erhält rechtsstaatlich-freiheitliche Konturen erst durch einen konkretisierenden Bezug auf bestimmte Güter unter Ausklammerung anderer; höchstes Gut soll eben nicht das Leben eines Diktators sein oder der Bestand einer politischen Partei oder die Ruhe eines Berges, auf dem die Götter wohnen. Wenn Vertreter dieser Lehre argumentieren, ein Rechtsgut sei zwingend subjektbezogen (was historisch nicht der Fall ist, Amelung, Rechtsgüterschutz [o. Fn. 1], S. 43 ff.; ders., in: Hefendehl [o. Fn. 1], S. 155 ff.; Wohlers, [o. Fn. 53], S. 218 ff., 229), so verwechseln sie den Begriff mit einer seiner Entwicklungsstufen; verstehen sie aber das Rechtsgut emphatisch-freiheitlich, gilt das für die Rechtsnorm nicht minder. – Zu leicht machen es sich auch diejenigen, denen die „Liberalität“ der Strafrechtsinhalte selbstverständlich ist: Roxin (o. Fn. 3), 2 / 212; Schünemann (o. Fn. 34), S. 154; Hefendehl, GA 2007, 1 ff., 2. – Gewiss, Freiheit ist ein Ziel der Moderne, aber Sicherheit und Wohlstand und Erhaltung der natürlichen Ressourcen sind auch ihre Ziele! 64 Hassemer, ZStW 87 (1975), 151, 161. 65 Bacigalupo, wie o. Fn. 53. – Es ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft, die Verbindung des Rechts mit der Wirklichkeit der Gegenwart zu prüfen und gegebenenfalls entweder das Recht oder auch ein sich von der Wirklichkeit entfernendes bloßes Meinen zu kritisieren; Jakobs, in: Chr. Engel (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 103 ff., 105 f., 133. 66 Hassemer, wie o. Fn. 28, zudem ders., ZStW 87 (1975), 151, 157.

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Wie kommt dieser Geist ins Recht? Das geschieht auf verschiedene Art und Weise, wobei der wichtigste Weg wohl über die strukturelle Kopplung von Rechtssystem und politischem System, also über das positive Gesetz führt. Bei der offensichtlichen Entscheidungsschwäche des politischen Systems tritt die Abbildung dieses Geistes im Rechtssystem und seine Berücksichtigung bei der Gesetzesinterpretation und Rechtsfortbildung daneben, zumal – aber nicht nur – als Verfassungsinterpretation. Auch können die mit den Personen strukturell gekoppelten Individuen im Namen des Geistes (freilich auch zahlreicher Ungeister) gegen das Recht revoltieren: Das Individuum, das im Recht sein Auskommen nicht (mehr) findet, orientiert sich anderweitig und nimmt damit dem Recht seine Wirklichkeit; auf diese Weise sind etwa Frauen zurücksetzende Institutionen abgestorben und gleichstellende Normen ertrotzt worden. – Weitere Wege ließen sich nennen. Den Inhalt des Geistes auch nur zu skizzieren, hieße, das Kapitel über Recht eines Lehrbuchs der Politik67 zu schreiben, was hier nicht geleistet werden kann, aber ein Beispiel soll gegeben werden: Ein (das?) Ziel der Moderne ist Freiheit,68 und zwar Freiheit zur privaten Lebensgestaltung wie zur politischen Mitwirkung, mit anderen Worten, in der Moderne löst eine freiheitlich und demokratisch organisierte Gesellschaft ihre Bestandsprobleme besser als eine solche, die auf Zwang setzt. Das, der Vorteil einer freiheitlichen Organisation für die Gesellschaft, ist der Grund für die Stellung der Person in ihr, und diese Stellung hinwiederum lässt es zu, einiges, freilich nur einiges, aus individuell-monistischer Sicht zu beschreiben, zumal der Freiheit eine stark entlastende (der Person Freiheiten gewährende) Funktion zukommt.69 Die freiheitlich gestaltete normative Struktur der Gesellschaft wird nur dann wirklich, wenn die Personen sich auch ohne große Vorbehalte frei verhalten und sich nicht so zurücknehmen, wie man es auf unsicherem Terrain zu tun pflegt. Eine Person kann auf Dauer nur so agieren, dass auch das Individuum mit seinen Interessen im großen und ganzen sein Auskommen findet; ansonsten revoltiert dieses, und die normative Ordnung verliert – nicht notwendig ihre Richtigkeit, ihre Verbindlichkeit, aber – ihre Wirklichkeit, ihre Orientierung leitende Kraft: Sie bildet dann nicht mehr die Struktur der wirklich stattfindenden Gesellschaft. Deshalb 67 „Politik“ verstanden als Handeln im öffentlichen Raum. – Dieses Handeln ist, wenn es etwas anderes sein soll als Zwang, an den Geist gebunden, der die Zeit des Handelns durchdringt und reflektiert. Die Entfaltung dieses Geistes setzt ein wenig mehr voraus als das Bewusstsein eigener „Liberalität“ (o. Fn. 63 a. E.) und die Nennung von ein paar Hand voll personenbezogener Rechtsgüter; anders wohl Hefendehl, GA 2007, 1, 5. 68 Rechtlich kann aus dem Inhalt der Gesetze extrapoliert werden, dass neben die Freiheit mit teils überwiegendem Gewicht Sicherheit und Wohlstand treten. Zudem wird zunehmend die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft akzeptiert. 69 Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 355. – Diese gegenwärtige gesellschaftliche Situation hat auch Schattenseiten: Dem Recht auf Freiheit entspricht keine Pflicht zu vorheriger gründlicher Bildung, und so kommt es zur Degeneration der Freiheit zum bloßen Genuss und zur Ansammlung von Plunder. Treffend Stratenwerth, in: Hefendehl (o. Fn. 1), S. 255 ff., 258.

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braucht die Person bei ihrem Tun und Lassen nicht nur die Gewissheit, Rechte zu haben, etwa nicht verletzt oder gar getötet werden zu dürfen, sondern die vom Recht garantierte Freiheit auch nutzen zu können, also höchstwahrscheinlich nicht verletzt oder getötet zu werden. Abstrakt gesprochen, Recht als pure Normativität gibt potentiellen Opfern keine Orientierung; vielmehr bedarf es einer – je nach dem Gewicht des Rechts unterschiedlich starken – kognitiven Untermauerung.70 Dieser hier nur skizzierte Zusammenhang bildet den Grund für die Delikte gegen die Person und ihre Abstufungen. Insbesondere resultieren die hohen Strafen für vorsätzliche Tötungsdelikte nicht etwa daraus, dass durch sie die Zahl der Personen in der Gesellschaft dezimiert wird71 – sie wird durch fahrlässige Tötungen nicht minder dezimiert als durch vorsätzliche –, sondern dass nur bei einem eindrucksvollen Lebensschutz ein freies Agieren der Personen zu erwarten ist: Ohne diesen Schutz – und analoges gilt für alle Delikte gegen die Person – würden die Personen nicht die ihnen zugedachte Rolle spielen.

70 Das gilt für alle normativen Institutionen, auch für die Person; dazu Jakobs, HRRS 2006, 289 ff., 291. 71 So aber wohl Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 1), S. 386 ff., 388 f.; dazu kritisch Hassemer, ZStW 87 (1975), 151, 162.

Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsdidaktik auf der Suche nach dem Wortlaut des Gesetzes Von Otto Lagodny „Dogmatica se ipsam alet“ (Die Dogmatik ernährt die Dogmatik)1 „Bei den Anfängern müssen Sie Mut zum Vereinfachen haben.“ Das war der zentrale Ratschlag des Jubilars für mich, als ich in Dresden meine ersten Erfahrungen mit einer Großvorlesung für Erstsemester sammeln konnte. An diesen Satz musste und muss ich immer wieder denken. Bestätigt wurde seine tiefe Berechtigung durch einen hervorragenden Seminarteilnehmer, der mir jüngst verdeutlichte: An der Universität seien insbesondere die Lehrveranstaltungen für Anfänger mit einem Restaurantbesuch vergleichbar, bei dem man zwar ein hervorragendes Menü serviert bekomme, aber weder Geschirr noch Besteck. Es fehlten die Grundlagen für das Verständnis der Veranstaltung. Diese Äußerung bezog sich zwar auf die Praxis an österreichischen Universitäten, trifft aber genau so auf die Praxis in deutschen Hörsälen zu. Der ernüchternde Befund zeigt, dass vor allem der Wortlaut des Gesetzes in der Ausbildung eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Normen und ihren Inhalt systematisch und sinnvoll zu lesen und sich zu erschließen, ist oft allein der Ertrag eines mühevollen „Sichdurchwurstelns“. Es ist verwunderlich, dass unsere Studierenden das immer noch hinnehmen. Oder anders gewendet: Was würden wir von einer universitären Veranstaltung einer philosophischen Fakultät zum Werk von Kant oder von Hegel halten, bei der sich der Dozent fast nur auf Sekundärliteratur über deren Philosophie stützte, statt deren Werke auch im Original zu lesen? In der universitären Lehrpraxis bei juristischen Veranstaltungen verfahren wir aber oft2 genau so. Deshalb erstaunt es nicht weiter, wenn unsere Studierenden dann nicht in der Lage sind, den Gesetzeswortlaut zu lesen oder gar zu verstehen. Wir unterschätzen nämlich in der universitären Lehre die Bedeutung des „Lesenlernens“ von juristischen Texten und insbesondere von Gesetzen. Wahrschein1 Burkhardt, in: Eser / Hassemer / Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, München 2000, S. 111, 131 und 148, der diese „Assoziation“ Ingeborg Puppe verdankt (S. 131 Fn. 71). 2 Ich könnte hier auch schreiben: „nicht selten“, „bisweilen“ etc., aber wahrscheinlich fühlen sich ohnehin diejenigen gerade nicht angesprochen, die es eigentlich (be-)treffen soll.

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lich denken manche, dass das Lesen doch so selbstverständlich sei, dass man es nicht noch gesondert erläutern muss. Auf welchem Niveau man aber viele / manche3 Studierende didaktisch und vom Lesevermögen her wohl abholen muss, wurde mir in Dresden klar, als ich in einer Vorlesung zum Besonderen Teil nur und allein den bloßen Gesetzeswortlaut der Nötigung nach § 240 Absatz 1 StGB (also nicht zusätzlich Absatz 2) mit Spiegelpunkten strukturiert per Overheadfolie an die Wand projiziert habe. Nach der Stunde kam ein Student und fragte mich, „ob er die Folie kopieren könne“ . . . Die Unterschätzung des Wortlauts in der Lehre wird durch eine Überschätzung der Dogmatik verstärkt: Deren Erkenntnisse scheinen für uns derart im Mittelpunkt zu stehen, dass wir darüber eben den Gesetzestext vergessen oder ihn als „quantité négligeable“ betrachten. Dass wir das manchmal aus inhaltlichen oder aus formalen Gründen am liebsten tun würden, sei dahingestellt. Als Strafrechtler muss ich jedoch davon ausgehen: Das Gesetz ist auf jeden Fall im Strafrecht die erste Primärquelle des juristischen Denkens und Argumentierens, lehren wir doch unseren Studierenden: Im Strafrecht ist der Wortlaut des Gesetzes eine unüberwindbare Schranke. Um nahe liegenden Einwänden gleich entgegenzuwirken: Die Dogmatik ist nicht an das Gesetz gebunden4 und deshalb überhaupt nicht auf einen Rechtspositivismus festgelegt. Um eine Bindung im Sinne einer inhaltlichen Festlegung darf und kann es nicht gehen. Was Tucholsky zu den Aufgaben der Satire gemeint hat, gilt ebenso für die Dogmatik: Sie darf und muss alles fragen und hinterfragen; sie muss auch vieles de lege ferenda vorschlagen. Man kann deshalb statt des geltenden Gesetzes auch alte oder neue oder alte erneuerte philosophische Konzepte als Primärquellen des Strafrechts ansehen und etwa ein bestimmtes Konzept „der Straftat“ darauf aufbauen.5 Aber unter der Geltung des Bestimmtheitsgebots kommen wir jedenfalls im Strafrecht nicht daran vorbei, den Wortlaut auch wirklich als Grenze jedenfalls des geltenden Rechts anzusehen. Hier ist weder der Raum für die Frage, noch sind Antworten darauf avisiert, welchen Rang das Gesetz neben anderen möglichen Primärquellen der Dogmatik und der Didaktik hat. Diese Frage sei hier dahingestellt. Meine Denkweise mag sicher auch daran liegen, dass ich nicht von einer bestimmten rechtsphilosophischen Schule geprägt bin oder von einem – wie auch immer formuliertem – „Systemdenken“ her komme. Mein Zugang zum Rechtsstoff ist vom transnationalen 3 Man kann natürlich hier einwenden: (1) „Es sind nur wenige, die den Gesetzestext nicht lesen können“ – dann verkennt man meines Erachtens die Realität; (2) „Das Studium ist nichts für Ungeeignete“ – dann muss man sich fragen, ob man didaktische Notwendigkeiten nicht mit Hochmut kleinzureden versucht. 4 So die These von Krey, ZStW 101 (1989), 838; vgl. dazu die heftige Diskussion, referiert bei Lagodny, ZStW 101 (1989), 908 ff., 927 – 934. 5 Vorbildlich für mich beispielsweise Köhler, Strafrecht – Allgemeiner Teil, 1997. Vgl. dazu meine Besprechung (JZ 2000, 40).

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Strafrecht und damit von vergleichsweise banalen Problemstellungen geprägt: Wenn es um eine ausländische Norm geht, bin ich oft froh, wenn ich deren Text überhaupt zur Verfügung habe. In aller Regel stehen mir zu diesem Text weder Kommentare noch Lehrbücher zur Verfügung, um mir das Wesentliche an der Norm oder an dem Normgefüge klarzumachen. Insofern ist diese Situation durchaus vergleichbar mit der praktischen Situation eines Anwalts oder Richters, der es beispielsweise in einem Zivilverfahren mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines großen Unternehmens zu tun hat. Um diese interpretieren zu können, muss man sie lesen können. Um ein anderes Beispiel zu wählen: Wie schaffe ich es, ein Konvolut von zehn Aktenordnern innerhalb von vier Stunden verfügbarer Zeit so durchzuschauen, dass ich ein fallentscheidendes Schriftstück finde?6 Damit ist die Frage umrissen, um die es mir nachfolgend gehen wird: Wie können wir in unserer Lehre dem Gesetz und dem kritischen Umgang damit wieder den Platz einräumen, der ihm gebühren sollte? Bevor ich hierauf eingehe (unten III.), möchte ich Gründe für den eingangs geschilderten Befund suchen (unten I.) und diese durch rechtsvergleichende Beobachtungen anreichern (unten II.). Worauf ich nicht eingehe, ist der von Rotsch jüngst trefflich angemahnte Dialog zwischen Theorie und Praxis7. Insofern bestätigt sich für mich immer wieder eine Art „Zwei-Schlüssel-Theorie“: Man braucht als ersten Schlüssel die überzeugende juristische Argumentation, der aber nichts nützt, wenn man nicht den zweiten Schlüssel hat: Die – im weitesten Sinne – politische und / oder praktische Macht, diese auch durchzusetzen. Der zweite Schlüssel ist oft auch gleichzusetzen mit der „Arroganz der Macht“. Diese spürt man zum Beispiel an manchen Zulässigkeitsentscheidungen von Oberlandesgerichten nach § 29 IRG in Auslieferungssachen. Diese sind nämlich nicht mit ordentlichen Rechtsmitteln anfechtbar (§ 13 Abs. 1 Satz 2 IRG). Doch sei dies dahingestellt: Manche Machtkämpfe und Rechthabereien sind nicht so ernst zu nehmen, will man sich nicht die Freude an wissenschaftlichem Arbeiten nehmen lassen. Denn es ist unser Privileg, nicht dreißig oder mehr Jahre recht haben zu müssen, wie ein Richter, sondern auch irren zu dürfen. Oft sind es auch ganz pragmatische Gründe, die man sich aber nicht offen zu legen traut, warum die Praxis ganz anders verfährt, als es die Wissenschaft fordert. So war wohl einer der maßgebliche Gründe für den seinerzeitigen Streit um die Scheinwaffe bei §§ 244 Abs. 1 Ziffer 1, 250 Abs. 1 Ziffer 1 StGB a. F.8, dass man die praktisch unwiderlegliche Einlassung des Verdächtigen abschneiden wollte, es habe sich um eine Scheinwaffe gehandelt. Nur dann konnte man der Norm einen praktischen Anwendungsbereich sichern. 6 Dogmatik hat nichts damit zu tun, sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren und damit seine und die Zeit anderer Zeit zu verschwenden. Diesen Eindruck erhält man aber bisweilen. 7 Rotsch, ZIS 2008, 1; dagegen die Erwiderung von Puppe, ZIS 2008, 67. 8 Dazu Eser, in: Schönke-Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 244 Rn. 13 m. w. N.

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Schließlich sei hier hervorgehoben: Es geht mir nicht darum, die unschätzbaren Vorzüge gerade der deutschen Dogmatik in Frage zu stellen. Mein Thema sind die Übertreibungen und das fehlende Augenmaß.

I. Gründe für die Vernachlässigung des Gesetzestextes Einer der maßgeblichen Gründe für die eingangs erwähnte Zumutung, dogmatische Menus ohne Geschirr und Besteck zu sich nehmen zu müssen, sehe ich in einer besonders in Deutschland zu beobachtenden dogmatischen Überzüchtung9 der rechtswissenschaftlichen Diskussion. Wenn ich nachfolgend bewusst nicht auf ganz konkrete Arbeiten hinweise, dann deshalb, weil es sich letztlich um ein Problem der Häufung handelt: Die Entwicklung kann man nicht an wenigen markanten Punkten fixieren. Es handelt sich vielmehr um einen geradezu schleichenden Prozess in ganz kleinen Schritten. Diese Entwicklung nimmt man entweder gar nicht wahr, weil man dieser Dogmatik-Kultur selbst angehört, und deshalb nur die Binnen-Perspektive kennt. Oder man schreibt jedenfalls nicht darüber, weil das als „Nestbeschmutzung“ gelten würde. Mir selbst wurde einiges erst durch die Zeit an einer österreichischen10 Universität und damit aus der Außenperspektive bewusst. Die deutsche (Strafrechts-)Dogmatik kann man nicht gleichsetzen mit der Dogmatik in deutschsprachigen Staaten. Zu verschieden sind – wie noch zu zeigen sein wird – die Ansätze und ihr Hintergrund. Jedenfalls scheint mir in Deutschland weitgehend ein Konsens über die Aufgabe der Dogmatik zu bestehen. Stellvertretend für viele sei hier auf Björn Burkhardt verwiesen: Rechtsdogmatik habe zum Zielpunkt: „die an bestimmten Methoden ausgerichtete Entwicklung von Rechtsregeln, das heißt derjenigen Sätze, um welche das Gesetz ergänzt werden muss, damit eine notwendige Bedingung der Gleichbehandlungsforderung erfüllt werden kann: die deduktiv vollständige Entscheidungsbegründung.“ Dogmatik diene stets „der Vorbereitung der Produktion von Rechtsregeln, der Begründung oder Kritik solcher Regeln sowie ihrer Systematisierung und Stabilisierung.“11 9 Wer sich an diesem Wort stößt, möge sich überlegen, ob die Ursache dafür das Gefühl der Selbstbetroffenheit ist; dann ist es nachvollziehbar, dass man sich daran stößt. Schwingt bei Ihnen, lieber Leser, aber mit, dass es jedenfalls in der deutschen Dogmatik unabhängig von Ihrer eigenen Person keine „Überzüchtung“ geben kann, dann sind Sie genau der Adressat, den Fletcher, in: Eser / Hassemer / Burkhardt (o. Fn. 1), S. 235, 253 (dazu unten II.), im Auge haben dürfte. 10 Dass derselbe Effekt sich auch an schweizerischen Fakultäten einstellen kann, hat mir Günter Heine, Bern, berichtet. Ihm sei an dieser Stelle sehr gedankt für ermutigende Worte und für viele Hinweise zur Situation in der Schweiz. 11 Burkhardt, in: in: Eser / Hassemer / Burkhardt (o. Fn. 1), S. 111, 112 f., der S. 117 – 119 vertiefend noch sieben Funktionen der Dogmatik identifiziert (die konstitutive, die rechtsstaatliche, die kontrollierende, die entlastende, die didaktische, die vorbereitende und die anpassende Funktion). Vgl. aus der Sicht des öffentlichen Rechts auch Schlink, JZ 2007, 157.

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Die grundsätzlichen Vorteile dieses Denkens können nicht zu oft hervorgehoben werden. Die Grenzen und Fehlentwicklungen der Dogmatik sind damit aber noch nicht aufgezeigt. Diese sind eher von außen erkennbar: George P. Fletcher ist einer der wenigen angloamerikanischen Wissenschaftler, der sich ernsthaft mit der deutschen Dogmatik und insgesamt mit dem nicht-amerikanischen Rechtsdenken auseinandersetzt. Er bringt die Dinge auf den Punkt, wenn er formuliert: „Eine gute Dogmatik muß konsequent sein und gleichzeitig darauf achten, dass ihre strengen Prinzipien nicht zu ungerechten Ergebnissen führen.“12 Für mich liegt ein solcher Fall vor, wenn man den nicht wenigen Meinungen in Deutschland folgt, und auf das Wollenselement beim bedingten Vorsatz verzichtet und nur das Erkennen der Gefahr verlangt13. Unabhängig davon, mit welchen Zusatzerfordernissen man hinsichtlich des Erkennens der Gefahr arbeitet und unabhängig vom dogmatischen Begründungsaufwand: Jede dieser Meinungen muss in folgendem alltäglichen Fall den bedingten Vorsatz bejahen: A fährt mit 70 km / h durch die geschlossene Ortschaft und erkennt die (nahe liegende und unabgeschirmte) Gefahr, dass ein Mensch auf die Fahrbahn gerät. Dies geschieht: B wird von A erfasst und stirbt. Das wäre konsequenterweise ein vollendeter Totschlag (§§ 212 dStGB). Das kann nicht gemeint sein vom geltenden Recht; schon deshalb nicht, weil damit eine „Breitbandkriminalisierung“ von Geschwindigkeitsübertretungen im Straßenverkehr auf höchstem Niveau einherginge14. Denn: Ohne Auftreten des B hätten wir es tagtäglich immerhin mit einer Masse von Totschlagsversuchen (§§ 212, 22 dStGB) zu tun. Deshalb bin ich sehr zufrieden mit der österreichischen Rechtslage, weil der bedingte Vorsatz dort gesetzlich definiert ist und das Wollen voraussetzt15. Das schließt gerade nicht aus, dass man in Österreich de lege ferenda diskutieren könnte, ob man das in Richtung Gefährlichkeitsvorsatz, wie in Teilen der deutFletcher, in: Eser / Hassemer / Burkhardt (o. Fn. 1), S. 235, 248. Vgl. die Nachweise bei in: Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 8), § 15 Rn. 74 – 79. 14 Einer Diskussion mit Günter Heine verdanke ich allerdings die Hinweise auf folgende Problematik in der Schweiz. Dort scheint sich das – als solches akzeptierte – Wollenserfordernis zunehmend als kriminalpolitisches Korrektiv zur Umsetzung generalpräventiver Erfordernisse herauszukristallisieren. So wurde z. B. bei „Rasern“ das Wollenselement bejaht (vgl. dazu: als Leitentscheid BGE 130 IV 58 sowie etwas einschränkend BGE 133 IV 1; 133 IV 9, und BGer Urteil vom 29. 1. 2008), weil Raser auf der gegenwärtigen Verwerflichkeitsskala der Schweiz – zumindest nach der veröffentlichten Meinung – offenbar gleich nach Kinderschändern rangieren. Diese Fälle betrafen aber Situationen, in denen ein Erfolg eingetreten war. Konsequenterweise müsste man den Vorsatz auch ohne Erfolgseintritt bejahen und dann Versuch annehmen. 15 § 5 Abs. 1 öStGB lautet: „Vorsätzlich handelt, wer einen Sachverhalt verwirklichen will, der einem gesetzlichen Tatbild entspricht; dazu genügt es, dass der Täter diese Verwirklichung ernstlich für möglich hält und sich mit ihr abfindet.“ Ebenso Art. 12 Satz 2 des schweizerischen StGB: „Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt. Vorsätzlich handelt bereits, wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt.“ 12 13

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schen Dogmatik diskutiert, abändert. Das ist aber ein ganz anderer Ausgangspunkt für die Dogmatik: Es macht eben einen Unterschied, ob ich über die Auslegung der lex lata oder de lege ferenda diskutiere. In Deutschland gibt es keine gesetzliche Definition des Vorsatzes und damit keine lex lata. Nur deshalb konnte sich die Vorsatzdiskussion überhaupt so weit entwickeln. Und in Österreich kann man in der Dogmatik nur de lege ferenda darüber diskutieren, ob man auf das Wollenselement verzichtet. Erfreulicherweise macht das niemand. Betrachtet man die deutsche „Dogmatik-Szene“ also von außen und mit etwas Distanz, so fällt auf, dass man es hierzulande oft übertreibt und um des Rechthabens Willen noch ein weiteres Axiom heranzieht, noch eine weitere Theorie erfindet oder noch eine Ausnahme zum Grundsatz erhebt. Wohlgemerkt: Es geht mir nicht darum, die zahlreichen Verdienste der deutschen Dogmatik insgesamt in Frage zu stellen. Mir persönlich fehlt in der deutschen Diskussion eben jenes korrigierende Augenmaß, von dem Fletcher spricht. Mir drängt sich bei manchen Streitfragen die Assoziation auf, als „kämpften“ Brüder im Geiste des Michael Kohlhaas um das „einzig richtige“ Recht. Auf jeden Fall ist es ermutigend, bei einem so brillanten Dogmatiker wie Wolfgang Frisch zur Frage der Beteiligung mehrerer an einer Straftat zu lesen: „Gerechtigkeit und Vernunft verbieten zwar, Tatbeiträge von deutlich unterschiedlichem Gewicht gleich zu bestrafen. Aber ob bei mehreren Tatbeteiligten alle Täter sind (und nur unterschiedlich bestraft werden) oder die einen Täter und die anderen Teilnehmer – das ist keine Frage, auf die es nach den Regeln der Vernunft nur eine bestimmte Antwort gibt. Hier sind verschiedene Lösungen denkbar und argumentativ vertretbar – nicht zuletzt auch bei der Zahl der Teilnahmeformen“16. Auf der anderen Seite wird teilweise zu Recht Kritik an zu wenig Dogmatik geübt, weil schwarz-weiß-malende „gesellschaftstheoretische und kriminalpolitische Großthesen“ gepflegt würden, statt mehr Aufmerksamkeit auf die Mühen der Ebene zu verwenden, durch die sich die herkömmliche Dogmatik ihren Weg bahnt17.

16 Frisch, GA 2007, 250, 262. Ob Frisch ebenfalls so tolerant ist bei der Frage des „tatbestandmäßigen Verhaltens“, sei hier dahingestellt. Ein anderer dogmatischer Dauerbrenner zwischen Praxis und Wissenschaft ist das Verhältnis von Mord und Totschlag, vgl. hierzu etwa Puppe, ZIS 2008, 67 f. 17 Pawlik, Besprechung von: Neumann / Prittwitz, Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, GA 2007, 483, 483, gegen die Ansätze von Herzog und Prittwitz. Das Wort „Großthese“ ist eine durchaus gelungene Anspielung auf die seinerzeit von Kratzsch (Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht. Ansätze zur Reform des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs und der Regeln der Gesetzesanwendung, Berlin 1985) in die Diskussion eingebrachte moderne gesellschaftliche „Großgefahr“ (z. B. im Bereich Umweltschutz), der man am besten durch abstrakte Gefährdungsdelikte begegnen müsse.

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II. Konsequenz aus der Rechtsvergleichung: Relativierung dogmatischer Erkenntnisse Noch deutlicher wird einem der deutsche Hang zur „Vergrundsätzlichung“18 bei einem Blick über die deutschen Landesgrenzen. Um nochmals Fletcher zu zitieren: „Im zwanzigsten Jahrhundert ähnelten wir Strafrechtler eher den Priestern einer Glaubensgemeinschaft, die sich vor Einflüssen anderer Glaubensrichtungen beziehungsweise Rechtssysteme zu hüten versuchten. Im einundzwanzigsten Jahrhundert werden wir sicher Schritte in Richtung einer gemeinsamen, über alle unsere nationalen Vorurteile erhabenen Dogmatik unternehmen.“19 Nicht wenige werden jetzt denken: „Fletcher hat recht! Selbstverständlich werden wir eine gemeinsame Dogmatik haben; die deutsche eben. Weil wir ja so grundsätzlich und Grund legend sind.“ Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, das ich selbst erlebt habe: Ich dachte (und denke immer noch), die Verfassungswidrigkeit von Besitzdelikten hinreichend dargetan zu haben, weil sie nur als echte Unterlassungsdelikte zu verstehen sind, für die es aber keine legitimierbaren Verhaltenserwartungen gibt.20 Ich habe die Frage gestellt, welches aktive Verhalten denn das vom Gesetz geforderte sei (Zerstören? Beseitigen? Abliefern bei den Strafverfolgungsbehörden?). Deshalb habe ich mit Grundkategorien der Unterlassungsdelikte gearbeitet, die auch in anderen Staaten konsensfähig sein müssten, und meine Thesen im Ausland bei einem Vortrag zum Thema „Besitzdelikte“ zur Diskussion gestellt. Ich war dann doch etwas überrascht, als Argument zu hören: „Das mag alles in sich stimmig sein, wir werden aber trotzdem nicht auf Besitzdelikte verzichten.“ Ich hätte mich schmollend in die Ecke verziehen und mir sagen können: „Die verstehen das nicht“. Die darin zum Ausdruck kommende Hochnäsigkeit ist bei der Rechtsvergleichung aber völlig fehl am Platze. Stattdessen wurde mir bewusst: Im Ausland denkt und argumentiert man eben anders, auch wenn mir für den Moment außer dem praktischen Bedürfnis keinerlei Argumente für die Beibehaltung der Besitzdelikte einfallen. Eine Einschränkung der Unschuldsvermutung, statt das materielle Recht so zu ändern21, dass man formell an der uneingeschränkten Unschuldsvermutung festhalten kann22, wäre ehrlicher, aber politisch kaum durchsetzbar. 18 Die deutsche Neigung, gerade in der Juristerei, alles nur Denkbare in ein Substantiv zu verwandeln, hat seine Berechtigung, weil es möglicherweise hilft, dass man sich präziser ausdrücken kann. Jeder ausländische Leser wird aber in große Schwierigkeiten gebracht. 19 Fletcher, in: Eser / Hassemer / Burkhardt (o. Fn. 1), S. 235, 253. 20 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, § 13 B. Dagegen: Eckstein, Besitz als Straftat, 2001; Hochmayr, Strafbarer Besitz von Gegenständen, 2005; Schroeder, ZIS 2007, 444. – Eine sachliche Auseinandersetzung zu diesem Problem macht im hier anstehenden Zusammenhang wenig Sinn und muss einer speziellen Abhandlung vorbehalten bleiben. 21 Vgl. dazu Weigend, in: FS Triffterer, 1996, S. 695. 22 Dazu Arzt, in: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart Bd. 8, 1980, S. 77 ff.

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Die Relativierung des eigenen Standpunktes ist aber z. B. auch in Österreich notwendig. So ist es für mich immer noch gewöhnungsbedürftig, dass Hausärzte nach § 157 Abs. 1 Ziffer 3 StPO – anders als Fachärzte für Psychiatrie, Psychotherapeuten, Psychologen – in Österreich im Strafprozess kein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Wenn die Nötigung in Österreich einhellig keine Fälle der so genannten „passiven Gewalt“ erfasst, in Deutschland aber ein Diskussionsaufwand betrieben wurde und wird, als breche bei der „falschen“ Antwort der Rechtsstaat zusammen, dann kann man das eben nur noch mit einer anderen Streitkultur erklären23, aber nicht mehr mit der Sache selbst und der Dogmatik. Weiter muss es einen zumindest nachdenklich machen, wenn zwischen den strafrechtlichen Höchstgerichten Österreichs und Deutschlands zwei fundamentale prozessrechtliche Fragen völlig konträr entschieden werden, obwohl der Prüfungsmaßstab in beiden Fällen jeweils derselbe ist bzw. sein müsste. Der österreichische OGH hat erstens Absprachen im Strafprozess unter Rekurs auf Prozessprinzipien, die im selben Maße auch in Deutschland gelten, für unzulässig erklärt24: „Eine Absprache zwischen Richter und Verteidiger über zahlenmäßig determinierte Auswirkungen des Aussageverhaltens des Angeklagten auf die über diesen zu verhängende Strafe ist schon wegen des ersichtlichen Verstoßes gegen § 202 erster und zweiter Fall [ö]StPO, vor allem aber wegen des eklatanten Widerspruches zu den tragenden Grundprinzipien des österreichischen Strafverfahrensrechtes prinzipiell abzulehnen und kann die Beteiligten disziplinärer (§ 57 [ö]RDG) und strafrechtlicher Verantwortlichkeit (§ 302 [ö]StGB) aussetzen.“ Mit der Andeutung der Strafbarkeit nach § 302 öStGB (Amtsmissbrauch)25 hat der OGH – bewusst oder unbewusst – eine Art höchstrichterliche „Omertà“ verhängt: Kein Praktiker kann über erfolgte Verfahrensabsprachen auch nur reden, ohne Gefahr zu laufen, sich einem Disziplinar- oder gar einem Strafverfahren auszusetzen. Zweitens hat der österreichische OGH aus Art. 6 EuMRK abgeleitet, dass verdeckte Ermittler in der Hauptverhandlung erscheinen und aussagen müssen.26 Die österreichische Praxis lebt mit dieser Rechtsprechung und verwendet die Erkenntnisse von verdeckten Ermittlern nunmehr dazu, weitere Beweise zu sammeln, die Vgl. näher: Lagodny, in: FS Burgstaller, 2004, S. 409, 415 f. 11 Os 77 / 04 = JBl 2005, 127 = EvBl 2005 / 64; Vgl. zum Problem in Österreich: Tipold, Archivum Iuridicum Cracoviense, Vol XXXI – XXXII (1998 – 1999), 169 ff.; Moos, RZ 2004, 56 mwN. Zum Stand in Deutschland vgl. nur den hervorragenden und auf rechtsvergleichende Fehleinschätzungen hinweisenden Beitrag von Ransiek, ZIS 2008, 116 (mit vielen Nachweisen). 25 Wortlaut: „§ 302. (1) Ein Beamter, der mit dem Vorsatz, dadurch einen anderen an seinen Rechten zu schädigen, seine Befugnis, im Namen des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde oder einer anderen Person des öffentlichen Rechtes als deren Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, wissentlich mißbraucht, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ 26 Österreichischer OGH, Beschluß vom 18. 2. 2004 – 13 Os 153 / 0, NStZ 2005, 347 f. m. Anm. Lagodny. 23 24

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dann in der Hauptverhandlung verwertet werden können, ohne dass der verdeckte Ermittler erscheinen muss. Hält man dem die deutsche Diskussion entgegen, dann muss man meinen, der Staat gebe sich auf, wenn der BGH ein solches Urteil fällen würde. Das Verwunderliche ist, dass es um dieselben Prüfungsmaßstäbe geht. Da ist es zwar ganz natürlich, dass verschiedene Höchstgerichte zu verschiedenen Ergebnissen kommen, so dass erst ein übergeordnetes27 Gericht wie der EuGMR oder der EuGH die Dinge ins Lot bringen kann. Die Dogmatik beider Rechtsordnungen ist aber dazu offensichtlich nicht in der Lage. Schließlich erleben wir gegenwärtig im Bereich der internationalen Strafgerichtsbarkeit etwas, das mit den herkömmlichen Konzepten der Dogmatik nur schwer zu erfassen ist. Beim Jugoslawien-Strafgerichtshof prallen bei der täglichen Arbeit konträre Prinzipien aufeinander: Darf das Gericht z. B. einen Zeugen laden, ohne dass Verteidigung oder Anklage dies beantragt haben? Geht man von einem reinen Parteienprozess aus, dann ist die Antwort klar: nein. Aus dem Blickwinkel des kontinentalen Strafverfahrens mit seinem auch materiellen Wahrheitsermittlungsanspruch ist die Antwort ebenso klar: ja.28 Die Grenzen und die Begrenztheit der deutschen Dogmatik werden einem schließlich sehr bewusst, wenn man deren Begriffe und Begrifflichkeiten zu übersetzen versucht. Das ist der „Lackmus“-Test: Ohne Übersetzbarkeit kann keine Kommunikation stattfinden; ohne Kommunikation kann sich keine rechtsordnungsübergreifende Dogmatik entwickeln. Oder es findet nur ein einseitiger Dogmatik-Imperialismus statt, frei nach dem Motto: die deutsche Dogmatik ist ohnehin nicht zu übertreffen. Die Probleme beginnen schon damit, dass man versucht, den Begriff „Dogmatik“ in eine andere Sprache zu übersetzen. Dieses kann schon deshalb nicht gelingen, weil das jeweilige Vorverständnis entweder ein nur partiell oder gar völlig anderes oder ein schlicht von Deutschland kopiertes ist. Auch das Wort „Straftatbegriff“ ist aus meiner Sicht ebenfalls nicht übersetzbar. Das liegt daran, dass in dem Wort bereits Strafrechtskonzepte mitschwingen, die nur verständlich sind, wenn man etwa den Rechtsbegriff von Hegel vor Augen hat. Die zentral bedeutsame Unterscheidung von „Unrecht“ und „Schuld“ kann man ins Englische übersetzen mit „Justification“ / „Excuse“29 oder mit „Unlawfulness“ / „Culpability“30; beide Mal erfassen sie nicht die ganzen Implikationen, 27 Der Streit um die gerichtliche „Vormacht“ in Strafsachen spielt sich nicht nur zwischen BGH und BVerfG, sondern auch zwischen diesen nationalen Gerichten und den beiden europäischen Gerichten ab. Letztlich eine moderne Spielart des 1. Gebots („Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“). 28 Zum materiellen Recht in den USA lese man etwa: Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, oder Safferling, Vorsatz und Schuld. Subjektive Täterelemente im deutschen und englischen Strafrecht, 2008. 29 Dazu: Eser / Fletcher, Justification and Excuse: Comparative Perspectives, 1987, 2 Teilbände.

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welche die Begriffe in den jeweiligen Rechtsordnungen haben. Noch weniger lässt sich der Begriff „Schuldprinzip“ oder auch der Begriff „Rechtsstaat“ übersetzen. Der Begriff „Rechtsgut“ schließlich ist mit „criminally protected legal interest“ nur annäherungsweise zu übersetzen.31 Und ob man die mannigfaltigen Facetten des strafrechtlichen Begriffs „Erfolg“ in der Übersetzung von „Erfolgsdelikten“ als „result-constituted offences“32 zum Ausdruck bringt, erscheint mir ebenfalls zweifelhaft: Immer geht es darum, dass in den deutschen Begriffen ganze philosophische und / oder staatstheoretische Konzepte mitschwingen, welche in einer notwendigerweise vereinfachenden Übersetzung einfach nicht „mittransportiert“ werden können. Selbst wenn man meint, einen gemeinsamen Begriff gefunden zu haben, zeigen dann weitere Diskussionen, dass mit identischen Begriffen völlig verschiedene Dinge verbunden werden.33 Diese Seitenblicke mögen genügen, um uns vor Augen zu halten: International müssen unsere dogmatischen Ergebnisse auf jeden Fall relativiert werden. Vielleicht muss man über vieles, das einem vertraut und unumstößlich erscheint, sagen: „I am still confused, but on a higher level. . .“34, wenn man es unter ganz anderen Voraussetzungen ins Gegenteil verkehrt sieht. Nur dann sind wir bereit, uns wieder auf eine andere Bodenständigkeit einzulassen: auf den Gesetzestext. Wie zu zeigen sein wird, führt dies zu einer ebenfalls Horizont erweiternden Analyse, nur eben von einem anderen Startpunkt aus, der zugleich didaktisch sinnvoll ist.

30 Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil Lehrbuch in Deutsch und Englisch, Teil II: Tatbestand des vorsätzlichen Begehungsdelikts, 2003, Rn. 226. 31 Vgl. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345. Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil Lehrbuch in Deutsch und Englisch, Teil I: Grundlagen, 2002, Rn. 5 ff. übersetzt ihn nur mit „legal interest“. Vgl. rechtsvergleichend auch: von Hirsch, Der Rechtsgutsbegriff und das „Harm Principle“, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel, 2003, S. 13. 32 Krey, AT I (o. Fn. 31), Rn. 190. 33 So wies mich Chris Blakesley darauf hin, dass man den deutschen Terminus „Zulässigkeitsentscheidung“ (wie etwa diejenige nach § 29 IRG zur Zulässigkeit der Auslieferung) nicht mit „decision on the legal admissibility“ übesetzen sollte, weil der Begriff „admissibility“ im amerikanischen Sprachgebrauch für die „admissibility of evidence“ reserviert sei; daher vgl. Blakesley, in: Eser / Lagodny / Blakesley, The Individual Facing The Individual as Subject of International Cooperation in Criminal Matters, A Comparative Study, 2002, S. 695, 701 mit Fn. 4. 34 Zusammenfassende Bemerkung von Björn Burkhardt bei einer der Sitzungen im Rahmen des Workshops „Justification and Excuse“ am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht 1984 (dazu: Eser / Fletcher, o. Fn. 29), die mir persönlich als außerordentlich treffend in Erinnerung ist. Sie sollte zum Ausdruck bringen, wie schwer es für einen deutschen Strafrechtler nachzuvollziehen ist, dass die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld im US-System als nahezu irrelevant angesehen wird.

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III. Rückbesinnung auf den Wortlaut als Ausgangspunkt in der Lehre „Am Ende glauben beide Seiten – Publizierende und Studierende –, daß das, was da publiziert wird, auch im Examen gewußt werden muß. Den Nachteil tragen die Studierenden.“ Dieses treffende Wort von Björn Burkhardt zielt zwar auf die zunehmende Überfrachtung von Ausbildungszeitschriften; diese seien „zu einem Tummelplatz der ausufernden Strafrechtsdogmatik geworden“35. Man kann das aber durchaus erweitern auf die gesamte Ausbildungsliteratur. Ohne die Verdienste seines Lehrbuchs in Frage stellen zu wollen oder nur zu können: Wenn im vorzüglichen Lehrbuch von Kristian Kühl zum Allgemeinen Teil zehn Theorien zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit aufgeführt werden, dann zeigt dies genau das Phänomen, um das es mir auch geht: dogmatica se ipsam alet. Sollen Studierende etwa diese zehn Theorien im mündlichen Examen herbeten können?36 In der Überdehnung der Dogmatik in der Forschung sehe ich einen zentralen Grund für eine Loslösung vom Gesetzestext in der universitären Didaktik. Ich selbst erinnere mich noch zu genau daran, dass ich immer im Hinterkopf hatte: Was würde der Kollege XY sagen, wenn er in meiner Vorlesung sitzen würde? Das führt dazu, dass man immer mehr an Dogmatik zelebriert, statt die Vereinfachung zu erreichen, die notwendig ist. Nur dann kann man die Studierenden auch in höheren Semestern motivieren, sich auf schwierigstes dogmatisches Terrain zu begeben. Die Devise sollte vielmehr dem Prinzip der Feuerzangenbowle folgen und fragen: „Nun stellen wir uns janz dumm: Wat is n Dampfmaschijn?“ Deshalb war ich über das eingangs erwähnte klärende Wort des Jubilars so erleichtert. Zwei Faktoren sind maßgeblich für diesen Schritt: die Art und Weise der Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten (unten 1), auf jeden Fall aber die Lehre an der Universität (unten 2).

Burkhard, in: Eser / Hassemer / Burkhardt (o. Fn. 1), S. 111, (o. Fn. 1), S. 111, 151. Kühl, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 5 Rz. 45 ff. – Nur am Rande sei erwähnt: Es kann sich als wahrer „Lackmus“-Test herausstellen, wenn man Kandidaten in der mündlichen Prüfung zum Ersten Staatsexamen eine unbekannte Norm vorlegt, um zu sehen, wie sie mit dem Text methodisch umgehen. So habe ich bei einer mündlichen Prüfung zwei Kandidaten gehabt, die von der Voranmeldung sehr weit auseinander lagen: Der eine war ein Wiederholer mit 3,8 Punkten, der andere war mit über 10 Punkten angemeldet. Ich habe § 110 des österreichischen StGB („eigenmächtige Heilbehandlung“) vorgelegt und nur gefragt, wie sie die Norm und ihre Voraussetzungen dem Wortlaut nach einordnen würden. Die Antworten des 3,8-Punkte-Kandidaten waren ordentlich; diejenigen des 10-Punkte-Kandidaten erschreckend – weil die Frage offensichtlich nicht in sein „Schema“ passte. 35 36

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1. Vorbedingung: kein „Ordinariendenken“ mehr bei der Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten Es wird kaum thematisiert, aber ein wesentlicher Faktor für die Überbewertung einer geradezu absoluten Dogmatik liegt in der Art und Weise, wie wissenschaftliche Arbeiten betreut werden. Ein „Ordinariendenken“ im herkömmlichen Sinne ist heute erfreulicherweise auf dem Rückzug. Es wird aber wohl noch mehr als eine Generation dauern, bis man hier auf ein erträgliches Maß gekommen ist. Oder kann man heute schon sagen, dass folgender Werdegang des wissenschaftlichen Nachwuchses der Vergangenheit angehört?: Als Student, Assistent und Habilitand wird man von einer omnipräsenten Dogmatik umgeben. Die Dissertation (und erst recht die Habilitationsschrift) wird nicht als die eigene wissenschaftliche Arbeit des Doktoranden verstanden, sondern als abgeleitete Gnade aus der Ruhmverlängerung des Doktorvaters (sit venia verbo).37 Manche Arbeit38 vermittelt den Eindruck, der Autor habe als Adressaten nur den Betreuer vor Augen gehabt: Ob andere Leser seinen Gedankengängen folgen können, scheint nicht so sehr sein Anliegen gewesen zu sein. Der Zweitgutachter wird dann erst im Endstadium des Verfahrens eingeschaltet und hat sich wohl nicht selten in der Situation befunden: Na irgendwie werden der Verfasser und der Erstgutachter das Thema und die Arbeit schon verstanden haben. Für eine Grundsatzkritik war es im jetzigen Verfahrensstadium ohnehin zu spät, so dass es gar nicht auf die Frage ankam, ob der Zweitgutachter dem Erstgutachter überhaupt etwas entgegensetzen wollte. Mancher mag jetzt fragen: Wo kommen wir denn da hin, wenn der Zweitgutachter dem Erstgutachter gar schon von Anfang an reinreden könnte? Hinter einer solchen Frage verbirgt sich nichts anderes als ein Denken in ihrerseits zu hinterfragenden Kategorien. An der juristischen Fakultät in Salzburg muss bereits bei der Anmeldung zum (zukünftig dreijährigen) Doktoratsstudium eine Disposition über das Dissertationsvorhaben zur Begutachtung vorgelegt werden. Erst- und Zweitbetreuer erstatten hierzu bereits zu Beginn im Anfangsstadium ein Kurz-Gutachten. Ist die Arbeit fertig gestellt, werden sie auch zur Erst- bzw. Zweitbegutachtung der Dissertation zugeteilt. Das ist ein wissenschaftliches Vier-Augen-Prinzip von Anfang an. Der Zweitbetreuer soll vor allem gewährleisten, dass die Arbeit und ihre Problemstellungen für Dritte nachvollziehbar und methodisch vertretbar sind. Er muss sich nicht mit der Arbeit identifizieren, sie sich nicht „zu eigen“ machen. Der Vorteil 37 Insoweit möchte ich an dieser Stelle meinem verehrten akademischen Lehrer Albin Eser sehr herzlich danken für die jederzeit gewährte wissenschaftliche Freiheit. Für ihn gilt in ganz besonderem Maße die Charakterisierung von Egon Friedell: „Bei einem Denker sollte man nicht fragen: welchen Standpunkt nimmt er ein, sondern: wie viele Standpunkte nimmt er ein? Mit anderen Worten: Hat er einen geräumigen Denkapparat oder leidet er an Platzmangel, das heißt: an einem ,System‘?“ 38 Jeder Leser möge sich selbst fragen, bei welchen Arbeiten dieser Eindruck nahe liegt. Zum Glück habe ich solche Arbeiten nicht selbst als Zweitgutachter erlebt.

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für die Studierenden liegt auf der Hand: Man kann schon im Frühstadium erkennen, ob und welcher wissenschaftliche Ertrag zu erwarten ist. Nur so lässt sich Frust bei Studierenden oder bei Betreuern vermeiden, der unweigerlich entsteht, wenn nach ein bis zwei oder gar mehr Jahren eine untaugliche Arbeit abgegeben wird. Wir sind es den Studierenden jedoch schuldig, dass sie nicht in eine solche Lage kommen. Bei deutschen Habilitationsschriften sieht es nicht besser aus. Wartet ein solches „Meisterstück“ nicht mit einem eigenen System „des“ „Straftatbegriffs“ auf, wird sie – oder wurde sie zumindest – von nicht wenigen wenig ernst genommen, will heißen: belächelt. Fast hat man heute den Eindruck, dass dies nunmehr selbst für Dissertationen gilt. Akzeptiert waren freilich schon immer Arbeiten, welche idealiter das Modell des Betreuers oder wenigstens ein anerkanntes Modell anhand einer spezifischen Frage durchdeklinieren und so das Modell hochleben lassen. Nicht wenige deutsche Dogmatiker folgen nämlich auch in der Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten der Devise: „Ich fordere immer den kritischen Diskurs, bin aber sehr eingeschnappt, wenn man mich kritisiert.39“ Die bisherige Entwicklung in der deutschen Rechtswissenschaft kann mit einem modernen Begriff charakterisiert werden: Bislang ging es bisweilen darum, den Nachwuchs zu klonen. Wer nicht „klonfähig“ war oder ist, wird als „Praktiker“ entlassen. Und wer sich nicht an die Hackordnung hält, wird in einer geradezu peinlichen Weise „abgewatscht“. Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass jedes größere und kleinere Problem solange zerlegt und seziert wird, dass vom eigentlichen Problem kaum mehr etwas erkennbar ist. Viele noch so periphere Fragen werden in einer Grundsätzlichkeit erörtert, die mir letztlich weder angemessen noch in der Sache förderlich erscheint. 2. Das Potenzial des Gesetzeswortlauts in der Lehre Mit den Konsequenzen dieses Selbstverständnisses müssen die Studierenden leben. Denn aus Gesprächen mit Studierenden habe ich erfahren (und aus eigener Erinnerung weiß ich): Viele Lehrveranstaltungen sind geprägt vom Duktus des Dozenten, in allererster Linie nur sein eigenes Dogmatikgebäude zu vermitteln. Das ist dann die Fortsetzung dessen, was mancher selbst in seiner wissenschaftlichen Ausbildung erlebt hat. Meines Erachtens wird in der Ausbildung an der Universität aber viel zu wenig Wert darauf gelegt, dass unsere Studierenden juristische Texte adäquat lesen können. Dazu gehört ganz besonders, dass man das Gesetz lesen kann. Man kann mit dem Gesetzestext allein schon sehr viel verdeutlichen. Schon die Frage, wie man eine einschlägige Norm systematisch suchen kann, bereitet Studierenden 39 Frei nach einem wohl vom früheren Oberbürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel, überlieferten Bonmot: „Ein Schwabe redet nicht gern über Geld, ist aber furchtbar sauer, wenn man meint, er hätte keines“.

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oft Schwierigkeiten. Auf jeden Fall aber die Folgefrage: Wie liest man eine unbekannte Norm? Das war die Situation, auf die mich der wirkliche Meister der zivilrechtlichen Ausbildungsliteratur40, Dieter Medicus, aufmerksam gemacht hat. In einem Gespräch über die Studienbedingungen nach dem 2. Weltkrieg in den Jahren 1946 / 47 berichtete er mir, dass es zu dieser Zeit keine Lehrbücher gegeben habe. Man sei froh gewesen, wenn man einen Gesetzestext gehabt habe. So habe er in einer Klausur zum Konkursrecht die Konkursordnung zum ersten Mal gelesen und angewendet. Nun will ich nicht die damalige Situation der Entbehrung herbeireden. Der Punkt ist aber, dass bereits der Gesetzestext das erste „Lehrbuch“ sein kann. Folgende vier Fragen sind dabei behilflich41: Frage 1: Welchen Lebenssachverhalt regelt die Norm? Frage 2: Was ist ihr wesentlicher Regelungsgehalt? = Frage nach der Rechtsfolge Frage 3: Warum gibt es diese Vorschrift(en)? = Was wäre, wenn es diese Vorschrift(en) NICHT gäbe? Frage 4: Wozu sagt die Norm nichts? Die Fragen 1 und 2 sind für den geübten Juristen banal; der Anfänger muss sie sich jedoch erarbeiten. Die Frage 3 zeigt, dass der Ansatz über den Gesetzestext keineswegs gleichzusetzen ist mit einem positivistischen Ansatz. Im Gegenteil: Nur wenn man sich Frage 3 klarmachen kann, dann erkennt man, ob die Norm wichtig oder unwichtig ist. Bei § 32 dStGB (Notwehr) beispielsweise wird dies sofort evident: Ohne Notwehrrecht des Einzelnen entstünde der Krieg aller gegen alle. Der Landfriede wäre dahin und mit ihm der moderne Staat. Bei der Frage, was ohne die Existenz der §§ 25 – 27 dStGB zu „Täterschaft und Teilnahme“ gelten würde42, muss man das ganze Fass der entsprechenden Dogmatik aufmachen. Schließlich zeigt § 298 dStGB: ohne diese Regelung müsste man weiterhin darüber diskutieren, ob das geltende Recht (insbesondere: § 263 dStGB) die „wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen“ erfasst oder nicht. Nach dem Machtwort des Gesetzgebers kann man dies nur noch de lege ferenda tun. Diese Beispiele für Frage 3 mögen genügen. Frage 4 kann man an folgenden Beispielen illustrieren: Das österreichische Strafgesetzbuch enthält in § 4 öStGB den einfachen und klarstellenden Satz „Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt.“ Denkt man sich ihn hinweg, dann drängt sich 40 Am Rande: Für mich selbst war „der Medicus“ ein wirklicher Prüfstein, ob ich reif für das Staatsexamen bin. 41 Vgl. näher Lagodny, Rechtsnormen des StGB suchen, verstehen und auslegen – eine Anleitung für die ersten Schritte im Strafrecht, Wien / Graz, 2007, sowie Lagodny, Den Gesetzestext suchen, verstehen und in der Klausur anwenden – Eine praktische Anleitung für die ersten Schritte im Strafrecht, Öffentlichen Recht und Zivilrecht, Heidelberg u. a. 2008 (im Druck). 42 Bei der Neuregelung des Allgemeinen Teils in der Schweiz hat man ganz bewusst davon abgesehen, Täterschaft gesetzlich zu definieren, vgl. Heine, in: FS Eser, 2005, S. 493, 504 f.

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sofort die eine Frage auf: Brauchen wir dann noch die Maßregeln der Besserung und Sicherung? Sicher nicht, soweit es um Unzurechnungsfähige geht. Diese könnte man dann „bestrafen“. Also folgt daraus letztlich der banal erscheinende Zusammenhang: Das Schuldprinzip (im Sinne des § 4 öStGB, mithin im Sinne eines Anders-Handeln-Könnens) kann man sich nur deshalb leisten, weil es die Maßregeln der Besserung und Sicherung gibt (weil man nur dann weiß, was man mit dem Unzurechnungsfähigen tun darf). Man kann sich aber auch die andere Frage stellen: Gilt das Schuldprinzip überhaupt, wenn es nirgends ausdrücklich geregelt ist (wie in § 4 öStGB). Das waren die Fragen, die man sich in der deutschen Dogmatik lange Zeit gestellt hat, die aber jedenfalls aus heutiger Sicht entbehrlich erscheinen, weil das Ergebnis evident ist.43 In entsprechender Weise kann man den Rechtssatz suchen „Strafbar ist nur, wer rechtswidrig handelt“. Dieser ist dem oben erwähnten § 4 öStGB nachgebildet. Es gibt ihn aber im österreichischen StGB nicht, weil er wohl auch für den österreichischen Gesetzgeber so evident war, dass er nicht ausdrücklich normiert werden musste. Aber jedenfalls aus didaktischen Gründen wäre es zu begrüßen, gäbe es eine solche Norm. Mit ihr könnte man den Studierenden manche Fragen verdeutlichen, insbesondere den Unterschied zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung / Unrecht und Schuld: „nicht rechtswidrig“ heißt schlicht: der Täter „durfte so handeln“. Jedenfalls wäre der erwähnte Rechtssatz sinnvoller als der für Anfänger in seinen Konsequenzen nicht leicht zu durchschauende Umkehrschluss aus gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründen.

IV. Fazit Ich möchte es nicht missen, im deutschen dogmatischen Denken juristisch „sozialisiert“44 worden zu sein. Man kann diese wissenschaftliche Sozialisation durchaus als notwendige Bedingung für ein fruchtbares juristisches Denkfundament begreifen. Die Erträge der deutschen Dogmatik sind für mich unbestreitbar. Sie haben freilich auch eine Kehrseite, tragen sie doch die Gefahr in sich, geradezu blind für deren Überzüchtungen zu machen. Viele „Dogmatiker“ sind so in ihrem Gegenstand gefangen, dass sie wichtige Entwicklungen außerhalb des selbst gewählten „Hamsterrades“ gar nicht mehr wahrnehmen. Die deutsche Spielart der Dogmatik zeigt nämlich zwei wesentliche Züge: Man beschäftigt sich am liebsten mit sich selbst, und man sorgt dafür, dass nur Gesalbte mitreden („Dogmatica se ipsam alet“): Fast jede Kritik wird mit dem Argument abgeblockt, sie verstehe nicht wirklich, was gemeint ist; denn im Grunde erwartet man die dankbare Übernahme deutschen Dogmatikguts, aber doch bitte keine Kritik. 43 Freilich bin ich mir des Problems bewusst, dass die heutige Evidenz auf die früheren dogmatischen Diskussionen zurückzuführen ist. 44 Wie der Jubilar zu Recht betont, ist die juristische Ausbildung ein länger dauernder Sozialisationsprozess, der sich einer nur punktuellen Bewertung entzieht.

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Diese geistige Abschottung wird einem vor allem von der Außenperspektive her bewusst: Die referierten Mahnungen von George P. Fletcher sind fundamental. Schon die Beispiele aus dem Vergleich zwischen österreichischem und deutschem Rechtszustand (bedingter Vorsatz, Verfahrensabsprachen, Zeugnisverweigerungsrecht für Ärzte, Erscheinenspflicht für Verdeckte Ermittler) zeigen, dass sich erhebliche Unterschiede trotz vieler Gemeinsamkeiten ergeben können. Ein Weg zu deren Integration besteht darin, sich vor allem wieder auf den Normtext zu besinnen und Fragen zu formulieren, die banal erscheinen, aber wichtig sind und rechtspolitische wie rechtsdogmatische Spreng- oder Klarstellungskraft in sich tragen: „Was wäre, wenn es diese Norm nicht gäbe?“ und die Frage: „Wozu sagt die Norm nichts?“. Dahinter steckt ein produktiv-kritisches Potenzial. Die Anregung hierzu bekam ich vom Jubilar, der für mich in kongenialer Weise Dogmatik und Didaktik verbindet. Gäbe es nur akademische Lehrer seines Schlages, dann wäre dieser Artikel überflüssig.

„Systemtheorie“ und Wirtschaftsstrafrecht Von Klaus Lüderssen Die „Systemtheorie“ hat seit Jahrzehnten einen festen Platz in der Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie – manche würden vielleicht eher sagen in der „Rechtstheorie“ – und ist in dieser Funktion sichtbar geschieden von anderen großen Konzeptionen wie der „kritischen Theorie“ oder dem „kritischen Rationalismus“, erst recht von bewusst an ältere Traditionen anknüpfenden Strömungen; allenfalls zum Hegelianismus verschiedener Spielarten und Derivate werden Beziehungen konstruiert. Es ist vor allem die Ausklammerung des Subjekts, welche die Geister scheidet, und da Strafrechtler es – jedenfalls vordergründig – vor allem mit menschlichen Handlungen zu tun haben, sind sie selten auf der Seite der Systemtheorie zu finden. Hinter der vorgehaltenen Hand, sozusagen, werden dann doch Verwandtschaften diagnostiziert, wo sie nicht ausdrücklich formuliert sind, so etwa bei Jakobs, der dann freilich abwehrend, wenn überhaupt so etwas für ihn in Betracht zu ziehen sein sollte, auf Hegel verweist. Gegenwärtig scheint sich das zu ändern. Es gibt die Habilitationsschrift von Hans Theile über „Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren – Systemtheoretische Überlegungen zum Regulierungspotential des Strafrechts“1, auch werden – mehr oder weniger ausdrücklich – Fäden gesponnen zu Gunther Teubners Idee vom „Reflexiven Recht“ und den einschlägigen Partien in der faszinierenden „Rechtstheorie“ von Thomas Vesting2. Eine mutmaßlich weithin beachtliche Stellung wird die Systemtheorie – auch in ihrer Beziehung zum Strafrecht – wahrscheinlich einnehmen im Rahmen des Frankfurter Forschungsprojekts über „Die Herausbildung normativer Ordnungen“3. Aber schon lange vorher, in den frühen siebziger Jahren, hat es jemanden gegeben, der mit großer, auch persönlicher Konsequenz für die Rekonstruktion und Lösung strafrechtlicher Probleme die Systemtheorie aufgesucht hat. Das ist Knut Amelung, unser Jubilar, vor allem mit seiner bahnbrechenden Arbeit über „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“4, nahezu gleichzeitig erschienen 2007, noch nicht publiziert. München 2007, S. 3 ff., 57 ff., 116 ff. 3 Ein „Exzellenz Cluster“, dessen Sprecher ein Strafrechtler und Rechtsphilosoph, Klaus Günther, Frankfurt am Main, ist; vgl. Klaus Günther u. a., Die Herausbildung normativer Ordnungen, als Manuskript gedruckt 2007. 4 1972. 1 2

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mit Winfried Hassemers ebenfalls auf den Rechtsgutsbegriff konzentrierten „Theorie und Soziologie des Verbrechens“5, was seinerzeit dann dazu geführt hat, dass beide Autoren sich wechselseitig in einer Ausgabe der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft besprochen haben6 – ein rezensions-politisches Ereignis besonderer Art. Wohl wissend, dass ich nicht in sein „Lager“ gehöre, hat Amelung dann in der aus Anlass meines 70. Geburtstages herausgegebenen Festschrift eine, wie er expressis verbis sagt, „Werbeschrift“ publiziert7 und mich damit zum gründlichen Überdenken meines Standpunktes provoziert. I. Diesen zu behaupten, hat er mir nicht leicht gemacht, denn sein Text ist voller nachdenklich machender Konkretisierungen. Er beginnt mit der Klage, dass man in der Dogmatik der Sonderdelikte noch nicht „die Rollentheorie“ entdeckt habe8. Das Strafrecht sei eben primär an den geistigen Seiten des Lebens orientiert, so dass – wie etwa bei dem Philosophen Nikolai Hartmann, der sich ja einer starken Rezeption unter den Strafjuristen erfreue – die „Schicht des Sozialen“ nicht vorkomme9. Man habe sich allenfalls auf die Kategorie der Institution eingelassen, die aber „stark mit unterschwelligen konservativen Werturteilen belastet“ sei10. Der Begriff der Institution ist es gewesen, der Amelung dann zu Luhmann geführt hat11. Hier könnte ich nun ohne weiteres anknüpfen, denn gerade diese frühe Arbeit Luhmanns hatte auch ich damals entdeckt und, ähnlich wie Amelung, mit der Theorie der Institution verknüpft, wie sie von Maurice Hauriou entwickelt und vor allem von dem Staatsrechtler Roman Schnur in die öffentliche Diskussion eingeführt worden ist12. Mich hat freilich in erster Linie die Nähe zu Carl Schmitt interessiert – konkretes Ordnungsdenken und institutionelles Denken haben nicht nur strukturelle, sondern auch rechtshistorische Gemeinsamkeiten. Dieses heiße Eisen will ich aber jetzt nicht anfassen13, sondern bei Amelungs Einführung der Strafrechtler in die Systemtheorie bleiben, nun mit Blick darauf, 1973. ZStW 87 (1975), 132 ff.; 140 ff. 7 Amelung, Der frühe Luhmann und das Gesellschaftsbild bundesrepublikanischer Juristen – Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte im 20. Jahrhundert, FS Lüderssen, 2002, S. 7 ff. 8 Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 8. 9 Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 8, 9. 10 Ausführlicher Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 9. 11 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1969. 12 Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 9; Lüderssen, FS Lange, 1976, S. 1019 ff., 1036. 13 Die Parallelen zwischen Niklas Luhmann und Carl Schmitt – u n d auch Hans Kelsen – werden inzwischen doch endlich zum Thema, vgl. von der Pfordten, Rechtsethik, 2001, S. 119 f.; Lüderssen, in: Paulson / Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen, Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 264 ff., 270 f. 5 6

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dass „individuelles Verhalten soziale Folgen haben kann, die der individuelle Akteur nicht intendiert“, eine Erfahrung, die jeder Praktiker des Strafrechts macht und die Amelung in einem Schwung über Adam Smith’ „Invisible Hand“ und Hegels „List der Vernunft“ mit der „funktionalistischen Soziologie nach Durckheim und Malinowski“ verbindet14. Dann kommt der Schluss auf Luhmann: Die Ausübung der Grundrechte hat danach „die mehr oder weniger unbewusste Folge, dass soziale Subsysteme entstehen, die jeweils eigenen soziologischen Gesetzlichkeiten folgen. Die latente soziale Funktion von Grundrechten besteht nach Luhmann darin, den Staat dazu anzuhalten, diese Eigengesetzlichkeiten sozialer Subsysteme zu respektieren“15. Es folgt die Auseinandersetzung mit den Kritikern. Amelung unterscheidet konservative und progressive Kritiker. Die konservativen Kritiker nehmen, so Amelung, Anstoß daran, dass Luhmann „den normativen Eigenwert rechtlicher Institutionen“ leugne16. Die „progressive“ Kritik habe mehrere Ansätze. So etwa, dass das „durch die Systemtheorie vermittelte Gesellschaftsbild . . . zu harmonistisch“ sei. Ferner stehe Luhmann dem Postulat im Wege, „Richter müssten genauer die Folgen ihrer Entscheidungen reflektieren“17. Das meine ich nun auch. Aber ein Privileg der „progressiven Rechtssoziologen der sechziger und siebziger Jahre“ sehe ich hier nicht. Folgenorientierung ist ein sehr altes Problem, hat mit individualisierender Gerechtigkeit zu tun. Deshalb bekommt man an dieser Stelle die Zustimmung vieler Juristen. Man verliert sie aber wieder, wenn man mit ihnen darüber spricht, was man vom Menschen wissen muss. Hier beginnt eine neue schwierige Erfahrungswelt, die eher soziologisch und vielleicht auch psychoanalytisch ist als naturwissenschaftlich-anthropologisch. Dass Luhmann übrigens auf diesem Gebiet eine Fülle von Trouvaillen beisteuert, habe ich immer dankbar registriert, doch sie passen nicht recht zum Ganzen. II. So habe ich vor fünf Jahren reagiert auf Amelungs Beitrag. Und jetzt? 1. Nach wie vor kann ich mich nicht anfreunden mit der Vorstellung, dass das Ganze mehr sei als seine Teile (so ähnlich steht es bei Hegel); systemtheoretisch liest das sich so, „dass das Wirken eines Systems gegenüber der Summe der Aktivitäten der in ihm angesiedelten Individuen eine eigenständige Größe darstellt“18. Aber müssen diese Individuen darüber dann zur quantité négligeable werden? Muss man nicht von Kausalität sprechen: sowohl im Sinne der von den Individuen 14 15 16 17 18

Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 9 / 10. Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 10. Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 12. Amelung, FS Lüderssen, 2002, S. 7, 15. Theile (o. Fn. 1) S. 66.

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bewirkten Ereignisse und Prozesse, wie der von Ereignissen und Prozessen auf die Individuen ausgehenden Wirkungen? In der Kriminologie kann man das belegen mit Ätiologien (wobei es keine Rolle spielt, ob es sich dabei um Feststellungen oder Zuschreibungen oder beides handelt); im Strafrecht liefert das Dogma der Täterschaft kraft organisatorischen Machtapparates die beste Anschauung. 2. Wie sehr man in dieser Hinsicht auf die subjektive Lebenswelt des Individuums setzen darf und sollte, lehren nicht zuletzt die jüngsten Erfahrungen mit den Postulaten einer modernen Hirnforschung, die aus den von ihnen verifizierten Netzwerken, weil sie gleichsam unendlich sind, das Ich-Bewusstsein der Menschen ebenso eliminiert wie es die systemtheoretische Soziologie – mit Blick auf die strukturellen Koppelungen der das soziale Leben beherrschenden Netzwerke – in Bezug auf die Person tut. Beide Richtungen sehen Evolutionen am Werk, für die sie entelechiale Sinngebungen beanspruchen, deren Simplizität – Selektion, Arterhaltung, Anpassung – am meisten von dem, was die Menschen interessiert und bewegt, vorbei geht. Jene Hirnforscher sehen in der – nicht bestreitbaren – Unübersteigbarkeit der neuronalen Repräsentation des Geistigen ein Hindernis für die Freiheit. Dass jedoch gerade sie das Ergebnis vielfach determinierter Hirnprozesse sein könnte, hat inzwischen John Searle dargetan: „Zu jedem Zeitpunkt ist der Gesamtzustand des Bewusstseins durch das Verhalten der Neuronen festgelegt, aber von einem Zeitpunkt zum nächsten ist der Gesamtzustand des Systems nicht kausal hinreichend, um den nächsten Zustand zu determinieren. Wenn Willensfreiheit überhaupt existiert, dann als Erscheinung in der Zeit“19. Für die soziologische Systemtheorie fehlt leider noch ein Aperçu vergleichbarer Suggestivität. 3. Stattdessen gibt es aber vielleicht sogar eine „richtige“ Theorie, die in einer Art kongenialem Zugriff die Systemtheorie korrigiert. Gemeint ist die „akteurszentrierte Steuerungstheorie“, die sich in enger Anlehnung an Elemente der Systemtheorie entwickelt hat, und für die ich jetzt meinerseits werbend bei Knut Amelung auftreten möchte. a) Gemeinsam mit der Systemtheorie hat die akteurszentrierte Steuerungstheorie die Erfahrung einer „in über eine autonome Dynamik verfügende Systeme aufgegliederte Gesellschaft“20. Gemeinsam ist ferner der „Perspektivwechsel vom modernen (souveränen) Staat zum kooperativen Staat ( . . . ), der nicht mehr hierarchisch steuert, sondern politische Fragen in intermediären Verhandlungssystemen aushandelt“21. Der Unterschied zur Systemtheorie besteht in Bezug auf die „Einschätzung“, welches „die operativen Elemente der Teilsysteme sein sollen. Die Akteurstheorie entwirft ihre Konzepte vor dem Hintergrund der Handlungen indi19 Freiheit und Neurobiologie, 2004, S. 45; dazu Lüderssen, in: Duncker (Hrsg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, 2006, S. 189 ff., 199. 20 Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 30, unter Bezugnahme auf Mayntz / Scharpf, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995. 21 Becker (o. Fn. 20).

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vidueller und kooperativer Akteure und rückt damit deren Interaktionen innerhalb des institutionalisierten, funktional differenzierten Sinnzusammenhangs in den Mittelpunkt. Gesteuert werden nicht operativ geschlossene Operationssysteme, sondern individuelle und kollektive Akteure“22. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die akteurszentrierte Steuerungstheorie „für eine ,neue Staatlichkeit‘ oder eine ,neue Architektur des Staates‘“ eintritt, „womit sie neue institutionalisierte Kooperations- und Kommunikationsformen zwischen wichtigen sozialen Akteuren und politisch organisierten Interessen einerseits, sowie im Staat bzw. staatlichen Untergliederungen andererseits einfordert“23. b) Im öffentlichen Recht wird die Konzeption der akteurszentrierten Steuerungstheorie längst aufmerksam registriert und zu ihren Konsequenzen entwickelt. Gegenwärtig ist es die „Governance-Forschung“24, die das deutlich macht. „Die governance-bezogene Perspektive“, schreibt der Richter am Bundesverfassungsgericht, Hoffmann-Riem, „erlaubt insbesondere Neuvermessungen der Arbeits-, Funktionen- und Verantwortungsteilung zwischen staatlichen, staatlich-privaten (hybriden) und privaten Akteuren“25. Auf einer höheren Abstraktionsebene gleichsam geht es darum, „dass Regieren heute nicht mehr in einem durch das Paradigma der strikten Trennung von Staat und Gesellschaft . . . geprägten Verhältnis des Umgangs mit sozialen Problemen und Konflikten erfolgt“26. Das bedeutet, dass „für die Lösung sozialer Probleme . . . sich das Modell hierarchischer Über- und Unterordnung auf dem Rückzug“ befindet27. Substanziell ist das eine praktische Folge der „in der Politik und staatsrechtlichen Diskussion . . .“ schon seit längerer Zeit registrierten Entwicklung, „dass verständigungsorientierte Kommunikationen faktische Bedeutung im Prozess der Politikformulierung gewinnen“28. c) Diese Situationsbeschreibung findet ihre Bestätigung in einer breiten rechtstheoretischen und staatsrechtlichen Diskussion über das Vordringen „kooperativer und konsensualer Strukturen in der Normsetzung“29. „Das Interesse gilt der Vielfalt der real existierenden Steuerungsmodi. Aus der Perspektive des Staates geht es in neo-kooperativen Arrangements darum, organisierte soziale Gruppen dazu zu bewegen, sich aus eigenem Interesse heraus gemeinwohlverträglich selbst zu regulieren“30. „Dabei sind „informelle und dezentrale interorganisatorische Beziehungen von Bedeutung“31. Mit anderen Worten, es geht darum, „ein enges ZusammenBecker (o. Fn. 20). Becker (o. Fn. 20). 24 Vgl. den von Schuppert unter diesem Titel herausgegebenen Sammelband, 2. Aufl., 2006. 25 In: Schuppert (o. Fn. 24), S. 195 ff., 196. 26 (O. Fn. 25), S. 198. 27 (O. Fn. 25), S. 201. 28 Schuppert, in: Schuppert (o. Fn. 24), S. 371 ff., 449. 29 Vgl. den Titel des bereits zitierten Buches von Becker (o. Fn. 20). 30 Schuppert (o. Fn. 24), S. 379. 22 23

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spiel zwischen privaten und öffentlichen Akteuren zu ermöglichen und durch diese Integration die Steuerungsressourcen auf eine größere Zahl von Akteuren zu verteilen“32. 4. An dieser Entwicklung müssten Strafrecht und Strafprozessrecht, weil sie auch zum öffentlichen Recht gehören, eigentlich Anteil haben, es sei denn, es gibt besondere Gründe für die Aufrechterhaltung hierarchisch-obrigkeitlicher Strukturen in diesem Bereich. Doch weshalb sollte gerade dieser Teil der dritten Gewalt in einem so entscheidenden Punkte von den beiden anderen Gewalten – Gesetzgebung und Regierung / Verwaltung – abweichen? a) Beginnen wir bei dem materiellen Strafrecht. Mit der Entwicklung der Lehre vom Rechtsgut wird die Trennung des „öffentlichen Strafanspruchs“ von der Staatsräson vollzogen. Nicht, weil der Staat Gehorsam für seine Normen verlangen darf, wird – in gravierenden Fällen des Verstoßes – gestraft, sondern weil er durch diese Normen primär Rechtsgüter schützt, die mit seinen direkten Interessen nicht identisch sind33. Das Öffentliche am Strafanspruch bezieht sich nur mehr auf ein Gemeinwohl, an dem sich die Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter orientieren muss. Wenn es jetzt in der öffentlichrechtlichen Literatur heißt: Indem der Staat „mit der Jahrhunderte lang maßgeblichen Vorstellung eines material definierten Gemeinwohls brach, das der Staat mit seiner überlegenen Einsicht zu formulieren, ohne Rücksicht auf individuelle Lebensentwürfe durchzusetzen hatte, setzte sich ein „Begriff des Gemeinwohls“ durch, das man „gerade umgekehrt aus der Freisetzung der Individuen zur Verfolgung ihrer eigenen Vorstellungen und Interessen, freilich im Rahmen der gleichen Freiheit jedes anderen, erwartete“34 – dann ist die Parallele zur Entwicklung des materiellen Strafrechts mit Händen zu greifen. Wenn Enthierarchisierung also auch hier angezeigt ist, dann müssen kooperative und konsensuale Elemente schon für die Legitimation der Rechtsgüter eine Rolle spielen, und dieser Prozess wäre fortzusetzen bei der Konstitution der Zurechnungsstrukturen und ihrer Anwendung. Offiziell geschieht das noch nicht, wohl aber inoffiziell durch die Verständigungen im Strafverfahren, die sich auf alle Bereiche der Begründung der Strafbarkeit und der Strafzumessung erstrecken35. b) Die verfahrensrechtliche Konsequenz kann man mit den Öffentlichrechtlern getrost „regulierte Selbstregulierung“ nennen. Was das für die Frage der Unabhängigkeit der Richter und das Reizwort der „Demokratisierung“ der Justiz bedeutet, Schuppert (o. Fn. 30). Schuppert (o. Fn. 30). 33 Spätestens mit den politisch-philosophischen Wandlungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist diese Schwerpunktbildung abgeschlossen, vgl. Würtenberger, Das System der Rechtsgüterordnung in der deutschen Strafgesetzgebung, 1933. 34 Grimm, in: Regulierte Selbstregulierung als Steuerung vom Trend des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung, Band 4, 2001, S. 9 ff. 35 Genauer dazu Lüderssen, in: FS Hamm, 2008, S. 419 ff., 428 ff. 31 32

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ist an anderer Stelle ausgeführt36. Man wird abwarten müssen, wie die Entwicklungen, die damit angestoßen sind, verlaufen werden. Die Strafrechtspraxis ist der Theorie hier weit voraus, beruft sich dafür freilich im wesentlichen nur auf prozessökonomische Gründe. c) Dass damit nicht alles erklärt werden kann, zeigen nun endgültig die Diskurse im Wirtschaftsstrafrecht, indiziert durch die Wahrnehmung, dass „an die Stelle einer bislang mit strafrechtlicher Kriminalprävention verbundenen Fremdregulierung ( . . . ) die Selbststeuerung von Unternehmen“ trete37. Systemtheoretisch bedeutet das, dass das Strafrecht hierbei „zwingend“ die „Eigengesetzlichkeit“ der vertraglichen Umwelt, in der die Unternehmenstätigkeit (von der vermutet wird, dass sie strafbar ist) stattfindet, in Rechnung stellt. Bewegt man sich dabei auf einer etwas allgemeineren Ebene, so heißt das: „Stets muss das Strafrecht in einem sozialen System Wirkungen entfalten, das einem gänzlich anderen Operationscode gehorcht und durch eine ganz andere Erwartungsstruktur gekennzeichnet ist“38. Dieser andere Operationscode findet inzwischen längst in den so genannten Unternehmensrichtlinien vielfachen Ausdruck. Hier stößt man nun auf den Einfluss der ökonomisch-philosophischen Unternehmensethik, deren Konzeptionen durchaus von systemtheoretischen Erwägungen bestimmt sind, dabei aber die Akteure nicht ausklammern, so dass eine große Nähe zur akteursorientierten Steuerungstheorie registriert werden kann. aa) Natürlich kann es sich nur um Verantwortungsethik handeln39. Das Stichwort ist „Folgenorientierung“, und damit ist auch zugleich das gemeinsame Segment von Ethik und Recht bezeichnet. Im Grunde sind die meisten unternehmensethischen Fragen in Wahrheit Rechtsfragen. Um so wichtiger ist es deshalb, die Abgrenzung zur Gesinnungsethik klar heraus zu arbeiten. Dort, wo das Wort Gesinnung nur darauf verweist, dass der Akteur Bescheid gewusst, auch die Folgen eingeschätzt hat, gibt es keine Abweichung von der Verantwortungsethik. Bei irrigen Annahmen darüber, was passieren könne und einem dementsprechenden guten Gewissen, könnte es schon anders aussehen, wenn dieses gute Gewissen verabsolutiert, nach Vermeidbarkeit des Irrtums gar nicht gefragt wird. Manchmal wird von Gesinnungsethik auch in dem Sinne gesprochen, dass das Gefühl, einer Pflicht zu genügen, entscheidend sei. Wenn diese Pflicht aber auf die Erreichung „guter“ Folgen gerichtet ist, relativiert sich der Unterschied, und wieder wird es so sein, dass erst das gleichsam ungeprüfte Pflichtgefühl die Rubrik der Gesinnungsethik eröffnet. Die entscheidende Abgrenzung ist also erreicht, wenn man, gleichviel, was der Gegenstand der Pflicht ist, das Gefühl, pflichtgemäß zu handeln, für ausschlagLüderssen, in: FS Fezer (im Erscheinen). Theile, Unternehmensrichtlinien – Ein Beitrag zur Prävention von Wirtschaftskriminalität? – Ein vom Verfasser mir liebenswürdiger Weise überlassenes Manuskript. 38 Theile (o. Fn. 37), S. 15. 39 Seit Max Weber ein geläufiger Begriff (vgl. Politik als Beruf). 36 37

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gebend erklärt. Es ist wichtig, die Fälle reiner Gesinnungsethik in diesem Sinne auf ihr Minimum zu reduzieren, weil mit dem Ausdruck „Gesinnung“ oft leichtfertig umgegangen wird. Dort, wo im Wirtschaftsleben von Integrity die Rede ist, kommt es – sieht man genauer hin –auch fast immer auf Folgenorientierung an. Man will nur sicher stellen, dass die auf die Vermeidung unguter Folgen und die Erreichung guter Folgen gerichtete Intention das Relevante ist, als Garant gleichsam gegen den Zufall. Am leichtesten kann man sich das klar machen anhand der Unterscheidung von Vorsatz und Gesinnung im Strafrecht: Der Vorsatz ist immer erfolgsbezogen und damit bereits ein Element der Verantwortungsethik. So und nicht anders dürfte Integrity gemeint sein40. bb) Problematischer ist das Verhältnis zwischen externen und internen Faktoren der Unternehmensethik. Diese Aufteilung ergibt sich dann, wenn das Unternehmensinteresse so eng definiert wird, dass schon ein gewissermaßen normaler Altruismus nicht mehr dazu gehört. Dann erhebt sich die Frage, ob etwas, wiewohl es nicht im Unternehmensinteresse liegt, doch geboten sein könnte. Man kann sich Unternehmen vorstellen, die sich auch einer nicht direkt auf ihre Aufgaben bezogenen Moral unterwerfen wollen. Das wären dann die externen Faktoren. Man kann das Unternehmensinteresse aber auch so umfassend begreifen, dass vielleicht sogar das private moralische Verhalten seiner Repräsentanten insoweit eine Funktion hat. Wäre das eine gleitende Skala von mehr oder weniger Moral, könnte man für die prinzipielle Erörterung die Frage offen lassen und den Einzelfall abwarten. Vergegenwärtigt man sich, dass es eine Unternehmensethik gibt, die in der wechselseitigen Nutzenmaximierung ein Prinzip der – wettbewerbsorientierten – Interessenabgrenzung und damit vernünftigen Güterverteilung sieht, ist hingegen ein qualitativer Sprung zu vermuten, und dies wohl auch dann noch, wenn die Bindung des Nutzenmaximierers an Normen die wechselseitige Erwartungssicherheit erhöht und damit auch im Unternehmensinteresse liegt. Wenn umgekehrt die externen Faktoren ihrerseits nun so definiert werden, dass auch ökonomische Effekte mit gemeint sind, vermischen sich die externen mit den internen Faktoren. Die Grenze dafür ist sicher dort erreicht, wo die Vereinnahmung eines ethischen Interesses als Unternehmensinteresse als bare Ideologie oder Hypokrisie erscheint, als Anmaßung gewissermaßen, als künstliche Integration, um jenen impliziten Ethik-Effekt zu erreichen. Zugespitzt formuliert: Entweder das Unternehmensinteresse oder das Moralkriterium wird strapaziert. Den archimedischen Punkt in der Mitte zu finden, ist das Problem. Wie auch immer die Theorie der Zusammenführung von ökonomischen und ethischen Regeln aussehen mag – das Resultat bleibt unsicher. Keineswegs wäre bei einer überwiegend ökonomischen Orientierung ohne weiteres anzunehmen, 40 Dass „falsche“ Orientierungen – psychologisch gesehen – klassische Anwendungsfälle der von der Kriminologie apostrophierten Neutralisationstechnik sind, hat Theile (o. Fn. 37) sehr schön herausgearbeitet (S. 6, 9) mit interessanten Beispielen aus der Bestechungskriminalität.

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dass damit ein Konflikt mit dem Strafrecht vorprogrammiert wäre, noch wäre bei einer überwiegend extern motivierten Ethik von vornherein die Vereinbarkeit mit dem Strafrecht zu vermuten. Das Strafrecht hat eine soziale Funktion, bezogen auf wirtschaftliche Sachverhalte sogar auch eine ökonomische. Es ist daher sehr gut denkbar, dass es vor einer gleichsam höheren Vernunftökonomie zurückweicht. Moralische Impulse hingegen können weit über das hinaus gehen, was das Strafrecht sich zum Ziel setzen darf, können vielleicht sogar aus strafrechtlicher Sicht kontraindiziert sein, weil sie verantwortungsferne reine Gesinnungen mobilisieren, Integrity um jeden Preis, sozusagen. In diesem Punkt sehr weit zu gehen, kann durchaus als ökonomisch erscheinen, etwa unter dem Aspekt eines langfristigen good will. Dann freilich – wenn diese Kalkulation wirklich besteht – ist wieder das Unternehmensinteresse erreicht und die Frage an dessen Definition zurück gegeben. cc) Ob die Unternehmensethik affirmative oder alternative Wege zum Wirtschaftsstrafrecht beschreitet, ist also derzeit noch ganz offen. Die Muster der bereits existierenden Unternehmensrichtlinien sind insoweit auch nicht aussagekräftig; sie sind, scheint mir, unternehmensethisch nicht ausgereizt, sondern unter dem Druck entstanden, political correctness vorzuführen, und da ist die Versuchung groß, einfach einen vorauseilenden, vielleicht sogar übereifrigen strafrechtlichen Gehorsam zu produzieren. Die Ergebnisse einer kürzlich vorgelegten Analyse von Unternehmensrichtlinien sind denn auch mindestens ambivalent: In den Anfängen seien die Unternehmensrichtlinien allerdings als „viel versprechende Alternative zum Strafrecht“ angesehen worden41. Aber in den letzten Jahren ist diese Einschätzung offenbar revidiert worden42. Eher überwiege doch die strafrechtsstützende Funktion mit Blick beispielsweise auch auf die Ausschließung des Verbotsirrtums bei Verstoß gegen Richtlinien und eine Strafschärfung nach 46 StGB, wenn es Richtlinien gegeben hat. Außerdem wird dann allerdings auch noch die Internationalität betont, also die Übereinstimmung der Unternehmensrichtlinien und der Regeln einer ökonomischen Weltgesellschaft, mit der Folge einer zusätzlichen Präventionswirkung43. Eine Kongruenz wird auch angenommen, wenn das Unternehmen „selbst Adressat strafrechtlicher Sanktionen“ wird, vor allem dann, wenn „der Installation eines effektiven Compliance-Programms eine strafmildernde Wirkung zukommt“44. In welche Schwierigkeiten man gerät, zeigt die Abwägung, vor die ein Unternehmen gestellt ist, wenn „unter den Bedingungen eines weltweiten Wettbewerbs um Marktanteile einer allenfalls langfristig erwartbaren Sanktion größere Bedeutung“ zuzumessen ist, als „einem kurzfristig angestrebten wirtschaftlichen Erfolg“. Exemplifiziert wird das mit Korruption45. 41 Theile (o. Fn. 37), S. 10, unter Bezugnahme auf Hassemer, StV 1994, S. 36 ff.; StV 1995, S. 489 f.; Sessar, MSchrKrim, Band 80 (1997), 14 ff. 42 Bussmann, MSchrKrim, Band 86 (2003), S. 101; dazu Theile (o. Fn. 37), S. 11. 43 Theile (o. Fn. 37), S. 19. 44 Theile (o. Fn. 37), S. 19. 45 Theile (o. Fn. 37), S. 19 / 20.

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Zur Zeit seien die Bestechungsfälle ganz klar. Aber „die momentane mediale Empörungswelle“ könne auch verebben, und dann gebe es wieder zwei Rechnungen: „fehlende wirtschaftliche Erfolge“ oder Einhaltung der „Verhaltensvorgaben“ – und die Frage sei, was prävaliere46. Auch auf den Verkaufsfaktor kommt die Rede. „Da nur funktioniert, was funktional ist, liegt die Vermutung nahe, dass Richtlinien vor allem mit Blick auf die Gewinninteressen von Unternehmen funktional sind“47. Andererseits wird doch ein ,normativer Overkill’ für möglich gehalten, dann nämlich, „wenn die in den Richtlinien formulierten strafrechtlichen Elemente mit wirtschaftlicher Systemrationalität schlechthin unvereinbar wären“, und dafür wird ausdrücklich Bezug genommen auf Forschungen „der neuen Institutionenökonomie“48. Die strafrechtliche „normative Erwartungsstruktur“ stelle sich dann „(betriebs)wirtschaftlich als dysfunktional“ dar49. Die Lösung, „wirtschaftliche Verluste als ,Sonderposten Strafrecht‘ in den Bilanzen abzuschreiben“, wird als unwahrscheinlich bezeichnet50. Noch interessanter ist die Formulierung, dass es sich bei den Unternehmensrichtlinien um wirtschaftliche Programme handele und damit um „wirtschaftliche Kommunikationen, bei denen die zentrale Frage darin besteht, ob und inwieweit ein im Code ,gewinn / verlustorientierte Kommunikation‘ sich ,strafrechtlich aufladen‘ lasse“51. Soviel kann man danach jedenfalls schon sehen: Im Wirtschaftsstrafrecht kann es offenbar in der Tat passieren, dass das klassische, an Handlungen sich knüpfende Strafrecht die Gestalt einer regulierten Selbstregulierung annimmt. dd) Was dabei der Selbstregulierung überlassen wird, ist einerseits das Soft Law: Corporate Governance, Ethik-Codes bestimmter Branchen, beides in „Unternehmensrichtlinien“ wiederkehrend, oder das Hard Law52: die Präventionsund Kontrollwirkung des zivilen Vertrags- und Deliktsrechts, die Akzeptanz der Wirtschaftsaufsicht. Das Strafrecht tritt erst bei der Regulierung dieser – strafrechtsfreien – Selbstregulierungen auf. Das heißt, es kann nicht obrigkeitlich hieTheile (o. Fn. 37), S. 20. Theile (o. Fn. 37), S. 25. 48 Theile (o. Fn. 37), S. 17 mit Belegen. 49 Theile (o. Fn. 37), S. 17. 50 Theile (o. Fn. 37), S. 17. 51 Theile (o. Fn. 37), S. 18; das erinnert an die Formulierung von Pieth, in: FS Jung, S. 717 ff., dass die Moral zum Verkaufsargument wird im Rahmen „einer Strategie zur längerfristigen Gewinnmaximierung“ (S. 717). 52 Ihm gegenüber ist das Strafrecht sekundär. In der Festschrift für Albin Eser (München 2005) habe ich das an einigen Beispielen gezeigt (Primäre oder sekundäre Struktur des Strafrechts, S. 163 ff.). Weiteres Beispiel: Die Beschränkung der Haftung auf Erteilung pflichtwidriger Weisungen, die § 309 Abs. 2 Satz 1 Aktiengesetz ausspricht, kann das Strafrecht nicht mit einem Unterlassungsdelikt kompensieren (dazu Langkeit, in: FS Otto, 2007, S. 649 ff., 656. Zu einschlägigen Fällen aus dem Insider-Strafrecht vgl. Vogel, in: FS Jakobs, 2007, S. 731 ff. 46 47

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rarchisierend sich einschalten. Vielmehr sind „konsensuale Selektionsmechanismen ( . . . ) der Ausdruck dafür, dass das Strafrecht ( . . . ) sich auf eine Ebene der Gleichordnung begeben muss, wenn es um die strafprozessuale Regulierung der Wirtschaft geht“53. Weiter: „Dass eine strafprozessuale Regulierung zunehmend auf der Basis eines Verhältnisses der Gleichordnung erfolgt, zeigt sich vor allem an dem im Wirtschaftsstrafverfahren anzutreffenden dialogisierenden Verfahrensstil, den eine deutliche Affinität zu konsensualen Selektionsmechanismen auszeichnet. Demgegenüber stellen sich strafprozessuale Maßnahmen mit Eingriffscharakter wie Durchsuchungen und Festnahmen zwar noch als Ausdruck eines traditionell hierarchischen Verhältnisses zur Über / Unterordnung im Verhältnis zur Wirtschaft dar; sie belegen aber gleichzeitig, dass das Strafrecht offenbar an Grenzen stößt, wenn es um eine strafprozessuale Regulierung von Wirtschaftskriminalität geht. Empirische Befunde deuten insoweit darauf hin, dass die innerstrafprozessuale vorgängige oder nachgängige Kontrollmöglichkeiten ignorierende Praxis bei diesen Maßnahmen insgesamt unterkomplex operiert und eine dysfunktionale Diskrepanz zwischen den Vorgaben des formellen prozessualen Programms und des Verfahrens auszumachen ist“54. Der neue Verfahrensstil ermögliche „eine Intensivierung“ der „intersystemischen Beziehungen, in dem die jeweiligen kommunikativen Selektionen von vornherein an den prozessualen und systemischen Interessen der anderen am Verfahren Beteiligten ausgerichtet werden“. Diese „Rücknahme des strafrechtlichen Regulierungsanspruchs“ müsse „keineswegs auf einen Verzicht jeglicher Regulierung hinauslaufen ( . . . ), da andere Rechtsgebiete wie das außerstrafrechtliche öffentliche Recht oder das Zivilrecht prinzipiell an die Stelle des Strafrechts treten, und hierbei besser als das Strafrecht an die Systemrationalität der Wirtschaft anknüpfen könnten ( . . . ). Dementsprechend wird immer wieder und mit Recht darauf hingewiesen, dass wirtschaftliche Fehlentwicklungen mit genuin wirtschaftlichen und eben nicht strafrechtlichen Mitteln korrigiert werden sollen, zumal die zu außerstrafrechtlichen Rechtsgebieten gehörigen Verfahrensgänge einen geringeren Grad an Formalisierung aufweisen, ohne dass hiermit zwingend ein Verlust an Rechtsstaatlichkeit verbunden wäre“55. Allgemeiner formuliert bedeutet das, „dass Strafverfolgungsbehörden und Gerichte unter den Bedingungen einer in verschiedene selbstreferenzielle und autopoetische Systeme ausdifferenzierten Wirtschaft den staatlichen Strafanspruch nicht kausal durchsetzen können“56. III. Das ist Zukunftsmusik. Ob Amelung in seiner beharrlichen Verbundenheit mit der Systemtheorie, sie beifällig vernimmt? Hören wir zunächst, wie es systemtheo53 54 55 56

Theile (o. Fn. 1), S. 382. Theile (o. Fn. 1), S. 384. Theile (o. Fn. 1), S. 422. Theile (o. Fn. 1), S. 404.

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retisch weiter geht. Es ist das reflexive Recht, das nunmehr vorgeschlagen wird. „Dieses Konzept beruht in seinem Ausgangspunkt auf der durch die erhobenen empirischen Befunde belegten Feststellung, dass angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene autonome soziale Funktionssysteme jeder Versuch einer kausalen rechtlichen Einwirkung auf andere Systeme entweder irrelevant ist, oder aber dies integrierende Wirkungen auf das intervenierte oder das intervenierende System haben muss (so genanntes regulatorisches Dilemma)“57. 1. Das klingt interessant. Aber auf die bange Frage, „wie der auf systeminterne Reflexion zurückgenommene, aber keineswegs aufgegebene Regulierungsanspruch angesichts der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung extern umgesetzt werden kann“58, wird die Antwort schwierig. „Der Begriff der strukturellen Koppelung“ rückt „in das Zentrum der Überlegungen“59. Der Versuch, dabei immer noch die Personen auszuklammern, mündet in der Idee, „dass sämtliche soziale Systeme den Grundstoff ,Sinn’ benutzen“60. Abstrakt soll dieser Begriff des Sinnes allerdings nicht bleiben, und man wird deshalb den Menschen schon brauchen, denke ich, so wie es die akteurszentrierte Steuerungstheorie ja auch versucht. Wenn sich Amelung für diese Korrektur (oder vielleicht auch Weiterentwicklung der Systemtheorie) nicht gewinnen lässt, muss er das Strafrecht dort, wo es Systeme treffen soll, ganz zurücknehmen. Es bleibt dann freilich noch viel übrig. Auch im Wirtschaftsleben gibt es die viele Zwischenglieder überspringende Relevanz der Handlung des Einzelnen, etwa des betrügerischen Bankrotteurs, allgemeiner ausgedrückt, aller derjenigen, die ihre Stellung im Wirtschaftsleben ganz egoistisch missbrauchen. 2. Man könnte die Systeme natürlich auch mit dem erreichen was man Unternehmensstrafrecht nennt. Die Einwände aus dem Gesichtspunkt der nur persönlich begreifbaren subjektiven Zurechnung (oder Schuld) sind hinreichend erörtert und meines Erachtens überzeugend61. Bleibt ein Interventionsrecht, das nicht auf Schuld abstellt. Aber ohne die handelnden Organe anzuvisieren, hat das eigentlich auch keinen Sinn, so dass wir wieder bei der akteurszentrierten Steuerungstheorie wären. Akzeptiert man sie, so könnte der zwischen Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht einerseits, Zivilrecht und öffentlichem Recht andererseits sich eröffnende Weg des Interventionsrechts durchaus beschritten werden. 3. Der weitgehende Verzicht auf direkte Steuerung zugunsten jener, wie wir jetzt vielleicht sagen können, strafrechtlichen Regulierung einer auf Corporate GoverTheile (o. Fn. 1), S. 409. Theile (o. Fn. 1), S. 412. 59 Theile (o. Fn. 1), S. 412. 60 Theile (o. Fn. 1), S. 412. 61 Vielleicht ist es bezeichnend, dass man bei dem größten gesellschaftlichen System, dem Staat, eine systemtheoretische Lösung nie erwogen hat. Das gegenwärtig sich sehr entwickelnde Völkerstrafrecht sucht – auch bei mit unübersehbaren Wirkungen einher gehenden Katastrophen – nach den höchst-persönlich verantwortlichen Menschen. 57 58

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nance und außerstrafrechtliche Vorschriften gegründeten Selbstregulierung entspräche einer Tendenz im Wirtschaftsstrafrecht, die die alltägliche Strafverfolgung auf diesem Gebiet skeptisch beobachtet62. Wenn das Strafrecht aber nicht steuern soll, was soll es dann? Soll es sich darauf beschränken, rückwirkend zu vergelten? Nicht wenige Kritiker des strafrechtlichen Steuerungsanspruches sehen diese Konsequenz und finden nichts dabei, obwohl man sie keineswegs alle auf der Seite der absoluten Straftheorien verbuchen kann, einige vielmehr in anderen Kontexten durchaus von Resozialisierung und weiteren relativen Strafzwecken sprechen. Diese Literaturlage philologisch zu untersuchen ist hier nicht der Ort. Aber dass Prävention als Aufgabe des Strafrechts nicht gleichgesetzt werden muss mit einem Steuerungsanspruch des Staates, sollte doch vielleicht etwas deutlicher gemacht werden. a) Die Diskussion ist belastet durch eine starke Polemik im öffentlichen Recht gegen den Sicherheitsstaat, und dann fällt auch das Wort Präventionsstaat. Wer als Strafrechtler aus berechtigter Sorge über rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklungen im strafprozessualen Ermittlungsverfahren, etwa auch mit Blick auf seine Abgrenzung von polizeilichen und geheimdienstlichen Aufgaben der Gefahrenverhütung, in die allgemeine Klage über zuviel Prävention einstimmt, scheint in Legitimationsnöte zu geraten, wenn er gleichzeitig die Prävention als Strafzweck verteidigt. b) Man könnte innerhalb des Begriffs der Steuerung Abstufungen machen, intensivere und weiter ausgreifende Steuerung von vorsichtigerer und begrenzter Einflussnahme unterscheiden. Aber das sind schwimmende Grenzen. Eine überzeugende Abklärung der Differenz scheint sich vielmehr nur hinsichtlich der verschiedenen Ziele anzubieten. aa) Bei Generalprävention durch Androhung kann man noch nicht von Steuerung sprechen. Wohl aber bei Generalprävention durch Verurteilung und Vollzug; beides ist nun aber verfassungsrechtlich so bedenklich und vielfach kritisiert, dass man diese Seite der Generalprävention beiseite lassen kann. bb) Es bleibt also die Spezialprävention. Sie müsste ein Stück Unternehmenspolitik werden, wenn man einmal unterstellt, dass das eines der Ziele ist, auf das sich Steuerung in der Wirtschaft richten könnte. (1) Bei dem spezialpräventiven Zweck, der darin besteht, dass der Täter von weiteren Straftaten abgeschreckt werden soll, wird dieses Ziel nicht sichtbar. Das gleiche gilt für den spezialpräventiven Zweck, der in der Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter liegt, etwa indem man ihn eine Weile einsperrt. (2) Anders könnte es bei der Resozialisierung liegen. Der Täter soll durch die Strafe motiviert werden, sein Verhalten so einzurichten, dass er keine Straftaten 62 Anders wohl Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht. Einführung und Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 2007, S. 32 ff.; dazu allerdings die einschränkende Interpretation Tiedemanns bei Lüderssen, in: FS Tiedemann, 2008, S. 889 ff., 892.

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mehr begeht. Dafür werden spezielle Maßnahmen aufgeboten – jedenfalls ist das das Konzept. Wer wegen Untreue verurteilt worden ist, soll also lernen, in Zukunft ein geschäftliches Verhalten an den Tag zu legen, das nicht diesen Vorwurf wieder auf sich zieht. Täter, die diese Erwartungen erfüllen, nehmen – das könnte man schon sagen – in diesem Sinne auf die Unternehmenspolitik, also auf die Art und Weise, wie Geschäfte in Angriff genommen und durchgeführt werden, Einfluss. Insoweit könnte man von einer Steuerungsfunktion der resozialisierenden Strafe sprechen. c) Aber ist das gemeint, wenn man allgemein von der Funktion des Strafrechts, das Wirtschaftsleben zu steuern, spricht? Sind die Ziele nicht doch genereller, und vor allem nicht auf die Einwirkung auf einzelne Personen beschränkt? Eine starke Vermutung geht dahin, dass vor allem an die Einflüsse gedacht wird, die – unabhängig von dessen Ergebnis – vom Strafverfahren ausgehen. Staatsanwälte, die in speziellen Dezernaten für Umweltstrafrecht tätig gewesen sind, sollen gelegentlich gesagt haben: Zu einer Verurteilung hat es nicht gereicht, aber wir haben die Vorstandsetagen ausgewechselt. Von den Staatsanwälten, die gegen leitende Angestellte der Medizinprodukte-Industrie ermittelt haben (wegen Bestechung und Untreue), heißt es, sie seien mit dem Plan angetreten, das Gesundheitswesen in Ordnung zu bringen. Wenn so etwas mit Steuerung gemeint ist, ist die Antwort leicht: sie ist unzulässig, und am Ende erledigt sich das Problem auf diese Weise. Steuerungszwecke, die über die restriktive Welt, auch des präventiven Strafrechts, hinaus gehen, können nicht gemeint sein. Was an Steuerung dann noch übrig bleibt, ist nicht anstößig. 4. Ob Knut Amelung dem zustimmen kann? Die „reine“ Systemtheorie kann in weiten Bereichen des Wirtschaftslebens Sanktionen eigentlich nur in Gestalt eines von Vorwürfen gegen Subjekte freien Interventionsrechts empfehlen. Darauf könnte man sich ja durchaus einigen und im übrigen das Strafrecht dort, wo es nur Regulierung der Selbstregulierung sein kann, abschaffen. Der Kompromiss, durch Kooperation die Ware Strafrecht auch hier wenigstens verhandelbar zu machen, so lange man es noch nicht ganz entbehren zu können glaubt, setzt bereits Akteure voraus; Amelung müsste also gegebenenfalls der akteurszentrierten Steuerungstheorie näher treten. Er wird zögern, vermute ich, sollte dann aber bedenken, dass damit auch akteursorientierte Sanktionen, die in anderen Rechtsgebieten, im Zivilrecht und vor allem im Gesellschaftsrecht vorgesehen sind, funktionslos werden, wenn sie auf autopoetische Systeme treffen, so dass alles dem selbstreflexiven Recht überlassen bleibt. Was das im Einzelnen sein könnte, möchte man nun vielleicht wissen und am liebsten Knut Amelung fragen – aber doch wohl eher im Rahmen einer weiteren Untersuchung.

Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht? Von Hans-Ullrich Paeffgen

Einem wissenschaftlich und persönlich hochgeschätzten Kollegen, dem ich in den arbeits-, aber anfangs auch erfolgreichen und schönen Jahren1 der Neugründung der Dresdener Juristischen Fakultät habe zur Seite stehen dürfen – und gerade auch um dessentwillen mich mein Fortgang besonders geschmerzt hat.

I. Preludium Recht hat mit sozialen Gegebenheiten zu tun und soll diese gestalten – und gleichzeitig gestalten soziale Begebenheiten das Recht. Aber bisweilen haben auch bloße Vorstellungen und Fehlvorstellungen von Gegebenheiten eine die Rechtspraxis, bisweilen sogar das Recht beeinflussende Dimension. Die sogenannte Halsband-Affäre der französischen Königin Marie-Antoinette 2 empörte die bürgerliche Klasse und das „Prekariat“3 in einem Maße, daß es den Weg in die französische Revolution vorzeichnete. Denn obwohl die Königin in concreto unzutreffenderweise der maßlosen Verschwendungssucht geziehen wurde (eben des Erwerbs eines unglaublich teuren Halsbandes aus lupenreinen Diaman1 Lt. Christiane Sommer, „Juristic-Parc“, manager magazin 2 / 97 vom 1. 2. 1997, 138 (144), wurde die neugegründete Fakultät im Ranking der bundesrepublikanischen Juristischen Fakultäten als beste der Neuen Bundesländer eingestuft. Leider haben Universitätsspitze und die übrigen Fakultäten über Lippenbekenntnisse hinaus nichts für den Erhalt der exzellent eingeschlagenen Fakultät getan, als es, wie schon einmal, um deren Schließung gehen sollte. Obwohl dort die finanziell geringsten Einsparpotentiale steckten, war man gemeinhin froh, die „Störenfriede“, die so häufig – auch inneruniversitär – auf die Beachtung rechtlicher Regeln pochten, loszuwerden. (Vielleicht aber kann sie jetzt wenigstens noch mit einer Restfunktion weitervegetieren.) I.ü. darf ich auf Fn. 73 in meinem Beitrag in der KüperFS, 2006, S. 389, 408 verweisen. 2 Vgl. etwa (romanhaft) A. Dumas d. Ä., Das Halsband der Königin; Lernet-Holenia, Das Halsband der Königin, 1962; (wissenschaftlich) Helmut Mathy, Die Halsbandaffäre – Kardinal Rohan und der Mainzer Kurfürst, 1989. 3 . . . wie man heute euphemistisch zu sagen beliebt, – wahrscheinlich, weil es sich um ein lateinisches Fremdwort handelt, und die Heutigen in ihrer mangelnden, allenfalls durch Denglish vernebelten „Sprachkompetenz“ sich nichts sonderlich Klares darunter vorstellen können, außer freilich, daß man selbst nicht dazugehört.

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ten4), öffnete es doch der Bevölkerung die Augen für die überwiegend parasitäre, in Luxus schwelgende und aus der Ausbeutung der arbeitenden Schichten lebende Königs- und Adelsherrschaft, religiös abgesichert durch den z. T. klassenidentischen Klerus. Die Tatsache, daß der jahrelang amtierende Vorstandsvorsitzende der deutschen Post AG, Zumwinkel, unter starken Verdacht geriet, Gelder in Millionenhöhe auf einer Liechtensteiner Privatbank deponiert zu haben, ohne für die Erträge Steuern zu zahlen, – wie Hunderte weitere Tatverdächtige5 aus der deutschen Wirtschafts„Elite“6 – hat eine lawinenartige Diskussion über politischen Anstand losgetreten, deren Ende nicht abzusehen ist. Dabei werden weder die zweifelsfreien Verdienste des Betreffenden um die Etablierung der (defizitären) Post als international agierendes (DAX-)Unternehmen noch die zahlreichen Klein-Lumpereien, die sich viele Bürger, nicht nur im Steuer- und Versicherungsrecht, allüberall erlauben, thematisiert. Zwar hat jener wahrscheinlich materiell nicht zu bagatellisierende Steuerdelikte begangen. Aber anders, als es die Presse herausgeschrieen hat, beruhen nicht nur diese stigmatisierten Steuerhinterziehungen auf der attackierten Geldund Machtgier. Vielmehr hätten eher die gigantischen Kapitalvernichtungen durch einen Herrn Schrempp bei der DaimlerChrysler-AG7, oder diejenige durch zahlreiche Kreditinstitute im Zuge der sogenannten US-Subprime-Hauskredit-Wertpapier4 Der liebesblinde wie auf den Posten des Premierministers versessene Kardinal de Rohan vermittelte, vermeintlich im Auftrag der Königin, den Kaufauftrag für ein unerhört wertvolles Diamantenhalsband (Wert von 1.600.000 Livre, ca. fünf Millionen Euro) von den Juwelieren Böhmer & Bassenge und übergab es nächtens im Park der „Königin“, – war aber nur einer besonders gerissenen Hochstaplerin (Jeanne de La Motte) aufgesessen. Obwohl im Zuge der Kriminaluntersuchung der Sachverhalt vollständig aufgeklärt wurde, war der Ansehensverlust des Königshauses und namentlich der habsburg-stämmigen Königin irreparabel. 5 Vgl. die folgenden Berichte: „Tausende Verdächtige in Steueraffäre“ v. 15. 2. 2008, http: //www.welt.de/wirtschaft/article1677623/Tausende_Verdaechtige_in_Steueraffaere. html; „Zumwinkel kein Einzelfall, Hunderte enttarnt“ v. 14. 2. 2008, http: / / www.n-tv.de / 918823.html; abwiegelnd: „600 – 700 Verdächtige in Steueraffäre“ v. 15. 2. 2008, www. focus.de / finanzen / steuern / steuerfahndung / zumwinkel_aid_238026. html. Selbst die wirtschaftsfromme Bild-Zeitung approbierte das Vorgehen, vgl. die dortigen Kolumnisten-Bemerkungen von Müller-Vogg, Der Fiskus schlägt zurück, Bild v. 18. 2., http: / / www.hugomueller-vogg.de / index.php?article_id =1275; der aber wenigstens nicht versäumt, auch die PDS / Die Linke mit in Zumwinkels „Boot“ zu setzen, Bild v. 20. 2. 2008, http: / / www.hugomueller-vogg.de / index.php?article_id=1277; und v. 21. 2. 2008, http: / / www.hugo-muellervogg.de / index.php?article _id=1280. 6 Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, daß sich darunter besonders viele von denjenigen befinden, die nicht müde werden, für eine Reduktion des sozialen Netzes („soziale Hängematte“) zu trommeln – eben jene Geringverdiener, die sich berühmen, in Deutschland „Werte geschaffen zu haben“, wie es der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Herr Ackermann, in dem bizarren Düsseldorfer Mannesmann-Prozeß zu formulieren beliebte, vgl. etwa Matthias Streitz, Joe Ackermanns Lächel-Offensive, SPIEGEL-ONLINE v. 21. 01. 04 (http: / / www.spiegel.de / wirtschaft / 0,1518,282881,00.html). 7 Vgl. nur (wie immer bei Kapitalismus-Kritik: wohlwollend auf lediglich 25 Mrd. A beziffert) Focus.online v. 4. 6. 2007, http: / / www.focus.de / finanzen / boerse / aktien / daimleraktienoptionen_aid_62350.html; andere Quellen sprechen vom Doppelten, so FR v.

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verluste8 oder aus jenem, mehr an Zocker-Ideen als an Gebaren seriöser Banker gemahnenden, sog. „Finanzderivate“-Handel9 Anlass geboten, genauer in das hässliche Gesicht des unkontrollierten Kapitalismus zu schauen, – mit ihren entschieden schlimmeren Auswirkungen auf die Gemeinschaft10. Die weltweiten volkswirtschaftlichen Schäden jener „Aktivitäten“ sind immens, viel mehr i.ü. als „Terroristen“ durch ihr schreckliches Handwerk i.d.R. je erreichen. Aber merkwürdigerweise geht darüber „die Politik“ mit Achselzucken und allenfalls eilfertigem Calmierungswillen hinweg. Die Keule der Terrorismusgefahr zu schwingen, werden die nämlichen Politiker freilich nicht müde. Solche und ähnliche Assoziationen über öffentliche Wahrnehmungen (ob diese nun zutreffend sind oder nicht), die je nach medialer Resonanz zu sehr energischem politischem Handeln führen können (oder auch nicht), könnten einen als interessierten Beobachter der Weltläufte beschleichen, wenn man die in Deutschland und – dank der wissenschaftlichen Reputation des Urhebers – auch international wogende Debatte um das „Feindstrafrecht“ von Günther Jakobs betrachtet.

5. 6. 2007, S. 11 unter Berufung auf das Handelsblatt; zuletzt Der SPIEGEL vom 11. 2. 2008 S. 60. 8 Rainer Sommer, Am amerikanischen Subprime-Hypothekenmarkt droht ein Desaster, Heise-Informationsdienst v. 3. 1. 2007 (http: / / www.heise.de / tp / r4 / artikel / 24 / 24355 / 1. html); Jochen Hahn, Subprime-Krise zieht weitere Kreise, Wirtschaftsblatt v. 4. 2. 2008 (http: / / www.wirtschaftsblatt.at / home / boerse / binternational / 277486 / index.do). 9 Vgl. nur die Bundesbank-Information dazu: http: / / www.bundesbank.de / download / volkswirtschaft / mba / 2006 / 200607mba_finanzderivate.pdf. – Gerne wird dabei im Kontext mit den Landesbanken, namentlich von der FDP, der Vorwurf erhoben, der Staat könne mit Geld nicht umgehen, obwohl nicht wenige der – mehr oder minder abgehalfterten – Politiker, die in den Vorständen und Aufsichtsgremien der Landesbanken ihr Un- oder untätiges Wesen trieben, von der FDP dorthin gehievt worden sind oder ihr entstammen. Ebenso gerne wird aber übergangen, daß noch viel mehr Geld von privaten Banken vernichtet wurde: Nur kurz erwähnt seien die Schweizer UBS (20 Milliarden), International Business Times v. 30. 11. 2007 (http: / / de.ibtimes.com / articles / 20080130 / ubs-verlust-jahresbilanz-2007-abschreibungen-kreditkrise-20-milliarden-franken-ospel-gic-singapur.htm), oder die Französische Bank Société Générale, in der – vorgeblich – ein „kleiner“ Broker (Kerviel) mal so eben 50 Milliarden (!) in den Sand gesetzt hat (vgl. etwa manager-magazin.de v. 27. 1. 2008, http: / / www.manager-magazin.de / geld / artikel / 0,2828,531307,00. html). 10 Zum einen zahlen wichtige Unternehmen erheblich weniger Steuern durch die Verlustvor- und -nachträge. Zum anderen wird die Allgemeinheit auch in vielen Bereichen direkt an den Kosten dieser Verluste beteiligt, sei es direkt, wie z. B. an den Sanierungsmaßnahmen bei den Landesbanken, mittels Steuergeldern, sei es über die sozialen Transferleistungen, mittels derer solche, durch mutwilligen „Tanz auf dem Vulkan“ in Schieflage gebrachten Unternehmungen üblicherweise zu salvieren gesucht werden, – nämlich durch massenhafte Mitarbeiter-Entlassung, – oder noch sinnfälliger – durch Verstaatlichung wie die der größten britische Hypothekenbank Northern Rock in Großbritannien, mit vorausgegangenem 33 Mrd. A Staatskredit, Focus.online v. 17. 02. 2008, http: / / www.focus.de / finanzen / news / immobilienkrise_aid_261697.html.

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II. Der Gegenstand Schon früh hatte Jakobs jenes Phänomen aufgegriffen – zunächst mit einer durchaus kritischen Konnotation11. Diese Sicht mutierte aber alsbald in eine sich als deskriptiv gerierende, ihre sachliche Notwendigkeit aber besonders betonende12, und insoweit affirmative Einschätzung13: „Feind“ ist, wer „die gegebene Verfassung dem Prinzip nach leugnet“14, und: „Feindstrafrecht“ ist der Rechtsbereich (Reaktionskanon) „gegen prinzipielle Abweichler“; er schließt den Personenstatus des Feindes aus, ist gebändigter Krieg15, – im Unterschied zum „Bürgerstrafrecht“, der dem Täter den Personenstatus beläßt16. „Zu einem Feindstrafrecht (besteht) keine heute ersichtliche Alternative“17.18

11 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 773, 783 ff. – Die Wende in der Jakobsschen Einschätzung wird nicht nur von mir diagnostiziert (Paeffgen, in: NK-StGB, 2. Aufl. 2005, Vor § 32 Rn. 223), sondern auch, u. a., von dessen Schüler Müssig, in: FS Klaus-Dieter Becker, Bd. 2, 2007, S. 1033, 1047 f. 12 Jakobs, HRRS 2006, 289, 290: „Ich werde zu zeigen versuchen, daß der Körper des Kaisers, also des Staates, an manchen Stellen nicht mit ordentlicher rechtsstaatlicher Kleidung bedeckt, sondern nackt ist, mehr noch, daß er unter den gegenwärtigen Bedingungen nackt sein muß, wenn er nicht insgesamt wegen rechtstaatlicher Überhitzung Schaden nehmen soll.“ / S. 297: „Legitimation wird jedoch nicht von demjenigen geleistet, der das Notwendige beschreibt“. 13 Jakobs, in: Eser / Hassemer / Burckhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47 ff. ders., Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: Yu-hsiu Hsu (ed.), Foundations and limits of Criminal Law and Criminal Procedure, Hsu-FS, Taipei 2003, S. 41 ff. (= HRRS 2004, 88 ff.); ders., ZStW 117 (2005), 839 ff.; ders., HRRS 2006, 289 ff. – Zust. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 55 ff.; Roellecke, JZ 2006, 265 ff. 14 Jakobs, HRRS 2004, 88, 90. 15 Jakobs, HRRS 2004, 88, 92, (nach Fn. 35). – Dabei gibt es dann freilich auch Übergangsstufen, so, wenn, wie bei Vorfeld-Normen (z. B. § 129a und b StGB), „die Bestrafung der Terroristen nur ein Zwischenziel, nicht das Hauptanliegen des Gesetzgebers“ sei und „durch die Bestrafung der Terroristen der Terrorismus insgesamt bekämpft werden“ solle, also „Strafe ein Mittel zu einem polizeilichen Zweck, ein Schritt im Kampf um Sicherheit“ sei, Jakobs, ZStW 117 (2005), 839. 16 Jakobs, ebenda. „Feindstrafrecht (ist) das Recht derjenigen, die gegen den Feind stehen; dem Feind gegenüber ist es nur physischer Zwang, bis hin zum Krieg.“ 17 Jakobs, in: Eser / Hassemer / Burckhardt (o. Fn. 13), S. 47, 53. 18 Zu der sich zunehmend verschleifenden Bedeutung des ehedem sehr einflußreichen Denkens von Niklas Luhmann und dessen Systemtheorie für sein eigenes Denken, auch zu der von Jakobs ursprünglich vertretenen Lehre von der positiven Generalprävention, soll hier nicht weiter Stellung genommen werden. Eine aufschlußreiche Kritik an der Implementierung der Systemtheorie in die Strafrechtswissenschaft übt Sacher, ZStW 118 (2006), 574 ff.; vgl. insbes. ihre Hinweise darauf, daß Niklas Luhmann einer systemtheoretischen Rechtsdogmatik eher ablehnend gegenüberstand, ZStW 118 (2006), 574, 599 ff.

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1. Die Wortwahl Als polemischer Kampfbegriff, als der er ursprünglich sich verstehen ließ, war das Wort vom „Feindstrafrecht“19 pointiert – und in seiner (Über-)Zeichnung jedenfalls kennzeichnend und damit passend20. Als ein – von Jakobs wiederholt als unschöne, aber eben der Wirklichkeit angehörende Phänomene beschreibender21 – Begriff stellt er das geltende Recht – und vorgeblich, gleichsam wie eine Naturgesetzlichkeit: jedes Recht22 – freilich in der Tradition eines Begriffs-Arsenals, das den rechtshistorisch etwas besser Bewanderten, zumindest in ihrer Mehrzahl, problematisch, wenn nicht degoutant erscheint: Der Begriff des „Feindes“ als Zentralkategorie der staatsrechtlich-politischen Begriffsbildung hat Carl Schmitt seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts für seine Lehre vom Politischen fruchtbar zu machen versucht. Die damit zunächst noch verbundene feinsinnige Distinktion zwischen dem Inimicus und dem Hostis23, zwischen öffentlichem und privatem Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 773, 783 ff. Um einmal Carl Schmitt zu zitieren: „Alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte haben einen polemischen Sinn“, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl., 1933, S. 13 (Herv. i. Orig.). 21 Etwa jüngst wieder Jakobs, HRRS 2006, 289, 297. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Begrifflichkeit, wie das daran anknüpfende Konzept, durchaus irisierende Qualitäten hat (nicht nur darin durchaus verwandt dem ersten wichtigen Verwender jenes Stichwortes, Carl Schmitt), wie auch nachfolgend ein wenig belegt werden soll: In der Zahl der Beiträge, die Jakobs zu diesem Thema veröffentlicht hat, wandeln sich die Tendenzen und Bezüglichkeiten. 22 Jakobs, ZStW 117 (2005), 839, 841: „Man kann aber auch untersuchen, ob beim Umgang mit Terroristen – unter anderem mit Terroristen – Besonderheiten zu berücksichtigen sind, die eine solche“ {polizeirechtliche} „Verschmutzung geradezu notwendig machen“. – Genau in dieser Essentialität trifft sich Jakobs mit C. Schmitt, dem der Freund-Feind-Gegensatz eine „seinsmäßige Wirklichkeit und reale Möglichkeit dieser Unterscheidung“ war; niemand könne leugnen, daß die Völker „sich tatsächlich nach dem Gegensatz von Freund und Feind“ gruppierten, Begriff, 3. Aufl. (o. Fn. 20), S. 9 / 10. Dieser wollte bekanntlich auch den Begriff des Politischen nicht definieren (bezweifelte 1932 sogar noch, daß man ihn überhaupt definieren könne, Begriff, 2. Aufl. 1932, S. 14), sondern diskursiv-narrativ zu einer Wesensschau durchdringen, ein unermessliches Problem theoretisch „encadrieren“, Nachwort des unveränderten Nachdrucks „Begriff“ {von 1932} (1964), S. 96. – Wichtig wäre in dem Zusammenhang wenigstens von Jakobs (da sich Schmitt in diesem Kontext dazu verschwiegen hat) etwas zu dem verbreitet anerkannten generellen Einwand vom naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen zu hören. 23 Auf die Jakobs jüngst wieder – als differentia specifica zu C. Schmitt – rekurriert, Jakobs, HRRS 2006, 289 (294: „Bei Carl Schmitt ist der Begriff des Politischen ein säkularisierter theologischer Begriff, der eher Gottesfürchtige von Gottlosen scheidet als politische Gegner im heute geläufigen Verständnis. Der Schmittsche Begriff handelt nicht von einem Verbrecher, sondern vom hostis, vom anderen; im Staat kommt es erst bei einem Bürgerkrieg zu einer politischen Konfrontation im Sinne Schmitts. Der Feind des Feindstrafrechts ist hingegen ein Verbrecher der vermutlich nachhaltig gefährlichen Sorte, ein inimicus. Er ist nicht ein anderer, sondern er sollte sich als gleicher benehmen, und deshalb wird ihm auch Strafrechtsschuld zugeschrieben, anders als dem hostis Schmitts.“). In einem kürzlich in Bonn gehaltenen Vortrag subintellegierte Jakobs dem Schmittschen Begriffspaar des „Hostis“ und 19 20

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Feind, hatte Schmitt selbst nicht wirklich durchgehalten24, allerdings auch nicht, so naheliegend dies zunächst auch scheinen mag, auf die Polarität: „äußerer“ vs. „innerer Feind“ ausgerichtet. Dies wird nicht erst25, aber auch nicht zuletzt deutlich, des „Inimicus“ die Grenze zwischen „äußerem“ und „innerem Feind“, was sicher unzutreffend ist, vgl. die nachfolgende Belegstelle, sowie auch: „Der Feind ist in einem besonders intensivem Sinne existenziell ein Anderer und Fremder, mit dem im extremem Fall existenzielle Konflikte möglich sind“, C. Schmitt, Begriff, 3. Aufl. (o. Fn. 20), S. 8; die Eingebundenheit in den existenziellen Kampf schließe Neutralität unbeteiligter Dritter aus. „Allein die Beteiligten“ könnten entscheiden, „ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktfall die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft werden muß, um die eigene seingemäße Art von Leben zu retten“, ebenda, S. 8. Ý÷èüò (echthros  gottverfluchter, verhasster Gegner) vs. ðïëÝìéïò (polémios  [öffentlicher] Feind {jeweils lt. Benselers Griechisch-deutschem Schulwörterbuch, 13. Aufl. 1911, S. 379 bzw. 748; bzw. Schenkl, Deutsch-Griechisches Schulwörterbuch, 6. Aufl. 1909, S. 224: Gegner im bürgerlichen oder Privatleben einerseits bzw. militärischer Feind andererseits}); ähnlich: Schmitt, Archiv für Sozialwissenschaft 38 (1927), 1, 6: „öffentlicher“ Feind [hostis], mit der Folge des Krieges, denn der Feind ist „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ (vs. verhasstem, aber, christlich auch, zu liebendem „privatem Feind“ [inimicus]). Allerdings war jene Polarität zunächst auf den feindlichen Staat gemünzt („Der Krieg [ist] der ,Ernstfall‘“; in ihm zeige sich „in äußerster Konsequenz die politische Gruppierung nach Freund und Feind“, C. Schmitt, Archiv für Sozialwissenschaft 38 (1927), 1, 7; Begriff, 3. Aufl. (o. Fn. 20), S. 17, 18 – Doch kündigte sich die umfassendere Sicht schon früh an: Denn in den Vorbemerkungen zur „Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 14 , sagt er schon: „Zur Demokratie gehört . . . erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ – unter beredtem Hinweis auf die nach dem griechisch-türkischen Krieg 1922 aus der Türkei vertriebenen Griechen, „vornehm“ die dabei passierenden Greuel ebenso verschweigend wie die – viel schrecklichere, weil mit Konsequenz betriebene physische – Vernichtung eines Großteils der armenischen Bevölkerung im gleichen Zeitraum. – I.ü. war der Gegensatz bei Schmitt früher einmal der „zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen herrschender und dienender Klasse“, C. Schmitt, Theodor Däublers „Nordlicht“, 1916, S. 31, was eine Außen- / Staaten-Bezüglichkeit der Begriffs-Pole ohnehin zweifelhaft macht. 24 Sie fällt schon, ohne daß Schmitt darauf hingewiesen hätte, während der verschiedenen Auflagen des „Begriffs des Politischen“ von der ersten Version in dem Archiv für Sozialwissenschaft 38 (1927), 1 ff. bis hin zur sog. dritten aus dem Jahre 1933. – Vgl. i.ü. den erstmaligen Vergleich zwischen diesen drei Versionen durch Karl Löwith (alias: Hugo Fiala), Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1935, 101 ff. (im wesentlichen identisch, bis zur S. 117 des Neudrucks, mit: Löwith, in: ders., Gesammelte Abhandlungen – Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, 1960, S. 93 ff.); später durch Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und der „Begriff des Politischen“, 1998, S. 25 ff. 25 Schon in der 1932er-Version hatte sich Schmitt von dem völkerrechtlichen „Feind“-Begriff gelöst und das feindliche Individuum im Bürgerkrieg dem feindlichen Staat beigesellt, Begriff, 2. Aufl. (o. Fn. 22), S. 30, 33, 54, um ihn später mythisch in dem ebenso oszillierenden Gegensatzpaar des ,Agonalen‘ vs. dem ,Politischen‘ zu überhöhen und zu vernebeln, um dann später eine weitere Volte zu schlagen, indem nämlich der „Feind“ als ein Element von uns allen hingestellt wird: „Der Feind ist unsere eigne Frage in Gestalt: Das bedeutet in concreto: nur mein Bruder kann mich in Frage stellen und nur mein Bruder kann mein Feind sein. Adam und Eva hatten zwei Söhne: Kain und Abel.“, Schmitt, Glossarium, 1991, S. 217 (Eintrag am 13. 2. 1949 {Herv. H.-U.P.} und schon zum 25. 12. 1948, S. 213) und später, in gleicher Wendung,: Theorie des Partisanen, 1963, S. 87. Diese Sentenz stammt von Schmitts bewundertem Freund und Dichter Theodor Däubler („Das Nordlicht“) aus dessen „Sang an

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wenn er etwa in jenem zentralen Aufsatz, mit dem er sich bei den Machthabern anbiedern wollte, den „Feind“ auch im Inneren wirken sah26: „Der Führer schützt das Recht“27, – einer Apologie der dutzenden Morde im Zug der vermeintlichen „Niederschlagung des Röhm-Putsches“, in Wirklichkeit der physischen Liquidation eines Hitler und der Wehrmacht belastend gewordenen Machtzentrums, indem diesem im wahrsten Sinne des Wortes das ,Haupt abgeschlagen wurde‘. – Und es ist auch durchaus zweifelhaft, ob jene Unterscheidung von Inimicus und Hostis sich überhaupt in rechtlich belangreicher Weise durchhalten läßt28. – Nun wird von JaPalermo“, Hymne an Italien, 1916, S. 57, 65 (= 2. Aufl. 1919, S. 57, 65), und setzt sich dort fort: „Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen“. Vgl. zu dieser letzten – dialektischen – Version des „Feindes“ auch seine Bezugnahme auf Gregor von Nazianz (Oratio theologica III.2: „fóôé ãJ áM ôN Yí óôáóéÜæïí ðNò +áõôN“ (esti{n} [ga`r kae`] to` he´n stas´azon pro`s heauto´{n} = Das Eine ist immer in Aufruhr gegen sich selbst), mit der dieser die go¨ttliche Trinita¨t erla¨utern wollte (C.Schmitt, Politische Theologie II, 1970, S. 116). – Zu einer Zwischenphase (in der Exegese einer Diskussion mit sich selbst) vgl. die Ausfu¨hrungen ¨ ber das Verha¨ltnis der Begriffe Krieg und Frieden, 1938, in: Schmitt, Positiovon Schmitt, U nen und Begriffe (1940 / 1988), S. 244 ff. (= Frieden oder Pazifismus, 2005, S. 598 ff., dort mit erhellenden Erga¨nzungen des Herausgebers Maschke). Fu¨r den titelgebenden Antagonismus gelangt Schmitt hier zu einer klaren skalierenden Betrachtung. – Zu dem Schillernden in der Schmittschen Freund-Feind-Rhetorik treffend i.u¨. schon Hasso Hofmann, ZfP 12 (1965), 17 ff. 26 Zu einem der zahlreichen Deutungs-Versuche der Freund-Feind-Antinomie bei Schmitt, vgl. etwa Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, 2004, S. 60 ff., der jedenfalls gleichfalls die Trennung zwischen äußerem und innerem Feind ausscheidet. – Wie wenig der anfänglich vielleicht einmal auf den ,gegnerischen‘ Staat, den ,äußeren Feind‘ gerichtete Begriff des „Feindes“ auf diesen beschränkt geblieben ist, hat Schmitt auch mit einer antisemitischen Konnotation dieses Terminus unterstrichen: Im Mai 1933 schrieb er im Westdeutschen Beobachter, dem amtlichen Organ der NSDAP im Westen: „In diesen großen und tiefgreifenden, aber gleichzeitig innerlichen und, ich möchte sagen, intimen Wachstumsprozeß soll sich kein Fremdgearteter einmischen. Er stört uns, auch wenn er es vielleicht gut meint, auf eine schädliche und gefährliche Weise. Wir lernen wieder unterscheiden. Wir lernen vor allem Freund und Feind richtig unterscheiden . . . Welche Bedenken herrschten nicht bei dieser Art von Rechtsstaatlern, weil ein verwegener Brandstifter erhängt werden könnte, ohne daß die Strafe des Erhängens bereits zur Zeit seiner Tat angedroht war! . . . Tausende von Fremden durften den Namen ändern, der sie kenntlich gemacht hätte, und bekamen die behördliche Erlaubnis, harmlose Deutsche mit Vertrauen erweckenden Namen zu täuschen . . .“, Schmitt, Das gute Recht der deutschen Revolution, Westdeutscher Beobachter v. 12. 5. 1933, S. 1 f. ({Herv. H.-U. P.}; Z. T. wieder abgedruckt in: Becker / Becker [Hrsg.], Hitlers Machtergreifung 1933, 2. Aufl. 1992, S. 301 ff.) – Zu einer anderen Lesart des Schmittschen Antagonismus, die die (inner-)staatliche Feinderklärung als notwendiges identitätsstiftendes Schema versteht, das einen politischen Prozess trage, „der letztlich den Ausnahmezustand zum gesellschaftlichen Dauerzustand“ erhebe, vgl. Müssig, in: FS Klaus-Dieter Becker, Bd. 2, 2007, S. 1033, 1045. Die eine Seite später erfolgende Relativierung („belegt ist der Begriff des Feindstrafrechts bei Schmitt nicht“) erscheint hingegen unangebracht, wie das vorstehende Schmitt-Zitat belegen mag. 27 DJZ 1934, Sp. 945, 946 (= Positionen und Begriffe [1940 / 1988], S. 199, 201; dort noch unter verklausulierendem Hinweis auf Dufours Definition des [französischen, nicht justiziablen] Regierungsaktes, dessen Ziel die Verteidigung der Gesellschaft sei, „und zwar die Verteidigung gegen innere und äußere, offene und versteckte, gegenwärtige oder zukünftige Feinde“).

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kobs eingewandt29, daß er sich ohnehin an fremder Autoren Begrifflichkeit nicht festhalten zu lassen brauche. Das ist im Grundsatz fraglos richtig: Jeder Autor besitzt selbstverständlich eine eigene Definitionskompetenz! Nur ist es wissenschaftsmethodologisch sehr wohl problematisch, einen bereits seit langem besetzten, zudem extrem schillernden30 Begriff zu revitalisieren, ihn zunächst in einem durchaus äquivoken Sinn als Kampfbegriff in die Diskussion wieder einzuführen, um ihm dann so nach und nach einen partiell anderen Sinn beizulegen, um schließlich in jüngerer Zeit in der Nähe eines ganz anderen, dafür sehr vertrauten Begriffs, nämlich dem der “ (polizeilichen) Gefahrenabwehr“, zu landen31. 2. Funktional-äquivalente Sicht bei Pawlik: Anleihen aus dem Kriegsrecht? Der Jakobs-Schüler Pawlik spricht sich für ein „Präventionsrecht mit kriegsrechtlichen Elementen“ aus. Bei diesem gehe es primär um die „Unschädlichmachung“ des Gegners, und zwar mit Hilfe von „Inhaftierung bis zum Ende der Feindseligkeiten und die Tötung [sic, H.-U.P.], und zwar grundsätzlich auch außerhalb konkreter Kampfhandlungen [sic].“32 Indem Pawlik etwa sich auf das KriegsDazu das folgende. In einem (hoffentlich demnächst veröffentlichten) mündlichen Vortrag in Bonn am 3. 12. 2007: An den Grenzen rechtlicher Orientierung: Feindstrafrecht; tendenziell ähnlich sein Schüler Pawlik, ebenfalls in einem in Bonn gehaltenen Vortrag am 21. 1. 2008, der wohl weitgehend dem Artikel in der FAZ vom 25. 2. 2008, S. 40, entspricht: „Der Terrorist will nicht resozialisiert werden“, in dem Pawlik freilich auf das Kriegsrecht rekurriert. 30 Die vorstehenden, etwas ausführlicheren Belege zu den Schmittschen Quellen sollen somit auch belegen, daß mit dem disgustierten Ausruf „Carl Schmitt!“, wie so oft, jedenfalls aber auch in diesem Punkt, keineswegs eine inhaltlich klar konturierte Position getroffen wird, sondern jener, bisweilen Vergottete, bisweilen wie der „Gott sei bei uns“ Klassifizierte seinerseits mit irisierenden – und vor allem wechselnden – Konnotationen und Untertönen gearbeitet hat. 31 So Jakobs, HRRS 2004, 88, 90; ders., HRRS 2006, 289, 295 f. – Damit steht er freilich in der Argumentations-Linie einiger Schmitt-Bewunderer und -Exegeten, vgl. nur Altmann, in: FS C. Schmitt II, 1968, S. 413, 421), der gleichfalls den Feind zum Störer erklärte: „Diese Bestimmung des Feindes als Störer bedeutet das Eingeständnis, daß man sich auch in der weiteren Zukunft, jedenfalls auf absehbare Zeit nicht von der Diskreditierung des Feindes bis hin zu seiner Kriminalisierung wird lösen können. Zwar braucht nicht jeder Störer Feind zu sein (genauso wie nicht jeder Verkehrsünder Verbrecher ist). Aber in jeder hochmanipulierten Gesellschaft werden Störungen gefährlich und müssen beseitigt werden“. Allerdings rückt er den Begriff damit in einen liberalistischen, „entpolitisierten“ Kontext im Schmittschen Sinne, Begriff, 3. Aufl. (o. Fn. 20), S. 61. – Wieder anders George Schwab, in: FS C. Schmitt II, 1968, S. 665 ff., mit der Unterscheidung zwischen Feind im absoluten Sinn (foe) und Feind im Sinne von Gegner (enemy). Dazu, wie insgesamt, erhellend: Schickel, Gespräche mit Carl Schmitt, 1993, S. 60 ff. 32 Jüngst in einem Vortrag zum Feindstrafrecht vor der Bonner Fakultät vom 21. 01. 2008: „Der Terrorist und sein Recht“; er ist in wesentlichen Teilen identisch mit dem Aufsatz: Der Terrorist will nicht resozialisiert werden, FAZ v. 25. 2. 2008, S. 40. Vgl. Sp. 3 u. – Damit 28 29

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recht zurückbesinnt, um Abweichungen vom konventionellen, „alteuropäischen“ Strafrecht zu legitimieren, geht er den parallelen Weg wie C.Schmitt, nur in umgekehrter Richtung: Während dieser sich für ein Ius publicum Europaeum stark gemacht hatte, das auf eine Diskriminierung der Feinde, eine Kriminalisierung der Kriegsgegner verzichte33, sucht jener die Kriegs-(rechts-)Unterworfenheit des Kriminellen zu erläutern34. Da er die Auseinandersetzung mit dem „Terroristen“, wohl anders als, jedenfalls zwischenzeitlich, Jakobs35, in „gehegten“ Formen stattfinden lassen will, bleibt sein Ertrag wohl eher dürftig, ohne daß er dadurch unproblematisch würde: Man dürfe jene zwar nicht foltern36, wohl aber – entgegen § 136a StPO – täuschen37. Vor allem aber: Pawlik38 changiert nach seiner Axiomamacht Pawlik Anleihen bei den völkerrechtlich höchst fragwürdigen Praktiken Israels, das aber immerhin ein Staat im fortbestehenden Krieg ist. Es klingt für Ohren, die immer noch nicht den Sirenen-Klängen Schmittscher Totalitäts-Überlegungen erliegen wollen, merkwürdig, wenn dies unter „rechtlich eingehegte(r) Unschädlichmachung“ firmiert. Hier darf dann auch der (nicht nur zynisch klingende) Hinweis auf Herfried Münklers Sprachbild von der „Schädlingsbekämpfung“ nicht fehlen, Münkler, Die neuen Kriege, 2. Aufl. 2002, S. 234, wobei dieser aber auch bloß auf den Altmeister zurückkommt: „Indem man heute den Krieg in eine Polizeiaktion gegen Störenfriede, Verbrecher und Schädlinge verwandelt, muß man auch die Rechtfertigung der Methoden dieses ,police bombing‘ steigern“, C. Schmitt, Der Nomos der Erde“, 1950, S. 299. 33 Jedenfalls zeitweilig. So hatte Schmitt im Alter etwa gemeint: „. . . mit jenen Hegungen des Krieges war der europäischen Menschheit etwas seltenes gelungen: Der Verzicht auf Kriminalisierung des Kriegsgegners, also die Relativierung der Feindschaft, die Verneinung der absoluten Feindschaft. Es ist wirklich etwas seltenes, eher unwahrscheinlich Humanes, Menschen dahin zu bringen, daß sie auf eine Diskriminierung und Diffamierung ihrer Feinde verzichten“, Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S. 92. – So birgt eine Berufung auf den Geist Schmitts (l.c. bei Münkler, [o. Fn. 32] letzten Absatz) immer auch wieder neue Probleme. 34 FAZ v. 25. 2. 2008, S. 40. 35 HRRS 2004, 88, 92, 95. 36 Wegen Art. 3 EMRK; wobei gern übersehen wird, daß dieser Artikel nicht nur Daumenschrauben und Streckbank verbietet, sondern auch eine „menschenunwürdige Behandlung“. Hiervon dürfte Pawlik dann wohl im Fall des Terroristen auch absehen wollen. Davon ließe sich, einmal nur ganz völkervertragsrechtlich argumentiert, freilich erst nach einer Revision der EMRK dispensieren (wobei Art. 3 zudem „notstandsfest“ ausgestaltet ist – s. Art. 15 Abs. 2 EMRK, – eine leider von den meisten, die sich qualifiziert oder, überwiegend, unqualifiziert zur sogen. „Rettungsfolter“ äußern, gern übersehene Rechtsschranke, die sich nur mit einem Austritt aus der EMRK – formal – beheben ließe[!]), – von dem einen (unter verschiedenen), oben nachstehend erhobenen Generaleinwand einmal ganz abgesehen. – Aber, all’ die „Realisten“, denen zufolge „ein bißchen Folter“ nicht nur nicht schaden, sondern viel nutzen können soll, seien – wenn denn normative Erwägungen schon nicht mehr verfangen – daran erinnert, daß ein bißchen Folter genauso wenig zu haben ist wie ein bißchen Schwangerschaft. Folter birgt die Notwendigkeit ihrer Steigerung in sich, weil sonst gerade die Hartgesottenen bis zu der Grenze durchhalten, bis zu der vorgeblich auch von den Befürwortern der Tortur Grenzen gesetzt werden sollen. 37 Vgl. FAZ v. 25. 2. 2008, S. 40, Sp. 4. 38 Das gleiche gilt für Jakobs, ZStW 117 (2005), 839, 849. – Ambos, ZStR 124 (2006), 1, 15; Schünemann, GA 2003, 299, 312 f., und Sacher, ZStW 118 (2006), 574, 608, sehen in der Behandlung als „Feind“ bereits vor der Urteilsverkündung auch einen Verstoß gegen „in

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tik zwischen Ex-Post- und Ex-Ante-Perspektive: Rechtsschutz soll zwar gewährt werden, – aber „Terrorist“ ist der Betreffende schon von Anfang an39!? Das scheinbar so rationalistische Konzept berücksichtigt i.ü. nicht, daß wir im modernen Völkerrecht schon weiter sind, als die vorgeblichen Konstitutiva der dort supponierten Personen-Begründungs-Modelle40: Auch dem „Feind“ wird dort Personalität und Personenwürde zugestanden: Obschon etwa die Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und die beiden Zusatzprotokolle vom 8. Juni 1977 oft nicht eingehalten werden (exemplarisch: Abu Ghuraib), so sind Kriegsgefangene rechtlich doch mit Respekt und human zu behandeln und zu ernähren; sind Flächenbombardements, die überwiegend die Zivilbevölkerung treffen, geächtet u.ä.m41. dubio pro reo“. Das setzt freilich voraus, daß dieses Rechts-Axiom, ebenso wie die Unschuldsvermutung, für diesen Rechtsbereich überhaupt Geltung beanspruchen kann. Im Polizei-, oder allgemeiner: im Gefahrenabwehrrecht gelten diese Maximen aber nach verbreiteter Meinung allenfalls in mediatisierter Form, jedenfalls nicht unmittelbar, soweit es sich nicht um Straftatverfolgung im eigentlichen Sinne handelt. – Das könnte der „Charme“ (in mancher Leute Augen) des „Feindstrafrechts“ neuer Lesart (= Gefahrenabwehrrecht) sein, daß man im Bedarfsfall auf voraussetzungsärmere Rechte ausweichen dürfte. 39 Man mag sich nur der Tatsache erinnern, daß das FBI ein (vermeintliches) Photo des u. a. wegen 21fachem Mordes gesuchten James J. Bulger und dessen Freundin an das ZDF gelangen ließ, das es i.R.d. Sendung „Aktenzeichen XY. . . ungelöst“ im Fernsehen verbreitete – und damit ein ahnungsloses deutsches Ehepaar in den Focus der privaten und staatlichen Strafverfolgung verstrickte (vgl. etwa: Verwechslung – FBI sucht mit falschem Fahndungsfoto, Welt.online v. 22. 2. 2008, http: / / www.welt.de / vermischtes / article1711274 / FBI_sucht_mit_falschem_Fahndungsfoto.html; „Peinlicher Irrtum: „Aktenzeichen XY“ sucht mit falschem Foto nach Mörder“, ZEIT online v. 22. 2. 2008, http: / / www.zeit.de / news / artikel / 2008 / 02 / 22 / 2481751.xml). – Unschwer auszudenken, welche – möglicherweise blutigen – Konsequenzen diese Fehlinformation (bei einem seit Jahren gesuchten Top-Gangster!!) hätte haben können, wenn der Fehler sich nicht relativ schnell hätte aufklären lassen. – Man wende nicht ein, daß Irren menschlich sei, und solche Fehler den Geheimdiensten und der Polizei nur äußerst selten unterliefen: Wir erfahren nur selten davon. Vgl. den Fall eines baskischen Paares, das auf der Liste der „meistgesuchten ETA-Terroristen“ stand, – obwohl nicht einmal ein Haftbefehl gegen sie vorlag: „Niemand suchte die Meistgesuchten“, SZ 5. 3. 2008 (http: / / www.sueddeutsche.de / ,ra2m1 / panorama / artikel / 380 / 161933 / ). Zum „Ausgleich“ durfte das Ehepaar dann etwas länger im Polizeigewahrsam ausharren, weil die Angestellten streikten – wodurch die richterliche Vernehmung, in der sich ihr Unbeteiligt-Sein belegen ließ, erheblich verzögerte. 40 Das gilt auch für den „Störer-Feind“ im Jakobsschen Gefahrenabwehrrecht im Verhältnis zum herrschenden Polizeirecht. – Zu den zugrundeliegenden Personen-Modellen vgl. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 63 ff.; Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 75 ff. 41 S. die Art. 12 ff. des III. Genfer Abkommens vom 12. 8. 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen (BGBl. 1954 II, S. 838 [843 ff.]), wobei freilich die Zubilligung des Kriegsgefangenen-Status („combatant privilege“) in „asymmetrischen“ Konflikten streitig ist, vgl. nur Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2007, § 56 Rn. 12; Bothe, in: v.Vitzhum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, 8. Abschn., Rn. 80, 84. Auch ein „Herausdefinieren“ von Terroristen aus der GK III machte diese indes nicht rechtlos im humanitären Völkerrecht, s. Stuckenberg, JZ 2006, 1142, 1143 f. Zur Ächtung von Flächenbombardements vgl. Art. 51 V

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Manches klingt dann freilich wieder so, als wollten sich Jakobs und Pawlik mit Formulierungen C. Schmitts wieder treffen: „Die legale Regierung entscheidet darüber, wer der Feind ist“ („gegen den die Armee zu kämpfen hat“). „Wer für sich in Anspruch nimmt, den Feind zu bestimmen, nimmt eine ,neue Legalität‘ für sich in Anspruch, wenn er sich der Feindbestimmung der bisherigen legalen Regierung nicht fügen will“42. 3. Der Hintergrund Man wird schwerlich bestreiten können, daß Jakobs mit seiner Beschreibung beobachtbare Phänomene der existierenden Welt wiedergibt43. Er tut dies aber nicht nur in bezug auf Guantánamo und andere Sphären der sektoralen Rechtlosigkeit. Er tut das mit dem (nunmehrigen) Anspruch, eine sachgerechte, sinnvolle Bewältigung unserer, scheint’s perennierenden Terrorismus- und sonstiger Dauerkriminalitätsprobleme anzubieten. Probleme wirft die Jakobssche „Feinderklärung“ insoweit auf, als er, zumindest 2004 noch, meint(e): „Der prinzipiell Abweichende bietet keine Garantie personalen Verhaltens; deshalb kann er nicht als Bürger behandelt, sondern muss als Feind bekriegt werden.“44 Denn dabei bleibt unklar, was mit „prinzipiell abweichend“ gemeint ist. Der Mafioso respektiert und schätzt viele staatliche, sittliche und gesellschaftliche Normen wert, wenn und soweit sie mit dem Normgefüge der Mafia kongruent sind – oder sich in diesen keine Abweichung (z. B. viele politische Rechte, etwa das aktive und passive Wahlrecht) finden45. Trotzdem wird man sagen dürfen, daß er ein eigenes Normsystem für sich als verbindlich anerkennt. Das müßte eigentlich, weil es autonome Normen sind, im Jakobsschen Sinne zu einer „Feind“-Erklärung ausreichen46. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. 8. 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (sog. Zusatzprotokoll I, BGBl. 1990 II S. 1550, 1589). 42 Schmitt, Theorie des Partisanen, 1963, S. 87. 43 Diese deskriptive Dimension spielt er auch immer wieder gegen seine Kritiker aus. Doch die meinen zumeist seine normativ zu ziehenden, und immer wieder mal auch von ihm gezogenen, Schlussfolgerungen. 44 Jakobs, HRRS 2004, 88, 95. Dies relativiert er jüngst, indem er auch eine nur sektorale Feind-Einstufung für möglich erklärt, HRRS 2006, 289, 293; vgl. u. Fn. 48 a.E. mit wörtl. Zitat. 45 Und wahrscheinlich wird selbst der Terrorist, und sei es nur aus Gründen der Tarnung, Miet- und sonstige Zivil- oder Verwaltungsstreitigkeiten in den Bahnen des Rechts abwickeln wollen. – Hier vermag mir auch der salvatorische Vorbehalt aus der Einleitung von Jakobs, HRRS 2004, 88, keine Aufklärung zu geben, daß nämlich mit Feind- und Bürgerstrafrecht sich keine „zwei isolierte Strafrechtssphären gegenüber“ stünden, „sondern zwei Pole einer Welt . . . oder zwei gegenläufige Tendenzen in einem Zusammenhang des Strafrechts“ beschrieben seien, „wobei sich diese Tendenzen durchaus überlagern können“; also „zwei Idealtypen, die sich kaum je rein verwirklicht finden“ ließen. 46 HRRS 2004, 88, 91 f.; ders., HRRS 2006, 289, 295.

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Jakobs umschreibt nämlich das Feindstrafrecht anhand folgender Kriterien: (1) die „weite Vorverlagerung der Strafbarkeit“, (2) „keine der Vorverlagerung proportionale Reduktion der Strafe“, (3) der „Übergang von der Strafrechtsgesetzgebung zur Bekämpfungsgesetzgebung“ und (4) der „Abbau prozessualer Garantien“. Diese vier Aspekte resümierend formuliert er: „In dieser Sprache – vorverlagernd, mit harter Strafe bekämpfend, prozessuale Garantien einschränkend – spricht das Strafrecht nicht mit seinen Bürgern, sondern droht er seinen Feinden . . .“.47 „Der Feind ist ein Individuum, das sich in einem nicht nur beiläufigen Maß in seiner Haltung . . . , oder seinem Erwerbsleben . . . oder, hauptsächlich, durch seine Einbindung in eine Organisation, also jedenfalls vermutlich dauerhaft vom Recht abgewandt hat und insoweit die kognitive Mindestsicherheit personellen Verhaltens nicht garantiert und dieses Defizit durch sein Verhalten demonstriert“. Die hier zu rubrizierenden, beispielhaft genannten, Delikte sind etwa Wirtschaftskriminalität, organisierte Kriminalität, Rauschgiftdelikte, Sexualdelikte48. 47 Jakobs, in: Eser / Hassemer / Burkhardt (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft (2000), S. 47 (51 / 52); ders., HRRS 2004, 88 , 92: „. . .es nicht primär um den Ausgleich eines Normgeltungsschadens geht, sondern um die Beseitigung einer Gefahr: Die Strafbarkeit wird weit in den Bereich der Vorbereitung vorverlagert, und die Strafe gilt der Sicherung vor zukünftigen Taten, nicht der Ahndung vollzogener. Kurzum, der Gedanke des Gesetzgebers ist folgender: Der andere »lädirt mich schon durch eben . . . (seinen gesetzlosen) Zustand (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde«. Nochmals anders formuliert: Ein Individuum, das sich nicht in einen bürgerlichen Zustand zwingen läßt, kann der Segnungen des Begriffs der Person nicht teilhaftig werden.“, S. 95 {unter parallelverschiebender Berufung auf Kant, der wie Jakobs ausdrücklich anmerkt, dies auf das Jakobssche „Bürgerstrafrecht“ bezieht}: Der prinzipiell Abweichende bietet keine Garantie personalen Verhaltens; deshalb kann er nicht als Bürger behandelt, sondern muss als Feind bekriegt werden; ders., ZStW 117 (2005), 839, 845; ders., HRRS 2006, 289, 294 ff.: An die Stelle des aktuellen Normgeltungsschadens trete die „Gefahr künftiger Schäden – eine feindstrafrechtliche Regelung“. Was bei Terroristen – prinzipiellen Gegnern – angemessen sein möge, eben auf die Größe der Gefahr und nicht auf den verwirklichten Normgeltungsschaden abzustellen, werde hier auf den Fall jeder Planung eines Verbrechens, etwa eines einfachen Raubs, übertragen. Solches überflüssige Feindstrafrecht sei ein Übel, nicht das Notwendige. Praktisch werde die Sicherung vor dem Täter im Vordergrund stehen, entweder durch eine als solche ausgewiesene Sicherungsverwahrung oder anderweitige Freiheitsentziehung. Um Sicherung zu garantieren, würden, unterhalb der Sicherungsverwahrung, entsprechend lange Freiheitsstrafen über § 129a eröffnet. „Das Bürgerstrafrecht, Garantie der Rechtsgeltung, wandelt sich in Gefahrenabwehr.“ 48 Jakobs, in: Eser / Hassemer / Burckhardt (o. Fn. 13), S. 47, 52; ders., HRRS 2004, 88, 92: . . . „Individuen, . . . die sich in ihrer Haltung (etwa bei Sexualdelikten) oder in ihrem Erwerbsleben (etwa bei Wirtschaftskriminalität, Rauschgiftkriminalität, sonst organisierter Kriminalität) oder durch Einbindung in eine Organisation (beim Terrorismus, bei organisierter Kriminalität, schon bei der Verbrechensverabredung, § 30 StGB) vermutlich dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abgewandt haben, also die kognitive Mindestgarantie nicht leisten, die für die Behandlung als Person erforderlich ist“; ders., ZStW 117 (2005), 839, 842: „Eine normative Erwartung, die sich an eine bestimmte Person richtet, verliert ihre Orientierungskraft, wenn ihr die kognitive Untermauerung durch diese Person fehlt. An ihre Stelle tritt dann wiederum die kognitive Orientierung, was heißt, die Person – die Adressatin normativer Erwartungen – mutiere zum Gefahrenherd, zum kognitiv anzugehenden Sicherheitsproblem.“; 843: „. . . , jeder, der zumindest einigermaßen verläßlich Rechtstreue leistet, hat den Anspruch, als Person behandelt zu werden‘, und wer diese Leistung nicht erbringt,

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Das mag manchem – in der Grundkonzeption – zustimmungswürdig erscheinen. Daß die Kriterien bei einer solchen Anwendungsbreite aber mehr als schillernd sind, sollte man auch nicht übersehen. Wieso ist der erpichte Schwarzfahrer, der notorische Ladendieb – oder eben auch der hartnäckige Steuerdefraudant nicht auch ein „Feind“49 – jedenfalls in diesem vorgenannten Sinne? Sicherlich kann man anhand der sonstigen normativen Eingebundenheit zu unterscheiden suchen. Aber auch der Sittenstrolch achtet im großen und ganzen die Verkehrsregeln, bezahlt seinen Kaufpreis oder Mietzins u.ä.m50. Insofern verwundert die merkantil- / sozialdarwinistische Drohung ein wenig, unter die Jakobs die deutsche Strafrechtswissenschaft gestellt sieht: „Wenn sie“ {nämlich die Strafrechtswissenschaft} „die Notwendigkeit des letzteren“ {des wird eben fremdverwaltet, was heißt, nicht als Person behandelt.“; ders., HRRS 2006, 289, 293: „Wer sein Leben zurechenbar und einigermaßen dauerhaft an kriminellen Strukturen ausrichtet, für den bricht zwar nicht rundum, aber doch bereichsweise die Präsumtion rechtstreuen Verhaltens und damit eine Bedingung seines Status als Person im Recht zusammen. Der organisierte Kriminelle mag ein rührender Familienvater und sorgfältiger Autofahrer sein, er mag Gewalt hassen und Tiere lieben, aber einfach abzuwarten, was seine Organisation alles an Taten produziert, wäre schlicht dumm. Ein Feind muss nicht unbedingt Totalfeind sein; wenn nicht, dann ist er eben Partialfeind. Entsprechendes gilt für Täter, die sich haltungsgemäß, genauer, mangels Haltung, mutmaßlich nicht nur passager vom Recht entfernt haben, etwa für manche Sexualdelinquenten“. – Bricht man die nur vermeintlich gegenständliche Aussage auf die in der Bundesrepublik geltende (Verfassungs-)Rechtslage herunter, so entspricht sie in Teilen der Situation im Gefahrenabwehrrecht (etwa: Nicht-Geltung der Unschuldsvermutung). Doch hat das nichts mit „Strafrecht“ zu tun. Denn sobald dessen Gefilde betreten werden, gelten eben jene personalen Garantien, jedenfalls bisher noch, selbstverständlich, – selbst gegenüber den – präsumtiv – widerwärtigsten Massenmördern. 49 Wir müssen uns dazu nicht notwendig auf Philosophen aus der Zeit des Idealismus berufen (Rousseau, Fichte, vgl. dazu Jakobs, HRRS 2004, 88, 90). Es genügt, auf Formulierungen aus der Jetztzeit zu verweisen: So spricht Hetzer, WM 1999, 1306, 1314, davon, daß die Steuerhinterziehung eine „Kriegserklärung“ an den Staat als Ordnungsmacht sei. – Man sollte das auch nicht als Polemik missverstehen: Die Herkunft der Sicherungsverwahrung aus Überlegungen der IKV erstreckten sich ausdrücklich auch auf kleinere Vergehen (vgl. Art. II Nr. 9 der IKV-Satzung: „Unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher hat die Strafgesetzgebung, und zwar auch dann, wenn es sich um die oftmalige Wiederholung kleinerer Vergehen handelt, für eine möglichst lange Zeitdauer unschädlich zu machen“. – Vgl. i.ü. das „kongeniale“ kriminalistische Prinzip von Kalifornien und anderen US-Bundesstaaten: „Three strikes – and you are out!“ (Die dritte, selbst bagatellöse Deliktsverwirklichung führt zu einer zeitlich unbefristeten Inhaftierung (der „Violent Crime Control and Law Enforcement Act“ führte die „Three-Strikes“-Regelung 1994 auf Bundesebene in den USA ein, allerdings mit restriktiveren Anforderungen an die zu verwirklichenden Taten als in einigen Bundesstaaten, wo zum Teil jedes Verbrechen dem dritten Strike genügt; vgl. zur Rechtslage Graßberger ZStW 110 [1998], 160 ff.). So ähnl. schon Art. 1160 f. PrALR (beim 4. Diebstahl: Lebenslänglich) oder Art. 114 BayStGB 1813 (unbestimmte Verurteilung nach Rückfall trotz Zuchthaus-Sanktion). 50 Exemplarisch: Der Fall des rückfälligen, schon vorbestraften pädophilen Priesters, vgl. den Fall eines ehemaligen Pfarrers von Riekofen, der den vielfachen Mißbrauch eines Ministranten gestanden hat, und wegen vergleichbarer Taten schon vorbestraft war, FAZ.NET v. 13. 3. 2008, http: / / www.faz.net / s / Rub77CAECAE94D7431F9EACD163751D4CFD / Doc~ E7C42B01E673F44FC8B002535CA4D7A5AÃTpl~Ecommon~Scontent.html.

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Feindstrafrechts} „nicht anerkennen will, wird sie von der wirtschaftlich dominierten Gesellschaft mangels Effektivität marginalisiert werden“51 – wobei es immerhin aufrichtig ist zu zeigen, daß es für viele eben doch nur um „Kattun“ gehen dürfte52. 4. Kritik In der Sache will Jakobs damit freilich zu viel – oder zu wenig – beweisen. Denn die Fälle von Guantánamo unter „Strafrecht“ rubrizieren zu wollen, sprengt im Ansatz die Begriffskategorie. Es ist eine Errungenschaft der jüngeren Neuzeit, daß man im Krieg den Feind bekämpft, ihn u.U. auch vernichtend zu schlagen sucht – aber daß man ihn für sein „Feind-Sein“ nicht (mehr) bestraft53. Wenn man hier das „Strafrecht“ reaktivieren wollte, fielen wir also in Rechtstatus zurück, die 51 Jakobs, in: Eser / Hassemer / Burckhardt (o. Fn. 13), S. 47, 54; nicht ganz so wirtschaftsdarwinistisch: ders., HRRS 2004, 88, 94 f.; ders., ZStW 117 (2005), 839, 841; ders., HRRS 2006, 289, 290. – Da konnte er noch nicht wissen, daß einer der größten Säulenheiligen des europäischen Kapitalismus, der Deutsche-Bank-Chef Ackermann, bereits zu den Saulussen gewechselt ist: „Ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskraft der Märkte“. In der gegenwärtigen Situation müßten sich Notenbanken, Regierungen und Anleger zusammentun, Stuttgarter Nachrichten v. 19.3. 2008, S. 11. – I.ü. ist Jakobs – trotz prätendierter Andersartigkeit – damit C. Schmitt sehr nahe: Denn dessen großer Vorwurf gegen den Liberalismus war, daß gegenüber dem wahren politischen Denken und der Schmittschen politischen Instinkthaftigkeit die politische Unfähigkeit und Instinktlosigkeit des Liberalismus um so stärker abfalle. Dieser will „den Feind von der Geschäftsseite her in einen bloßen Konkurrenten, von der Geistesseite her in einen bloßen Diskussionsgegner aufzulösen“ suchen (C. Schmitt, Begriff, 3. Aufl. [o. Fn. 20], S. 9). Aber auch diese Umetikettierung werde nicht gelingen. Mag man auch andere Termini einführen und „den Feind als ,Friedensbrecher‘ oder ,Friedensstörer‘ außerhalb des Gesetzes und der Menschheit (hors la loi und hors l’humanité)“ stellen (a. a. O. S. 61), der Feind als wesensmäßig anderer wird dadurch nicht beseitigt. „Aber auch dieses angeblich unpolitische und scheinbar sogar antipolitische System dient entweder bestehenden oder führt zu neuen Freund- und Feindgruppierungen und vermag der Konsequenz des Politischen nicht zu entrinnen“, a. a. O. 52 Wie Fontane im Stechlin den Pastor Lorenzen von den Engländern sagen läßt: „Sie sagen ,Christus‘, aber sie meinen Kattun“, 23. Kapitel. – Dabei ist gut zu wissen, daß die Wirtschaftslobbyisten nicht nur die übliche Lobbyarbeit betreiben, oder spezialisierte Großkanzleien Gesetzesentwürfe vorbereiten lassen, sondern ihre eigenen Spezialisten als „Leiharbeiter“ in die Ministerien und Aufsichtsbehörden entsenden, um so – kaschiert – maßgeblich von ihnen initiierte und korrigierte Gesetze unter der Tarnadresse des jeweiligen Landesoder Bundesministeriums auf Kiel zu legen – bzw. den Gesetzesvollzug kontrollieren zu lassen, vgl. Otto / Adamek, Der gekaufte Staat – Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben, 2008. 53 Das haben spätestens die Genfer Konventionen vom 12. August 1949 bewirkt. Vgl. aber schon – in schöner Deutlichkeit – Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo, 1698, lib. III, caput II, § 1, 2, 8; lib. IV, caput II, § 8, der, ähnlich wie andere Staatstheoretiker wie Hobbes und Locke, oder de Vattel, Droits des Gens, 1758, § 21, die Strafgewalt an die territoriale Souveränität band, freilich mit Ausnahme der freien Meere (was die Strafverfolgung der Piraten als hostes humani generis erlaubte), dazu, überblickshaft, Gärditz, Weltrechtspflege, 2005, S. 48 ff., 60.

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das Völkerrecht methodisch schon lange überwunden hat54. Bei allen Unklarheiten – auch (völker)rechtlich, wie mit den einem fremden Staat nicht zuzuordnenden Kämpfern rechtlich umzugehen ist – es bleibt jedenfalls für die sogenannte zivilisierte Welt klar, daß dies Fragen des Kriegsvölkerrechtes sind. Dieser Rechtsbereich ist aber dem Hobbes-Jakobsschen „Naturzustand“ längst entwachsen. Dort gelten eine Reihe von, z. T. umstrittenen, z. T. konsentierten Maximen von Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit55. – Wir sollten uns also auch im Diskurs keine Probleme aufnötigen lassen, die – so schwierig sie auch immer zu bewältigen sein mögen – jedenfalls keine strafrechtlichen sind. Sobald aber Jakobs die Ebene zwischen den Völkern verläßt und ins innerstaatliche Recht blickt, gewinnen seine Anschauungsmaterialien Kontur, aber verlieren deutlich von jener Schwarz-Weiß-Struktur „Freund-Feind“. Statt dessen changieren sie hinüber in einen Bereich verschiedenster (auch sehr dunkler) Graustufen-Abtönungen, die, wie Jakobs neuerdings ausdrücklich zugesteht, den Charakter von Gefahrenabwehr haben. Hier liegen nun allerdings eine Reihe von anderen, z. T. sehr traditionsreichen Problemen begraben, die äußerst intrikat sind. Nur bedeutet die Etikettierung mit „Feindstrafrecht“, daß der Antagonismus in diesem Rechtsbereich – nun gar nicht mehr in deskriptiven Weise – verbal zugespitzt wird, ohne daß ein inhaltlicher Mehrwert dadurch sichtbar würde. Lediglich die eingangs geschilderte Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich einen – rechtlich nun allemal problematischen – Furor einreden zu lassen, würde damit gefördert. Setzt man aber an die Stelle von „Feindstrafrecht“ das, was zunehmend dahinter zum Vorschein kommt, nämlich „Gefahrenabwehrrecht“, so bewegt man sich keineswegs in einer neuen Umgebung, sondern auf einem über ein Jahrhundert gewachsenem, partiell auch schon sehr elaborierten Rechtsgebiet mit zahlreichen Binnengarantien, Gerechtigkeitsmaximen und Verhältnismäßigkeits-Ausprägungen – also gleichfalls auf keiner Hobbesschen ,tabula rasa‘. Dann aber treten auch die Verdienste dieser Jakobsschen Ausführungen, trotz aller Kritik an dessen Konzeption56, zutage: Denn er hebt uns deutlich ins Be54 Das heißt nicht, daß rechtstatsächlich nicht immer wieder Beispiele von Rückfällen in die „Barbarei“ zu beobachten wären, vom 2. Weltkrieg bis hin zu Abu Ghuraib u.ä. 55 S. überblicksweise Bothe, in: v. Vitzhum (o. Fn. 41), 8. Abschnitt Rn. 62 ff.; Herdegen (o. Fn. 41), § 56 Rn. 9 ff. – Nur ein problematisch veralteter, unterkomplexer Rechts-Begriff würde aus der teils flagrant defizitären rechtstatsächlichen Durchsetzung des ius in bello eben den Rechtscharakter des (Kriegs-)Völkerrechts, und damit seine normative „Gehegtheit“, verneinen; vgl. zum Rechtscharakter des Völkerrechts Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994, 10. Kapitel, S. 213 ff. 56 Vgl. u. a. Paeffgen, in: NK-StGB (o. Fn. 11), Vor § 32 Rn. 212 (214); dagegen Jakobs, ZStW 117 (2005), 839, 845, Fn. 14. – Mit sehr unterschiedlicher Begründung und Stoßrichtung (und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) krit.-abl. etwa: H. J. Albrecht, in: FS Nehm, 2006, S. 17 ff.; Ambos, ZStR 124 (2006), 1 ff. (krit.); Aponte, Krieg und Feindstrafrecht. Überlegungen zum „effizienten“ Feindstrafrecht anhand der Situation in Kolumbien, 2004; ders., Feind oder Bürger? Günther Jakobs und das Dilemma eines feindlichen Strafrechts, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, http: / / www.schriftenreihe.com / Texte /-aponte_red.pdf; ders.,

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wusstsein, wieviel von dem polizeirechtlichen Denken schon längst unser geltendes, angebliches „Bürger-“ oder „Normalstrafrecht“ unterwandert hat, – durchaus mit einem kriegerischen Vokabular, das an „Feindstrafrecht“ gemahnt, – obwohl dieses doch als solches von den meisten als so obszön zurückgewiesenen wird. Erwähnt seien hier nur zwei materielle Normenbereiche: Sicherungsverwahrung und terroristische Vereinigung, sowie ein prozessualer Vorschriftenkomplex, die Kontaktsperre. I.d.T. haben wir uns im Gefolge eines ebenso einflussreichen wie unklaren57 Denkers wie Franz v. Liszt angewöhnt58, spezial-, aber auch generalpräventive HRRS 2006, 297 ff.; J. Arnold, HRRS 2006, 303 ff.; Brunkhorst, Folter vor Recht – Das Elend des repressiven Liberalismus, in: Bl. dt. u. internat. Politik 2005, 75 ff.; Bung, HRRS 2006, 63; Cancio Meliá, ZStW 117 (2005), 267 ff.; Crespo, Das „Feindstrafrecht“ darf nicht sein!, ZIS 2006, 413; Donini, Das Strafrecht und der „Feind“, 2007, S. 38 ff.; Fischer, Strafgesetzbuch, 55. Aufl. 2008, Einl Rn. 12a; Frisch, in: FS Jung, 2007, S. 189 ff.; Gössel, in: FS Schroeder, 2006, S. 33 ff.; Greco, GA 2006, 96 ff.; Haffke, KritJ 2005, 17 ff.; Hamm, in: Neue Lust auf Strafen, 2005, S. 105 ff.; Hassemer, HRRS 2006, 130 ff.; ders., in: Schroeder-FS, 2006, S. 51 ff.; Hefendehl, StV 2005, 156 ff.; Hegner, ZStW 117 (2005), 865, 882 ff.; Hörnle, GA 2006, 80 ff.; Kindhäuser, in: FS Schroeder, 2006, S. 81 ff.; Krauß, Vom Bürgerstrafrecht zum Feindstrafrecht, in: Uwer / Organisationsbüro StV-Vereinigungen (Hrsg.), „Bitte bewahren Sie Ruhe“ – Leben im Feindrechtsstaat, 2006, S. 79 ff.; Malek, HRRS 2006, 316 ff.; Mir Puig, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 89 ff.; Müssig, in: FS Klaus-Dieter Becker, Bd. 2, 2007, S. 1033 ff.; Munoz Conde, Über das „Feindstrafrecht“, 2007; Prittwitz, StV 2006, 610 f.; Rosenau, in: FS Venzlaff, 2006, S. 286; Sacher, ZStW 118 (2006), 574, 605 ff.; Saliger, JZ 2006, 756 ff. (freiheitsfeindlich-totalisierende Theorie); Scheffler, in: FS Schwind, 2006, S. 123 ff.; Schünemann, GA 2003, 299, 313 (scharf abl.); Silva Sánchez, ZStW 118 (2006), S. 547 ff.; Hendrik Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten?, 2004; Eser, in: Schönke / Schröder. StGB, 27. Aufl. 2006, Vor § 13 Rn. 5; Lorenz Schulz, ZStW 112 (2000), 653 ff.; Sinn, ZIS 2006, 107 ff.; Streng, in: Strafrecht in den Vereinigten Staaten und Deutschland, 2006, S. 195 ff.; ders., in: Uwer / Organisationsbüro StV-Vereinigungen (o. selbe Fn.) S. 227 ff.; Zaczyk, in: Enders / Kahlo, Toleranz als Ordnungsprinzip?, 2007, S. 235 ff. – Differenzierend krit., aber i. E. zust., etwa: Pèrez del Valle, in: FS Jakobs, 2007, S. 515 ff.; Polaino Novarete, in: FS Jakobs, 2007, S. 529 ff.; Roellecke, JZ 2006, 265 ff. (Staat könne Terroristen nicht in sein Reintegrationskalkül aufnehmen); D. Sauer, NJW 2005, 1703 ff. 57 Vgl. dazu v. Mayenburg, Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, 2006, S. 92 ff.; vgl. auch Naucke, ZStW 94 (1982), 525, 545: „Es muß immer wieder untersucht werden, ob in der Tat, wie es eine verbreitete Meinung annimmt, der Kriminalpolitiker v. Liszt ein liberaler Dogmatiker war.“, und 561 f.: „Die üblichen Adjektive für die Kriminalpolitik des Marburger Programms: empirisch, wissenschaftlich, nicht-metaphysisch (diesseitig), effektiv, sozial und liberal müssen überprüft werden, vor allem in ihrem Verhältnis zueinander. Möglicherweise sind alle diese Adjektive nur Synonyme, freilich sich verstärkende Synonyme für ,jeweils zweckmäßige Kriminalpolitik‘.“ 58 Vgl. etwa v. Liszt im sog. Marburger Programm (ZStW 3 [1882], 1 ff., dort die Sentenzen: [S. 36]: „2) Abschreckung der nicht-besserungsbedürftigen Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht-besserungsfähigen Verbrecher . . . Der Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum setzt genaue Kenntnis desselben voraus. Diese fehlt uns noch heute. Handelt es sich doch nur um ein Glied, allerdings um das bedeutendste und gefährlichste, in jener Kette von sozialen Krankheitserscheinungen, welche wir unter dem Gesamtnamen des Proletariats zusammenzufassen pflegen. Bettler und Vagabonden, Prostituierte beiderlei Geschlechts und

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Überlegungen in die Strafrechtsdogmatik zu integrieren. Gleichzeitig schwanken wir, je nach kriminalpolitischem „Bedarf“, zwischen den, z. T. ausgesprochen gegensätzlichen, Elementen hin und her59 – und vergessen auch schon einmal gerne die – angeblich verfassungsfeste, jedenfalls von der h. M. bei festlichen Anlässen monstranzartig vorangetragene – These von der Notwendigkeit, daß strafrechtliche Sanktionen, soweit sie menschliches Verhalten unmittelbar betreffen60, dem Schuldprinzip genügen müssen61. Alkoholisten, Gauner und Halbweltmenschen in weitestem Sinne geistig und körperlich degenerierte – sie alle bilden das Heer der grundsätzlichen Gegner der Gesellschaftsordnung, als dessen Elitetruppe die Gewohnheitsverbrecher erscheinen. Solange wir das vagabondierende Gaunertum nicht sozialethisch festgestellt haben, ist es vergebliches Bemühen, das Gewohnheitsverbrechertum als solches fassen zu wollen. Viel wird hier die Moralstatistik, viel insbesondere ihre Anwendung auf die heute noch einer verläßlichen Methode entbehrenden Kriminalanthropologie leisten können. Aber – wir dürfen nicht warten, bis diese Leistungen zutage gefördert sind. Und wir brauchen es nicht.“ . . . S. 39: „Gegen die Unverbesserlichen muß die Gesellschaft sich schützen; und da wir Köpfen und Hängen nicht wollen und Deportieren nicht können so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit, (bzw. auf unbestimmte Zeit). Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung: das sind demnach die unmittelbaren Wirkungen der Strafe; die in ihr liegenden Triebkräfte, durch welche sie den Schutz der Rechtsgüter bewirkt. ,Die Unschädlichmachung‘ der Unverbesserlichen denke ich mir in folgender Weise. Das Strafgesetzbuch bestimmt – in ähnlicher Fassung wie die §§ 244, 245 des geltenden Gesetzbuchs –, das bei dritter Verurteilung wegen eines der oben genannten {Diebstahl, Hehlerei, Raub, Erpressung, Betrug, Brandstiftung, Sachbeschädigung, gewaltsame Unzucht und Unzucht gegen Kinder} Verbrechen auf Einschließung auf unbestimmte Zeit zu erkennen ist. Die Strafe wird in besonderen Anstalten (Zucht- oder Arbeitshäusern) in Gemeinschaft verbüßt. Sie besteht in „Strafknechtschaft“ mit strengstem Arbeitszwang und möglichster Ausnutzung der Arbeitskraft; als Disziplinarstrafe wäre die Prügelstrafe kaum zu entbehren; obligatorischer und dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte müßte dem unbedingt entehrenden Charakter der Strafe scharf kennzeichnen. Einzelhaft hätte nur als Disziplinarstrafe, verbunden mit Dunkelarrest und strengstem Fasten einzutreten. Es braucht nicht jede Hoffnung auf Rückkehr in die Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Irrtümer des Richters bleiben ja immer möglich. Aber die Hoffnung müßte eine ganz entfernte, die Entlassung eine ganz ausnahmsweise sein. Alle 5 Jahre könnte der Aufsichtsrat bei dem Landgerichte, in dessen Sprengel die Verurteilung ausgesprochen wurde, den Antrag auf Entlassung stellen. Gibt die Strafkammer diesem Antrag statt, so erfolgt die Übergabe an die unten zu erwähnenden Besserungsanstalten. Schlechte Führung hat Rückversetzung in das Arbeitshaus zur Folge.“ – Kunstvoller demgegenüber: A. Merkel, in: ders., Kriminalistische Abhandlungen, Bd. 1, 1867, S. 104 ff.; ders., Lehrbuch, 1889, §§ 64 ff. (S. 171 ff.). – Vgl. aber auch eine moderne, sehr mediatisierte Form einer „(positiven) Integrationsprävention“, die nur indirekt, als Folge gerechten Strafens, entstehen können soll, bei Hassemer, in: FS Schroeder, 2006, S. 51, 63 f. ( ZIS 2006, 266, 272 f.). 59 Ähnlich „elegant“ changierend wie bei den vorgenannten Konstellationen hat auch der 2. Senat des BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der „Maßnahme“ des erweiterten Verfalls (§ 73d StGB) festgestellt (BVerfG NJW 2004, 2073 ff.), indem er diesem einfach eine positiv-generalpräventive Konzeption unterlegt und damit den im Schrifttum überzeugend vorgetragenen Bedenken wegen Verletzung der Eigentumsgarantie, des Schuldprinzips und der Unschuldsvermutung – scheinbar – den Boden entzieht, weil die Letztgenannten nur für Strafen und strafähnliche Sanktionen Geltung beanspruchten. Vgl. dagegen treffend: Fischer (o. Fn. 56), § 73d Rn. 6; krit. auch: Herzog, JR 2004, 494 ff. ; ders., in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 73d Rn. 1.

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5. Anschauungsfälle für innerstaatliches Sicherheitsrecht Greifen wir also jene drei Beispiele auf, an denen Jakobs das Bestehen von bereits geltendem „Feindstrafrecht“ veranschaulicht:62 a) §§ 66 f. und § 66b StGB (Sicherungsverwahrung und nachträgliche Sicherungsverwahrung); b) §§ 129a, 129b StGB (terroristische Vereinigung); c) §§ 31 ff. EGGVG (Kontaktsperre). a) Sicherungsverwahrung und nachträgliche Sicherungsverwahrung: Zwar knüpfen Maßregeln, und so auch die exemplarische Sicherungsverwahrung63, an begangene Taten an, werden auch nur unter den (weitgehend) gleichen prozeduralen und verfassungsrechtlichen Garantien verhängt. Gleichwohl sind sie – ziemlich unstreitig – Maßnahmen zur Gefahrenvorbeugung64. Wegen ihrer traditionellen 60 Die methodologisch durchaus schwierige Frage, wie man das Verhalten Juristischer Personen strafrechtlich sanktionieren kann, soll hier ausgeblendet bleiben. Prinzipiell schwerlich bestreitbar stellt Jakobs, in: FS Lüderssen, 2002, S. 559, 571, diese Möglichkeit in Abrede. – Vgl. zu dem Problem allerdings auch etwa Dannecker, GA 2001, 101 ff. (befürwortend); Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 307 ff. (befürwortet die Schaffung eines originären Verbandstrafrechts); Schünemann, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, Vor § 25 Rn. 20 ff. (für ein Maßregelmodell als Legitimationsbasis für Verbandssanktionen de lege ferenda); Marxen, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 14 Rn. 8 f.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 59 ff. (abl.). Damit bleibt auch der – problematische – Druck aus Europa unthematisiert (vgl. etwa Art. 14 Corpus Juris EU Finanzinteressen).– Nur als Phänomen ist es interessant, festzustellen, daß in diesem Kontext noch immer mit Zähnen und Klauen das Prinzip der persönlichen Verantwortung verteidigt wird, – während man anderweitig, wo es keine wirtschaftlichen Großinstitutionen trifft, sondern tatsächlich individuelle Personen, diese Intransingenz schon lange aufgegeben hat (actio libera in causa z. B.; vgl. dazu etwa krit. Paeffgen, in: NK-StGB, 3. Aufl. 2008, Vor § 323a Rn. 21 ff.). 61 Vgl. nur BVerfGE 20, 323, 331; 25, 269, 288; 80, 244, 255; 86, 288, 313; an sich ganz h.M., auch in der Literatur: Fischer (o. Fn. 56), § 46 Rn. 5; Hirsch, ZStW 106 (1994), 746, 748; Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 46 Rn. 1; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 56), Vor §§ 13 ff. Rn. 103 f.; Wolff, AöR 124 (1999), S. 55, 60 ff. 62 Auf das erste Kriterium der Kategorie „Feindstrafrecht“, der weiten Vorfeld-Kriminalisierung, soll hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden; mit Ausnahme der §§ 129a / b StGB trifft aber die Prädikatisierung nur selten zu (etwa: der in fraudulöser Absicht handelnde Versicherungsnehmer, § 265 StGB, als Feind?!), s. ausführlicher die Kritik bei Kindhäuser, in: FS Schroeder, 2006, 81, 95 f. Vgl. aber auch die verbalen Gegenbeispiele aus Italien bei Donini, Strafrecht, 2007, S. 33 Fn. 51. 63 Nach wie vor grundlegend: der Stooßsche Vorentwurf zu einem Schweizer StGB (1893), Art. 41. Stooß sah eine Ersetzung der Strafe durch eine „Verwahrung“ vor. 64 Vgl. in unüberbietbarer Klarheit: Freisler, in: Rietzsch (Hrsg.), Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung, 1938, S. 9: „Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe mit unbestimmtem Strafmaß. Sie ist überhaupt keine Strafe! Das Verbrechen wird durch die bestimmte Strafe, die das Gericht verhängt, gesühnt. Alles andere sind Maßnahmen z(u)r Sicherung des Volkes!“ – Vgl. auch die Definition des „gefährlichen Gewohnheitsverbrechers“ durch Rietzsch, a. a. O., S. 25, 50: „. . . er sollte vielmehr auf die subjektive Persönlichkeit des

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Rubrizierung unter das materielle Strafrecht sieht kaum noch jemand den nahezu vollständigen Ausbruch aus dessen materialen Prämissen65. – Noch viel deutlicher wird das bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung: Nachdem das BVerfG66 – kompetenziell sehr zu Unrecht, funktional aber nachvollziehbar67 – zwei LandesTäters als Kennzeichnung einer Einstellung, einer Gesinnung bezogen werden, die weitere erhebliche Straftaten ernstlich erwarten läßt ( . . .gleichbedeutend. . . mit ,gemeinschaftsfeindlich‘)“ (vgl. auch RGSt 68, 271 f. [„Die öffentliche Sicherheit erfordert die Sicherungsverwahrung, wenn nach der Persönlichkeit des Täters die Gefahr besteht, daß er auch in Zukunft erhebliche Angriffe gegen strafrechtlich geschützte Rechtsgüter irgendwelcher Art unternehmen werde, und wenn keine anderen Maßnahmen oder Umstände in Betracht kommen, die einen ausreichenden Schutz verbürgen.“]; RG JW 1934, 2057 f. zu 18) – gegen Exner, Theorie der Sicherungsmittel, 1914, S. 63 ff., der die Gefährlichkeit rein objektiv bestimmt sehen wollte („ethisch farblos“); ebenso Mezger , MonKrimPsych 1923, 135, 156 ff. 65 Vgl. nur Hassemer / Neumann, in: NK-StGB (o. Fn. 11), Vor § 1 Rn. 240, 263 ff., 288 ff. (mit der dortigen Option für die Theorie der positiven Generalprävention); Pieroth, JZ 2002, 922, 923, r.Sp. – unter Berufung auf die Historie und den Parlamentarischen Rat. 66 Vgl. BVerfGE 109, 190 ff. (= NJW 2004, 750 ff.). Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären, ist man geneigt zu sagen, – und kann etwa auf die verfehlte (weil weitgehend methodologiefreien) und schwer erträglichen Entscheidungen des BVerfG, wie BVerfGE 113, 348, 368 ff. (= NJW 2005, 2603 ff.) (NdsSOG, vorbeugende / vorsorgende Telekommunikationsüberwachung gegen Straftaten) verweisen (mit z. T. [insbesondere im kompetenziellen Bereich] zust. Bespr. von Gusy, NdsVwBl 2006, 65, 66 f.; Lepsius, Jura 2006, 929; Vahle, DVP 2005, 473). Das BVerfG wendet sich hier dezidiert gegen die gegenteilige Position von Gärditz, Strafprozess u. Prävention, 2003, S. 328, 331, 359, 429 und mir (Paeffgen, JZ 1991, 437, 441 m. w. N. in Fn. 56; Paeffgen [2007], in: SK-StPO, 2. Aufl., Vor § 112 Rn. 14; [1992] § 126a Rn. 2); aber auch Schoch in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 17; Würtenberger / Heckmann, Polizeirecht BW, 6. Aufl. 2005, Rn. 181 ff.). – Schon früher aber ähnlich: BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), BVerfGE 103, 21, 30 (= NJW 2001, 879 = NStZ 2001, 328 m. zust. Anm. Senge, NStZ 2001, 331; zust. u. a.: Fluck, NJW 2001, 2292; Wollweber, NJW 2001, 2304. Mehr oder minder resignativ zustimmend auch derjenige Teil der deutschen Polizeirechtslehre, der früher dem hier nach wie vor für richtig gehaltenen Standpunkt gefolgt ist, Gusy, Polizeirecht, 6. Aufl. 2006, Rn. 20 ff.; so auch schon: Albers, Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereich der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, 2001, S. 265 ff. , und leider auch Rogall, in: SK (o. selbe Fn.), § 81b Rn. 10 – und schon immer die strafprozessuale Praktikerriege, allen voran Schoreit, DVR 1982, 39, 47; ders., KritV 1989, 201 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 81b Rn. 3 (immerhin diff.); sowie einige Vertreter des Öffentlichen Rechts wie Götz, Polizeirecht, 13. Aufl. 2001, Rn. 508; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2007, Rn. 30. Dem BVerfG nunmehr auch folgend: BVerwG JZ 2006, 727 m. abl. Anm. Eisenberg / Puschke und zust. Bespr. Schenke JZ 2006, 707 ff. – Nach wie vor krit. (und tendenziell am Richtigen festhaltend): Pieroth / Schlink / Kniesel, Polizeirecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 6 ff. 67 Das unausgesprochene Hauptmovens für die verquere Rubrizierung unter „Strafrecht“ dürfte die Angst vor einer zu sehr aufgesplitterten Vielfalt der Eingriffsregelungen sein. Allerdings geben die jüngsten Kostproben länderspezifischer Grundrechtsignoranz (Nichtigerklärung von § 5 II Nr. 11 S. 1 Alt. 2 VerfSchuG NRW, BVerfG NJW 2008, 822 ff. [staatliche Online-Durchsuchung]; und von § 14 V HSOG / § 184 LVwG SH [anlassloses Scannen von Autokennzeichen] durch BVerfG HRRS 2008, 111 f.) einem glühenden Befürworter des Trennungsprinzips – und zwar auch im Verhältnis von Polizei und Nachrichtendienst (vgl. Paeffgen, JZ 1991, 437 ff.; ders., DRiZ 1998, 317, 323; ders., StV 1999, 625, 626; ders., StV

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gesetze mangels Gesetzgebungszuständigkeit hatte scheitern lassen, und zugleich eine allfällige Bundesregelung vorgezeichnet hatte, mündeten diese Vorgaben in den § 66b StGB. Dieser verzichtet in einer Modalität sogar auf vorherige Aburteilungen (§ 66b II StGB). Es nimmt nicht groß wunder, daß diese Regelung vom BVerfG als nicht zu beanstanden eingestuft wurde68. Aber, entgegen dem neuen BVerfG-Judikat zum anlaßlosen Scannen von Autokennzeichen (und anderen Entscheidungen), hält die Kammer hier die – wenig aussagekräftige – Voraussetzung einer über 5jährigen Freiheitsstrafe und einen eingeschränkteren Katalog der Anlasstaten schon für ausreichend, um die Norm für „verhältnismäßig“ zu erklären69. – Aber dies soll hier nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr soll der Hinweis auf die Faktizität genügen: Wie viele geistige Zwitter leistet auch diese Figur nichts Rechtes. Wenn man es unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr betrachtet, so ist schwer verständlich zu machen, wie – selbst bei einem fehlerhaften Übersehen der Gefahrenlage durch das Tatgericht70 – die (unterstellt: diagnostizierbare) Fortdauer der rechtsgutsgefährdenden Haltung des Verurteilten auf einmal nicht mehr gefahrerheblich – und damit abwehrerheischend – sein soll. Ebenso unklar bleibt (sub specie Gefahrenabwehr), wieso das Faktum einer stattgehabten Entlassung aus dem Strafvollzug eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ausschließe71, sofern dem Verurteilten nicht zuvor mitgeteilt worden sei, daß die StA prüfe, ob eine nachträgliche Anordnung der Maßregel in Betracht komme und ein entsprechender Maßregelantrag vor der Haftentlassung gestellt worden sei.72 – Umgekehrt läßt 1999, 668 ff.; Paeffgen / Gärditz, in: Wolter / Schenke, Zeugnisverweigerungsrechte, 2000, S. 239 ff.) nicht gerade Rückenwind bei der Verteidigung dieser Position. 68 BVerfG (1. Kam., 2. Sen.) NStZ 2007, 87 ff.; immerhin hatte BVerfGE 109, 190, schon Maßgebliches „vorgegeben“. – Grds. krit. Bender, Die nachträgliche Sicherheitsverwahrung, 2007, S. 187. 69 BVerfG NStZ 2007, 87 (Rn. 9) – mit berechtigter Kritik von Foth a. a. O., S. 89, 90 – schon am Handwerklichen. 70 So selbst die dissentierende Minderheit BVerfGE 109, 190, 247 ff. (= NJW 2004, 750, 760, 761). – Zu den grotesken Differenzierungen, die der Gesetzgeber dem Exegeten mit auf den Weg gibt: Es sei ein „gegenüber § 66a weiter gesteigerte(r) Wahrscheinlichkeitsgrad“ erforderlich (BT-Drs. 15 / 2887, 13), der aber „nicht im empirischen Sinne“ zu verstehen sei (a. a. O.), sondern als „Ergebnis einer wertenden Abwägung“. Mit Recht giftig fragt Fischer (o. Fn. 56), § 66b Rn. 37, wieso eine solche angeblich nicht-empirische Abwägung vom Vorliegen neuer Tatsachen abhängig gemacht werde. Vgl. auch Ullenbruch, in: MK-StGB, 2004, § 66b Rn. 83: „verbalen Schönklang“. Wieso andererseits, lt. Fischer (o. Fn. 56), § 66b Rn. 38 (gegen BGHSt 50, 121, 131), die dort für unzureichend gehaltene Rückfallgefahr von über 50% „sehr hoch“ sein soll, bleibt unerfindlich: Denn damit ist nur ein geringfügiges Überschreiten der Gleichwahrscheinlichkeit von Rückfall und Nichtrückfall ausgeschlossen. Hingegen ist die vom BGH a. a. O., vorausgesetzte Differenz von einer erforderlichen „gegenwärtige(n) erhebliche(n) Gefährlichkeit“ zu etwaigen, unzureichenden, „Erwägungen zur Rückfallwahrscheinlichkeit“ mehr als dunkel. 71 So BGHSt 50, 180 (= NJW 2005, 3078); zust. Fischer (o. Fn. 56), § 66b Rn. 24 (für Möglichkeit einer Anordnungsentscheidung auch dann, wenn der Verurteilte zwischenzeitlich in Freiheit gelangt ist, ohne das Mitteilungserfordernis der StA zu fordern, anders als BGH). 72 Selbst mit dieser Einschränkung hält Ullenbruch, NStZ 2007, 62, 68, eine nach Haftentlassung erfolgende nachträgliche Sicherungsverwahrung für unzulässig.

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sich unter der Prämisse, es sei gegen den Angeklagten eine schuldangemessene Strafe verhängt worden, nicht klarlegen, wieso er – strafrechtlich – einen weiteren Freiheitsentzug soll hinnehmen müssen. Andere „gefährliche“ Menschen73 können wir auch nicht in Haft nehmen, – jedenfalls nicht für längere Zeit. Auch die Tatsache, daß – verbal – an alte Fakten angeknüpft wird (nämlich an die Tat, in der sich eine bestimmte, rechtsgutsfeindliche Gesinnung manifestiert hat), in Kombination mit vermeintlichen Noven, nämlich einer bei Urteilsfällung nicht vorhersehbaren Fortdauer, Verstärkung oder gar Neuentstehung von erheblichen rechtsgutsgefährdenden Neigungen, kann den Umstand einer Ne-bis-in-idem-Verletzung ebensowenig wie den Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot74 überspielen.75 b) Terroristische Vereinigung76: Jenseits offensichtlicher Fälle wie denen eines Mohammed Atta wird die Schwierigkeit offenbar, den nach Jakobs zum Verlust des Personen-Status führenden Terrorismus-Vorwurf genauer zu umreißen. Anschaulich werden die Probleme etwa bei dem Streit zwischen GBA und BGH um die Einordnung der „militanten Gruppe“ als eine terroristische oder bloß kriminelle Vereinigung: Jakobs Maxime umsetzend, müßte man fragen, ob man wirklich ein paar verquere Altlinke, die vorhaben, Polizei- oder Bundeswehrfahrzeuge anzustecken, „depersonalisieren“ und als „Feinde“ bekämpfen dürfen sollte.77 Weder auf europäischer noch auf nationaler Ebene besteht ein hinreichender Konsens über eine tragfähige „Terrorismus“-Definition.78 Eine solche wäre aber für Jakobs’ „dritte Spur“ wohl doch essentiell. Dabei muß man sich immer vor Augen halten, 73 Exemplarisch ein Stalker, der mit einem Beil seine Exfreundin tödlich und deren Schwester schwer verletzt hat, weil er vorgeblich ,unbedingt sein Kind sehen wollte‘, vgl. Spiegel online v. 12. 3. 2008, http: / / www.spiegel.de / panorama / justiz / 0,1518,541043, 00.html. 74 Das das BVerfG, mit der h. M., für Maßregeln – obwohl doch vorgeblich „Strafrecht“ – schlicht für nicht einschlägig erklärt: BVerfG NJW 2004, 739, 744; BVerfGE 109, 133, 167 ff. (= NJW 2004, 750, 757 f.); BGH 50, 121, 130; 50, 180, 185; zust. Fischer (o. Fn. 56), § 66b Rn. 42, und die überwiegende öffentlich-rechtliche Literatur, etwa: Degenhart, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 103 Rn. 57 f.; Kunig in: v. Münch / Kunig, GG, 5. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 20; Schmidt-Aßmann in: Maunz / Dürig, GG, 1992, Art. 103 Abs. II Rn. 244; leider auch: Rüping (1990), in: BK-GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 61, 75 und auch Graßhof (2004), Ergänzungen zu Art 103 Abs. 2 zu Rn. 60, 61 und zu Rn. 75; dagegen u. a. – systematisch zutr. – Renzikowski, JR 2004, 271, 272 ff.; Streng, StV 2006, 92, 97 f. 75 Richtig u. a. die unten in Fn. 98 aufgeführten krit. Stimmen. 76 Vgl. dazu jüngst: Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland, 2007, S. 119 ff. – Gerade am § 129b StGB wird der Formenmißbrauch deutlich: Weil polizeirechtlich „nichts ging“, bedurfte es eines „Straf-“tatbestandes, damit man gefahrenabwehrend etwas machen konnte. 77 Der BGH hat im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft den Tatverdacht der terroristischen Vereinigung verneint und will § 129a II – zu Recht – restriktiv in Bezug auf die objektive Schädigungseignung auslegen, s. BGH NJW 2008, 86 ff. – Allerdings wird Jakobs sich diesbezüglich sicher auf den Modellcharakter seiner Argumentation zurückziehen, vgl. etwa Nw. oben Fn. 44, 45. 78 S. zu den intrikaten Problemen, das Terrorismus-Problem terminologisch in den Griff zu bekommen, Weigend, in: FS Nehm, 2006, S. 151 ff.

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daß der Terrorismusbegriff ein hochpolitischer79, nicht nur dem jeweiligen politisch-sozialen System, sondern auch den dortigen zeitweiligen Konjunkturen verhafteter, und damit in seiner mangelnden Spezifität gefährlicher ist80. Und im materiellen Strafrecht liegt seine einzige Aufgabe in einer Vorfeld-Kriminalisierung, sind doch die eigentlich terroristischen Gewalttaten stets selbst schon hinreichend kriminalisiert81. Bei der Inkriminierung der Bildung einer terroristischen Vereinigung sollte man nicht vergessen, daß die eigentliche „Pointe“ des Tatvorwurfs des § 129a die „Schlüsselfunktion“ für erweiterte prozessuale Eingriffsbefugnisse darstellt, so für Telefon- und akustische Wohnraumüberwachung (§§ 100a I Nr. 1d, 100c II Nr. 1b StPO)82. In dieser Scheinlegitimierung strafprozessualer, statt – materiell nicht minder problematischer83 – polizei- (oder auch: geheimdienstlicher), Grundrechtseingriffe kann sich Jakobs in der Sache bestätigt sehen: Das ist „Gefahrenabwehrrecht“. – Doch das erzwingt nicht, sein Lösungsmodell in toto anzuerkennen.84 Es zwingt nur zu ernsthafterer Selbsterforschung im Lager der „h. M.“ – und m. E. zu einer Aussiedlung solcher Normen aus dem Strafrecht i.e.S. Ihre Überleitung in das apostrophierte vorbeugende Sicherungsrecht könnte freilich erst erfolgen, wenn eine diesbezüglich zureichende Dogmatik entfaltet worden wäre, die über eine schlichte polizeirechtliche Störungsbeseitigung hinausginge. 79 Erhellend dazu, wie dümmlich die gängige Verwendung dieses Begriffes allein schon im Kontext mit islamistischen Gruppierungen ist und wie sehr unsere Mediengesellschaft sich von verquasten Schlagworten wie dem eines „clash of civilization“ eines Samuel P. Huntingtons (1998) einnebeln läßt: Olivier Roy, Der falsche Krieg, 2008, S. 58, 59 ff. 80 Vgl. etwa Sorel, European Journal of International Law 2003, 365, 369: „One shouldn’t try to define terrorism in order to reach a quick agreement; to do so runs the risk in getting into deeper and deeper water. It is a temptation that should be avoided“. 81 Richtig stellt Müssig, in: FS Klaus-Dieter Becker, Bd. 2, 2007, S. 1033, 1048, fest, daß Jakobs ursprünglich noch den Zugriff auf das forum internum des Subjekts als Diminuierung des Subjekts ansah (ZStW 97 [1985], 751, 784), nunmehr aber daraus eine generelle ,Pflicht des Bürgers‘ zu keltern bereit ist. 82 Desweiteren: Durchsuchung ganzer Gebäude (§ 103 I 2 StPO), Einrichtung von Kontrollstellen (§ 111 StPO), Schleppnetzfahndung (§ 163d I StPO), die Überwachung des schriftlichen Verkehrs zwischen dem Beschuldigten und seinem Strafverteidiger (§ 148 II StPO), Verteidigerausschluß (§ 138a V StPO) sowie die Möglichkeit der Kontaktsperre (§§ 31 ff. EGGVG). 83 . . . aber kategorial dort hingehörend . . . 84 Denn, wie gesagt, ist das Polizeirecht und seine Verwandten von einer Materie hors la loi meilenweit entfernt. Man schießt auch dort nicht auf alles, was sich bewegt. – Vielleicht sollte Jakobs mehr berücksichtigen, daß jenes Recht das berühmte Kantsche Diktum, daß „der Mensch (nicht) unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden“ dürfe (Kant, Metaphysik der Sitten, Werke VII [ed. Weischedel, 1968], S. 453), durchaus ernst nimmt. Denn das Gefahrenabwehrrecht ist durchdrungen von Analysen der Verhältnismäßigkeit, Rücksichtnahme auf Freiheitsrechte bei Entscheidungs- und Auswahlermessen, Einbeziehen von der Erkenntnisfähigkeit und ethischen Ansprechbarkeit des Subjekts, Menschenwürde und anderen Topoi – mag ihre Umsetzung bisweilen rechtstatsächlich auch unterkomplex oder unbefriedigend ausfallen.

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c) Kontaktsperre: Pointiert, aber treffend spricht Jakobs im Zusammenhang mit §§ 31 ff. EGGVG von „krassesten feindstrafprozessualen Regelungen der Erledigung terroristischer Gefahren“85. Doch hört dann schon die Gemeinsamkeit mit dem hier Erwogenen85a auf. Denn während Jakobs darin nur ein anschauliches Beispiel sieht – und im übrigen auf US-Praktiken in Guantánamo verweist, sehe ich in dem angeführten US-Exempel keine Aufhebung von Rechten „in rechtlich geordneter Weise“86, sondern regelgeleitetes Unrecht.

III. „Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrecht“ / „Sicherheitsrecht“ Zwischenfazit: Mit kühnen Konstruktionen – von Lebensführungsschuld87 bis hin zu engeren Konzepten der Vorverantwortlichkeit – suchte und sucht man jene Maßnahmen schlichter, aber äußerst grundrechtsinvasiver Gefahrenabwehr in das System des „Schuldstrafrechts“ zu integrieren, – sucht, parallel dazu, weit in das Vorfeld der Entstehungsbedingungen von Kriminalität hinein strafprozessual Aufklärungsmöglichkeiten zu schaffen. Durch letzteres verschleifen sich die strafprozessualen Eingriffsbefugnisse immer mehr mit den polizeilichen und nachrichtendienstlichen. Vielleicht sollte sich das Strafrecht von jener „Lebenslüge“ endlich verabschieden, wenn es dem Schuldstrafrecht wieder seinen eigentlichen, und verbal vorgeblich immer noch zentralen, vermeintlich verfassungsrechtlich verbürgten88, Stellenwert zukommen lassen will. Andererseits ist nicht zu bezweifeln, daß der Staat u. a. auch die Aufgabe hat, die Sicherheit seiner Bürger in angemessenem Umfang zu schützen.89 Die empirische Sozialforschung wie die Kriminologie90 kennt Fälle Jakobs, HRRS 2004, 88, 93. Vgl. u., bei Fn. 134. 86 Jakobs, ebenda. 87 Mezger, ZStW 57 (1938), 675, 688 f. 88 BVerfGE 20, 323, 331; 80, 244, 255; 86, 288, 313. 89 BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; Blau, in: FS Schwind, 2006, S. 525, 530 f.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit: zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 3 f.; ders., in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V (1992), § 111 Rn. 157: Das „Grundrecht auf Sicherheit“ als grundrechtliche Schutzpflicht rechtfertigt Eingriffsnormen als grundrechtsbeschränkendes Mittel. 90 Die Begehung vieler Straftaten sei ein Prädiktor für spätere Gewaltdelinquenz, ebenso wie die Begehung von schwereren Gewalttaten ein Prädiktor für spätere allgemeine Rückfälligkeit sei. Die Rückfälligkeit nach psychiatrischer Unterbringung sei zwar nicht sehr groß, sogar gering (dies gelte allerdings nicht für die spezifische Rückfälligkeit schwerer Gewalttäter), so z. B.: Harrendorf, Rückfälligkeit und kriminelle Karrieren von Gewalttätern: Ergebnisse einer bundesweiten Rückfalluntersuchung, 2007, S. 75 ff. Die Rückfälligkeit sei nach einer psychiatrischen Unterbringung sogar erhöht. – Zu der Frage der kriminellen Karrieren und der diesbezüglichen Forschungsgrundlagen, vgl. Mischkowitz, Kriminelle Karrieren und ihr Abbruch, S. 65 ff., 190 ff. Nach den Untersuchungen von Prentky / Lee / Knight / Cerce, Recidivism Rates Among Child Molesters and Rapists: A Methodological Analysis, Law and 85

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von Haltungskriminellen, auch psychisch gestörten Persönlichkeiten, bei denen auch langjährige Strafen jene Haltung oder Disposition nicht beeinflussen konnten. Alle mir bekannten Rechtsordnungen halten dafür, daß in solchen Fällen – aus Gründen des Allgemeinschutzes – es möglich sein muß, derartige Personen von der Begehung weiterer Taten abzuhalten91. Viele Rechtsordnungen sind dabei indes nicht dem, hier zwecks Vereinfachung und Personalisierung, „v. Lisztsches Modell“ genannten, zweispurigen Modell gefolgt, sondern sehen, aus ihrer Sicht: zureichende, funktionale Äquivalente in besonders langen und / oder unbestimmten Freiheitsstrafen92. Doch ist selbst mit der Befürwortung solcher Konzeptionen noch nichts über das empirische Punitivitätsniveau ausgesagt. So ist etwa in Großbritannien, das einem solch monistischen Konzept folgt, die Zahl der Verurteilungen zu lebenslanger oder unbestimmter Freiheitsstrafe dreimal höher als in Deutschland.93 Wenn es aber, soweit ich es überblicke, „alle“ so (o.ä.) machen94, so scheint für diese Dimension des Rechts wohl ein zumindest sehr starkes, jedenfalls von „der“ Politik möglicherweise als unabweisbar empfundenes Bedürfnis zu bestehen. Daß sich dahinter aber medial leicht aufputschbare (und selten calmierte) Augenblicksstimmungen verbergen, die sich bisweilen in kaum stillbare gesellschaftliche Punitivitäts- und Sicherheitsbedürfnisse steigern, mag der auf eine Volksinitiative zurückgehende neue Art. 123a der Schweizerischen Bundesverfassung belegen, der die lebenslange Verwahrung „für nicht therapierbare, extrem Human Behavior Nr. 21, 1997, 635, 651 f., sei das einschlägige Rückfallrisiko z. B. von Sexualtätern auch nach vielen Jahren noch recht hoch. Bei einem fünfjährigen Rückfallintervall werde die Rückfälligkeit gegenüber einem 25- jährigen Intervall um mehr als 50% unterschätzt. Hinzu komme, daß ausschließlich erneute Verurteilungen untersucht würden, nicht aber alle bekannt gewordenen Straftaten. Zudem betrachteten viele Untersuchungen nur Personen, die aus dem Straf- bzw. Maßregelvollzug entlassen worden seien, und auch ansonsten lag häufig eine Negativauswahl vor. 91 In jüngerer Zeit will etwa Köhler die Maßregeln auf schuldunfähige Delinquenten beschränken, auf habituelle Schwerkriminalität schuldfähiger Personen hingegen mit dem Schuldstrafrecht und längeren Freiheitsstrafen reagieren, vgl. Köhler, in: FS Jakobs, 2007, S. 273 ff.; so schon ders., AT, 1997, S. 55 ff. 92 Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2006, S. 221; Böllinger / Pollähne, in: NKStGB (o. Fn. 11), § 61 Rn. 6 f. – Nicht weiter thematisiert werden soll hier die Todesstrafe oder die Verbannung, obwohl sie natürlich in diesen Kontext gehören. 93 Knapp 7.000 Inhaftierte, vgl. Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773, 794; – gegenüber knapp 2300 Verurteilten inklusive Sicherungsverwahrten in der Bundesrepublik Deutschland (Statistisches Bundesamt, Stichtag 31. 03. 2006, http: / / www.destatis.de) – und das bei einer um ein Viertel geringeren Bevölkerungszahl (60,2 Millionen i.V.z. ca. 82 Millionen). 94 Dabei will mir dieses Faktum nur insoweit belangreich erscheinen, als es bisher keinen seriösen Vorschlag gibt, wie man des Problems anders Herr wird, als durch Wegschließen, wenn man nicht zu dem völlig unerträglichen „Eliminieren“, also Töten, greifen will. Das „Daß“ sei deswegen im weiteren als unabweisbare Notwendigkeit und damit als archimedischer Punkt unterstellt. Das heißt freilich nicht, daß auch das „Wie“ hingenommen werden soll, weil und soweit es „alle“, oder jedenfalls viele Staaten machen. Dies zu thematisieren ist im Gegenteil Anlaß und Gegenstand der obigen Zeilen.

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gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter“ verfassungsfest (!) per Volksentscheid eingeführt hat95. Wenn wir dieses Bedürfnis befriedigen wollen, dann benötigen wir aber gar manches neu bzw. anderes gegenüber dem derzeitigen Rechtszustand: Wir brauchen einen verfassungsrechtlichen Kompetenztitel. Denn sofern es sich bei dem Vorbeugungsrecht um kein Strafrecht handelte – mangels Aktualisierung des Schuldprinzips –, so fiele es an sich in die Generalkompetenz der Länder – mit dem Risiko einer 16fach differenten Rechtslage. Andererseits verböte sich m. E. die derzeit vom BVerfG praktizierte Arrondierungs-Technik zum Begriff des (materiellen und formalen) Strafrechts in Art. 74 I Nr. 1 GG, mit deren Hilfe das, für den Schutz der Verfassung aufgestellte, Gericht dem Bund Kompetenzen in einem Bereich zuschanzt, um nicht zu sagen: erschleicht, die evident nicht straftatverfolgend, sondern günstigstenfalls gefahrenabwehrend sind – sei es in der Form der Verfolgungsvorsorge, sei es in der der Gefahrenvorsorge96. Eine ähnliche Suada 95 Art. 123a Schweizerische Bundesverfassung lautet: 1 Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den Gutachten, die für das Gerichtsurteil nötig sind, als extrem gefährlich erachtet und nicht therapierbar eingestuft, ist er wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Hafturlaub sind ausgeschlossen. 2 Nur wenn durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann und somit keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, können neue Gutachten erstellt werden. Sollte auf Grund dieser neuen Gutachten die Verwahrung aufgehoben werden, so muss die Haftung für einen Rückfall des Täters von der Behörde übernommen werden, die die Verwahrung aufgehoben hat. 3 Alle Gutachten zur Beurteilung der Sexual- und Gewaltstraftäter sind von mindestens zwei voneinander unabhängigen, erfahrenen Fachleuten unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu erstellen. – S. hierzu ausführlich Kuntz, in: FS Jung, 2007, 467, 469 ff., sowie Schwarzenegger / Hug / Jositsch, Strafrecht II – Strafen und Maßnahmen, 8. Aufl. 2007, § 7 Rn. 5.3 (S. 190 ff.). Dabei sieht die wohl h. M. in der Fachöffentlichkeit in diesem Verwahrungsregime – mit Recht – einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK. 96 Bzgl. der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung ist das Meinungsbild grundsätzlich sehr klar (gewesen): Diese zu gewährleisten ist originäre Polizei-Aufgabe, also Ländersache (Denninger, in: Lisken / Denninger / Rachor, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, E Rn. 176; Drews / Wacke / Vogel / Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 9, 1 [S. 132]; Gärditz [o. Fn. 66], S. 328, 331, 359, 429; Götz [o. Fn. 66], Rn. 86; Merten / Merten, ZRP 1991, 213, 217; Paeffgen JZ 1991, 437, 441 m. w. N. in Fn. 56 und ders. [2007], in: SK-StPO [o. Fn. 66], § 112 Rn. 14 f.; § 126a Rn. 2; Pieroth / Schlink / Kniesel [o. Fn. 66], Rn. 6 ff.; Schenke [o. Fn. 66] § 5 Rn. 6; Schoch, in: Schmidt-Aßmann [o. Fn. 66], Rn. 17; Würtenberger / Heckmann [o. Fn. 66], Rn. 181 ff.; in der Sache ähnlich, jedenfalls für die Fälle der Vorfeldermittlungen: Rieß, in: FS Otto, 2007, S. 955, 965, 971 [soweit sie „darauf gerichtet sind, Erkenntnisse über bevorstehende und damit drohende Straftaten zu gewinnen“: reines Polizeirecht]). Diese Klarheit gerät aber wieder ins Wanken, wenn man den § 39 II AWG (AußenwirtschaftsG) einbezieht; krit. hierzu Gusy, StV 1992, 484, 485 ff. (freilich unter den Gesichtspunkten Unbestimmtheit und Übermäßigkeit). – Auch bei den „vorläufigen Maßregeln“ (§§ 112a, 126a StPO u. a.) gerät dieser Aspekt dann wieder in Vergessenheit, weil er sich mit Strafverfolgungsmaßnahmen im herkömmlichen Sinne kombiniert (dazu Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik. . . ,1986, S. 138 ff.). Die Verbindung ist aber von geringem ma-

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begegnet uns in der Entscheidung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung97, die das zentrale Problem, ob es sich nicht um eine Durchbrechung des Ne-bis-in-idemteriellem Gewicht, weil der jeweils vom Gesetz zugelassene Grundrechtseingriff keinerlei Funktion in Bezug auf das Verfahren erfüllt, dieses also eigentlich nur beiläufig ist. Daß der Haftgrund der Wiederholungsgefahr eine präventiv-polizeiliche Maßnahme ist, hatte schon seine Aufnahme in die RStPO verhindert, vgl. Hahn, Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen III / 1, 1881, S. 130; vgl. zur gleichlautenden Einschätzung u. a. E. Kaufmann, Der polizeiliche Eingriff . . . , 1951, S. 68; zur „wunderlichen Mißgeburt eines prozeßrechtlichen Instituts, das keinerlei prozessualen Zwecken dient“ bei § 126a treffend Sax, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte III / 2, 1959, S. 909, 980. Leider ist durch jüngste Entscheidungen des BVerfG dieser Tendenz weiter Vorschub geleistet, alles nach Gutsherrenart methodologiefrei (weil nämlich das – ehedem völlig unstrittige – Kriterium des Anfangsverdachtes als Beginn und unabweisbare Voraussetzung jedweden Strafverfahrens [Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, 1957, Vor § 158 Rn. 4; tendenziell auch: Roxin, Strafprozessrecht, 25. Aufl. 1998, § 14 Rn. 1] schlicht ignorierend) zu vermischen, wie einem gerade der politische Bedarf zu liegen scheint: BVerfGE 113, 348, 368 ff. (= NJW 2005, 2603 ff.) (Vorbeugende / vorsorgende Telekommunikationsüberwachung gegen Straftaten) (mit z. T. [insbesondere im kompetenziellen Bereich] zust. Bespr. von Gusy, NdsVwBl 2006, 65; Lepsius, Jura 2006, 929; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, 1984, Art. 74 Rn. 82 (der aber immerhin noch verlangt, daß „tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, daß bestimmte strafbare Handlungen geplant, begangen werden oder begangen worden sind“ [Herv. H.-U. P.]); Vahle, DVP 2005, 473). Das BVerfG hält zwar die Fahne der Länderzuständigkeit für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten verbal grundsätzlich aufrecht (BVerfGE 113, 348, 368 ff. [= NJW 2005, 2603, 2605]) (NdsSOG und vorbeugende Telekommunikationsüberwachung) und verneint ausdrücklich insoweit eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 I Nr. 1 GG (gerichtliches Verfahren unter Einschluss des Strafverfahrens). Leider verschleift es diesen Aspekt dann doch noch mit der (durchaus problematisch aufgefassten) „Verfolgungsvorsorge“ insoweit, als es a. a. O. gleichfalls verkündet, daß „die Vorsorge für die Verfolgung noch gar nicht begangener, sondern in ungewisser Zukunft bevorstehender Straftaten zum gerichtlichen Verfahren (gehört). . . . Allerdings fehlt es im Zeitpunkt der Überwachungsmaßnahme, anders als für die Strafverfolgung im herkömmlichen Sinne, an einer bereits begangenen oder alsbald zu begehenden Straftat, gegen die vorgegangenen werden soll. Die Verfolgungsvorsorge erfolgt in zeitlicher Hinsicht präventiv, betrifft aber gegenständlich das repressiv ausgerichtete Strafverfahren. . . . (Es) geht es um die Aufklärung eines konkreten Straftatverdachts gegen einen konkreten Beschuldigten. Dies bedeutet indes nicht, dass erst nach Vorliegen“ (S. 371 / S. 2606) „eines Anfangsverdachts die Zuordnung zum gerichtlichen Verfahren erfolgen kann“. Es wendet sich zwar dezidiert gegen die gegenteilige Position von Gärditz (o. Fn. 66), S. 322 ff., 328, 331, 359, 429, und mir (Paeffgen, JZ 1991, 437, 441 m. w. N. in Fn. 56; Paeffgen [1992], in: SK-StPO, Vor § 112 Rn. 14, § 126a Rn. 2; ders. [2007], in: SK-StPO [o. Fn. 66], Vor § 112 Rn. 14a; Würtenberger / Heckmann [o. Fn. 66], Rn. 176). In der Sache ebenso wie BVerfGE 113, 348 ff., schon BVerfG (3. Kam. 2. Sen.), BVerfGE 103, 21, 30 (genetischer Fingerabdruck I) (= NJW 2001, 879 = NStZ 2001, 328 [m. zust. Anm. Senge, NStZ 2001, 331] = StV 2001, 145). – Mehr oder minder resignativ zustimmend auch derjenige Teil der deutschen Polizeirechtslehre, der früher dem, hier für nach wie vor für richtig gehaltenen, Standpunkt gefolgt ist, Gusy (o. Fn. 66), Rn. 20 ff. – Nw zur anderslautenden h. M., o. Fn. 66. Den zentralen Aspekt gleichfalls verkennend: Eisenberg / Singelnstein, GA 2006, 169 (mit dem kompetenzrechtlich nichtssagenden Hinweis, es sei auf Zwecke [zukünftiger] Strafverfolgung und nicht Gefahrenabwehr ausgerichtet; dagegen schon Paeffgen, JZ 1991, 437, 441); vgl. auch Puschke / Singelnstein, NJW 2005, 3534. – Nach wie vor krit. (und tendenziell am Richtigen festhaltend): Pieroth / Schlink / Kniesel

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Satzes, Art. 103 III GG, handelt, in der Schwebe des Unausgesprochenen hält.98 Sie sucht den Umstand, daß es sich in Wirklichkeit um eine Maßnahme der Gefah(o. Fn. 66), Rn. 6 ff. – Krit. gegenüber den die Grenzen des „Anfangsverdachtes“ überwindenden strafrechtlichen sog. „Vorfeldermittlungen“ auch O. Müller, Der Abschied von der konkreten Gefahr als polizeirechtliche Eingriffsbefugnis, in: Kühne / Miyazawa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, 209, 214 ff.; Roxin, StProzR (o. selbe Fn.), § 37 Rn. 14. Vgl. i.ü. auch OLG Brandenburg JMBl. Bdbg 1999, 87; LG Berlin NJW 1999, 302 (Keine Zuständigkeit des Strafgerichts gem. § 81g StPO nach rechtskräftiger Verurteilung); LG Münster StV 1999, 141. – Gelegentlich werden entsprechende Befugnisse zur vorbeugenden polizeilichen Verbrechensbekämpfung von den (Landes-)Verfassungsgerichten mehr oder minder inzident gebilligt, bzw. nicht beanstandet, vgl. etwa SAnhVerfG NVwZ 2002, 1370 (Polizeikontrollen auf Bundesfernstraßen gem. § 14 Abs. 3 SachsAnhSOG) (m.zust.Bespr. von Martell, NVwZ 2002, 1336); SächsVerfGH DVBl. 1996, 1423 ff. (= LKV 1996, 273 = SächsVwBl 1996, 291 ff.) (Verfassungsrechtliche Prüfung des SächsPolG) (m. zust. Besprechung Bäumler, NVwZ 1996, 765 und krit. Ausführungen von Götz, NVwZ 1998, 679, 681 ff.); zum Prozess selbst vgl. dazu ausführlich Paeffgen / Schumer, Das Sächsische Polizeigesetz vor dem Verfassungsgerichtshof . . . Rechtliche Grenzen moderner Polizeiarbeit, 1999, S. 195 ff., 409 ff.); SächsVerfGH SächsVwBl 2003, 274 (LS) (Verfassrechtliche Prüfung des SächsPolG); vgl. auch Kutscha, LKV 2000, 134 ff. 97 BVerfGE 109, 190 ff. (= NJW 2004, 750 ff. = StV 2004, 267 ff.). 98 BVerfG NJW 2004, 750, 757. Einen klaren Verstoß diagnostizieren – mit Recht – Fischer (o. Fn. 56), § 66b Rn. 4; Böllinger / Pollähne, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 66b Rn. 4; Veh, NStZ 2005, 307, 309 f.; Waterkamp, StV 2004, 267, 270. Vgl. i.ü. die im Rechtsausschuss deutlich artikulierte Kritik eines Teils der Rechtsexperten, (Prot. Rechtsausschuss, BTDrs. 15 / 3346 v. 05. 05. 2004, S. 14 ff. – Gleichfalls a.A.: Gazeas, StraFo 2005, 9, 13 f.: Er sieht darin einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, da Bezugspunkt die Tat sei, die bereits abgebüßt sei, sowie einen Verstoß gegen den Ne-bis-in-idem-Grundsatz insofern, als nachträglich erfolgende Einordnung zu einer zweimaligen Bestrafung für die gleiche Tat führe, die völlig isoliert angeordnet werde. Mangels inhaltlichen Zusammenhangs mit dem Strafverfahren verstoße das Gesetz auch gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK; Kinzig, NJW 2004, 911, 913; ders., NStZ 2004, 655, 660. – Daneben besteht insoweit ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 5 I 2 EMRK; so auch Kinzig, NJW 2002, 3204, 3207; Böllinger / Pollähne, in: NKStGB (o. Fn. 11), § 66b Rn. 4; Pieroth, JZ 2002, 922, 927; Renzikowski, JR 2004, 271; Römer, JR 2006, 5 f.; Streng, StV 2006, 92, 97 f.; Ullenbruch, NJW 2006, 1377, 1378; und schon Kinzig, NJW 2001, 1455, 1456 f.; Laubenthal, ZStW 116 (2004), 703, 724; Pieroth, JZ 2002, 922, 926; Rzepka, R&P 2003, 191, 196 f. (Eine Sicherungsverwahrung ohne Vorwarnung durch entsprechenden Vorbehalt verstoße gegen Art. 103 III GG, da sich die Zweckbestimmungen von Strafen und Maßregeln nicht mehr scharf voneinander trennen ließen. Bei Vorliegen von zwei konstitutiven Entscheidungen liege eine doppelte Bestrafung vor. Selbst die vorbehaltene Sicherungsverwahrung stelle einen Verstoß gegen Art. 103 III GG dar, da der Schutz vor erneuter Bestrafung erst recht greifen müsse, wenn dem Betroffenen das über ihm hängende Damoklesschwert weiterer Bestrafung mittels eines Vorbehaltes von vornherein konkret bekannt gemacht werde); Streng, in: FS Lampe, 2003, S. 611, 639 f.; Trechsel, in: FS Burgstaller, 2004, S. 201, 207 f. – A.A. Peglau, ZRP 2000, 147, 150 f. (Es erfolge keine Doppelbestrafung der Anlasstat, da insoweit an die Gefährlichkeit des Täters angeknüpft werde; zudem hätten das Tat- und das später entscheidende Gericht unterschiedliche Sachverhalte zu bewerten: zum einen die Gefahrprognose zum Zeitpunkt des Urteilserlasses, zum anderen alle weiteren Umstände bis zur Entscheidung des Prognosegerichts); ders., NJW 2001, 2436, 2437 f.; ders., NJW 2004, 3599, 3600 f.; Poseck, NJW 2004, 2559, 2561 (Die Freiheitsrechte aus Art. 2 II 2 GG könnten beschränkt werden, um so dem staatlichen Schutzauftrag hinsichtlich der Grundrechtspositionen von Dritten gerecht zu werden. Weiterhin würden hohe Anforderungen gestellt: Es müßten eine Gesamtwürdigung des Täters und eine hohe Wahrschein-

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renabwehr handelt (die dann wieder aus der Bundeskompetenz herausfiele) dadurch zu überspielen, daß man besonders erpicht auf der Anlaßtat herumreitet – einer neuen Bewertung derselben aufgrund neuer, „besserer“ Maßstäbe99, 100. Man brauchte fernerhin eine eigene, ausgefeilte, der Strafrechtsdogmatik ebenbürtige Dogmatik dieses Bereiches. Wir müßten – methodologisch fundiert (und nicht bloß qua Postulat) – herausarbeiten, welche Aspekte der Grundrechtsgewährleistungen aus dem Bereich des Strafrechts übertragbar sind auf das materielle – vor allem aber auch auf das formale „Sicherheitsrecht“. Wir müßten nicht bei Null anfangen, da manches im Kontext der pseudo-strafrechtlichen Zuordnungen bereits diskutiert wurde. Aber vieles müßte doch erneut überdacht und z. T. neu durchdacht werden. Dabei sollte man nicht allzu leichthin auf die Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung in Großbritannien verweisen101, die ein eher abschreckendes „Vorbild“ wäre. Sowohl der EGMR wie auch, erfreulicherweise, das House of Lords – in der wegweisenden Entscheidung A. vs. Home Secretary102, haben teilweise erschütternde Menschenrechtsverstöße festgestellt, – und dies, obwohl sich die britische Regierung wiederholt auf die Suspendierung der Menschenrechtsgarantien im Notstandsfall, Art. 15 EMRK, berufen hatte103. Während die Mehrheitsmeinung der lichkeit weiterer erheblicher Taten vorliegen, zudem gebe es bestimmte Verfahrensgarantien). – Das schrecklichste sacrificium intellectus wurde freilich mit dem Beschluss zur Fortdauer eines Freiheitsentzuges aufgrund einer nichtigen Norm gebracht, so auch der Dissent, BVerfGE 109, 190, 244, 254. 99 Dazu krit. Braum, ZRP 2004, 105, 107; Peglau, ZRP 2000, 147, 149; Rzepka, R&P 2003, 191, 192 ff.; vgl. zur kompetenzrechtlichen Problematik der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch schon Würtenberger / Sydow, NVwZ 2001, 1201, 1202. – Zu den vielfältigen pragmatischen Problemen des BVerfG-Entscheides: Ullenbruch, NStZ 2007, 62 ff. 100 Nicht weiter thematisiert wird hier der, aus dem gleichen „Geist“ erwachsende, Kompetenz-Exzeß, eine einstweilige – freiheitsentziehende – Regelung zu Lasten der in der Sache erfolgreichen Beschwerdeführer zu erlassen, die diese um den „Lohn“ ihrer Verfassungsbeschwerde bringt, BVerfGE 109, 190 ff. (= NJW 2004, 750) (Straftäterunterbringungsgesetze); zutr. Kritik daran, daß das Gericht die – vorgeblich kompetenzwidrigen und damit nichtigen – Gesetze unter Berufung auf § 31 Abs. 2 S. 3 BVerfGG zeitweilig für weiterhin anwendbar erklärte, – was im Hinblick auf überragende Gemeinwohlinteressen erforderlich sei, bei Gärditz, Freiheitsentziehung durch das Bundesverfassungsgericht?, NVwZ 2004, 693, 694 ff.: Weder § 31 II 3 noch § 35 BVerfGG räumen dem BVerfG eine Ermächtigung zur Suspendierung oder gar zur Derogation der Verfassung ein! 101 So jüngst aber mündlich etwa von Pawlik in einem Vortrag zum Feindstrafrecht vor der Bonner Fakultät vom 21. 01. 2008  FAZ v. 25. 2. 2008, S. 40. 102 Zu den diskriminierenden und unverhältnismäßigen Bestimmungen des Anti-Terrorism, Crime and Security Act (ATCSA) (2004) UKHL 56; (2005) 3 All E.R. 169; s. auch Bradley / Ewing, Constitutional Law and Administrative Law, 14. Aufl. 2007, S. 651 f. 103 S. Bradley / Ewing (o. Fn. 102), S. 639 ff.; zu den zahlreichen Verurteilungen Großbritanniens in Straßburg bei der Terrorismusbekämpfung s. nur EGMR – Brennan v. UK (2002), 39846 / 98 (Art. 6); – Averill v. UK (2001), 36408 / 97 (Art. 6); – Murray v. UK (1996), 18731 / 91 (Art. 6); – O’Hara v. UK (2001), 37555 / 97 (Art. 5); – Fox, Campbell and Hartley v. UK (1990), 12244 / 86; 12245 / 86; 12383 / 86 (Art. 5); – Brogan and others v. UK (1988),

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Lawlords noch eine Notstandslage i. S. d. Art. 15 EMRK bejahte, die gesetzgeberischen Notstandsmaßnahmen aber für disproportional ansah, erachtete Lord Hofmann in seinem beeindruckenden Dissent bereits eine Notstandslage für nicht gegeben104.

IV. Das Prognose-Problem Der kruziale Aspekt jenes „Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrechtes“ ist freilich die schüttere Beurteilungsgrundlage für z. T. einschneidende Grundrechts-Eingriffe. Da es um die Frage von Dispositionen105 von Menschen geht106, 107, 11209 / 84; 11234 / 84; 11266 / 84; 11386 / 85 (Art. 5); – Finucane v. UK (2003), 29178 / 95 (Art. 2); – Jordan v. UK (2001), 24746 / 94 (Art. 2); Ireland v. UK (1978), 5310 / 71 (Art. 3). 104 „What is meant by „threatening the life of the nation“? ( . . . ) When one speaks of a threat to the „life“ of the nation, the word life is being used in a metaphorical sense. The life of the nation is not coterminous with the lives of its people. The nation, its institutions and values, endure through generations. In many important respects, England is the same nation as it was at the time of the first Elizabeth or the Glorious Revolution. The Armada threatened to destroy the life of the nation, not by loss of life in battle, but by subjecting English institutions to the rule of Spain and the Inquisition. The same was true of the threat posed to the United Kingdom by Nazi Germany in the Second World War. This country, more than any other in the world, has an unbroken history of living for centuries under institutions and in accordance with values which show a recognisable continuity. ( . . . ) The Home Secretary has adduced evidence, both open and secret, to show the existence of a threat of serious terrorist outrages. ( . . . ) But the question is whether such a threat is a threat to the life of the nation. ( . . . ) This is a nation which has been tested in adversity, which has survived physical destruction and catastrophic loss of life. I do not underestimate the ability of fanatical groups of terrorists to kill and destroy, but they do not threaten the life of the nation. Whether we would survive Hitler hung in the balance, but there is no doubt that we shall survive AlQaeda. The Spanish people have not said that what happened in Madrid, hideous crime as it was, threatened the life of their nation. Their legendary pride would not allow it. Terrorist violence, serious as it is, does not threaten our institutions of government or our existence as a civil community. ( . . . ) The real threat to the life of the nation, in the sense of a people living in accordance with its traditional laws and political values, comes not from terrorism but from laws such as these. That is the true measure of what terrorism may achieve. It is for Parliament to decide whether to give the terrorists such a victory.“ 105 Hypothetischen Zuständen, Mechanismen oder Eigenschaften, die „man noch nicht durchschaut, oder einen von mehreren möglichen solcher Zustände oder Mechanismen“, die man dadurch beschreibt, daß „man (ihre) kennzeichnende Wirkung angibt“; vgl. Quine, Wurzeln der Referenz, 1976, S. 26; grundlegend Ryle, Begriff des Geistes, 1969, S. 153 ff.; ausführlich zu dem Stichwort „Dispositionsprädikate“: Kutschera, Wissenschaftstheorie I, 1972, S. 264 ff.; Stegmüller, Probleme in der Wissenschaftstheorie II, 1974, S. 213 ff.; zu psychischen Dispositionen: ebenda, S. 215 f.; vgl. ferner u. a. Hassemer, in: NK-StGB, 1. Aufl., Vor § 1 Rn. 163; Hassemer / Neumann, in: NK-StGB, 2. Aufl. (o. Fn. 11), Vor § 1 Rn. 163; Hassemer / Kargl, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 1 Rn. 39; Hassemer, Einführung, 2. Aufl. 1990, Rn. 183 ff. – Die Disposition, in der Tatsituation zu rechtskonformem Verhalten imstande gewesen zu sein, muss in diesem Sinne aus dem Tatgeschehen, der Persönlichkeit des Beschuldigten und den sonstigen Beweismitteln extrapoliert werden; vgl. auch Grasnick, Über Schuld, 1987, S. 136, 213 ff.: Die Schuld des Angeklagten sei als Teil seiner (Lebens-) Geschichte zu begreifen.

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sind belastbare Aussagen über in aller Regel für die Sachverständigen jedenfalls kooperationsunwillige Probanden schwer erzielbar. Gerade die Validität der Prognose ist fragwürdig: Wenn auf „Zuruf“ einer geheimdienstlichen Quelle ein Anschlag in der Bundesrepublik vorhergesagt würde, wäre jedermann damit einverstanden, daß Bahnhöfe oder Flughäfen geräumt, Züge oder Flugzeuge gestoppt und durchsucht würden etc. Leider sind derartige Informationen bisweilen von ähnlicher Qualität wie die berüchtigten „Scherze“, mittels derer Schüler eine Klassenarbeit zu vermeiden versuchen108. 1. Andererseits läßt sich das Dilemma der Sicherheitsorgane exemplarisch etwa an der Konstellation einer iranischen oder tadschikischen Person illustrieren, die sich in Deutschland aufhält und sich offen zu regierungsfeindlichen bis hin zu terroristischen Aktivitäten im jeweiligen Heimatland bekennt. Eine solche Person 106 Diese Prognose-Dimension ist abzugrenzen von der Entscheidung des Strafgesetzgebers beim Positivierungs-Entscheid; diese ist auch immer eine Entscheidung unter Unsicherheit (dazu u. a. Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, 3. Aufl. 1974, S. 325 ff.). Da die Strafdrohung – auch – auf die Motivation von Menschen einwirken will (vgl. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 42 f.) und da sie hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit und Wirkung immer Prognose ist (vgl. Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1992, S. 15 ff., 22 ff.), steht dem Strafgesetzgeber nie all das Wissen zur Verfügung, welches er für eine überzeugende Abstützung seiner Entscheidung eigentlich brauchte. Menschliches Handeln läßt sich nicht mechanistisch erfassen, und jede Zukunft ist ungewiß. Der Strafgesetzgeber muß entscheiden, wieviel an verläßlichem Wissen über die Schädlichkeit eines Verhaltens und über die Folgen seiner Bestrafung zur Hand sein muß, damit eine Kriminalisierung gerechtfertigt werden kann (Hassemer, JuS 1987, 257, 265). 107 Dazu, daß es nach verbreiteter Ansicht keine verläßlichen Parameter für eine zuverlässige Prognose (etwa i.R.d. Gefährlichkeits- und Behandlungsprognosen) gibt, Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007, Rn. 472 (= S. 177); Dölling, Perspektiven kriminologischer Prognoseforschung, in ders. (Hrsg.), Die Täter-Individualprognose, 1995, S. 129, 136 (Kritik zur statistischen Prognose: S. 18); Dünkel / Ortmann / Kury (Hrsg.) Prognose, 1986, S. 764 ff.; Frisch, Prognoseentscheidungen, 1992, S. 110 ff.; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1997, S. 415 ff.; Streng, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 46 Rn. 39 („eine hinlänglich verläßliche Legalbewährungsprognose zu stellen, stellt nach wie vor die markante Schwachstelle jedes spezialpräventiv-folgenorientierten Strafrechts dar“); Villmow, in: NK-StGB (o. Fn. 11), Vor § 38 Rn. 16 („Allen gegenwärtig vorliegenden Prognoseinstrumenten werden verschiedene methodische und inhaltliche Mängel zugeschrieben“; „An der Feststellung, wissenschaftliche Prognosemethoden zeigten gegenüber der intuitiven [Richter-]Prognose nur eine sehr begrenzte Überlegenheit [Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005 § 21 Rn. 42], {dürfte sich} in nächster Zeit wohl nicht allzu viel ändern.“); Spieß, Kriminalprognose, in: Kaiser / Kerner / Sack / Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 286 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 608 ff.; Woynar, Das Risiko von Gefährlichkeitsprognosen, 2000, S. 117 f., 126. – Zu der Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse nach Göppinger als umfassender Erfassung des Täters in seinen sozialen Bezügen vgl. Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 15 (S. 248 ff.); ähnl. Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007, Rn. 293 ff.; ferner Streng, Sanktionen (o. dieselbe Fn.), S. 643 ff. 108 Oder: Fall der vermeintlichen Bombendrohung am Düsseldorfer Flughafen am 14. 9. 2003, mittels derer eine junge Frau verhindern wollte, mit ihrem Freund wegfliegen und verreisen zu müssen, vgl. Spiegel online. http: //www.spiegel.de/panorama/0,1518,294410,00. html (Die Revision der StA ist inzwischen zurückgenommen).

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könnte, wenn und soweit sie in Deutschland nicht kriminell wird, nicht inhaftiert werden. Selbst die Voraussetzungen des exzessiven § 129b StGB wären nicht gegeben, solange nicht Deutsche in den „Streubereich“ jener revolutionären nationalen Gruppierungen kämen. Sogar, wenn jener in Deutschland Anschläge plante, ließe sich gegen eine solche Person nach deutschem Recht nicht vorgehen.109 Denn wenn auf die Tat in dem Heimatland die Todesstrafe steht (§ 8 IRG) oder wenn es sich um sogen. „politische Straftaten“ handelte (§ 6 IRG), so wäre eine Auslieferung unzulässig, § 6 I 1 IRG i.V.m. § 7 II Nr. 2 StGB110. Ähnliches gölte für flüchtige ausländische (nicht EU-)Straftäter, denen nach dem § 60 III AufenthG111 109 Der in verschiedenen Bundesländern positivierte polizeiliche Unterbindungsgewahrsam zur Verhinderung von Straftaten hülfe hier nichts, da er sich auf max. 14 Tage beschränkt oder da er nur kurzfristige Freiheitsentziehungen erlaubt (zwischen 4 – 14 Tagen, je nach einzelnem Bundesland, s. Rachor, in: Lisken / Denninger [o. Fn. 96], F Rn. 625 ff.). Auch für diejenigen Polizeigesetze ohne ausdrückliche Befristung ist die Fortdauer verfassungskonform auf einen kurzfristigen Zeitraum zu beschränken, vgl. Rachor, a. a. O., F Rn. 631 ff. (der sich i.E. für eine Höchstdauer von 48 Std. ausspricht). Auch hier zeigt der Rechtsvergleich mit Pawliks Feindstrafrechts-Vorbild, daß – noch – Welten zwischen der Terrorismusbekämpfung in Großbritannien und Deutschland liegen (but we are trying very hard): Nach dem Terrorism Act 2006, Section 23, wurde die „Pre-chargedetention“-Zeitspanne schon auf 28 Tage (!) ausgeweitet, – während für normale Straftaten des Common law 4 Tage gelten, wobei ein funktionelles Äquivalent hierzu im deutschen Recht schwer auszumachen ist; am ehesten passt noch die polizeiliche vorläufige Festnahme („charge“ bedeutet nicht formelle Anklage i.S.v. „indictment“, sondern die Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden an den Beschuldigten, daß gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, und welche Straftaten aufgrund welcher Tatsachen in Rede stehen) (s. ausführlich die rechtsvergleichende Studie der Menschenrechtsorganisation Liberty „Terrorism Pre-Charge Detention Comparative Law Study“, abrufbar auf http: / / www.liberty-humanrights.org.uk / issues / pdfs / pre-charge-detention-comparative-law-study.pdf). Allerdings bedeutet dies nicht, daß die Polizei aus eigener Machtvollkommenheit diese Haft über 48 Stunden hinaus anordnen darf; vielmehr bedarf es dann einer richterlichen Autorisierung, die aber wiederum nicht an die strengen Voraussetzungen unserer U-Haft gebunden ist. Die Regierung Blair wollte mit einem Gesetzesentwurf die Inhaftierung für Terroristen sogar auf 90 Tage (!) ausweiten, – was aber kläglich im Unterhaus scheiterte (s. http: / / news.bbc.co.uk / 2 / hi / uk_news / politics / 4422086.stm). Nunmehr strebt aber die Regierung Brown eine Ausweitung auf 42 Tage an (s. http: / / security.homeoffice.gov.uk / news-publications / publicationsearch / general / pre-charge-detention). 110 Werle / Jeßberger, in: LK-StGB (o. Fn. 60), § 7 Rn. 99 (Ausnahmen machen sie aber in Rn. 100 für Völkermord, Mord, Totschlag und Beteiligung hieran, weisen für Völkermord aber auf die Gefahr politischen Instrumentalisierung hin und verlangen demgemäß Zurückhaltung); Ambos, in: MK (o. Fn. 70), § 7 Rn. 28 (durchaus krit.); Lemke, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 7 Rn. 21; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 56), § 7 Rn. 25; Schomburg / Hackner, in: Schomburg u. a., IRG, 4. Aufl. 2006), § 8 Rn. 5, 17. Im Fall der Todesstrafen-Drohung kann allerdings dann doch ausgeliefert werden, wenn der fordernde Staat zusichert, daß die Todesstrafe nicht verhängt oder nicht vollstreckt wird (§ 8 IRG); vgl. hierzu etwa im einzelnen Vogler (1995), in: Grützner / Pötz, IRG, § 8 Rn. 11; Schomburg / Hackner in: Schomburg (o. selbe Fn.), § 8 Rn. 5, 17. 111 § 60 III AufenthG: Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, wenn dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht. In diesen Fällen finden die Vorschriften über die

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i. V. m. Art. 3 EMRK kein Landesverweis erteilt werden kann. Bei solchen Planern mag aber in manchen112 Fällen vorhersagbar sein, daß sie sich anderen kriminellen, revolutionären oder terroristischen Netzwerken anschließen werden. 2. An solche, sich abzeichnende potentiell-konkrete, derzeit aber eben nur abstrakte Gefahren denkt etwa auch der Entwurf des BMJ, der das Aufsuchen eines „Terrorcamps“ / Ausbildungslagers einer terroristischen Gruppierung unter Strafe stellen möchte.113 Daß wir uns dabei, scheint’s, am Vorbild Großbritannien ausrichten, das uns, auch mit einer Höchststrafe von 10 Jahren (!), schon länger vorausgeeilt ist, sei immerhin beiläufig erwähnt.114 3. Wenn man mit dem Begriff des Schuldstrafrechts gleichwohl noch irgendwelche materiellen Inhalte verbinden will, kann man einen solchen Tatbestand nicht als systemkonform bezeichnen. Das zu inkriminierende Verhalten ist selbst noch einer Verbrechensverabredung so weit vorgelagert, daß sich kein materialer objektiver Unrechtsgehalt mehr angeben läßt.115 Es handelt sich um reines Gesinnungsstrafrecht.116 Auslieferung entsprechende Anwendung; s. auch § 53 II AuslG: Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, wenn dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Todesstrafe besteht. 1In diesen Fällen finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung. 112 Das mögen weniger Fälle sein, als die Sicherheitsfanatiker der irritierten Öffentlichkeit zu suggerieren versuchen. Aber es ist – unbestreitbar – ein leicht vorstellbarer Fall; exemplarisch der des Mohammed Atta, eines der Piloten der Twin-Towers-Attacke, der zeitweilig in Deutschland lebte. 113 BT-Drs. 16 / 7958 (Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Aufenthalts in terroristischen Ausbildungslagern aus dem Jahre 2008), http: / / dip.bundestag.de / btd / 16 / 079 / 1607958.pdf; entsprechend dem Antrag des Landes Hessen (42. StrÄndG, BT-Drs. 16 / 7958): Art. 1 Änderung des StGB vom 7. 8. 2007 (BGBl. I S. 1786), sollte § 129a V StGB wie folgt geändert werden: a) In Satz 2 werden nach dem Wort „Unterstützer“ die Wörter „oder für die Vereinigung selbst“ eingefügt. b) Folgender Satz 3 wird angefügt: „Wer Ausbildungsangebote terroristischer Vereinigungen nach Satz 2 wahrnimmt, die den in Absatz 1 und 2 genannten Zielen dienen, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren betraft.“. – Vgl. auch den Vorschlag von BMJ Zypries zur Einführung eines § 89a StGB (u. a. Nr. 1 – die Ausbildung und das Sich-Ausbilden-Lassen, um eine terroristische Gewalttat zu begehen – vgl. die Seite des BMJ http: / / www.bmj.bund.de / enid / 421e3be93c16e7dcf6530154580a 4a6b,2868b0706d635f6964092d0934373034093a095f7472636964092d0933303334 / Pressestelle / Pressemitteilungen_58. html). 114 S. Terrorism Act 2006 Section 6 „Training for Terrorism“ sowie Section 8 „Attendance at a place used for terrorist training“. 115 Welche Anforderungen an eine zureichende, Strafrechts-Tatbestände legitimierende Gefahr zu stellen sind, ist in der Zunft lebhaft umstritten. Erinnert sei hier nur etwa an: Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 97 ff., 113 ff., 182 ff., 211 ff.; Hoyer, Eignungsdelikte, 1987, S. 107 f. „Unter einer konkreten Gefahr ist [ . . . ] ein Zustand zu verstehen, in dem sich eine Gefahrenquelle und ein durch sie konkret veränderbares Objekt so direkt gegenüberstehen, daß kein denkbarer Umstand mehr deren Kollision (und damit dem Eintritt einer Ver-

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Nun mögen sich, typologisch, Fälle denken lassen, daß eine solche Person in einem Lager derartig fanatisiert worden ist, daß sie mit einer ähnlichen Unbedingtheit zur intendierten oder erwogenen Tat strebt, wie ein Hang- oder Triebtäter zur Hangerfüllung oder Triebbefriedigung. In solchen Konstellationen – wie u.U. auch in den Fällen jener revolutionären Zellen, die vorderhand gegen ausländische Rechtsgüter gerichtete Aktivitäten entfalten, deren „Abdrehen“ auch gegen inländische Güter jedoch zu befürchten steht – mag man aus Präventionsgründen eine frühe Intervention des Staates für wünschenswert halten. In der Tat werden wir allesamt froh sein, wenn in (alarmistischen) Zeiten ein isoliert aufgefundenes Gepäckstück auf einem Bahnhof oder einer Flughafenhalle von einem Kontrollroboter untersucht (und dabei gegebenenfalls beschädigt), notfalls von ihm geborgen oder gesprengt wird, – auch wenn sich ex post die absolute Harmlosigkeit des Inhaltes herausstellt. Früher nannte man das „Gefahrenabwehr“ und sprach von typischem Polizeirecht. – Aber zwischen Koffer-Sprengen und Menschen-Wegschließen oder gar -Erschießen sollte man noch eine kategoriale Differenz sehen, selbst wenn wir von Gefahrenabwehr sprechen. V. Modellierungs-Aspekte Nun läßt sich beim Menschen, wie gesagt, nicht mit gleicher Stringenz „erkennen“, sondern zumeist bloß: „mutmaßen“, ob es sich um eine „ticking bomb“ in irgendeiner strafrechtlich erheblichen Richtung handelt. Weder Durchleuchtungsgeräte noch Bienen-Kontrolleure117 vermögen erwogene Sexual-, OK- oder terroletzung des Objekts) zuverlässig (mit einer solchen Sicherheit, daß ein Vertrauen auf die verletzungshindernde Wirksamkeit dieses Umstands gegebenenfalls nicht mehr verletzungsfahrlässig wäre) entgegenwirken könnte.“; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1988, S. 214 (geht von einer [konkreten] Gefährdung dann aus, wenn die „Verursachung einer Situation [gegeben ist], in der ein Gut nicht mehr mit Mitteln des Organisationsbereichs, dem es angehört, gezielt vor einer Verletzung bewahrt werden kann“); Andreas H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, 1992, S. 205 ff.: Gefährlichkeits-Urteil, aufgrund einer Ex-ante-Prognose, muß die Verletzung eines Rechtsgutes über das normale Lebensrisiko hinausgehend wahrscheinlich sein lassen. (Die Erfahrungssätze müssen zu diesem Zeitpunkt bereits entdeckt sein.). – Die h. M. läßt ausreichen, daß „das Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung vom Zufall abhängt“, BGH VRS 44, 422, 423; BGH NJW 1985, 1036; Mayr, in: FS BGH, 1975, S. 273, 275 (Täter „beherrscht die Auswirkungen der Lage nicht mehr“); insoweit zust.: Hoyer (o. dieselbe Fn.), S. 100, 106; Rudolphi, in: FS Maurach, 1972, S. 51 ff., 60; Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 56), Vor § 306 Rn. 5; Wolter, Zurechnung, 1979, S. 76, 126, 223 ff.; für eine nach Normkreis und Funktion differenzierende Betrachtung: Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 94 ff., 171 ff., 190 ff. und passim. – Die Kritik, die der Jubilar an der Rechtsgut-Orientierung der Strafrechtsdogmatik in seiner fulminanten Dissertation (Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972) übte, sei hier nicht thematisiert. 116 So zutr. u. a. auch Pawlik in seinem Bonner Vortrag und in FAZ v. 25. 2. 2008, S. 40, Sp. 4. 117 Bienen mit ihrem extrem feinen Geruchssinn können darauf abgerichtet werden, Sprengstoff oder Rauschgift auch in winzigsten Spuren zu erspüren, und werden deshalb an manchen Grenzstationen als „Hilfspolizisten“ eingesetzt.

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ristische Straftaten aufzuspüren. Aber um gegen Gesinnungen von Menschen vorzugehen, ist das Strafrecht – unter Effizienzgesichtspunkten – ein schlechtes Instrument, weil es allenfalls die timiden Charaktere, nicht aber die unbedingten beeindruckt. Es ist aber vor allem ein grundrechtlich untersagtes Instrument.118 Lediglich dort, wo wir mit hoher Sicherheit, auf der Grundlage eines justizförmigen Verfahrens und mit sachverständiger Unterstützung mit hoher Plausibilität feststellen können, daß sich ein gesinnungs- oder dispositionbegründetes, gewichtiges Gefährdungspotential in dem betreffenden Normadressaten findet, sollten wir, strafrechtsnah, aber nicht -gleich, mit massiven Abwehrtechniken (wie Freiheitsentzug, Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus u.ä.) reagieren können. Wir können es derzeit faktisch-rechtlich oft schon – aufgrund der problematischen sogen. zweiten Spur des Strafrechts. Der dort angelegte Ausgleich für die bestehende Ungewissheit, nämlich eine Prozeduralisierung, ist allerdings in der Tat maßstabsetzend. Einen archimedischen Punkt scheint mir Art. 102 GG zu bieten: Wir dürfen ein Gefahrenabwehr-Strafrecht nicht so ausbilden, daß das dort positivierte Verbot unterlaufen wird. Zwar dürfen wir abwehrrechtlich eine Gefahrenquelle „liquidieren“ – á la Red Adair, der mittels an eine brennende Ölquelle geworfenen Dynamitstäben durch die Explosion dem Brand Sauerstoff entzieht und so die Gefahren erstickt. Selbst bei sich anbahnenden Gefahren, deren Schadenswahrscheinlichkeit in concreto durchaus ungewiß ist, dürfen wir in großem Umfang dem Inhaber der (möglicherweise auch ungefährlichen) Ursache des Gefahrverdachts erhebliche Schäden zufügen (z. B.: das „Keulen“ großer Tierbestände, wenn epidemisch auftretende Krankheitserreger bei einzelnen Tieren entdeckt worden sind). Aber wir dürfen eine von Menschen ausgehende Gefahr von – selbst massiven – Rechtsgutsdrohungen nicht radikal (also an der Wurzel ansetzend) ausmerzen, selbst wenn eine erhebliche Wahrscheinlichkeit der Schadenskonkretisierung besteht, etwa, indem man den Serien-Mörder oder -Vergewaltiger tötet119. In einem Staat, der ganze Bevölkerungsgruppen zu „Untermenschen“ erklärt hat, sollte man sich verbieten, rechtliche Modelle der menschlichen „Schädlings-Bekämpfung“ auch nur zu erwägen120. – Unterhalb dieser Schwelle der Tötung gestatten wir uns zwar massivste Freiheits-Einschränkungen, wie etwa die Einweisung in eine psychiatrische Klinik – die in manchem viel einschneidender wirkt als eine etwaige Freiheitsstrafe. Wir müssen sie gestatten – aus Gründen des Schutzes der Allgemeinheit und der situativen Alternativlosigkeit. Aber sie unterliegen wenigstens einer beträchtlichen rechtlichen Kontrolle und sind an weitere Regularien gebunden. 118 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 106; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 230 f. 119 Der Sonderfall der Nothilfe / des polizeilichen „finalen“ Rettungsschusses (der nur in einigen Bundesländern ausdrücklich positiviert ist [§ 54 II BadWürttPolG, Art. 66 II 2 BayPAG, § 76 II NdsSOG, § 63 II 2 RhPfPOG, § 34 II SächsPolG, § 65 II 2 SachsAnhSOG, § 64 II 2 ThürPAG]) bildet kein Gegenbeispiel, weil es sich hier um eine „gegenwärtige“ exzessive Rechtskreis-Überschreitung handelt. 120 Auch wenn wir sie aus Philosophemen glauben ableiten zu können.

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Wenn wir in solchen Fällen eine strafrechtsartige Frühaufklärung und -intervention wollen – was anscheinend auch der ganz vorherrschenden Auffassung in den westlichen Ländern entspricht – so sollte man dies, behutsam und mit der Bereitschaft zur Korrektur, einschließlich der zum Rückbau, konzipieren – aber man sollte es nicht „Strafrecht“ nennen. Es handelt sich um Gefahrenabwehr i.w.S., ggfls. auch um Gefahrenvorsorge i.w.S. Wem das zuviel Nähe zum „klassischen“ Polizei- und Ordnungs-(Sicherheits-)Recht hat, wer eine stärkere Nähe zu der Gefahr einer Straftat-Begehung herausgestrichen sehen möchte, mag den Begriff auch anders benennen („Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrecht“), – wie oben schon verschiedentlich geschehen. Aber – entgegen der h. M., zu der das BVerfG mit seiner fragwürdigen Judikatur so entscheidend beigetragen hat – handelt es sich eben nicht um „Strafrecht“. Dazu muss die Rechtsgutsgefährdung ein gewisses Maß an Konkretisierung erfahren haben (vgl. als, wenn überhaupt, kompossibles Minimum den § 30121), oder die Gefahrentendenz muss statistisch so signifikant (empirisch belegbar) erhöht sein, daß man um dieser generalisierbaren Erwartung willen das Nicht-sein-Sollende generalisierend bei Strafe verbieten kann122 – was man etwa im Technik- und Anlagenrecht, aber auch bei § 316 und – freilich mit einer mehr als merkwürdigen objektiven Strafbarkeitsbedingung versehen – bei § 323a123 macht. Exemplarisch für die materielle, vor allem aber die verfahrenstechnische Seite der Problematik ist der Fall Traube: Tatsächlich hatte der in seinem Fach bedeutende Atomwissenschaftler Traube Kontakt mit einer Bekannten von einer als RAF-Mitglied eingestuften Person124, die während eines USA-Aufenthaltes dessen Wohnung für einige Tage genutzt hat. Und tatsächlich fürchtete man, daß dieser Wissenschaftler, der trotz seiner herausgehobenen Position bei der für die Entwicklung der Schnellen Brüter zuständigen Dachgesellschaft Kraftwerk Union AG (KWU) aus seiner linken Gesinnung nie einen Hehl gemacht hatte,125 den RAFLeuten Zugang zu Atomanlagen oder zu atomarem Material verschaffen würde. Die schlecht überprüften Indizien126 führten dazu, daß Traube über Wochen in sei121 Abl. insoweit Zaczyk, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 30 Rn. 4 f. (lediglich: „kräftiger Schuss Amoralität“); sehr krit. auch Paeffgen, in: NK, 3. Aufl. 2008, § 111 Rn. 2. 122 Und dabei weder auf Rechtsgutsbezug noch auf materialisierbares Handlungsunrecht verzichtet. Vgl. allerdings insoweit krit. Amelung, (o. Fn. 115), S. 330 ff. 123 Dazu krit. Paeffgen, in: NK-StGB (o. Fn. 11), § 323a Rn. 9. 124 Es handelte sich um eine Randfigur der RAF, Hans-Joachim Klein, auch wegen seiner Bedeutung in der Gruppe „Klein-Klein“ genannt, der aber an dem Anschlag des Top-Terroristen Carlos in Wien auf die OPEC-Konferenz mit beteiligt war. 125 Der aus jüdischem Elternhaus stammende Traube war während der Nazi-Zeit von gewerkschaftlich und kommunistisch orientierten Verwandten im Denken gegen den Strom erzogen worden und blieb mit dieser Weltsicht innerhalb seiner damaligen „Peer-group“ ein krasser Außenseiter, der es aufgrund seiner Fähigkeiten gleichwohl zu etwas gebracht hatte, – eine heute eher noch schwerer vorstellbare Karriere. 126 Dazu gehörte auch, dass Traube, der fünf Sprachen spricht, eine Postkarte erhielt, die in mehreren Sprachen abgefasst war, was den Verfassungsschutz auf eine verschlüsselte Bot-

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ner durch den Verfassungsschutz – ohne Rechtsgrundlage127 – verwanzten Wohnung abgehört wurde. Auch wenn Traube später von dem zuständigen Bundesjustizminister Maihofer im Bundestag rehabilitiert wurde, wird man nicht ausschließen können, daß er in den heutigen, wohlmöglich noch hysterischeren Zeiten aufgrund solcher Indizien zumindest wegen § 129a verurteilt worden wäre128.

VI. Die prozessuale Seite Während man Jakobs nur beipflichten kann, wenn er die §§ 31 EGGVG (Kontaktsperre) als in seinem Sinne „feindstrafrechtlich“ prädikatisiert, ist ihm bei seinen sonstigen Ausführungen zum deutschen Strafprozessrecht scharf zu widersprechen: Wenn er die U-Haft als Gefahrenabwehrrecht klassifiziert, so tut er das – scheinbar – mit Fug: In der Tat soll die Haft Verfahrenssabotagen, wie Flucht oder Verdunkelung, verhindern helfen.129 Wenn er darin aber eine Form von „Feind“Bekämpfung in seinem, vorstehend umrissenen Sinne, sieht, so verwässert er den Feindbegriff in einer Weise, die weder etwas mit Deskription der Rechtswirklichkeit, noch etwas mit begrifflicher Stringenz zu tun hat. Man wird schwerlich behaupten können, daß alle U-Haft-Insassen als „prinzipiell Abweichende“ etikettiert werden können, die „keine Garantie personalen Verhaltens“ böten – und „deshalb . . . als Feind bekriegt werden“ müßten130. Die dafür gebotene Begründung, daß sie nämlich, wenn sie „Personen im Recht“ wären, nicht flöhen oder verdunkelten131, ist nun überhaupt nicht mehr deskriptiv, sondern in einem hohen Maße elaboriert-normativ132. Und es will mir auch scheinen, als sei dies weit davon entfernt, was Jakobs in seinem Schlussabsatz anregt, daß es nämlich darum gehe, das „Feindstrafrecht . . . auf das Erforderliche zu beschränken, dies ganz unabhängig von dem sowieso bestehenden Klugheitsgebot, physische Gewalt wegen ihrer korrumpierenden Nebenwirkungen gering zu halten“133.

schaft schließen ließ; Petra Mies, Umschalten, abschalten, FR v. 23. 11. 2004, S. 8 (http: // fr-aktuell.de/in_und_ausland/politik/dossiers/what_und_acutes_left/?em_cnt=593771). 127 Schon damals wurde der „übergesetzliche Notstand“ als Ermächtigungsgrundlage herangezogen, wie uns jüngst aus der Diskussion um ein Substitut für die vom BVerfG für nichtig erklärte Norm des Art. 14 LuftSicherhG geläufig ist, – damals leider auch von so liberalen Rechtsgelehrten wie Armin Kaufmann, Der Spiegel 13 / 1977 v. 21. 03. 1977, S. 10. 128 Zur Ehrenrettung der deutschen Justiz muß man freilich auch einräumen, daß manche solcher bläßlich gegründeten Verurteilungen aufgrund von noch blasseren Indizien vor dem BGH keinen Bestand hatten, vgl. etwa den Motassadeq-Prozeß, BGH NJW 2007, 284 ff. 129 Paeffgen (2007), in: SK-StPO (o. Fn. 66), Vor § 112 Rn. 11, und schon Paeffgen, Vorüberlegungen (o. Fn. 96) S. 79 ff. 130 Jakobs, HRRS 2004, 88, 95; vgl. auch o. Fn. 45, 46. 131 Jakobs, HRRS 2004, 88, 93, nach Fn. 39; ders., HRRS 2006, 289, 296. 132 Ausführlich dazu Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft (o. Fn. 40), S. 109 ff. 133 Jakobs, HRRS 2006, 289, 296.

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VII. Bewältigungsstrategien im Rahmen eines „Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrecht“ Wenn wir eine „Dogmatik“ konzipieren wollten, so könnten wir uns an manches Vorhandene anlehnen: Wenn ein entsprechender Kompetenztitel im GG verankert worden sein wird, müßten die einzelnen Verfassungs- und einfachgesetzlichen Garantien durchgemustert werden – auf ihre, möglicherweise auch nur teilweise, Übertragbarkeit auf diesen Rechtsbereich. Hierbei wird man etwa eine solche – zumindest verbale134 – Striktheit, wie man sie mit Art. 103 II GG für das materielle Strafrecht fordert, nicht verlangen können. Andererseits ist diese völlige Zurückdrängung, wie sie das BVerfG mit dem vordergründigen Argument propagiert, es handele sich um eine Maßregel, nicht minder zurückzuweisen.135 Eine Konturierung mit, zumindest tendenziell, erkennbarer Struktur desjenigen Verhaltens, mittels dessen die staatliche Intervention verhindert werden kann, ist hier ähnlich zu fordern wie bei wirklichen Straftatbeständen – mit einem lediglich etwas größeren Begriffshof im Sinne der Heckschen Terminologie. Diese resultiert daraus, daß die Gefahren-Konstellationen nicht in einer vergleichbaren Typizität vorstell- und damit vorhersagbar sind wie StraftatTypen. Hier sind Anleihen an die elastischere (polizeirechtliche) Gefahrenabwehr-Dogmatik plausibel, ohne daß es – angesichts der Eingriffsintensität – zuzugestehen wäre, eine stets gleiche Großzügigkeit obwalten zu lassen. Denn Gefahrenabwehr-Maßnahmen sind in der Regel nachträglich korrigierbar und zumeist nicht von vergleichbarer Grundrechts-Invasivität wie (massiv) Geld oder gar Freiheit entziehende Maßnahmen. Ähnlich wie bei dem Gefahrverdacht wird man in einem solchen „Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrecht“ dem Verdächtigen im Interesse der Allgemeinheit gewisse Duldungslasten auferlegen dürfen und müssen, die die Aufklärung der Verdachtslage erleichtern helfen werden. Hier sind zahlreiche Anleihen an die Aufklärungsbefugnisse der StPO geboten. Trotzdem empfähle sich eine eigenständige (wiederholende) Regelung – und nicht ein bloßer Verweis auf die StPO-Ermittlungs- und Eingriffsbefugnisse, um die Eigenständigkeit der Regelungsmaterie herauszustellen. Gerade, indem man die Annahme, daß die Gefahrenlage noch fortbesteht, ständig wiederholend substantiell und formalisiert überprüft, läßt sich jenes „Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrecht“, wohl als einzig gangbarer Ausweg, in ein Gesamtgefüge einbauen, das an den Vorstellungen des GG orientiert ist: Angesichts der notorischen Unzuverlässigkeit von Prognosen über menschliche Dispositionen müßte in angemessen kurzen zeitlichen Abständen dieses GefährlichkeitsVgl. aber immerhin Paeffgen, StraFo 2007, 442 ff. BVerfG NJW 2004, 739, 744 f.; BVerfGE 109, 190, 217 (= NJW 2004, 750, 752), sub cc); vgl. auch jetzt wieder BVerfG HRRS 2008, 111 f. (§ 14 V HSOG / § 184 LVwG SH [anlassloses Scannen von Autokennzeichen]). 134 135

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Verdikt überprüft werden. Hierzu müßten erstklassig geschulte Experten136 herangezogen werden, was einen beträchtlichen personellen und finanziellen Aufwand nach sich zöge. Aber nur bei einer derartigen „Legitimation durch Verfahren“ ließen sich derartige, heute nonchalant dem Strafrecht untergemischten Gefahrenabwehrmaßnahmen, einigermaßen systemkonform rechtfertigen. VIII. Ausblick Nicht nur der Satz: „Inter pacem et bellum nihil medium“137 ist ebenso faktisch138 wie normativ falsch, wie auch dessen parallelverschiebende Übertragung auf unsere polaren Themen-Begriffe falsch wäre: Es gibt zwischen „Feind“- / (im hiesigen Sinn: „Verbrechensvorbeugungs- und -verhütungsrecht“) und „Normal“-Strafrecht Übergangs- und Zwischenformen. Wir sollten sie nicht nur nicht ignorieren, sondern uns mit ihnen auseinandersetzen. Allerdings sollten wir um der größeren Klarheit willen aufhören, die zahlreichen Pflanzen, die wir in dem Garten des Strafrechts schon ausgekreuzt oder neu gezüchtet haben, als zur Species des normalen „Strafrechts“ gehörig einzustufen. Gleichwohl geht es nur in zweiter Linie um terminologische Probleme. In erster Linie stehen Fragen materialer Aussagen. Wir haben uns zu lange mit „Vereinigungsformeln“ – hier und anderweitig – einlullen lassen, uns und anderen vorgemacht, irgendwie die antagonistischen Modelle „unter einen Hut“ bringen zu können139.140 Das aber geht eben 136 An denen es, um dieses Recht effizient und nicht zu breit streuend einsetzbar zu machen, derzeit bereits fehlt, jedenfalls was die erforderliche Anzahl anbelangt. 137 So etwa der Titel eines Aufsatzes von C. Schmitt, ZAkDR 17 (1939), 594, 595 f., (= C. Schmitt, Frieden oder Pazifismus, 2005, S. 629, 631), dessen Berechtigung aber Schmitt selbst, ebenda, in Zweifel zieht. 138 Man braucht nur auf die Geschichte Israels im Verhältnis zu den okkupierten palästinensischen Gebieten zu blicken, um zu sehen, dass es – jenseits des sprichwörtlichen „Kalten Krieges“ – faktisch noch mehr als ein „Drittes“ gibt. – Man beachte aber auch das Judikat des dortigen Supreme Court v. 6. 9. 1999, vgl. http: / / www.btselem.org / english / legal_documents / HC5100_94_19990906 _Torture_Ruling.PDF; vgl. auch Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, 2003, S. 531 ff.), mit dem ein früheres Urteil „overruled“ wurde und die Folter mit Rücksicht auf die Verfassung für unter allen Umständen rechtswidrig erklärt wurde. 139 Bzgl. der Straftheorien wird die „Vereinigungsformel“ der Rechtsprechung von Jakobs treffend als „Tanz auf sämtlichen Hochzeiten“ charakterisiert, ders., in: Kodalle (Hrsg.), Strafe muß sein! Muß Strafe sein?, 1998, S. 29. Für eine stärkere Trennung der beiden Rechtsfolgenstränge, wenn auch nicht so streng, wie hier befürwortet, etwa: Baumann / Weber / Mitsch, AT, 11. Aufl. 2003, § 35 Rn. 2 (verbal milder: Baumann / Weber / Mitsch, [o. selbe Fn.] § 3 Rn. 97 f.); Frisch, ZStW 102 (1990), 343, 355 ff.; Lackner / Kühl (o. Fn. 61), § 61 Rn. 2; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 56), Vor §§ 38 ff. Rn. 5 Vor §§ 61 ff. Rn. 1 f.; Horn (1999), in: SK-StGB, 7. Aufl., § 61 Rn. 2 ff. – Strikt, ähnlich dem hiesigen Sinn, demgegenüber: Köhler, AT, 1997, S. 55 ff. 140 Dafür, die verschiedenen Aspekte unter einer generellen Maxime vereinbaren zu können, u. a.: Hassemer / Neumann, in: NK-StGB (o. Fn. 11), Vor § 1 Rn. 300 ff.; Roxin, AT (o. Fn. 60), § 3 Rn. 63 ff. u.v.m.

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nicht. Wir müssen also den alten Schulenstreit wieder aufnehmen.141 Denn wenn wir uns nicht wirklich Klarheit verschaffen, inwieweit wir für die Modellbildung der Strafrechtslegitimation steinernen Halt unter die Füße bekommen können und wo wir nur immer weiter im Morast versinken, dann sind wir für die argumentativen Auseinandersetzungen nicht hinreichend gerüstet142, die uns durch Topoi wie das „Feindstrafrecht“ im eigenen Land zusetzen – geschweige denn für den Disput mit den vielfältigen kriminalpolitisch motivierten Insinuationen, die in einer Reihe von europäischen Nachbarländern unter dem Stichwort „Strafrecht“ mit „verwurstet“ werden143. Ein solcher Streit steht uns im Zuge einer sich immer deutlicher abzeichnenden „Europäisierung“ auch des Strafrechts aber unausweichlich ins Haus. Wir sollten uns – wenigstens in diesem Punkt – nicht, wie bisher schon so oft, von den Brüsseler Amtswaltern und den etwas viveren, aber an dogmatischen Fragen weitgehend desinteressierten anglo- oder frankophonen Rechtsexperten zu Paaren treiben lassen. Nachdem uns die Maßstäbe entglitten sind, müssen wir uns zurückbesinnen. Begrifflichkeiten, darin ist Jakobs beizupflichten, hängen (auch, wie ich einschränken möchte) vom Betrachtungsfeld ab. Sie beruhen aber gleichwohl immer auf der Stringenz der zugrundegelegten Prinzipien. Gerade weil wir nicht mehr begrifflich differenzieren144 – und weil viele, sowohl der politischen Entscheidungsträger wie 141 Dabei brauchen wir glücklicherweise nicht „bei Null“ anzufangen. Freilich schadete es auch nichts, wenn manche der alten Kampfschriften von heutigen Autoren endlich einmal (wieder [?]) ernsthaft gelesen würden. Denn auch in dieser Diskussion stehen wir auf den Schultern von Riesen. 142 In diesem Wunsch, Klarheit zu schaffen, gehe ich mit Jakobs, ZStW 117 (2005), 839, 850 u., einig. 143 Auch sollten wir die Erfahrungen anderer Staaten sehr ernsthaft auswerten. Hier ist besonders auf das zeitweilig fast völlig auf Gefahrenabwehr ausgerichtete sowjetische Recht zu blicken – mit seiner erschütternden Psychiatrisierung zahlreicher, insbesondere als politisch eingestufter „Täter“, oft nur geringfügig Andersdenkender – bis hin zu sozialen Sonderlingen, vgl. dazu etwa (Volkskommissar der Justiz) Stutschka: „Die Besserung im älteren philisterhaften Sinn des Wortes muß aus der Zahl der Strafzwecke verschwinden; es verbleibt nur die Anpassung der Verbrecher an das gesellschaftliche Leben und eine verschiedenartige Einwirkung auf die Psyche; bleibt dies ohne Wirkung, so verbleibt nur die Isolierung“, Stucka, Die revolutionäre Rolle von Volk und Staat, Moskau 1921), S. 113 (zitiert nach Maklezow in: ders. u. a., Das Recht Sowjetrußlands, 1925, S. 379); vgl. auch Art. 7 StGB UdSSR 1926 (Gallas, StGB der RFSR, 1931, S. 10): Auf Personen, die gemeingefährliche Handlungen begangen haben oder durch ihre Verbindung zum Verbrechermilieu oder durch ihre frühere Tätigkeit eine Gefahr bedeuten, werden Maßnahmen des sozialen Schutzes gerichtlich-bessernder, medizinischer oder medizinisch-pädagogischer Art angewandt“ (zur Bedeutung dieses weitgespannten [und unbefristeten] Sanktionsbereichs vgl. Maurach, System des Russischen Strafrechts, 1928, S. 155 ff.; zum umstr. Umfang der Voraussetzungsseite, ebenda, S. 112 ff.). 144 Aber auch Ähnliches nicht entsprechend gleich zu behandeln: Wir haben uns angewöhnt, von „islamistischem Terror“ zu sprechen. Als sich die grauenvollen Anschläge auf die Twin Towers und das Pentagon ereigneten, die ca. 5000 Menschenleben forderten, war die Welt vorgeblich nicht mehr so wie zuvor. Als 1994 in Ruanda Hutus binnen weniger Wochen ca. 800.000 bis zu 1 Million Tutsis abschlachteten, galt im Westen – im wahrsten

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der wissenschaftlichen und journalistischen Steigbügelhalter, zu jeder Zeit bereit sind, ihre Prinzipien zu verraten, wenn es politisch opportun erscheint145, brauchen wir uns über die Verachtung und den Haß nicht zu wundern, die der „christlichabendländischen Wertegemeinschaft“ in vielen Teilen der Welt entgegenschlägt. Vielleicht sollten wir endlich einmal wirklich zu dem vorstoßen, was auf der Strafrechtslehrertagung in Rostock, 1995, so euphemistisch „alteuropäisches Prinzipiendenken“ genannt wurde. Mit dem immer stärkeren Ineinanderfließen von Strafrecht einerseits und Polizei- und Nachrichtendienstrecht andererseits, von Bürgerstrafrecht und „Feindstrafrecht“, begeben wir uns der Rationalitäts-Pflichten, aber auch -Chancen, die begriffliche und kompetenzielle – aber vor allem auch inhaltliche – Differenzen erfordern, aber auch eröffnen. Man landet dann sehr schnell bei solchen, ebenso vulgären wie rüden, Totschlags-Maximen, mit denen amerikanische Neokons unter den zwei Amtszeiten von Präsident Bush die Welt „beglückten“: „Let’s crush the motherfuckers, before they crush us!“146 – Nietzsche hatte das dahinter stehende Dilemma schon, seherisch, umschrieben: „. . . und die Sicherheit betet man jetzt als oberste Gottheit an. Und nun! Entsetzen!. . . Es wimmelt von gefährlichen Individuen! Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren – das Individuum!“147 Vielleicht sollte man aber auch an den Schwenk erinnern, in den Schmitts Denken eingemündet ist, wenn er auf seine alten Tage meinte: „Es ist wirklich etwas Sinne des Wortes – „business as usual“! Den Al-Quaida-Anschlag auf New York nahm freilich die Bush-Regierung zum Anlass, in den Irak einzumarschieren, mit Hunderttausenden von Toten – unter den Irakern. Und dies, obwohl Al Quaida unter Saddam im Irak nichts zu melden hatte. – Der Grund war wohl eher, daß der ehemalige Hauptfreund des Westens, weil Hauptfeind des Mullah-Regimes im Iran, im Laufe der Jahre zum Bösewicht umetikettiert worden war, wobei wahrscheinlich sein Hauptfehler war, daß in seinem und der Nachbarstaaten Boden jenes Erdöl vorkommt, von dem die Regierungen Bush meinen, das es Amerika zustünde. – Hingegen hatte die Ermordung tausender Kurden durch den Irak mittels Giftgas zuvor niemand Maßgeblichen im Westen zu echauffieren vermocht. 145 Erhellend dazu eine Sendung von Loretta Alper / Jeremy Earp, War made easy – Wenn Amerikas Präsidenten lügen (USA, 2007) auf WDR 3 am 17. 3. 2008 (Über die Lügen, mittels derer US-Präsidenten Kriege in einer Medien-Gesellschaft eröffnungs- oder erweiterungstauglich machen [exemplarisch Johnsons sog. Tonking-„Zwischenfall“, der zur Erstrekkung der US-Bombenangriffe auf Nordvietnam führte, oder, jüngst, Saddams vorgeblicher Besitz von Massenvernichtungswaffen, der zum Angriff auf den Irak führte (dazu – kurz – Paeffgen, in: FS Seebode, 2008, S. 1, 19, Fn. 45)]). Noch deprimierender ist dabei freilich das Auftreten einer (nicht immer offen, aber jedenfalls geistig) „embedded“ Journalisten-Claque bis hin zu den großen Kommentatoren-Stars, die sich als Speichellecker der übelsten Sorte entpuppen – wovon selbstverständlich auch die Mehrzahl der deutschen, sogenannten seriösen Medien infiziert war. – Daß es sich dabei keineswegs um eine amerikanische Spezialität handelt (um dem Vorwurf plumper Antiamerikanismen zu entgehen), sei an Hitlers inszenierten Überfall vermeintlich polnischer Insurgenten auf den Sender Gleiwitz erinnert. 146 Für diesen, John David Ashcroft, US-Justizminister von 2001 bis 2005, zugeschriebenen Satz in Bezug auf Al-Quaida-Angehörige (wie immer man diese identifizieren mag), gilt: Si non e vero, e ben trovato! 147 Nietzsche, Morgenröte, in: Nietzsche, Krit. Gesamtausgabe (Hrsg. Colli / Montinari), 3. Buch, S. 154, Nr. 173.

Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht?

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Seltenes, ja unwahrscheinlich Humanes, Menschen dazu zu bringen, daß sie auf Diskriminierung und Diffamierung ihrer Feinde verzichten“148. Nicht der Partisan stellt dies in Frage149, nicht der Terrorist – den als solchen immer die Herrschenden etikettieren (und ihm bei Bedarf das Etikett auch wieder abnehmen150) – sondern höchstens wir selbst. Um ein weiteres Mal C. Schmitt zu zitieren: „Vorsicht also, und sprich nicht leichtsinnig vom Feinde. Man klassifiziert sich durch seinen Feind. Man stuft sich ein durch das, was man als Feindschaft anerkennt. Schlimm sind freilich die Vernichter, die sich damit rechtfertigen, daß man die Vernichter vernichten müsse. Aber alle Vernichtung ist nur Selbstvernichtung. Der Feind dagegen ist der Andere. . . . Der Feind ist unsere eigene Frage in Gestalt.“151 Wenn Jakobs also meint, nur derjenige, „ ,der zumindest einigermaßen verläßlich Rechtstreue leistet, hat den Anspruch, als Person behandelt zu werden‘, und wer diese Leistung nicht erbringt, wird eben fremdverwaltet, was heißt, nicht als Person behandelt“152, so behält er den politischen Entscheidungsträgern vor, festzulegen, ab wann diese Rechtstreue nicht mehr einigermaßen verläßlich gewährleistet ist. So kann man153 Normativität in einer problematischen Elastizität an das politisch je Wünschbare binden. Immerhin rückt Jakobs das zuvor skizzierte „Schadensersatz-Modell der Strafe im Normalfall („Strafe [ist] eine Art Schadensersatz“; „Widerspruch . . . und Zufügung von Schmerz, und dieser Schmerz ist so zu bemessen, dass nicht wegen der geschehenen Tat die kognitive Untermauerung der gebrochenen Norm leidet“154) in die Nähe des Fiktionalen, wenn er fortfährt: „Mit der Umsetzung dieses Modells {des Bürgerstrafrechts, H.-U. P.}, das ja schon als Modell des Normalfalls nicht nur der harten Realität, sondern nicht minder Schmitt, Theorie des Partisanen, 1967, S. 92. A.A. Schmitt, ebenda. 150 Erinnert sei nur an Menachem Begin (den späteren Ministerpräsidenten von Israel) und seinem Pendant und Co-Friedensnobelpreisträger, Yassir Arafat (späterem „Präsidenten“ der palästinensischen Selbstverwaltung) oder Jomo Kenjatta (den späteren Ministerpräsidenten von Kenia). Manche durchlaufen diesen Prozeß des Labeling durch die sog. „h. M.“ aber auch wieder zurück, wie Fidel Castro. – Wie schnell unsere medialen Schwätzer und deren politischen Einflüsterer zu grotesken Vergleichen bereit sind, mag das Etikett „neuer Hitler“ für Ägyptens Gamal Abdel Nasser beleuchten, – nur, weil er den Suez-Kanal verstaatlicht hatte. 151 Schmitt, Ex captivitate salus, 1949, S. 90. 152 Jakobs, ZStW 117 (2005), 839, 843, bei Fn. 8. 153 Man wird dies einem so brillanten Rechtsdogmatiker wie Jakobs nicht zutrauen (wenngleich er sich gerade zu diesem ebenso zentralen wie kritischen Punkt bisher [noch] verschwiegen hat). Man darf aber einem von Sicherheitsängsten getriebenen und sie schürenden Gesetzgeber – und erst recht der Mehrzahl der Angehörigen des Justizstabes (angesichts einer nahezu weltweit zu beobachtenden Politikbeflissenheit) – alle Plumpheiten zutrauen, die man sich nur vorstellen kann – zumal, wenn es zu krisenhaft sich zuspitzenden Situationen à la 11.9. kommen sollte. 154 Ebenda (o. Fn. 152), S. 843, bei Fn. 10. 155 Ebenda, S. 843, bei Fn. 12. 148 149

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einer erdachten Idylle nahestehen dürfte, ist es im Fall haltungsgemäß prinzipieller wie auch aktiver Gegner, also unter anderem im Fall von Terroristen, nicht getan; denn ganz unabhängig von der Antwort auf die bisher kaum je aufgeworfene Frage, wie es um die Schuld zumindest desjenigen Terroristen bestellt ist, der in einer der hiesigen Kultur feindlichen Kultur sozialisiert wurde, gilt es im Fall eines jeden Terroristen – wie bei jedem Feind – auch ein bereits vorhandenes Defizit an kognitiver Sicherheit auszugleichen.“155 Mit der dort anschließenden Fußnote 12 („Die Entgegensetzung ,Schadensersatz versus Sicherung‘ oder ,Normgeltung versus kognitive Ordnung‘ ist idealtypisch gemeint, und das Verlangen, die Grenze des Übergangs vom einen zum anderen genau anzugeben, wäre schlechthin naiv. ,Hell‘ und ,dunkel‘ bleiben auch dann klare Begriffe, wenn man darüber streiten kann, welchem von ihnen ein bestimmter Stand der Dämmerung zuzuordnen ist“), hat Jakobs sich aus der zentralen Aufgabe von Juristen, grundsätzlich auch des Gesetzgebers156, entlassen, für massiv grundrechtsinvasive Befugnisse eine einigermaßen konturierte Grenze anzugeben. Genau diese wäre aber festzulegen – damit man endlich wüßte, wer der „Feind“ ist!? Sonst hätte ein – beinahe fiktionales – „Normalrecht“ sich einem sehr realen Ausnahmerecht angenähert – und ihm so nachgerade den Widerschein des Normalen verliehen.157 Andererseits hat er in der Sache insoweit recht: Wir haben die schiefe Ebene zu dem, was hier „Sicherheitsrecht“ genannt wurde, schon längst betreten. Wir sollten

156 Vgl. erst jüngst wieder BVerfG HRRS 2008, 111 f. (§ 14 V HSOG [anlaßloses Scannen von Autokennzeichen]). 157 Schmitt schrieb unter dem 6. 5. 1948 (Glossarium [1988], S. 145 f. – in manchem erschreckend seherisch): „Was bleibt als das Spezifische übrig, wenn man von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die alten, bekannten, kriminellen Tatbestände Mord, Raub, Vergewaltigung usw. abzieht? Verbrechen, ,die einen krassen Vernichtungswillen‘ erkennen lassen, also Verbrechen, zu denen auf der subjektiven Seite noch etwas Besonderes, das GegenMenschliche nämlich, hinzukommt. Was kommt hinzu? Kein Realus, sondern nur ein Animus. Es sind Gesinnungs-Verbrechen von der negativen Seite. Sie mußten mit dialektischer Notwendigkeit kommen, nachdem aus Humanität die Gesinnungs-Verbrechen aus guter Gesinnung entdeckt worden waren. Mit anderen Worten: es sind die aus menschenfeindlicher Gesinnung entstandenen und von solcher Gesinnung zeugenden Taten, also: das, was der zum Feind der Menschheit Erklärte tut. Politisch im extremsten und intensivsten Sinne des Wortes. ,Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ ist nur die generellste aller Generalklauseln zur Vernichtung des Feindes. # Mit dem Übergang von gemessenen zu ungemessenen Diensten begann im Mittelalter die Versklavung der dienstpflichtigen, aber bisher freien Bauern. Mit dem Übergang von festen gesetzlichen Tatbeständen zu sog. Generalklauseln beginnt die Versklavung der staatsunterworfenen dienstpflichtigen, aber bisher freien Bevölkerung. Auch das gehört zum modernen Problem der Legalität. Legalität im Sinne von generellen, ungemessenen Ermächtigungen sind zwei verschiedene Begriffe. # Mit dem Ungemessenen (also potentiell Totalen) wird es ,politisch‘ im modernen Sinn; Wesen der Anklage und der kriminalisierten Tatbestände in politischen Prozessen! Die einzige interessante Frage betrifft die Situation: sind wir überhaupt noch in der Lage, zu messen, Maße zu finden, die nicht die falsch gewordenen, alten Maße, sondern sach- und situationsgemäße Maße sind? Heureka, ich habe ihn gefunden, nämlich den Feind. Es ist nicht gut, daß der Mensch ohne Feind sei. Wehe dem, der ohne Feind ist, denn er wird sein Feind sein am jüngsten Tage.“

Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht?

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aber endlich versuchen, statt auf dieser Schräge Schußfahrt aufzunehmen, sie nachträglich zu terrassieren. Kehren wir noch einmal zu dem Eingang und zum Fall Zumwinkel zurück. Es gehört sicher nicht zu den Aufgaben des BND, präsumtive inländische Steuerbetrüger zu entlarven. Durch die Bereitschaft, den geforderten Kaufpreis für die Diskette mit den illegal erhobenen Daten zu bezahlen, hat er sich zum Handlanger der Strafverfolgung gemacht – in einem keineswegs die staatliche Existenz bedrohenden Kontext. Unabhängig von der Frage, ob von ihm dabei strafbar agiert wurde (phänotypisch: wohl eher nicht158) und ob die so gewonnenen Beweismittel strafprozessual verwendbar sind (wenn keine Anstiftung zur Straftat vorliegt: nach h. M.: ja), liegt selbst in der schlichten Kausierung solch eines Fahndungserfolges ein Fall jenes „Sicherungsrechts“ zur gesamten Hand von Strafverfolgung, Polizei und Nachrichtendienst159, – was dem Gedanken einer funktionalen Gewaltenteilung widerspricht. Auf dessen zentrale Bedeutung sollte man sich endlich zurückbesinnen! Wenn wir hier nicht mehr trennen, wird das, was in dem Liechtensteiner Fall noch Zufall gewesen sein mag, ständige Praxis und schließlich geltendes Recht werden: Der Zweck heiligt die Mittel. – Aber soviel Konsens sollte gleichfalls noch möglich sein: Wir haben es vielleicht mit „Sozialfriedensstörern“ zu tun, aber keinesfalls mit „Feinden“, und schon gar nicht im ursprünglichen (?) Jakobsschen entpersonalisierten und entpersonalisierenden Sinne160!

158 A.A. Trüg / Habetha, NJW 2008, 887 ff. (§ 257 StGB und §§ 17 UWG i.V.m. 27 StGB). 159 Zu den Problemen einer solchen Kompetenz- und Daten-Agglomeration (diesmal: auf europäischer Ebene) vgl. Paeffgen, Problemskizze bei der Aufgabenbeschreibung von Europol, in: Wolter u. a., AE Europol und europäischer Datenschutz (2008), S. 173 (175 ff., 181 f.). 160 Wenn nicht schon um der Einwände gegen die Begründung willen, so doch wenigstens wegen der völligen Maßstabslosigkeit – und damit Manipulierbarkeit – allfälliger Begrenzungen. Jedenfalls hat es Spanien geschafft, jenen verheerenden Anschlag von Madrid strafrechtlich ohne „Feindstrafrecht“ zu bewältigen.

Die Erforderlichkeit der Strafe Von Friedrich-Christian Schroeder

Knut Amelung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Grundprinzip jeder rationalen Strafrechtslehre, das Strafrecht habe nur sozial störendes Verhalten zu verbieten, mit Gegenprinzipien zu Gunsten eines Freiheitsraumes der Adressaten strafrechtlicher Verbote ausbalanciert werden müsse.1 Im Rechtsstaat stehen alle Eingriffe in die Rechte des Bürgers unter dem Erfordernis der Erforderlichkeit. Für die Strafe als den schärfsten Eingriff in die Rechte des Bürgers muss dies in ganz besonderem Maße gelten. Im Strafrecht hat man dieses Erfordernis lange Zeit nicht ausdrücklich diskutiert, hatte man doch mit dem ultima-ratio-Prinzip, dem Erfordernis der Subsidiarität des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes und dem Schuldprinzip ähnliche Erfordernisse entwickelt. In der letzten Zeit ist das Erfordernis der Erforderlichkeit aber auch im Strafrecht näher aufgegriffen worden. Dabei wurde zwar feinsinnig zwischen dem Erfordernis der Verhaltens- und dem der Sanktionsvorschriften, bei letzteren auch noch zwischen dem der Primär- und dem der Sekundärsanktion differenziert.2 Immer aber ging es nur um die Erforderlichkeit des Strafrechts, d. h. der Strafgesetze. Hier ist man dann schnell mit der „Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“ bei der Hand. Außen vor blieb das Erfordernis der Erforderlichkeit der Strafe im Einzelfall.3 Auch Böse und Gropp, die das Erforderlichkeitsprinzip zuletzt wieder ins Gespräch gebracht haben, begnügen sich mit dessen Relevanz für die Begründung von Strafvorschriften bzw. deren Fehlen.4 Das Bundesverfassungsgericht begründet die Erforderlichkeit der Verhängung der Strafe im Einzelfall mit der Platitüde: „Die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Strafverfolgung im Hinblick auf die Erreichung des Strafzwecks ergibt sich allerdings grundsätzlich daraus, dass ein Straftatbestand seinen Zweck nur erfüllen Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 10. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 574 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 112 ff. 3 Appel (o. Fn. 2) geht zwar kurz hierauf ein, begnügt sich aber mit den gesetzlichen Möglichkeiten des Absehens von Strafe und den Strafzumessungsregeln (S. 592 ff.). Weigend, FS Hirsch, 1999, S. 917 ff., 932 ff., rügt zwar, dass das BVerfG das strafrechtsbegrenzende Potenzial des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht ausnutze, legt das Schwergewicht aber doch auf die Gesetzgebung. 4 Böse, ZStW 116 (2004), 680 ff., 697; Gropp, FS Otto, 2007, S. 249 ff. 1 2

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Friedrich-Christian Schroeder

kann, wenn er auch durchgesetzt wird“5. Dieser Schluss von der generellen Erforderlichkeit der Strafe auf ihre Erforderlichkeit im Einzelfall ist jedoch unzulässig. Die Generalprävention bricht keineswegs zusammen, wenn im Einzelfall auf eine Bestrafung verzichtet wird. Das Rechtsstaatsprinzip erfordert, dass eine Bestrafung auch im Einzelfall auf ihre Erforderlichkeit hin geprüft wird. Zwar hat der Strafgesetzgeber im Laufe der Zeit zahllose Straffreistellungsvorschriften entwickelt6, doch sind diese immer nur punktuell und reichen daher für eine umfassende Berücksichtigung der Erforderlichkeit nicht aus. Das Legalitätsprinzip kann die Prüfung der Erforderlichkeit nicht aufheben7; es steht seinerseits unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit. Umgekehrt hebt das Erfordernis der Erforderlichkeit das Legalitätsprinzip nicht auf; Ermittlungen werden regelmäßig geboten sein, und – soweit erforderlich – besteht auch Anklagezwang. Bemerkenswerterweise gibt es nun im deutschen Recht seit längerem Vorschriften, die eine Prüfung der Erforderlichkeit der Bestrafung im Einzelfall verlangen. Nach § 153 StPO kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn bei geringer Schuld des Täters kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Die hoch gestochene Formulierung soll wohl, kann aber nicht verschleiern, dass diese Worte bedeuten: „wenn eine Verfolgung nicht erforderlich ist“. Und § 153a StPO ist mit seiner Formulierung, dass von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen werden kann, wenn Auflagen und Weisungen geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, eine kaum verhüllte Ausformung des Erfordernisses des Einsatzes des milderen Mittels bei gleicher Eignung zur Zweckverfolgung. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich mehrere Folgerungen: 1. Die §§ 153, 153a StPO sind nicht verlegene Produkte eines Strebens nach Entlastung und Rationalisierung der Justiz, sondern zwingende Erfordernisse des Rechtsstaats. 2. Die prozessuale Lösung zur Reduzierung der Strafbarkeit ist nicht nur „nicht zu beanstanden“, ist nicht nur neben der materiell-rechtlichen Lösung „gestattet“8, sondern ist dieser sogar vorzuziehen und überlegen. Denn während das materielle Recht immer nur konkret umschriebene Fälle aus der Strafbarkeit ausnehmen kann, kann das Prozessrecht – wie die §§ 153, 153a StPO zeigen – allgemeiner formulieren und damit dem Erforderlichkeitsgrundsatz besser gerecht werden. 3. Der Betroffene hat einen Anspruch auf das Absehen von der Verfolgung, wenn diese nicht erforderlich ist. Die Erforderlichkeit kann sich insbesondere bei einem Bedürfnis nach Spezialprävention sowie dann ergeben, wenn infolge massenhafter Einstellung die Generalprävention nicht mehr gewährleistet ist. Übrigens 5 6 7 8

BVerfGE 92, 277 ff., 326. Schroeder, FS Eser, 2005, S. 181 ff.; Schroeder, FS Fezer, 2008 (im Erscheinen). A. A. BayObLG JR 1996, 426 ff. m. Anm. Schmidt. BVerfGE 90, 145 ff. (Cannabis).

Die Erforderlichkeit der Strafe

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erscheint angesichts der sehr weiten Möglichkeiten der §§ 153, 153a StPO die Generalprävention nur noch dadurch hinreichend gewährleistet, dass die Vorschriften bloße Kann-Vorschriften sind und der Einzelne dadurch glaubt, auf ein Wohlwollen der Staatsanwaltschaft angewiesen zu sein. Dass die Vorschriften insofern rechtsstaatlich unzulässig sind, liegt auf der Hand.9 Aber die Vorschriften sind ohnehin dahingehend auszulegen, dass keine völlige Ermessensfreiheit der Staatsanwaltschaft besteht, sondern dass sie sachliche Gründe für ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bzw. der Erhebung der öffentlichen Klage anführen muss. 4. § 60 StGB erscheint, indem er die Schwelle für das Absehen von Strafe von der Nichterforderlichkeit auf die „offensichtliche Verfehltheit“ anhebt, als Verstoß gegen das rechtsstaatliche Erfordernis der Erforderlichkeit der Strafe und damit als verfassungswidrig. 5. Es bedarf über den Bereich der geringfügigen (§ 153 StPO) und der mittleren Kriminalität (§ 153a StPO) hinaus der Möglichkeit, mangels Erforderlichkeit auf die Verhängung einer Strafe zu verzichten. Solange der Gesetzgeber seiner diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Pflicht nicht nachkommt, hat die Rechtsprechung unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip entsprechende Folgerungen zu ziehen. Die Rechtsprechung hat dies schon verschiedentlich getan. So hat das Bundesverfassungsgericht angesichts einer „singulären staats- und strafrechtlichen Situation, die ohne Vorbild ist und sich so nicht wiederholen kann“ festgestellt, dass „eine – an sich zur Durchsetzung des Strafzwecks weiterhin geeignete und erforderliche – Verfolgung bestimmter strafbarer Handlungen zu einer so starken Beeinträchtigung rechtlicher Positionen der davon Betroffenen führt, dass dies den durch die Strafverfolgung erreichbaren Rechtsgüterschutz deutlich überwiegt“10. „Singuläre strafrechtliche Situationen, die ohne Vorbild sind und sich so nicht wiederholen können“, gibt es häufig, und gerade sie lassen an dem Sinn der Bestrafung zweifeln.11 Es wäre peinlich, wenn dieses Absehen von einer Bestrafung nur den Managern und den Weiße-Kragen-Tätern der DDR-Spionage zugute käme. Der Bundesgerichtshof hat aus dem rechtsstaatlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hergeleitet, dass die Anwendung des Mordtatbestandes bei „außergewöhnlichen Umständen“ unzulässig ist.12 Allerdings ergibt sich bei der schwereren und der Schwerkriminalität die Erforderlichkeit der Strafe in aller Regel aus der Generalprävention und kann daher nur in Ausnahmefällen fehlen.

9 Weßlau, in: Systematischer Kommentar zur StPO (Stand: 55. Lieferung – Dezember 2007), § 153a StPO Rn. 17. 10 BVerfGE 92, 277 ff., 327 f. Zu dem daraus hergeleiteten Strafverfolgungshindernis Schroeder, JR 1995, 441 ff.; Volk, NStZ 1995, 367 ff.; Schmidt, JR 1996, 431. 11 Dazu, dass hier kein Einzelfall vorlag und das BVerfG in Wahrheit eine Amnestie vornahm, s. die abweichende Meinung der Richter Klein, Kirchhof und Winter, BVerfGE 92, 341 ff., und Schmidt, JR 1996, 341. 12 BGHSt 30, 105.

Verhaltensdelikte: Standard-, Ausnahme- oder Unfall der Strafrechtsdogmatik?* Von Wolfgang Wohlers

I. Einführung in die Problemstellung Nach einem in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft ganz vorherrschend vertretenen Standpunkt sind strafrechtliche Normen dann – und nur dann – legitim, wenn sie dem Rechtsgüterschutz dienen.1 Dem von den Vertretern der systemkritischen Rechtsgutstheorie erhobenen Anspruch, „dem Strafgesetzgeber ein plausibles und verwendungsfähiges Kriterium seiner Entscheidungen an die Hand zu geben und zugleich einen externen Prüfungsmaßstab für die Gerechtigkeit dieser Entscheidungen zu ermitteln“,2 ist die Rechtsgutstheorie bisher allerdings nicht gerecht geworden. Trotz umfangreicher Bemühungen ist es nicht gelungen, konsensfähige Kriterien und Maßstäbe zu finden, anhand derer beurteilt werden kann, was Rechtsgüter überhaupt sind und wann deren Beeinträchtigung oder Gefährdung als strafwürdig zu gelten hat.3 Als gesichert kann allein gelten, dass das Rechtsgut nicht einfach mit dem Interesse gleichgesetzt werden darf, das den * Die vorliegende Abhandlung geht auf Überlegungen zurück, die ich am 20. Oktober 2007 auf einem von der Università degli Studi di Palermo veranstalteten Kongress („La legittimazione del diritto penale tra harm principle e theoria del bene giuridico“) vorgetragen habe. 1 Vgl. Hassemer / Neumann, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1 (§§ 1 – 145d), 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 108 ff.; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band I, Allgemeiner Teil (§§ 1 bis 79b), 6. Auflage, 26. Lieferung (Juni 1997), Vor § 1 Rn. 1 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 2 Rn. 1 ff., jeweils mit weiteren Hinweisen; kritisch dagegen Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1993, Abschn. 2 / 7 ff.; zu dem in der angloamerikanischen Strafrechtstheorie herangezogenen kombinierten Harm- / Offense-Principle vgl. Feinberg, Harm to Others, The Moral Limits of the Criminal Law, Vol. One, 1984; ders., Offense to Others, The Moral Limits of the Criminal Law, Vol. Two, 1985; von Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen, 2005, S. 69 ff., 109 ff.; Simester / von Hirsch, Legal Theory 8 (2002), 269 ff.; zur Rezeption dieses Ansatzes in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft vgl. Papageorgiou, Schaden und Strafe, 1994, sowie Seher, Liberalismus und Strafe, 2000. 2 Hassemer / Neumann, in: NK-StGB (o. Fn. 1), Vor § 1 Rn. 115. 3 Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. die in Fn. 1 genannten Werke sowie die Beiträge in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003.

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Gesetzgeber veranlasst hat, eine Strafnorm zu schaffen. Das Rechtsgut ist vielmehr das „Etwas“, auf das sich dieses Interesse bezieht,4 was dieses „Etwas“ sein kann, war und ist dann aber heillos umstritten.5 Knut Amelung hat mit seiner Abhandlung „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ nicht nur eine immer noch grundlegende Aufarbeitung der Dogmengeschichte der Rechtsgutstheorie vorgelegt,6 sondern darüber hinaus in aller Deutlichkeit aufgezeigt, dass die systemkritische Rechtsgutstheorie das von ihr selbst proklamierte Ziel aus sich selbst heraus gar nicht erreichen kann: Die für die Konstituierung von Rechtsgütern maßgebenden (normativen) Kriterien können nicht dem Rechtsgutsbegriff selbst entnommen werden, sondern sie müssen von außen her an die Rechtsgutstheorie herangetragen und in diese integriert werden.7 Der Rechtsgutsbegriff ist – wie Amelung zu recht betont – zwar das Verbindungsglied zwischen der Strafrechtsdogmatik und der (Rechts-)Politik.8 Die Entscheidung, welche Verhaltensweisen als sozialschädlich und deshalb strafwürdig eingestuft werden, ist aber als eine (kriminal-)politische Frage durch die Politik zu entscheiden9 – und dies eben anhand von Maßstäben und Wertungen, die von außen her an die Rechtsgutstheorie herangetragen werden.10 Die in der Strafrechtswissenschaft immer wieder einmal unternommenen Versuche, den Gesetzgeber dadurch zu binden, dass der Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen auf den Schutz „handfester“11 oder „personaler“12 Rechtsgüter beschränkt wird, hat Amelung stets zurückgewiesen. Seiner Auffassung nach kann sich die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen ohne weiteres auch aus der Störung von Interaktionsprozessen oder aus der Beeinträchtigung individueller Handlungschancen herleiten. Weiterhin soll sich die Sozialgefährlichkeit eines Verhaltens seiner Auffassung nach auch aus der sozial desintegrierenden Wirkung ergeben können, die ein Verstoß gegen die in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertungen nach sich zieht: „Manifeste Verstöße gegen solche Kulturnormen, die in einer Gesellschaft tief institutionalisiert sind, bergen . . . die Gefahr in sich, dass die 4 Stratenwerth, FS Lenckner, 1998, S. 379 f.; Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 219 f. 5 Vgl. Stratenwerth (o. Fn. 4), S. 379 f.; Wohlers (o. Fn. 4), S. 220; Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 3. 6 Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung der Rechtsgutstheorie vgl. neben Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, auch noch: Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973; Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962. 7 Amelung (o. Fn. 6), S. 208 ff.; ders., in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 160 f.; Wohlers (o. Fn. 4), S. 229 ff. 8 Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Fn. 3), S. 159. 9 Amelung (o. Fn. 6), S. 389; ders., in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 180. 10 Vgl. Wohlers (o. Fn. 4), S. 229. 11 Amelung (o. Fn. 6), S. 340; kritisch insoweit auch Wohlers (o. Fn. 4), S. 223 ff. 12 Vgl. Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 161 ff.

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Bevölkerung diesen Normen im Wege unkontrollierter Selbsthilfe Geltung zu verschaffen sucht, wenn nicht der Staat sie sanktioniert.“13 Diese Sozialgefährlichkeit soll allerdings für sich allein gesehen noch kein hinreichender Grund für eine Pönalisierung sein; entscheidend sei – so Amelung –, ob der Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses zu dem Ergebnis kommt, dass die Verletzung von in der Gesellschaft tief institutionalisierten Normen als strafwürdig anzuerkennen sei.14 Auch Amelung geht – insoweit in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Meinung15 – davon aus, dass der Einsatz strafrechtlicher Normen dann illegitim ist, wenn es darum geht, Gefühle oder Moral- bzw. Wertvorstellungen um ihrer selbst willen zu schützen.16 Gemäß einer verbreitet vertretenen Auffassung soll eine der wesentlichen Errungenschaften der Rechtsgutstheorie gerade darin liegen, die Illegitimität des strafrechtlichen Schutzes bloßer Moral- oder Wertvorstellungen erwiesen zu haben, wobei als Beleg gerne auf die Reform des Sexualstrafrechts und hier insbesondere auf die Abschaffung der Delikte verwiesen wird, welche die Sittlichkeit allein um ihrer selbst willen schützen sollen, wie z. B. die Straftatbestände der Sodomie und der Homosexualität.17 Abgesehen davon, dass man mit guten Gründen bezweifeln kann, dass dies als eine Konsequenz des Rechtsgutsdenken aufzufassen ist, gibt es aber immer noch eine ganze Reihe von Straftatbeständen, die anerkanntermaßen über die Rechtsgutstheorie nicht oder nur sehr schwer legitimiert werden können, wie z. B. den Straftatbestand der Mehrfachehe, die Strafbarkeit inzestuöser Handlungen sowie den Straftatbestand der Tierquälerei. Das gleichzeitige Eingehen mehrerer Ehen kann Rechtsgüter der beteiligten Personen beeinträchtigen. Dies aber nur dann, wenn Täuschungen oder aber Zwang im Spiel sind. Sind dagegen alle Beteiligten in Kenntnis aller Umstände einverstanden, kann es wiederum nur darum gehen, dass mit dem Eingehen der Mehrfachehe der Vorstellung zuwider gehandelt wird, dass die Ehe eine Institution mit Ausschließlichkeitsanspruch ist,18 was dann aber zur Frage führt, aus welchen Gründen dies ein schutzwürdiges Interesse ist.19 Der Straftatbestand des Inzests kann vor dem Hintergrund moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht über das Risiko von Erbschädigungen legitimiert werden,20 sondern erweist sich als eine Norm, die Amelung (o. Fn. 6), S. 346. Vgl. Amelung (o. Fn. 6), S. 392 f. 15 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 52; Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 17 ff. 16 Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 169 f. 17 Vgl. Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 17 ff.; kritisch hierzu Wohlers (o. Fn. 4), S. 227 f. 18 Kritisch zu diesem Ansatz einer Legitimation Hörnle, Grob anstößiges Verhalten – Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, S. 449 ff. 19 Vgl. Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 14 ff.: Die Umschreibung des gesetzgeberischen Ziels begründet für sich allein gesehen noch kein tatbestandslegitimierendes Rechtsgut. 20 Hörnle (o. Fn. 18), S. 452 ff. 13 14

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der uralten Tabuvorstellung Rechnung trägt, nach der es sich bei geschlechtlichen Beziehungen zwischen Blutsverwandten um eine verabscheuungswürdige Verwerflichkeit handelt,21 womit sich dann aber wiederum die Frage stellt, ob überhaupt und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen das Vorhandensein eines Tabus und / oder starker Aversionen ein legitimer Grund dafür sein kann, ein Verhalten unter Strafe zu stellen.22 Die Legitimität des Straftatbestands der Tierquälerei ließe sich dann über die Rechtsgutstheorie legitimieren, wenn sich nachweisen lassen sollte, dass das Quälen von Tieren zur Verrohung des Täters führt und / oder das gesellschaftliche Klima so verändert, dass letztlich Rechtsgüter von Mitgliedern der Gesellschaft gefährdet oder sogar beeinträchtigt werden. Amelung hat hierzu ausgeführt: „Orientiert man sich an den sozialen Folgen tierquälerischen Verhaltens, so wird man sagen müssen, dass das rechtliche Verbot der Tierquälerei die gleiche friedenserhaltende Bedeutung für das menschliche Zusammenleben besitzt wie solche Straftatbestände, die die Gotteslästerung oder die öffentliche Vornahme unzüchtiger Handlungen sanktionieren, soweit diese Strafnormen noch auf tief institutionalisierten Kulturüberzeugungen aufbauen. Diese friedenserhaltende Wirkung ist die objektive soziale Funktion des Tierquälereiverbotes, sein empirisch überprüfbarer Beitrag zur Erhaltung der Bedingungen menschlicher Koexistenz.“23 Lassen sich derartige empirische Zusammenhänge nicht verifizieren, wäre auch der Tatbestand der Tierquälerei nur dadurch zu legitimieren, dass das Quälen von Tieren dem normativen Grundkonsens der Gesellschaft widerspricht. Die Frage ist, ob es sich bei Straftatbeständen dieser Art um Überreste einer vergangenen Epoche handelt, die konsequenterweise abgeschafft werden müssen, oder ob es Gründe dafür gibt, bestimmte Wertvorstellungen als solche auch mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen. Wenn man letzteres bejahen sollte, würde sich weiter die Frage stellen, anhand welcher Kriterien sich beurteilen lässt, welche Wertvorstellungen mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden dürfen und welche nicht. Denkbar sind hier drei mögliche Begründungsansätze: Zunächst einmal könnte man die Strafschutzwürdigkeit bestimmter Moral- und Wertvorstellungen als vorgegeben anerkennen; zum zweiten könnten einzelne Menschen oder die Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft ein Recht darauf haben, in einer Gesellschaft zu leben, die bestimmten, von ihnen als wertvoll eingestuften Moral- oder Wertvorstellungen verbunden ist, und schließlich könnte es – drittens – so sein, dass bestimmte Moral- und Wertvorstellungen verteidigt werden müssen, um den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu gewährleisten.

Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 43. Verneinend im Hinblick auf den Straftatbestand des Inzests: Hörnle (o. Fn. 18), S. 457; Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 44; vgl. aber auch Stratenwerth, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Fn. 3), S. 258; ders., in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, S. 163. 23 Amelung (o. Fn. 6), S. 346. 21 22

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II. Die Pönalisierung von Zuwiderhandlungen gegen gesellschaftlich vorherrschende Wertvorstellungen 1. Der Schutz von Moral- und Wertvorstellung als Zweck in sich Moral- und Wertvorstellungen sind ohne Frage dann ein legitimes Schutzgut strafrechtlicher Normen, wenn es um die Strafrechtsordnung eines Staates geht, der weltanschaulich gebunden ist – entweder als religiöser Gottesstaat oder als autoritärer Weltanschauungsstaat. Dem säkularen pluralistischen Staat europäischer Prägung sind allerdings beide Zugänge verbaut: Weder kann er die Strafschutzwürdigkeit bestimmter Gesinnungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen aus einer als verbindlich anerkannten göttlichen Offenbarung ableiten, noch aus einer anderen, autoritär vorgegebenen Weltanschauung.24 Die Idee, die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen aus einem Widerspruch zu zeitlos gültigen Sittengesetzen ableiten zu wollen, hat sich mit dem Ende des Naturrechtsdenkens ebenfalls erledigt:25 Da soweit ersichtlich niemand in der Lage ist, die konkrete Gestalt eines objektiven Sittengesetzes näher zu bestimmen, ist das angeblich zeitlos gültige Sittengesetz nichts anderes ist als der relativ durchsichtige Versuch, eine religiös oder weltanschaulich fundierte partikulare Ideologie mit dem Anschein des Objektiven und des Ewiggültigen zu versehen.26 Und für die moderne pluralistische Gesellschaft kommt hinzu, dass die Idee, eine bestimmte Moral für verbindlich zu erklären, der Grundidee dieser Gesellschaft zuwider läuft, deren moralischer Grundkonsens ja gerade darin besteht, dass in den Grenzen des Rechten (Rawls)27 eine Vielzahl verschiedener Konzeptionen des „Guten“ nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren sollen.28 Der Versuch, die Legitimität strafrechtlicher Normen aus dem intrinsischen Wert bestimmter Moral- und Wertvorstellungen abzuleiten, wird denn auch – soweit ersichtlich – in den modernen Demokratien westlicher Prägung nicht mehr ernsthaft vertreten. 2. Der Schutz von Moral- und Wertvorstellungen als Instrument zum Schutz des gesellschaftlichen status quo Die modernen Befürworter der Pönalisierung unsittlicher oder sonst wie moralwidriger Verhaltensweisen begründen ihre Forderung nach einer Pönalisierung derartiger Verhaltensweisen allenfalls noch vordergründig mit der Moralwidrigkeit derartiger Handlungen. Neben diese, oft wohl eher aus rhetorischen Gründen vor24 25 26 27 28

Wohlers (o. Fn. 4), S. 265. Vgl. Wohlers (o. Fn. 4), S. 264 ff. Wohlers (o. Fn. 4), S. 266. Vgl. insbesondere Rawls, Political Liberalism, 1993. Wohlers (o. Fn. 4), S. 265.

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gebrachten Argumente tritt dann der Verweis auf negative Folgen, die zu befürchten sein sollen, wenn man bestimmten Moral- und Wertvorstellungen strafrechtlichen Schutz versagen würde.29 Einer der bekanntesten Vertreter eines derartigen Ansatzes ist Lord Patrick Devlin, der Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts die Notwendigkeit, bestimmten Moral- und Wertvorstellungen strafrechtlichen Schutz zu gewähren, mit der Erwägung begründet hat, dass der Schutz der für eine Gesellschaft zentralen Wertvorstellungen nicht nur dem Schutz dieser Moral- und Wertvorstellungen um ihrer selbst willen diene, sondern vielmehr notwendig sei, um den gesellschaftlichen status quo zu erhalten. Nach Devlin soll eine Gesellschaft das Recht haben, sich gegen Verhaltensweisen zu wehren, welche die für die Gesellschaft konstitutiven Wertvorstellungen in Frage stellen und die damit – entweder direkt oder als Konsequenz eines über mehrere Stufen der Desintegration verlaufenden Aufweichungsprozesses – letztlich die Existenz der Gesellschaft selbst bedrohen und in Frage stellen.30 Dass ein ungehinderter gesellschaftlicher Wandel über einen Prozess der Desintegration letztlich in die Auflösung der Gesellschaft münden müsse, ist aber schon empirisch gesehen höchst zweifelhaft: Gesellschaftlicher Wandel muss nicht zwingend negative Folgen, sondern kann im Gegenteil auch positive Effekte haben. Gesellschaftliche Wandelungsprozesse haben in den allermeisten Fällen auch nicht die Auflösung der Gesellschaft zur Folge; sie führen zwar dazu, dass die Gesellschaft sich verändert – und dies vielleicht zum Schlechten, vielleicht aber auch zum Guten.31 Gesellschaftlicher Wandel ist nach alledem nicht per se ein Übel („free-floating evil“).32 Letztlich ging es Devlin wohl auch in erster Linie darum, den gesellschaftlichen status quo zu erhalten.33 Insoweit ist aber zunächst darauf zu verweisen, dass sich Wandel als solcher schon rein faktisch gar nicht verhindern lässt. Da aber die Gesellschaft notwendigerweise in einem fortlaufenden Wandelungsprozess begriffen ist, würde der Versuch, einen bestimmten „way of life“ oder einzelne Teilelemente eines „way of life“ zu konservieren, notwendigerweise zu Zuständen führen, die früher oder später nur noch anachronistisch sind. Hinzu kommt, dass man sich die Frage stellen muss, wie man es überhaupt legitimieren will, dass bestimmte Moral- oder Wertvorstellungen ein strafschutzwürdiges Gut sein sollen. Haben bestimmte Wertvorstellungen ein Recht darauf, als verbindlich anerkannt zu werden? Und wenn ja: Wie bestimmt man, welche Wertvorstellungen strafschutzwürdig sind und welche nicht? Die Möglichkeit, beVgl. hierzu bereits Wohlers (o. Fn. 4), S. 266 ff. Vgl. Devlin, The Enforcement of Morals, 1965; zur Kritik an Devlin vgl. insbesondere H. R. A. Hart, Law, Liberty and Morality, 1963. 31 Vgl. Feinberg, Harmless Wrongdoing, The Moral Limits of the Criminal Law, Vol. 4, 1988, S. 65 f. 32 Feinberg (o. Fn. 31), S. 71 ff., 76; vgl. auch Wohlers (o. Fn. 4), S. 267 f. 33 Feinberg (o. Fn. 31), S. 39 ff.; vgl. auch Wohlers (o. Fn. 4), S. 266. 29 30

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stimmte strafschutzwürdige Wertvorstellungen bestimmen zu können, steht und fällt damit, dass es in einer Gesellschaft eine – aus welchen Gründen auch immer – als verbindlich anerkannte Leitkultur gibt. Gibt es eine derartige Leitkultur nicht oder nicht mehr, dann ist es schlicht willkürlich, einzelne Wertvorstellungen als strafschutzwürdig anzuerkennen, andere aber nicht. In einer Gesellschaft, die sich als säkular, pluralistisch und liberal definiert, stehen die als verbindlich anerkannten Werte der Autonomie und Freiheit des Einzelnen34 und die Bekenntnisneutralität des Staates dem Anliegen entgegen, bestimmte Wert- oder Ordnungsvorstellungen als verbindlich anzuerkennen. Und dies gilt auch dann, wenn es um Wertvorstellungen geht, die von der Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft als „richtig“ anerkannt werden.35 Auch der Mehrheit gegenüber hat der Einzelne ein Recht darauf, sich so zu verhalten, wie er es für richtig hält – es sei denn, sein Verhalten ist mit den Freiheitsansprüchen der anderen nicht zu vereinbaren,36 womit dann aber Verhaltensweisen in Frage stehen, deren Strafwürdigkeit sich ohne weiteres über die Rechtsgutstheorie oder das kombinierte Harm / OffensePrinciple begründen lässt.

3. Der Schutz von Moral- und Wertvorstellungen als Instrument zur Gewährleistung des Zusammenhalts einer Gesellschaft Dass Straftatbestände nicht dem Schutz von Moral- oder Wertvorstellungen dienen dürfen, hat sich spätestens gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem Gemeinplatz entwickelt, der praktisch von niemandem mehr in Abrede gestellt wurde. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Problematik in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft in einem neuen Gewand wieder aktuell geworden ist, die mit etwas unterschiedlicher Akzentsetzung insbesondere von Roland Hefendehl und von Günter Stratenwerth vertreten wird. a) Verhaltensdelikte als Ausnahmekategorie neben den auf Rechtsgüterschutz abzielenden Straftatbeständen Roland Hefendehl hat in seiner Habilitationsschrift und in einem 2001 publizierten Aufsatz zu den Strafvorschriften des Naturschutzrechts aufgezeigt, dass es auch im geltenden Strafrecht moderner Staaten bestimmte Delikte gibt, die sich über Rechtsgutserwägungen nicht legitimieren lassen.37 Derartige, von ihm als „Verhaltensdelikte“ bezeichnete rechtsgutslose Delikte sind seiner Auffassung nach aber nicht per se illegitim, sondern sie sind legitim, wenn auch nur als „ab34 35 36 37

Feinberg (o. Fn. 31), S. 55 ff.; 66 ff. Feinberg (o. Fn. 31), S. 50 ff. Wohlers (o. Fn. 4), S. 273 f. Hefendehl (o. Fn. 15), S. 52 f.

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solute Ausnahme“.38 Legitim soll die Pönalisierung dann sein, wenn es um Verstöße gegen „tief verwurzelte Kulturüberzeugungen“ geht.39 Konkret führt er hierzu aus: „Bei den Verhaltensdelikten geht es nicht um die Oktroyierung fremder (staatlicher) Verhaltensvorstellungen, sondern um die Reflektierung von in der Gesellschaft vorhandenen Überzeugungen. Sie nehmen Rekurs auf das tatsächlich existierende Sozialsystem. Die Grundlage der in der Gesellschaft verankerten Kulturüberzeugungen findet sich in personalen Bedürfnissen, die sich aus einem (freilich labilen) Konsens der Individuen herausbilden.“40

Strafschutzwürdig sind Verhaltensüberzeugungen nach Hefendehl dann, wenn sie „sozial dominant“ sind.41 Wann man von einer „konsentierten Wertvorstellung“ auszugehen hat, führt er allerdings nicht im Einzelnen aus. Er weist lediglich darauf hin, dass in modernen Gesellschaften die Ausprägung homogener Überzeugungen durch Individualisierungsprozesse und den zunehmenden Verlust an einheitlichen Werten und Vorstellungen gehemmt werde.42 Die Plausibilität dieses Ansatzes steht und fällt damit, dass es Kriterien gibt, anhand derer man bestimmen kann, wann man es mit in der Gesellschaft tief verwurzelten Kulturüberzeugungen zu tun hat. Hefendehl weist selbst darauf hin, dass homogene Wertvorstellungen in modernen Gesellschaften eher die Ausnahme sind.43 Die als strafschutzwürdig anerkannten tiefverwurzelten Wertvorstellungen können damit aber nicht als vorbestehend festgestellt werden, sondern sie müssen entweder normativ bestimmt werden oder man muss es dem Gesetzgeber überlassen, die Kulturüberzeugungen festzulegen, die als strafschutzwürdig anerkannt werden sollen. Damit wäre man dann aber an einem Punkt angelangt, an dem dieser Ansatz jegliches kritisches Potential verloren hätte: Strafbar wäre, was der Gesetzgeber als strafbar definiert. Hefendehl ist der Auffassung, dass sich Grenzen für die Pönalisierung von Verhaltensdelikten aus der Verfassung ergeben, wobei er diese allerdings – abgesehen von einem Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz – nicht weiter spezifiziert.44 Angesichts der dürftigen Ergebnisse, die der Versuch erbracht hat, Grenzen der Rechtsgutstheorie aus dem Verfassungsrecht abzuleiten, sollte man diesbezüglich wohl keine zu hohen Erwartungen haben.

38 Hefendehl (o. Fn. 15), S. 53; ders. Natur und Recht 2001, 498, 504; vgl. auch bereits Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 1), Vor § 1 Rn. 11. 39 Hefendehl (o. Fn. 15), S. 56; ders. Natur und Recht 2001, 498, 504; vgl. hierzu auch bereits Amelung (o. Fn. 6), S. 346, der allerdings – anders als Hefendehl – diesen Umstand als alleinigen Pönalisierungsgrund verwirft (vgl. Amelung [o. Fn. 6], S. 393). 40 Hefendehl (o. Fn. 15), S. 56; ders. Natur und Recht 2001, 498, 504. 41 Hefendehl (o. Fn. 15), S. 57; ders. Natur und Recht 2001, 498, 504. 42 Hefendehl (o. Fn. 15), S. 57 f.; ders. Natur und Recht 2001, 498, 504. 43 Vgl. auch Seelmann, FS Jung, 2007, S. 897: Das Kriterium könne höchstens Tabubrüche erfassen und dürfte zudem als Begrenzung zu vage sein. 44 Hefendehl (o. Fn. 15), S. 54.

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b) Verhaltensdelikte als Standardmodell des strafrechtlichen Delikts Während Hefendehl Verhaltensdelikte nur als absolute Ausnahme anerkennen will, geht Günter Stratenwerth noch einen Schritt weiter. Seiner Auffassung nach sind Verhaltensdelikte keine Ausnahmekategorie, vielmehr sei es so, „dass es gar keine anderen als Verhaltensdelikte gibt (oder geben sollte).“45 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Erkenntnis, dass bestimmte, an die kulturelle Überlieferung gebundene und damit zeitlich und örtlich kontingente Normen und Werte Teil des normativen Grundkonsenses einer Gesellschaft sind und als solche strafrechtlichen Schutz verdienen.46 Die Legitimation von Strafnormen durch gesellschaftlichen Konsens sei deshalb keineswegs die Ausnahme, sondern „die selbstverständlichste Sache der Welt.“47 Gesellschaftlicher Konsens soll nach Stratenwerth dann gegeben sein, wenn die entsprechende Norm „zu den Regeln gehört, deren Anerkennung für uns als diese Wertegemeinschaft so wichtig ist, dass wir ihre Verletzung als strafwürdig empfinden“. Hierbei müsse es sich keineswegs um besonders tief verinnerlichte oder verwurzelte Überzeugungen handeln, es reiche aus, dass Einigkeit darüber bestehe, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht zugelassen werden sollen: „Einig können wir eben beispielsweise auch darin sein, dass Tierquälerei nicht zugelassen werden sollte.“48 Letztlich gebe es keine andere Legitimation als die der Anerkennung. Das Einverständnis tauge als Legitimationsgrund für eine Strafnorm „nicht weniger als eine Ableitung, die sie um fünf Ecken auf personale Rechtsgüter zurückzuführen sucht“.49 Die Konzeption Stratenwerths ist ohne jede Einschränkung als eine überzeugende Analyse des Ist-Zustands anzuerkennen. Probleme ergeben sich aber dann, wenn man von der Ebene der Analyse auf die Ebene der kritischen Würdigung strafrechtlicher Normen wechselt:50 Unabhängig davon, ob man Verhaltensdelikte als Ausnahmefälle neben Rechtsgüterschutzdelikten sieht, wie es Hefendehl tut, oder ob man mit Stratenwerth alle Straftatbestände als Verhaltensdelikte einstuft, stellt sich die Frage nach Kriterien, anhand derer legitime und illegitime Verhaltensdelikte unterschieden werden können. Der Verweis auf die für die Identität einer Gesellschaft als Wertegemeinschaft wichtigen Verhaltensnormen lässt eine entscheidende Frage offen: Eine Überzeugung kann nicht allein deswegen als schützenswert anerkannt werden, weil sie „da“ ist, es sei denn, man würde – was aber wohl auf einen naturalistischen Fehlschluss hinauslaufen würde – unterstellen, Stratenwerth, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 257. Stratenwerth, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 256 ff. 47 Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 22), S. 161. 48 Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 22), S. 162. 49 Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 22), S. 162. 50 Hierzu bereits Wohlers, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 284; vgl. auch Seelmann (o. Fn. 43), S. 894: Der Ansatz werfe „die Frage auf, wie man derlei Strafbedürfnisse – die nach entsprechenden Straftatbeständen verlangen – rechtsstaatlich begrenzen kann.“ 45 46

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dass das, was „da“ ist, gleichzeitig auch „gut“ und deswegen strafschutzwürdig ist. Man könnte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass man Werte verteidigen muss, solange man sie noch hat. Auch dieser Satz ist aber nur analytisch richtig: sicherlich muss und kann man Werte nur verteidigen, solange man diese (noch) hat. Wenn man aber darüber hinaus auch noch behaupten wollte, dass es ein guter Grund ist, einen Wert zu verteidigen, weil man ihn hat, dann unterliegt man wiederum einem Sein-Sollens-Fehlschluss.51 Wenn Stratenwerth ausführt, dass alle Straftatbestände Verhaltensdelikte sind oder doch sein sollten, dann kann und muss man dieser Aussage schon deshalb zustimmen, weil jedem Straftatbestand notwendigerweise ein gesetzgeberisches Wertbekenntnis zugrunde liegt.52 Trotzdem kommt man aber nicht darum herum, Gründe dafür anzugeben, warum bestimmte Werte es verdienen, strafrechtlichen Schutz zu erhalten. Zu klären bleibt, unter welchen Umständen bestimmte Ordnungsvorstellungen normativ gesehen mehr sind als partikulare Ordnungsvorstellungen. Man muss Kriterien angeben können, anhand derer entschieden werden kann, wann man „noch“ von einer nur partikularistischen und wann man „schon“ von einer Ordnungsvorstellung sprechen kann, die tatsächlich Teil des normativen Grundkonsenses einer Gesellschaft ist. Und weiterhin wäre zu klären, welche Instanz berechtigt ist, darüber zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen gegeben sind oder nicht. Gibt es derartige Kriterien nicht oder ist es der Gesetzgeber, der die Entscheidung zu fällen hat, dann läuft dieser Ansatz letztlich darauf hinaus, dass die Ordnungsvorstellungen der an den Schalthebeln der Macht sitzenden Gruppen mit den Insignien der Allgemeinverbindlichkeit versehen und so der Kritik entzogen werden. Dem Ansatz Stratenwerths entspräche dies nun ganz eindeutig nicht. Ihm geht es im Gegenteil gerade darum, die Diskussion um die Legitimität strafrechtlicher Normen vom Rechtsgutsdogma zu befreien und dadurch den Weg dafür frei zu machen, „Strafrechtsnormen rational zu begründen“.53 Auch dieser Forderung wird man nicht widersprechen können.54 Die Frage ist aber: Können Verhaltensweisen allein deshalb strafwürdig sein, weil sie mit bestimmten Wertvorstellungen nicht zu vereinbaren sind? Oder anders ausgedrückt: Kann man, wenn man das „Rechtsgutsdogma“ verabschiedet, den Anspruch einlösen, strafrechtliche Normen rational zu begründen?

Wohlers (o. Fn. 4), S. 270. Wohlers (o. Fn. 4), S. 122. 53 Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 22), S. 165. 54 Vgl. auch Seelmann (o. Fn. 43), S. 900 f. mit dem Hinweis darauf, dass das Konsenserfordernis als Forderung nach einem begründeten Konsens im Sinne einer Zustimmung der Betroffenen zu verstehen sei. Hierdurch werde das Urteil über die Strafwürdigkeit Positionen entzogen, die naturrechtlich-kollektivistisch oder utilitaristisch argumentieren. 51 52

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III. Grenzen des Strafrechts im modernen säkularen pluralistischen Staat europäischer Prägung Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die aus der Geschichtlichkeit des Rechts folgende Bindung des Strafrechts an den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Was als strafwürdiges Unrecht einzustufen ist, kann nicht allgemeinverbindlich im luftleeren Raum ermittelt werden, sondern wird durch das gesellschaftliche Umfeld bestimmt, in dem eine konkrete Norm zur Anwendung kommen soll.55 Hieraus folgt, dass es beispielsweise für einen religiösen Gottesstaat geradezu zwingend ist, bestimmte Wertvorstellungen als strafschutzwürdig einzustufen. Wenn man derartige Strafnormen kritisieren möchte, muss sich diese Kritik nicht gegen die Strafnormen als solche richten, sondern gegen den gesellschaftlichen Grundkonsens, auf dem diese Normen aufbauen. Gleiches gilt aber selbstverständlich auch für säkulare Gesellschaften, die ebenfalls einen normativen Grundkonsens aufweisen müssen, wenn sie als Gesellschaften funktionieren und fortbestehen sollen.56 Bei Gesellschaften, die auf den Werten des Pluralismus57 und des normativen Individualismus58 aufbauen, geht der normative Grundkonsens nun aber dahin, dass verschiedene Konzeptionen des Guten auf dem von staatlicher Einflussnahme freien Markt der Meinungen miteinander konkurrieren und der Staat sich darauf zu beschränken hat, die Rahmenbedingungen zu gewährleisten, innerhalb derer dieser Markt funktionieren kann.59 Und genau dies ist der Grund dafür, dass in modernen europäischen Gesellschaften Gesinnungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen grundsätzlich nicht um ihrer selbst willen pönalisiert werden dürfen.60 Anders liegt es ausnahmsweise nur dann, wenn Verhaltensweisen Gesinnungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen zum Ausdruck bringen und / oder umsetzen, mit denen ein bestimmter Lebensstil propagiert und / oder umgesetzt wird, der andere Konzeptionen des Guten aktiv kämpferisch ausschließt oder gar bestimmten Gruppe innerhalb der Gesellschaft den Status als gleichberechtigte Mitglieder eben dieser Gesellschaft abspricht oder verweigert.61 Ein Beispiel für derartige Verhaltensweisen Zur Geschichtlichkeit des (Straf-)Rechts vgl. Wohlers (o. Fn. 4), S. 65 ff. Zur Notwendigkeit einer normativen Ordnung der Gesellschaft vgl. Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 22), S. 160 f.; ders., in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 256. 57 Vgl. hierzu wiederum insbesondere Rawls (o. Fn. 27). 58 Vgl. Seelmann (o. Fn. 43), S. 899 f. mit Verweis auf Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, 2001, S. 227 ff. 59 Sternberg-Lieben, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 74 f. 60 Wohlers (o. Fn. 4), S. 263. 61 Seelmann (o. Fn. 43), S. 897 f. will Straftatbestände dann als legitim anerkennen, wenn sie Verhaltensweisen erfassen, aufgrund derer anderen Mitglieder der Gesellschaft ihre Orientierungskompetenz verloren geht. Das Strafrecht könne sich nicht der Aufgabe verschließen, „in Extremfällen Menschen ihre Fähigkeit der Orientierung zu sichern. Während der Schutz einer bestimmten Orientierung (bloßer) Moralschutz wäre, ist der Schutz der Orientierungs55 56

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wären etwa die Ehrverletzungsdelikte, wenn man sie – der Lehre Amelungs folgend62 – als Delikte interpretiert, mit denen die Grundbedingungen der Kommunikation gewährleistet werden sollen. Ein weiteres Beispiel, das dem geltenden schweizerischen Strafrecht entnommen werden kann, wäre der Straftatbestand der Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB), mit dem nicht nur das Leugnen oder Verharmlosen von Völkermord oder anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfasst wird (Abs. 3), sondern auch Verhaltensweisen wie der Aufruf zur Rassendiskriminierung (Abs. 1), das systematische Verbreiten von rassendiskriminierenden Ideologien (Abs. 2) sowie die tätliche oder verbale Diskriminierung (Abs. 3 und 4). Und schließlich könnte auch daran gedacht werden, den Straftatbestand der Pornografie über die Erwägung zu legitimieren, dass pornografische Darstellungen den Status weiblicher Personen einer Gesellschaft als gleichberechtigte Mitglieder eben dieser Gesellschaft in Frage stellen.63 Ob man dann davon spricht, dass durch die in Frage stehenden Verhaltensweisen grundlegende Wertvorstellungen der Gesellschaft verletzt werden oder aber das Rechtsgut der betroffenen Mitglieder der Gesellschaft auf Anerkennung ihres Status als gleichberechtigte Personen betroffen ist, mag an dieser Stelle offen bleiben. Entscheidend ist, dass Strafrechtsnormen, die auf diesem Wege nicht zu legitimieren sind, in einer modernen pluralistischen Gesellschaft notwendigerweise illegitim und deshalb – soweit es sie noch gibt – abzuschaffen sind. Dem hier vertretenen Ansatz könnte man nun entgegen halten, dass Strafrecht auch in einer modernen Gesellschaft immer noch gewisse atavistische und / oder irrationale Züge hat.64 Es geht stets auch um die Kanalisierung und prozedurale Einhegung von Rachebedürfnissen65 und bei den Straftatbeständen, mit denen auf die Zuwiderhandlung gegen bestimmte Wertvorstellungen reagiert wird, geht es zusätzlich auch darum, den durch die in Frage stehenden Verhaltensweisen verursachten Verunsicherungen und Irritationen entgegen zu wirken. Roland Hefendehl hat die Auffassung vertreten, ein Gesetzgeber, der den Schutz von Wertvorstellungen unter Berufung auf die Forderung nach Rationalität des Strafrechts von vornherein ausklammern „und sich damit über nun einmal gegebene soziale Sachkompetenz ein Schutz des einzelnen in seiner Kompetenz der geregelten Interaktion mit anderen überhaupt. Diese Kompetenz der geregelten Interaktion mit anderen aber ist die Kompetenz des Individuums als eines Rechtssubjekts und damit legitime und sogar unerlässliche Aufgabe des Rechts.“ Vgl. auch Roxin (o. Fn. 1), § 2 Rn. 27 f. 62 Amelung, Die Ehre als Kommunikationsvoraussetzung, 2002, passim. 63 Vgl. hierzu MacKinnon, Only Words, 1993, S. 45 ff. Hinzuweisen ist darauf, dass auch dann, wenn man den Straftatbestand der Pornografie auf diesem Wege legitimieren will, die zusätzliche Problematik der Kriterien fairer Zurechnung nicht obsolet wäre, da es sich auch hier wieder um eine Konstellation handeln würde, bei der relevante Effekte erst dann auftreten, wenn entsprechende Verhaltensweisen in einer Mehrzahl von Fällen auftreten (zum Deliktstypus des Kumulationsdelikts vgl. Wohlers [o. Fn. 2], S. 318 ff.; kritisch Roxin [o. Fn. 1], § 2 Rn. 80 ff.). 64 Vgl. hierzu Hassemer (o. Fn. 6), S. 242 ff.; Jakobs (o. Fn. 1), 2 / 20. 65 Vgl. hierzu Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 292 ff.

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verhalte hinwegsetzen würde, würde sich letztlich selbst dem Vorwurf der Irrationalität aussetzen.“66 Diesem Einwand wird man noch dadurch begegnen können, dass man darauf verweist, dass hier zwei Ebenen auseinander zu halten sind: Auf der Ebene praktischer Kriminalpolitik kann es darum gehen, Straftatbestände nicht abzuschaffen – oder sogar: neue Tatbestände zu schaffen –, um so Konsequenzen zu vermeiden, die kriminalpolitisch gesehen als nicht hinnehmbar erscheinen und mit denen zu rechnen wäre, wenn der Staat nicht reagieren würde. Auf einer anderen Ebene geht es darum, die Pönalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers kritisch zu hinterfragen.67 Und hier entspricht es dann der von Günter Stratenwerth geforderten Rationalität bei der Begründung strafrechtlicher Normen, wenn man gegebenenfalls auch offen legt, dass die Existenz eines Straftatbestands nur und allein daraus folgt, dass ein Verzicht auf die Anwendung staatlichen Strafzwangs bestimmte Konsequenzen hätte, die der Gesetzgeber aus bestimmten Gründen als nicht hinnehmbar eingestuft hat.68 Meine These ist, dass eine in diesem Sinne ehrliche Diskussion dann in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen zu dem Ergebnis führen wird, dass der in Frage stehende Straftatbestand zu streichen ist. Die Strafbarkeit der Mehrfachehe und auch die Strafbarkeit des Inzests lassen sich rational nicht mit der Erwägung begründen, es gehe darum, bestimmte Rechtsgüter zu schützen. Dass man aber auch dann an diesen Straftatbeständen festhalten würde, wenn man offen zugeben muss, dass es allein um den Schutz einer Wertvorstellung und / oder eines Tabus geht, ist durchaus nicht ausgemacht. Für den Straftatbestand der Tierquälerei gilt im Grundsatz das Gleiche: Wenn man sicher ist, dass Folgewirkungen für das menschliche Zusammenleben bestehen, ergibt sich die Legitimation über den Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass diese Folgewirkungen keine unmittelbare, sondern eine mittelbare Folge der hier in Frage stehenden Verhaltensweisen sind, was besondere Anforderungen an die Begründung der Legitimität des Straftatbestands stellt.69 Ist – was derzeit wohl der Fall ist – unklar, ob derartige Folgewirkungen bestehen, muss der Gesetzgeber eine Entscheidung unter Ungewissheit treffen,70 wobei die Art der möglicherweise zu befürchtenden Beeinträchtigungen, Hefendehl (o. Fn. 15), S. 53. Dass der Gesetzgeber den in einer Gesellschaft faktisch vorhandenen Bestrafungsbedürfnissen nicht einfach nachzugeben, sondern diese anhand normativer Maßstäbe zu bewerten und dann entsprechend zu handeln hat, betonen auch Hassemer (o. Fn. 6), S. 239 ff. sowie Amelung (o. Fn. 6), S. 350 ff. 68 Entscheidend ist nicht die Empörung als solche, sondern die Gründe, aufgrund derer entweder die Empörung oder die Reaktion des Gesetzgebers auf die Empörung als berechtigt anerkannt werden kann (vgl. auch bereits Wohlers [o. Fn. 4], S. 270 f.). 69 Unter Zugrundelegung der von mir entwickelten Typik der Gefährdungsdelikte würde es sich um ein kombiniertes Kumulations- und Vorbereitungsdelikt handeln (vgl. Wohlers [o. Fn. 4], S. 310 f.). 70 Vgl. hierzu Wohlers (o. Fn. 4), S. 57 ff. 66 67

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die (Un-)Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigungen sowie die Werthaltigkeit der in Frage stehenden Verhaltensweisen zu gewichten und abzuwägen sind.71 Angesichts dessen, dass die empirisch-sozialwissenschaftliche Forschung praktisch keine Erkenntnisse zur Verfügung stellt, die derartige Einschätzungen ermöglichen, kann und muss Strafgesetzgebung als eine Form des Handelns unter Ungewissheit bezeichnet werden.72 Begründen bestimmte Tatsachen die Annahme, dass ein bestimmtes Verhalten die Beeinträchtigung schutzwürdiger Interessen zur Folge haben könnte, wird man dem Gesetzgeber zwar die Befugnis nicht absprechen können, diese Verhaltensweise unter Strafe zu stellen. Da es sich um eine Entscheidung unter Ungewissheit handelt, wird man ihn aber für verpflichtet halten müssen, die Tragfähigkeit seiner Entscheidung zumindest nachträglich zu verifizieren. Werden die Präsumtionen des Gesetzgebers in der Folgezeit widerlegt oder auch nur nicht bestätigt, begründet dies die Illegitimität des Festhaltens an der weiteren Pönalisierung.73 Die den Entscheidungen des BVerfG und des BGH zur Strafbewehrung des Umgangs mit Cannabisprodukten zugrunde liegende Auffassung, wonach der Gesetzgeber erst dann verpflichtet sein soll, eine ursprünglich auf einen Gefährlichkeitsverdacht gestützte Pönalisierung zurückzunehmen, wenn der Gefährlichkeitsverdacht eindeutig widerlegt ist,74 überzeugt nicht und wird in jüngerer Zeit auch in der Rechtsprechung nicht mehr ohne Weiteres als überzeugend angesehen, wie das Beispiel der Diskussion um die Legitimität des Straftatbestands der unerlaubten Veranstaltung von Glücksspielen (§ 284 StGB) zeigt.75 Es kann und soll nicht bestritten werden, dass der hier vertretene Ansatz dem Gesetzgeber einen relativ weiten Ermessensspielraum eröffnet, was indes angesichts der demokratischen Legitimierung des Gesetzgebers kein durchgreifender Mangel ist. Inhaltliche Bindungen, die über die kriminalpolitische Durchsetzbarkeit einer Wertung hinausgehen, können sich nach geltendem Recht allein aus den Vorgaben des übergeordneten Rechts ergeben76 sowie aus dem Grundsatz, dass der 71 Zu den sich hieraus ergebenden spezifischen Anforderungen an die Legitimität der Strafrechtsnorm vgl. im Einzelnen Wohlers (o. Fn. 4), S. 305 ff. 72 Wohlers (Anm. 4) S. 58 f. m. w. N. 73 H.-L. Günther JuS 1978, 8, 11; Schneider StV 1992, 514, 515. Allgemein zur Pflicht des Gesetzgebers, eine Nachkontrolle durchzuführen: Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 588; Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 146 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 200 ff. 74 Vgl. BVerfGE 45, 187, 252; 39, 1, 5; 90, 145, 183, wo gesicherte kriminologische Erkenntnisse verlangt werden; BGHSt 38, 339 (342) sowie auch bereits BayObLG NJW 1969, 2297. In der Literatur stößt die These auf Zustimmung (vgl. Gallwas MDR 1969, 892, 895; Goerlich JR 1977, 89, 90; Roos, Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts, 1981, S. 210 f.) und auf Ablehnung (vgl. Böllinger KJ 1991, 393, 403; ders. KJ 1994, 405, 408 f. und 414; Schneider StV 1992, 514 f.). 75 Wohlers, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 22), S. 61 f. 76 Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, sowie die Beiträge von Böse, Bunzel, Lagodny und Sternberg-Lieben

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Gesetzgeber die von ihm im Rahmen des übergeordneten Rechts gesetzten Wertungen in sich konsistent weiterzuentwickeln hat.77 Will man angesichts der besonders einschneidenden Konsequenzen den Erlass von Strafrechtsnormen an besondere Kautelen binden, dann würde es sich anbieten, den Vorschlag aufzugreifen, qualifizierte Mehrheiten zu verlangen. Knut Amelung hat hierzu zutreffend ausgeführt: „Wer meint, dass die irrationalen Einflüsse auf die Strafgesetzgebung durch eine rechtsstaatliche Verfassung wie das Grundgesetz nicht hinreichend in Schach zu halten sind, sollte deshalb aber die Probleme der Wertfindung in der pluralistischen Gesellschaft nicht leugnen. Vielmehr sollte er den eingeschlagenen Weg zu ihrer Überwindung durch Entscheidungsverfahren konsequent weiter gehen und für eine Ausdehnung des Strafrechts qualifizierte Mehrheiten fordern – leuchtet es doch ohnehin nicht sofort ein, dass die Repräsentanten von 50,01% der Bevölkerung dazu ermächtig sind, einen Menschen mit einem ehrenrührigen Vorwurf zu überziehen, ihm seine Freiheit zu nehmen und ihn womöglich umzuerziehen, weil er etwas tat, was 49,99% der Bevölkerung für zulässig halten.“78

In der Tat sollte man darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll sein könnte, Kriterien für die Einschränkung des gesetzgeberischen Ermessens nicht allein auf der materialen, sondern auch oder stattdessen auf der prozeduralen Ebene zu suchen und – wie Amelung ausgeführt hat – „die kriminalpolitische Debatte, die sich in der Sackgasse einer ewig postulierten, aber nie ausformulierten Rechtsgutslehre verrannt hat, an dieser Stelle fort[zusetzen]“.

in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3); skeptisch gegenüber der Aussagekraft dieses Ansatzes: Hörnle (o. Fn. 18), S. 22 ff.; Wohlers (o. Fn. 3), S. 241 ff. 77 Vgl. Frisch, FS Stree / Wessels, 1993, S. 88 f.; Wohlers (o. Fn. 4), S. 160 f. 78 Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 3), S. 164.

II. Strafrecht (Allgemeiner Teil)

Defensivnotstand und Tötungsrecht Von Hans-Ludwig Günther

I. Die Problematik Zu den wichtigsten Forschungsschwerpunkten im reichhaltigen wissenschaftlichen Oeuvre Knut Amelungs zählen die Rechtfertigungsgründe. Als Beispiele seien genannt die (fehlende) Eignung des § 34 StGB als hoheitliche Ermächtigungsgrundlage1, die strafprozessuale Bedeutung der Einwilligung des Verletzten in Grundrechtseingriffe2, die sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts bei heimlicher Tatbegehung3 oder dessen Akzeptanz in der Bevölkerung4. Regelmäßig leiten verfassungsrechtliche oder rechtskulturelle bzw. anthropologische Blickwinkel die Suche des verehrten Jubilars nach neuen, die Rechtfertigungsdogmatik bereichernden Erkenntnissen. Dieses Ziel erstreben auch die nachfolgenden Studien zu den umstrittenen Fragen, ob und inwieweit nicht nur die Notwehr, sondern auch der rechtfertigende Notstand des § 34 StGB dem Täter als ultima ratio in extremen Konfliktsituationen die Befugnis zur vorsätzlichen Tötung eines anderen Menschen gewährt und welche Rolle dabei die Unterscheidung zwischen Aggressiv- und Defensivnotstand spielt. Die Überlegungen führen eigene frühere Untersuchungen5 fort. Sie beginnen mit einer Analyse der den Defensivnotstand in Abgrenzung zum Aggressivnotstand und zur Notwehr auszeichnenden Strukturen (II.) als Grundlage der Entscheidung über Tötungsbefugnisse im Defensivnotstand (III.) und deren Grenzen (IV.). Der zur Verfügung stehende Raum zwingt zu komprimierter Darstellung und selektiver Berücksichtigung der umfangreichen Notstandsliteratur.

Amelung, NJW 1977, 833; ders., NJW 1978, 623; ders., JuS 1986, 329. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsguts, 1981; ders., FS Dünnebier, 1982, S. 487; ders., ZStW 95 (1983), 1. 3 Amelung, GA 1982, 399; ders., NStZ 1998, 70. 4 Amelung / Kilian, FS Hans-Ludwig Schreiber, 2003, S. 3. 5 Günther, in: SK-StGB, 7. Aufl. 2000, § 34 Rn. 12 ff., 39 f., 43. 1 2

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II. Die Struktur des Defensivnotstandes Anders als das BGB in seinen §§ 228, 904 unterscheidet § 34 StGB nicht explizit zwischen unterschiedlichen Notstandsarten. Ob er den Defensivnotstand in seinen Regelungsbereich einbezieht, ist deshalb bekanntlich streitig.6 Ein Teil der Literatur7 reserviert § 34 StGB exklusiv für den Aggressivnotstand und propagiert für den Defensivnotstand im Strafrecht eine analoge Anwendung des § 228 BGB. Einen Sonderweg beschreitet Pawlik: Er sieht zwischen Notwehr und Aggressivnotstand „eine Reihe von Zwischenkonstellationen“, die zuständigkeitstheoretisch zu lösen seien; den Defensivnotstand gebe es nicht.8 Die Rspr. wendet § 34 StGB in einzelnen Judikaten zwar inzidenter auf Defensivnotstandsfälle an, meist jedoch ohne diese Besonderheit in irgendeiner Weise zu berücksichtigen, geschweige denn ausdrücklich zu thematisieren.9 Für § 34 StGB als eine auf den Aggressivnotstand beschränkte Regelung scheint die Interessenabwägungsklausel („wesentlich überwiegt“) zu sprechen. Auch § 16 OWiG, bis 1975 als gesetzliche Vorläuferregelung des § 34 StGB fungierend, betrifft de facto nur Aggressivnotstandsfälle, da Bußgeldtatbestände unmittelbare Verletzungen von Individualrechtsgütern nicht einbeziehen (zumindest nicht einbeziehen sollten).10 In der rechtsphilosophischen Diskussion des 19. Jahrhunderts über die Anerkennung von Notrechten11 lagen sowohl der ablehnenden Argumentation Kants12 als auch der Befürwortung Hegels13 Aggressivnotstandserwägungen zugrunde. Die Urheber des BGB gingen von einem kategorialen Unterschied der 6 Zum Meinungsstand z. B. Günther, in: SK-StGB (o. Fn. 5), § 34 Rn. 13; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 132 ff. 7 O. Lampe, NJW 1968, 91 f.; Frister, GA 1988, 294; Hruschka, NJW 1980, 22; ders., Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 114 ff.; Köhler, GA 1988, 415; Neumann, NK-StGB, 1997, § 34 Rn. 36; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 54, 243 ff. 8 Pawlik (o. Fn. 6), S. 327 (Hervorhebung im Original). 9 So verhält es sich z. B. bei BGH NJW 1979, 2053 (Spannerfall) m. Bspr. Hirsch, JR 1980, 115; Hruschka, NJW 1980, 21, und F.-C. Schroeder, JuS 1980, 336 sowie BGHSt 48, 255, 257 (Haustyrannentötung) mit Bspr. Hillenkamp, JZ 2004, 48; Otto, NStZ 2004, 142, und Rengier, NStZ 2004, 233. Schon dem Beschluss des RG(St 61, 242) aus dem Jahre 1927, der dem rechtfertigenden Notstand als übergesetzlichem Rechtfertigungsgrund im Strafrecht zum Durchbruch verhalf, lag eine Defensivnotstandslage (medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch) zugrunde, ohne dass dieser Aspekt in den Entscheidungsgründen irgendeine Erwähnung gefunden oder Rolle gespielt hätte. 10 Günther, FS Tiedemann, 2008, S. 165 m. w. N. – Deshalb spielt die Notwehr (§ 15 OWiG) im Recht der Ordnungswidrigkeiten auch keine Rolle. 11 Eingehend zuletzt m. w. N. Kühl, FS Th. Lenckner, 1998, S. 143 ff. u. Pawlik (o. Fn. 6), S. 18 ff. u. 80. ff. 12 Metaphysik der Sitten (hrsg. von Weischedel), 1983, Bd. 7, 343. 13 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 127, in: Werke, 1986, Bd. 7, 239.

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beiden Notstandsarten aus und konnten sich erst nach langer Kontroverse zur Akzeptanz auch des Aggressivnotstandes in § 904 BGB durchringen.14 Vor allem unterscheiden sich Defensiv- und Aggressivnotstand grundlegend in ihrer ratio legis. Beide gewähren dem Täter seine Rechte zur Gefahrabwendung nicht aus Gründen eines utilitaristischen Gesamtnutzenkalküls (Schadensminimierung, Verrechnungsprinzip).15 Eine solche Herleitung könnte nicht erklären, wieso die Gefahr gegenwärtig, das Überwiegen der Täterinteressen wesentlich, trotz wesentlichen Überwiegens die Tat noch angemessen sein muss und wieso spezielle Gefahrtragungspflichten, Verantwortlichkeiten für die Konfliktsituation u. a. im Rahmen der Interessenabwägung bedeutsam sein sollen. Den Vorzug verdient deshalb das individualistische Deutungsmodell. Es erklärt den rechtfertigenden Notstand (wie die Notwehr) aus der Abgrenzung der Freiheitssphären gleichgeordneter Bürger.16 Die Befugnisse des Notstandstäters resultieren aus einer Abwägung der einander gegenüber zu respektierenden Autonomie aller Konfliktbeteiligten, die in Kollision gerät mit dem Gebot zur Solidarität in Gestalt der Duldung des Tätereingriffs und der Einbuße an eigenen Rechtsgütern.17 Ein aus eigener Not hergeleitetes Recht zum Eingriff in fremde Rechtsgüter, korrespondierend eine aus fremder Not hergeleitete Pflicht zur Aufopferung eigener Rechtsgüter zugunsten der Interessen einer gefährdeten Person kann bei einem Aggressivnotstand allenfalls ausnahmsweise Betracht kommen. Genau umgekehrt verhält es sich im Falle des Defensivnotstandes: Wer unberechtigt Rechtsgüter des Notstandstäters gefährdet, schuldet ihm als Urheber der Gefahr und angesichts des rechtswidrigen Eingriffs in den fremden Rechtskreis grundsätzlich als Ingerenzgarant solidarische Hilfe sogar durch aktives Tun. Erst recht muss er daher eine zur Gefahrabwendung erforderliche Selbsthilfe des Notstandstäters passiv dulden. Während sich beim Aggressivnotstand somit für das Notstandsopfer die Parallele zu § 323c StGB18 aufdrängt, steht der Defensivnotstand systematisch und strukturell der Notwehr näher als dem

14 Zur Entstehungsgeschichte der zivilrechtlichen Notstände im einzelnen Hatzung, Dogmengeschichtliche Grundlage und Entstehung des zivilrechtlichen Notstandes, 1984, 134 ff. 15 So aber z. B. Hruschka (o. Fn. 7), S. 112 ff., 356 ff.; Joerden, GA 1993, 247 f.; Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), 1990, S. 131 ff., 181, 217; ehemals zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestand strafbarer Handlungen, 1905, S. 127 f.; Merkel, Die Kollision rechtmäßiger Interessen und die Schadensersatzpflicht bei rechtmäßigen Handlungen, 1895, 41. Fundierte Kritik an diesem Ansatz üben z. B. Pawlik (o. Fn. 6), S. 32 ff.; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 199 ff.; Neumann, NK-StGB (o. Fn. 7), § 34 Rn. 9. 16 Günther, SK-StGB (o. Fn. 5), § 34 Rn. 11 m. w. N. 17 In diesem Sinne z. B. Frister, GA 1988, 291; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1993, Abschn. 13 / 1; Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 34 Rn. 1 m. w. N.; Kühl, FS Hirsch, 1999, S. 259 ff.; Krey, AT 1, 3. Aufl. 2008, Rn. 534, 543; Neumann, NK-StGB (o. Fn. 7), § 34 Rn. 9 ff.; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 188 ff.; Samson, SK-StGB, 6. Aufl. 1992, § 34 Rn. 2. 18 Auf sie verweisen z. B. Hruschka (o. Fn. 7), S. 91 ff.; Neumann, NK-StGB (o. Fn. 7), § 34 Rn. 9; Seelmann, Solidaritätspflichten im Strafrecht, 1991, S. 295 ff.

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Aggressivnotstand. Mit gutem Grund hat deshalb das BGB (nur) den Defensivnotstand im unmittelbaren Kontext zu § 227 BGB geregelt. Im Verhältnis des Defensivnotstandes zur Notwehr gilt: Soweit bei einem rechtswidrigen Angriff i.S. des § 32 StGB der Angreifer zur Duldung der Verteidigung verpflichtet ist, kann er sich gegenüber gerechtfertigten Verteidigungshandlungen auch nicht auf einen Defensivnotstand berufen. Eine Defensivnotstandslage setzt voraus, dass das Notstandsopfer die Gefahr ohne Rechtfertigung (und durch sie heraufbeschworene Duldungspflicht) verursacht hat.19 Ebensowenig wie Notwehr gegen Notwehr ist Defensivnotstand gegen Notwehr möglich. Und ebenso wie die Notwehr Verteidigungsmaßnahmen nur gegen den Angreifer erlaubt, erlaubt der Defensivnotstand Gefahrabwendungsmaßnahmen nur gegen den Gefahrverursacher. Das Notwehrrecht findet seine Grenze bei einem krassen Missverhältnis des angerichteten Schadens,20 der Defensivnotstand (wie sich zeigen wird) bei einem unverhältnismäßig großen Schaden, der Aggressivnotstand bei einem mehr als nur verhältnismäßig geringen Schaden. Erst recht müssen die für die Notwehr gültigen sozialethischen Schranken deshalb Defensivnotstandsbefugnisse limitieren. Auch ein Defensivnotstandsexzess kommt (im Gegensatz zu einem Aggressivnotstandsexzess) analog § 33 StGB in Betracht. Wie §§ 228, 904 BGB bei Eingriffen in fremdes Sacheigentum zeigen, tragen Defensiv- und Aggressivnotstand dem Aspekt der Solidarität mit dem in Not Geratenen in umgekehrt proportionaler Weise Rechnung.21 Die vom Täter im Defensivnotstand geschuldete Solidarität beschränkt sich darauf, zur Abwendung der Gefahr außer Verhältnis stehende Schäden auf Seiten des Gefahrverursachers zu vermeiden; er darf diesem bei Eingriffen in Sachgütern daher größere, nur nicht unverhältnismäßig größere Schäden zufügen als ihm selber drohen. Hingegen müssen dem Täter, der sich auf einen Aggressivnotstand beruft, unverhältnismäßig hohe Nachteile drohen; er darf nur einen wesentlich geringeren Schaden anrichten in Relation zu demjenigen Schaden, der ihm selber droht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wirkt sich also bei Agressiv- und Defensivnotstand in spiegelbildlicher Weise aus: Beim Defensivnotstand begrenzt er die Schäden des Notstandsopfers, beim Aggressivnotstand die des Notstandstäters. Diese Spiegelbildlichkeit der Abwägungsmaßstäbe, bezogen auf die kollidierenden Rechtsgüter, erschließt sich aus Gründen der Logik. Anderenfalls würde die Abgrenzung der Freiheitssphären der Konfliktbeteiligten zu Normwidersprüchen führen, besonders evident, wenn sich Defensiv- und Aggressivnotstandspartei zugleich in derselben Gefahrensituation befinden, aus der sie sich jeweils nur durch Eingriff in Rechtsgüter des anderen befreien können. Der Abwägungsmaßstab des § 228 BGB konkretisiert somit das Interessenabwägungsprinzip. Deshalb muss er in Defensivnotstands19 Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 31; Zieschang, LK-StGB, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 73. 20 Günther, in: SK-StGB, 7. Aufl. 1999, § 32 Rn. 110 m. w. N. 21 Frister, GA 1988, 291; Hruschka (o. Fn. 7), S. 76 ff.; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 238 ff.

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situationen auch für § 34 StGB, also für Eingriffe in alle anderen notstandsfähigen Rechtsgüter gelten.22 Ein einheitlicher Begriff des rechtfertigenden Notstandes existiert somit nicht. Defensiv- und Aggressivnotstand werden im Hinblick auf die Gewichtung von Eingriffs- und Erhaltungsgut von genau gegenläufigen Verhältnismäßigkeitsmaßstäben regiert. Gleichwohl lassen sich beide Notstandsarten unter dem gemeinsamen „Dach“ des § 34 StGB zusammenfassen. Denn das § 34 S. 1 StGB prägende Interessenabwägungsprinzip formuliert lediglich ein regulatives Rechtsprinzip.23 Es stellt nicht allein auf das Gewicht der kollidierenden Rechtsgüter ab, sondern verlangt eine umfassende Abwägung aller Interessen. Beide Begriffe haben verschiedene Bedeutungen und sind daher zu unterscheiden.24 Wie § 34 S. 1 StGB verdeutlicht („namentlich“), handelt es sich bei „Interesse“ um den Oberbegriff. Diese Interessenabwägung ergibt aus vorgenannten Gründen, dass in einer Defensivnotstandslage die Interessen des Täters grundsätzlich wesentlich überwiegen, es sei denn, er fügt dem Notstandsopfer einen unverhältnismäßig hohen Schaden zu.25 Umgekehrt überwiegen bei einem Aggressivnotstand grundsätzlich die Interessen des Opfers wesentlich, es sei denn, dem Täter droht ein unverhältnismäßig größerer Schaden. Die Interessenabwägung nach § 34 S. 1 StGB muss folglich mit der Einordnung des Konflikts als Defensiv- oder Aggressivnotstandsfall beginnen. Denn diese Klassifizierung stellt die Weichen für die weitere Abwägung. Sie legt die zu fordernden Proportionen fest, die zwischen Eingriffs- und Erhaltensgut bestehen müssen. Dafür, den Defensivnotstand in den Geltungsbereich des § 34 StGB einzubeziehen, spricht zudem, dass sich der Gesetzgeber 1975 für diese „Einheitslösung“ entschieden hat26 und der zuvor kraft Gewohnheitsrechts geltende übergesetzliche 22 Joerden, GA 1993, 246 f.; Baumann / Weber / Mitsch, AT, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 78; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 246 m. w. N. (§ 228 BGB analog); Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 19), § 34 Rn. 30; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 72; s. schon Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 102, 137, 163; Günther, in: SK-StGB (o. Fn. 5), § 34 Rn. 12 (anders noch in: Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 339 f.). – Dezidiert a.A. aber z. B. Meißner (o. Fn. 15), S. 250 ff.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 76 m. w. N.; s. auch Otte, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998, S. 85 ff., 108 ff. 23 Lenckner, GA 1985, 313; Rudolphi, GS Armin Kaufmann, S. 393; Günther, in: SKStGB, 6. Aufl. 1998, vor § 32 Rn. 74 m. w. N. 24 Grundlegend Lenckner, GA 1985, 295; zumindest missverständlich BGHSt 48, 255, 257, wo bedrohtes „Rechtsgut“ der Täterin und beeinträchtigtes „Interesse“ des Opfers gegeneinander abgewogen werden, zudem ohne die Defensivnotstandslage zu berücksichtigen. 25 Hirsch, JR 1980, 117; Krey (o. Fn. 17), Rn. 579; Baumann / Weber / Mitsch (o. Fn. 22), § 17 Rn. 77; Tenckhoff, JR 1981, 257; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 74; einschränkender Stratenwerth / Kuhlen, AT I, 5. Aufl. 2004, § 9 Rn. 111; ablehnend Roxin (o. Fn. 22), § 16 Rn. 80. 26 Zur Entstehungsgeschichte des § 34 StGB m. w. N. Günther, in: SK-StGB (o. Fn. 5), § 34 Rn. 3 ff.

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rechtfertigende Notstand vom RG27 aus Anlass einer Defensivnotstandslage entwickelt wurde. Auch § 218a Abs. 2 StGB als lex specialis des § 34 StGB regelt (ebenso wie § 218a Abs. 3 StGB) einen Defensivnotstand. III. Das menschliche Leben als Abwägungsfaktor? 1. Gegen ein auf § 34 StGB gestütztes Tötungsrecht scheint zu sprechen, dass jedes menschliche Leben gleich viel zählt und sich deshalb einer Bewertung nach Quantität oder Qualität entzieht.28 Danach scheint selbst im Falle der Kollision „Leben gegen Leben“ eine auf § 34 StGB gestützte Tötungsbefugnis ausgeschlossen zu sein,29 erst recht bei einer Kollision des Eingriffsguts Leben mit weniger gewichtigen Erhaltungsgütern. 2. Diese Argumentation verdient uneingeschränkte Zustimmung jedoch nur für den Aggressivnotstand. Ein privates Recht zur Tötung eines an der Gefahrensituation Unbeteiligten scheidet schlechterdings aus.30 Die Rechtsordnung statuiert keine allgemeine Pflicht für jedermann, aus Gründen der Solidarität mit anderen das eigene Leben aufzuopfern. Schon gar nicht überantwortet sie diese Entscheidung durch § 34 StGB dem Täter als gefährdeter Privatperson. § 34 StGB erlaubt die Tötung eines an der Notlage Unbeteiligten daher selbst dann nicht, wenn es sich um bereits „todgeweihtes Leben“ handelt oder nur durch die Tötung eines Menschen eine Vielzahl anderer Menschen gerettet werden könnte.31 Damit versagt § 34 StGB ein Tötungsrecht wegen der Aggressivnotstandslage z. B. in den folgenden Konstellationen: Wenn der menschliche Embryo schon in der Frühphase seiner Existenz in vitro „überzählig“ wird, kommen verbrauchende Forschungen an ihm oder zu seiner Vernichtung führende Stammzellentnahmen auch de lege ferenda32 aus Sicht des § 34 StGB nicht in Betracht, sofern er bereits am Grundrecht auf Leben partizipiert.33 Im Unterschied zum indizierten Schwangerschaftsabbruch geht von ihm keine GeRGSt 61, 242. Dreier, JZ 2007, 263 f.; Krey (o. Fn. 17), Rn. 572 f.; Küper, JuS 1981, 785 ff.; Lackner / Kühl (o. Fn. 17), § 34 Rn. 7; Roxin (o. Fn. 22), § 16 Rn. 33 f. 29 So uneingeschränkt z. B. BGHSt 48, 257; Rengier, NStZ 1984, 21 f.; Maurach / Zipf, AT 1, 8. Aufl. 1992, § 27 Rn. 25 f.; Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 19), § 34 Rn. 30 f.; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 74; vormals Günther, JR 1985, 273; wohl auch Wessels / Beulke, AT, 37. Aufl. 2007, Rn. 313. 30 Küper, JuS 1981, 785 ff.; Günther, in: SK-StGB (o. Fn. 5), § 34 Rn. 43 m. w. N. 31 BGHSt 1, 321; 2, 117; Lenckner, GA 1985, 295; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision, 1979, S. 48, 121; Lackner / Kühl (o. Fn. 17), § 34 Rn. 8. 32 De lege lata sind solche Maßnahmen von § 2 Abs. 1 ESchG verboten. 33 Wie § 8 ESchG und § 1 StZG zeigen, geht der deutsche Gesetzgeber von dieser Prämisse aus. Das Schrifttum zu dieser Frage ist heillos zerstritten; s. m. w. N. Günther, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, 2008, Einf B Rn. 42 u. § 2 Rn. 53. 27 28

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fahr aus. Vielmehr soll er zum Nutzen der Allgemeinheit, um Forschungserkenntnisse zu gewinnen, aufgeopfert werden. Es ist daher jedenfalls kein Wertungswiderspruch, wenn sich das Strafrecht beim Schwangerschaftsabbruch zurückhält, jedoch verbrauchende Forschungen an menschlichen Embryonen ausnahmslos verbietet. Im von Welzel34 erdachten Lokomotiv- oder Weichenstellerfall35 darf der Täter die führerlose Lokomotive, die auf einen wartenden Zug zu rasen und viele Menschen zu töten droht, nicht durch Umstellen der Weiche auf ein Abstellgleis umleiten, wenn er dadurch dort arbeitende, an der Gefahrensituation unbeteiligte Gleisarbeiter sicher töten wird. Denn diese sind rechtlich nicht verpflichtet, auf ihr Leben zur Rettung der Zuginsassen zu verzichten. Der Abschuss eines von Luftpiraten gekaperten Passagierflugzeuges, das über bewohntem Gelände zum Absturz gebracht werden und dadurch viele weitere Menschen töten soll, wäre bezüglich der an Bord befindlichen Passagiere als Aggressivnotstand36 zu beurteilen und daher aus dem Blickwinkel des § 34 StGB strafrechtlich37 rechtswidrig. Die Tötung des im Sterben liegen Schiffsjungen durch andere Schiffbrüchige, um nicht zu verhungern und zu verdursten (Mignonette-Fall)38, kann nur entschuldigt sein. Um die übrigen Anstaltsinsassen zu retten, wirkten Ärzte in der nationalsozialistischen Ära an der Tötung Geisteskranker mit, indem sie die schwersten Fälle selektierten. Eine Rechtfertigung wegen Notstandhilfe kommt nicht in Betracht.39 3. Anders ist die Frage eines Tötungsrechts jedoch beim Defensivnotstand zu beurteilen. Er findet seine Grenze erst, wenn der angerichtete Schaden (Tötung des ZStW 63 (1951), 51. Dazu z. B. Küper (o. Fn. 31), S. 30, oder Stratenwerth / Kuhlen (o. Fn. 25), § 9 Rn. 113 m. w. N. 36 Für Defensivnotstand aber Köhler, FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 257 ff., und Rogall, NStZ 2008, 3 f., da die Passagiere wegen einer Pflicht zur Gefahrbeseitigung (ohne den Versuch der Überwältigung der Terroristen) für die Gefahr mitverantwortlich seien. Eine Rechtfertigungslösung befürworten z. B. auch Ladiges, ZIS 2008, 129; Sinn, NStZ 2004, 585; Erb, in: MüKo-StGB, 2003, § 34 Rn. 118 ff. 37 Im Ergebnis ebenso z. B. Dreier, JZ 2007, 266; Mitsch, JR 2005, 276; Pawlik, JZ 2004, 1049; Roxin (o. Fn. 22), § 16 Rn. 88; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 74 a. – Als hoheitliche Eingriffsgrundlage scheidet § 34 StGB ohnehin aus, wie der verehrte Jubilar als einer der ersten überzeugend nachgewiesen hat (NJW 1977, 833). Das BVerfG (E 115, 118 ff. = JZ 2006, 408, 412 ff.) hat die entsprechende hoheitliche Ermächtigung des § 14 Abs. 3 Luftsicherungsgesetzes für nichtig erklärt; eingehend zur Problematik aus strafrechtlicher Sicht z. B. Hirsch, FS Küper, 2007, S. 149 ff.; Köhler, FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 257; Merkel, JZ 2007, 383 ff.; Rogall, NStZ 2008, 1. 38 S. je m. w. N. Günther, Strafrechtswidrigkeit (o. Fn. 22), S. 345; Krey (o. Fn. 17), Rn. 100, 573. 39 OGHSt 1, 321; 2, 117; BGH NJW 1953, 513 f. 34 35

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die Gefahr ohne Rechtfertigung verursachenden Menschen) unverhältnismäßig schwerer wiegt als der dem Täter drohende Schaden. Die Gleichwertigkeit jedes menschlichen Lebens reicht als Argument daher nicht aus, dem bedrohten Täter die Tötung des die Gefahrensituation verursachenden Notstandopfers zu versagen. Die im Schrifttum inzwischen wohl h. M.40 erlaubt deshalb – im Gegensatz zur Rspr.41 – dem Defensivnotstandstäter als ultima ratio grundsätzlich über die Fälle der Notwehr hinaus zu Recht die Tötung des Aggressors. Nur auf Basis dieser Lösung lässt sich § 218 a Abs. 2 StGB als Rechtfertigungsgrund legitimieren.42 Denn nach der Rspr. des BVerfG43 schützt Art. 2 Abs. 2 GG das Leben der Schwangeren wie das des ungeborenen Kindes in gleicher Weise.44 Eine Tötung der Leibesfrucht lässt sich daher nur als Defensivnotstandshilfe rechtfertigen. Gleiches trifft auf die Perforation (Tötung des Kindes in der Geburt zur Rettung seiner Mutter) zu, für die überwiegend zu Recht eine Rechtfertigung nach § 34 StGB befürwortet wird.45 In dem sog. Spannerfall, bei dem der Täter gezielt auf einen zwar ständig wiederkehrenden, konkret aber aus dem Haus flüchtenden Eindringling schießt, hätte der BGH im Hinblick auf die Defensivnotstandslage eine Rechtfertigung nach § 34 StGB bejahen können.46 In dem viel diskutierten Bergsteigerfall,47 bei dem zwei Bergsteiger sich durch ein Seil gegenseitig sichern, einer abstürzt und den anderen durch sein Körperge40 Erb, in: MüKo-StGB (o. Fn. 36), § 34 Rn. 157 f.; Hirsch, in: LK, 11. Aufl. 2003, § 34 Rn. 74; Jakobs (o. Fn. 17), Abschn. 13 / 46; Lackner / Kühl (o. Fn. 17), § 34 Rn. 9 (für Extremfälle); Krey (o. Fn. 17), Rn. 580; Merkel, JZ 2007, 384; Mitsch, JuS 1995, 788; Baumann / Weber / Mitsch (o. Fn. 22), § 17 Rn. 77; Neumann, NK-StGB (o. Fn. 7), 1997, § 34 Rn. 87 ff.; Otto, NStZ 2004, 142; Otte (o. Fn. 22), S. 165 f.; Pawlik (o. Fn. 6), S. 316 m. w. N.; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 246, 268 f.; Rogall, NStZ 2008, 1; Roxin (o. Fn. 22), § 16 Rn. 78. Zu Unrecht geht Dreier, JZ 2007, 263, von einem Tötungsverbot als „gefestigter strafrechtlicher Dogmatik“ aus, weil er nicht zwischen Aggressiv- und Defensivnotstand differenziert. 41 Zuletzt BGHSt 48, 257. 42 Bemmann, ZStW 83 (1971), 92; Hruschka, NJW 1980, 22; Rogall, NStZ 2008, 3. 43 BVerfGE 39, 1; 88, 203. 44 Das RG war bei seiner Konzipierung des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes noch davon ausgegangen, das Leben der Schwangeren sei höherwertiger als das des Embryos (RGSt 61, 242). 45 Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 34 Rn. 74; ders., FS Eser, 2005, S. 320; Lackner / Kühl (o. Fn. 17), § 34 Rn. 9; Otte (o. Fn. 22), S. 143 ff., 189; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 267; Roxin (o. Fn. 22), § 16 Rn. 79. – A.A. (nur übergesetzliche Entschuldigung) Ingelfinger, Grundlagen u. Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2001, S. 120; Rudolphi, in: SK-StGB, vor § 218 Rn. 15; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 74; Bedenken auch bei Pawlik (o. Fn. 6), S. 333. 46 BGH NJW 1979, 2053, hatte diese Frage offengelassen, den Defensivnotstandsaspekt ignoriert und stattdessen jedenfalls eine Entschuldigung nach § 35 StGB bejaht, die jedoch mangels Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit mehr als nur zweifelhaft war.

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wicht alsbald mit in die Tiefe zu ziehen droht, erlaubt der Defensivnotstand dem Täter zur Rettung seines eigenen Lebens das Lösen des Seiles trotz des dadurch verursachten sicheren frühzeitigeren Todes des anderen. Des vielfach herangezogenen Aspekts der Gefahrengemeinschaft bedarf es dazu nicht. IV. Grenzen der Tötung im Defensivnotstand Die Tötung eines Menschen ist selbst zur Verteidigung in einer Notwehrlage angesichts der Höchstwertigkeit eines Menschenlebens48 nur in engsten Grenzen erlaubt. Für den Defensivnotstand fallen diese Schranken wegen des ihn regierenden (gegenüber der Notwehr) strengeren Abwägungsmaßstabes noch restriktiver aus. Der naheliegende Vorwurf einer „Totschlagsmoral“ ginge daher fehl. Die Begrenzungen der Tötungsbefugnis im Defensivnotstand erschließen sich vor allem aus den Notstandsvoraussetzungen der Erforderlichkeit der Gefahrabwendung und dem Maßstab des wesentlichen Überwiegens i.S. von unverhältnismäßig höherem angerichteten Schaden. Zur Erforderlichkeit der Gefahrabwendung muss zunächst – wie bei der Verteidigung in einer Notwehrlage49 – eine abgestufte Reaktionsfolge eingehalten werden. Insbesondere ist die Tötung im Rahmen des Möglichen zunächst nur anzudrohen. Kann der Täter zur Rettung des Erhaltungsgutes auf eigene Ressourcen zurückgreifen, so hat dies zu geschehen.50 Vor allem aber muss der Notstandstäter – im Gegensatz zum Notwehrübenden – als mildere Maßnahme der Gefahrabwendung auch ausweichen, flüchten, fremde Hilfe in Anspruch nehmen und in weiterem Umfang als bei der Notwehr51 den Vorrang staatlichen Schutzes beachten.52 Obwohl im Defensivnotstand die Interessen des Täters wesentlich überwiegen, es sei denn, er richtet zur Gefahrabwendung einen unverhältnismäßig hohen Schaden an, kommt auch eine an diesem Maßstab ausgerichtete Tötung des Aggressors 47 Günther, Strafrechtswidrigkeit (o. Fn. 22), 345; Küper, JuS 1981, 788 ff.; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Aufl. 1978, 77 ff.; Pawlik (o. Fn. 6), S. 326; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 266 f.; Roxin, FS Oehler, 1985, S. 194; gegen eine Rechtfertigung z. B. Kühl, AT, 5. Aufl. 2005, § 8 Rn. 154; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 74. 48 BVerfGE 39, 42 spricht im Hinblick auf das Grundrecht auf Leben von einem „Höchstwert“. 49 S. dazu m. w. N. Günther, in: SK-StGB (o. Fn. 20), § 32 Rn. 95 ff.; Kühl, JR 1993, 121 f.; Lilie, FS Hirsch, 1999, S. 283 ff. 50 Lenckner, FS Lackner, 1987, S. 105. 51 Pawlik (o. Fn. 6), S. 80 ff., 104, stützt sogar die ratio legis auf diesen Aspekt. § 34 StGB gewährleiste individuelle Freiheit (nur) dann und deshalb, wenn und weil eine „organisiert-regelhafte Notbekämpfung“ zu spät käme. 52 BGHSt 39, 133; 48, 260; Lenckner (o. Fn. 22), S. 103; ders., FS Lackner, 1987, 101; Krey (o. Fn. 17), Rn. 552; Kühl (o. Fn. 47), § 8 Rn. 115; Wessels / Beulke (o. Fn. 29), § 8 Rn. 308.

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im Hinblick auf die Interessenabwägungsklausel des § 34 S. 1 StGB nur ausnahmsweise in Betracht. Eine Pflicht, sich als Gefahrverursacher für die Beseitigung der Notlage des Täters erforderlichenfalls töten zu lassen, kann nur in Extremsituationen wie einem Lebensnotstand bestehen, ebenso wie das Zumutbarkeitserfordernis die von § 323c StGB statuierte und für Garanten kraft Ingerenz bestehende Pflicht zu lebensgefährlicher Hilfeleistung limitiert. Vorauszusetzen ist zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadens an Leib, Leben oder Freiheit, den in Art. 2 Abs. 2 GG und § 35 StGB in ihrer Wertigkeit herausgehobenen Rechtsgütern, um die Tötung des Aggressors nicht als unverhältnismäßig größeren Schaden auszuweisen. Tötungsbefugnisse zur Rettung von Sachgütern gewährt der Defensivnotstand daher nicht. Abschließend können weitere die umfassende Interessenabwägung beeinflussende Faktoren korrigierend eingreifen, zum Beispiel besondere Gefahrtragungspflichten, die schuldhafte Verursachung der Defensivnotstandslage durch den Täter, weitere entsprechend und in verschärfter Form heranzuziehende sozialethische Notwehrschranken, die Angemessenheit der Gefahrabwendung (§ 34 S. 2 StGB). Eine Rechtfertigung der Tötung des schlafenden Haustyrannen aus Gründen eines Defensivnotstandes muss nach diesen Grundsätzen ausscheiden.53 Sie scheitert regelmäßig schon an der Erforderlichkeit der Gefahrabwendung allein durch Tötung des Aggressors. Als mildere Maßnahmen stehen die Möglichkeit der Trennung und des staatlichen Schutzes zur Verfügung.54 V. Resümee Es hat sich gezeigt, dass auch der Defensivnotstand ein Tötungsrecht gewähren kann, dieses jedoch als ultima ratio, enger als bei der Notwehr, nur bei Fehlen einer Ausweichmöglichkeit, Ausbleiben angeforderter staatlicher Hilfe und nur zum Schutze höchstrangiger höchstpersönlicher Rechtsgüter durchgreift. De lege ferenda erscheinen zwischen Defensiv- und Aggressivnotstand ausdrücklich differenzierende strafgesetzliche Regelungen gegenüber der Einheitslösung des § 34 StGB als vorzugswürdig. Sie könnten sich an §§ 228, 904 BGB 53 Ablehnend z. B. BGHSt 48, 257 u. 260; BGH, JR 1985, 299; Günther, JR 1985, 268; ders., in: SK-StGB (o. Fn. 5), § 34 Rn. 43; Hillenkamp, FS Miyazawa, 1995, S. 141; Rengier, NStZ 1984, 21 (offengelassen in NStZ 2004, 239 f.); Lackner / Kühl (o. Fn. 17), § 34 Rn. 9; Roxin (o. Fn. 22), § 16 Rn. 76; Zieschang, in: LK-StGB (o. Fn. 19), § 34 Rn. 74 a. – Eine Rechtfertigung kraft Defensivnotstandes in Sonderfällen zubilligen wollen dagegen z. B. Erb, in: MüKo-StGB (o. Fn. 36), § 34 Rn. 162; Krey (o. Fn. 17), Rn. 582 c; Otto, NStZ 2004, 142; Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 34 Rn. 73 f.; Jakobs (o. Fn. 17), 13 / 46; Neumann, NKStGB (o. Fn. 7), § 34 Rn. 90; Renzikowski (o. Fn. 7), S. 268 ff. 54 BGHSt 48, 260, grundsätzlich auch eine Entschuldigung nach § 35 StGB ausschließend.

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orientieren. Dafür streiten die unterschiedlichen Geltungsgründe und Abwägungsmaßstäbe dieser beiden Notstände ebenso wie der Gewinn an Rechtssicherheit. Auch wäre die Rechtsprechung gezwungen, den Besonderheiten des Defensivnotstandes größere Beachtung als bisher zu schenken. Es bleibt die Hoffnung, mit diesem Beitrag das Interesse des verehrten Jubilars geweckt zu haben.

Zum Versuch des erfolgsqualifizierten Delikts Von Rolf Dietrich Herzberg

I. Die Versuchsproblematik (§ 22 StGB) Die Dogmatik des Strafrechts ist in manchen Bereichen kompliziert und schwer verständlich. Nicht immer hat das im Gesetz und in der Sache seinen Grund. Es gibt auch Fehlentwicklungen der Lehre, die mit breiter Anerkennung einhergehen, aber aus der Missachtung klarer Konsequenzen resultieren und den Studierenden einen in sich unstimmigen und darum schwer einzuprägenden Lernstoff aufbürden. Die Frage nach dem Versuch des erfolgsqualifizierten Delikts, überaus beliebt in mündlichen Prüfungen, scheint mir ein Beispiel zu sein. Was hier nach der Sicht fast aller Prüfer der befragte Prüfling als „gesicherte Erkenntnis“ wiedergeben soll, ist das Dogma, „dass auch ein erfolgsqualifiziertes Delikt wie die Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227) oder der Raub mit Todesfolge (§ 251) strafbar versucht werden kann“ und „ein solcher Versuch in zwei Fallgestaltungen in Betracht kommt“.1 1. Der wirkliche Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts a) Welche sind das nach Ansicht der Prüfer? Im Anschluss an Geilen unterscheidet man die „versuchte Erfolgsqualifizierung“ vom „erfolgsqualifizierten Versuch“.2 Was mit dem ersten Terminus gemeint ist, mag der folgende Fall veranschaulichen: Die Täterin zielt in Verletzungsabsicht mit dem Zeigefinger auf das linke Auge ihres verhassten Vermieters und nimmt dabei bewusst in Kauf, dass er auf diesem Auge „das Sehvermögen [ . . . ] verliert“ (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Der Angegriffene weicht aber aus und bleibt unverletzt. Hier ist die Annahme des fraglichen Versuches schlicht aus dem Gesetz abzuleiten. Die Körperverletzung mit der Folge des Sehvermögensverlustes unterfällt § 226 Abs. 1 StGB und § 18 StGB. Nach ihrer Vorstellung von der Tat hatte die Täterin unmittelbar angesetzt „zur Verwirklichung des Tatbestandes“. Denn so, wie sie sich ihre Tat und die mögKühl, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2005, § 17a Rn. 32. Vgl. Geilen, Jura 1979, 613 f. Geilen selbst behandelt sie, beschränkt auf § 251 StGB, in umgekehrter Reihenfolge und dabei den heute unstreitigen Fall der versuchten Erfolgsqualifikation als den problematischen. 1 2

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lichen Folgen vorstellte, verwirklichte ihr Tun den Tatbestand der ersten Alternative des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB, d. h. es erfüllte alle seine Merkmale. Natürlich kann man den Versuch der schweren Körperverletzung auch damit begründen, dass die Täterin hinsichtlich aller Voraussetzungen des Tatbestandes den „Vorsatz“ hatte. Denn für den Versuch den Vorsatz der Deliktsvollendung zu fordern ist der unzweifelhafte Sinn des § 22 StGB und war die nachweisliche Absicht des Gesetzgebers. Er meinte – um von vielen Äußerungen eine hervorzuheben – es sei „wegen des selbstverständlichen Erfordernisses eines auf die Vollendung der Tat gerichteten Vorsatzes die besondere Erwähnung eines dahin gehenden Vorsatzes entbehrlich“.3 Dies und nicht etwa die Absicht inhaltlicher Änderung war der Grund, weshalb man die Worte „Vorsatz, die Tat zu vollenden“ aus § 26 Entwurf 1962 nicht übernommen hat. Aber den Umweg solcher Hinweise muss man nicht gehen. Auch wer zur Frage des Vorsatzerfordernisses offen und streng die Worte des geltenden Gesetzes entscheidend sein lässt, findet die richtige Lösung. Hardtung spricht mit Blick auf die in Rede stehende Konstellation treffend vom „wirklichen Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts“, den „nach der Definition des § 22“ nur begehe, „wer die Vorstellung (den Tatentschluss, den Vorsatz) hat, den Erfolgsqualifikationstatbestand zu verwirklichen, also durch die Begehung eines Grunddelikts eine besondere Folge herbeizuführen“.4 b) Weil es um den bloßen Versuch geht, bedarf es in objektiver Hinsicht nur der Ansetzungshandlung. Vom versuchten Delikt selbst braucht kein Teil verwirklicht zu sein, im Fall des § 178 StGB also weder die Todesverursachung noch auch nur die sexuelle Nötigung. Wer z. B. unter Inkaufnahme des Todes auf eine Frau schießt, um sie am Fliehen zu hindern und zu vergewaltigen, macht sich auch dann nach §§ 178, 22 StGB strafbar, wenn er die Frau verfehlt und ganz erfolglos bleibt. Andererseits ist dieses Delikt natürlich auch gegeben, wenn der Vorsatz einen Teilerfolg hat: Der Schuss geht fehl, aber dem Täter gelingt die Vergewaltigung dennoch; oder an der Vergewaltigung wird der Täter gehindert, aber sein (bedingt tötungsvorsätzliches) Schießen bewirkt eine tödliche Verletzung. Klar ist, dass in solchen Teilvollendungsfällen die Bestrafung auf das Versuchsdelikt (hier §§ 178, 22 StGB) nicht beschränkt sein kann. Aber mir ist nicht verständlich, welchen Anstoß Küper daran nimmt, „dass Hardtung das – insgesamt unvollendet gebliebene – erfolgsqualifizierte Delikt für die Versuchsstrafbarkeit einem strikten, vom Vorsatz dominierten, restriktiven ,Versuchsregime‘ unterwirft, von dem auch der ,vollendete‘ Qualifikationsteil selbst dann nicht verschont bleibt, wenn die schwere Folge sogar vorsätzlich herbeigeführt wird.“5 Unterbleibt die sexuelle Handlung, dann kann man doch unter dem Aspekt des Verbrechens „Vergewaltigung mit Todesfolge“ gar nichts anderes annehmen als den Deliktsversuch, so dass man sich Sonderausschußbericht, BT-Drs. V / 4095, S. 11. Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 2003, § 18 Rn. 64; in Rn. 67 würdigt Hardtung die vereinzelten Gegenstimmen (Gössel, Bacher). 5 FS Herzberg, 2008, S. 323, 332 f. 3 4

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insoweit auch dem „Regime“ des § 22 StGB unterwerfen muss. Der Befund, dass der Täter einen Teil dessen, was er nach seiner Vorstellung zu verwirklichen angesetzt hat, tatsächlich verwirklicht hat, wird damit ja nicht unterdrückt, sondern er veranlasst die Heranziehung weiterer Strafnormen außerhalb des „Versuchsregimes“. 2. Der sog. erfolgsqualifizierte Versuch a) Darstellung und Verneinung Die Lehre vom Versuch der erfolgsqualifizierten Straftat wäre nun klar, einfach, konsequent und einleuchtend, wenn sie auf strenger Beachtung des § 22 StGB bestünde. Aber das tut sie nicht. Seit langem herrschend ist eine Ansicht, die es beim Versuch des erfolgsqualifizierten Delikts mit dem Merkmal „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 22 StGB nicht so genau nimmt, d. h. nicht unbedingt fordert, dass genau dazu der Täter nach seiner Tatvorstellung ansetzt. Denn auf diese Vernachlässigung der Gesetzesworte läuft die fast allgemeine Belehrung hinaus, es gebe das fragliche Delikt auch in der Form des „erfolgsqualifizierten Versuchs“. Hardtung bringt das Beispiel des Versuchs zum Vergehen „Unerlaubter Umgang mit gefährlichen Abfällen“ (§ 326 StGB) mit Todesfolge: „Der Abfallentsorger A versuchte die genehmigungslose Ausfuhr von selbstentzündlichen Abfällen. Beim Transport kam es kurz vor der Grenze zu einem Verkehrsunfall, bei dem der Abfall sich selbst entzündete und den Verkehrsteilnehmer V tötete.“6 Angenommen, A hat an die Möglichkeit einer Todesverursachung nicht gedacht, muss sich aber nach Lage des Falls den Tod als fahrlässig verursacht zurechnen lassen. Dann würde man den Versuch zum Verbrechen des § 330 Abs. 2 Nr. 2 StGB bejahen, obwohl A nach seiner Tatvorstellung nicht dazu angesetzt hat, den Tod eines Menschen zu verursachen, also nicht dazu, den Tatbestand auch dieses Delikts, des erfolgsqualifizierten, zu verwirklichen. Oder um ein bekannteres Gesetzesbeispiel zu nehmen: Es soll ein Versuch des Verbrechens „Raub mit Todesfolge“ (§§ 251, 22 StGB) vorliegen, wenn dem Täter des Raubversuchs die Wegnahme misslingt, er aber durch die schon verübte Gewalt leichtfertigerweise, ohne es vorherzusehen, den Tod des Opfers verursacht. Nur zur Verwirklichung des Raubtatbestandes (§ 249 StGB) hat hier nach seiner Vorstellung der Täter angesetzt, nicht auch zu der des Tatbestandes „Raub mit Todesfolge“. Denn der enthält das Merkmal der Todesverursachung, und die war nicht umfasst von der Vorstellung, die der Täter von seiner Tat hatte. Wer an die tödliche Auswirkung seines Tuns nicht denkt, setzt auch nicht dazu an, einen Tatbestand zu verwirklichen, der sie voraussetzt. Hardtung formuliert das Ergebnis seiner Analyse in diesem Punkt so: „Den Versuch eines Teilvorsatzdelikts und damit einer Erfolgsqualifikation begeht nicht, wer nur den Vorsatzteil (d. h. bei Erfolgsqualifikationen: das Grunddelikt) zu ver6

Versuch und Rücktritt bei den Teilvorsatzdelikten des § 11 Abs. 2 StGB, 2002, S. 167.

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wirklichen sich vorstellt und dabei den Fahrlässigkeitsteil verwirklicht, d. h. die im Tatbestand genannte besondere Folge objektiv zurechenbar, aber ohne Vorsatz verursacht. Dazu bedürfte es einer besonderen gesetzlichen Regel [ . . . ]. Nur wenn der Gesetzgeber eine solche Norm schüfe, wäre der sogenannte ,erfolgsqualifizierte Versuch des Grunddelikts‘ (besser: der folgenschwere Versuch des Grunddelikts) als Versuch der Erfolgsqualifikation strafbar.“7 b) Gesetzesauslegung und kritische Würdigung der h.L. Die These Hardtungs hat bisher fast nur Ablehnung erfahren. Sie sei „scharfsinnig begründet“, findet Roxin, „aber trotzdem schwer plausibel zu machen, weil beim vollendeten erfolgsqualifizierten Delikt der Vorsatz sich auf die schwere Folge nicht zu erstrecken braucht (§ 18) und nicht recht einzusehen ist, warum es beim Versuch anders sein soll“.8 Das ist ein von allen Kritikern gemachter Einwand. Küper, der Hardtungs Lehre am eindringlichsten gewürdigt hat, sagt es so: Es „irritiert [ . . . ], dass beim Raubversuch mit leichtfertig verursachter Todesfolge an den ,qualifizierenden Teil‘ des erfolgsqualifizierten Tatbestandes strengere Anforderungen gestellt werden (,Vorstellung der Tatbestandsverwirklichung‘), als sie für das vollendete Delikt gelten, bei dem Fahrlässigkeit (Leichtfertigkeit) genügt“.9 Hillenkamp „leuchtet es nicht ein, für den Versuch Vorsatz auch bezüglich der Folge zu verlangen, wenn für die Vollendung Fahrlässigkeit ausreicht“.10 Und Klaas befindet Hardtungs Gesetzesverständnis für „nicht sachgemäß“ mit der Begründung, es könnten „in subjektiver Hinsicht [ . . . ] beim Versuch keine höheren Anforderungen gelten als bei der Vollendung.“11 Das ist arg apodiktisch. Hardtung würde erwidern, dass sie sehr wohl gelten können und sogar tatsächlich gelten, nämlich nach § 22 StGB. – Aber das sei gerade die Frage und die sei zu verneinen, würden wiederum seine Gegner sagen. So geht es am Ende um die Auslegung des § 22 StGB. Hier hat Hardtung, wie schon dargelegt, unbestreitbar den Wortlaut des Gesetzes auf seiner Seite: § 22 StGB verlangt ein unmittelbares Ansetzen „zur Verwirklichung des Tatbestandes“, gemessen an der Tatvorstellung des Täters, die also etwa im Fall des § 251 StGB auch die Verursachung des Todes, weil zum Tatbestand gehörend, umfassen muss. Dies nicht zu fordern, sagt Hardtung, erlaubt der geltende § 22 StGB nicht; er müsste, (o. Fn. 6), S. 263. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, 2003, § 29 Rn. 338. 9 FS Herzberg, 2008, S. 323, 332. 10 Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, Vor § 22 Rn. 108. 11 Klaas, in: Putzke, Juristische Arbeiten erfolgreich schreiben, 2007, S. 138 f.; vgl. ferner die Kritik bei Cramer / Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 18 Rn. 8; Kühl, FS Gössel, 2002, S. 191 (202 ff.); ders., Jura 2003, 19, 21; ders., Strafrecht AT, 5. Aufl. 2005, § 17a Rn. 42 ff.; Kostuch, Versuch und Rücktritt beim erfolgsqualifizierten Delikt, 2004, S. 16 ff. (im Anschluss an Kühl); Paeffgen, in: Nomos Kommentar zum StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2005, § 18 Rn. 114 Fn. 124. 7 8

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um die h.A. ins Recht zu setzen, schon einen maßgeschneiderten zweiten Absatz erhalten, der etwa so lauten könnte: „Eine Straftat im Sinne des § 11 Abs. 2 versucht auch, wer zur Verwirklichung des Vorsatzteils nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar ansetzt und dadurch den Fahrlässigkeitsteil verwirklicht.“12 Die Kritik an Hardtung muss man demgegenüber als das Vorbringen verstehen, solcher Gesetzeserweiterung bedürfe es nicht, weil die h.A. schon jetzt als „systematische“ Auslegung legitimiert sei; sie vermeide den Wertungswiderspruch, der sich ergebe, wenn man, mit Klaas zu reden, beim Versuch höhere Anforderungen gelten ließe als bei der Vollendung. So sei denn ihre Auslegung eben eine „berichtigende“, die den „tieferen Sinn“ des Gesetzes erfasse und entscheidend sein lasse. „Man wird sich damit abfinden müssen“, sagt Küper als Verfechter dieser Extension, „dass der ,erfolgsqualifizierte Versuch‘ eine strafrechtliche Konstruktion darstellt, die nur mit teleologisch-gesetzessystematischen Überlegungen“ – ich ergänze: nicht mit dem Gesetzeswortlaut! – „begründet werden kann“.13 So mit einer systematisch-teleologisch-berichtigenden Auslegung Hardtungs Angriffen standhalten zu wollen, würde der Mühe nicht lohnen, wenn sich am Ende ergäbe, dass in den umstrittenen Versuchsfällen auch bei strenger Bindung ans Gesetz der Strafrahmen der Erfolgsqualifikation, also z. B. des § 251 StGB oder des § 178 StGB, maßgebend wäre. Hardtung behauptet und begründet das mit seiner „Strafschärfungslösung“. Hätte er damit Recht, dann spräche wahrlich alles dafür, die den Wortlaut des § 22 StGB missachtende Lehre vom „erfolgsqualifizierten Versuch“ (z. B. §§ 251, 22 StGB) preiszugeben. Ja, man müsste dann geradezu sagen, dass die Enge des § 22 StGB (oder das Fehlen des von Hardtung formulierten zweiten Absatzes) auf tieferer Weisheit beruhe, d. h. sich daraus erkläre, dass beim Versuch die begehrten Strafschärfungen, die ausdrücklich nur für Vollendungsfälle angeordnet sind, ohnehin gelten. Aber diese Frage sei zurückgestellt bis zur Auseinandersetzung mit Küper, der als erster und einziger Hardtungs „Strafschärfungslösung“ streng geprüft und für „nicht überzeugend“ befunden hat. Vorrangig ist die Frage nach der In-sich-Schlüssigkeit der problematischen Konstruktion des „erfolgsqualifizierten Versuchs“. Diese Schlüssigkeit muss man verneinen, und zwar deshalb, weil die h.L. auf der Versuchsebene in Wahrheit nicht die Parallele zieht zum vollendeten Teilvorsatzdelikt, sondern systemwidrig (und übrigens ohne Begründung!) auf objektiver Verwirklichung des qualifizierenden Umstandes besteht. Ich erläutere meinen Einwand sogleich am Beispiel des § 251 StGB. Für den Vollendungsfall bedarf es hier der vorsätzlichen Vollendung eines Raubes und der wenigstens leichtfertigen Verursachung eines Todes. Will ich nun in entsprechendem Maß auch beim Versuch auf den Vorsatz verzichten und mich mit Leichtfertigkeit begnügen, dann muss ich es ausreichen lassen, dass der Täter den Raub im anerkannten Sinne versucht (insoweit also Vorsatz hat) und dabei (nur) leichtfertig im Hinblick auf die Verursa12 13

(o. Fn. 6), S. 228. FS Herzberg, 2008, S. 323, 338.

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chung des Todes handelt; dass er ihn tatsächlich verursacht, darf ich – für den Versuch! – nicht fordern. Nehmen wir an, A will den vor ihm flüchtenden B zum Stehen bringen, um ihn zu berauben. Ohne die für ihn an sich nahe liegende Möglichkeit eines tödlichen Treffers zu bedenken, zielt er mit der Pistole auf Bs Beine und drückt ab. Die Pistole ist aber ungeladen und B entkommt unverletzt. – Hardtung argumentiert mit gleicher Stoßrichtung, versäumt es aber, seinen Einwand mit einem solchen Beispiel des untauglichen Versuchs zuzuspitzen. Er meint, es gebe dazu „beim fahrlässigen Versuch kein Pendant“, und begnügt sich mit der Kritik: „Systemkonform wäre es, schon dann aus dem Versuch einer Erfolgsqualifikation zu bestrafen, wenn der Täter den Vorsatzteil im herkömmlichen Sinne versucht und dadurch die Gefahr der Vollendung des Fahrlässigkeitsteils schafft“.14 Aber ein Versuchstäter muss nicht einmal eine Gefahr schaffen. Es genügt, dass er sich vorstellt, eine zu schaffen. Wer nun bei den erfolgsqualifizierten Delikten den Versuch in Parallele zum vollendeten Delikt setzt, darf folgerichtig nicht mehr tun als das Vorsatzerfordernis insoweit, wie es beim vollendeten Delikt nicht gilt, auch beim Versuch durch das mindere Erfordernis ersetzen. Für unser Beispiel hieße das den Versuch des Raubes mit Todesfolge (§§ 251, 22 StGB) bejahen, denn nach der Vorstellung des A von seiner Tat („ich schieße auf B“) kommt zum Raubvorsatz die Leichtfertigkeit hinsichtlich der Todesverursachung durch die geplante Gewaltanwendung. Für den Versuch des Verbrechens einer durch Raub verursachten Tötung zu fordern, dass der Täter objektiv den Tod verursacht, ist mit § 22 StGB nicht vereinbar. Die gesetzliche Grundlage für eine Bestrafung wegen Versuchs ist diese Vorschrift. Die Lehre vom erfolgsqualifizierten Versuch missachtet sie gleich zweimal. Da kann von „Auslegung“ keine Rede mehr sein. Es ist auch deutlich, wie die beiden Fehler zusammenhängen: Man spürt, dass die konsequente Parallelisierung den Bereich des Versuchs überdehnt. Darum lässt man der Ausdehnung im Subjektiven eine Einschränkung im Objektiven folgen. Um den ersten auszugleichen, macht man einen zweiten Fehler. Ob so im Ergebnis das Richtige herauskommt, wird noch zu prüfen sein. Zunächst bleibt zu fragen, ob man denn nicht der Kritik Rechnung tragen kann durch eine wirkliche, konsequente Parallelisierung, die ja wegen ihrer systematischen Stimmigkeit nicht unplausibel erscheint. Obwohl ohne Tötungsvorsatz, wäre A nach § 251 StGB wegen vollendeten Vorsatzdeliktes (vgl. § 11 Abs. 2 StGB) strafbar, wenn er durch das Abdrücken der Pistole leichtfertig den Tod verursacht und die erstrebte Beute an sich genommen hätte. Da passt es an sich, wegen des Versuches zu bestrafen, wenn A gleichermaßen leichtfertig eine zufällig ungeladene Pistole auf B abdrückt und die Wegnahme misslingt. Hier ist aber grundsätzlich zu bedenken, dass Wertungswidersprüche gegen eindeutige gesetzliche Vorgaben nicht zu deren „Berichtigung“ ins Feld geführt werden dürfen, sondern nur mit dem Ziel der Gesetzesänderung. Als „nicht recht einzusehen“, „irritierend“, „nicht 14

(o. Fn. 6), S. 232.

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einleuchtend“ oder „nicht sachgemäß“ (s. o.) kann man es z. B. auch bewerten, dass der Versuch bei §§ 242, 246, 263, 303 StGB strafbar ist, bei § 266 StGB aber straflos. Wird ein Prokurist in letzter Sekunde gehindert, ein wertvolles Stück Firmenvermögen auf seine Freundin zu übertragen, so ist er strafbar, wenn er eine bewegliche Sache übereignen, aber straffrei, wenn er eine Forderung abtreten wollte. Niemand käme auf die Idee, die Festsetzung des § 23 Abs. 1 StGB und das Fehlen der Bestimmung in § 266 StGB zu missachten und in systematischer Harmonisierung den Prokuristen im zweiten Fall wegen Untreueversuchs zu bestrafen. Dann darf man aber auch eine andere Voraussetzung der Versuchsstrafbarkeit, die in § 22 StGB und dort genauso eindeutig aufgestellt ist, nicht in „systematischer Auslegung“ umgehen. c) Der Streit zwischen Hardtung und seinen Kritikern aa) Klaas Den Anhängern der h.L. ist auch ein Unbehagen nicht fremd, wenn sie ihren Standpunkt gegen Hardtungs Angriffe zu verteidigen suchen. Darum gibt es Bemühungen des Nachweises, dass sich aus § 22 StGB bei genauerem Hinsehen eben doch nicht folgern lasse, was Hardtung folgern zu müssen glaubt. Klaas beruft sich auf die „objektiven Bedingungen der Strafbarkeit“, die, obwohl „objektive Unrechtsmerkmale“, „generell nicht vom Vorsatz umfasst“ sein müssten, sodass z. B. einen strafbaren Bankrottversuch (§ 283 Abs. 3 StGB) auch begehen könne, wer keine Vorstellung von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens habe (§ 283 Abs. 6 StGB).15 Das ist richtig. Manchmal kommt es für die Strafbarkeit auf objektive Umstände an, deren Verwirklichung der Täter im Vollendungsfall nicht zu kennen und im Versuchsfall sich nicht vorzustellen braucht. Ich füge dem Klaas’schen Beispiel den Fall des Vierzehnjährigen an, der beim Diebstahlsversuch glaubt, erst dreizehn zu sein. Aber solche objektiven Umstände (Insolvenzverfahrenseröffnung, Vierzehnjährigkeit) sind eben keine, die zur „Verwirklichung des Tatbestandes“ gehören, und nur die Verwirklichung der Umstände, die i.S. des § 16 Abs. 1 StGB „zum gesetzlichen Tatbestand“ gehören, muss sich der Täter vorstellen, damit man sagen kann (wie § 22 StGB es verlangt), er habe zur Verwirklichung des Tatbestandes nach seiner Tatvorstellung angesetzt. Klaas spielt vielleicht mit dem Gedanken – der Vergleich mit den objektiven Strafbarkeitsbedingungen erlaubt diese Vermutung –, die Todesverursachung aus dem „Tatbestand“ des § 251 StGB herauszunehmen, weil der Vollendungstäter insoweit keinen Vorsatz haben muss. Das wäre eine Deutungshypothese, die auch Hardtung in seiner ungemein gründlichen Untersuchung zum Begriff „Vorstellung von der [ . . . ] Verwirklichung des Tatbestandes“ erwägt: Mit Tatbestand sei vielleicht nur gemeint „die Summe derjenigen Merkmale der Strafnorm, hinsichtlich deren das Strafgesetz Vorsatz voraussetzt; die reinen Fahrlässigkeitsmerkmale sind 15

(o. Fn. 11), S. 138.

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dann von diesem Wort nicht erfasst“.16 Hardtung selbst verwirft diese Deutung aber zugunsten einer „viel ungezwungeneren“: „Mit ,Tatbestand‘ ist die gesetzliche Beschreibung desjenigen Verhaltens gemeint, für das der Täter nur bestraft wird, wenn es ihm zugerechnet werden kann, sei es weil er vorsätzlich, sei es weil er fahrlässig gehandelt hat“.17 In der Tat, allein dieses Verständnis kann überzeugen. So sind die Formulierungen „Tatbestand verwirklicht“ bzw. „Verwirklichung des Tatbestandes“ in § 11 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2, in § 13 Abs. 1 und in § 78 Abs. 4 StGB eindeutig umfassend gemeint in dem Sinne, dass es keine Rolle spielt, „ob die einzelnen Tatbestandsmerkmale solche sind, die der Täter vorsätzlich verwirklichen muss, oder ob es reine Fahrlässigkeitsmerkmale sind“.18 Dass das Opfer „die Fortpflanzungsfähigkeit verliert“ ist in § 226 Abs. 1 „reines Fahrlässigkeitsmerkmal“, im zweiten Absatz aber eine Voraussetzung, die der Täter vorsätzlich erfüllen muss. Sie deshalb nur hier, nicht aber im Rahmen des ersten Absatzes dem „Tatbestand“ der „schweren Körperverletzung“ zuzurechnen wäre nicht einleuchtend. Auch ein Blick ins Ordnungswidrigkeitenrecht bestätigt die „viel ungezwungenere“ Lesart. Normal ist hier die zusammenfassende Formulierung „wer vorsätzlich oder fahrlässig“, woran sich die jeweilige Tatbeschreibung schließt. Sie durch den Verstoß zu erfüllen ist selbstverständlich die Verwirklichung des Tatbestandes, auch wenn man bei fehlendem Vorsatz die Tat allein unter dem Aspekt einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit betrachtet. Und noch etwas wäre Klaas entgegenzuhalten: Ihr verbietet sich die fragliche Deutung schon deshalb, weil sie sich in Ansehung der Konstellation „Versuch der Erfolgsqualifikation (§ 251)“ anders festgelegt hat.19 Zum Beispiel eines Raubversuchstäters, der beim Zustechen nicht nur leichtfertig, sondern mit Tötungsvorsatz handelt, sagt sie, der Täter habe „sich i.S.v. § 22 vorgestellt, § 251 zu verwirklichen. Er handelte mithin vorsätzlich mit Blick auf alle Tatbestandsmerkmale“. Dass sie zu diesen auch die Verursachung des Todes rechnet, ist nach dem Kontext klar und wird unterstrichen durch die eingeklammerte Bemerkung, das Opfer sei „sogar schon tot“, womit sie das Ansetzen „zur Tatbestandsverwirklichung“ evident machen will. In der Fallabwandlung (das Opfer überlebt) wird noch deutlicher, dass für Klaas auch der Tötungsvorsatz entscheidend ist und ihr eine lebensgefährliche Leichtfertigkeit, deren tödliche Folge ausbleibt, nicht genügt. Richtig: Es würde am Vorsatz hinsichtlich der „Verwirklichung des Tatbestandes“ fehlen – weil eben die Todesverursachung eine Voraussetzung des Tatbestandes ist! Dabei muss Klaas aber nun auch bleiben. Was man als gültig erkannt hat, muss man gelten lassen, auch wenn es einem in anderem Zusammenhang nicht ins Konzept passt. Man kann aber schließlich den Beweis noch in einer Weise führen, dass alles Vorherige nahezu überflüssig erscheint. § 251 StGB setzt voraus, dass der Räuber 16 17 18 19

(o. Fn. 6), S. 203. (o. Fn. 6), S. 201. (o. Fn. 6), S. 199. (o. Fn. 11), S. 136 f.

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den Tod eines Menschen „wenigstens leichtfertig“ verursacht. Das heißt unstreitig, dass das Verbrechen erst recht vorliegt, wenn er den Tod „vorsätzlich“ verursacht. Und was bedeutet es, dem Täter zu bescheinigen, dass er den Tod nicht „vorsätzlich“ (sondern nur leichtfertig) verursacht hat? Nichts anderes, als dass er „einen Umstand“ nicht gekannt habe, „der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Denn dies ist die gesetzliche Definition der Nichtvorsätzlichkeit (§ 16 Abs. 1 StGB). Indem § 251 StGB indirekt die Möglichkeit der Deliktsbegehung durch „vorsätzliche“ Verursachung des Todes eines Menschen anerkennt, sagt er zugleich, dass dieser Umstand ein zum gesetzlichen Tatbestand gehörender sei. Hat sich also der Räuber die Todesverursachung nicht vorgestellt, dann fehlt ihm auch die in § 22 StGB vorausgesetzte Vorstellung der Verwirklichung des Tatbestandes. bb) Küper und Kühl Einen anderen Gedankengang, die „Rechtsfigur“ des „erfolgsqualifizierten Versuchs“ zu legitimieren und gegen Hardtung zu bewahren, verfolgt Küper.20 Sein Ansatz ist, Hardtungs Prämisse zu bestreiten, dass das Erfordernis des Vorsatzes der Tatbestandsverwirklichung dem Wortlaut des § 22 StGB zu entnehmen sei. Die dort „angeblich ,beschriebene Vorstellung der Tatbestandsverwirklichung‘, die Hardtung mit dem Vorsatz identifiziert, ist nämlich dort überhaupt nicht ,beschrieben‘.“ Das Gesetz enthalte mit „Vorstellung von der Tat“ Worte, die nur auf das „unmittelbare Ansetzen“ zur Tatbestandverwirklichung bezogen und damit entscheidend nur seien „für die Abgrenzung des Versuchsbeginns von der Vorbereitung“. Die „Vorstellung“ des § 22 StGB sei „mit dem Tatbestandsvorsatz als subjektivem Pendant der objektiven Deliktsbeschreibung nicht identisch“. Dies Letztere mag zutreffen. Aber ich bestätige Hardtungs These, dass dem Wortlaut des § 22 StGB die Voraussetzung „Vorstellung der Tatbestandsverwirklichung“ zu entnehmen sei. Denn dass jemand „nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“, kann man nur sagen, wenn sich der Täter diese Verwirklichung vorstellt. Man denke sich einen Reporter, der angesichts einer Stabhochspringerin im olympischen Wettkampf den papierenen Satz spricht: „Nach ihrer Vorstellung von der Tat setzt Jelena Issinbajewa nun unmittelbar dazu an, 5,10 m zu überspringen und einen neuen Weltrekord aufzustellen.“ Wenn Worte jemals etwas eindeutig ausdrücken, dann ist es hier die Feststellung, dass sich die Athletin die siegreiche Verwirklichung des sportlichen Tatbestandes, d. h. den Rekordsprung, vorstellt. Küper versteht solche Formulierungen so, als könne und müsse man bei streng verbaler Betrachtung „Vorstellung von der Tat“ und „Aufstellung eines neuen Weltrekordes“ getrennt halten. Man kann aber die Reporterworte gar nicht anders verstehen, als dass sich die Sportlerin vorstellt, zum Rekordsprung anzusetzen. Dieser ist, als das „wozu“ des Ansetzens, Gegenstand ihrer „Vorstellung von der Tat“. 20

FS Herzberg, 2008, S. 323, 333 f.

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Gebraucht das Gesetz die Worte, gilt das Gleiche. „Verwirklichung des Tatbestandes“ heißt z. B. im Fall des § 251 StGB einen Raub begehen und dadurch den Tod eines Menschen verursachen. Auch Letzteres muss sich ein Raubversuchstäter vorstellen, damit man sagen kann, er habe nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt. Man kann es nicht sagen, wenn es dem Täter, weil er an die Möglichkeit des Todes (leichtfertigerweise) gar nicht gedacht hat, an dieser Vorstellung fehlt. Das ist die These Hardtungs, die ich von Küper nicht widerlegt sehe. Eine sekundäre, hier nicht zu behandelnde Frage ist die, ob man das „geschriebene“ Merkmal des § 22 StGB, welches die Verfechter der fraglichen „Rechtsfigur“ missachten, mit dem Vorsatz identifizieren darf. Dazu nur eine Anmerkung: Die schlichte Gleichsetzung des in § 16 StGB gemeinten Vorsatzes mit dem Vorsatz des Versuchstäters würde einen Unterschied verwischen, den das Gesetz dadurch ausdrückt, dass es hier eine „Vorstellung“ und dort ein „Kennen“ fordert. Bestimmte Umstände „kennen“ muss nach § 16 StGB der Täter des vollendeten Vorsatzdelikts, der des Versuchs muss sie sich, was beim untauglichen Versuch deutlich wird, nur „vorstellen“. Das Verhältnis ist das des Besonderen zum Allgemeinen. Auch der Vollendungstäter hat die „Vorstellung“, die § 22 StGB voraussetzt. Seine „Kenntnis“ ist diese Vorstellung, qualifiziert nur durch ihre Richtigkeit, genauer dadurch, dass sie eine tatsächliche Tatbestandsverwirklichung zum Gegenstand hat.21 Aber wie auch immer, klar und im Grunde unstreitig ist, dass der deliktische Versuch den Vorsatz hinsichtlich der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandes (den Vollendungsvorsatz) voraussetzt. Küper sieht das nicht anders. Er bestreitet nur die direkte Herleitbarkeit aus dem Text des § 22 StGB („Vorstellung“), aber es bleibt auch für ihn der „Vorsatz zur Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale [ . . . ] – aus axiologischen und systematischen Gründen – ein unabdingbares Element des subjektiven Versuchstatbestandes der Vorsatzdelikte“. Hier fragt sich der Leser zunächst, was denn bei dieser Anerkennung vom Widerspruch, den Küper gegen Hardtung richtet, noch übrig bleibt. Die Anwort gibt Küper aber schon im nächsten Satz mit der These, es biete die Eigenschaft des Vorsatzes „als ungeschriebenes Versuchserfordernis [ . . . ] die Möglichkeit, den Versuchstatbestand ohne Konflikt mit Gesetzeswortlaut und Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) so zu reduzieren, dass er bei erfolgsqualifizierten Delikten – und bei Qualifikationstatbeständen überhaupt – nur insoweit Geltung beansprucht, wie das Delikt nicht vollendet worden ist, die beim Versuch des Grunddelikts bereits verwirklichten (erfolgs)qualifizierenden Merkmale dagegen nicht mitumfasst“.22 Ein schwieriger, inhaltsschwerer Satz; ich verstehe ihn so, dass infolge der Reduzierung des Versuchstatbestandes dessen Vorsatzerfordernis für 21 Vgl. Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung – Zur Auslegung der §§ 16 Abs. 1 S. 1, 22 StGB, 1996, S. 19 f., 131. 22 FS Herzberg, 2008, S. 323, 334 f.

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qualifizierende Merkmale insoweit nicht gilt, wie der Versuchstäter sie schon verwirklicht hat. Der Leser fragt sich aber nach dieser Erklärung noch etwas anderes: Darf man wirklich mit Küper „den Vorsatz [ . . . ] zu den ungeschriebenen Merkmalen des Versuchstatbestandes“23 rechnen? Selbst wenn man die Worte des § 22 StGB als eindeutigen Ausdruck nicht genügen ließe, insoweit also Küper Recht gäbe, fände sich die Voraussetzung des Vorsatzes doch spätestens in § 15 StGB festgeschrieben! Was Küper für § 22 StGB mit großer Anstrengung (und m. E. nicht überzeugend) begründet, das ist z. B. bei §§ 142, 173, 259, 266, 303 StGB ganz klar: Das Merkmal des Vorsatzes ist in diese Deliktstatbestände nicht hineingeschrieben. Aber ist es deshalb ein ungeschriebenes Merkmal? Nein, die Voraussetzung ist ausdrücklich aufgestellt in § 15 StGB, und man würde „Gesetzeswortlaut und Analogieverbot (§ 103 Abs. 2 GG)“ missachten, wollte man hier und da auch einmal das Delikt bejahen, obwohl der Täter keinen (vollständigen) Vorsatz hat, z. B. § 303 StGB im Fall einer absichtlichen Sachzerstörung, deren Täter die Fremdheit verkannt hat, aber ganz klar hätte erkennen müssen. Küper müsste von seinem Standpunkt aus § 15 StGB mit § 23 Abs. 1 StGB vergleichen: Hier wie dort finden sich Voraussetzungen der Versuchsstrafbarkeit, zwar außerhalb der eigentlichen Versuchsbeschreibung in § 22 StGB, aber nichtsdestoweniger geschrieben und unabdingbar. § 23 Abs. 1 StGB verbietet die Bestrafung wegen Versuchs für Fälle des Vergehens, wenn es an der ausdrücklichen Bestimmung der Strafbarkeit fehlt, § 15 StGB verbietet sie schlechthin, wenn es beim Täter am Vorsatz hinsichtlich der „Verwirklichung des Tatbestandes“ fehlt. Darum scheint mir auch Kühls Kritik angreifbar. Selbst wenn dem § 22 StGB „nur eine Formel zur Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch“24 zu entnehmen wäre, ergäbe sich immer noch aus § 15 StGB, dass das Handeln im Hinblick auf die Verwirklichung des Tatbestandes ein vorsätzliches sein muss, damit es als Versuch strafbar sein kann. Man darf auch nicht, wie Kühl es tut, unter Hinweis auf die §§ 11 Abs. 2 und 18 StGB25 dem Gesetzgeber unterstellen, dass er in der umstrittenen Konstellation etwa eines Raubversuchs mit unvorsätzlich-leichtfertiger Todesverursachung ganz gewiss eine Bestrafung nach §§ 251, 22 StGB und keinesfalls eine nur wegen versuchten Raubes und fahrlässiger Tötung gewollt habe. Wenn ein Erfolg (hier: die Wegnahme) „um Haaresbreite“ ausbleibt, bei dessen Eintritt der Täter wegen eines bestimmten Deliktes strafbar geworden wäre (hier: nach § 251 StGB), dann besteht die Vergünstigung des Täters ja nicht gleichmäßig darin, dass er nur wegen des Versuches dieses Delikts strafbar wird. Es kann auch sein, dass das Tun als Gefährdungsdelikt einem anderen Tatbestand unterfällt, sich FS Herzberg, 2008, S. 323, 334. Kühl (o. Fn. 11), § 17a Rn. 43. 25 Die gänzliche Unergiebigkeit dieser beiden Vorschriften als Erkenntnisquelle und als Argumentationshilfe für die h.L. hat Hardtung (o. Fn. 6), S. 219 – 227, überzeugend begründet. Küper, FS Herzberg, 2008, S. 323, 337 f., stimmt ihm insoweit zu und ergänzt die Begründung zu § 11 Abs. 2 StGB mit eigenen Überlegungen. 23 24

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als bloße Ordnungswidrigkeit darstellt oder überhaupt weder straf- noch ahndbar ist; Letzteres gilt etwa, wenn ein Hausfriedensbruch an der verschlossenen Tür scheitert oder eine Untreue in letzter Sekunde verhindert wird, aber auch in vielen Fällen unvorsätzlich-leichtfertiger, ggf. nach § 222 StGB strafbarer Lebensgefährdung, die dank glücklichem Zufall folgenlos bleibt. Angenommen also, Hardtungs Beweisführung hat zum Ergebnis, dass im fraglichen Fall § 251 StGB unanwendbar und die Strafe den §§ 249, 22; 222 StGB zu entnehmen ist; dieses Ergebnis läge im Spielraum vertretbarer und akzeptabler Regelung und spräche durchaus nicht gegen die Richtigkeit des zugrunde liegenden Gedankengangs. Was aber umgekehrt gegen die Reduzierung des Vorsatzerfordernisses zur Rettung des „erfolgsqualifizierten Versuchs“ spricht, das ist, von allem schon Gesagten abgesehen, die Gefahr der einmal vollzogenen Grenzüberschreitung. Ich meine das so: Kühl und Küper lösen sich aus dem Bann der gesetzlichen Festlegung, dass ein Versuch zum Verbrechen „Raub mit Todesfolge“ nur angenommen werden darf, wenn der Täter sich „vorstellt“, den Tatbestand des § 251 StGB zu verwirklichen (§ 22 StGB), oder wenn insoweit, mit den Worten des § 15 StGB, ein „vorsätzliches Handeln“ vorliegt. Wo findet nach dieser Lossagung die Annahme unvorsätzlicher Versuche ein zuverlässiges Ende? Nehmen wir das Beispiel eines Raubversuchs, dessen Täter durch die schon verübte Gewalt sein Opfer fahrlässigerweise „in die Gefahr des Todes“ gebracht hat. Kühls teleologische Argumentation ist zwar verbal beschränkt auf den „Strafschärfungsgrund von Erfolgsqualifikationen“, womit vermutlich nur Fälle des § 18 StGB gemeint sind, aber sie ist nach ihrem sachlichen Gehalt so nicht eingrenzbar. Auch von den Regelungen des § 250 StGB kann man sagen, sie „sollen mit ihrer erhöhten Strafdrohung der Begehung von Delikten ,gegensteuern‘, die – wie z. B. der Raub gemäß § 249 StGB – typischerweise Gefahren für andere Rechtsgüter – wie insbesondere das Leben – heraufbeschwören. Diese dem Grunddelikt eigentümliche Gefahr kann auch schon dessen Versuch anhaften und sich in der besonderen (Todes-)Folge niederschlagen“.26 Heraus käme für unser Beispiel die Annahme des Versuches zum Verbrechen eines schweren Raubes, §§ 250 Abs. 2 Nr. 3b, 22 StGB. Natürlich sähe sich Kühl dem Einwand ausgesetzt, das könne nicht richtig sein, die Gefahrfolge des § 250 StGB sei keine „besondere Folge“ i. S. d. § 18 StGB, der Täter müsse also mit dem Vorsatz der Lebensgefahrschaffung gehandelt haben. Aber Kühl könnte replizieren und dem Einwand des Wertungswiderspruchs zuvorkommen: Das Vorsatzerfordernis sei beim Versuch eben gelockert, und der Versuch zu § 250 StGB bleibe selbstverständlich auch dann erhalten, wenn der Täter den Raub vollende, so dass in diesem Fall der Täter wegen vollendeten einfachen und versuchten schweren Raubes zu bestrafen sei. Man könnte sogar daran denken, etwa für Fälle leichtfertiger oder bewusst fahrlässiger Lebensgefährdung durch die Konstruktion eines Totschlagsversuchs die Straflosigkeit zu umgehen. Wirft jemand ohne Tötungsvorsatz, aber empörend leichtsinnig einen schweren Gegenstand zum Fenster hinaus, 26

A. a. O. (o. Fn. 24).

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ohne jemanden zu treffen, so ist das kein Delikt, selbst wenn die Tat um ein Haar einen Passanten das Leben gekostet hätte. Betrachtet man nun beim Versuch den Vorsatz der Verwirklichung des Tatbestandes nicht mehr als unabdingbare Voraussetzung, dann kommt hier ein Tötungsversuch (§§ 212, 22 StGB) in Frage. Zwar keinesfalls ein vollendeter Totschlag, auch nicht im Erfolgsfall, weil insoweit ja das Vorsatzerfordernis strikt gilt, aber wegen des Versuches wäre allemal zu strafen, auch wenn der Leichtsinn die tödliche Folge gehabt hätte. Zu bestrafen wäre dann eben wegen des Totschlagsversuchs in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung. Zweifellos würden sich Kühl und Küper gegen solche Weiterungen mit äußerster Entschiedenheit verwahren, aber der Anfang ist gemacht, wenn man erst einmal punktuelle Durchbrechungen des Junktims von Versuch und Vorsatz zugelassen hat. Die hier wirksame Tendenz zeigt sich bei Küper darin, dass er seine Lehre, anders als Kühl, ausdrücklich auf „Qualifikationstatbestände überhaupt“ erstreckt.27 Wie sich das auf die Fallbeurteilung im Einzelnen auswirken soll, ist mir freilich nicht ganz deutlich geworden. Will er den Raubversuchstäter, der ohne Vorsatz, aber fahrlässig sein Opfer durch Gewalt „in die Gefahr des Todes“ gebracht hat, tatsächlich, wie oben erwogen, nach §§ 250 Abs. 2 Nr. 3b, 22 StGB bestrafen? Seine eigene Exemplifizierung schafft eher den Eindruck, als gehe es ihm nur um eine Richtigstellung ohne praktische Relevanz. „Wer bei einem Diebstahlsversuch“, sagt er, „eine Waffe mitführt (§ 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB), ist wegen ,versuchten Diebstahls mit Waffen‘ nicht deswegen strafbar, weil er ,versucht‘ hat, eine Waffe bei sich zu führen, sondern weil er im Versuchsstadium des Diebstahls tatsächlich eine Waffe ,bei sich geführt‘ hat.“28 Das steht am Ende des unter III 4 entwickelten Gedankenganges, der anspruchsvoller begonnen hatte, nämlich mit der Begründung, weshalb beim Versuch das „im Normtext verschwiegene Vorsatzerfordernis“29 nur mit Abstrichen gelte, sodass z. B. ein Versuch zum „Raub mit Todesfolge“ auch dann in Frage komme, wenn der Täter ohne Vorsatz den Tod FS Herzberg, 2008, S. 323, 335. FS Herzberg, 2008, S. 323, 336. Diese Sicht ist übrigens angreifbar. Die Qualifizierung gilt laut Gesetz nur, wenn der Täter die Waffe „bei dem Diebstahl“, d. h. beim Wegnehmen, bei sich führt, und nicht auch, wenn er es beim Ansetzen dazu tut, z. B. beim Öffnen des Schrankes, worin er das erwartete Geld nicht findet, sodass er ohne etwas wegzunehmen den Ort verlässt. Er hat in diesem Fall zwar „im Versuchsstadium [ . . . ] tatsächlich eine Waffe bei sich geführt“, aber, weil er keinen Diebstahl begeht, nicht „bei dem Diebstahl“, wie § 244 StGB es voraussetzt. Darum ist Küper zu widersprechen, wenn er von einer „Vollendung des Qualifikationsteils“ oder „Verwirklichung des Qualifikationsmerkmals“ spricht. Anwendbar ist § 244 StGB entgegen Küper nicht, weil der Täter während des Versuchs tatsächlich eine Waffe bei sich führt, sondern weil er auch noch versucht, bei einem Diebstahl eine Waffe bei sich zu führen. Im Prinzip besteht kein Unterschied zu dem Fall, dass der Täter beim Diebstahlsversuch irrig glaubt, eine Waffe in der Tasche zu haben. Wie es ja generell beim Versuch für die objektiven Merkmale der BT-Tatbestände auf das Vorstellungsbild ankommt und nicht auf das tatsächliche Erfülltsein, selbst wo man dieses konstatieren kann. Der Eindruck, da und dort verhalte es sich ausnahmsweise anders, beruht stets auf Irrtum. 29 FS Herzberg, 2008, S. 323, 334 in Fn. 54. 27 28

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eines Menschen verursache. Es fällt auf, dass in dieser Begründung der bei den anderen alles beherrschende Vergleich mit dem vollendeten Delikt (z. B. bei Klaas: „In subjektiver Hinsicht können beim Versuch keine höheren Anforderungen gelten als bei der Vollendung“30) keine Rolle mehr spielt. Entscheidend ist vielmehr allein der Gedanke, dass es sich verbiete, „auch bereits verwirklichte Qualifikationsmerkmale nur deshalb, weil ihr Grunddelikt unvollendet geblieben ist, dem ,Versuchsregime‘ des § 22 StGB zu unterstellen“.31 Die Forderung, dass sie „vom Vorsatz umfasst sein müssten“, bestreitet Küper anscheinend als Konsequenz des unberechtigten „Versuchsregimes“. „Die ,Strafausdehnungsnorm‘ des § 22 StGB würde [ . . . ] funktionswidrig restriktiv angewandt. ,Vollendete‘ Qualifikationsmerkmale müssen vielmehr auch beim Grunddeliktsversuch als vollendet behandelt werden.“ Leider versäumt Küper es, sich entweder klar zur eigenen Konsequenz zu bekennen oder eine deutliche Einschränkung vorzunehmen. Seine beiläufige Gleichstellung von „erfolgsqualifizierten Delikten [ . . . ] und [ . . . ] Qualifikationstatbeständen überhaupt“ hat nämlich unversehens auch die normalen Qualifikationsmerkmale in den Bannkreis seiner Lehre gebracht. Für diese Merkmale gilt aber, dass der Täter sie jedenfalls beim vollendeten Delikt vorsätzlich verwirklicht haben muss. Der Täter muss bei Begehung des Diebstahls wissen, dass ihm seine Frau vorsorglich einen Dolch in die Aktentasche gepackt hat; oder er muss auf der Baustelle vor der ungesicherten Fensteröffnung erkennen, dass seine brutalen Faustschläge den Angegriffenen in die Gefahr tödlichen Absturzes bringen; fehlt es daran, so entfällt die Bestrafung zumindest wegen vollendeten „Diebstahls mit Waffen“ (§ 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB) bzw. vollendeter „gefährlicher Körperverletzung“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Will Küper nun bei bloßem Versuch des Diebstahls oder der Körperverletzung die Qualifizierung auch ohne umfassenden Vorsatz des Täters bejahen, entsprechend seiner „Anwendung verwirklichter qualifizierender Tatbestandsmerkmale auf den Grunddeliktsversuch“?32 Objektiv sind sie ja verwirklicht, weil der Täter beim Diebstahlsversuch die Tasche mitsamt ihrem Inhalt „bei sich führt“ oder schon infolge seines Versuches zuzuschlagen dem ängstlich zurückweichenden Opfer eine „das Leben gefährdende Behandlung“ antut. Ich vermute eher, dass Küper die Extension, die aus vielen seiner Formulierungen abzuleiten wäre, nicht will. Aber seine Lehre zeigt, welche Konsequenzen und Ausweitungen drohen, wenn man nicht ausnahmslos daran festhält, dass der deliktische Versuch den Vorsatz der „Verwirklichung des Tatbestandes“ in allen seinen objektiven Merkmalen voraussetzt.

(o. Fn. 11), S. 138 f. FS Herzberg, 2008, S. 323, 335 f.; dort auch die im Folgenden zitierten Textstellen. 32 Weil dieser Versuch im vollendeten Grunddelikt als Minus erhalten bliebe, müsste Küper folgerichtig ggf. an der (zusätzlichen) Bestrafung wegen des qualifizierten Versuchs festhalten; damit würde er, wie schon gesagt, Wertungswidersprüche vermeiden. 30 31

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II. Die Strafschärfungslösung (§ 23 Abs. 2 StGB) 1. Wiedergabe Aber kehren wir zurück aufs engere Feld unseres eigentlichen Themas und suchen wir nach der endgültigen Lösung! Käme im umstrittenen Fall z. B. des Raubversuches mit leichtfertig verursachtem Tod wirklich die Unanwendbarkeit des § 251 StGB heraus, wenn man sich mit Hardtung streng an das Vorsatzerfordernis des § 22 StGB (oder des § 15 StGB) bände? Dass Hardtung selbst es anders sieht, wurde schon erwähnt. Im Kommentar zu § 18 StGB fasst er seine „Strafschärfungslösung“ wie folgt zusammen: „Sie sähe im genannten Fall einen aus dem Strafrahmen der Erfolgsqualifikation strafgeschärften Versuch des Grunddelikts und käme zu dem Schuldspruch ,Raubversuch mit Todesfolge (§§ 249, 22, 251)‘ (deutlicher wäre: ,todbringender Versuch eines Raubes‘). Sie kommt damit wie die übliche Versuchslösung zum hohen Strafrahmen des § 251 und zugleich zur Strafmilderungsmöglichkeit aus § 23 Abs. 2. Aber sie behauptet nicht gegen das Gesetz, es läge ein Versuch der Erfolgsqualifikation vor. Vielmehr akzeptiert sie, dass nur ein Versuch des Grunddelikts vorliegt. Ihn aber bestraft sie wegen der besonderen Folge aus dem Strafrahmen der Erfolgsqualifikation. Begründung: Wenn § 23 Abs. 2 anordnet, dass der Versuch milder bestraft werden kann als die vollendete Tat, so liegt darin zugleich die Grundaussage, dass der Versuch auch genauso bestraft werden kann wie die vollendete Tat. § 23 Abs. 2 ordnet also den Grundsatz an: ,Die Strafe für den Versuch richtet sich nach der Strafdrohung für die vollendete Tat.‘ Das bedeutet [ . . . ] im Eingangsbeispiel (Rn. 72): Der Täter hat einen Raub versucht, welcher bei Vollendung als Raub mit Todesfolge aus dem Strafrahmen des § 251 bestraft würde, und zwar genau deshalb, weil der Täter durch die räuberische Gewalt leichtfertig den Tod eines anderen verursacht hat. Weil gem. § 23 Abs. 2 die Strafe für den Versuch sich richtet nach der Strafdrohung für die vollendete Tat, ist auch der Versuch unter exakt denselben Voraussetzungen wie die Vollendung aus dem Strafrahmen der Erfolgsqualifikation (hier § 251) zu bestrafen, also im Beispiel dann, wenn der Versuchstäter durch die räuberische Gewalt leichtfertig den Tod eines anderen verursacht hat.“33 2. Raubversuch und § 249 Abs. 2 StGB Beim Zitieren ausgelassen habe ich Hardtungs Behauptung, dass das Gesetzesverständnis der Strafschärfungslösung auch eine mildere Bestrafung des Raubversuchs begründen kann, nämlich immer dann, wenn die Tat „bei Vollendung als minder schwerer Fall nur aus § 249 Abs. 2 bestraft würde“. Der Autor geht davon 33 MK-StGB (o. Fn. 4), § 18 Rn. 75; ausführliche Darstellung bei Hardtung (o. Fn. 6), S. 35 f., 265 – 281.

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aus, dass in allen Fällen berechtigter Anwendung des zweiten Absatzes auf einen Versuch der Täter „wegen eines ,minder schweren Raubversuchs‘ (§§ 249 Abs. 1, 22, § 249 Abs. 2)“ zu bestrafen sei und nicht etwa „wegen des ,Versuches eines minder schweren Raubes‘ (§§ 249 Abs. 2, 22)“.34 a) Das verdient jedenfalls dann Zustimmung, wenn es keine Rolle spielt, dass der Täter sich die mildernden Umstände „vorgestellt“ hat. So muss man es in Fällen minderer Schuld sehen, die in der einschlägigen publizierten Judikatur die größte Bedeutung haben: Verminderte Schuldfähigkeit nach Alkoholgenuss, stark retardierte Reifeentwicklung eines 21-jährigen Räubers, aus Heroinsucht verübte Taten, ungeplant-affekthafte Gewaltanwendung des bei der Wegnahme überraschten Täters.35 Hier kann man nicht sagen, dass sich der Vorsatz des Täters auf die Verwirklichung des § 249 Abs. 2 StGB gerichtet habe. Diese Vorschrift kommt erst auf dem Umweg zur Anwendung, wie ihn Hardtungs Gesetzesdeutung, hier als „Strafmilderungslösung“, aufzeigt. b) Anders sehe ich es, wenn die entlastenden Umstände das Unrecht mindern und die Tätervorstellung der Minderung genau entspricht. Beispiel: Stadtstreicher B hat eine volle Flasche Wermut in der Plastiktüte bei sich. Sein Kollege A will sie geschenkt haben, weil sich B endlich mal revanchieren müsse. Als B ablehnt, wird A handgreiflich, doch setzt ihn B mit einem Tritt vors Schienbein außer Gefecht. – Hardtung will anscheinend auch in diesem Fall den Täter im Urteilstenor wegen eines „normalen“ Raubversuchs nach §§ 249 Abs. 1, 22 StGB bestrafen; erst in den Urteilsgründen würde er dann die mindere Schwere ins Spiel bringen und die Tat in den viel günstigeren, wenn auch immer noch den Bagatellcharakter der Tat krass verfehlenden Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe (mit Milderungsmöglichkeit gemäß § 23 Abs. 2 StGB) verschieben. So kann man es machen, aber sachgerechter scheint es mir, hier den von Hardtung generell verworfenen „Versuch eines minder schweren Raubes“ zu bejahen, also schon im Urteilstenor die §§ 249 Abs. 2, 22 StGB als die Strafgrundlage herauszustellen. Denn hätte A Erfolg gehabt, hieße es im Schuldspruch: „wegen Raubes in einem minder schweren Fall (§ 249 Abs. 2 StGB)“. Genau die Umstände, die diese Einstufung begründen (mit mäßiger Gewalt eine Flasche Wermut wegnehmen), hat sich A auch vorgestellt; er wollte nur einen Bagatellraub begehen. Dann sollte man ihm dies auch schon in der Urteilsformel bescheinigen, genauso, wie man es im Vollendungsfall täte. Man mag einwenden, der Versuch könne nur auf § 249 Abs. 1 StGB bezogen werden, weil der zweite Absatz keinen „eigenständigen“ Privilegierungstatbestand, also auch keinen „Tatbestand“ i.S. von § 22 StGB bilde. Aber der zweite Absatz enthält wie andere Vorschriften auch gesetzliche Voraussetzungen (die des ersten Absatzes sowie das Merkmal der minderen Schwere), deren Erfüllung eine RechtsMK-StGB (o. Fn. 4), § 18 Rn. 75. Vgl. die Rechtsprechungsnachw. bei Sander, in: MK-StGB, Bd. 3, 2003, § 249 Rn. 45; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 11), § 249 Rn. 12. 34 35

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folge hat, nämlich dass der Richter in einem genau bestimmten Rahmen die Strafe festsetzen muss. Die besondere Voraussetzung der minderen Schwere ist zwar äußerst unscharf, aber Unschärfe ist nirgends ein Grund, einem Merkmalsgefüge den Tatbestandscharakter abzusprechen. Auch § 12 Abs. 3 StGB tut das nicht. Er sagt nur, dass Vorschriften betreffend „minder schwere Fälle“ keine Rolle „für die Einteilung“ spielen, also ein Raub auch im minder schweren Fall ein Verbrechen bleibt. c) Weder direkt [oben b)] noch vermittelt [oben a)] anwendbar ist § 249 Abs. 2 StGB auf den Raubversuch, wenn dieser nur objektiv auf ein geringwertiges Objekt gerichtet ist, der Täter aber die Vorstellung größerer Beute hat. Beispiel: Im geschilderten Fall glaubt A irrig, B habe außer der Flasche Wermut auch sein Portemonnaie mit einigen hundert Euro in der Tüte. – Man könnte fragen, ob es sich hier nicht um das Gegenstück zu Hardtungs „folgenschwerem Versuch“ handle, sozusagen um den „folgenleichten Versuch“36: Dort verkennt der Täter die Todesverursachung, die seine Tat objektiv erschwert, hier verkennt er die Geringwertigkeit der Beute, die seinen Raubversuch objektiv geringfügig erscheinen lässt. Tatsächlich ist die Lösung im vergleichbaren Fall des § 248a StGB umstritten. Manche lassen dessen Antragserfordernis auch gelten, wenn der zur Geldwegnahme entschlossene Täter (der in letzter Sekunde ertappt wird) nur drei Fünfeuroscheine in der Ladenkasse findet, wo er an die tausend Euro zu finden erwartet hat. Auch beim Versuch, heißt es bei Lackner / Kühl, „entscheidet [ . . . ] nur die objektive Geringwertigkeit“, also „der Wert der Sache, zu deren Wegnahme der Täter entschlossen war“.37 Aber das ist nicht einleuchtend. Bei dieser Sicht stünde sich ein Versuchstäter mit immerhin vorhandenem, wenn auch geringwertigem Beuteobjekt besser als einer, der ganz ins Leere greift, z. B. weil gar kein Geld in der Kasse liegt. 3. Küpers Kritik Das Vorstehende betrifft einen Nebenpunkt in Hardtungs Gedankengang. Viel gewichtiger sind die auf den Kern zielenden Einwände Küpers. a) Er sieht in der „Strafschärfungslösung“ eine Missdeutung des § 23 Abs. 2 StGB. Hardtung missversteht, meint Küper, die Vorschrift als „die gesetzliche Anweisung, den Strafrahmen so zu bestimmen, wie wenn die konkrete Versuchstat vollendet worden wäre, und ersetzt damit den realen Sachverhalt (versuchter Raub) durch einen hypothetisch anzunehmenden (Raubvollendung). Einen [ . . . ] Strafrahmen auf veränderter Sachverhaltsgrundlage ordnet aber § 23 Abs. 2 StGB nicht an.“ 36 Cum grano salis! Anders als die schwere Folge beim todbringenden Raubversuch bleibt hier ja die leichte Folge aus. Der Versuch hätte sie nur gehabt, wenn er zur Vollendung – Wegnahme der Tüte – gediehen wäre. 37 StGB, 26. Aufl. 2007, § 248a Rn. 5.

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Das scheint mir anfechtbar. Man muss bedenken, dass uns § 23 Abs. 2 StGB ja zur Strafrahmenfeststellung in den Besonderen Teil verweist, wo wir tatsächlich andere Sachverhalte beschrieben finden als in § 22 StGB: Stehlen ist etwas anderes als nur dazu anzusetzen, und den Sachverhalt des Stehlens muss ich zugrunde legen, um dem § 242 StGB auch für den Diebstahlsversuch den maßgebenden Strafrahmen zu entnehmen. Küper begründet seine problematische These wie folgt: „Hätte man die Vorschrift so zu verstehen, dass sie auf den Strafrahmen Bezug nimmt, der gelten müsste, wenn der Täter seine Versuchstat vollendet hätte, so würde die Rechtsfolgenanordnung des § 23 Abs. 2 StGB in sich widersprüchlich; denn bei vollendeter Tat wäre die hier vorgesehene fakultative Strafmilderung gar nicht mehr möglich“. Küpers Folgerung: „§ 23 Abs. 2 StGB hat [ . . . ] einen anderen, schlichteren – und widerspruchsfreien – Inhalt: Es gilt der Strafrahmen des Delikts, dessen Versuch der Täter begeht, mit der Möglichkeit, diesen Strafrahmen [ . . . ] zu mildern [ . . . ] Geht man also mit Hardtung beim ,folgenschweren Raubversuch‘ tatbestandlich nur von einem Versuch des einfachen Raubes [ . . . ] aus, so bestimmt sich der Grundstrafrahmen dieses Versuchs allein nach § 249 Abs. 1 StGB [ . . . ] Eine Möglichkeit, [ . . . ] auf den Strafrahmen des § 251 StGB strafschärfend zurückzugreifen, besteht folglich nicht.“38 Was mich an dieser Beweisführung zweifeln lässt, ist zunächst der Gegensatz, den Küper zwischen seinem und Hardtungs Gesetzesverständnis zu erkennen glaubt. Ob ich nun sage, es gelte der Strafrahmen des Delikts, dessen Versuch der Täter begeht, oder ob ich sage, § 23 Abs. 2 StGB weise uns an, den Strafrahmen so zu bestimmen, wie wenn die konkrete Versuchstat vollendet worden wäre, macht m. E. in der Sache keinen Unterschied. So oder so hat man zu klären, welche Straftat der Täter (der z. B. ein fremdes Fahrrad ergreift) zu begehen versucht (eine Sachbeschädigung? einen Diebstahl? einen unbefugten Fahrzeuggebrauch?), und zu dieser Straftat gilt es den Strafrahmen zu finden, um ihn, modifiziert durch die Kann-Milderung, auf den Versuch zu übertragen. Die Widersprüchlichkeit, die Küper seinem Gegner anlastet, sehe ich nicht. Hardtung sagt ja nicht: Für den Versuch gilt unabänderlich der Strafrahmen, der gelten würde, wenn der Täter die Tat vollendet hätte. Dazu wäre es allerdings widersprüchlich, den Strafrahmen i. S. d. § 23 Abs. 2 StGB zu modifizieren. Vielmehr sagt Hardtung von vornherein, dass für den Versuch der nach unten geöffnete Strafrahmen gelte. Dass diese Aussage dann oft eine sprachliche Form erhält, die zuerst eine vorbehaltlose Gleichsetzung und dann die Modifizierung ausdrückt, bedeutet keinen Selbstwiderspruch. Auch Küper formuliert, es gelte „der Strafrahmen des Delikts, dessen Versuch der Täter begeht“, und stellt dann erst klar: „mit der Möglichkeit, diesen Strafrahmen zu mildern“. b) Von Küpers erster Kritik scheint mir seine zweite unabhängig zu sein. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass uns § 23 Abs. 2 StGB, je nach dem konkret 38

FS Herzberg, 2008, S. 323, 327 f.

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bejahten Versuch, auf einen ganz bestimmten Strafrahmen festlege: Wenn schon, wie Hardtung lehre, als Versuch nur der eines einfachen Raubes vorliege, dann bestimme § 249 Abs. 1 StGB auch die Obergrenze seiner Bestrafung. Ob das richtig ist, klärt sich auf, wenn man dem elliptisch gefassten § 23 Abs. 2 StGB das Ausgelassene einfügt. Dann wäre er wie folgt zu lesen: „Der Versuch ist wie die vollendete Tat zu bestrafen, kann aber milder bestraft werden“; und bezogen auf unser Beispiel: „Der Versuch, einen Raub (§ 249 Abs. 1 StGB) zu begehen, ist wie der vollendete Raub zu bestrafen, kann aber milder bestraft werden“. Wenn nun der Täter einen Raubversuch begeht mit einem auf die Voraussetzungen des § 249 Abs. 1 StGB beschränkten Vorsatz, dann soll laut § 23 Abs. 2 StGB dieser Versuch „wie die vollendete Tat“ bestraft werden, d. h. wie der Raub, den der Täter im Fall der Vollendung begangen hätte. Das wäre selbstverständlich ein Raub, der § 249 Abs. 1 StGB unterfiele. Aber das heißt doch nicht, dass als Strafrahmen nur der dort gezogene in Frage käme! Gegebenenfalls begangen sein könnte der vollendete Raub ja unter Umständen und mit Auswirkungen, die zwar außerhalb der Tätervorstellung liegen, aber für das Gewicht des Raubes so große Bedeutung haben, dass das Gesetz einen anderen Strafrahmen vorschreibt. Begründen die Umstände einen „minder schweren Fall“, ist es der Strafrahmen des § 249 Abs. 2 StGB, bestehen sie in der leichtfertigen Verursachung des Todes eines Menschen, ist es der des § 251 StGB. Hardtung entnimmt darum dem § 23 Abs. 2 StGB die Bestimmung, die Versuchsbestrafung nach der Tat zu bemessen, „die der Täter bei Verwirklichung seiner Vorstellung vollendet hätte“, und zwar unter Einbeziehung aller tatsächlich gegebenen Umstände, auch solcher, die sich der Täter nicht vorgestellt hat.39 Gewiss liegt es nahe, in der Strafschärfungslösung einen unnötigen Umweg zu sehen und die privilegierende oder qualifizierende Vorschrift auf einen Raubversuch, den der Täter unter schuldmildernden Umständen oder unter dem erschwerenden Umstand leichtfertiger Todesverursachung begangen hat, direkt anzuwenden. Aber wenn dies nun einmal bei strenger Beachtung des Gesetzes nicht geht? Nehmen wir § 249 Abs. 2 StGB! Zweifellos ist auch der Raubversuch, den der Täter mit stark verminderter Schuld verübt hat, etwa durch ungeplante, panikbedingte Gewaltanwendung, ein vergleichsweise minder schwerwiegendes Delikt. Aber der zweite Absatz regelt ja nur spezielle Fälle des vollendeten Raubs, wie er im ersten Absatz beschrieben steht. Erst § 23 Abs. 2 StGB vermittelt dann die Anwendung des gemilderten Strafrahmens auch auf Versuchsfälle. Direkt gilt dieser Strafrahmen nur, wenn man sagen kann, der Täter habe versucht, einen Raub von minderer Schwere zu begehen, d. h. wenn er sich die Umstände, die die Schwere mindern, vorgestellt hat. 39 Hardtung (o. Fn. 6), S. 273. – Zu betonen ist, dass in unserem Fall ein Wechsel zum Strafrahmen des § 250 StGB ausscheidet. Denn wir setzen ja voraus, dass der Täter einen auf § 249 Abs. 1 StGB begrenzten Vorsatz hat. Die den „schweren“ Raub begründenden Umstände, z. B. das Bei-sich-Führen einer Waffe oder das Schaffen einer Todesgefahr, muss aber der Täter in seinen Vorsatz aufnehmen – im Gegensatz zur Todesverursachung des § 251 StGB!

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Die Kritik ist also umzukehren: Küper ist es, der § 23 Abs. 2 StGB missdeutet. Richtet sich die „Vorstellung“ des Versuchstäters auf einen „normalen“ Raub, dann heißt das keineswegs, dass für die vollendete Tat auch der „normale“ Strafrahmen gelten müsste. Zwar unterfällt diese Tat allemal § 249 Abs. 1 StGB, aber Umstände außerhalb der Tätervorstellung können bewirken, dass sie auch einer privilegierenden bzw. qualifizierenden Norm zu subsumieren ist. Die Anweisung lautet nun, sich bei der Bestrafung des Raubversuchs danach zu richten, wie der vollendete Raub zu bestrafen gewesen wäre. Man missachtet sie, wenn man für die Bestrafung unter allen Umständen § 249 Abs. 1 StGB maßgebend sein lässt. Wo der vollendete Raub außer § 249 Abs. 1 StGB auch noch § 251 StGB erfüllt hätte, ist dessen Strafrahmen für den Versuch maßgebend. So schreibt es § 23 Abs. 2 StGB vor, der ja nicht auf einen bestimmten Strafrahmen, sondern auf „die vollendete Tat“ verweist. 4. Ergebnis Der Hardtung’schen Strafschärfungslösung ist also vollen Umfanges zuzustimmen. Dies bedeutet, dass es praktisch auf dasselbe hinausläuft, ob man der traditionellen Lehre vom erfolgsqualifizierten Versuch folgt oder sie verwirft und Hardtungs Lösungsweg geht. Aber theoretisch und dogmatisch besteht natürlich ein großer Unterschied, nämlich der zwischen einer mit dem Gesetz nicht vereinbaren und einer ihm genau entsprechenden Begründung, z. B. weshalb § 251 StGB auf einen Raubversuch anwendbar sein kann, obwohl der Täter hinsichtlich einer Tatbestandsvoraussetzung, der Todesverursachung, keinen Vorsatz hatte. „Die Strafschärfungslösung“, sagt Hardtung abschließend, „gelangt [ . . . ] immer zu denjenigen Ergebnissen, die von der überwiegenden Rechtsprechung und Literatur als die richtigen vorgestellt werden. Sie benennt mit § 23 Abs. 2 StGB die gesetzliche Anordnung der harten Bestrafung des folgenschweren Versuches und gelangt von diesem festen Punkt aus zu klaren Lösungen der Folgeprobleme.“40 Es kann kein Zweifel sein, wie man sich entscheiden muss, wenn man bei gleichen Ergebnissen die Wahl hat zwischen einer herrschenden Begründung, die das Gesetz verfehlt, und einer Minderheitsansicht, die es streng beachtet. Ich widme dem Jubilar einen Aufsatz, dessen Problematik gewiss nicht im Zentrum seines Interesses liegt. Jedenfalls hat sie seinen Scharfsinn bislang nicht so herausgefordert, dass er zur Lösung auch in der öffentlichen Diskussion beigetragen hätte. Was aber die unter uns geführte angeht, so verdanke ich Knut Amelung einen Denkanstoß, der mir wertvoll war und das Thema zu seiner Ehrung zu wählen in besonderer Weise sinnvoll erscheinen lässt. In unserer gemeinsamen Bochumer Zeit trafen wir vormittags mit einiger Regelmäßigkeit zusammen und pflogen in größerer oder kleinerer Runde des Gespräches über alles Mögliche, auch etwa über Fragen, die zu behandeln ihm oder mir für die nächste Vorlesung bevorstand. 40

(o. Fn. 6), S. 281.

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So sah ich mich einmal vor der Aufgabe stehen, den Studenten das Wichtigste zu § 251 StGB zu sagen. Vielleicht erinnert man sich: In den siebziger Jahren war dem Tatbestand das „wenigstens“ noch nicht eingefügt und die Wahrheit, dass jede vorsätzliche Tötung eine fahrlässige und leichtfertige in sich enthält, war von allgemeiner Anerkennung noch weiter entfernt als heute. Darum galt damals die heute unstreitige Konstellation der „versuchten Erfolgsqualifizierung“, deren Täter mit Tötungsvorsatz handelt, als die problematische, während der sog. „erfolgsqualifizierte Versuch“ dem Zweifel enthoben schien.41 Dementsprechend wollte ich die Sache darstellen. Aber Knut Amelung dachte nach und widersprach. Ob nicht vielleicht der erste Fall nur scheinbar problematisch sei, fragte er. Ob man nicht auch vom Vorsatztäter sagen müsse, er greife das Rechtsgut „leichtfertig“ an? Das von vielen geforderte „wenigstens“ möge die Sache verdeutlichen, sei aber, wenn man es recht bedenke, pleonastisch. Mehr als den ersten bezweifle er den zweiten Fall. Müsse man nicht auf dem Vorsatz der Todesverursachung bestehen, da doch der Versuch ausnahmslos den kompletten Vorsatz voraussetze? Der neue § 22 StGB spreche von der Vorstellung der Verwirklichung des Tatbestandes und nicht nur eines Teiles davon. – Wie ich damals die Störung meines Vorlesungskonzepts im Hörsaal verarbeitet habe, weiß ich nicht mehr. Aber der Zweifel am angeblich „Gesicherten“ war gesät und ich war schnell gewonnen, als mir Knut Amelungs Einwand Jahre später wiederbegegnete: Bei meinem Schüler Bernhard Hardtung, der ihn in vollkommen eigener Erkenntnis und Begründung zu einer Kernaussage seiner Habilitationsschrift gemacht hat. So sei diese Studie dem verehrten und bewunderten Gefährten zugeeignet, in herzlicher Erinnerung an die wenigen, aber schönen Jahre gemeinsamen Wirkens an der Ruhr-Universität Bochum.

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Vgl. die Darstellung bei Geilen, Jura 1979, 613 f.

Einwilligung in sittenwidrige Körperverletzung Von Hans Joachim Hirsch

I. Knut Amelung, dem dieser Beitrag mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, hat sich in mehreren Veröffentlichungen mit Einwilligungsproblemen befasst. Gegenwärtig ist durch zwei neuere Entscheidungen des BGH die in § 228 StGB erwähnte Frage der Einwilligung in eine sittenwidrige Körperverletzung wieder ins Blickfeld getreten. Da der Verfasser im Leipziger Kommentar und anderen Beiträgen ebenfalls einschlägige Probleme erörtert hat, liegt es nahe, diese Thematik hier aufzugreifen.

II. 1. In der Ende 2003 ergangenen Entscheidung BGHSt 49, 34 des 3. Strafsenats des BGH ging es, wie erinnerlich, um Folgendes: Der Angeklagte hatte einem Bekannten auf dessen Wunsch Heroin injiziert, da dieser es sich wegen gesundheitsund alkoholbedingten Zitterns der Hände nicht selbst spritzen konnte. Dadurch wurde das Atemzentrum des stark betrunkenen (2,33 %) Opfers gelähmt, so dass es starb. Die Hälfte des Heroins hatte sich der Angeklagte vorher selbst injiziert, was bei ihm lediglich einen leichten Rauschzustand auslöste. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) schuldig gesprochen, weil es wegen des illegalen Betäubungsmittels eine Sittenwidrigkeit der einverständlichen Körperverletzung annahm. Der 3. Strafsenat stützt demgegenüber die Sittenwidrigkeit der Einwilligung auf die konkrete Lebensgefahr. Angesichts des in Betracht kommenden Irrtums über diese Gefahr verweist er auf einen fahrlässigen Erlaubnissachverhaltsirrtum bezüglich der Körperverletzung. Die ein halbes Jahr später ergangene Entscheidung BGHSt 49, 166 des 2. Strafsenats betraf bekanntlich sado-masochistische Sexualpraktiken: Der Angeklagte drückte auf nachdrücklichen Wunsch seiner Lebensgefährtin, die großes Interesse an der Ausübung außergewöhnlicher sexueller Praktiken hatte, ein Metallrohr gegen deren Halsgefäße, damit durch die mangelnde Versorgung des Gehirns mit Blut und Sauerstoff bei ihr sexuelle Erregung bewirkt wurde. Dies führte zum Herzstillstand und Tod. Das Landgericht hat § 227 StGB verneint, weil es die Körperverletzung aufgrund der Einwilligung für gerechtfertigt hielt. Der 2. Straf-

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senat sieht das anders, wobei auch er die Sittenwidrigkeit der eingewilligten Körperverletzung auf die Lebensgefahr stützt. Die beiden Entscheidungen stimmen in der Tendenz überein, den in § 228 StGB zur Begrenzung der einverständlichen Körperverletzung verwendeten Begriff der guten Sitten inhaltlich näher zu bestimmen. In dem Urteil des 3. Senats heißt es, dass der Begriff, um dem Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens zu genügen, „auf seinen Kern beschränkt“ werden müsse.1 Und in dem Urteil des 2. Senats ist davon die Rede, dass das Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens verlange, den Begriff der guten Sitten auf „seinen rechtlichen Kern“ zu beschränken.2 Die Ausgangspunkte der Entscheidungen und ihre Reichweite sind jedoch unterschiedlich: Der 3. Senat meint, dass das Strafgesetzbuch die Rechtsfolgen der Einwilligung mit der Verwendung des Begriffs der guten Sitten an außerrechtliche, ethischmoralische Kategorien knüpfe und es deshalb weniger um normativ-wertende Gesetzesauslegung gehe als vielmehr um empirische Feststellung bestehender Moralüberzeugungen.3 Die Einschränkung auf den Kernbereich bedeute, dass ein Verstoß der Körperverletzungstat gegen die guten Sitten nur angenommen werden könne, wenn sie nach allgemein gültigen moralischen Maßstäben, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden könnten, mit dem eindeutigen Makel der Sittenwidrigkeit behaftet sei. In diesem Sinne sei eine Körperverletzung trotz Einwilligung des Geschädigten nach der allgemein gebrauchten Umschreibung dann sittenwidrig, wenn sie gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstoße. Da nach dem Wortlaut des § 228 StGB entscheidend ist, ob die Tat gegen die guten Sitten verstößt, könne die Prüfung der Sittenwidrigkeit „nicht allein daran anknüpfen, ob mit der Tat verwerfliche Zwecke verfolgt werden“. Vielmehr sei „immer in Betracht zu nehmen, ob die Körperverletzung wegen des besonderen Gewichts des jeweiligen tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs, namentlich des Umfangs der vom Opfer hingenommenen körperlichen Mißhandlung oder Gesundheitsschädigung und des Grades der damit verbundenen weiteren Leibes- oder Lebensgefahr, als unvereinbar mit den gute Sitten erscheint“.4 Ob „mit der Tat verfolgte weitergehende – unlautere – Zwecke ebenfalls für das Sittenwidrigkeitsurteil relevant sind“, könne im vorliegenden Fall offen gelassen werden. Zu diesem heißt es sodann: Der Senat vermöge nicht zu erkennen, dass der Konsum illegaler – auch harter – Drogen nach heute allgemein anerkannten, nicht anzweifelbaren Wertvorstellungen generell noch als unvereinbar mit den guten Sitten angesehen werde.5 Maßgeblich sei vielmehr, ob und in welchem Grad durch die 1 2 3 4 5

BGHSt 49, 34, 41. BGHSt 49, 166, 169. BGHSt 49, 34, 40 f. BGHSt 49, 34, 41 f. BGHSt 49, 34, 43.

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konkrete Tat Gesundheits- bzw. Suchtgefahren begründet oder verstärkt würden. Nach allgemeinen sittlichen Empfindungen sei die Grenze moralischer Verwerflichkeit dann überschritten, wenn bei vorausschauend objektiver Betrachtung aller maßgeblichen Umstände der Betroffene durch die Verabreichung des Betäubungsmittels in konkrete Todesgefahr gebracht werde.6 Im Unterschied zum 3. Senat knüpft der 2. Senat in seinem Urteil ausdrücklich nicht an außerrechtliche, ethisch-moralische Kategorien an, sondern sagt von vornherein: In § 228 StGB „muß der Begriff der guten Sitten auf seinen rechtlichen Kern beschränkt werden“.7 Er verweist darauf, dass „nach neuerer Rechtsprechung und in der Literatur überwiegend vertretener Auffassung“8 für das Sittenwidrigkeitsurteil im Sinne des § 228 StGB grundsätzlich auf das besondere Gewicht des Körperverletzungserfolgs sowie den Gefahrengrad für Leib und Leben des Opfers abzustellen sei, weil sich generalpräventiv-fürsorgliche Eingriffe des Staates in die Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers nur im Bereich gravierender Verletzungen legitimieren ließen, die in ihrem Gewicht an die in § 226 StGB geregelten erheblichen Beeinträchtigungen heranreichten.9 Der Senat erklärt daher „vorrangig das Gewicht des tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs und damit ein objektives Kriterium für ausschlaggebend“. Für diese Eingrenzung spreche auch der Normzweck des § 228 StGB. Die Lebensgefahr sei daher im vorliegenden Fall maßgeblich. Dass der Senat nach dieser Hinwendung zu der im Schrifttum als Rechtsgutslösung bezeichneten Auffassung10 auch noch ausführt, dass sado-masochistische Praktiken für sich allein heute nicht mehr als sittenwidrig eingestuft werden können,11 bedeutet nicht, von ihm würden alternativ neben den vorgenannten rechtsbezogenen Kriterien doch auch noch andere Gesichtspunkte als sittenwidrigkeitsbegründend angesehen.12 Wenn er nicht ausschließlich vom Gewicht des tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs spricht, sondern von dessen „Vorrangigkeit“ bei der Bejahung der Sittenwidrigkeit im Sinne des § 228 StGB, erklärt sich dies damit, dass er der Rechtsgutslösung folgend13 die Möglichkeit berücksichtigt, dass trotz des besonderen Gewichts der Körperverletzung Sittenwidrigkeit deshalb ausscheiden BGHSt 49, 34, 44. BGHSt 49, 166, 169. Hervorhebung vom Verf. 8 Hingewiesen wird von ihm auf die Ausführungen von Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2000, § 228 Rn. 9; ders., FS BGH, 2000, S. 199, 219; Tröndle / Fischer, StGB, 51. Aufl. 2003, § 228 Rn. 9; Otto, FS Tröndle, 1989, S. 157, 168; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, 1992, S. 55 f.; Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 36 ff. Weitere Nachweise bei Hirsch, in: LKStGB (a. a. O.), § 228 Rn. 9 ff. 9 BGHSt 49, 166, 170 f. 10 Zur Bezeichnung vgl. Hirsch, JR 2004, 475, und Hardtung, Jura 2005, 401. 11 BGHSt 49, 166, 172 f. 12 Das verkennt offenbar Hardtung, Jura 2005, 401, 406. Wie hier aber Morsbacher, JR 2004, 390, 391. 13 Vgl. die Darstellung dieser vom Verf. vor fast vier Jahrzehnten entwickelten Auffassung ( ZStW 83 [1971], 140, 166 f.) bei Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 228 Rn. 8 f. 6 7

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kann, weil ein anerkannter Zweck oder etwa eine Abwägung sie gleichwohl entfallen lässt.14 2. Die beiden Entscheidungen haben im Schrifttum unterschiedliche Resonanz gefunden. Neben ganz oder teilweiser Zustimmung und völliger Ablehnung geht es um die Argumentation in den Begründungen. Auffallend ist, dass die Kritik von einigen Autoren in einem wissenschaftlich inakzeptablen und bisher auch nicht üblichen Ton vorgetragen wird. So heißt es in der Überschrift eines Besprechungsaufsatzes von Duttge15: „Der BGH auf rechtsphilosophischen Abwegen“, und im weiteren Text findet sich der Satz: „Ist die neuzeitliche Trennung von Recht und Moral wie überhaupt der . . . von niemand mehr in Frage gestellte kategoriale Graben zwischen Empirie und Normativität denn völlig spurlos am Erkenntnishorizont des BGH vorübergegangen?“16 Auch trägt die Überschrift von Hardtungs Beitrag „Die guten Sitten am Bundesgerichtshof“17 kaum dem Ernst der zur Erörterung stehenden Sachverhalte und Rechtsprobleme Rechnung.

III. Betrachten wir die Kritik und die verschiedenen Auffassungen des Schrifttums im einzelnen: 1. Am weitesten gehen diejenigen, von denen die Verfassungsmäßigkeit bezweifelt wird. Es wird vorgebracht, dass die Vorschrift nicht mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) in Einklang stehe.18 In BGHSt 49, 34 ist diese Frage angesprochen, aber ohne nähere Erörterung ein Verfassungsverstoß verneint.19 Die deutsche Strafgesetzgebung hat sich leider von der strafrechtsfremden Verwendung von generalklauselartigen Begriffen, wie sie in der NS-Zeit begann, bis in die Gegenwart nicht völlig befreien können. Im Gegenteil! Unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe haben inzwischen sogar Hochkonjunktur. Ich verweise nur auf die neuen Strafbestimmungen zu Graffiti-Schmierereien und Stalking. Bei § 228 StGB kommt noch hinzu, dass die allgemeine Formulierung „gegen die guten Sitten verstößt“ keine Anhaltspunkte zur weiteren 14 Dazu, dass es nach Auffassung des Senats immer nur um körperliche Beeinträchtigungen von Gewicht geht, siehe auch seine oben erwähnten Ausführungen zur Legitimation des § 228 StGB. 15 Duttge, NJW 2005, 260. 16 Duttge, NJW 2005, 260. 17 Hardtung, Jura 2005, 401. 18 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung, 1997, S. 162, 586; ders., JuS 2004, 955; Paeffgen, in: Nomos Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2005, § 228 Rn. 30, 32; Hardtung, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 228 Rn. 16 ff.; R. Schmitt, FS Jescheck, 1985, S. 223, 227; siehe auch Horn / Wolters, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 7. Aufl. 2003, § 228 Rn. 8. 19 BGHSt 49, 34, 41.

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Präzisierung enthält, sondern eine pauschale Verweisung auf die außerrechtliche Sittenordnung nahelegt. Es geht hier nun allerdings um die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes, und Rechtfertigungsgründe unterliegen nicht in so strengem Maße dem Bestimmtheitsgrundsatz wie – bedingt durch die strafrechtliche Leitbildfunktion – die Tatbestände, was sich insbesondere beim rechtfertigenden Notstand zeigt, aber etwa auch bei der allgemeinen Einwilligungslehre.20 Außerdem sind Rechtfertigungsgründe auch dann zu berücksichtigen, wenn sie in anderen Teilen der Rechtsordnung, für die nicht der Art. 103 Abs. 2 GG gilt, zu finden sind. Aber selbst wenn man dies nicht aus dem Blick verliert, erhebt sich das Bedenken, dass der undifferenzierte Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit zu allgemeiner Natur ist, um deliktsrechtliche Fragen zuverlässig entscheiden zu können. Überdies ist bei der zur Erörterung stehenden Einwilligungsregelung zu beachten, dass sie immerhin im Strafgesetzbuch steht. Ob indes die für die Verfassungswidrigkeit angeführten Gesichtspunkte angesichts der zurückhaltenden Handhabung des Art. 103 Abs. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht als ausreichend eingeschätzt werden, bleibt aber zweifelhaft. Man wird sich zudem fragen müssen, ob das Gericht wirklich der Rechtsordnung einen Dienst erweisen würde, wenn es den § 228 StGB wegen gesetzlicher Unbestimmtheit für verfassungswidrig erklärte. Will man nicht, dass damit eine völlige Freigabe von einverständlichen Körperverletzungen ausgelöst wird, müsste der Gesetzgeber dann sogleich aktiv werden. Dazu aber fehlt ihm offenbar die Gestaltungskraft. Obwohl spätestens seit der Diskussion um die Zulässigkeit der auf beliebige Gründe gestützten freiwilligen Sterilisation – also seit den 60er Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts – mit den Händen zu greifen war, dass die Vorschrift eine der vordringlichsten Reformaufgaben im Bereich der Körperverletzungsregelungen darstellt, hat er sie im 6. StrRG von 1998 kurzerhand übergangen.21 Und hinzu kommt, dass er angesichts der weltanschaulichen Meinungsverschiedenheiten, denen er sich gegenübersehen würde, einer politischen Durchsetzungskraft bedürfte, über die er heute nicht verfügt. Deshalb wird man sich wohl darauf einzustellen haben, dass die Vorschrift vorerst so bleibt, wie sie ist. Dem BGH fällt daher die Aufgabe zu, sich im Interesse der Rechtssicherheit um eine Präzisierung und damit Stabilisierung des § 228 StGB zu bemühen. Durch die Herausarbeitung des mit der Formulierung „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“ in der Vorschrift Gemeinten ist die Wortfassung mit einem präzisen, die ausschlaggebenden Gesichtspunkte benennenden Inhalt auszufüllen, der den Bestimmtheitsanforderungen entspricht und eine sichere Handhabung ermöglicht. In den beiden Entscheidungen des BGH heißt es daher mit Recht, dass es bei der Auslegung des § 228 StGB darum geht, dem Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens zu genügen.22 Die Entscheidung des 2. Strafsenats ist dabei am weitesten fortgeschritten. 20 Zur Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf Rechtfertigungsgründe näher Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1994, Vor § 32 Rn. 35 ff., und Rönnau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 62 ff. m. w. N. 21 Dazu Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 227 Rn. 42 und § 228 Rn. 53.

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2. Wie im Vorhergehenden bereits anklang, wird von einigen Autoren die Begrenzung zulässiger Einwilligung auch aus sachlichen Gründen in Frage gestellt. Es geht dabei um Auffassungen, die namentlich de lege ferenda in den Blick zu nehmen sind. a) In Anlehnung an Meinungen, die zur Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen vertreten werden, wirft Arzt 23 die Frage auf, ob die herrschende Differenzierung zwischen Teilnahme an der Selbstverletzung des Opfers und an diesem mit Einwilligung vorgenommener täterschaftlicher Fremdverletzung berechtigt ist. Er ist der Ansicht, dass die „maßgebliche Tatherrschaft“ im Normalfall bei der einwilligenden Person liege. Diese stehe „im Zentrum des Geschehens“; es gehe um „ihr Werk“. Erst die Einwilligungsdoktrin mache den Inhaber des verletzten Rechtsguts in Abweichung von der allgemeinen Teilnahmelehre zum Opfer, weil so dem einverständlich Eingreifenden mit der Täterrolle Sorgfaltspflichten auferlegt werden können. In den Normalfällen der Einwilligung bildeten Selbstverletzungen des Einwilligungsgebers und Fremdverletzung durch den Einwilligungsnehmer eine „gemeinsame Tat, die quasi-mittäterschaftlich begangen werde“. Sei diese sittenwidrig, werde der Einwilligungsnehmer nach der „Sonderregelung des § 228 StGB“ bestraft, weil die Rechtsordnung ihm den Verzicht auf die von ihr missbilligte Tat „leichter abfordern“ könne als dem Einwilligungsgeber. Bei letzterem wäre die Einbuße an Autonomie erheblich größer. Arzt fährt sodann – mit dem Blick auf die zur Erörterung stehenden BGH-Entscheidungen – fort:24 Von einer solchen Mittäterschaft, die eine Tat verknüpft, die „Selbst- und Fremdverletzung darstellt“, sei die „echte mittäterschaftliche Selbstgefährdung“ zu unterscheiden. Sie liege jedenfalls dann vor, wenn ein gemeinsames Risiko getragen werde. Wo – wie je nach Sachverhaltsvariante beim Heroin und sicher beim entschiedenen Sado-Masochisten-Fall des Würgens – klar sei, dass das Rechtsgut auf dem Spiel stehe, möge zwar eine „gewisse Versuchung“ vorliegen, denjenigen zum Täter zu machen, der die Spritze setze und komplementär den zum Spritzen Unfähigen zum Opfer zu degradieren. Eine Teilnahme, die alles, was man körperlich nicht selbst machen könne, als fremdes Werk begreife, sei jedoch „Formalismus ohne Sinn“. „Das vom Gesetzgeber erzwungene Trauerspiel des § 216 StGB als eines extremen Sonderfalls“ dürfe nach Arzt „aus seinen engen Grenzen nicht richterrechtlich ins freie Feld der Fremd- und Selbstgefährdung entlassen werden“. Der Begriff der Tatherrschaft führt bei der Lösung der Probleme des § 228 StGB aber nicht weiter. Dass der Einwilligende der an der Tat primär Interessierte ist und dass er darüber entscheidet, ob die Tat ausgeführt wird, besagt für die Tatherrschaft noch nichts. Auch bei der Anstiftung begegnet man solchen Fällen. Sie kann sich aber aus weiteren Umständen ergeben, so wie hier aus der aktiven Mitwirkung am Geschehen. Jedoch lässt das ganz unberührt, dass der Einwilligungsempfänger, der 22 23 24

BGHSt 49, 34, 41, und BGHSt 49, 166, 169. Arzt, JZ 2005, 103 f. Arzt, JZ 2005, 103, 104.

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die Körperverletzung oder Tötung unmittelbar verwirklicht, seinerseits ebenfalls die Tatherrschaft hat, nämlich über die für die Tatbestandsmäßigkeit ausschlaggebende Verletzung eines in fremder Körperintegrität oder fremden Leben bestehenden Rechtsguts. Und nur hierauf kommt es an. Die Einwilligungslehre hat daher entgegen der Auffassung von Arzt keine Abweichung von der allgemeinen Teilnahmelehre vorgenommenen – geschweige denn dergleichen „erzwungen“.25 Nicht weiterführend ist auch die durch Arzt vorgenommene Unterscheidung von unechter und echter „mittäterschaftlicher Selbstgefährdung“. Bei letzterer soll es sich insbesondere darum handeln, dass – wie in den zur Erörterung stehenden Fällen – ein „gemeinsames Risiko“ von den Beteiligten getragen wird. Auch in solchen Fällen geht es aber nicht um gemeinschaftliche Selbstgefährdung. Vielmehr ist ebenfalls hier das Verhalten des Einwilligungsempfängers eine Fremdtäterschaft. Das Risiko, dass die einverständliche Körperverletzung eine schwere Schädigung zur Folge haben kann, ist bei ihm das Risiko des Eintritts schwerer Folgen für Leben oder Gesundheit des Einwilligenden, also eines tatbestandsmäßigen Schadens für einen anderen. Eine davon verschiedene Frage ist, ob die Wertentscheidung der Rechtsordnung, nach der die Selbstgefährdung und -verletzung mit Recht nicht verboten ist, dazu Anlass gibt, dass der Gesetzgeber jegliche einverständliche Fremdverletzung für zulässig erklärt. Darauf ist noch zurückzukommen. b) Auch Jakobs hat die beiden Entscheidungen zum Anlass genommen, um seine Auffassung zu § 228 StGB näher darzulegen.26 Er kritisiert an der Vorschrift die „paternalistische Färbung“ und schreibt: „Liberale Extreme können nur eine Gesellschaft verstören, die diese Extreme nicht durchhalten ‘will‘, also eben eine paternalistische Struktur aufweist. Ein System, das sich durch Extreme nicht selbst desavouiert, kann davon absehen, die rechtliche Wirkung der Einwilligung zu limitieren. So fortschrittlich ist nach der Meinung des Bundesgerichtshofs und seiner Kommentatoren die hiesige Gesellschaft bislang freilich nicht.“27 Der geltende § 228 StGB lasse sich jedoch nicht, schreibt Jakobs, als Delikt gegen die konkrete Person erklären. Da ein Delikt gegen die Person als „Usurpation fremder Freiheit“ zu verstehen sei, werde es durch Einwilligung ausgeschlossen. Wenn eine gesetzliche Regelung trotz einer Einwilligung ein Delikt bejahe, könne es sich deshalb nicht um ein Delikt gegen die konkrete Person handeln. Es 25 Dafür spricht auch nicht der von Arzt (o. Fn. 24) zum Vergleich angeführte Fall, dass A ein gefälschtes Dokument benötigt und mit dem Anfertigen den Fachmann B beauftragt. Auch wenn bei Gegebensein entsprechender Details hier Mittäterschaft vorläge, wäre die Lage eine ganz andere als bei der einverständlichen Körperverletzung. Denn es ginge in solchem Fall für beide Personen um die Verletzung eines fremden Rechtsguts (die Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs). In den zur Erörterung stehenden Fällen verletzt dagegen nur eine der beiden, nämlich diejenige, die den Eingriff mit Einwilligung des Betroffenen vornimmt, fremde Körperintegrität. 26 Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507. 27 Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 519.

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richte sich vielmehr nur gegen allgemein bestimmte Interessen: Die Freiheit, über seine Rechte verfügen zu können, solle nicht wegen der möglichen Extreme dieser Freiheit in Frage gestellt werden können, und deshalb würden „die Extreme als abstrakt freiheitsbedrohend verboten“. Sie bedrohten die Freiheit abstrakt, weil bei der Fremdverletzung zweifelhaft bleiben möge, ob das „Opfer“ die Verletzung für „vollzugsreif“ hält oder insoweit die Entscheidung dem Verletzten anvertraut. Zudem dürfte bei der Einwilligung in eine unverständige Tat die Gefahr einer allenfalls launenhaften Begründung bestehen. Es sei ein allgemeines Interesse gegeben, typischerweise launenbefangene Situationen nicht in einen endgültigen Verlust von erheblicher Größe zu überführen. Bei der Einwilligung in eine wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit unverständige Tat gehe es also darum, „wegen der abstrakten Gefahr, daß der nur-subjektive Verstand die an objektive Verständigkeit gebundene Freiheit in Mißkredit bringt“, eine Grenze zu setzen. Durch diese Deutung verliere § 228 StGB allerdings nicht seine paternalistische Färbung.28 Eine wortlautnahe Auslegung des Merkmals „Sittenwidrigkeit“ hält Jakobs nicht für möglich, da sie „nicht in eine Zeit passe, in der die guten Sitten vom Recht auf Privatheit geradezu aufgelöst worden“ seien. Im Zusammenhang solcher Privatheits- und Toleranzanforderungen bleibe allein der Anspruch, das Extraordinäre zu kontrollieren.29 Das Urteil über die Qualität der Tat weiche der quantifizierbaren Abwägung. So könne der Einwilligende im Ergebnis nicht grundlos psycho-physischen Voraussetzungen seiner personalen Existenz und ebenfalls nicht grundlos seine Arbeitsfähigkeit preisgegeben. Mit anderen Worten trete an die Stelle der Unterscheidung des Gehörigen vom Ungehörigen diejenige des Privaten vom objektiv Unverhältnismäßigen. Dass Jakobs eine künftige völlige Freigabe der einverständlichen Körperverletzung als „fortschrittlich“ bezeichnet, mag hier auf sich beruhen bleiben. Andere werden in solchem „Fortschritt“ einen Ausdruck der Dekadenz sehen. Vorliegend interessiert nur, was Jakobs zur geltenden Rechtslage meint. Insoweit fällt der die Problematik verkürzende gedankliche Ansatz auf. Er geht aus von der Freiheit der Person des Einwilligenden, zu der es gehöre, frei über seinen Körper zu bestimmen. Indes, es handelt sich bei der Problematik des § 228 StGB – ebenso wie der des § 216 StGB30 – nicht um die Freiheit des Einwilligenden, sondern um die Frage, ob bzw. wie weit der Einwilligungsempfänger befugt ist, den Eingriff vorzunehmen. Kaum jemand – und auch nicht die Rechtsordnung – bestreitet dem Einwilligenden das aus seiner Personalität entspringende Recht, selbst Hand an sich zu legen. Ein Recht, über die rechtlichen Grenzen der Befugnisse anderer zu Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 518 f. Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 510. 30 Zu diesem vertritt Jakobs parallele Thesen; vgl. Jakobs, FS Arthur Kaufmann, 1993, S. 459; ders., Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998. Gegen jene überzeugend Roxin, FS Jakobs, 2007, S. 571, 574 ff. Eingehende Kritik an der Auffassung, dass der Straftatbestand der Tötung auf Verlangen nicht mit dem Recht der Person auf Selbstbestimmung vereinbar sei, bereits bei Hirsch, FS Welzel, 1974, S. 775 ff. 28 29

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bestimmen, folgt daraus jedoch nicht. Das Bemühen, den Unterschied zwischen Selbstverletzung und Fremdverletzung einzuebnen, lässt unberücksichtigt, dass man es nicht nur mit dem Verhalten verschiedener Personen, sondern auch mit verschiedenen Normadressaten zu tun hat. Was der Fremdverletzer tun darf, bestimmt die auf sein Verhalten blickende Rechtsordnung. Dementsprechend führt auch Jakobs’ Hinweis auf ein Recht auf Privatheit nicht weiter. Denn ganz abgesehen davon, dass es inhaltlich nur einen Teil der Fälle, insbesondere solche des Sexuallebens, betreffen könnte, geht es bei ihm um den Schutz der Privatheit des einzelnen Rechtsinhabers und bildet nicht die rechtliche Legitimation für Handlungen an anderen. Jakobs meint nun allerdings, dass ein durch eine vorliegende Einwilligung gedecktes Verhalten nicht die Person des Einwilligenden verletzen könne, da ein Delikt gegen die Person als „Usurpation fremder Freiheit“ zu verstehen sei.31 Aber es geht bei der körperlichen Unversehrtheit – erst Recht beim Leben – um Güter, die als solche und nicht nur als Dispositionsmasse menschlicher Freiheit einen Wert verkörpern. Jede intakte Rechtskultur nimmt sie als solche in den Blick und lässt sie nicht in einem schillernden Allgemeinbegriff „Freiheit“ verschwinden. Es geht um den Respekt vor der physischen Existenz dieser Güter der Mitmenschen, der veranlasst, dass die Rechtskultur sie zu Rechtsgütern erhebt. Leib und Leben des anderen sind die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Jede Verletzung fremden Leibes oder Lebens wird daher nur innerhalb bestimmter Grenzen als Ausnahme gestattet. Was dabei Einwilligungsfälle betrifft, handelt es sich hinsichtlich des Rechtsguts „fremdes Leben“ um die Notwendigkeit, dieses höchste Gut gegenüber jeglicher Aufweichung zu tabuisieren. Karl Engisch hat das vor vier Jahrzehnten überzeugend dargelegt.32 Und bezüglich des Rechtsguts „fremde körperliche Unversehrtheit“, bei dem Verletzungen anders als beim Tod quantifizierbar sind, ist zwar Dritten ein tolerierbarer Bereich einverständlicher Verletzungen erlaubt, aber von einer gewissen Höhe an verlangt die Gesellschaft auch hier Grenzen. Ohne anerkannte besondere Gründe hat niemand das Recht, einen anderen, auch wenn dieser einwilligt, körperlich schwer zu schädigen. Die Achtung vor der Integrität des Körpers der Mitmenschen richtet hier eine Schwelle auf, die nicht überschritten werden darf. Geht es bei § 216 StGB primär um den Schutz fremden Lebens durch Tabuisierung, so bei § 228 StGB um den Schutz fremder Körperintegrität durch Tabuisierung gegenüber einverständlicher übermäßiger Verletzung oder Gefährdung.33 Von seinem Ausgangspunkt her gelangt Jakobs zu der oben erwähnten Deutung des § 228 StGB: Geschützt werde hier das Interesse der Allgemeinheit, dass die Freiheit, über seine Rechte verfügen zu können, nicht wegen der möglichen ExJakobs, FS Schroeder, S. 507, 518 f. Engisch, FS H. Mayer, 1966, S. 399, 411 ff. 33 Weitere Argumente bei Engisch, FS H. Mayer, S. 399, 409 f., und Hirsch, FS Welzel, S. 775, 779, 791. 31 32

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treme dieser Freiheit in Frage gestellt werden solle, weshalb die Extreme als abstrakt freiheitsbedrohend verboten würden; bei der Einwilligung in eine wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit unverständige Tat bestehe die abstrakte Gefahr, dass die an objektive Verständigkeit gebundene Freiheit in Misskredit gerate. Demgegenüber ist aber zu betonen, dass es in § 228 StGB weniger um die eigenen Rechte des Einwilligenden geht (sie folgen aus der allgemeinen Handlungsfreiheit34), sondern um die Begründung und den Umfang der Eingriffsrechte der straftatbestandsmäßig handelnden Einwilligungsempfänger. Dass der Einwilligende durch seine Zustimmung einen Normschutzverzicht ausspricht, ist zwar Voraussetzung der Eingriffsbefugnis des Einwilligungsempfängers, aber wie weit sich dieser darauf berufen darf, bestimmt die Rechtsordnung in den für ihn geltenden Vorschriften. Es geht bei der „Sittenwidrigkeits-Klausel“ nicht um die Sicherung eigener Freiheitsrechte des Einwilligenden. Deren Bestand ist gar nicht bedroht, auch nicht die grundsätzliche rechtliche Möglichkeit einverständlicher Körperverletzungen. Es handelt sich nur um die Erforderlichkeit der gesetzlichen Begrenzung der Eingriffsbefugnisse von Einwilligungsempfängern aus Erwägungen, wie sie oben genannt worden sind. Auch fragt man sich, wie Jakobs’ Deutung eine Bestrafung wegen „Körperverletzung“ (einschließlich deren Qualifizierungen) stützen kann; es soll doch nur um ein abstraktes Gefährlichkeitsdelikt in bezug auf die Erhaltung der Entfaltungsfreiheit gehen. § 228 StGB ist auch kein Tatbestand, sondern eine Erlaubnisregelung. Der Leser fragt sich zudem, wie man den Wortlaut der geltenden Vorschrift, die vom Sittenverstoß spricht, so ganz beiseite lassen darf. Wenn, wie Jakobs offenbar meint, die guten Sitten nicht mehr in die Zeit passen – was bezüglich des Sexuallebens zutreffen mag, solange es dabei nicht um schwere Körperschäden und -gefahren oder Lebensgefahr geht –, so wäre für ihn eigentlich die Konsequenz, die Vorschrift mangels Subsumierbarkeit für unanwendbar zu erklären. Wendet man sie jedoch an, handelt es sich darum, das Merkmal „Sittenwidrigkeit“ mit einer unter den Begriff subsumierbaren Auslegung zu füllen. Im Ergebnis aber bewegt sich Jakobs in Richtung der Rechtsgutslösung, indem er die durch § 228 StGB gezogene Grenze wie diese nach dem Gewicht der Eingriffe zieht. Begriffe wie „verhältnismäßig“, „verständig“ und „vernünftig“ genügen jedoch als Abgrenzungskriterien nur wenig. Ein solches Begriffsrepertoire, das den im Gesetz verwendeten Begriff „sittenwidrig“ durch drei unbestimmte neue ersetzt, deutet lediglich in die gemeinte Zielrichtung. Das trifft gerade auch für Verständigkeit und Vernunft zu, über die sich bekanntlich trefflich streiten lässt. Interessant ist im Übrigen: Jakobs weist bei seiner Erklärung der in § 228 StGB enthaltenen Begrenzung auf die andernfalls bestehende „abstrakte Gefahr“ hin, dass in den betreffenden Fällen der Einwilligende die verletzende Handlung noch nicht für „vollzugsreif“ hält, oder auf das allgemeine Interesse daran, typischerweise launenbefangene Situationen nicht in einen endgültigen Verlust von er34 Vgl. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 29. Amelung / Eymann, JuS 2001, 937, 940, verweisen auf deren in Art. 2 Abs. 1 GG genannten Schranken.

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heblicher Größe zu überführen. Dies sind Gesichtspunkte, die entgegen Jakobs’ Grundaussagen doch andeuten, dass es um Delikte gegen die Person geht. Er räumt deshalb eine „paternalistische Färbung“ auch selbst ein. Man fragt sich jedoch, wieso das ein Manko darstellen soll. Betrachtet man die heutige europäische Gesellschaft, so spielt für sie die Fürsorge durch den Staat eine dominierende Rolle. Die Mehrheit der Bevölkerung ist weit davon entfernt, im Sozialstaat eine Reglementierung oder gar Bevormundung zu sehen. Das Wort „paternalistisch“ trifft daher nur auf staatliche Exzesse zu, z. B. den Kurierzwang zur Zeit des Absolutismus. Das eigentliche Problem liegt heute auf der entgegengesetzten Seite: beim Abbau von Rechtskultur durch den Libertinismus sich als fortschrittlich ausgebender Kreise. c) Für die Abschaffung der im Gesetz ausgesprochenen Begrenzung tritt auch Frisch ein. Er geht davon aus, dass es bei der Abgrenzung um „Autonomiedefizite“ des Einwilligenden gehe und diese an sich bereits bei den Willensmängeln im Rahmen der allgemeinen Rechtsfigur der Einwilligung zu berücksichtigen seien.35 Damit, dass man die Probleme vom geschriebenen ins ungeschriebene Recht verlagert, werden sie aber nicht gelöst. Im Gegenteil, sie werden vergrößert, weil dann zur Unbestimmtheit noch die Richtung hinzukommt, die einer völligen Freigabe das Wort redet. Die bestehende Vorschrift will Frisch gemäß seiner theoretischen Einordnung der Problematik aus sachlichen Gründen in der Weise auslegen, dass der Verstoß gegen die guten Sitten sich daraus ergebe, dass die in Frage stehende Einwilligung sich nicht mehr als Ausdruck einer autonomen Entscheidung einer vernünftigen Person begreifen lasse.36 Demgegenüber ist jedoch anzuführen, dass es bei der Vernünftigkeit anders als bei den Willensmängeln, insbesondere der fehlenden Einsichtsfähigkeit, nicht darum geht, dass der Betroffene nicht oder nicht ausreichend weiß, was er tut. Auch bildet die Unvernunft nicht ohne weiteres eine Grenze menschlicher Autonomie, vielmehr darf der Mensch grundsätzlich zu seinen Lasten unvernünftig handeln (z. B. sich mit einer der Augenblickslaune entstammenden Tätowierung versehen lassen). Das muss auch Frisch einräumen, so dass er in seinen Fallbeispielen dem Gewicht der körperlichen Eingriffe eine dominierende Rolle bei der Annahme von „Unvernünftigkeit“ beimisst und eine in den Ergebnissen weitgehende Übereinstimmung mit der auf anderem Wege den § 228 StGB restriktiv interpretierenden Rechtsgutslösung konstatiert.37 Darüber hinaus stellt 35 Frisch, FS Hirsch, 1999, S. 485. Auch H. Niedermair vertritt in seiner Monographie über „Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten“ (1999) die Auffassung, dass die „moderne, allgemeine Einwilligungsdogmatik“ schon über die Institute der Einsichtsfähigkeit oder der Willensmängel notwendige Vorkehrungen zum Schutze der Disposition über den eigenen Körper treffe (S. 59 ff., 260), und spricht deshalb vom „Funktionsverlust einer Generalklausel“ (so der Untertitel des Buches). Duttge, GS Schlüchter, 2002, S. 775, 783 Anm. 74, kritisiert dies treffend als „voreilig“. 36 Frisch, FS Hirsch, 1999, S. 485, 490 ff., 498, 504 f. 37 Frisch, FS Hirsch, 1999, S. 485, 501, auch S. 496 ff. sowie S. 503.

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die Vernunft kaum ein bestimmteres Kriterium dar als der Verstoß gegen die an der Tat ausgerichteten guten Sitten. Außerdem birgt ein solcher auf die Entscheidung des Einwilligenden ausgerichteter Maßstab die Gefahr, dass die im Gesetz durch das Wort „Tat“ markierte Grenze zwischen der – für § 228 StGB unbeachtlichen – bloßen Sittenwidrigkeit der Einwilligung und der – zu beachtenden – Sittenwidrigkeit der Körperverletzung eingerissen würde.38 d) Es zeigt sich also, dass die Forderungen nach Abschaffung des § 228 StGB nicht überzeugen und man sich weiterhin mit der Interpretation der Vorschrift zu befassen hat. IV. 1. Den entgegengesetzten Pol zu den vorgenannten „fortschrittlichen“ Konzepten stellt die herkömmliche Zwecktheorie dar. Bis zu den neueren Entscheidungen des BGH ging die h. M. davon aus, dass es für die Sittenwidrigkeit der Tat in erster Linie auf den Zweck der Beeinträchtigung ankomme.39 Bekanntlich hat das Reichsgericht bei Körperverletzung aus sado-masochistischem Motiv (Schlagen, Zwicken, Ritzen der Haut; Schläge mit Reitpeitsche oder Rohrstock), bei Schlägen auf das nackte Gesäß eines dem Knabenalter entwachsenen Jugendlichen und bei ärztlicher Injektion als Gegenleistung für Geschlechtsverkehr Sittenwidrigkeit im Sinne von § 228 StGB angenommen.40 Im Schrifttum ist insbesondere die Körperverletzung zum Zweck der Vorbereitung, Vornahme, Verdeckung oder Vortäuschung einer Straftat genannt worden.41 In seiner Kritik an den von der herkömmlichen Auffassung abweichenden aktuellen Entscheidungen BGHSt 49, 34 und BGHSt 49, 166 hält Kühl alle Ansätze, die den Wortsinn von „gegen die guten Sitten verstößt“ einschränken, für gesetzwidrig und gelangt von daher zu dem Ergebnis, dass alle Bemühungen, die bisherige Zwecktheorie einzuschränken oder durch ein anderes Kriterium zu ersetzen, de lege lata abzulehnen seien.42 Er hält die guten Sitten in ihrer ganzen Breite für einen legitimen Gesichtspunkt der Umgrenzung zulässiger einverständlicher Körperverletzungen.43 38 Zur Unbeachtlichkeit bloßer Sittenwidrigkeit der Einwilligung vgl. BGHSt 4, 88, 91; RGSt 74, 91, 95; Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 228 Rn. 8 f.; h. M. 39 BGHSt 4, 27, 31; RGSt 74, 91, 94; RG JW 1938, 30; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325, 327; BayObLG NJW 1999, 372, 373; BayObLGSt 1977, 105, 106 f.; Eb. Schmidt JZ 1954, 369; Welzel, Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 14 VII 2 c; Stree, in: Schönke / Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 226a a. F. Rn. 7 (jedoch bereits erheblich rechtsgutsbezogen quantitativ eingrenzend Rn. 8 f.); Lackner / Kühl, StGB, 24. Aufl. 2001, § 228 Rn. 10; Berz, GA 1969, 145; auch § 152 E 1962. Daran festhaltend u. a. Lackner / Kühl, 26. Aufl. 2007, § 228 Rn. 10; Paeffgen (o. Fn. 18), § 228 Rn. 54 f. (bei bezweckter Straftat). Weit. Nachw. Fn. 42 ff. 40 Vgl. die Übersicht und Nachweise bei Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 228 Rn. 8. 41 Vgl. die Nachweise bei Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 228 Rn. 8. 42 Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 530; ders., FS Jakobs, 2008, S. 293, 306 ff. 43 Vgl. auch Kühl, FS Otto, 2007, S. 63, 68 ff.

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Sachlich ist dieser Theorie jedoch entgegenzuhalten, dass sie die Rechtsgutsseite verschiebt. Der § 228 StGB bestimmt als Grundsatz, dass die Einwilligung der verletzten Person die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung ausschließt. Die als Ausnahme formulierte Einschränkung, dass die Körperverletzung trotz der Einwilligung nicht sittenwidrig sein darf, muss ihre Erklärung daher bei der Körperverletzung haben, da deretwegen bestraft wird. Infolgedessen scheiden, weil durch die grundsätzliche Freigabe gedeckt, jedenfalls diejenigen Fälle aus, in denen die Körperverletzung für sich betrachtet nicht schwerwiegend, vielfach auch nur Mittler der Verletzung eines dem Verhalten das Gepräge gebenden anderen echten oder vermeintlichen Schutzinteresses ist. So ging es in den Fällen der zu sado-masochistischen Zwecken vorgenommenen leichten Körperverletzungen in Wahrheit nicht um das Ausmaß von körperlichen Verletzungen, sondern um die als sittenwidrig eingestuften Sexualpraktiken. Darauf wird in BGHSt 49, 166, 170, mit Recht hingewiesen. Nicht anders verhält es sich in dem oben genannten weiteren Beispiel der Vorbereitung, Verdeckung etc. einer Straftat. Das eigentliche Schutzinteresse bezieht sich dort auf die Rechtspflege. Kühl meint nun aber, dass man sich an den Wortlaut des Gesetzes zu halten habe, und dieser stelle nun einmal auf jegliche Sittenwidrigkeit der Tat ab. Der Gesetzgeber verweise mit der Verwendung des Begriffs wie in § 138 und § 826 BGB auf die außerrechtliche Sittenordnung in ihrer Gesamtheit.44 Dementsprechend zollt Kühl auch der von außerrechtlichen Maßstäben ausgehenden Auffassung des 3. Strafsenats (BGHSt 49, 34, 40 f.) Beifall. Aber man darf doch nicht außer Betracht lassen, dass im Strafrecht strengere Bestimmtheitsanforderungen als im Zivilrecht gelten. Pauschalverweisungen auf die guten Sitten haben im Strafgesetzbuch nichts zu suchen. Wenn Kühl45 zur Unterstützung seiner Meinung, dass ein „Rückgriff des Strafrechts auf die guten Sitten“ zulässig sei, auf andere Bereiche des deutschen Strafgesetzbuchs verweist, in denen auf die Moral Bezug genommen wird (z. B. bei den Gesinnungsmerkmalen), hat man jedoch zu bedenken, dass es sich entweder nicht um Pauschalverweisungen oder – wie bei dem von Kühl nicht erwähnten § 240 Abs. 2 StGB – um Relikte des Strafrechtsverständnisses der NS-Zeit handelt.46 Eine Interpretation des § 228 StGB in dem Sinne, dass die sozialethischen Anschauungen der Gesellschaft hier von Fall zu Fall zu ermitteln wären, würde wegen des eklatanten Verstoßes gegen rechtsstaatliche strafrechtliche Grundprinzipien darauf hinauslaufen, dass diese strafgesetzliche Vorschrift verfassungsrechtlich nicht mehr zu halten ist. Auf die Notwendigkeit, sie durch Auslegung präziser einzugrenzen, ist daher eingangs bereits hingewiesen worden. Die von Kühl verteidigte wortgetreue, den möglichen Wortsinn in vollem Umfang ausschöpfende Auslegung entspricht aber auch gar nicht der ratio legis des § 228 StGB. Bei dieser geht es nicht um den Gesamtbereich der Sittenordnung, Kühl, FS Jakobs, S. 293, 300. Kühl, FS Jakobs, S. 293, 294, 299 ff. 46 Zur rechtsstaatlichen Problematik der Gesinnungsmerkmale vgl. Jescheck / Weigend, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 472 f., und Hirsch, FS Lüderssen, 2002, S. 253, 258 f. 44 45

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in die Körperverletzungen involviert sind, sondern um die Verhinderung von Körperverletzungsexzessen, die sich aus der grundsätzlichen Zulässigkeit einverständlicher Verletzungen des durch die §§ 223 ff. StGB geschützten Rechtsguts ergeben können. Es handelt sich bei der Verweisung auf die Sittenwidrigkeit von vornherein nach der ratio legis nur um einen partiellen Bereich, dessen Grenzen sich nach rechtlichen Maßstäben bestimmen: nämlich denjenigen, die eine Ausgewogenheit zwischen der rechtlichen Zulassung einverständlicher Körperverletzung einerseits und dem rechtlichen Respektierungsbedürfnis des geschützten Rechtsguts andererseits gewährleisten. Dem Gesetzgeber ist die Formulierung „nicht gegen die guten Sitten verstößt“ nur deshalb eingefallen, weil er sich nicht imstande sah, die Kriterien im einzelnen anzugeben, und weil zum Zeitpunkt der Schaffung der Vorschrift Generalklauseln besonders beliebt waren.47 Die ratio legis ergibt, dass es dabei hier lediglich um einen rechtlich begründeten Teilbereich der Sittenwidrigkeit geht. Dies bedeutet keinen „Abschied des Strafrechts von den guten Sitten“, wie die Überschrift von Kühls Stellungnahme in der Jakobs-Festschrift nahelegt.48 Es bedarf keiner Erläuterung, dass die bei restriktiver Auslegung der Sittenwidrigkeitsklausel verbliebenen Fälle gegen die guten Sitten verstoßen. Die guten Sitten werden nicht verabschiedet, sondern es findet eine Herausarbeitung derjenigen Fälle statt, um die es rechtlich bei der Vorschrift geht. De lege ferenda erkennt im übrigen auch Kühl49 an, dass eine größere Bestimmtheit des Gesetzes anzustreben ist. Unter Hinweis auf die Rechtsgutslösung hat er dabei als Kriterium das „besondere Gewicht des tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs“ im Blick. Jedoch fragt er sich, ob es nicht doch Fälle gebe, in denen dieses Kriterium nicht vorliegt, die aber „wegen ihres Verstoßes gegen die guten Sitten i.S. eines moralisch-ethischen Kriteriums doch einer Rechtfertigung durch Einwilligung nicht zugänglich sein sollten“. Ein Beispiel dafür nennt er aber nicht, und die sachliche Legitimation bleibt ebenfalls unbeantwortet. 2. Auch die meisten anderen Autoren bejahen die sachliche Notwendigkeit einer Begrenzung der Zulässigkeit einverständlicher Körperverletzungen, begrüßen aber im Gegensatz zu Kühl und der herkömmlichen Auffassung bereits de lege lata eine restriktive Auslegung des Merkmals der Sittenwidrigkeit. Jedoch besteht unter ihnen keine völlige Einigkeit über die Begründung und die Kriterien, wie insbesondere die Stellungnahmen zu den beiden BGH-Entscheidungen zeigen. a) Duttge50 moniert an den Entscheidungen „erschreckende Begründungsdefizite“. Er kritisiert die erwähnten gegensätzlichen Ausgangspunkte. Dem 3. Senat wirft er den „verwegenen Versuch“ einer unvermittelten Inanspruchnahme „außer47 48 49 50

Die Vorschrift ist als § 226a StGB im Jahre 1933 ins Gesetz aufgenommen worden. Kühl, FS Jakobs, S. 293. Vgl. Kühl, FS Schroeder, S. 521, 534. Duttge, NJW 2005, 260.

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rechtlicher, ethisch moralischer Kategorien“ vor, deren Bedeutungsgehalt nicht durch einen „Akt normativ-wertender Gesetzesauslegung“, sondern allein auf empirischem Wege durch „Feststellung bestehender Moralüberzeugungen“ aufgeklärt werden solle. Duttge51 fragt, ob die „neuzeitliche Trennung von Recht und Moral wie überhaupt der kategoriale Graben zwischen Empirie und Normativität denn völlig spurlos am Erkenntnishorizont des BGH vorübergegangen“ sei. Im vorhergehenden ist schon deutlich geworden, dass eine Auslegung des in § 228 StGB verwendeten Begriffs „sittenwidrig“, soll sie rechtsstaatlichem Strafrecht genügen, mit dem Blick auf die ratio legis und damit rechtliche Gesichtspunkte erfolgen muss. Das ändert jedoch nichts daran, dass Duttges Kritik völlig überzogen ist. Kein angesehener Rechtsphilosoph hat je behauptet, dass eine limitierende gesetzliche Bezugnahme auf die guten Sitten als Verstoß gegen die Unterscheidung von Recht und Moral unzulässig sei. Der § 138 BGB ist nie in Frage gestellt worden, und auch an der einschränkenden Bezugnahme auf das Sittengesetz in Art. 2 Abs. 1 GG wird mit Recht kein Anstoß genommen. Außerdem hat bei § 228 StGB nicht erst der 3. Strafsenat des BGH, sondern der Gesetzgeber selbst durch Verwendung des Begriffs der guten Sitten die inhaltlich missverständliche Spur gelegt. Duttges Kritik52 an der vom 2. Strafsenat gegeben Begründung führt ebenfalls in Ton und Inhalt nicht weiter. Er begrüßt zwar mit Recht, dass dort auf rechtliche Maßstäbe abgestellt wird, kritisiert jedoch, dass diese sich „unseliger Verabsolutierung des Gemeinschaftsdenkens zum Trotz und ungeachtet des verfassungsrechtlich fundierten (Freiheits-),Rechts zur Selbstaufgabe‘ aus einem ,sozialen Interesse am Erhalt der Rechtsgüter (scil. auf Leben und körperliche Unversehrtheit) auch gegen den Willen des Betroffenen‘ speisen sollen“. Aber weder hat die in § 228 StGB ausgesprochene Limitierung etwas mit dem „unseligen Gemeinschaftsdenken“ der NS-Zeit zu tun, noch geht es bei der Fremdverletzung um das verfassungsrechtlich verbürgte Recht zu Selbstaufgabe“. Das wurde oben dargelegt. Nach Auffassung Duttges53 soll der Verstoß gegen die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde das ausschlaggebende Kriterium sein. In der Tat wäre mit Art. 1 GG ein unmittelbarer rechtlicher Anknüpfungspunkt gegeben. Aber dessen Unschärfe würde kaum geringer sein als die der Sittenwidrigkeit, und auch inhaltlich handelt es sich um keinen geeigneten Gesichtspunkt. Darauf haben bereits Roxin und Sternberg-Lieben hingewiesen.54 Die Verrechtlichung der Menschenwürde hat diesem dem Naturrecht entnommenen Begriff keine klaren Konturen verliehen. Eher ist das Gegenteil der Fall, da er durch das Bundesverfassungsgericht immer mehr in juristische Kleinmünze verwandelt worden ist. Es geht Duttge, NJW 2005, 260. So schon ders. (o. Fn. 35), S. 783 ff. Duttge, NJW 2005, 260. 53 Duttge, NJW 2005, 260, 261. 54 Roxin, Allg. Teil I, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 55; Sternberg-Lieben, JuS 2004, 954, 956; auch Kühl, FS Jakobs, S. 293, 306 f. 51 52

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bei ihr auch nicht um körperverletzungsspezifische Aspekte. So kann die Menschenwürde verletzt sein, wenn jemand sich zur Gaudi des Publikums mit einer Hundepeitsche auf dem Marktplatz das Gesäß „versohlen“ lässt oder wenn ein Antisemit sich den Judenstern der NS-Zeit mit einer herabwürdigenden Parole auf den Rücken tätowieren lässt. Unter körperverletzungsspezifischen Aspekten und mit dem Blick auf eine Bestrafung des Täters wegen Körperverletzung lässt sich ein solches Verhalten nicht erfassen; denn die für diese ausschlaggebende physische Verletzung ist gering. Gegenüber der Rechtsgutslösung, wie sie vom 2. Strafsenat im Anschluss an Teile des Schrifttums vertreten wird, erhebt Duttge den Einwand, dass sie widersprüchlich sei.55 Man könne nicht einerseits nur objektiv auf das Gewicht der Körperverletzung (deren Schwere oder besondere Gefährlichkeit) abstellen und dabei den verfolgten Zweck für unerheblich erklären, andererseits aber bei Überschreiten der objektiven Grenze dann doch wieder dem positiven Zweck Bedeutung beimessen. Wenn und soweit die mit dem Eingriff in die körperliche Integrität verbundenen „positiven“ Intentionen der Annahme eines Körperverletzungsunrechts entgegenstünden, müssten „gleichsam spiegelbildlich die ,negativen‘ Zwecksetzungen ebenfalls relevant sein“. Dieser Einwand ist schwer nachzuvollziehen. Auf Gründe der Logik kann er sich jedenfalls nicht stützen. Wie oben aufgezeigt, besagt die Rechtsgutslösung, dass die körperliche Unversehrtheit bis zur Grenze gewichtiger Körperschäden und großer und konkreter Gefahren für das Leben oder jene Schäden grundsätzlich zu rechtswirksamer Disposition freigegeben ist, ohne dass dabei Zweckgesichtspunkte eine Rolle spielen. Die betreffende einverständliche Körperverletzung kann also ebenso einem negativen wie einem positiven Zweck dienen oder gar keinen Zweck erkennen lassen. Sobald diese quantitative Grenze überschritten ist, besteht noch die Möglichkeit, dass ein vorrangiger, rechtlich anerkannter Zweck die Zulässigkeit noch erweitert. Beispielsweise ist die einverständliche, aber medizinisch nicht indizierte Preisgabe eines Auges für sich genommen wegen der Schwere einer solchen Einbuße rechtswidrig. Dient sie jedoch der Spende des Auges an einen andernfalls Blinden, kommt gleichwohl Rechtfertigung in Betracht. Die Gesetze der Logik besagen nicht, dass eine Erweiterung des Bereichs des Zulässigen einer Verengung auf der anderen Seite entsprechen muss. Das läuft auch nicht darauf hinaus, dass auf jener zweiten Ebene das geschützte Rechtsgut, d. h. die körperliche Unversehrtheit, aus dem Blick kommt. Fehlt dort jener positive Aspekt, so bleibt es bei einer rechtswidrigen Körperverletzung. Nach alledem fallen die von Duttge gegen den BGH gerichteten verbalen Ausfälle eher auf seine eigenen Ausführungen zurück. 55 Duttge, NJW 2005, 260, 262, auch ders. (o. Fn. 35), S. 779 f. Das wendet ebenfalls Stree, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 228 Rn. 7 ein; siehe aber auch die den Einwand einschränkende Stellungnahme bei Stree, NStZ 2005, 40, 41.

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b) Im Unterschied zu den vorgenannten Autoren hält Hardtung es für grundsätzlich richtig, § 228 StGB im Sinne der Rechtsgutslösung zu verstehen.56 Er ist jedoch der Auffassung, es lasse sich insgesamt die Formel aufstellen, dass die Rechtsordnung dann einen Grund habe, die Tat trotz der Einwilligung für rechtswidrig zu erklären, „wenn die drohenden Nachteile außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen“.57 Das ist jedoch für diesen Bereich eine zu ökonomische Sichtweise, die einerseits den Bereich des Zulässigen sachwidrig einschränkt, andererseits ihn zu weit ausdehnt. So kann auch bei leichten Körperverletzungen der Nachteil größer sein als der Vorteil. Zu erinnern ist an das Beispiel, dass sich jemand aus einer Augenblickslaune heraus eine nur operativ schwer entfernbare Tätowierung aufschwatzen lässt. Bei Hardtung heißt es, dass man der Einwilligung die unrechtsausschließende Wirkung erst dann absprechen könne, wenn nicht mehr nachvollziehbar sei, dass der Einwilligende die Vor- und Nachteile der Tat „verständig“ gewürdigt haben könnte.58 Jedoch ist demgegenüber darauf hinzuweisen, dass bei einverständlichen Körperverletzungen, solange sie nicht schwerwiegende Verletzungen oder Gefahren aufweisen, auch die völlig unverständige Körperverletzung zulässig sein kann. Auf der anderen Seite kann für jemand, der ohnehin zu dauernder Benutzung eines Rollstuhls gezwungen ist, die gegen einen hohen Geldbetrag erfolgende Amputation beider Beine (etwa zu Forschungszwecken) sich angesichts seiner wirtschaftlichen Situation als bedachter Vorteil darstellen. Gleichwohl schließt das objektive Ausmaß der Schädigung die Zulässigkeit aus. Sobald die Grenze zu schwerwiegenden Eingriffen überschritten ist, geht es weder allgemein um Vor- oder Nachteile – schon gar nicht nach der subjektiven Einschätzung durch den Einwilligenden – noch um jeden positiven Zweck, sondern es muss ein rechtlich anerkannter besonderer Zweck sein. Die Hauptbeispiele sind: Organspenden (bei paarigen Organen)59 und nach der Auffassung, die Heileingriffe als tatbestandsmäßige Körperverletzungen ansieht, medizinisch indizierte schwere Eingriffe.60 Dagegen genügen bloße positive Zwecke wie Erzielen sportlicher Höchstleistungen, neue Forschungsergebnisse, Verbesserung des Familienetats, religiös bedingtes Opfer und dergleichen nicht, um die Überschreitung jener Grenze zu kompensieren. 3. Nach Sichtung der zu den beiden BGH-Entscheidungen erfolgten Stellungnahmen lässt sich als Ergebnis festhalten, dass die in der Entscheidung des 2. StrafHardtung, Jura 2005, 401, 404. Hardtung, Jura 2005, 405. 58 Hardtung, Jura 2005, 405. 59 Zur Frage, ob medizinisch indizierte Heileingriffe unter den Tatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung fallen, obwohl es bei ihnen nicht um Schädigung, sondern Besserung des Körperzustands geht, näher Lilie, in: LK-StGB (o. Fn. 8), Vor § 223 Rn. 3 ff. m. w. N. 60 Zu nun in diese Richtung gehenden Meinungsänderungen im Schrifttum siehe die Nachweise bei Roxin (o. Fn. 54), § 13 Rn. 38 ff., und Fischer (o. Fn. 38), § 228 Rn. 9 ff. 56 57

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senats (BGHSt 49, 166) vertretene Rechtsgutslösung die grundsätzlich sachgemäße und der ratio legis entsprechende Deutung des § 228 StGB darstellt.

V. 1. Was nun die Konturen im einzelnen betrifft, geht es um die genauere Markierung von zwei Grenzen. Im Vordergrund steht nach der Rechtsgutslösung die am Gewicht und Ausmaß der Körperverletzung orientierte Grenze, bis zu der eine generelle Beachtlichkeit der Einwilligung besteht, ohne dass es auf ein positives Motiv des Täters ankommt. Die zweite Grenze betrifft die Einwilligungsfälle, die von diesem Bereich nicht mehr gedeckt sind, aber wegen des rechtlich anerkannten besonderen Zwecks auch noch gerechtfertigt werden. Betrachten wir den die grundsätzliche Orientierung wiedergebenden ersten Bereich: Für die Limitierung bietet hier das Strafgesetzbuch selbst Anhaltspunkte in dem Katalog der Schweren Körperverletzung (§ 226 StGB). Da dieser kasuistisch und mithin lückenhaft ist, lassen sich darüber hinaus Anhaltspunkte dem neuerdings im Strafgesetzbuch enthaltenen Begriff der schweren Gesundheitsschädigung (§ 225 StGB) entnehmen. Bei diesem geht es um Gesundheitsschäden, die mit einer anhaltenden nachhaltigen Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Leistungsfähigkeit verbunden sind oder in einer lebensbedrohenden, qualvollen oder ernsten und langwierigen Krankheit bestehen. Einen Sonderfall bildet die Sterilisation. Der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit ist in § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB unter den Schweren Körperverletzungen aufgeführt. Andererseits sieht die heutige h. M. sie als durch Einwilligung gerechtfertigt an, ohne dass es auf einen positiven Zweck ankommt (sog. Gefälligkeitssterilisation), vorausgesetzt, dass die notwendige Einsichtsfähigkeit beim Einwilligenden vorliegt.61 Die Diskrepanz der Einstufung als Schwere Körperverletzung einerseits und der Berechtigung des Arztes zur Vornahme des vom Patienten ohne nachvollziehbaren Grund gewünschten Eingriffs andererseits ergibt sich aus den für den Sexualbereich heute geltenden Maßstäben. Was den zweiten Bereich betrifft, d. h. denjenigen, bei dem trotz der Verletzung ein rechtlich anerkannter positiver Inhalt die Beachtlichkeit der Einwilligung begründen kann, ist zu betonen, dass er nicht groß ist, wenn man den medizinisch indizierten und lege artis ausgeführten Heileingriff abweichend von der – ihn als tatbestandsmäßige Körperverletzung einstufenden – Rechtsprechung beiseite lässt. Das wurde oben schon aufgezeigt.62 61 Zur Entwicklung der strafrechtlichen Beurteilung der „Gefälligkeitssterilisation“ seit der die Strafbarkeit verneinenden Entscheidung BGHSt 20, 81 im einzelnen Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 228 Rn. 40 f. Zu beachten ist der durch das BetreuungsG von 1990 eingeführte § 1631c BGB, der ein Verbot der Sterilisation Minderjähriger bewirkt hat. Auch wird es bei jungen Volljährigen unter 25 Jahren regelmäßig an der notwendigen Einsichtsfähigkeit mangeln.

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2. a) Erörterungsbedürftig sind dagegen Fälle, in denen eine einverständliche Körperverletzung noch nicht in einer schweren Körperschädigung besteht, sondern die Frage der Sittenwidrigkeit sich wegen einer mit ihr verbundenen Gefahr für Leib oder Leben stellt. Auch in den beiden BGH-Entscheidungen handelt es sich um solche Fälle. In beiden Sachverhalten bestand Lebensgefahr für die Opfer, und darauf ist dort abgestellt worden. Es ging um die Herbeiführung konkreter Gefahrlagen, im einen Fall aufgrund des drogenbedingten desolaten Gesundheitszustands und des hohen Alkoholisierungsgrades des Opfers, im anderen Fall aufgrund des verwendeten Tatmittels in einem körperlichen Risikobereich. Bloße Gefährlichkeit des Verhaltens würde jedenfalls für die Sittenwidrigkeit nicht genügen; denn der § 228 StGB betrifft, wie oben aufgezeigt worden ist, denjenigen Teil der Sittenwidrigkeit, der sich auf das Gewicht und das Ausmaß der konkreten Körperverletzung stützt. Das Vorliegen bloßer Gefährlichkeit hat darauf noch keinen Einfluss. Deshalb ist die ungefährliche Injektion eines Betäubungsmittels trotz des darin liegenden sog. abstrakten Gefährdungsdelikts des Betäubungsmittelgesetzes kein Fall, der sittenwidrig im Sinne des § 228 StGB ist. Das wird auch in BGHSt 49, 34, 42, so gesehen. Es kommt wegen der Notwendigkeit einer konkreten Beeinträchtigung des Opfers erst eine konkrete Gefährdung in Betracht. Ob und ggf. wann sie ausreichend ist, bedarf aber noch weiterer Erörterung: Es ist vorgebracht worden, dass es doch zahlreiche Fälle gebe, bei denen jemand einer lebensbedrohlichen Handlung ausgesetzt werde und dies gleichwohl wegen der Einwilligung zulässig sei.63 Zu denken ist insbesondere an die umfangreiche Judikatur zu den Mitfahrer-Fällen. Nach heutiger h. M. ist hier eine rechtfertigende Einwilligung, und zwar auch bei eintretendem Erfolg, anzunehmen.64 Solche Fälle unterscheiden sich aber von den zur Erörterung stehenden dadurch, dass es bei ihnen nicht um eine vorsätzliche Körperverletzung geht, mit der im betreffenden Fall eine konkrete Gefährdung verbunden ist, sondern allein und noch um ein in Bezug auf das Leben sorgfaltswidriges Handeln. Beim fahrlässigen Delikt, hier der fahrlässigen Tötung, besteht die verbotene Handlung in dem sorgfaltswidrigen gefährlichen Verhalten. Dieses ist regelmäßig noch so weit vom Erfolgseintritt entfernt, dass eine Einwilligung des Opfers, das sich dem Risiko aussetzt, die Sorgfaltswidrigkeit rechtfertigt. Kommt es zum Erfolgseintritt, sind die Voraussetzungen der Strafbarkeit nicht erfüllt, weil es wegen der Einwilligung an einer rechtswidrigen sorgfaltswidrigen Handlung fehlt.65 Anders stellen sich die Dinge dar, wenn wie bei den zur Erörterung stehenden Fällen eine bereits 62 Weitere Fälle siehe bei Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 228 Rn. 12 ff. Besonders hinzuweisen ist auf die im KastrationsG angegebenen Sachverhalte, in denen eine freiwillige Kastration gestattet ist. 63 Arzt, JZ 2005, 103, 104 (mit Beispielen aus dem alpinen Bereich). 64 Zu den Mitfahrer-Fällen und weiteren Beispielen der Einwilligung in „Risikohandlungen mit Verletzungtendenz“ in einzelnen Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 20), Vor § 32 Rn. 106 f., ders., in: LK-StGB (o. Fn. 8), § 228 Rn. 13, § 229 Rn. 32 m. w. N. 65 Vgl. Hirsch, FS BGH, 2000, S. 199, 217 f.

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vorsätzliche Körperverletzung, die das Opfer in eine lebensgefährdende Lage bringt, Gegenstand der Bewertung ist. b) Eine weitere Frage lautet nun aber, wie es sich bei diesen Fällen – in denen die Unzulässigkeit nicht auf der Schwere des einverständlichen vorsätzlichen Körperverletzungserfolgs, sondern auf der Lebensgefahr beruht, die von der für sich allein gesehen einwilligungsfähigen vorsätzlichen Körperverletzungshandlung ausgeht, – mit Konsequenzen verhält, die sich bei Eintritt einer Todesfolge für den Tatbestand der (vorsätzlichen) Körperverletzung mit Todesfolge ergeben. In beiden BGH-Entscheidungen ging es um solche Sachverhalte. Das tatbestandlichen Vorliegen des § 227 StGB ist dort von den Senaten bejaht worden. Die Bestrafung aus dieser Vorschrift wurde in BGHSt 49, 34 nur verneint, weil der Täter sich im Irrtum über die konkrete Lebensgefahr befand und deshalb ein Erlaubnissachverhaltsirrtum vorlag, den der 3. Senat mit der h. M. analog zum Tatbestandsirrtum behandelt hat. Auch ist in BGHSt 49, 166, wo ein solcher Irrtum nicht gegeben war, der 2. Senat bemüht gewesen, die Konsequenzen der Vorschrift abzumildern, und zwar durch den Verweis auf einen minder schweren Fall nach § 227 Abs. 2 StGB. Jakobs will das Eingreifen des § 227 StGB von vornherein auf folgende Weise ausschließen: Eine einverständliche vorsätzliche Körperverletzung, die kein Übermaß an Verletzungen zum Inhalt habe und deshalb zulässig sei, falle schon gar nicht unter die Tatbestandsmäßigkeit. Infolgedessen fehle es, wenn aufgrund von Lebensgefahr der Tod die Folge sei, schon am Vorliegen des Grundtatbestands des § 227 StGB.66 Dass eine zulässige Einwilligung – nach Jakobs jedenfalls eines mangels ausreichenden Gewichts der Körperverletzung zulässige – schon den Tatbestand der Körperverletzung ausschließt, wird auch von anderen Autoren vertreten.67 Man beruft sich darauf, dass durch die §§ 223 ff. StGB die körperliche Unversehrtheit nicht schon als solche, sondern als Teil der Autonomie der Person geschützt sei. Diese Auffassung wird jedoch von der h. M. abgelehnt. Der BGH geht in seinen Entscheidungen mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass eine Einwilligung die Tatbestandsmäßigkeit der Körperverletzung unberührt lässt und erst als Rechtfertigungsgrund in Betracht kommen kann.68 Auch der Gesetzgeber sieht das so, wie die Formulierung „nicht rechtswidrig“ in § 228 StGB zeigt. Amelung hat das seiner tiefschürfenden Untersuchung der Einwilligungsproblematik ebenfalls zugrunde gelegt.69 Die sachliche Erklärung dafür bildet, dass die Rechtsordnung die körperJakobs, FS Schroeder, S. 507, 514 f. So Roxin, ZStW 85 (1973), 76, 100 f.; ders. (o. Fn. 54), § 13 Rn. 11 ff.; Maurach / Zipf, Allg. Teil I, 8. Aufl. 1992, § 17 Rn. 30 ff., 39 ff.; Rudolphi, ZStW 86 (1974), 68, 87; Weigend, ZStW 98 (1986), 44, 61. 68 Vgl. BGHSt 49, 34, 40 f., 44, und BGHSt 49, 166, 171, 173, 175, 176. 69 Amelung, Einwilligung (o. Fn. 34), S. 16, 117 f., passim.Nachdrücklich auch wieder in: Amelung / Eymann (o. Fn. 34), S. 938 f. 66 67

Einwilligung in sittenwidrige Körperverletzung

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liche Unversehrtheit – und nichts anderes gilt für das Leben – in ihrer physischen Existenz zum Rechtsgut erhebt. Niemand wird bestreiten wollen, dass auch bei Vorliegen einer Einwilligung die körperliche Unversehrtheit durch den Eingriff verletzt wird. Es ist hier eben ein Schutzgut vorhanden, das unabhängig vom Willen des Rechtsgutsinhabers besteht. Soll in dieses Gut eines anderen Menschen zulässigerweise eingegriffen werden, bedarf es daher einer Gestattung durch einen Rechtfertigungsgrund. Schon aus diesen Erwägungen scheitert daher die von Jakobs zu § 227 StGB vertretene Auffassung.70 Hinzu kommt noch ein zweiter Einwand: Die in § 227 StGB den Grundtatbestand bildende vorsätzliche Körperverletzung lässt sich bei der Frage der „Sittenwidrigkeit“ der Einwilligung nicht in der von Jakobs angenommenen Weise isoliert betrachten. Vielmehr haftet ihr hier konkret an, dass sie eine Körperverletzung ist, die einen anderen in Lebensgefahr bringt. Infolgedessen geht es darum, ob eine einverständliche Körperverletzung, die einen solchen konkreten Inhalt hat, als sittenwidrig im Sinne des § 228 StGB zu bewerten ist. Jakobs meint: Solange die konkrete Gefahr sich nicht im Eintritt des Todeserfolgs realisiert, würde „kein Hahn mehr nach der Angelegenheit krähen“.71 Aber eine solche Einschätzung liegt nicht am mangelnden Unrechtsgehalt, sondern an den im Blickfeld stehenden Fallbeispielen (Sexualität und Drogenkonsum in Wohnungen), die in häuslicher Abgeschirmtheit begangen werden. Nehmen wir die Fallkonstellation aus der Abgeschirmtheit heraus und stellen uns vor, in einem Nachtlokal würde eine derartige lebensgefährdende Würgeaktion vorgeführt oder eine Drogeninjektion an einer in desolatem körperlichen Zustand befindlichen Person würde öffentlich stattfinden. Soll hier etwa keine tatbestandlich-unzulässige Körperverletzung vorliegen? Vom Gegebensein des tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Grunddelikts sind die beiden BGH-Entscheidungen daher mit Recht ausgegangen und angesichts der eingetretenen Todesfolge zum Tatbestand des § 227 StGB gelangt. Zu prüfen ist nun aber noch, ob sich aus dem tatsächlichen Vorliegen einer Einwilligung nicht eine strafrechtlich relevante Unrechtsminderung ergibt. Ein vergleichender Blick auf § 216 StGB liegt nahe. Ein ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Verletzten bewirkt nach dieser Vorschrift eine Privilegierung vom Verbrechen zum Vergehen (mit erheblich niedrigerem Strafrahmen). Hat diese Bewertung nicht erst Recht für Fälle der auf Verlangen des Opfers erfolgten rechtswidrigen Körperverletzung zu gelten? Es wäre dann an eine Sperrwirkung des § 216 StGB für derartige Fälle zu denken, so dass § 227 StGB verdrängt würde und es bei § 224 StGB bliebe. Fraglich ist jedoch, ob man die Dinge nur unter dem Blickwinkel der abstrakten Wertdifferenz der Rechtsgüter Leib und Leben sehen darf. Zwar verlangt § 216 StGB nicht, dass es um die Abkürzung einer bereits zum Tode führenden Phase des Opfers geht. Aber diese vielfach tragischen Fälle geben der Vorschrift 70 Weitere Argumente für die h. M. bei Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 20), Vor § 32 Rn. 98 m. w. N. 71 Jakobs, FS Schroeder, S. 507, 514.

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Hans Joachim Hirsch

dennoch das Gepräge. Bei den Sachverhalten unzulässiger einverständlicher Körperverletzung handelt es sich dagegen in aller Regel nicht um vergleichbare Gründe. Für die Rechtsordnung ist es schwerwiegend, wenn die durch § 228 StGB gezogenen Grenzen zulässiger einverständlicher vorsätzlicher Körperverletzung derart überschritten werden, dass der Tod die Folge ist. Das spricht dafür, es dabei bewenden zu lassen, den sich aus dem tatsächlichen Vorliegen einer Einwilligung ergebenden Milderungsgesichtspunkt lediglich durch Einstufung der Tat als minder schweren Fall nach § 227 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen.72 c) Fragt man nach dem Grund der Gleichstellung von einverständlichen vorsätzlichen Körperverletzungen, die selbst in einem schwer schädigenden Eingriff bestehen, und solchen, bei denen es um konkrete Lebensgefahr geht, so ergibt er sich daraus, dass die Einwilligung am Anfang des Geschehens liegt und deshalb das Sittenwidrigkeitsurteil aus der ex-ante Sicht getroffen werden muss. Darauf weist übrigens auch der BGH hin.73 3. Aus dem letztgenannten Grund beansprucht das, was für die Lebensgefahr als Gefahr des körperlichen Exitus zu gelten hat, ebenfalls Geltung für diejenige vorsätzliche Körperverletzung, die bereits mit einer Gefahr der schweren Leibesschädigung verbunden ist. 4. Es verbleibt die Frage nach dem Grad der Gefährdung. Die Richtung ist schon damit gewiesen, dass der Einwilligende durch die Körperverletzung konkret gefährdet, nämlich in eine konkrete Gefahrlage gebracht sein muss. Es geht dabei um die beim konkreten Gefährdungsdelikt entwickelten Gesichtspunkte. Danach kommt es darauf an, dass das betroffene Gut (hier Leib oder Leben des Einwilligenden) in einen ungewöhnlichen, regelwidrigen Zustand gerät, bei dem die Möglichkeit des Eintritts des drohenden Schadens „naheliegt“.74 VI. Abschließend lässt sich feststellen, dass die beiden Entscheidungen des BGH die Klärung der Probleme der Einwilligung in sittenwidrige Körperverletzungen einen bedeutenden Schritt vorangebracht haben. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat entgegen der Kritik durch einzelne Autoren keinen Anlass, den jetzt eingeschlagenen Kurs erneut zu überdenken. Notwendig ist nur, dass die Gesichtspunkte noch deutlicher präzisiert werden, damit die Instanzgerichte sich auf vollends sicherem Boden bewegen können.

72 Für Sperrwirkung des § 216 StGB noch Hirsch, JR 2004, 475, 477, was aber aus den vorgenannten Gründen nicht zu halten ist. 73 BGHSt 49, 166, 173. 74 RGSt 30, 178, 179; BGHSt 8, 28, 32 f.; 18, 271, 272 f.; st. Rspr. Näher dazu Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 55), Vor § 306 ff. Rn. 5 m. w. N.

Der Täter hinter dem Täter – oder die Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel Von Volker Krey und Marcel Nuys

I. Einleitung Der Begriff Glasperlenspiel hat bei dem Nobelpreisträger Hermann Hesse noch eine durchaus positive Bedeutung: In seinem berühmten Roman „Das Glasperlenspiel“1 über den Magister Ludi Josef Knecht geht es um eine zukünftige Welt, in der sich Gelehrte vollkommen aus der übrigen Gesellschaft zurückgezogen haben, abgeschieden in der Provinz Kastalien leben und sich dem Glasperlenspiel hingeben, einer Art abstrakter Synthese aller Wissenschaften und Künste. Allerdings erkennt bereits Josef Knecht die Gefahren einer solchen Separation der Gelehrtenwelt. Heute hingegen ist der Begriff Glasperlenspiel (dogmatisches Glasperlenspiel) überwiegend negativ besetzt, und zwar im Sinne einer selbstzweckhaften, eitlen Beschäftigung mit Begriffen oder Theorien ohne Wirklichkeitsbezug – im Bereich der Rechtswissenschaft: ohne Entscheidungserheblichkeit. Dieses negative Verständnis wird besonders in der gelegentlich zu findenden bösartigen Übersetzung „fooling around“2 deutlich. Vom Studienbeginn bis heute sind die Verfasser immer wieder auf das „Vorurteil“ gestoßen, unter Strafrechtlern gäbe es eine Neigung zum Glasperlenspiel. Gerüchteweise sollen etwa Zivilrechtler und Öffentlichrechtler dieses Vorurteil hegen. Und in der Tat gibt es eine Reihe von Indizien dafür, dass Strafrechtswissenschaftler das Glasperlenspiel lieben. Insoweit sei etwa an die zahllosen Theorien zur Bewältigung so alltäglicher Fälle wie das Hinausschicken geisteskranker Knechte in ein Gewitter, auf dass ein Blitz sie erschlagen möge, erinnert. Im Folgenden geht es den Verfassern um die These, dass die heute heiß diskutierte Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter letztlich ein Glasperlenspiel ohne wirkliche Entscheidungsrelevanz ist, zu allem Überfluss ein Glasperlenspiel ohne tragfähige Fundierung im geltenden Recht (§ 25 StGB).

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1943 im Verlag Fretz & Wasmuth, Zürich, veröffentlicht. Üblicher ist jedoch die neutralere Übersetzung „Glass Bead Game“.

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Volker Krey und Marcel Nuys

II. Der klassische Fall der mittelbaren Täterschaft – das Werkzeug ist selbst nicht Straftäter der fraglichen Vorsatztat 1. Entwicklung der mittelbaren Täterschaft zur Schließung von Strafbarkeitslücken Bekanntlich ist die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft in Rechtsprechung und Lehre zunächst entwickelt worden, um Strafbarkeitslücken zu schließen: a) Missbrauch eines unvorsätzlich handelnden Werkzeugs Dies ist noch heute der klassische Fall, in dem die Figur der mittelbaren Täterschaft strafbegründende Wirkung entfaltet. Anstiftung und Beihilfe, zudem Mittäterschaft verlangen ja eine vorsätzliche Haupttat.3 Fehlt es beim Werkzeug (Tatmittler), dem „anderen“ im Sinne des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, am Vorsatz, so kann der Hintermann weder Mittäter noch Teilnehmer sein.4 Hier ist die Figur der mittelbaren Täterschaft unverzichtbar, um unerträgliche Fälle von Straflosigkeit zu verhindern. Das gilt unabhängig davon, ob das Werkzeug gänzlich straflos agiert oder immerhin wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft werden kann. b) Missbrauch eines schuldlos handelnden Werkzeugs (Kind, Geisteskranker, etc.) Hier geht es darum, dass der Hintermann die Tat durch einen anderen begehen lässt, der aus folgenden Gründen ohne Schuld agiert: – § 19 StGB; – § 3 JGG, wenn bei dem jugendlichen Werkzeug in casu die Schuld zu verneinen ist; – § 20 StGB; – § 17 S. 1 StGB; – § 35 Abs. 1 StGB.

3 Das war für die Teilnahme vor der gesetzgeberischen Klärung in §§ 26, 27 StGB (in Kraft seit 1. 1. 1975) strittig, wurde aber bereits in BGHSt 9, 370, 375 – 382 (1956) überzeugend begründet. Für die Mittäterschaft lässt sich nicht ernstlich bestreiten, dass sie nur für Vorsatztaten normiert ist. Das folgt eindeutig aus der systematischen Stellung und der ratio legis des § 25 Abs. 2 StGB; denn § 25 StGB betrifft nur Vorsatztaten, und §§ 26, 27 StGB gelten ebenfalls nur für vorsätzliche Delikte. Die Ausdehnung der Mittäterschaft auf Fahrlässigkeitstaten (Nachweise hierzu sowie zur ganz herrschenden Gegenmeinung bei Krey, AT 2, 3. Aufl. 2008, Rn. 552) wäre unzulässige Gesetzeskorrektur. 4 Dazu u. a. Krey (o. Fn. 3), Rn. 26, 29, 166 ff., 223. – Siehe schon o. Fn. 3.

Der Täter hinter dem Täter

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In solchen Fällen war früher weder Anstiftung noch Beihilfe möglich, da Teilnahme eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Tat verlangte (Akzessorietät). Mithin war die Figur der mittelbaren Täterschaft hier ebenfalls strafbegründend und zur Vermeidung unerträglicher Strafbarkeitslücken unverzichtbar.5 2. Annahme mittelbarer Täterschaft zur Vermeidung von Straftaten ohne Straftäter Jene Strafbarkeitslücke (schuldloses Werkzeug) ist durch die Einführung der limitierten Akzessorietät entfallen: Seit 1943 verlangt Teilnahme nicht mehr, dass die Haupttat schuldhaft ist (§§ 26, 27, 29 StGB).6 Indes ist das Institut der mittelbaren Täterschaft auch für die Fälle des schuldlosen Werkzeugs noch heute sinnvoll, ja unverzichtbar. Denn andernfalls gäbe es beispielsweise bei der Verleitung eines Kindes oder Geisteskranken zum Mord einen Mord ohne Täter.7 Genauer: Das Werkzeug ist mangels Schuld nicht als Straftäter der fraglichen Vorsatztat verantwortlich; der verleitende Hintermann wäre ohne die Figur der mittelbaren Täterschaft nur als Anstifter strafbar. Die letztere Aussage bedarf freilich der folgenden Präzisierung: Der Hintermann kann auch bloßer Gehilfe sein, und zwar dann, wenn das Werkzeug schon fest zu der fraglichen Tat entschlossen war (omnimodo facturus). Dass mittelbare Täterschaft durch Ausnutzung eines schuldlosen Werkzeugs auch in der Alternative möglich ist, dass der Hintermann nicht zur Tat verleitet (Anstiftung), sondern zu ihr nur Hilfe leistet (Gehilfe), wird zwar oft übersehen, versteht sich aber der Sache nach von selbst.8 Die Figur der mittelbaren Täterschaft durch schuldlos handelndes Werkzeug, auch wenn der Hintermann ohne die Figur der mittelbaren Täterschaft nicht straflos, sondern als Teilnehmer strafbar wäre, gehört daher ebenfalls zu Recht zu den klassischen Fällen mittelbarer Täterschaft.9 5 Zu dieser früheren (strengen) Akzessorietät siehe u. a.: RGSt 70, 26, 27; Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, Vor §§ 25 ff. Rn. 21 f.; Joecks, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, Vor §§ 26, 27 Rn. 17; Roxin, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2003, Vor § 26 Rn. 23 f. Zur mittelbaren Täterschaft durch schuldlos handelndes Werkzeug siehe: Frank, Das StGB . . . , 18. Aufl. 1931, S. 107, 171; v. Hippel, Deutsches Strafrecht Band 2, 1930 (Neudruck 1971), S. 297, 473, 476 f.; Krey (o. Fn. 3), Rn. 104, 105, 107 – 109, 112 f., 123 ff., 127 – 129, 148 ff., 151 ff.; v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Erster Band, 26. Aufl. 1932, S. 327 f.; Roxin, a. a. O. Vor § 26 Rn. 25 mit § 25 Rn. 118 ff. 6 Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), Vor §§ 25 ff. Rn. 22 f.; Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Vor § 26 Rn. 27; Joecks, in: MK-StGB (o. Fn. 5), Vor §§ 26, 27 Rn. 17; Roxin, in LK-StGB (o. Fn. 5), Vor § 26 Rn. 23; Tröndle / Fischer, StGB, 53 Aufl. 2006, Vor § 25 Rn. 8; § 26 Rn. 10, § 29 Rn. 2, 3. 7 Krey (o. Fn. 3), Rn. 109, 111, 123 – 126. 8 Dazu m. w. N. (auch zu differenzierenden Äußerungen) Krey (o. Fn. 3), Rn. 124 – 126.

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Volker Krey und Marcel Nuys

Anders ist es jedoch, entgegen einer verbreiteten Auffassung, wenn der an der rechtswidrigen Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) eines Schuldlosen Beteiligte gemäß § 25 Abs. 2 StGB als strafbarer Mittäter agierte: 3. Keine mittelbare Täterschaft, wenn der Hintermann schon als Mittäter strafbar ist Im Einzelfall kann beim Hintermann statt Anstiftung (oder Beihilfe) sogar Mittäterschaft in Frage kommen, was folgende Fälle verdeutlichen sollen: Fall 1: Der volljährige H verleitet den 12-jährigen W, gemeinschaftlich den O zu verprügeln. Dabei kennt H das Alter des W. Hier haben H und W aufgrund gemeinsamen Tatentschlusses und gemeinschaftlich handelnd den Tatbestand der §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt; H ist also der Mittäterschaft zur Gefährlichen Körperverletzung schuldig. Dass W gemäß § 19 StGB ohne Schuld agierte, ist nach § 29 StGB irrelevant.10 Fall 2: – Abwandlung von Fall 1 – H verleitet den W zu einem gemeinschaftlichen Raubüberfall: Der stämmige W schlägt den O ins Gesicht; dem benommenen O nimmt der H dann gewaltlos die Brieftasche weg. Auch hier kennt H das Alter des W. In casu haben H und W aufgrund gemeinsamen Tatentschlusses im Wege funktioneller Tatherrschaft11 den Tatbestand des Raubes erfüllt. H hat zwar nur die Wegnahme durchgeführt und W nur die Gewaltanwendung als Mittel zur Wegnahme; H muss sich aber das Verhalten des W wie eigenes zurechnen lassen, § 25 Abs. 2 StGB. Der Umstand, dass W schuldlos handelte, lässt auch hier die Mittäterschaft nicht entfallen. Jedoch stellt sich in beiden Fällen die Frage, ob H – erstens nur der Mittäterschaft zu §§ 223, 224 bzw. zu § 249 StGB schuldig ist, – zweitens nicht als Mittäter, sondern, da er das Alter des W kennt12, als mittelbarer Täter wegen dieser Taten zu bestrafen ist oder – drittens kumulativ jene Delikte in Mittäterschaft und mittelbarer Täterschaft begangen hat.

9 Vgl. nur Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), § 25 Rn. 12; Krey (o. Fn. 3), insbesondere Rn. 123 ff. m. w. N.; Roxin, in: LK-StGB (o. Fn. 5), § 25 Rn. 118 ff. 10 Dazu u. a.: Krey (o. Fn. 3), Rn. 109, 202; Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 29 Rn. 1; Roxin, AT 2, 2003, § 25 Rn. 237. 11 Roxin (o. Fn. 10), § 25 Rn. 188 ff.; ebenso u. a. Krey (o. Fn. 3), Rn. 36, 165, 191 ff. 12 Bekanntlich verlangt der subjektive Tatbestand des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB Kenntnis des Hintermannes von den Tatsachen, die seine mittelbare Täterschaft begründen (Roxin [o. Fn. 10], § 25 Rn. 158 ff.).

Der Täter hinter dem Täter

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Diese Problematik ist noch nicht hinreichend geklärt; zu ihr sei nur so viel gesagt: a) Die mittelbare Täterschaft hat bekanntlich die Funktion, Strafbarkeitslücken beim Hintermann zu schließen und zu vermeiden, dass es Straftaten ohne Täter gibt.13 Im Fall der Begehung der Tat durch ein Kind oder einen Geisteskranken als „anderen“ (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) geht es zwar nicht um die Vermeidung von Strafbarkeitslücken; denn auch ohne Annahme von mittelbarer Täterschaft wäre der Hintermann strafbar: – bei Verleitung des Werkzeuges als Anstifter zu der fraglichen Haupttat, – bei Hilfeleisten zu der Haupttat des Werkzeuges als Gehilfe.

Doch ist die Bejahung von mittelbarer Täterschaft sachgerecht, da wir anderenfalls Straftaten ohne Straftäter hätten.14 Schon deswegen ist die Mindermeinung, mittelbare Täterschaft könne bei frühreifen Kindern entfallen, verfehlt; eine solche Frühreife berührt erstens nicht die Schuldlosigkeit des Werkzeuges, und ändert zweitens bei faktischer und normativer Betrachtung auch nichts an der Tatherrschaft des Hintermannes.15 Die zusätzlich zur mittelbaren Täterschaft vorliegende Teilnahme tritt dabei im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück.16 Wenn freilich in casu das Zusammenwirken von Hintermann und schuldlos handelndem Werkzeug Mittäterschaft begründet, bedeutet diese Konstellation: Bereits ohne Eingreifen von mittelbarer Täterschaft ist der Hintermann als Täter der fraglichen Vorsatztat strafrechtlich verantwortlich, nämlich als Mittäter. In diesem Fall spricht weder der Gesichtspunkt des Ausschlusses von Strafbarkeitslücken noch der Aspekt der Vermeidung von Straftaten ohne Straftäter dafür, den „Lückenfüller“ § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB zusätzlich heranzuziehen. b) Weiterhin wäre es ein Systembruch, bei ein und derselben Tat neben die Mittäterschaft noch ergänzend oder gar an ihre Stelle die mittelbare Täterschaft treten zu lassen: Das gemeinschaftliche Zusammenwirken aufgrund gemeinsamen Tatentschlusses des strafrechtlich verantwortlichen „Hintermannes“ mit einem schuldunfähigen Mittäter (§§ 25 Abs. 2, 29 StGB) begründet nach der klaren gesetzlichen Konzeption Mittäterschaft für beide – die dabei für ersteren strafbar, für letzteren mangels Schuld straflos ist –. Keineswegs tritt zusätzlich oder an die Stelle der Mittäterschaft für den Hintermann mittelbare Täterschaft: Die Konstellation der Mittäterschaft eines SchuldKrey (o. Fn. 3), Rn. 109, 111, 123 – 126. Siehe Fn. 13. 15 Zum Vorstehenden m. w. N. pro und contra Krey (o. Fn. 3), Rn. 123. 16 RGSt 62, 74, 75; 63, 133, 134; 70, 293, 296; BGH NStZ 1994, 30; Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), Vor §§ 25 ff. Rn. 33; Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 6), Vor § 26 Rn. 29; Krey (o. Fn. 3), Rn. 109 mit Fn. 128; Lackner / Kühl (o. Fn. 10), Vor § 25 Rn. 13. 13 14

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Volker Krey und Marcel Nuys

fähigen mit einem Schuldlosen hat in §§ 25 Abs. 2, 29 StGB eine klare gesetzliche Lösung gefunden, die als lex specialis den Rückgriff auf mittelbare Täterschaft sperrt. Dabei hat der Gesetzgeber diese Regelung in Kenntnis der Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft durch Verleitung eines schuldlos handelnden Werkzeugs erlassen. Mag auch das Vorliegen von Teilnahme an der schuldlosen Tat eines Haupttäters den Rückgriff auf die mittelbare Täterschaft nicht ausschließen, weil wir andernfalls keinen strafbaren Täter der fraglichen Haupttat hätten17, so ist die Situation bei Mittäterschaft des Hintermannes gänzlich anders: Er, als schuldhaft Handelnder, muss sich in den Fällen 1 und 2 gemäß § 25 Abs. 2 mit § 29 StGB das Verhalten des schuldlos agierenden anderen Mittäters wie eigenes zurechnen lassen. Es erscheint sinnlos, diese spezielle täterschaftliche Zurechnung qua § 25 Abs. 2 StGB durch die gemäß § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB zu ergänzen oder gar zu ersetzen.18 c) Schließlich widerspricht die Ersetzung oder Ergänzung des § 25 Abs. 2 StGB durch § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB auch dem Wortlaut des Gesetzes: In den Fällen 1 und 2 lässt sich angesichts der mittäterschaftlichen Begehung der Tat und der Zurechnung des Verhaltens des W aus § 25 Abs. 2 mit § 29 StGB beim besten Willen nicht sagen, H habe die Tat durch einen anderen begangen (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB): Die gemeinschaftliche Begehung steht dem entgegen. Damit fehlt es an dem entscheidenden Tatbestandsmerkmal der mittelbaren Täterschaft. Die denkbare These, H sei Mittäter bezüglich seines Tatbeitrages und mittelbarer Täter bezüglich des Tatbeitrages des W19, wäre sachwidrig. Sie würde die gemeinschaftliche Begehung verfälschen und das Geschehen unzulässig atomisieren. Es bleibt also dabei: Als Mittäter hat H die Tat nicht durch W begangen, sondern mit ihm gemeinschaftlich. d) Im Übrigen würde in Fällen wie den geschilderten die Bejahung von mittelbarer Täterschaft ungeachtet der Strafbarkeit des „Hintermannes“ als Mittäter zu nicht überzeugend lösbaren Konkurrenzproblemen führen: Die Annahme von Idealkonkurrenz20 erscheint wenig sachgerecht: Ein und dieselbe Tat durch ein und denselben Tatbeitrag kann man nicht in zwei unterschiedlichen Formen der Täterschaft begehen; im Übrigen würde Idealkonkurrenz einen erhöhten Unrechtsgehalt ausdrücken. Für einen Vorrang der mittelbaren Täterschaft vor der Mittäterschaft gibt es keine einleuchtenden Gründe; im Gegenteil wäre eher die Bewertung von s. o. im Text unter II.2. und 3.a) und b). Der Mitautor Krey gibt hiermit seinen abweichenden Standpunkt in AT 2 (o. Fn. 3), Rn. 202 auf. 19 In diesem Sinne offenbar Lackner / Kühl (o. Fn. 10), § 29 Rn. 1. 20 So offenbar Lackner / Kühl (o. Fn. 19): Die mittelbare Täterschaft verbinde sich mit der Mittäterschaft des Hintermannes zum Ganzen der Tat; ebenso Roxin, in: LK-StGB (o. Fn. 5), § 25 Rn. 171. 17 18

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Mittäterschaft als lex specialis sachgerecht, und zwar wegen der Normierung in § 25 Abs. 2 mit § 29 StGB. e) Ergebnis: Nach der hier vertretenen Auffassung ist in Fall 1 und 2 keine mittelbare Täterschaft des H zu bejahen; sie entfällt schon tatbestandlich. Der Gegenstandpunkt (Annahme auch von mittelbarer Täterschaft) müsste zumindest zum Vorrang der Mittäterschaft im Wege der Gesetzeskonkurrenz führen. Mithin ist die Figur der mittelbaren Täterschaft neben der Mittäterschaft ein rechtspolitisch überflüssiges und im Übrigen strafrechtsdogmatisch fragwürdiges Konstrukt; ihre Bejahung im Schrifttum ist letztlich nichts anderes als ein Glasperlenspiel21. III. Der Täter hinter dem Täter – das Werkzeug ist selbst Straftäter der fraglichen Vorsatztat Die bisherigen Ausführungen legen den folgenden Standpunkt nahe: Mittelbare Täterschaft setzt voraus, dass – ohne diese Figur unerträgliche Strafbarkeitslücken beim Hintermann bestehen oder – ohne Bejahung der mittelbaren Täterschaft Straftaten ohne Straftäter vorliegen würden.

Demgemäß entfällt mittelbare Täterschaft, wenn – der Hintermann als Mittäter der gemeinschaftlich mit einem Schuldlosen begangenen Tat strafbar (oben II.3.) oder – das Werkzeug selbst als Straftäter der fraglichen Vorsatztat verantwortlich ist.

1. Ablehnung des Täters hinter dem Täter als Erscheinungsform mittelbarer Täterschaft, wenn „Hintermann“ und „Werkzeug“ als Mittäter strafbar sind Basis der mittelbaren Täterschaft ist das „Verantwortungsprinzip“22: Da das Werkzeug nicht selbst als Täter der fraglichen Straftat verantwortlich ist, fungiert allein der Hintermann als Zentralgestalt des Geschehens; er allein beherrscht das fragliche Verbrechen oder Vergehen (Willensherrschaft)23 und ist daher als Straftä21 So jüngst die spontane Reaktion eines Zivilrechtslehrers, dem der Mitautor Krey die Ansicht von der mittelbaren Täterschaft neben der Mittäterschaft geschildert hatte. Letzterer muss freilich einräumen, früher selber „mitgespielt“ zu haben (AT 2 [o. Fn. 3], Rn. 202). 22 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 21 / 63, 94, 101, 103; Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, § 62 I 2, 3, II 5, 8; Krey (o. Fn. 3), Rn. 99 ff., 104 ff., 113, 115 ff., 121, 131, 150, 163; Maiwald, ZStW 93 (1981), 892 f.; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht, AT I, 5. Aufl. 2004, 12 / 52 – 57. Ebenso im Grundsatz Zieschang, FS Otto, 2004, S. 505, 519 (mit Ausnahme bei vermeidbarem Verbotsirrtum des Werkzeugs, S. 520, 524). Zu den kritischen Stimmen unten im Text s. u. 3. und 4.

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ter verantwortlich. Ihm wächst die beim ausgenutzten Werkzeug fehlende strafrechtliche Verantwortlichkeit als eigene zu. Das Verantwortlichkeitsprinzip nun deckt beide dargelegten Konstellationen (oben II.1. und 2.) der mittelbaren Täterschaft ab: – die Schließung sonst bestehender Strafbarkeitslücken beim Hintermann und – die Verhinderung von Straftaten ohne Straftäter.

Dieses Verständnis der mittelbaren Täterschaft hat zur Folge, dass es keinen Täter hinter dem Täter gibt. Wenn das Werkzeug („der andere“) selbst als Täter der fraglichen Straftat verantwortlich ist, kann der Hintermann zwar als Mittätertäter oder Teilnehmer strafbar sein, nicht aber als mittelbarer Täter. a) Für Mittäterschaft des Hintermannes sollte diese Einsicht eigentlich selbstverständlich sein; hierfür sprechen schon die Ausführungen unter II.3. dieses Beitrages. Wenn schon der Mittäter in den Fällen der Schuldlosigkeit des anderen Mittäters nicht mittelbarer Täter ist, sondern als Straftäter der fraglichen Tat gemäß §§ 25 Abs. 2, 29 StGB zur Verantwortung gezogen wird, so gilt dieser Ausschluss der mittelbaren Täterschaft erst Recht, wenn neben dem Hintermann auch der „andere“ als Mittäter strafbar ist. Insoweit ist der Gegenstandpunkt – Ersetzung bzw. Ergänzung strafbarer Mittäterschaft durch mittelbare Täterschaft – vollends verfehlt und läuft, wie noch zu zeigen sein wird, auf ein Glasperlenspiel hinaus, und zwar auf ein „Spiel“ ohne strafrechtsdogmatische Fundierung. Denn hier fehlt es für die Annahme von mittelbarer Täterschaft nun wirklich an jeder denkbaren kriminalpolitischen Notwendigkeit und dogmatischen Basis: Wie schon beim schuldlosen Mittäter geht es auch hier erstens nicht um die Verhinderung von Strafbarkeitslücken beim Hintermann und zweitens auch nicht darum zu vermeiden, dass es Straftaten ohne Straftäter gibt. Darüber hinaus kann sich die Bejahung von mittelbarer Täterschaft im Falle der Strafbarkeit von „Hintermann“ und „Werkzeug“ als Mittäter drittens noch nicht einmal auf den denkbaren Aspekt berufen, der Hintermann wäre ohne die Bejahung der Figur des Täters hinter dem Täter nur als Teilnehmer strafbar. Dieser Aspekt aber dürfte bei Roxin und anderen Vertretern der Tatherrschaftslehre im engeren Sinne24 der Hauptgrund für die Bejahung des Täters hinter dem Täter sein: Hitler, Himmler und Honecker sollen nach Roxin offenbar nicht als bloße Anstifter zu den von ihnen befohlenen Verbrechen davonkommen – worauf an späterer Stelle einzugehen ist. b) Die Feststellung, der Täter hinter dem Täter als Erscheinungsform mittelbarer Täterschaft sei jedenfalls dann nicht anzuerkennen, wenn Hintermann und Werk23 Gropp, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2005, § 10 Rn. 38; Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 6), § 25 Rn. 13, 27; Krey (o. Fn. 3), Rn. 52, 53, 54, 71, 86, 152; Kühl, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2005, § 20 Rn. 27; Roxin (o. Fn. 10), § 25 Rn. 28 ff. 24 Roxin (o. Fn. 10), § 25 Rn. 198 ff. m. w. N.; ihm folgend u. a.: Krey (o. Fn. 3), Rn. 56, 191, 194, 197 ff. m. w. N.; Rudolphi, FS Bockelmann, 1979, S. 369, 372 ff.; s. u. 2. vor a).

Der Täter hinter dem Täter

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zeug als Mittäter der fraglichen Vorsatztat strafbar sind, ist aus einem einfachen Grunde von zentraler Bedeutung: Die neuere Judikatur des BGH (unten 4.) und die heute h.L.25, beide Anhänger der Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter als Erscheinungsform strafbarer mittelbarer Täterschaft, würden auch ohne diese Figur in grundsätzlich allen Fällen ihrer Annahme zu Täterschaft gelangen; genauer: zur Strafbarkeit des Hintermannes als Mittäter26. Überraschenderweise wird aber von BGH und h.L. diese Mittäterschaft schlicht ersetzt durch mittelbare Täterschaft; dies i.d.R. – ohne ausreichendes Problembewusstsein, – ohne Begründung für die Ersetzung von Mittäterschaft durch mittelbare Täterschaft und – ohne Eingehen auf sich aufdrängende Konkurrenzfragen.

Auf diese Auswechselung von Mittäterschaft durch mittelbare Täterschaft wird die Darstellung eingehender zurückkommen. Sie ist kriminalpolitisch ohne Sinn und strafrechtsdogmatisch verfehlt, kurz: ein „gutes“ Beispiel bloßen Glasperlenspiels. Insoweit gelten die Ausführungen unter II. 3. dieses Beitrages erst recht [oben a)], wobei mit Nachdruck an die folgenden Selbstverständlichkeiten erinnert sei: Erstens ist die mittelbare Täterschaft als subsidiäre Form der Täterschaft konzipiert; sie soll keineswegs Fälle erfassen, in denen „Hintermann“ und „Werkzeug“ als Mittäter der Tat strafrechtlich verantwortlich sind: Die mittelbare Täterschaft dient schon tatbestandlich nicht der kumulativen Ergänzung zu den Fällen von Mittäterschaft. Zweitens gibt es keinen Vorrang des „Lückenfüllers“ mittelbare Täterschaft vor der Mittäterschaft: Erstere soll Letztere keineswegs ersetzen. 2. Keine Anerkennung der Figur des Täters hinter dem Täter zwecks Vermeidung bloßer Anstifterstrafbarkeit des Hintermannes Die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter ist aber auch dann nicht anzuerkennen, wenn der Hintermann an der Straftat des „anderen“ lediglich als Teilnehmer beteiligt ist27 – wobei i.d.R. Anstiftung vorliegen wird. Diese Einsicht gewinnt primär Bedeutung, wenn man im Anschluss an Roxin der Tatherrschaftslehre im engeren Sinne28 folgt. Sie verlangt bekanntlich für die 25 Genauer: Diejenigen Vertreter der h.L., die der dominierenden Tatherrschaftslehre im weiteren Sinne anhängen (dazu an späterer Stelle). 26 Dazu an späterer Stelle im Text (s. u. 4. und 5.). 27 Dazu unten im Text (s. u. 6.). 28 Siehe Fn. 24.

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Annahme von Mittäterschaft Mitbeherrschung der Tat im Ausführungsstadium. Das hat, wenn man die Figur des Täters hinter dem Täter ablehnt, namentlich die folgenden Konsequenzen: – im Katzenkönig-Fall wäre die Mitangeklagte H, gewissermaßen der Hintermann des Mordversuchs durch R, nur der Anstiftung zu diesem Verbrechen schuldig29; – der Mafiaboss (Pate) wäre bei von ihm angeordneten „mafiaähnlich organisierten Verbrechen“ ebenfalls lediglich Anstifter30; – entsprechend wären Hitler, Himmler und Honecker als Hintermänner von NSbzw. SED-Verbrechen nicht als Täter, sondern nur als Anstifter strafbar31.

a) Daher mag es nach dem Maßstab des Rechtsgefühls nachvollziehbar sein, wenn Roxin insbesondere für die Fälle der von ihm so genannten Organisationsherrschaft (Schreibtischtäter) die Figur des Täters hinter dem Täter anerkannt hat, um – trotz seiner Tatherrschaftslehre im engeren Sinne – die Hintermänner von Verbrechen kraft organisatorischer Machtapparate als Täter erfassen zu können, wobei er primär NS-Verbrechen im Auge hatte. Insoweit könnte man von der Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter zur Vermeidung einer bloßen Strafbarkeit des Hintermannes als Anstifter sprechen. Letztlich dürfte eine so eingesetzte mittelbare Täterschaft Ausfluss des berechtigten Unbehagens an der Beteiligtenform der Anstiftung sein. Diese ist nämlich ein unbefriedigend geregelter „Zwitter“. Nach ihrem Strafrahmen steht sie der Täterschaft gleich; nach ihrer systematischen Einordnung in §§ 25 ff. StGB ist sie aber gerade keine Form der Täterschaft: Der Täter begeht die Tat, nicht der Anstifter als bloßer Teilnehmer. Die Regelung der Anstiftung ist dem Gesetzgeber daher misslungen, da sie bei wertender Betrachtung in sich widersprüchlich ist.32 b) De lege lata bieten sich dabei zwei Möglichkeiten an, um jene Diskrepanz zwischen Verneinung von Täterschaft einerseits und Strafdrohung wie für den Täter andererseits bei der Anstiftung zu bereinigen: aa) § 26 StGB müsste durch folgende Regelung ergänzt werden: „Die Strafe kann jedoch nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden.“33 bb) Die Anstiftung könnte nach dem Vorbild des portugiesischen Codígo Penal (Artigo 26)34 als besondere Form der Täterschaft (autoria) ausgestaltet werden, 29 Siehe schon Krey (o. Fn. 3), Rn. 149 ff., 160, 191 ff., 197, 199, zu den Konsequenzen der Tatherrschaftslehre im engeren Sinne. Näher unten im Text (s. u. 6.). 30 Krey (o. Fn. 3), Rn. 201; näher unten im Text (s. u. 6.). 31 Krey (o. Fn. 3), Rn. 201; ebenso u. a.: Herzberg und Köhler zu den Hintermännern der Todesschüsse an der ehemaligen innerdeutschen Grenze (Nachweise bei Krey [o. Fn. 3]). 32 Alternativentwurf eines StGB, AT, 2. Aufl. 1969, S. 66 – 68; Jakobs (o. Fn. 22), 22 / 31; Krey (o. Fn. 3), Rn. 17 – 22 m. w. N.; Roxin (o. Fn. 10), § 26 Rn. 182. 33 In diesem Sinne die in Fn. 32 Genannten.

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und zwar als vierte Form neben der unmittelbaren Täterschaft, der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft.35 Die einzige Teilnahmeform wäre dann, wie im portugiesischen Recht (Artigo 27, cumplicidade), die Beihilfe.36 c) Von diesen Möglichkeiten mag man nun die Strafrahmen-Lösung oder die Aufwertung zur Täterschaft bevorzugen – wobei jedenfalls der Mitautor Nuys als Rechtsvergleicher eher letzterer Lösung zuneigt –. Dagegen ist Roxins Standpunkt kein Königsweg zur (Teil-)Lösung jener misslungenen Anstiftungs-Konzeption des deutschen Rechts. Seine Ausweitung der mittelbaren Täterschaft als Instrument zur Verhinderung bloßer Anstifter-Strafbarkeit des Hintermannes (oben 2.) ist in gleicher Weise mit dem geltenden Recht unvereinbar wie die Figur des Täters hinter dem Täter schlechthin.37 34 Artigo 26 (Autoria) lautet: „É punível como autor quem executar o facto, por si mesmo ou por intermédio de outrem, ou tomar parte directa na sua execução, por acordo ou juntamente com outro ou outros, e ainda quem, dolosamente, determinar outra pessoa à prática do facto, desde que haja execução ou começo de execução“. Frei übersetzt: Als Täter wird bestraft, wer die Tat selbst oder durch einen anderen begeht, oder wer unmittelbar an der Tatausführung mitwirkt, und zwar aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses und mit einer anderen Person gemeinschaftlich. Darüber hinaus wird als Täter bestraft, wer vorsätzlich eine andere Person zu einer Tat bestimmt, die ausgeführt wird oder deren Ausführung zumindest begonnen wird. 35 Zum portugiesischen System von Täterschaft und Teilnahme (Participação na Comparticipação) im Allgemeinen und zum portugiesischen Verständnis des Anstifters (instigador) als moralischer Täter (autor moral) im Besonderen, vgl. Germano Marques da Silva, Direito Penal Português, Parte Geral II Teoria do Crime, 1998, S. 279, 281 ff. 36 Artigo 27 (Cumplicidade) lautet „1. É punível como cúmplice quem, dolosamente e por qualquer forma, prestar auxílio material ou moral à prática por outrem de um facto doloso. 2. É aplicável ao cúmplice a pena fixada para o autor, especialmente atenuada.“ Frei übersetzt: 1. Als Komplize wird bestraft, wer zumindest vorsätzlich oder in einer anderen Form [dolus eventualis] einem anderen zu einer Tat Hilfe leistet und zwar entweder durch materielle oder moralische Unterstützung. 2. Auf den Komplizen ist die Strafe für den Täter anzuwenden. 37 Zum Folgenden eingehend und m. w. N. Krey (o. Fn. 3), Rn. 99 – 104, 112 – 114, 147 – 163, 521. Im Ergebnis zustimmend u. a.: Jakobs (o. Fn. 22), 21 / 63, 94, 101, 103; Jescheck / Weigend (o. Fn. 22), § 62 I 3, II 8; Joerden, JZ 2001, 310, 311 f.; Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, Kap. 9 II 2.4.2.2., 4.4.3.; Krey, Jura 1979, 316, 325. Ebenso grundsätzlich (mit Ausnahme nur für den Fall des im vermeidbaren Verbotsirrtum handelnden Werkzeugs): Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, S. 305, 307, 308; Zieschang (o. Fn. 22). Dagegen bejaht die h.L. die Möglichkeit des Täters hinter dem Täter [dazu unten im Text 4.a)]; bahnbrechend insoweit Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, 1965. So zuletzt u. a. Schünemann, FS Schroeder 2006, S. 401 ff. (m. w. N.) mit seinem Abstellen auf Tatherrschaftsstufen; weitere Nachweise bei Krey (o. Fn. 3), Rn. 100 mit Fn. 15. Nicht sonderlich präzise G. Wolf, FS Schroeder a. a. O., S. 415 ff., mit seiner überraschenden These (S. 427), Handeln „durch einen anderen“ („mittelbare Täterschaft“) gebe es nicht.

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3. Der Täter hinter dem Täter schlechthin: eine unnötige und unzulässige Rechtsfigur a) Diese Rechtsfigur widerspricht dem dargelegten Verantwortungsprinzip als Basis der mittelbaren Täterschaft [oben 1. vor a)]. b) Der Täter hinter dem Täter findet zudem keine normative Fundierung im StGB: Dass mehrere Beteiligte als Straftäter ein Verbrechen oder Vergehen begehen können, anerkennt das Gesetz zwar in § 25 StGB, aber nur in der Form der Mittäterschaft. Dagegen ist die Vorstellung der Begehung einer Straftat durch das Zusammenwirken eines Hintermannes als mittelbarer Täter und eines von ihm beherrschten Werkzeuges als unmittelbarer Täter systemwidrig. Eine solche gemeinsame Täterschaft ohne gemeinschaftliche Begehung im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB kennt das Gesetz nicht – zumal sie, wie dargelegt, unnötig ist. c) Weiterhin widerspricht die Lehre vom Täter hinter dem Täter auch dem Wortlaut des Gesetzes (§ 25 Abs. 1 Alt. 1 StGB). Ist das Werkzeug selbst strafbarer Täter der fraglichen Vorsatztat, verbietet der Sprachgebrauch des täglichen Lebens die Feststellung: der Hintermann habe die Tat „durch einen anderen“ begangen; vielmehr ist es das Werkzeug, das die Tat begeht. Die Annahme, beide hätten die Tat begangen, ist nur im Rahmen der Mittäterschaft möglich – es sei denn, man wollte, was freilich wegen des Zusammenwirkens beider fernliegend wäre, Nebentäterschaft annehmen –. d) Die Anerkennung des Täters hinter dem Täter verwässert weiterhin die Tatherrschaftslehre: Der Täter ist die Zentralgestalt des Geschehens, er hat die Tatherrschaft inne, er begeht die Straftat. Hiervon kann man schwerlich sprechen, wenn der „andere“ (das Werkzeug) selbst als Zentralgestalt fungiert, d. h. selbst die Tat beherrscht und selbst die Straftat begeht. Eine gemeinschaftliche Tatherrschaft (funktionale Tatherrschaft als Mitherrschaft) kennt das Gesetz zwar durchaus, aber eben nur bei der Mittäterschaft. Im Übrigen ist Roxin vorzuwerfen: Der rechtsstaatliche Zugewinn an Rechtssicherheit und Gesetzestreue, den seine Tatherrschaftslehre i.e.S. bei der Mittäterschaft erreicht hat, wird in erheblichem Umfang wieder preisgegeben, wenn man wie er in wichtigen Fällen, die nach dieser Lehre bloße Anstiftung beim Verleitenden begründen können, unter Berufung auf die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter qua Organisationsherrschaft doch zur Täterschaft gelangt. Damit wird zugleich die Tatherrschaftslehre erheblich konturenloser. e) Schließlich begründet das Kunstprodukt des Täters hinter dem Täter insbesondere die folgenden neuen Abgrenzungsprobleme: aa) Müssten die Anhänger dieser Rechtsfigur, soweit sie im Falle vermeidbaren Verbotsirrtums des Werkzeugs (Katzenkönig) beim Hintermann mittelbare Täterschaft in der Form des Täters hinter dem Täter bejahen38, dann nicht konsequenter38

Dazu unten im Text 4. b, c.

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weise auch in anderen Konstellationen des Ausnutzens eines mit verminderter Schuld handelnden Werkzeugs so verfahren? Diese Frage stellt sich insbesondere bei folgenden „Defiziten“ des Werkzeugs: – bei verminderter Schuldfähigkeit des Werkzeuges, § 21 StGB39; – bei Jugendlichen als Werkzeug, wenn in casu Schuldfähigkeit gemäß § 3 JGG vorliegt40; – beim i.S. des § 240 StGB rechtswidrig genötigten Werkzeug, wenn dessen Schuld in casu nicht nach § 35 StGB entfällt41.

bb) Bejaht man wie der BGH und die h.L. mittelbare Täterschaft bei NS- und SED-Unrecht sowie bei Mafiaverbrechen für die Machthaber bzw. den Paten, auch wenn die „Vollzugsorgane“ (z. B. SS-Angehörige, Grenzsoldaten bzw. Mafiakiller) selbst Straftäter der fraglichen Verbrechen sind42, so stellen sich u. a. die folgenden Abgrenzungsprobleme, die kaum willkürfrei zu lösen sind: – wo liegt die Grenze zwischen einer größeren Bande und einer mafiaähnlichen Organisation? – wo beginnt in staatlichen Unrechtsregimen die Grenze zwischen der politischen / militärischen Führungsschicht einerseits und den, wenn auch herausgehobenen, sonstigen Amtsträgern andererseits?43

Im Übrigen gibt es vergleichbare Abgrenzungsprobleme, wenn man wie der BGH die Figur des Täters hinter dem Täter auch bejaht, soweit es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit kraft Organisationsherrschaft (Schreibtischtäter) „beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen“ geht44 – wobei die h.L. gegen diese Gleichstellung von Wirtschaftskriminalität mit NS- bzw. SED-Unrecht und Mafiaverbrechen Bedenken äußert. 39 So in der Tat Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), § 25 Rn. 41. Differenzierend: Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 29 Rn. 141; Roxin (o. Fn. 10), § 25 Rn. 149 ff. Verneinend zu Recht die h.L.: Jakobs (o. Fn. 22), 21 / 94; Jescheck / Weigend (o. Fn. 10), § 62 II 4 m. w. N.; Stratenwerth / Kuhlen (o. Fn. 22), 12 / 50 – 52. 40 Bejahend Kohlrausch / Lange, StGB, 43. Aufl. 1961, S. 162. Verneinend zu Recht die heute allgemeine Ansicht: Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), § 25 Rn 40; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 30. 41 Bejahend u. a.: Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 6), § 25 Rn. 101; Schroeder (o. Fn. 37), S. 119 ff.; ähnlich Maurach / Gössel / Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Aufl. 1989, § 48 Rn. 86; verneinend zu Recht die h. M., so für alle: Herzberg (o. Fn. 40), S. 14, 24; Jakobs (o. Fn. 22), 21 / 96; Krey, Jura (o. Fn. 37); Kühl (o. Fn. 23), § 20 Rn. 64 m. w. N.; Roxin (o. Fn. 10), § 25 Rn. 48 – 50 m. w. N. 42 So der BGH seit St 40, 218, 234, 236 f. (im Anschluss an Roxin); ebenso BGHSt 45, 270, 296. 43 Dazu fernliegend BGHSt 47, 100, 103, 104 (Vergatterung von DDR-Grenzsoldaten durch einen Oberleutnant sei an der Grenze zur mittelbaren Täterschaft). 44 BGHSt 40, 218, 234, 236, 237.

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Hier drängen sich folgende Fragen auf: Wo beginnt innerhalb des hierarchischen Aufbaus in Großunternehmen die Führungsschicht, die jene Organisationsherrschaft begründen kann? Wo verläuft die Grenze zwischen kleineren Unternehmen / Betrieben und größeren, bei denen man mittelbare Täterschaft von Führungspersonen in der Form des Täters hinter dem Täter bejahen könnte? All dies sind schwierige, aber unnötige Fragestellungen, es sei denn man hängt an dem strafrechtsdogmatischen Kunstprodukt des Täters hinter dem Täter. In letzterem Fall schafft man qua Glasperlenspiel immer neue Probleme – als wenn die lege lata wirklich existierenden Rechtsfragen nicht schon genug wären –. 4. Der heutige Standpunkt des BGH und der Lehre a) Der hier vertretene Standpunkt war lange auch der des BGH. So hat das Gericht noch 1982 ganz beiläufig festgestellt: Als mittelbarer Täter ist strafbar, wer eine Straftat durch einen anderen begeht, der nicht selbst Täter dieser Straftat ist45. Ebenso hatte das Gericht bereits im zweiten Band entschieden46. Beide Entscheidungen halten diesen Standpunkt offensichtlich für unmittelbar einleuchtend, da sie auf eine nähere Begründung verzichten. b) Dieses Verständnis der mittelbaren Täterschaft hat der BGH erstmalig im Urteil zum Katzenkönig-Fall (198847) aufgegeben. Hier ging es um Folgendes: R, ein Polizeibeamter, und Frau H lebten in einem „neurotischen Beziehungsgeflecht“ zusammen. H brachte den R dazu, an die Existenz des „Katzenkönigs“ zu glauben. Dieser verkörpere seit Jahrtausenden das Böse und bedrohe die Welt. Er verlange von R ein Menschenopfer, nämlich die Tötung der O (einer Nebenbuhlerin der H). Falls R sich weigere, müsse er sie (H) verlassen, und der Katzenkönig werde Millionen Menschen töten. R plagten Gewissensbisse; jedoch wollte er durch Opferung der O Millionen Menschen retten. Daher versuchte er, O zu töten; sie überlebte aber wegen des Eingreifens Dritter. Der BGH hat hier bei R einen strafbaren versuchten Mord angenommen. R habe im vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt. Bei H hat der BGH, statt Mittäterschaft näher zu erörtern, nur mittelbare Täterschaft in der Erscheinungsform des Täters hinter dem Täter in Abgrenzung zur bloßen Anstiftung geprüft und dabei erstere bejaht. Zur Begründung dieses Bruches mit der bisherigen Judikatur des Gerichts [oben a)] betont der BGH48 u. a.: Nur für den Regelfall treffe die Definition zu, als mittelbarer Täter sei strafbar, wer die Straftat durch einen anderen begehe, der nicht selbst als Täter dieser Straf45 46 47 48

BGHSt 30, 363, 364 a.E. BGHSt 2, 169, 170. BGHSt 35, 347, 351 ff. Eingehende Besprechung von Küper, JZ 1989, 617 ff., 935 ff. BGHSt 35, 347, 351 – 355.

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tat strafbar sei. Das Verantwortungsprinzip (oben 1.) dürfe nicht zu einem so engen Verständnis der mittelbaren Täterschaft führen, dass die Figur des Täters hinter dem Täter schlechthin ausgeschlossen sei. Vielmehr könne etwa beim Ausnutzen eines Verbotsirrtums des „Werkzeugs“ der „Hintermann“ nicht nur beim unvermeidbaren Verbotsirrtum mittelbarer Täter sein, sondern auch beim vermeidbaren. Auch im letzteren Fall könne bei wertender Betrachtung die Tatherrschaft beim Hintermann liegen. Daher sei bei Ausnutzung eines vermeidbaren Verbotsirrtums des „Werkzeugs“ durch den „Hintermann“ mittelbare Täterschaft anzunehmen, wenn bei Letzterem eine „vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft“ vorliege. Maßgeblich seien dabei die Umstände des Einzelfalles. In casu sei die H Inhaberin der Tatherrschaft, also mittelbare Täterin. Dazu betont der BGH wörtlich: „Sie hatte Tatherrschaft, ohne Mittäter zu sein“ – wobei die anschließende Begründung des Gerichts für die Ablehnung von Mittäterschaft erstens der sonstigen Judikatur zu § 25 Abs. 2 StGB widerspricht und zweitens dieser Widerspruch unzulänglich begründet wird –.49 Die Lehre ist dem BGH jedenfalls im Ergebnis (Bejahung von mittelbarer Täterschaft in der Form des Täters hinter dem Täter) weitgehend gefolgt, wobei man meist die Ausnutzung eines vermeidbaren Verbotsirrtums des Werkzeugs schon als solche genügen lässt, ohne dass zusätzliche Aspekte die Tatherrschaft des Hintermannes weiter untermauern müssen.50 In der Folge hat das Gericht dann für eine weitere Fallgruppe die generelle Verneinung des Täters hinter dem Täter als überholt bewertet und diese Figur bejaht.51 Gemeint ist die Annahme mittelbarer Täterschaft der politisch Verantwortlichen der DDR bei Tötungsdelikten durch DDR-Grenzsoldaten „trotz uneingeschränkter strafrechtlicher Verantwortlichkeit dieser Tatmittler“52. Das Gericht folgt dabei Roxins Konzeption vom Täter hinter dem Täter für NSVerbrechen, der dabei für Hitler, Himmler und andere Hintermänner der Vernichtungsaktion in Auschwitz von Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate spricht und hierauf die Annahme mittelbarer Täterschaft stützt: Die „Werkzeuge“ (SS-Soldaten in Auschwitz), die jene NS-Verbrechen eigenhändig begangen hätten, 49 Hierzu sagt der BGH lediglich: . . . weil sie (H) entsprechend ihrem Plan wissentlich und willentlich die objektive Tatbestandsverwirklichung R allein überlassen habe und dieser seine Tathandlung auch keinem anderen habe zurechnen lassen wollen, BGH (o. Fn. 48), 354 aE, 355. Diese Begründung widerspricht der Auffassung des BGH, der Bandenboss könne im Falle dominierender Position im Vorbereitungsstadium auch dann Mittäter sein, wenn er sich nicht am Tatort aufhalte (dazu näher unten 5.). 50 So u. a.: Baumann / Weber / Mitsch (o. Fn. 39), § 29 Rn. 139; Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), § 25 Rn 38; Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1998, § 10 Rn. 89; Herzberg (o. Fn. 40), S. 23; Jäger, Examens-Repetitorium, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2006, Rn. 241; Küper, JZ 1989, 935 ff.; Schroeder (o. Fn. 37) , S. 126 ff. Siehe auch Fn. 60. 51 BGHSt 40, 218, 234, 236 f.; 42, 65, 68 ff.; 45, 270, 296. 52 Siehe Fn. 51; zum Schrifttum hierzu siehe unten im Text c).

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seien zwar selbst als Täter strafbar, hätten aber nur als auswechselbare Rädchen im Getriebe des staatlichen Unrechtsregimes agiert.53 Das LG Berlin hatte noch statt mittelbarer Täterschaft bloße Anstiftung bejaht; erstere scheide wegen der eigenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Grenzsoldaten aus.54 Analysiert man die Entscheidungen des BGH zur mittelbaren Täterschaft hoher DDR-Funktionäre bei Todesschüssen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, so erstaunt folgendes: In epischer Breite, viel eingehender als im Katzenkönig-Urteil, wird die Figur des Täters hinter dem Täter dargelegt und akzeptiert.55 Doch fehlt jede Auseinandersetzung mit der Frage der Mittäterschaft jener Funktionäre56; dabei hatte die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision ausdrücklich geltend gemacht, die angeklagten DDR-Funktionäre hätten als Mittäter mit den Grenzsoldaten gehandelt57. Eine solche Mittäterschaft drängte sich nach der vom BGH im Kern noch immer vertretenen subjektiven Theorie zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme geradezu auf, im Übrigen auch nach der im Schrifttum herrschenden Tatherrschaftslehre im weiteren Sinne. Beide kann man auf eine idealtypisierende Kurzformel bringen: Der Bandenboss, der die Tat angeordnet hat, aber die eigentliche Tatbestandsverwirklichung nicht mitbeherrscht, ist wegen seines dominierenden Einflusses im Vorbereitungsstadium Mittäter – worauf zurückzukommen ist (unten 5.). Im Übrigen stellt sich eine weitere Frage: Wenn den verantwortlichen politischen Funktionären die Todesschüsse der Grenzsoldaten täterschaftlich zuzurechnen sind, weil sie Tatherrschaft haben (so der BGH), kann es doch allenfalls um eine gemeinschaftliche Tatherrschaft (Mitherrschaft) zusammen mit den Grenzsoldaten gehen, die der BGH ja ebenfalls als Täter behandelt. Wie will man dann eine gemeinschaftliche Begehung (§ 25 Abs. 2 StGB) ohne Systembruch verneinen, wenn man wie der BGH und die h.L. hierfür keine gemeinschaftliche Tatherrschaft im Ausführungsstadium fordert. Der Rangunterschied zwischen den „Hintermännern“ und den Grenzsoldaten als Todesschützen steht der Mittäterschaft im Übrigen auch nicht entgegen58, das ist selbstverständlich und wird etwa für den Bandenboss allgemein akzeptiert. 53 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Aufl. 1994, S. 242 ff.; ders., FS Schroeder 2006, S. 387 ff.; ders., ZStrR 2007, 1 ff. – Der Sache nach weitgehend übereinstimmend Sinn, Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten. Zurechnung und Freistellung durch Macht, 2007, S. 335, 357 und öfter (dazu Roxin, JZ 2007, 835). 54 Siehe in BGHSt 40, 218, 228, 229. 55 BGHSt 40, 218, 230 – 238 mit eingehenden Nachweisen. 56 BGHSt 40, 218, 230 ff.; 42, 65, 68 ff.; 45, 270, 296. – Freilich finden sich Ausführungen zum Agieren der Schützen als Mittäter untereinander (BGHSt 42, 65, 68). 57 Siehe BGHSt 40, 218, 230. 58 Das hat das Gericht im Verhältnis der Todesschützen untereinander akzeptiert (Kommandeur eines Grenzregiments einerseits, sonstige Soldaten andererseits), vgl. BGHSt 42 (o. Fn. 56), 68.

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Kurz: An Stelle seitenlanger Thesen zur Zulässigkeit des Täters hinter dem Täter, die im Übrigen die entscheidenden Fragen zur systematischen Vereinbarkeit dieser Figur mit § 25 Abs. 1 und Abs. 2 StGB lieblos bzw. gar nicht behandeln, hätte man sich gründliche Darlegungen dazu gewünscht, warum eigentlich keine Mittäterschaft vorliegen soll. Diese Frage versteht sich zwar für Roxin von selbst, weil es an der funktionalen Tatherrschaft im Ausführungsstadium fehlt, diese aber wird von BGH und der h.L. gerade nicht gefordert. Zu allem Überfluss dehnt der BGH die Figur des Täters hinter dem Täter in der Erscheinungsform der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft noch über die Fälle von NS- / SED-Verbrechen aus, und zwar auf – „mafiaähnlich“ organisiertes Verbrechen sowie – „Verantwortlichkeit [für Straftaten] beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen“59.

Damit entfällt jede Möglichkeit der Schadensbegrenzung durch Beschränkung der Figur des Täters hinter dem Täter kraft Organisationsherrschaft auf NS- und SED-Verbrechen. c) Die Lehre folgt dem BGH weitgehend: – Im Katzenkönig-Fall wird auch von der h.L. mittelbare Täterschaft der H bejaht.60 – Für NS- und SED-Verbrechen folgt die h.L. dem BGH ebenfalls.61 – Gleiches gilt für die Figur des Täters hinter dem Täter beim Mafiaboss.62

BGHSt 40 (o. Fn. 42). Zum Schrifttum siehe im anschließenden Text, III. So im Ergebnis u. a.: Baumann / Weber / Mitsch (o. Fn. 39), § 29 Rn 139; Freund (o. Fn. 50), § 10 Rn. 89; Gropp (o. Fn. 23), § 10 Rn. 70 mit Fn. 63; Heinrich, Rechtsgutzugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002, S. 218 ff.; Herzberg (o. Fn. 40), S. 23; Jäger (o. Fn. 50), Rn. 241; Otto (o. Fn. 37), S. 305, 307, 308; Zieschang, FS Otto 2004, S. 505, 520, 524. 61 Zustimmend u. a.: Freund (o. Fn. 50), § 10 Rn. 90 ff. (mit abweichender Begründung); Gropp, JuS 1996, 13 ff.; . Heinrich (o. Fn. 60)., S. 271 ff.; Jäger (o. Fn. 50), Rn. 249, Roxin, JZ 1995, 49; Stratenwerth / Kuhlen (o. Fn. 22), 12 / 65 – 67; Wessels / Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 541; weitere Nachweise bei Kühl (o. Fn. 23), § 20 Rn. 73, 73 a. Ablehnend u. a.: Herzberg in seinem Beitrag in dieser FS , S. 47 ff.; Jakobs, NStZ 1995, 26 f.; Jescheck / Weigend (o. Fn. 22), § 62 II 8; Köhler (o. Fn. 37), Kap. 9 II 2.4.2.2.; Otto (o. Fn. 37), S. 306 ff. m. w. N.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 87 ff.; Zieschang (o. Fn. 22), S. 505, 514 f., 518 f., 520. Zweifelnd Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 6), § 25 Rn. 92. 62 Zustimmend u. a. Freund (o. Fn. 61),. Heinrich (o. Fn. 60), S. 283 ff.; Roxin (o. Fn. 61), 51; ders. (o. Fn. 10), § 25 Rn. 129; Stratenwerth / Kuhlen (o. Fn. 61), Tröndle / Fischer (o. Fn. 6), § 25 Rn. 3 a m. w. N.; Wessels / Beulke (o. Fn. 61). Ablehnend: Jäger (o. Fn. 61); Jakobs (o. Fn. 61); Jescheck / Weigend (o. Fn. 61; Köhler (o. Fn. 61); Otto (o. Fn. 61); Renzikowski (o. Fn. 61); zweifelnd Hoyer, in SK-StGB (o. Fn. 61). 59 60

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Dagegen lehnt die h.L., anders als der BGH, die Ausdehnung des Täters hinter dem Täter qua Organisationsherrschaft auf Straftaten in Großunternehmen ab.63 Wie schon dem BGH muss man auch den Autoren, die dem Gericht folgen, vorwerfen, dass es durchweg an einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage der Mittäterschaft mangelt. Von den Autoren, die dem BGH die Gefolgschaft verweigern, nimmt ein Teil Mittäterschaft an.64 Andere bejahen lediglich Anstiftung65, weil sie der dargelegten Tatherrschaftslehre im engeren Sinne folgen [oben 2. vor a)] und entgegen Roxin dies Ergebnis nicht durch mittelbare Täterschaft in der Form des Täters hinter dem Täter korrigieren. Unter den Anhängern dieser Figur ist dabei kontrovers, ob und wieweit über die vom BGH anerkannten Konstellationen hinaus weitere Fallgruppen des Täters hinter dem Täter anzuerkennen seien. Diese Frage soll hier ausgeklammert werden66, da die Verfasser diese Figur schlechthin ablehnen. Doch sei nicht verschwiegen, dass solche Extensionstendenzen die Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und die Verwässerung der Konturen der Tatherrschaftslehre67 trefflich verdeutlichen. 5. Annahme von Mittäterschaft in den vom BGH entschiedenen Fällen des Täters hinter dem Täter in der Konsequenz des Täterbegriffs des Gerichts und der h.L. a) Mittäterschaft bei konsequenter Anwendung des Täterbegriffs des BGH aa) Bekanntlich lässt sich der Täterbegriff der Judikatur auf die Kurzformel bringen: subjektive Theorie mit Annäherungen an die Tatherrschaftslehre. In zahlreichen Entscheidungen verwendet das Gericht noch immer die Formel vom Täterwillen und stellt auf das Tatinteresse als wesentliches Indiz für den Täterwillen ab. Allerdings wird die Tatherrschaft als weiteres Indiz herangezogen; jedoch wird diese vermeintliche Anlehnung an die Tatherrschaftslehre dadurch entwertet, dass das Gericht in aller Regel die Formel verwendet: Tatherrschaft oder Wille zur Tat63 Dem BGH folgen allerdings u. a.: Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 5), § 25 Rn. 25; Freund (o. Fn. 61), Tröndle / Fischer (o. Fn. 62). Anders die h.L., so u. a. Dierlamm, NStZ 1998, 569 f.; Hoyer, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit innerhalb von Weisungsverhältnissen, 1998; ders. in: SK-StGB (o. Fn. 6), § 25 Rn. 89, 92 m. w. N.; Jakobs (o. Fn. 61), Jescheck / Weigend (o. Fn. 61), Köhler (o. Fn. 61); Otto (o. Fn. 61); Renzikowski (o. Fn. 61), Roxin, JZ 1995, 49, 51 f.; ders. (o. Fn. 10), Rn. 129 ff.; Rotsch, NStZ 1998, 491, 495; grundsätzlich ablehnend auch Heinrich (o. Fn. 60), S. 282 f. und Kühl (o. Fn. 23), § 20 Rn. 73 b, 73 c, 73 d (m. w. N.). 64 S. u. 5.b). 65 S. dazu u. 6.b). 66 Dazu insbesondere Schroeder (o. Fn. 37), (durchgehend). Weitere Nachweise bei Krey (o. Fn. 3), Rn. 161 ff. 67 Hierzu Krey (o. Fn. 3), Rn. 102, 103, 153, 154, 155, 161, 162, 163.

Der Täter hinter dem Täter

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herrschaft. Dieses mehr oder weniger unentschiedene Schwanken der Strafsenate des BGH (Roxin68), wobei die subjektive Theorie noch immer die Basis bildet, wird besonders deutlich in der Behandlung des Bandenbosses als Mittäter: Wie die Tatherrschaftslehre im weiteren Sinne ist auch der BGH der Ansicht, der Bandenboss sei an den vom ihm geplanten und vorbereiteten Taten auch bei fehlender Mitwirkung im Ausführungsstadium als Mittäter beteiligt; die dominierende Mitwirkung im Vorbereitungsstadium sei für die gemeinschaftliche Begehung grundsätzlich ausreichend.69 Im Katzenkönig-Fall (oben 4.) ergibt sich daraus: Die H hatte erstens ein vorrangiges Tatinteresse (das Opfer war ihre Nebenbuhlerin). Zweitens besaß sie nach BGH Tatherrschaft (und damit zumindest Willen zur Tatherrschaft). Folglich sind i.S. der Rechtsprechung des Gerichts beide Indizien für den Täterwillen gegeben. Der gemeinsame Tatentschluss ist gänzlich unproblematisch, weil hierfür genügt, dass R mit dem Tatplan der H einverstanden war, wofür bekanntlich weder ein gleichzeitiges noch ein gleichrangiges Mitwirken bei der Fassung des Tatentschlusses nötig ist. Bekanntlich genügt nach der Judikatur speziell für die Mittäterschaft jeder mitursächliche Tatbeitrag – der auch in der Tatplanung liegen kann – aufgrund gemeinsamen Tatentschlusses.70 Nach alledem ist unverständlich, warum der BGH hier keine Mittäterschaft der H angenommen hat.71 Dasselbe gilt für die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze.72 Auch hier handelten die „politischen Hintermänner“ und die Grenzsoldaten aufgrund gemeinsamen Tatentschlusses: letzteren wurde sehr deutlich gemacht, dass das Regime diese Taten wollte. Weiterhin hatten jene „Hintermänner“ ein dominierendes Interesse an der Tat und zumindest Willen zur Tatherrschaft: Die Grenzsoldaten wurden nachdrücklich über die Befehlslage aufgeklärt („vergattert“). Weshalb das Gericht hier nicht etwa konsequent Mittäterschaft bejaht, sondern auf die systemwidrige, gesetzlich kaum fundierte Figur des Täters hinter dem Täter ausweicht, ist nicht nachvollziehbar, sieht man davon ab, dass der BGH sich mit Roxin als prominentem Gewährsmann einig weiß. Beim Mafiaboss ist der Standpunkt des BGH vollends widersprüchlich: Den Bandenboss, der Tatplanung und Vorbereitung beherrscht, hat die Judikatur stets konsequent als Mittäter behandelt, da gemeinsamer Tatentschluss und gemeinschaftliche Begehung nach ihr vorlagen.73 Wieso nun Mittäterschaft entfällt, wenn 68

Roxin, in: LK-StGB (o. Fn. 5), § 25 Rn. 28. Zustimmend u. a. Krey (o. Fn. 3) Rn. 62,

63. BGHSt 33, 50, 53; 37, 289, 292 f. Siehe Fn. 69 (dazu m. w. N. Krey [o. Fn. 3], Rn. 198 mit Rn. 78, 82). 71 Das bedeutet nicht, dass die Annahme von Mittäterschaft richtig wäre; sie liegt aber in der Konsequenz der Täterlehre des BGH. 72 Für Mittäterschaft sind hier aber u. a.: Jakobs (o. Fn. 61), 27, Jescheck / Weigend (o. Fn. 22), § 62 II 8; Otto (o. Fn. 37), § 21 Rn 92. 73 Siehe Fn. 69. 69 70

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statt des Bosses einer einfachen Bande der Pate einer „mafiaähnlichen“ Organisation in Frage steht, bleibt unklar. Vielleicht könnte man noch nachvollziehen, indes nicht billigen, wenn der BGH das Wuchern der Bande hin zur Mafia zum Anlass nehmen würde, zusätzlich zur Mittäterschaft noch mittelbare Täterschaft zu bejahen– das traurige Ende der Mittäterschaft bleibt freilich ein evidenter Widerspruch zu seiner sonstigen Judikatur. bb) Resümee: In den vom BGH anerkannten Fällen des Täters hinter dem Täter ist der fehlende Rückgriff auf Mittäterschaft ein Bruch mit der Judikatur des Gerichts zum Täterbegriff.73a b) Mittäterschaft bei konsequenter Anwendung des Täterbegriffs der h.L. Bekanntlich vertritt die h.L. die Tatherrschaftslehre im weiteren Sinne: Erforderlich für die gemeinschaftliche Begehung sei keine Mitherrschaft im Ausführungsstadium; vielmehr genügten wesentliche Tatbeiträge im Vorbereitungsstadium.74 In allen drei angeführten Fallgruppen des Täters hinter dem Täter [oben 5.a)] wäre in der Konsequenz dieser Lehre Mittäterschaft anzunehmen und damit der Rückgriff auf die mittelbare Täterschaft unnötig. Diese Einsicht findet sich insbesondere bei Jakobs75. Warum die anderen Anhänger jener Lehre hier überwiegend uneinsichtig sind, ist unklar – möglicherweise bereitet das Glasperlenspiel mit einem neuen dogmatischen Kunstprodukt (Täter hinter dem Täter) mehr Freude als die stringente Anwendung der sonstigen eigenen dogmatischen Überzeugungen. 6. Bloße Anstiftung in den vom BGH entschiedenen Fällen des Täters hinter dem Täter? Nach der dargelegten Tatherrschaftslehre im engeren Sinne76, zu deren Vertretern jedenfalls der Mitautor Krey zählt, liegt in den fraglichen Fällen (oben, 5. a) evident Anstiftung vor: Mittelbarer Täter kann der Hintermann nicht sein, da die Figur des Täters hinter dem Täter nicht anzuerkennen ist (oben 3.); insoweit hat Roxin unrecht. Mittäter ist der Hintermann mangels Mitbeherrschung der jeweiligen Taten im AusführungsIn diese Richtung jetzt BGH NStZ 2008, 89, 90. Ihre Vertreter sind u. a.: Gropp (o. Fn. 23), § 10 Rn. 84, Jakobs (o. Fn. 22), 21 / 47, 48; Jescheck / Weigend (o. Fn. 22), § 63 III 1 (a.E.); Joecks, Strafgesetzbuch Studienkommentar, 7. Aufl. 2007, § 25 Rn. 66; Kühl (o. Fn. 23), § 20 Rn. 108 – 112 m. w. N.; Stratenwerth / Kuhlen (o. Fn. 22), 12 / 91 – 94; Wessels / Beulke (o. Fn. 61), Rn. 517, 528, 529. Differenzierend Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 6), § 25 Rn. 112 – 120. Kritisch u. a., Roxin folgend, Krey (o. Fn. 3), Rn. 55, 56, 197, 199 (m.w.N) und öfter. 75 Jakobs (o. Fn. 61), 27; ebenso etwa Jescheck / Weigend (o. Fn. 22), § 62 II 8; Otto (o. Fn. 37), § 21 Rn. 92 m. w. N. 76 S.o. 1.a), 2., 3.c). 73a 74

Der Täter hinter dem Täter

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stadium nicht; insoweit hat Roxin recht. Demnach verbleibt es richtiger Ansicht nach bei der Anstiftung. Die Einsicht, dass diese Beteiligungsform dem Gesetzgeber misslungen ist (oben 2.), gibt Rechtsprechung und Lehre kein Recht dazu, unter Systembruch mit der Normierung in § 25 Abs. 1 und 2 StGB den Täter hinter dem Täter als neue Beteiligungsform zu kreieren (oben 3.). Im Übrigen erlaubt das Vorliegen von Anstiftung dieselbe Strafe wie die Bejahung von Täterschaft. IV. Ausblick de lege ferenda Jedenfalls in den Fällen, in denen der Hintermann in Wirklichkeit Mittäter ist, sollten Rechtsprechung und Lehre ihren Standpunkt von der Zulässigkeit der Figur des Täters hinter dem Täter revidieren: Hier ist dies Kunstprodukt evident überflüssig und schon deswegen verfehlt. Wo es dagegen Roxin und anderen darum geht eine bloße Anstifterstrafbarkeit des Hintermannes zu vermeiden, könnte die oben [unter III.2.b)] erwogene Umgestaltung der Anstiftung zu einer weiteren Form der Täterschaft nach portugiesischem Vorbild durch den Gesetzgeber als erwünschte Nebenfolge haben, dass auch hier die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter nicht nur verfehlt, sondern auch gänzlich überflüssig wäre. Ob freilich die Überflüssigkeit jenes Kunstprodukts irgendeinen Einfluss auf seine Preisgabe hat bzw. hätte, ist angesichts der Liebe der Strafrechtler zum Glasperlenspiel fraglich.

Soziale Adäquanz als Auslegungsprinzip Von Harro Otto

I. Soziale Adäquanz als beliebiger Argumentationshinweis In seinen Überlegungen zur „Neutralisierung“ geschäftsmäßiger Beiträge zu fremden Straftaten im Rahmen des Beihilfetatbestandes 1 setzt sich Knut Amelung, der hochgeschätzte Jubilar, auch mit der Frage auseinander, ob diese „Neutralisierung“ unter Hinweis auf die Sozialadäquanz einer Verhaltensweise zu verwirklichen sei. Er lehnt dieses vor allem mit dem Hinweis ab, dass das sozial Übliche nicht als Maßstab des normativ Richtigen2 tauge und stellt den Gedanken der Art und Qualität der Rechtsgutsgefährdung als weiterführend heraus. – Nicht die Kenntnis genereller Risiken geschäftsmäßigen Verhaltens könne eine strafrechtliche Haftung wegen Beihilfe begründen, vielmehr müsse das Gefahrenbewusstsein auf konkrete Anhaltspunkte bezogen sein.3 Im weiteren Verlauf der Abhandlung verweist er auf jene Gefahr als haftungsbegründend, die der in bestimmten Tatbeständen „geschilderten“ entspricht.4 Unabhängig von den Problemen der Beihilfe scheint dieser Denkansatz in der Tat weiterzuführen, und zwar auch zur Erhellung der Problematik der sozialen Adäquanz, denn dieser Ausgangspunkt ermöglicht es, das Institut der sozialen Adäquanz in anderem Licht zu sehen und Sachzusammenhänge aufzudecken, die bisher unter der Vielzahl der unterschiedlichen Fallkonstellationen, die dem Schlagwort der Sozialadäquanz zugeordnet wurden, z. T. verborgen blieben, z. T. aber neben anderen Argumentationshinweisen keine Eigenständigkeit erlangten. Das aber führte dazu, dass der Verweis auf die „soziale Adäquanz“ beliebig wurde.

1 2 3 4

Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9 ff. Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 11. Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 24. Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 28.

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Harro Otto

II. Die Lehre von der sozialen Adäquanz 1. Welzels Lehre von der sozialen Adäquanz Mit der von ihm entwickelten Lehre von der sozialen Adäquanz5 wandte sich Welzel gegen die nach seiner Auffassung aus dem Zivilrecht in das Strafrecht übertragene Überbetonung des Kausaldogmas. Im Zivilrecht werde die Rechtswidrigkeit primär vom Erfolgssachverhalt gesehen. „Rechtswidrigkeit ist die Herbeiführung (Verursachung) eines missbilligten Erfolges. In dieser Form fand die Rechtswidrigkeit allgemeine Anerkennung auch im Strafrecht und wurde hier in ihrer objektivistischen Tendenz noch legitimiert und bestärkt durch die auf dem Kausaldogma aufgebaute Rechtsgüterverletzungstheorie“6. Diese Theorie sehe die Rechtsgüter gleichsam als „Museumsstücke“ an, „die sorgfältig vor schädlichen Einflüssen in Vitrinen verwahrt, nur dem Blick der Beschauer freigegeben sind. Der Verbrecher verletzt diese gesicherte Sphäre und greift mit roher Faust ein“7. Damit aber beruhe diese Theorie auf der Vorstellung, dass der ursprüngliche Zustand des Rechtsguts der der Freiheit und Sicherheit vor Verletzungen sei, „erst das Verbrechen trägt an das Rechtsgut die Verletzung heran“8. An der sozialen Wirklichkeit ging diese Theorie nach Ansicht Welzels aber vorbei. In dieser Wirklichkeit gebe es Rechtsgüter nur, soweit sie in „Funktion“ seien. „Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum usw. sind nicht einfach ,da‘, sondern ihr Dasein ist In-Funktion-Sein, d. h. in der sozialen Verbundenheit Wirkungen ausübend und Wirkungen erleidend. Und diese Wirkungen sind – . . . – keineswegs bloß positiver (steigender, mehrender) Art, sondern ebenso sehr und noch mehr negativer (beeinträchtigender, aufnehmender) Art. Alles soziale Leben besteht ja im Einsatz und Verbrauch von ,Rechtsgütern‘, wie letztlich alles Leben stets zugleich Verbrauch des Lebens ist“9. Daher könne auch der Sinn des Rechts nicht darin bestehen, von den als unverletzt gedachten Rechtsgütern alle verletzenden Einwirkungen abzuwehren, vielmehr gehe es für das Recht allein darum, die für das Gemeinschaftsdasein unverträglichen Einwirkungen auszuwählen und zu verbieten. Das Recht gewähre nur Schutz gegen solche Einwirkungen, die das Maß der notwendig vorauszusetzenden Beeinträchtigungen übersteigen, in welchen sich das geordnete Gemeinschaftsleben in lebendig-tätigen Funktionen vollziehe. Rechtsgüterschutz gebe es daher nicht gegen Verhaltensweisen, „die sich funktional innerhalb der geschichtlich gewordenen Ordnung des Gemeinschaftslebens 5 Vgl. dazu im Einzelnen auch Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 78 f.; Cancio Meliá, GA 1995, 179, 181 ff.; Moos, in: Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, 1996, S. 85, 88 ff.; Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 33 ff. 6 Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 507. 7 Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 514. 8 Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 514. 9 Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 515.

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eines Volkes bewegen. Solche Handlungen seien schlagwortartig sozialadäquat genannt“10. Sozialadäquate Handlungen seien danach alle Betätigungen, die sich völlig im Rahmen der „normalen“, geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung des Lebens halten. Sie seien auch dann keine tatbestandsmäßigen Verletzungshandlungen, wenn in ihrem Gefolge eine Rechtsgutsverletzung eintrete.11 2. Schwachpunkte der Lehre von der sozialen Adäquanz Dass ein sozialadäquates Verhalten nicht strafbares Unrecht sein kann, erscheint unmittelbar einleuchtend, doch verbirgt sich hinter dieser Einsicht kein logisch zwingender Schluss, sondern eine begriffliche Selbstverständlichkeit: ein sozialadäquates Verhalten kann seiner Definition nach nicht zugleich sein Gegenteil sein, nämlich ein sozialgefährliches, sozialschädliches Verhalten. – Kriterien zur Bestimmung sozialadäquaten Verhaltens gerade im Gegensatz zu sozialgefährlichem, sozialschädlichem Verhalten sind damit aber nicht gewonnen.12 Die Identifizierung „sozialadäquaten“ Verhaltens mit „sozial üblichem“ Verhalten, mit „alltäglichen Verhaltensweisen im Sozialleben“, mit Verhaltensweisen, die sich völlig im Rahmen der „normalen“ geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung des Lebens bewegen, hingegen ist gefährlich. Denn hier wird ein in bestimmter Weise normativ beurteiltes Verhalten mit einem in der Realität üblichen Verhalten identifiziert. Das aber begründet Fehlschlüsse. Zum einen ist wiederholt zu Recht geltend gemacht worden, dass der Verweis auf „alltägliche“, „normale“ Verhaltensweisen letztlich unbestimmt und vage bliebe und daher die Rechtsfindung keineswegs konturiere und strittige Abgrenzungen erleichtere. 13 Zwar ließe sich dieser Einwand vielleicht relativieren, indem man dem Beispiel Hassemers14 folgt und – vergleichbar seiner Spezifizierung auf die „professionelle Adäquanz“ – bereichspezifische Fallgruppen bildet. Doch auch dieses Verfahren führt nicht zu den Kriterien sozialadäquaten Verhaltens, sondern Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 516 f. Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 517; ders., Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 55 f. 12 Vgl. dazu auch Kudlich (o. Fn. 5), S. 82; Otto, FS Lenckner, 1998, S. 193, 201; Weigend, FS Nishihara, 1998, S. 197, 200; Wohlleben, Beihilfe durch äußerlich neutrale Handlungen, 1997, S. 158. 13 Dazu Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht, AT, 11. Aufl. 2003, § 16 Rn. 35; Beckemper, Jura 2001, 163, 166; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 296; Hassemer, wistra 1995, 41, 46; Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 93; ders., in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1992 ff., Vor § 32 Rn. 29; Jakobs, ZStW 89 (1977), 1, 5; Kudlich (o. Fn. 5), S. 82; Otto, FS Lenckner, 1998, S. 193, 201; Rabe von Kühlewein, JZ 2002, 1139, 1141 f.; Rönnau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 51; Roxin, FS Klug, 1983, S. 303, 304; Schall, GS Meurer, 2002, S. 103, 107; Tag, JR 1997, 49, 52. 14 Hassemer, wistra 1995, 81 ff. 10 11

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setzt sie wiederum voraus, wenn dem Vorwurf der Unbestimmtheit und Vagheit nachdrücklich begegnet werden soll. Zum anderen aber ist der Schluss vom sozial Üblichen auf das normativ Richtige nicht zulässig, da keineswegs gesichert ist, dass sich im Alltagsleben nicht „Unsitten“ eingebürgert haben, die rechtlich keineswegs zulässig sind.15 Der Straßenverkehr bietet hier zahlreiche anschauliche Beispiele. – Schließlich aber ist der Verweis auf das „sozial übliche Verhalten“ als solches schon wenig weiterführend. Wird nämlich isoliert auf bestimmte äußerlich erkennbare Verhaltensweisen abgestellt, so sind zahlreiche Verhaltensweisen unproblematisch als sozial üblich, sozialadäquat und nicht strafbar anzuerkennen, wie z. B. der Verkauf eines Messers, das Verleihen einer Axt an den Nachbarn oder das Überlassen eines Kraftfahrzeugs. Vorausgesetzt wird bei dieser isolierten Betrachtungsweise nämlich, dass diesen Verhaltensweisen selbst wiederum sozial übliche, alltägliche und allgemein akzeptierte Zielsetzungen zu Grunde liegen. Das Bild ändert sich jedoch grundlegend, wenn der Verkauf des Messers in Kenntnis der Tatsache erfolgt, dass der Käufer unmittelbar nach dem Kauf einen Menschen erstechen, der Entleiher der Axt mit dieser seiner Ehefrau den Kopf einschlagen oder der Kraftfahrzeugbesitzer das Fahrzeug zu einer vorsätzlichen Tötung einsetzen will. Von sozial üblichen, alltäglichen und sozial akzeptierten Verhaltensweisen kann dann keine Rede mehr sein. Damit erweist sich, dass eine Verhaltensweise rechtlich nicht hinreichend erfasst ist, wenn sie allein isoliert, äußerlich betrachtet wird. Erst Zweck- und Zielsetzung des Handelnden in der sozialen Realität geben dem äußerlichen Verhalten seinen sozialen Sinn, so dass sich äußerlich durchaus alltäglich erscheinende Verhaltensweisen bei umfassender Würdigung u. U. als kriminelles Verhalten erkennen lassen.16 – Nach wie vor erweist sich – vor dem Hintergrund, dass der Verkauf von Pflanzenschutzmitteln durch einen Drogisten äußerlich gesehen ein sozial übliches Geschäft ist – die Schlussfolgerung von Arzt als überzeugend: „Der Drogist, der einer Frau Pflanzenschutzmittel verkauft, von der er weiß, dass sie damit ihren Mann umbringen will, ist Teilnehmer an der vorsätzlichen Tötung. Mordteilnahme gehört nun einmal nicht zu seiner üblichen Geschäftstätigkeit“17. Diese Überlegungen scheinen darauf zu verweisen, dass dem Gedanken der sozialen Adäquanz zwar insoweit positive Bedeutung zukommt, als er verdeutlicht, dass alltägliche Verhaltensweisen nicht tatbestandsmäßig sein müssen, auch wenn es den Anschein hat, sie wären es. Die restriktive Auslegung des Tatbestandes ist damit hier angemahnt, aber: „eine besondere dogmatische Bedeutung kann die – tendenziell richtige – Lehre also heute nicht mehr beanspruchen“.18 15 Dazu Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 11; Wolff-Reske, Berufsbedingtes Verhalten als Problem mittelbarer Erfolgsverursachung, 1995, S. 65. 16 Vgl. bereits Otto, FS Lenckner, 1998, S. 193, 202; dazu auch Gracia Martin, FS Tiedemann, 2008, S. 205, 218. 17 Arzt, NStZ 1990, 1, 3. 18 Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 42; vgl. auch Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 57; Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 133 ff.; Lackner / Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, Vor § 32 Rn. 29; Lenckner /

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3. Weiterführende Ansätze der Lehre von der sozialen Adäquanz Gleichwohl ist bei der grundsätzlichen Ablehnung der Lehre von der sozialen Adäquanz Zurückhaltung geboten, denn auch wenn die Straffreistellung alltäglicher, üblicher oder auch geschäftsmäßiger Handlungen unter schlichtem Hinweis auf die soziale Adäquanz solcher Handlungen wenig überzeugend ist, so ist doch zu beachten, dass es offenbar Fallkonstellationen gibt, die tatbestandsmäßig erscheinen, gleichwohl aber allgemein als sozialadäquat und gerade nicht als strafbar angesehen werden, und dass sich für diese Beurteilung ein breiter Konsens in Lehre und Rechtsprechung findet. Jedoch ist keine einheitliche Problemstellung hinter diesen Fallgruppen auszumachen. Das aber lässt die grundsätzliche Schwäche der Lehre von der sozialen Adäquanz offensichtlich werden, die darin liegt, dass zu unterschiedliche Problemstellungen mit ihr verbunden werden. Es gibt nämlich durchaus Verhaltensweisen, die – unabhängig von der subjektiven Einstellung des Handelnden – nicht tatbestandsmäßig sind, obwohl sie – und hier finden die ursprünglichen Überlegungen Welzels ihren Anknüpfungspunkt – dem in einem Tatbestand beschriebenen Verhalten zu entsprechen scheinen, und die sich scheinbar als Gefährdung eines geschützten Rechtsguts darstellen, obwohl sie in Wirklichkeit nicht als relevante Gefährdung des geschützten Rechtsguts akzeptiert werden können19, weil die Gefahr gerade nicht der in einem bestimmten Tatbestand erfassten, „geschilderten“20 entspricht. Die Erfassung dieser Fallkonstellationen unter dem Aspekt der sozialen Adäquanz verspricht sicher keinen Erkenntnisgewinn dahin, dass sie Licht in bisher nicht als lösbar angesehene Problemstellungen wirft. Lösungen haben diese Fälle auch bisher schon gefunden. Sie eröffnet zum einen aber die Einsicht, warum die Kennzeichnung bestimmter Sachverhalte als sozialadäquat zur Ablehnung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens führt, obwohl u. U. ein tatbestandsmäßiger Erfolg eingetreten ist, und ermöglicht es zum anderen, Fallkonstellationen aus der Gruppe sozialadäquaten Verhaltens auszuschließen, weil bei diesen die Tatsache der Alltäglichkeit oder Üblichkeit des Verhaltens gerade nicht strafrechtlich irrelevant ist. Voraussetzung dieser Differenzierung aber ist ein Wechsel des Betrachtungsgegenstandes des sozialadäquaten Verhaltens. Das „alltägliche“, „übliche“ soziale Verhalten führt als Anknüpfungspunkt nicht weiter. Der Anknüpfungspunkt ist letztlich diffus und daher irreführend, wenn bei der Beurteilung der strafrechtlichen Relevanz eines Verhaltens „das sozial Übliche zum Maßstab des normativ Richtigen“21 erklärt wird. Die Betrachtung muss tiefer ansetzen, denn es geht darum, Verhaltensweisen, die scheinbar Eisele, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, Vor §§ 13 ff. Rn. 70; Rönnau, in: LKStGB, 12. Aufl.(o. Fn. 13), Vor § 32 Rn. 52; Schünemann, FS Otto, 2007, S. 777, 786. 19 Dazu auch Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 40; Wolter, in: Schünemann / Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 3, 22 ff. 20 Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 28. 21 Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 11; a.A. Gracia Martin, FS Tiedemann, S. 205, 214, 216, 219.

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tatbestandsmäßig sind, als nicht tatbestandsmäßig zu kennzeichnen, weil sie keine rechtlich relevante Gefahr für das geschützte Rechtsgut begründen, auch wenn sie dem Wortlaut des Gesetzes nach von diesem Wortlaut erfasst werden. Das bedeutet allerdings eine erhebliche Akzentverlagerung: Der Schwerpunkt der Argumentation der sozialen Adäquanz liegt nicht mehr auf der sozialüblichen, alltäglichen, neutralen Handlung, sondern auf der deshalb sozialadäquaten Gefahr, weil diese Gefahr nach rechtlichen Kriterien als irrelevant für das geschützte Rechtsgut eingestuft werden kann. Nicht die sozialübliche Handlung gibt den Maßstab für die normative Wertung, sondern die Art und Weise der durch eine Handlung begründeten Gefahr für das geschützte Rechtsgut ist der Gegenstand der normativen Wertung. In diesem engen Rahmen ist die soziale Adäquanz dann ein Element der Präzisierung und Konkretisierung der objektiven Zurechnung, soweit diese als Haftung einer Person für einen Erfolg verstanden wird, der der Person als ihr Werk zugerechnet wird, weil sie die Gefahr begründet oder erhöht hat, die sich im Erfolg realisiert hat.22 – Schon dieser Ausgangspunkt verweist aber darauf, dass die bisher unter dem Stichwort der sozialen Adäquanz angeführten Fallgruppen der Differenzierung und Aussonderung bedürfen, dass die Argumentation aber auch zur Klärung strittiger Fallkonstellationen führen kann. III. Die verbrechenssystematische Einordnung der Lehre von der Sozialadäquanz 1. Soziale Adäquanz als Tatbestandsausschluss Wird die Funktion der Lehre von der sozialen Adäquanz darin erkannt, zwischen rechtlich irrelevanten Gefahrbegründungen oder -erhöhungen und den rechtlich relevanten Gefahrbegründungen oder -erhöhungen zu differenzieren, um rechtlich irrelevante Gefahrbegründungen oder -erhöhungen aus dem Tatbestand zu eliminieren, so handelt es sich um ein Auslegungsprinzip auf der Tatbestandsebene.23 Die Annahme eines „Tatbestandsausschließungsgrunds“ erscheint hingegen begrifflich weniger passend. Das Nichtvorliegen eines Tatbestandsmerkmals bedeutet Dazu m. N. Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2004, § 6 Rn. 45. Vgl. auch OLG München NStZ 1985, 549; Baumann / Weber / Mitsch (o. Fn. 13), § 16 Rn. 35; Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 55 ff.; ders., FS Otto, 2007, S. 219 f.; Ebert / Kühl, Jura 1981, 227; Gracia Martin, FS Tiedemann, S. 205, 210; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 155; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 25 IV 1; Kudlich (o. Fn. 5), S. 79 f.; Lackner / Kühl (o. Fn. 18), Vor § 32 Rn. 29; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), Vor §§ 13 ff. Rn. 70; Maurach / Zipf, Strafrecht AT 1, 8. Aufl. 1992, § 17 Rn. 21; Otto (o. Fn. 22), § 6 Rn. 71; Rönnau, in: LK-StGB,12. Aufl. (o. Fn. 13), Vor § 32 Rn. 48; Roxin, FS Klug, 1983, S. 303, 310 ff.; ders. (o. Fn. 5), § 10 Rn. 36; Tröndle / Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, Vor § 32 Rn. 12; Welzel (o. Fn. 11), S. 57; Wessels / Beulke, Strafrecht, AT, 37. Aufl. 2007, Rn. 57. 22 23

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im Hinblick auf diesen Tatbestand keinen Tatbestandsausschließungsgrund, sondern das relevante Verhalten wird nicht von den Merkmalen des Tatbestandes erfasst.24 Das gilt z. B. für die eigene Sache im Hinblick auf den Diebstahls- oder Unterschlagungstatbestand und in gleicher Weise für die sozialadäquate und damit tatbestandlich irrelevante Gefahr in Bezug auf die – vom Erfolg her gesehen – nahe liegenden Tatbestände. 2. Soziale Adäquanz als Rechtfertigungsgrund Die Interpretation der sozialen Adäquanz als Rechtfertigungsgrund25 wird der Funktion der Rechtfertigung tatbestandsmäßige Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu legitimieren, weil diese das erforderliche Mittel sind, höherwertige Interessen zu wahren26, nicht gerecht. Die soziale Adäquanz rechtfertigt nicht einen Rechtsgütereingriff aus höherrangigen Interessen, sondern schließt eine rechtlich relevante und damit tatbestandsmäßige Gefährdung des geschützten Rechtsguts aus. Sie trennt – normativ betrachtet – „Scheingefahren“ von rechtlich relevanten Gefahren. 3. Soziale Adäquanz als Schuldausschließungsgrund Die Einordnung der sozialen Adäquanz als Schuldausschließungsgrund27 hätte zur Voraussetzung, dass die sozialadäquate Gefahrenbegründung oder -erhöhung als tatbestandsmäßige, rechtswidrige Verhaltensweise beurteilt würde. Damit aber würden gerade sozial akzeptierte, das geschützte Rechtsgut nicht gefährdende Handlungen als sozialgefährlich und sozialschädlich eingeordnet.28 – Das geht an der Realität vorbei. IV. Konsequenzen aus der Begrenzung der sozialen Adäquanz für die in Lehre und Rechtsprechung erörterten Fallgruppen Wird die Lehre von der sozialen Adäquanz auf die Funktion beschränkt, strafrechtlich irrelevante Gefahrbegründungen oder -erhöhungen von den strafrechtDazu auch Otto (o. Fn. 22), § 6 Rn. 71; Roxin, FS Klug, 1983, S. 303, 310 ff. Vgl. Klug, FS Eb. Schmidt, 1961, S. 249, 262; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, 9 / 26. 26 Dazu Freund, Strafrecht AT, 1998, § 3 Rn. 4; Langer, Das Sonderverbrechen, 1972, S. 316 f.; ders., Die Sonderstraftat, 2007, S. 95 ff.; Lenckner, GA 1985, 295 ff.; Lenckner, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), Vor §§ 32 ff. Rn. 7 (ergänzt durch das Prinzip des mangelnden Interesses); Rudolphi, GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 371 ff., 396; Schlehofer, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 2003, Vor § 32 Rn. 53 ff. 27 Vgl. Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau, 1969, S. 67 ff. 28 Vgl. auch Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 36; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 309 ff.; Zipf, ZStW 82 (1970), 633, 639 ff. – Vgl. auch zu den gesetzlich geregelten Fällen sozialer Adäquanz Dölling, FS Otto, 2007, S. 219, 220 ff., 225. 24 25

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lich relevanten Gefahrbegründungen oder -erhöhungen zu trennen, so taugt sie einerseits nicht dazu, eine einheitliche Lösung aller Fallkonstellationen zu ermöglichen, die in Lehre und Rechtsprechung mit der Lehre von der sozialen Adäquanz in Verbindung gebracht werden. Andererseits eröffnet sie aber Lösungswege in andere, bisher nicht als Fälle der sozialen Adäquanz genannte Problemstellungen. 1. „Neutrale“, berufsbedingte Verhaltensweisen Wie unter II 2 dargelegt, ist es verfehlt, menschliche Verhaltensweisen allein isoliert äußerlich zu betrachten und zu bewerten. Wird die Verhaltensweise hingegen umfassend situationsbedingt, objektiv und subjektiv beurteilt, so kann keine Rede davon sein, dass z. B. ein Messerverkäufer, der einem Kunden ein Messer, oder ein Drogist, der einem Kunden ein Gift in Kenntnis eines Mordplanes des Kunden verkauft, keine rechtlich relevante Gefahr für das Leben des Mordopfers erhöht hat. Insoweit liegt der Sachverhalt nicht anders als beim Verleihen eines Messers oder der Beschaffung von Gift für einen anderen gegen eine Belohnung, um auf diese Weise einen Mord zu unterstützen. – Soweit daher im Rahmen „neutraler“ oder berufsbedingter Verhaltensweisen eine Begrenzung oder ein Ausschluss der Strafbarkeit als sinnvoll angesehen wird, können diese Aufgabe nur andere Konstruktionen erfüllen.29 Um sozialadäquate, weil für das geschützte Rechtsgut irrelevante Gefahren geht es hier nicht. 2. Risikogeschäfte im Rahmen ordnungsgemäßer Geschäftsführung Die Problematik von Risikogeschäften im Rahmen ordnungsgemäßer Geschäftsführung, die z. T. der sozialen Adäquanz zugeordnet wird,30 unterscheidet sich von dieser grundlegend. Hier geht es nämlich nicht um die Begründung rechtlich irrelevanter Gefahren, sondern um die Legitimität der Begründung oder Erhöhung rechtlich durchaus relevanter Gefahren. Das Risikogeschäft im Rahmen ordnungsgemäßer Geschäftsführung unterscheidet sich nämlich gerade von dem im Rahmen nicht mehr ordnungsgemäßer Geschäftsführung dadurch, dass im ersten Fall ein erlaubtes, rechtlich relevantes Risiko durch den Abschluss des Geschäfts begründet wird, während im zweiten Fall ein unerlaubtes, rechtlich relevantes Risiko begründet wird. Im Hinblick auf die Untreue, § 266 StGB, von Geschäftsführern, 29 Zu den unterschiedlichen Konstruktionen vgl. z. B. Amelung, FS Grünwald, 1999, S. 9, 10 ff.; Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht, AT, 12. Aufl. 2006, 28. Problem; Joecks, in: MK-StGB (o. Fn. 26), § 27 Rn. 41 ff.; Kindhäuser, FS Otto, 2007, S. 355, 360 ff.; Kudlich (o. Fn. 5), S. 68 ff., 424 ff.; Otto, FS Lenckner, 1998, S. 193, 200 ff.; ders. (o. Fn. 22), § 22 Rn. 67 f. mit Fn. 46; Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 26 Rn. 218 ff. 30 Vgl. Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 89; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), Vor §§ 13 ff. Rn. 69; Welzel (o. Fn. 11), S. 56 (hier wird allgemein auf Geschäfte im Rahmen ordnungsgemäßer Geschäftsführung abgestellt).

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Vorständen oder anderen für Dritte handelnden Personen verweist die Problematik daher nicht auf die Begründung oder Erhöhung einer Gefahr für das Vermögen des Treugebers, sondern auf die Frage der Treupflichtverletzung. Ausgangspunkt der rechtlichen Bewertung von Risikogeschäften, die zu einem Vermögensschaden geführt haben, muss die Tatsache sein, dass Risiken im Wirtschaftsverkehr nicht immer ausgeschlossen oder gemindert werden können, und zwar durchaus auch rechtlich relevante Risiken. Ein unerlaubtes Risiko und damit eine Treupflichtverletzung begründet der Täter im Rahmen von Risikogeschäften aber erst, wenn er sich über die vom Gesetzgeber oder von dem Berechtigten (Treugeber) vorgegebenen Risikogrenzen hinwegsetzt oder wenn er „nach Art eines Spielers bewusst und entgegen den Regeln kaufmännischer Sorgfalt eine . . . äußerst gesteigerte Verlustgefahr auf sich nimmt, nur um eine höchst zweifelhafte Gewinnchance zu erhalten“31. – Damit handelt es sich aber bei der Fallgruppe der Risikogeschäfte im Rahmen ordnungsgemäßer Geschäftsführung nicht um eine Problematik der Begründung rechtlich irrelevanter Gefahren, sondern der Begründung rechtlich relevanter, aber erlaubter Gefahren. 3. Verlassen des Ehepartners Mit dem Hinweis darauf, dass sozialadäquates Verhalten keineswegs notwendig ein sozialvorbildliches Verhalten sei, sondern ein Verhalten im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit, hat Welzel das Verlassen der Familie durch den Ehemann, auch wenn dadurch die Gefahr des Suizids der Ehefrau begründet wurde, dem sozialadäquaten Verhalten zugeordnet.32 Auch hier kann aber von der Begründung einer rechtlich irrelevanten Gefahr keine Rede sein, so dass auch dieser Beispielsfall die Grenzen einer auf rechtlich irrelevante Gefahrbegründungen oder -erhöhungen bezogene Lehre von der sozialen Adäquanz sprengt. Auch der BGH hat in seiner Beurteilung des Sachverhalts das Risiko des Suizids der Ehefrau nicht als rechtlich irrelevant angesehen, sondern als rechtlich relevant, indem er den Ehemann in dieser Situation durchaus als verpflichtet ansah, Dritte auf die Situation seiner Ehefrau aufmerksam zu machen und um Schutz zu ersuchen, soweit solche Maßnahmen noch möglich waren.33 Hingegen sah der BGH keine rechtliche Verpflichtung des Ehemannes, die zerrüttete Ehe fortzusetzen: 31 BGH wistra 1991, 220; vgl. auch BGHSt 46, 30, 34 ff.; BGH StV 2004, 424; Hillenkamp, NStZ 1981, 161 ff.; Kindhäuser, in: Nomos Kommentar zum StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2005, § 266 Rn. 73 ff.; Martin, Bankuntreue, 2000, S. 103 ff.; Nack, NJW 1980, 1599; Otto, Grundkurs Strafrecht, B.T., 7. Aufl. 2005, § 54 Rn. 30; Schünemann, in: LK-StGB, 11. Aufl. (o. Fn. 13), § 266 Rn. 95 ff.; Tröndle / Fischer (o. Fn. 23), § 266 Rn. 42 ff.; Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 52 ff., 73 ff. 32 Welzel (o. Fn. 11), S. 56; vgl. auch Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), Vor §§ 13 ff. Rn. 69; Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 1. 33 BGHSt 7, 268, 269 f.

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„. . . selbst wenn er keinen gesetzlichen Grund dazu hatte, so war er doch nicht verpflichtet, die zerrüttete Ehe, deren quälende Wirkungen er nicht ertragen zu können meinte, als Hausgemeinschaft fortzusetzen. Ein Rechtszwang hierzu besteht nicht.“34 – Nicht um das Vorliegen einer rechtlich irrelevanten Gefahr für das geschützte Rechtsgut geht es daher in dieser Problemkonstellation, sondern um die Grenzen der Zumutbarkeit eines rechtlich geforderten Verhaltens. 4. Eigenverantwortliche Selbstgefährdungen a) Sportverletzungen Dass die Teilnahme an Sportarten wie Boxen, Rugby, Eishockey, Fußball u. a. auch bei sorgfältiger Beachtung der Sport- bzw. Spielregeln mit erheblichen Körperverletzungen verbunden sein kann, ist allgemein bekannt und akzeptiert. Auch in diesen Fällen wird erwogen, das Verhalten als nicht tatbestandsmäßig im Sinne der Körperverletzungs- oder gar Tötungsdelikte, §§ 223 ff., 212 StGB, anzusehen, sondern als sozialadäquat auszuschließen.35 Allerdings ist auch in dieser Fallgruppe offensichtlich, dass es hier nicht um rechtlich irrelevante Gefährdungen von Leib und Leben geht, insbes. wenn sogar schwere Körperschäden oder der Tod eines der am Sportwettkampf Beteiligten zu beklagen sind. Aber auch unabhängig von der Gefahrensituation ist die rechtliche Beurteilung der Fälle keineswegs allgemein anerkannt und unstrittig. Bereits insoweit verbietet sich eine Problemlösung mit dem schlichten Verweis auf die Sozialadäquanz der Beteiligung an Sportwettkämpfen. Nach h. M. werden die hier einschlägigen Fallkonstellationen unter dem Gesichtspunkt der einverständlichen Fremdgefährdung bzw. Fremdschädigung erfasst und ihre grundsätzliche Problematik in der Einwilligung gesehen,36 wobei allerdings strittig ist, welche Bedeutung den §§ 216, 228 StGB für eine begrenzende Wirkung der Einwilligung zukommt.37 Unter Beachtung der allgemein anerkannten Voraussetzungen der Einwilligung ist diese Konstruktion aber wenig überzeugend. Eine wirksame Einwilligung setzt danach nämlich voraus, dass der Einwilligende die Tragweite seiner Entscheidung im Hinblick auf den Eingriff in seine Rechtsgüter erkennen und beurteilen kann. Das wiederum setzt die Kenntnis der konkreten Rechtsgutsbeeinträchtigung voraus. Soll dieses Merkmal nicht alle KonBGHSt 7, 268, 270 f. Vgl. Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 59 ff.; ders., FS Otto, 2007, S. 219, 223; Gropp, Strafrecht, AT, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 228 a ff.; Jescheck, in: LK-StGB (o. Fn. 13), Vor § 13 Rn. 49; Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 1; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 38. 36 Vgl. dazu BGH NJW 2004, 1055; Beulke, FS Otto, 2007, S. 207, 215 ff.; Dölling, GA 1984, 71, 80 ff.; Hillenkamp, JuS 1977, 166, 171 f.; Hirsch, in: LK-StGB, 11. Aufl. (o. Fn. 13), Vor § 32 Rn. 94 f.; Weber, FS Baumann, 1992, S. 43, 46 ff.; ders., FS Spendel, 1992, S. 371, 373 ff. 37 Dazu Beulke, FS Otto, 2007, S. 207, 215 ff.; Otto, FS Tröndle, 1989, S. 157, 172 f. 34 35

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turen verlieren, so kann das Wissen, dass ein an einem Boxkampf oder einem Fußballspiel Beteiligter körperliche Verletzungen erleiden kann, diesen Anforderungen nicht genügen. Im Zusammenhang mit der Einwilligung in ärztliche Heileingriffe würde diese Idee wohl nur als abwegig bezeichnet werden. – Hier kommt aber noch hinzu, dass der an einem Sportwettkampf Mitwirkende zwar das Wissen hat, dass es bei solch einem Wettkampf zu körperlichen Verletzungen kommen kann, er aber im Zweifel davon ausgeht, dass nicht er diese Verletzungen erleiden wird, sondern allenfalls ein Gegner. Die Konstruktion der Einwilligung geht daher in Fällen sog. einverständlicher Fremdgefährdung oder Fremdverletzung an der Problematik vorbei. Die Frage nach der Verantwortung für die Rechtsgutsbeeinträchtigung in diesen Fällen darf nicht in die Frage nach der Einwilligung in eine Verletzung oder Gefährdung umgedeutet werden, die der Betroffene gerade vermeiden will. Hier geht es vielmehr um die Frage nach der Verantwortung für die Entscheidung, die Gefährdung einzugehen, aus der die Verletzung sich gegebenenfalls entwickelte. Diese Verantwortungszuweisung sollte aber eindeutig sein: Derjenige, der sich eigenverantwortlich und in voller Kenntnis der Gefahrensituation in eine Gefahrensituation begibt, trägt auch die Folgen seiner Entscheidung und kann nicht Dritte strafrechtlich dafür verantwortlich machen. Er schließt andere von der Verantwortung für die Realisierung dieser Gefahr aus, auch wenn diese an der Realisierung mitgewirkt haben.38 Diese Auseinandersetzung über einzelne Aspekte dieser Problematik kann jedoch dahinstehen, denn deutlich ist bereits, dass es hier nicht um die Begründung rechtlich irrelevanter Gefährdungen geht, sondern um die Verantwortung für die Begründung rechtlich relevanter Gefährdungen. Damit aber steht diese Problematik außerhalb der hier skizzierten Lehre von der sozialen Adäquanz. b) Der sog. Gewitterfall Der mit verschiedenen Varianten seit langem mit unterschiedlichen Lösungen erörterte Gewitterfall verweist in der Konstellation, dass der Neffe den Onkel veranlasst, bei einem nahendem Gewitter über eine weite Heidefläche oder einen kahlen Bergrücken zu gehen, auf die Problematik der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung.39 Handelt es sich hingegen lediglich um die Veranlassung zu einem Spaziergang bei Regen, in der Hoffnung, der Onkel möge von einem Blitz erschlagen werden,40 so handelt es sich in der Tat um einen Fall der Begründung einer rechtlich irrelevanten Gefahr, denn dass es bei Regen zu Blitzschlägen kommt, die sich nicht vorher durch eine Gewittersituation andeuten, ist so unwahrscheinlich, 38 Otto (o. Fn. 22), § 6 Rn. 61, 62; vgl. bereits eingehend Otto, FS Tröndle, 1989, S. 157, 169 ff. 39 Dazu eingehender Otto (o. Fn. 22), § 6 Rn. 4, Fall 8 in Verb. mit Rn. 66 Fall 8; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 38 mit Fn. 77. 40 Vgl. Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 38.

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dass derartige Gefahren nicht in der Alltagsplanung zu berücksichtigen sind. – Insofern läge ein Fall sozialer Adäquanz vor. 5. Ehrverletzende Äußerungen im engen Familienkreis Bei ehrverletzenden, vertraulichen Äußerungen im engen Familienkreis wird z. T. das Vorliegen einer Kundgabe bestritten,41 z. T. wird davon ausgegangen, dass vertrauliche Äußerungen im Familienkreis dem sozialen Achtungsanspruch des Betroffenen keinen Abbruch tun.42 Würde zutreffen, dass ehrverletzende, vertrauliche Äußerungen im engen Familienkreis den Achtungsanspruch des Betroffenen nicht beeinträchtigen, dann wäre die Begründung dafür, dass der Tatbestand nicht erfüllt ist, in der Tat auf die soziale Adäquanz der für den Achtungsanspruch begründeten Gefahr zu stützen. Die Äußerung hätte keine im Sinne der §§ 185 ff. StGB relevante Gefahr begründet.43 Allerdings ist die Prämisse, dass die Äußerung den sozialen Geltungsanspruch nicht beeinträchtigt, wenig überzeugend.44 Die Behauptung z. B. über einen Nachbarn, dieser sei ein gefährlicher Pädophiler, erscheint durchaus geeignet, seinen sozialen Geltungsanspruch schwer zu beeinträchtigen. Dass dieses in einem überschaubaren Personenkreis geschieht, ändert die rechtliche Beurteilung nicht, denn der Achtungsanspruch ist nicht nur vor seiner Beeinträchtigung in der Öffentlichkeit oder in der Allgemeinheit geschützt. Dennoch sind ehrverletzende, vertrauliche Äußerungen im engen Familienkreis zulässig. Da das Interesse an der Möglichkeit vorbehaltloser Äußerungen im vertraulichen, engen Familienkreis das enge Gemeinschaftsverhältnis prägt, ist das Ausspracheinteresse des Äußernden im Intimkreis höher zu bewerten als das Schutzinteresse des in seiner Ehre Beeinträchtigten.45 – Damit handelt es sich hier um eine Problematik der Rechtfertigung rechtlich relevanter Gefahren für ein bestimmtes Rechtsgut, nicht aber um die Feststellung einer rechtlich irrelevanten Gefahr.

41 Vgl. z. B. Hansen, JuS 1974, 104, 106; Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 129; Krey / Heinrich, Strafrecht, B.T. 1, 13. Aufl. 2005, Rn. 417; Zaczyk, in: NK-StGB (o. Fn. 31), Vor § 185 Rn. 38. 42 Vgl. z. B. Engisch, GA 1957, 326, 331; Gallas, ZStW 60 (1941), S. 374, 396 Fn. 31; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 40; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 312. 43 Vgl. Jescheck, in: LK-StGB (o. Fn. 13), Vor § 13 Rn. 49; Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 2; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 40; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 312; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht, AT I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn. 31. 44 Dazu Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 59; ders., FS Otto, 2007, S. 219, 223. 45 Vgl. z. B. Herdegen, in: LK-StGB, 11. Aufl. (o. Fn. 13), § 185 Rn. 14; Otto, FS Schwinge, 1973, S. 71, 87.

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6. Veranlassung zur Teilnahme am Flug-, Schienen- oder Straßenverkehr Der Flug-, Schienen- und Straßenverkehr sind sozial und rechtlich akzeptierte Institutionen, obwohl sie durchaus als – abstrakt – gefährlich angesehen werden müssen. Die Gesellschaft ist aber bereit, diese abstrakten Risiken zu tolerieren, wenn diese Gefahren durch rechtliche Regelungen minimiert und begrenzt werden. Das Verkehrsinteresse ist dann das höherrangige Interesse gegenüber der Vermeidung abstrakter Gefahren für Rechtsgüter Einzelner. Es handelt sich um Situationen des erlaubten Risikos, genau so wie der durch Sicherheitsregeln rechtlich normierte und erlaubte Betrieb von Sägewerken, Steinbrüchen, Atommeilern u. a. Die Grenze zum unerlaubten (Fort)betrieb ist überschritten, wenn eine abstrakt mögliche Gefahr sich erkennbar und vermeidbar in einer konkreten Gefährdung realisiert. Werden hingegen die Sicherheitsregeln eingehalten, und realisiert sich eine abstrakte Gefahr in einer Rechtsgutsbeeinträchtigung, ohne dass zuvor die konkrete Gefahrenlage erkennbar und vermeidbar war, ändert das an der rechtlichen Beurteilung des Betriebs als rechtmäßig nichts. Die abstrakten Gefahren, die von dem erlaubt riskanten Betrieb ausgehen, sind als rechtlich irrelevant für die Rechtsgüter Einzelner zu beurteilen. Sie sind rechtlich akzeptiert und als Verletzungsgefahren rechtlich irrelevant. Wer einen anderen daher zur Teilnahme am öffentlichen Verkehr bestimmt, indem er ihm ein Flugticket schenkt, eine Bahnreise spendiert oder ihn zu einer Taxifahrt einlädt, begründet für den Verkehrsteilnehmer nur eine sozialadäquate Gefahr.46 Weil die Gefahr rechtlich akzeptiert und als rechtlich irrelevant angesehen wird, sind die subjektiven Vorstellungen des Veranlassers des Verkehrsvorgangs über seinen Verlauf oder dessen Beherrschung irrelevant. Er beherrscht die Gefahrensituation über den rechtlich akzeptierten Rahmen hinaus nicht. Seine Pläne, der Verkehrsteilnehmer möge durch eine der dem Verkehr eigenen – abstrakten – Gefahren zu Tode kommen, bleiben lediglich rechtlich irrelevante Wünsche und Hoffnungen. Seine u. U. vorhandene Vorstellung das Geschehen zu beherrschen, begründet ein Wahnverbrechen, nicht aber einen untauglichen Versuch. Die Situation ändert sich aber grundlegend, wenn das abstrakte, erlaubte Risiko überschritten ist, weil der Veranlasser z. B. weiß, dass in dem konkreten Flugzeug eine Bombe versteckt ist, oder eine Straßenbahnweiche falsch gestellt wurde, so dass es zu einem Zusammenprall mit der Gegenbahn kommen wird, oder dass die Bremsen des Taxis blockieren werden. Das sind nicht mehr die erlaubten Risiken des Verkehrs, sondern kriminelle Risiken für Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit.

46 Vgl. auch Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 1; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 38; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 310 f.; Welzel (o. Fn. 11), S. 56; ders., ZStW 58 (1939), 491, 517.

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7. Der Zeugungsakt Zutreffend führt Welzel in seinem Lehrbuch zu Beginn seiner Darstellung der Lehre von der sozialen Adäquanz den Zeugungsakt als Beispiel einer sozialadäquaten Verhaltensweise an47 und kennzeichnet ihn als ein Verhalten, das sich völlig im Rahmen der „normalen“ geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung bewegt. Diese Beurteilung entspricht nach wie vor der rechtlichen Einordnung. Dass das gezeugte Kind ein Mörder werden oder aber die Mutter bei der Geburt zu Tode kommen kann, ist zwar möglich, diese abstrakten Gefahren erkennt die Rechtsordnung aber nicht als rechtlich relevant an. Sie sind nicht geeignet, den Zeugungsakt zu einer tatbestandsmäßigen Körperverletzung oder Tötung werden zu lassen. – Sind hingegen auf Grund der gesundheitlichen Disposition oder anderer besonderer Umstände konkrete Körperverletzungs- oder Lebensgefahren mit einer Geburt verbunden, so verweist die Situation auf durchaus rechtlich erhebliche Gefahren, deren Problematik bei Kenntnis der Frau in der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder -schädigung liegt oder bei überlegener Sachkenntnis des Partners beim Zeugungsakt in einer Fremdschädigung. 8. Bagatellen: Geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigungen Ein allgemeines Prinzip, dass geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigungen nicht tatbestandsmäßig sind, kennt das deutsche Strafrecht nicht.48 Das zeigen schon die §§ 248 a, 263 Abs. 4, 266 Abs. 2 StGB, wo das Gesetz dem Geringfügigkeitsprinzip nur durch das Antragsprivileg Rechnung trägt. In anderen Fällen werden geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigungen entweder bereits durch den Gesetzgeber aus dem Tatbestand ausgeschlossen, indem das Gesetz z. B. in § 184 f StGB als sexuelle Handlungen im Sinne des Gesetzes nur solche anerkennt, „die im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind“, oder im Sinne § 240 StGB ein „empfindliches“ Übel voraussetzt. Schließlich werden durch die Definition einzelner Merkmale eines Tatbestands, z. B. durch die der Körperverletzung als erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigungen aus dem Tatbestand ausgeschlossen. Ist durch das Gesetz oder seine Auslegung im konkreten Fall keine grundsätzlich Lösung vorgezeichnet, z. B. bei geringfügigen Freiheitsberaubungen, § 239 StGB, oder Sachbeschädigungen, § 303 StGB, so ist die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens nicht zu bestreiten, und die einschlägigen Fälle können auch nicht ausnahmslos als sozial üblich abgetan werden, denn die – wenn auch geringfügige – Beeinträchtigung des Rechtsguts steht außer Frage. Auch hier bietet sich allerdings die verfahrensrechtliche Lösung, Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit Welzel (o. Fn. 11), S. 55 f. Dazu auch Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), Vor §§ 13 ff. Rn. 70 a; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 40. 47 48

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im Einzelfall angemessen im Rahmen der §§ 153, 153 a StPO zu berücksichtigen.49 9. Bagatellen: Scheinbare Rechtsgutsbeeinträchtigungen Vom Sachverhalt ähnlich sind den geringfügigen Rechtsgutsbeeinträchtigungen die Fälle scheinbarer Rechtsgutsbeeinträchtigungen, da es hier auch um Bagatellfälle geht. Rechtlich besteht zwischen den Fallgruppen aber ein wesentlicher Unterschied. Das hier typischerweise genannte übliche Neujahrsgeschenk an den Postboten50 und das Anbieten einer Zigarette oder einer Tasse Kaffee an einen Beamten für eine schnelle oder unkonventionelle Amtshandlung stellen nicht einmal geringfügige Beeinträchtigungen des geschützten Rechtsguts dar, sondern nur eine scheinbare Rechtsgutsbeeinträchtigung, weil derartige Geschenke nicht das Vertrauen in die Integrität der Amtsführung gefährden.51 Hier wird daher lediglich eine sozialadäquate, rechtlich nicht relevante Gefahr begründet. Gleiches gilt für das Glücksspiel mit geringen Einsätzen, wenn man im geschützten Rechtsgut des § 284 StGB den Schutz der Bevölkerung vor Ausbeutung durch Erregung der Spielleidenschaft erkennt. Dann begründen derartige Spiele lediglich eine für das geschützte Rechtsgut sozialadäquate, rechtlich irrelevante Gefahr.52 – Sieht man hingegen das Vermögen als durch § 284 StGB geschützt an, so handelt es sich um eine geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigung, deren Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit verfahrensrechtlich zu berücksichtigen ist. Es scheint nahe liegend, die Überlegungen zur Sozialadäquanz geringwertiger und üblicher Geschenke auf andere Leistungen – größere Zuwendungen – im Rahmen des geschäftlichen und gesellschaftlichen Verkehrs auszudehnen.53 Da der49 Zu weit aber schon OLG Hamm NJW 1980, 2537: Verlagerung gepfändeter Waren an einen Ort, wo sie dann von anderen Gläubigern gepfändet werden, als nicht tatbestandsmäßig im Sinne des § 136 Abs. 1 StGB; vgl. auch Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 2; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), Vor §§ 13 ff. Rn. 70 a. – A. A. Freund, in: MKStGB (o. Fn. 26), Vor § 13 Rn. 188 ff.; Ostendorf, GA 1982, 333 ff. 50 Dieser ist nach heutiger Rechtslage allerdings nicht mehr Beamter. Heute wäre der Postbeamte daher durch den Polizeibeamten zu ersetzen; vgl. dazu auch Gropp (o. Fn. 35), § 6 Rn. 228; Schünemann, FS Otto, 2007, S. 777, 785. 51 Vgl. auch Dölling, FS Otto, 2007, S. 219, 220; Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 126; Jescheck, in: LK-StGB (o. Fn. 13), Vor § 13 Rn. 49; Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 2; Kindhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 2006, § 33 Rn. 33; Rönnau, in: LK- StGB, 12. Aufl. (o. Fn. 13), Vor § 32 Rn. 52; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 40; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 312; Schünemann, FS Otto, 2007, S. 777, 785 f.; eingehend zur Problematik Eser, FS Roxin, 2001, S. 198, 203 ff. 52 Vgl. auch Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 128; Jescheck, in: LK-StGB (o. Fn. 13), Vor § 13 Rn. 49; Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 2; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 40; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 312. 53 Im einzelnen dazu Eser, FS Roxin, 2001, S. 198, 205; Knauer / Kaspar, GA 2005, 385, 396 ff.; Kuhlen, in: NK-StGB (o. Fn. 31), § 331 Rn. 88; Thomas, FS Jung, 2007, S. 973 ff., insbes. S. 979, 981.

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artige Zuwendungen allerdings erhebliche Vorteile sein können, ist es mehr sachgerecht, darauf abzustellen, ob diese Vorteile für die Dienstausübung oder im Rahmen des üblichen und notwendigen geschäftlichen oder gesellschaftlichen Verkehrs gewährt wurden, denn nicht der geschäftliche Verkehr, sondern allein die Zweckrichtung der Vorteilsgewährung kann diese Zuwendungen legitimieren. 10. Voraussetzungen der Anstiftung Als Beispiel sozialadäquaten Verhaltens führt Welzel bereits den Fall an, dass jemand einen anderen, der sich anschickt, einen Dritten zu retten, der zu ertrinken droht, auf die Kälte des Wassers aufmerksam macht in der (vom Erfolg bestätigten) Erwartung, dieser werde seinen Entschluss daraufhin aufgeben.54 Damit berührt Welzel eine grundsätzliche Frage, nämlich die nach den Voraussetzungen der Anstiftung: Genügt es für das „Bestimmen“ eines anderen im Sinne des § 26 StGB, dass der Anstifter für den Tatentschluss des Täters ursächlich war oder erfordert das „Bestimmen“ ein über die Verursachung hinausgehendes rechtsgutsgefährdendes Verhalten des Anstifters? Die höchstrichterliche Rechtsprechung und ein Teil der Literatur begnügen sich mit der bloßen Verursachung des Tatentschlusses als Bestimmen des Täters: „Bei der Anstiftung reicht jedes Mittel der intellektuellen Beeinflussung für die Tatbestandserfüllung aus, auch wenn es als solches von dem zu Beeinflussenden nicht erkannt wird.“55 Andere fordern zumindest einen geistigen Kontakt zwischen dem Anstifter und dem Anzustiftenden mit dem Ziel der Verursachung des Tatentschlusses bei dem Anstiftenden, so dass die Schaffung einer zur Tat anreizenden Situation noch kein geeignetes Anstiftungsmittel ist.56 Beide Ansichten sind erheblichen Einwänden ausgesetzt. Zum einen stellt § 26 StGB den Anstifter dem Täter nach der Strafdrohung gleich. Diese Gleichstellung wäre aber schlicht willkürlich, wenn sie nicht daran anknüpfte, dass der Unrechtsgehalt der Täterschaft dem der Anstiftung graduell entspricht. Dass aber Täterschaft und Mittäterschaft mehr voraussetzen als die bloße (Mit-)Verursachung des Taterfolgs ist allgemein anerkannt. Begnügt man sich demgegenüber bei der Anstiftung mit der bloßen Verursachung, so kann von einer graduellen Entsprechung des Unrechtsgehalts keine Rede sein. Auch für die Anstiftung ist daher eine Tathandlung zu fordern, die über die bloße Verursachung des Tatentschlusses hinaus-

54 Welzel (o. Fn. 11), S. 56 unter Bezug auf Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 200. 55 BGHSt 45, 373, 374; BGH NJW 1985, 924; vgl. auch Herzberg, JuS 1976, 40, 41; Hillenkamp, JR 1987, 254, 256; Lackner / Kühl (o. Fn. 18), § 26 Rn. 2; Widmaier, JuS 1970, 241, 242 f. 56 Vgl. Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 64 II 2 a; Kühl, Strafrecht, AT, 5. Aufl. 2005, § 20 Rn. 172; Plate, ZStW 84 (1972), 294, 295; Schmidhäuser (o. Fn. 25), 14 / 104.

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geht.57 Zum anderen beruht das deutsche Strafrecht auf dem Verantwortungsprinzip, d. h. der Verantwortung des Täters für seine Tat. Danach aber ist jede Person nur für ihr eigenes Verhalten verantwortlich, nicht für das Verhalten frei verantwortlich handelnder anderer.58 Zwar können sich andere an der Tat durch Unterstützung oder auch Beeinflussung des Täters beteiligen. Wer aber lediglich den Tatentschluss des Täters verursacht, zeigt diesem die Möglichkeit kriminellen Verhaltens auf, er überlässt es aber gerade seiner frei verantwortlichen Entscheidung, ob er den kriminellen Tatplan verwirklicht. Damit aber nimmt der Verursacher des Tatplans an der Tat noch nicht teil. Er begründet lediglich die Gefahr, dass ein anderer sich aufgrund eigener, verantwortlicher Entscheidung dazu entschließt, einen Verbrechensplan umzusetzen. Die Umsetzung selbst aber ist Werk des Täters, an dem der Verursacher des Tatplans nicht teilnimmt. Die Verursachung des Tatplans, sei es durch Schaffung einer „tatprovozierenden Lage“ – der Verursacher stellt abends eine Leiter an ein Haus in die Nähe eines offenen Fensters und geht davon aus, dass diese Situation einen Einbrecher zum Einbruch anregt; der Bankräuber wirft auf der Flucht eine Handvoll 100 A-Scheine hinter sich, um die Verfolger abzulenken – oder durch Hinweis auf einen wahren, den Tatentschluss begünstigenden Sachverhalt – nach einem Verkehrsunfall bei einem schweren Unwetter weist der Beifahrer den Fahrer, der sich um das Unfallopfer kümmern will, darauf hin, dass er sich bei diesem Wetter den Anzug ruiniert, woraufhin der Fahrer das Aussteigen unterlässt und weiterfährt – begründet keine eigenständige Gefahr für das geschützte Rechtsgut, die über den Hinweis auf die Deliktsmöglichkeit hinausgeht. Die Entscheidungsfreiheit des Täters wird nicht beeinflusst. Erst mit der Einflussnahme auf den Willen des Täters ist daher eine Teilnahme des Verursachers an der Verantwortung für die Tat zu begründen. Solange diese Einflussnahme nicht erfolgt, handelt es sich bei der Verursachung des Tatentschlusses um die Begründung einer rechtlich irrelevanten, sozialadäquaten Gefahr.59 Rechtlich relevant wird diese Gefahr erst, wenn der Verursacher über die bloße Verursachung des Tatentschlusses hinaus auf den Willen des Täters Einfluss nimmt. Dieser Gedanke hat in der Literatur in der Forderung Ausdruck gefunden, dass das Bestimmen des Täters nicht nur psychischen Kontakt voraussetzt, sondern auch dort, wo diese Kommunikation gegeben ist, auf eine erkennbare Beeinflussung, Aufforderung, Anregung zur Tat gerichtet sein muss.60 Knut Amelung hat den Begriff der korrum-

57 Vgl. dazu auch Krey, Deutsches Strafrecht, AT 2, 2. Aufl. 2005, Rn. 257; Otto (o. Fn. 22), § 22 Rn. 35. 58 Dazu im Einzelnen Otto (o. Fn. 22), § 6 Rn. 49 m. e. N. in Fn. 32. 59 Vgl. dazu auch Frisch (o. Fn. 13), S. 332 ff.; Hilgendorf, Jura 1996, 9 ff.; Roxin, AT II, 2003, § 26 Rn. 77. 60 Vgl. Freund (o. Fn. 26), § 10 Rn. 115; Fuhr, Die Äußerung im Strafgesetzbuch, 2001, S. 65 f.; Joecks, in: MK-StGB (o. Fn. 26), § 26 Rn. 9; Krey (o. Fn. 57), Rn. 257; D. Meyer, MDR 1975, 982, 983; Otto, JuS 1982, 557, 560; ders. (o. Fn. 22), § 22 Rn. 34; Roxin (o. Fn. 59), § 65 ff., 74 ff.; Schild, in: NK-StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2005, § 26 Rn. 23; Schlüchter / Duttge, NStZ 1997, 595; Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der

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pierenden Aufforderung eingehend konkretisiert und als sanktionsträchtigen Appell zur Begehung einer Straftat erfasst.61 Mit der Beeinflussung des Täters, eine bestimmte Straftat zu begehen, geht der Beeinflussende über die Begründung einer sozialadäquaten, rechtlich irrelevanten Gefahr hinaus.62 Er begründet eine rechtlich relevante Gefahr. Insofern erweist sich, dass die Lehre von der Adäquanz auch tauglich ist, die Anstiftungshandlung zu präzisieren und zu konkretisieren. 11. Der Ausschank alkoholischer Getränke Sachlich identisch mit der Problematik der Anstiftung ist die Problematik des Ausschanks alkoholischer Getränke an Personen, die aufgrund des Genusses der alkoholischen Getränke nicht mehr in der Lage sind, ein Kraftfahrzeug sicher zu führen, aber gleichwohl mit dem Kraftfahrzeug fahren. Auch hier begründet derjenige, der den Alkohol ausschenkt, die Möglichkeit einer strafbaren Handlung durch den Konsumenten des alkoholischen Getränks. Die Entscheidungsfreiheit des Täters wird aber durch diese Handlung nicht beeinflusst, solange er noch nicht in seiner Entscheidungsfreiheit rechtlich erheblich beeinträchtigt ist. Solange der Konsument der Getränke daher rechtlich frei verantwortlich entscheiden kann, ob er ein Kraftfahrzeug trotz des Alkoholgenusses führt oder nicht, begründet derjenige, der den Alkohol ausschenkt, lediglich eine rechtlich irrelevante, sozialadäquate Gefahr. Überzeugend hat der BGH hierzu festgestellt: „Wer als Gastwirt einem Kraftfahrer Alkohol ausgeschenkt hat, ist regelmäßig nur dann verpflichtet, das Weiterfahren des Gastes mit angemessenen und ihm möglichen Mitteln zu verhindern, wenn der Gast offensichtlich so betrunken ist, dass er sich nach verständiger Beurteilung nicht mehr eigenverantwortlich verhalten kann.63 – Diese Feststellungen im Hinblick auf den Gastwirt sind ohne weiteres auf den privaten Gastgeber zu übertragen. 12. Strafvereitelung Nach § 258 Abs. 1 StGB wird wegen Strafvereitelung bestraft, wer ganz oder zum Teil vereitelt, dass ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidSelbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 51 f.; Stratenwerth / Kuhlen (o. Fn. 43), § 12 Rn. 143; Wessels / Beulke (o. Fn. 23), Rn. 568. 61 Amelung, FS Schroeder, 2006, S. 163 ff., 178. 62 Zur Forderung weiterer, über die Beeinflussung des Täters hinausgehende Erfordernisse für das Bestimmen vgl. Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Stand Okt. 2005, § 26 Rn. 12; Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 22 / 21 ff.; Puppe, GA 1984, 101 ff.; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 124; Schulz, JuS 1986, 933, 937 ff. 63 BGHSt 19, 152; vgl. auch Jescheck, in: LK-StGB (o. Fn. 13), Vor § 13 Rn. 49; Jescheck / Weigend (o. Fn. 23), § 25 IV 1; Roxin (o. Fn. 5), § 10 Rn. 39; ders., FS Klug, 1983, S. 303, 311; Welzel (o. Fn. 11), S. 57.

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rigen Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) bestraft oder einer Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) unterworfen wird. Durch die Tathandlung selbst muss die Möglichkeit der Verwirklichung des Strafanspruchs verschlechtert werden. Allerdings verbietet das Gesetz lediglich, die Durchsetzung des Strafanspruchs zu erschweren oder zu verhindern, es gebietet hingegen nicht, sie zu ermöglichen oder zu erleichtern dadurch, dass der Straftäter aus seinen sozialen Bezügen hinausgedrängt und damit isoliert wird. Das gilt auch, wenn feststeht, dass die soziale Isolierung den Zugriff der Strafverfolgungsorgane erleichtern oder den Straftäter veranlassen würde, sich der Strafverfolgungsbehörden zu stellen. Das bedeutet aber, dass als Tathandlung nicht jedes Verhalten in Betracht kommt, das kausal dafür ist, dass der staatliche Zugriff für geraume Zeit nicht verwirklicht werden konnte. Das Verhalten selbst muss als Vereitelungshandlung einen „Verheimlichungscharakter“ haben. Die Gefahr, die sich in der Tathandlung realisiert, muss in bestimmter Weise qualifiziert sein. Verhaltensweisen, die die Möglichkeit der Verwirklichung des Strafanspruchs verschlechtern, aber keinen Verheimlichungscharakter haben, begründen lediglich sozialadäquate, rechtlich irrelevante Gefahren für das geschützte Rechtsgut. Vor diesem Hintergrund wird die Differenzierung der Rechtsprechung bei der Unterkunftsgewährung an einen Straftäter danach, ob der Straftäter schlicht beherbergt wird oder ob ihm ein „Versteck gewährt wird“64 nachvollziehbar. Zwar sind im Einzelfall bei privaten Beziehungen in diesem Rahmen Abgrenzungsprobleme nicht auszuschließen, doch sollten diese nicht überschätzt werden, denn grundsätzlich ist auch hier durchaus auszumachen, ob eine bestimmte Handlung innerhalb der Beziehungen der Beteiligten üblich ist oder ob sie „ausnahmsweise“ im Hinblick auf den Strafvereitelungserfolg erbracht wird. In geschäftlichen Beziehungen ist die Unterscheidung demgegenüber einfacher, denn welche Handlungen hier allgemein üblich sind, ist durch Typisierung oder eingespieltes Rollenverhalten festgelegt. In gleicher Weise bestimmbar sind humanitäre Handlungen. Wer den Straftäter medizinisch versorgt, auch wenn es nicht um die Abwendung einer Lebensgefahr geht, erfüllt die an einen Bürger im sozialen Miteinander gerichteten Erwartungen.65 – In der Literatur wird weitgehend übereinstimmend im Ergebnis, wenn auch unterschiedlich in der Begründung, davon ausgegangen, „dass eine Handlung dann nicht als Strafvereitelungshandlung angesehen werden kann, wenn sie lediglich eine berechtigte Inanspruchnahme des jedermann gewährleisteten Freiheitsspielraum bedeutet“.66 Ein rechtlich unerlaubtes Risiko für das geschützte 64 Vgl. OLG Stuttgart NJW 1981, 1569 mit Anm. Frisch, JuS 1983, 915 ff., Geppert, JK StGB, § 258 / 2; OLG Koblenz NJW 1982, 2785 mit Anm. Frisch, NJW 1983, 2471 ff.; LG Hannover NJW 1976, 979 mit Anm. Schroeder, ebenda, 980. 65 Vgl. dazu auch Frisch, JuS 1983, 915, 923; Otto, FS Lenckner, 1998, S. 193, 217 f.; Rackow, Neutrale Handlungen als Problem des Strafrechts, 2007, S. 510 ff; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), § 258 Rn. 21; Tröndle / Fischer (o. Fn. 23), § 258 Rn. 11. 66 Lackner / Kühl (o. Fn. 18), § 258 Rn. 3; vgl. dazu im Einzelnen Frisch, JuS 1983, 915; ders., NJW 1983, 2471; Hassemer, wistra 1995, 81, 83; Hoyer, in: SK-StGB, Stand: Okt. 2006, § 258 Rn. 24 f.; Kindhäuser, StGB, 3. Aufl. 2006, § 258 Rn. 6; Küpper, GA 1987, 385,

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Rechtsgut wird im Rahmen der Strafvereitelung daher erst mit Verhaltensweisen begründet, die über den Vollzug üblicher sozialer Kontakte hinausgehen, auf Verheimlichung gerichtet sind und dadurch die Durchsetzung des Strafanspruchs erschweren oder verhindern können. Verhaltensweisen, denen der Verheimlichungscharakter fehlt, stellen nur eine sozialadäquate, rechtlich irrelevante Gefährdung des geschützten Rechtsguts dar. 13. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, § 86 a StGB Nach Auffassung des BGH stellt jegliches Gebrauchmachen von einem Kennzeichen i. S. des § 86 a StGB ein Verwenden des Kennzeichens dar, es sei denn, die Kennzeichenverwendung laufe dem Schutzzweck des § 86 a StGB ersichtlich nicht zuwider und werde daher vom Tatbestand nicht erfasst.67 Dieses soll z. B. der Fall sein beim Gebrauch des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation in einer Darstellung, deren Inhalt in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringe.68 Diese Interpretation des Begriffs des Verwendens weist auf einen geradezu beispielhaften Anwendungsfall der sozialen Adäquanz, denn das Verhalten wäre nicht tatbestandsmäßig, weil es nur eine rechtlich irrelevante Gefahr für das geschützte Rechtsgut begründet. § 86 a Abs. 3 in Verbindung mit § 86 Abs. 3 StGB, der eine gesetzliche Regelung sozialadäquater Fallkonstellationen regelt, steht dieser Interpretation nicht entgegen, da die Regelung nicht als Ausschluss anderer Fälle nur scheinbarer Rechtsgutsbeeinträchtigungen aufzufassen ist. Sachlich hingegen ist diese Interpretation problematisch. Zielt § 86 a StGB nämlich darauf ab, bestimmte Kennzeichen aus der Öffentlichkeit zu verbannen69, d. h. zu tabuisieren, um die Verbindung zwischen den Kennzeichen und der Erinnerung an ihren Bedeutungsgehalt zu unterbrechen, so liegt auch in der Verwendung des Kennzeichens, um Gegnerschaft zu der mit diesem Kennzeichen verbundenen Institution zum Ausdruck zu bringen, keine irrelevante Gefährdung des Schutzzwecks vor, sondern eine durchaus relevante. – Anders stellt sich die Situation dar, wenn die 399; Otto, FS Lenckner, 1998, S. 193, 217; Rengier, Strafrecht, B.T. I, 10. Aufl. 2008, § 21 Rn. 37; Weisert, Der Hilfeleistungsbegriff bei der Begünstigung, 1999, S. 197. – A. A. Wolf, Das System des Rechts der Strafvereitelung, 2000, S. 289. 67 Vgl. BGHSt 25, 30, 32 ff.; 25, 133, 136 f.; 28, 394, 396; vgl. auch OLG Hamburg NStZ 1981, 393; OLG Hamm NJW 1982, 1656, 1657; OLG Stuttgart MDR 1982, 246; OLG Frankfurt NStZ 1982, 333; OLG Köln NStZ 1984, 508; OLG Oldenburg NStZ 1986, 166, 167; BayObLG NJW 1988, 2901, 2902. 68 BGH HSt 51, 244 mit Anm. Bosch, JA 2007, 551 ff.; Hörnle, NStZ 2007, 698 f., Kasper, JR 2008, 70 ff.; Satzger, JK StGB, § 86a / 1; Schroeder. JZ 2007, 851 f.; Vorbaum, JR 2007, 524 ff. 69 Dazu auch BayObLGSt 2002, 43.

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Norm darauf zielt, der inhaltlichen Identifizierung mit dem Bedeutungsgehalt symbolträchtiger Kennzeichen zu wehren. Dann aber wären nicht nur Verwendungen der Kennzeichen um Gegnerschaft zu der mit diesen verbundenen Ideologie zum Ausdruck zu bringen, nicht geeignet, den Schutzzweck der Vorschrift zu verletzen, sondern auch die Verwendung der Kennzeichen auf Modellen, Sammlerstücken u. Ä., soweit mit dem Zeigen der Kennzeichen nicht zugleich ein Bekenntnis zu den Zielen der verbotenen Organisationen verbunden ist.70 – Diese Auffassung aber lehnt der BGH ab. Damit aber ist seine Rechtsprechung wenig stringent.71 V. Ergebnis 1. Die Untersuchung hat die Feststellung Knut Amelungs bestätigt, dass der Schluss vom sozial Üblichen auf das normativ Richtige nicht weiterführt. 2. Ausgangspunkt der Beurteilung sozial üblicher Verhaltensweisen kann nicht die Üblichkeit des Verhaltens sein, sondern die Frage, ob diese Verhaltensweisen eine – nach rechtlichen Maßstäben – sozialadäquate, d. h. rechtlich irrelevante Gefahr für das geschützte Rechtsgut begründen oder bereits ein rechtlich unerlaubtes Risiko, d. h. eine rechtlich relevante Gefahr. 3. Die Differenzierung nach Art und Qualität der Gefahr ermöglicht es, unter den typischerweise als sozialadäquat genannten Verhaltensweisen diejenigen herauszufinden, hinter denen sich bereits ein Problem objektiver Zurechnung verbirgt, weil diese Verhaltensweisen nur rechtlich irrelevante Gefahren für das geschützte Rechtsgut begründen. Damit wird zugleich der Zwang begründet, für andere, hier ausgeschlossene Fallkonstellationen, andere rechtsdogmatisch tragfähige Lösungen zu suchen. Der bloße Hinweis auf die Sozialadäquanz eines Verhaltens hilft jedenfalls nicht weiter. 4. Die soziale Adäquanz stellt sich insoweit als ein Auslegungsprinzip dar, das es ermöglicht, auf Tatbestandsebene die objektive Zurechnung zu begrenzen und zu präzisieren.

70 Vgl. dazu Paeffgen, in: NK-StGB (o. Fn. 31), § 86 a Rn. 14; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 66), § 86 a Rn. 6, 8; Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), § 86 a Rn. 6. 71 Vgl. auch Bosch, JA 2007, 551, 553.

Untreue zu Lasten juristischer Personen und Einwilligungskompetenz der Gesellschafter Von Thomas Rönnau I. Einleitung Die Frage, unter welchen Voraussetzungen natürliche Personen ihre Rechtsgüter im Wege der Einwilligung zu selbstgewählten Zwecken preisgeben können, hat den Jubilar in einer Vielzahl von Beiträgen beschäftigt. Dank seiner tiefschürfenden Arbeiten wissen wir heute erheblich mehr über die subjektiven Schranken der Einwilligung (Einwilligungsfähigkeit und Willensmängel) sowie über die Problematik bei Zustimmungen in (strafprozessuale) Grundrechtsbeeinträchtigungen. 1 Neben diesem großen Forschungsfeld gibt es im Einwilligungskontext weitere, dogmatisch reizvolle und praxisrelevante Bereiche, die eine nähere Betrachtung lohnen. Im Schnittfeld von Strafrecht und Gesellschaftsrecht lässt sich hier die Einwilligung als Unrechtsausschließungsgrund bei der „gesellschaftsrechtlichen Untreue“ (sog. „Organuntreue“) nennen. Während dabei über die Grenzen einer wirksamen Einwilligung der Gesellschafter in die Schädigung der GmbH seit Jahrzehnten intensiv diskutiert wird, findet eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage bei der AG bisher kaum statt.2 Als Gründe dafür lassen sich neben der – im Vergleich zur GmbH – strengen Vermögensbindung sowie der spezifischen Organkompetenzen bei der AG vor allem denken, dass es gerade bei der Publikums-AG kaum vorkommen dürfte, dass die Gesamtheit oder auch nur die Mehrheit der Aktionäre vermögensschädigendem Vorstandshandeln zustimmt.3 Aber schon der Fall 1 Aus der Fülle seiner einschlägigen deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Einwilligungsfähigkeit s. Amelung, Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention, 1995; Recht und Psychiatrie 1995, 20 ff.; ZStW 104 (1992), 525 ff.; zur Freiwilligkeit und den Willensmängeln ders., Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung der Verletzten, 1998; ZStW 95 (1983), 1 ff.; ZStW 109 (1997), 490 ff.; GA 1999, 182 ff.; NStZ 2006, 317 ff.; im Grundrechtskontext ders., Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981; FS zum 10-jährigen Bestehen der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 1 ff.; StV 1985, 257 ff. 2 So auch J. Kaufmann, Organuntreue zum Nachteil von Kapitalgesellschaften, 1999, S. 58 f. m. w. N.; Busch, Konzernuntreue, 2004, S. 151 f.; Brand, AG 2007, 681. 3 Vgl. Flum, Der strafrechtliche Schutz der GmbH gegen Schädigungen mit Zustimmung der Gesellschafter, 1990, S. 40 ff.; Seier, in: Achenbach / Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl., 2008, V 2 Rn. 221 („mehr von theoretischem als praktischem Interesse“); Taschke, in: FS Lüderssen, 2002, S. 663, 666.

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„Mannesmann“ hat gezeigt, dass jedenfalls in Sondersituationen – hier: die Zustimmung der Vodafone AirTouch plc zu den von Mitgliedern des Aufsichtsrates (Präsidium) bewilligten hohen Vorstandsprämien im Zeitpunkt der Prämienauszahlung (Frühjahr 2000), in dem das britische Unternehmen bereits 98,66 % der Aktien an der Mannesmann-AG übernommen hatte4 – durchaus auch bei börsennotierten Aktiengesellschaften einschlägige Sachverhalte auftreten können. Die Praxisrelevanz der Problematik steigt zudem erheblich, wenn nur wenige Aktionäre („Familienunternehmen“) oder gar nur ein Alleinaktionär (etwa bei konzernrechtlichen Sachverhalten) sämtliche Anteile an einer AG halten.5 Ist so die Beschäftigung mit dem Einwilligungsthema bei der AG ausreichend begründet, zwingt der Rahmen eines Festschriftbeitrages naturgemäß zu Einschränkungen. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung soll die Frage stehen, ob sich der Vorstand einer AG durch Schädigung des Gesellschaftsvermögens trotz Einverständnisses der Aktionäre gem. § 266 StGB strafbar macht. Zu denken ist an Fälle, in denen die Geschäftsführung mit Zustimmung der Hauptversammlung z. B. überteuerte Waren kauft (und sich damit ohne Einverständnis pflichtwidrig und vermögensschädigend verhielte) oder auch an konsentierte Schmiergeldzahlungen zur Auftragserlangung, die wegen des Verstoßes gegen die aktienrechtliche Legalitätspflicht jedenfalls nach ganz herrschender Meinung im Gesellschaftsrecht im Grundsatz verboten sind.6 Ausgeklammert bleibt dagegen, ob die Wirksamkeit der Einwilligung Einstimmigkeit erfordert oder nicht doch eine (qualifizierte) Gesellschaftermehrheit ausreicht.7 Diese Frage stellt sich erst, wenn über die – hier allein interessierende – grundsätzliche Einwilligungsmöglichkeit Klarheit besteht. Zudem wird zur Blickschärfung die Thematik allein für die unverbundene AG (d. h. die AG ohne konzernrechtliche Verflechtungen) diskutiert. Die dabei gefundenen Ergebnisse mögen dann im Bereich der sog. Konzernuntreue8 fruchtbar gemacht werden. Unvermeidbar ist es allerdings, die im GmbH-Bereich erörterten Lösungsansätze mit vorzustellen und zu bewerten, da hier nicht selten Anleihen für die Bestimmung der Einwilligungsgrenzen bei den Aktionären gemacht werden.

Zum Sachverhalt s. BGHSt 50, 331, 333 f. Richtig Brand, AG 2007, 681; Busch (o. Fn. 2), S. 152. 6 Umfangreiche Nachw. zur aktienrechtlichen „Legalitätspflicht“ bei Fleischer, ZIP 2005, 14 f. m. Fn. 2 und 12, sowie Schneider / Brouwer, ZIP 2007, 1033, 1037 f.; zur strafrechtlichen Bewertung vgl. nur Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 266 Rn. 51 m. w. N.; kritisch dazu Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 923 ff. 7 Dazu ansatzweise für die GmbH und AG Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht. Einführung und Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2007, Rn. 217; im Kontext „Mannesmann“ s. Krause, StV 2006, 307, 310 f.; Vogel / Hocke, JZ 2006, 568, 570 f.; Ransiek, NJW 2006, 814, 815 f. 8 Zur Thematik aus jüngerer Zeit Busch (o. Fn. 2) und Arnold, Untreue im GmbH- und Aktienkonzern, 2006. 4 5

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II. Strafrechtlicher Meinungsstand zur Einwilligungskompetenz der Anteilseigner 1. Bedeutung der Gesellschafterzustimmung bei der GmbH Rechtsprechung und insbesondere Schrifttum zur Frage, inwieweit das Einverständnis der GmbH-Gesellschafter die untreuerechtliche Pflichtwidrigkeit des Geschäftsführerhandelns gegenüber der GmbH beseitigt, sind mittlerweile unübersehbar geworden.9 Von den vier denkbaren Positionen10 beherrschen heute zwei Lösungsansätze (in verschiedenen Varianten) die Diskussion. Nach zunächst deutlichen Schwankungen entspricht es seit der Grundlagenentscheidung des 3. BGHStrafsenats aus dem Jahre 198811 gefestigter Rechtsprechung12, dass die Gesellschafter grundsätzlich frei über das (für sie fremde) Vermögen der GmbH verfügen können, ihre Zustimmung zu vermögensschädigenden Geschäftsführungsmaßnahmen (etwa verdeckte Gewinnausschüttungen oder Rückzahlungen eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen) also eine Vermögensbetreuungspflichtverletzung ausschließt. Lediglich dort, wo der Gesellschaft durch die Maßnahme ihre Produktionsgrundlage entzogen, das gem. § 30 GmbHG für unantastbar erklärte (bilanzielle) Stammkapital der Gesellschaft durch Ausschüttung an die Gesellschafter angegriffen oder die wirtschaftliche Existenz der GmbH in anderer Weise unmittelbar und konkret gefährdet wird, soll das Einverständnis unwirksam bleiben. Diese – relative – Vermögensbindung (und damit Unverfügbarkeit für die Gesellschafter) wurde früher auch mit der eigenen Rechtspersönlichkeit der 9 Vgl. nur die Schrifttumsverzeichnisse von Seier, in: Achenbach / Ransiek (o. Fn. 3), V 2 Rn. 279, Schramm, Untreue und Konsens, 2005, S. 289 ff., und Hanft, Strafrechtliche Probleme im Zusammenhang mit der Einmann-GmbH, 2006, S. 219 ff. 10 Eine Skizze der Thesen findet sich bei Schünemann, in: LK-StGB, 11. Aufl. 27. Lfg. 1998, § 266 Rn. 125 c) bb). Heute werden im Bereich der GmbH-Untreue die (von Schünemann sogenannte) strenge und die eingeschränkte Körperschaftstheorie nicht mehr vertreten. Nach ersterem, vom RG vertretenen Lösungsansatz konnten die Gesellschafter eine Schädigung des Gesellschaftsvermögens nicht gestatten; der Umgang mit dem GmbH-Vermögen durfte also nur nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften (z. B. gem. § 29 GmbHG a.F. [Gewinnverwendung]) stattfinden (RGSt 42, 278, 283 f.; 71, 353, 355 f.). Die vom BGH entwickelte eingeschränkte Körperschaftstheorie lockerte das Zustimmungsverbot etwas und ließ bei Zustimmung aller Gesellschafter die Pflichtwidrigkeit einer Vermögensschädigung dann entfallen, wenn die konsentierte Maßnahme noch vom zwingenden Recht sowie den Grundsätzen eines ordentlichen Kaufmanns gedeckt war (BGHSt 9, 203, 216 m. w. N.; 30, 127; 34, 379, 385, 388 f.; OLG München NJW 1984, 3112, 3114). 11 BGHSt 35, 333 ff. 12 Aus jüngerer Zeit etwa BGH NJW 1997, 66, 68 f.; 2000, 154, 155; 2003, 2996, 2998 f.; 2004, 2248, 2253 = BGHSt 49, 147, 158 – „Bremer Vulkan“; BGH NStZ-RR 2005, 86; aus dem Zivilrecht s. nur BGHZ 149, 10, 16 f. – „Bremer Vulkan“; 151, 181, 186 f. – „KBV“; BGH ZIP 2005, 117 f. m. zust. Anm. Altmeppen; ZIP 2005, 250, 251; ausführliche Nachweise zur Rechtsprechung von RG und BGH bei Schramm (o. Fn. 9), S. 113 ff.; J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 27 ff., und Wodicka, Die Untreue zum Nachteil der GmbH bei vorheriger Zustimmung aller Gesellschafter, 1993, S. 63 ff.

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GmbH13, heute aber zumeist mit Interessen Dritter (insbesondere der Gläubiger) bzw. öffentlichen Interessen oder auch einem (Bestands-)Eigeninteresse der GmbH begründet.14 Zahlreiche Stimmen in der Literatur haben sich dieser sog. eingeschränkten Gesellschaftertheorie angeschlossen.15 Teilweise wird dabei – restriktiver – allein auf das Stammkapitalerhaltungsgebot aus § 30 Abs. 1 GmbHG als Grenze der Dispositionsbefugnis abgestellt16, zum Teil auch ausschließlich die Existenzgefährdung als maßgebliche Schranke betont.17 Die ebenfalls stark und prominent vertretene sog. strenge Gesellschaftertheorie streift die gesellschaftsrechtlich dem Einverständnis der Gesellschafter (vornehmlich im Gläubigerinteresse) angelegten Fesseln im Kontext des § 266 StGB ab und hält jede Zustimmung für wirksam.18 Hier wird das Interesse der GmbH gleichgesetzt mit demjenigen der Gesellschafter, so dass etwa Vermögensentnahmen wirtschaftlich als reine Selbstschädigungen erscheinen. 2. Entlastung des Vorstands durch Aktionärszustimmung? Im Gegensatz zu diesen heute recht klaren Fronten beim Streit um die Einwilligungskompetenz der GmbH-Gesellschafter weist die Paralleldiskussion zu den Zustimmungsmöglichkeiten der Aktionäre in den dort angebotenen Lösungen noch keine wirklich sicheren Konturen auf. Daran haben auch eine Reihe von jüngeren (zumeist kurzen) Stellungnahmen – häufig enthalten in Monographien, die sich mit dem aufsehenerregenden „Mannesmann“-Urteil des 3. BGH-Strafsenats vom Dezember 200619 auseinandersetzen20 – nichts geändert. Der BGH selbst hat sich Vgl. BGH wistra 1983, 71. BGHSt 35, 333, 336 f.; 49, 147, 158 – „Bremer Vulkan“. 15 Vgl. neben Schünemann, in: LK-StGB (o. Fn. 10), § 266 Rn. 125 c) bb), und Kindhäuser, in: NK-StGB, Bd. 2 (§§ 146 – 358), 2. Aufl. 2005, § 266 Rn. 71, aus der jüngeren monographischen Literatur nur Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 88 ff., und T. Wagner, Die Untreue des Gesellschafters in der einfachen und konzernierten Einmann-GmbH, 2005, S. 130 ff. – jew. m. w. N. 16 Etwa Dierlamm, in: MK-StGB, Bd. 4 (§§ 263 – 358), 2006, § 266 Rn. 136; J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 125 ff. 17 So u. a. Wodicka (o. Fn. 12), S. 265 ff., wonach bei Stammkapitalbeeinträchtigungen ohne Bestandsgefährdung keine Untreuerelevanz anzunehmen ist, und Auer, Gläubigerschutz durch § 266 StGB bei der einverständlichen Schädigung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 1991, S. 211, 220 f. 18 Aus der Kommentarliteratur nur Fischer, StGB (o. Fn. 6), § 266 Rn. 52e; Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 266 Rn. 21b; Samson / Günther, in: SKStGB, 5. Aufl. 39. Lfg. Feb. 1996, § 266 Rn. 48; entsprechende Plädoyers in jüngeren Monographien von Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 565 f.; Schramm (o. Fn. 9), S. 122 ff.; Hanft (o. Fn 9), S. 109 ff.; Zech, Untreue durch Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft, 2007, S. 105 ff.; im Ergebnis auch Birkholz, Untreuestrafbarkeit als strafrechtlicher „Preis“ der beschränkten Haftung, 1998, S. 294 ff. – jew. m. w. N. 19 BGHSt 50, 331 ff. 13 14

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in seiner „Mannesmann“-Entscheidung nur beiläufig mit der Frage der Auswirkung eines Hauptversammlungsbeschlusses auf aktienrechtswidriges Verhalten anderer Organe befasst. In der einschlägigen Passage heißt es: „Bei einer Aktiengesellschaft ist Voraussetzung für ein strafrechtlich bedeutsames Einverständnis mit einer kompensationslosen Anerkennungsprämie, dass es entweder von dem Alleinaktionär oder von der Gesamtheit der Aktionäre durch einen Beschluss der Hauptversammlung über die Verwendung des Bilanzgewinns (§§ 58 Abs. 3 Satz 1, 174 Abs. 1 Satz 1 AktG . . . ) erteilt worden ist, nicht gegen Rechtsvorschriften verstößt oder aus sonstigen Gründen ausnahmsweise als unwirksam zu bewerten ist (vgl. BGHSt 35, 333, 335 ff. . . . )“. Viel mehr als die Aussage, dass die Aktionärsgesamtheit unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich ein den Untreuetatbestand ausschließendes Einverständnis erklären kann, lässt sich dem Judikat nicht entnehmen; Voraussetzungen und Reichweite des Einverständnisses bleiben weitgehend offen.21 Die literarischen Stellungnahmen sind – sofern man sich mit dem Problem überhaupt beschäftigt – recht facettenreich, regelmäßig aber ohne tiefere Begründung. Häufiger greift man bei der Beurteilung der Wirksamkeit eines Einverständnisses der Hauptversammlung auf die im Kontext der GmbH-Untreue entwickelten Lösungen zurück. Vor allem die strenge Gesellschaftertheorie wird oft ohne nähere Differenzierung in das Aktienrecht übertragen. Die Aktionäre werden gleich den GmbH-Gesellschaftern als wirtschaftliche Eigentümer des Gesellschaftsvermögens angesehen, so dass ein Beschluss der Hauptversammlung zur Beseitigung der Pflichtwidrigkeit führen soll.22 Gesellschaftsrechtlich aus Gründen des Gläubigerschutzes installierte Schranken (z. B. § 93 Abs. 3 Nr. 1, 6 AktG) werden strafrechtlich für unbeachtlich erklärt. Im monographischen Schrifttum finden sich dagegen vermehrt Forderungen nach einem Gleichlauf von aktienrechtlichem und strafrechtlichem Schutz. Diese These enthält in der Sache das aktienrechtliche Spiegelbild zur strengen Körperschaftstheorie, die das Reichsgericht noch zur GmbH vertreten hatte. Sie spricht 20 Vgl. Busch (o. Fn. 2), S. 151 ff.; Schramm (o. Fn. 9), S. 143 f.; Ransiek, NJW 2006, 814, 815 f.; Arnold (o.Fn. 8), S. 208 ff.; Höf, Untreue im Konzern, 2006, S. 87 f.; Loeck, Strafbarkeit des Vorstands der Aktiengesellschaft wegen Untreue, 2006, S. 95 ff.; Dittrich, Die Untreuestrafbarkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Festsetzung überhöhter Vorstandsvergütungen, 2007, S. 228 f.; Zech (o. Fn. 18), S. 107 ff., 206 f.; Seier, in: Achenbach / Ransiek (o. Fn. 3), V 2 Rn. 221 f.; Volk, in: FS Hamm, 2008, S. 803, 812 f. Gründlichere Behandlung des Themas dagegen durch J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 140 ff., und Brand, AG 2007, 681 ff. 21 Ebenso Brand, AG 2007, 681, 682. 22 Vgl. Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), § 266 Rn. 21c; Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, S. 552; Schramm (o. Fn. 9), S. 142 ff.; ebenso Dittrich (o. Fn. 20), S. 226 ff.; offenbar auch Schaal, in: MK-AktG, Bd. 9 / 2 (§§ 329 – 410), 2. Aufl. 2006, Vor § 399 Rn. 38 – jedoch ohne nähere Auseinandersetzung; i. Erg. offen, aber mit einem (vorsichtigen) Plädoyer für einen untreuespezifischen Rechtfertigungs- bzw. Tatbestandsausschlussgrund bei Zustimmung aller Aktionäre Volk (o. Fn. 20), S. 804, 812 f.

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einer Zustimmung der Aktionäre zu gesellschaftsrechtswidrigen Vorstandsmaßnahmen jede Bedeutung ab.23 Die in den §§ 57 ff., 62, 71 ff. AktG angeordnete Kapitalbindung verbiete auch im Eigeninteresse der AG den Aktionären einen Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen; denn verbotswidrig empfangene Leistungen seien – im Unterschied zur Situation bei der GmbH (vgl. § 31 Abs. 2 GmbHG) – selbst bei Gutgläubigkeit des Empfängers und unabhängig von betroffenen Gläubigerinteressen zurückzugewähren.24 Teilweise wird der Zustimmung der Hauptversammlung allein aufgrund fehlender Zuständigkeit die strafbarkeitsausschließende Wirkung versagt.25 Auch der Grundgedanke der eingeschränkten Gesellschaftertheorie hat in der Diskussion um die Einwilligungskompetenz der Aktionäre Anhänger. Als Grenze einer generell bestehenden Dispositionsbefugnis der Aktionäre wird wahlweise die Kapitalerhaltungsvorschrift des § 57 AktG26, daneben auch der Bestandsschutz der Gesellschaft27 oder die Beeinträchtigung des Grundkapitals bzw. die Herbeiführung oder Vertiefung einer Überschuldung28 genannt. Vereinzelt finden sich vermittelnde Lösungen, die sich von den im GmbH-Kontext entwickelten Überlegungen absetzen und aktienrechtsspezifisch argumentieren. Fischer hält die Zustimmung der Hauptversammlung dort für beachtlich, wo ihr durch das Aktienrecht ein eigenes Entscheidungsrecht zugewiesen wird.29 Es bleibe aber bei einer pflichtwidrigen Maßnahme, wenn ein Verstoß gegen die Verbote der §§ 57 ff. AktG vorliegt. Seier schließlich knüpft die Wirkung der Zustimmung daran, ob der entsprechende Beschluss nach den §§ 241, 243 AktG nichtig bzw. anfechtbar ist.30 Die grundsätzliche Dispositionsbefugnis der Aktionäre als wirtschaftliche Vermögensinhaber leitet er vor allem aus der sog. Holzmüller-Gelatine-Doktrin des BGH ab, auf die im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zurückzukommen sein wird.

23 Vor allem J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 140 ff. (insb. 150 f. – Text als Plagiat erschienen von Wellkamp, NStZ 2001, 113 ff.); im Ergebnis übereinstimmend Burger, Untreue (§ 266 StGB) durch das Auslösen von Sanktionen zu Lasten von Unternehmen, 2007, S. 127 f.; Loeck (o. Fn. 20), S. 95 ff.; Zech (o. Fn. 18), S. 107 ff.; wohl auch Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 266 Rn. 20b. 24 J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 150 f.; zust. Loeck (o. Fn. 20), S. 103 ff. 25 Zech (o. Fn. 18), S. 108 ff. 26 Höf (o. Fn. 20), S. 87 f.; Busch (o. Fn. 2), S. 167 f. (aber nur Mindestgrundkapital); Ransiek, NJW 2006, 814, 815 (keine unzulässige Einlagenrückgewähr); differenzierend insoweit Brand, AG 2007, 681, 688 f., der nur bei Eingriff in das Grundkapital und die gesetzlichen Rücklagen, nicht aber bei bloßer Beeinträchtigung der freien Rücklagen die Zustimmung für unwirksam hält. 27 Arnold (o. Fn, 8), S. 211. 28 Dierlamm, in: MK-StGB (o. Fn. 16), § 266 Rn. 140. 29 Fischer, StGB (o. Fn. 6), § 266 Rn. 54. 30 Seier, in: Achenbach / Ransiek (o. Fn. 3), V 2 Rn. 222.

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III. Grenzen der Einwilligungskompetenz – ein Zusammenspiel von Einwilligungsdogmatik und Gesellschaftsrecht Im Mannesmann-Verfahren wurde die Metapher vom „Gutsherrn und Gutsverwalter“ in die Diskussion eingeführt. Übertragen auf die hier untersuchte Thematik lautet danach die zentrale Frage: Können die Aktionäre als Gutsherren dem Vorstand als Gutsverwalter31 die Schädigung von Gesellschaftsvermögen erlauben? Diese Frage kann nur durch die systematische Anwendung der allgemeinen Einwilligungsdogmatik auf die durch das Gesellschaftsrecht geschaffene juristische Person beantwortet werden. Neben der Bestimmung von Rechtsgutsinhaberschaft (1.) und daraus grundsätzlich abzuleitender Dispositionsbefugnis über das Vermögen juristischer Personen (2.) ist zu diesem Zweck vor allem die Schutzrichtung gesellschaftsrechtlicher Einwilligungsschranken (namentlich der Vermögensbindung bei Kapitalgesellschaften) herauszuarbeiten (3.). Denn die Anhänger der strengen Gesellschaftertheorie können den Vorwurf, die Berücksichtigung solcher Schranken führe zu einer Rechtsgutsvertauschung32, nur erheben, wenn diese Beschränkungen nicht Ausdruck des Eigeninteresses der Gesellschaft sind. Aber selbst dort, wo die Gesellschaft bzw. ihr Vermögen zivilrechtlich Schutz gegenüber dem Eingriff durch ihre Anteilseigner genießt, folgt daraus nicht zwingend auch die Notwendigkeit strafrechtlicher Absicherung. Der untreuerechtliche Schutz gesellschaftsrechtlich anerkannter Vermögensinteressen bedarf daher einer gesonderten Prüfung (4.).33 Im Ergebnis spricht aber viel dafür, die aktienrechtlichen Einwilligungsschranken ins Strafrecht zu verlängern (5.). 1. Rechtsgutsinhaberschaft: eigenständig strafrechtliche oder zivilrechtliche Betrachtungsweise? Wären die Gesellschafter Inhaber des von § 266 StGB geschützten Rechtsguts, läge ein starkes Indiz für ihre Dispositionsbefugnis vor.34 Eine solche Bestimmung 31 Bekanntlich bezog sich die Originaläußerung des damaligen Vorsitzenden des 3. BGHStrafsenats Tolksdorf in der Hauptverhandlung im Dezember 2005 nicht auf das Verhältnis des Vorstands zur Hauptversammlung, sondern auf den Aufsichtsrat in seiner Beziehung zu den Anteilseignern; kritisch dazu Hoffman-Becking, NZG 2006, 127, 130; Volk (o. Fn. 20), S. 803, 804: „Wer aber die hochkomplexe Wirtschaft auf die überschaubare Landwirtschaft versimpelt, pflügt einiges unter“. 32 Allgemein dazu Sternberg-Lieben (o. Fn. 18), S. 512 ff. (zur Untreue S. 565 f.); Arloth, NStZ 1990, 570, 573; s. auch Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 924. Dass Gläubigerinteressen im Rahmen des § 266 StGB keine Rolle spielen (dürfen), wird auch von den Anhängern der eingeschränkten Gesellschaftertheorie nicht bestritten, vgl. nur BGH NJW 2000, 154, 155. 33 Vgl. im hiesigen Kontext etwa Volk (o. Fn. 20), S. 803, 804 f.; Birkholz (o. Fn. 18), S. 85 ff. (zur GmbH); allgemeiner Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 906 ff.

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der Rechtsgutsträgerschaft widerspricht jedoch der ganz herrschenden Meinung, nach der vor dem Hintergrund des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips (§ 1 AktG, § 13 GmbHG) stets die juristische Person selbst – jedenfalls formal-juristisch – Inhaber des durch § 266 StGB geschützten Vermögens ist.35 Eine abweichende Auffassung, nach der die Rechtsgutsinhaberschaft (strafrechtlich) der Gesamtheit der Gesellschafter zukommt, findet sich lediglich bei Nelles.36 Sie entwickelt einen spezifisch auf die Vermögensdelikte bezogenen Begriff der Vermögenszuordnung, wonach Voraussetzung der Inhaberschaft von Vermögensinteressen i. S. d. § 266 StGB – kumulativ – die rechtliche Handlungsfähigkeit, die tatsächliche und rechtliche Macht zur autonomen Zwecksetzung im Umgang mit dem Vermögen, die eigene Haftungsfähigkeit und eine Unterscheidbarkeit von Personenvereinigung und den für sie handelnden Personen ist.37 Unter Anwendung dieser Kriterien gelangt sie zu dem Ergebnis, dass nicht die juristische Person, sondern die Gesellschaftergesamtheit Inhaber des durch den Untreuetatbestand geschützten Rechtsguts ist38, weshalb Nelles zu den Befürwortern einer strengen Gesellschaftertheorie gezählt wird. Die These von der strafrechtsspezifischen Vermögenszuordnung hat jedoch kaum Befürworter gefunden und wird im Ergebnis zu Recht – selbst von den Anhängern der strengen Gesellschaftertheorie – einhellig abgelehnt.39 Allerdings kann dieser Ansatz nicht einfach mit dem Hinweis beiseite geschoben werden, er negiere die Existenz juristischer Personen. Denn eine strafrechtsspezifische Vermögenszuordnung ist nicht von vorneherein ausgeschlossen.40 Sie würde 34 Näher zum Zusammenspiel von Rechtsgutsinhaberschaft und Dispositionsbefugnis Sternberg-Lieben (o. Fn. 18), S. 83 ff.; s. auch Rönnau, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 178: „Die Dispositionsbefugnis steht grundsätzlich dem Rechtsgutsinhaber zu.“ 35 Pars pro toto Schünemann, in: LK-StGB (o. Fn. 10), § 266 Rn. 125, und Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), § 266 Rn. 6; aus dem Gesellschaftsrecht nur Kraft, in: KK-AktG, Bd. 1 (§§ 1 – 75), 2. Aufl. 1998, § 1 Rn. 75. Wer als Träger des Rechtsguts ,Gesellschaftsvermögen‘ neben den Vermögensinteressen der Anteilseigner auch die rechtlich geschützten Interessen der Gläubiger und Arbeitnehmer der Gesellschaft angibt (so Seher, Die aktienrechtliche Untreue in rechtsvergleichender Darstellung [1965], S. 36; Eb. Schneider, Die Untreue nach dem neuen Aktienrecht, 1972, S. 87 f.; Ewald, Untreue zwischen „verbundenen Unternehmen“, 1980, S. 238), muss der Einwilligung der Anteilseigner schon wegen fehlender alleiniger Verfügungszuständigkeit die Wirksamkeit absprechen. Dieses Rechtsgutsverständnis ist heute überholt, da für § 266 StGB unmittelbar keine Gläubigerschutzgründe maßgeblich sein können, vgl. nur Busch (o. Fn. 2), S. 156. 36 Nelles (o. Fn. 22), S. 479 ff.; ähnlich noch Labsch, wistra 1985, 1, 7 (schon zurückhaltender in JuS 1985, 602, 604); nahestehend Zielinski, wistra 1993, 6, und Eisele, GA 2001, 377, 392 (für den Idealverein). 37 Nelles (o. Fn. 22), S. 458 ff. (insb. S. 479). 38 Nelles (o. Fn. 22), S. 492. 39 Zur Kritik vgl. nur Brammsen, DB 1989, 1609, 1610; Busch (o. Fn. 2), S. 18; J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 61 f.; Radtke, GmbHR 1998, 311, 314 f. und 361, 365 f.; Ransiek, FS Kohlmann, 2003, S. 207, 213 f.; Tiedemann, ZStW 111 (1999), 673, 692; Wodicka (o. Fn. 12), S. 198 ff.; aus dem Lager der strengen Gesellschaftertheorie etwa Birkholz

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Rechtsstellung und Bedeutung der juristischen Person im Zivilrecht unberührt lassen, wenngleich ein Auseinanderfallen von Zivil- und Strafrecht in dieser Grundsatzfrage unnötige Komplikationen und Desorientierung für den Rechtsanwender mit sich bringen würde. Doch ist die Lösung in verschiedenen Punkten bereits im Hinblick auf die von Nelles selbst entwickelten Kriterien nicht stimmig. So hält sie bei Geschäftsunfähigen, die den Zweck des Vermögenseinsatzes nicht autonom und verbindlich definieren können, an deren Rechtsgutsinhaberschaft fest und setzt an die Stelle des Rechts auf „autonome Zwecksetzung“ die (vom Stellvertreter zu beachtende) „Zwecksetzung durch das Gesetz“ (kursiv im Original).41 Warum es aber bei juristischen Personen, die ebenfalls zu autonomer Zwecksetzung konstitutiv nicht in der Lage sind, und deren Vertreter im Umgang mit Gesellschaftsvermögen ebenfalls gesetzliche Vorgaben (die Ausschüttungssperren gem. § 30 GmbHG oder § 57 AktG) zu beachten haben, zu einem Wechsel der Rechtsgutsträgerschaft von der Gesellschaft auf die Gesellschafter kommen soll, vermag Nelles nicht zu begründen.42 Weiterhin fehlt es zumindest bei der Einmann-GmbH an dem von Nelles selbst geforderten Kriterium der Unterscheidbarkeit von Personenvereinigung und handelnden Personen;43 auch fehlt der Gesellschaftergesamtheit die – von ihr ebenfalls als Voraussetzung der Vermögenszuordnung geforderte – Haftungsfähigkeit, da diese als Vermögensträger nicht in Betracht kommt und gegen die Gesellschaftergesamtheit also keine Zwangsvollstreckung betrieben werden kann.44 Soweit heute von den Vertretern der strengen Gesellschaftertheorie eine wirtschaftliche Betrachtungsweise befürwortet wird, tauscht man – anders als Nelles – nicht den Rechtsgutsinhaber aus, sondern räumt den Gesellschaftern eine Dispositionsbefugnis hinsichtlich des Gesellschaftsvermögens ein bzw. rechnet ihr Einverständnis im Wege der Willenszurechnung der Gesellschaft selbst zu.45

(o. Fn. 18), S. 115 ff.; Hanft (o. Fn. 8), S. 76 f.; Schramm (o. Fn. 9), S. 124 f.; aus gesellschaftsrechtlicher Sicht vgl. C. Schäfer, GmbHR 1992, 509, 510 ff. 40 Ebenso C. Schäfer, GmbHR 1992, 509, 511, und Radtke, GmbHR 1998, 311, 314. 41 Nelles (o. Fn. 22), S. 459 ff., 461. 42 Näher zur Kritik Birkholz (o. Fn. 18), S. 116 ff.; weiterhin C. Schäfer, GmbHR 1992, 509, 512; Hanft (o. Fn. 9), S. 76 f. 43 Wodicka (o. Fn. 12), S. 246 f. 44 Hanft (o. Fn. 9), S. 77 m. Fn. 158. 45 So im Wesentlichen übereinstimmend Arloth, NStZ 1990, 570, 573; Labsch, JuS 1985, 602, 604; Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), § 266 Rn. 21b; Schramm (o. Fn. 9), S. 124 f.; s. auch C. Schäfer, GmbHR 1992, 509, 512: bloße Verlagerung zentraler Wertungsfragen.

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2. Untreuerelevante Dispositionsbefugnis und gesellschaftsrechtliche Kompetenzordnung Da der Rechtsgutsträger ,juristische Person‘ als „juristisches Kunstprodukt“ selbst keinen eigenen Willen bilden kann, stellt sich die Frage einer Befugnis der Gesellschafter(versammlung) als Organ zur Vermögensdisposition für die Gesellschaft. Sollten die Gesellschafter über das Vermögen der Gesellschaft rechtlich verfügen können, ließe die Zustimmung aller Gesellschafter zu Vermögensschädigungen deren untreuerechtliche Pflichtwidrigkeit entfallen. Inwieweit Anteilseigner zustimmungsbefugt sind, lässt sich nur bestimmen, wenn über Stellung und Funktion der Gesellschafter im Gefüge der Gesellschaft Klarheit besteht. Viele bestimmen die strafrechtlichen Einwilligungsbefugnisse in Abhängigkeit von der materiellen Reichweite der Vermögensbindung.46 Dieses Argument überzeugt so nicht. Die Dimension der gesellschaftsrechtlichen Kapitalbindung (§ 30 GmbHG, § 57 AktG) gibt allein Aufschluss darüber, in welchem Umfang Vermögensdispositionen gesellschaftsrechtlich zulässig sind.47 Die hier untersuchte Einwilligungskompetenz bezieht sich aber gerade auf gesellschaftsrechtlich pflichtwidrige Maßnahmen. Inwieweit die Vermögensbindung auch als Grund für eine strafrechtlich bedeutsame Einwilligungsschranke ausreicht, wird im Weiteren zu prüfen sein.

Bereits eine dem strafrechtlichen Kontext entsprechend knappe Untersuchung dieser Frage fördert grundlegende Unterschiede zwischen GmbH und AG zu Tage. a) Rechtsstellung der Gesellschafter in der GmbH Die in den §§ 45 ff. GmbHG geregelte Rechtsstellung der GmbH-Gesellschafter bietet durchaus Ansätze, ihre Charakterisierung als wirtschaftliche Eigentümer der GmbH zu rechtfertigen und ihnen eine für den Anwendungsbereich von § 266 StGB relevante Dispositionsbefugnis zuzusprechen. Sie sind nach allgemeiner Auffassung das „höchste Organ“ der Gesellschaft48 und können neben den in § 46 GmbHG ausdrücklich geregelten Kompetenzen letztlich nahezu alle anfallenden Entscheidungen bis hin zur faktischen Allzuständigkeit an sich ziehen.49 Das weitgehend dispositive GmbH-Recht ermöglicht zudem die Herstellung einer fast personalistisch ausgestalteten Binnenstruktur, weshalb die GmbH materiell als PerPars pro toto Brand, AG 2007, 681, 683 ff. m. w. N. Richtig – statt vieler – Kubiciel, NStZ 2005, 353, 359 m. w. N. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang aber die von Brand (AG 2007, 681, 685 ff.) dargelegte Abgrenzung von (disponiblen) freien Rücklagen in der AG im Gegensatz zum Grundkapital und den gesetzlichen Rücklagen (§ 150 AktG). 48 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1068; ders., in: Scholz, GmbHG, Bd. 2, (§§ 35 – 52), 10. Aufl. 2006, § 45 Rn. 5; Lutter / Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 45 Rn. 2; vgl. auch BGHSt 9, 203, 216. 49 Zöllner, in: Baumbach / Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 46 Rn. 5. 46 47

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sonengesellschaft begriffen werden kann.50 Dabei wird als die „wichtigste Besonderheit des Organisationsrechts der GmbH“ hervorgehoben, dass die Gesellschafter gegenüber dem Geschäftsführer zur Erteilung von Weisungen befugt sind (vgl. auch § 37 GmbHG).51 In diesem hierarchischen Verhältnis der Organe zueinander liegt ein zentraler Unterschied zum Aktienrecht, dem auch im hier untersuchten Zusammenhang entscheidende Bedeutung zukommt. b) Rechtsstellung der Gesellschafter bei der AG Im Gegensatz zu der recht einfachen Organisationsstruktur bei der GmbH weist die aktienrechtliche Organverfassung ein System der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung auf.52 Die Rechte der Hauptversammlung (als „Sitz der Aktionärsdemokratie“)53 sind beschränkt auf die im Gesetz (vgl. insbesondere den Katalog charakteristischer Zuständigkeiten [„namentlich“] gem. § 119 Abs. 1 AktG) und in der Satzung aufgezählten Entscheidungen.54 Die Hauptversammlung ist zwar das „zentrale Organ“55 der AG, sie ist aber „den anderen Gesellschaftsorganen nicht übergeordnet“.56 Eine hierarchische Organverfassung ist dem deutschen Aktienrecht fremd.57 Insbesondere ist die gesamte Leitung und Geschäftsführung58 der Gesellschaft gemäß § 76 AktG ausschließlich dem eigenverantwortlich handelnden (nicht weisungsgebundenen) Vorstand zugewiesen. Die Hauptversammlung entscheidet über Geschäftsführungsmaßnahmen nur, wenn der Vorstand dies verlangt (§§ 119 Abs. 2, 111 Abs. 4 S. 3 u. 4 AktG).59 Ihre Kompetenzen betreffen 50 Vgl. Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts I / 2, Die juristische Person, 1983, S. 62; Westermann, in: Scholz, GmbHG, Bd. 1 (§§ 1 – 34), 10. Aufl. 2006, Einl. Rn. 28 m. w. N.; s. auch Schünemann, in: LK-StGB (o. Fn. 10), § 266 Rn. 125. 51 K. Schmidt (o. Fn. 48), S. 1068. 52 K. Schmidt, (o. Fn. 48), S. 781; Semler / Spindler, in: MK-AktG, Bd. 3 (§§ 76 – 117), 2. Aufl. 2004, § 76 Rn. 88: „checks and balances“; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 118 Rn. 4 m. w. N. Zur Entwicklung der wohlaustarierten Kompetenzverteilung in der AG etwa Assmann, in: GK-AktG, Bd. 1 (§§ 1 – 53), 4. Aufl. 2004, Einl. Rn. 133, 156 f., 164. 53 K. Schmidt (o. Fn. 48), S. 837; aufgegriffen von BVerfG NJW 2000, 349, 351. 54 Näher zu den Zuständigkeiten der Hauptversammlung Spindler, in: K. Schmidt / Lutter, AktG, Bd. I (§§ 1 – 149), 2008, § 119 Rn. 7 ff. m. w. N. Eine Kompetenzerweiterung durch Satzung ist nur in den engen Grenzen des § 23 Abs. 5 AktG möglich, s. K. Schmidt (o. Fn. 48), S. 838 f. 55 BVerfG NJW 1999, 2369, 2370. 56 BVerfG NJW 2000, 349, 350. Die früher bestehende Hierarchie zwischen den Organen der AG und die Stellung der ehemaligen Generalversammlung als deren oberstes Organ wurde durch das AktG 1937 beseitigt, s. Spindler, in: K. Schmidt / Lutter (o. Fn. 54), § 118 Rn. 5 m. w. N. 57 Vgl. Mülbert, in: GK-AktG, 4. Aufl. 1999, 14. Lfg. (§§ 118 – 120), Vor §§ 118 – 120 Rn. 43. 58 Zur Abgrenzung Kort, in: GK-AktG, 4. Aufl. 2003, 19. Lfg. (§§ 76 – 83), § 76 Rn. 28 ff. 59 Dazu Raiser / Veil, Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 1.

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neben einigen regelmäßig wiederkehrenden Maßnahmen (wie etwa die Wahl der Mitglieder des Aufsichtsrats) vor allem Grundlagen- und Strukturentscheidungen60, während (unternehmerische) Fragen der Geschäftsführung in die Zuständigkeit des Vorstands fallen.61 Diese Aufgabenzuweisung wird auch durch die sog. Holzmüller-Gelatine-Doktrin62 des BGH, in der ungeschriebene Zuständigkeiten der Hauptversammlung herausgebildet wurden, nicht entscheidend berührt. Deren rechtliche Herleitung und Reichweite ist zwar weiterhin umstritten.63 Der im Grundsatz unstreitige – und für die hier untersuchten Fragen entscheidende – Kern dieser Rechtsprechung besteht jedoch darin, dass originäre Hauptversammlungskompetenzen im Bereich struktureller Grundlagenentscheidungen nicht durch die Ausgliederung wichtiger Unternehmensteile oder die Umstrukturierung des Beteiligungsbesitzes unterlaufen werden dürfen, der Vorstand deshalb intern zur Einholung der Zustimmung der Hauptversammlung verpflichtet ist.64 Eigene, womöglich sogar weitreichende Geschäftsführungskompetenzen der Hauptversammlung werden hierdurch nicht begründet. Es ist vor allem der fehlende Einfluss der Aktionäre auf den gesamten Bereich der Geschäftsführung, der einer (wirtschaftlichen) Identifikation von Aktionären und AG entgegensteht.65 Dies lässt deutliche Zweifel daran aufkommen, ob sich 60 Näher Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 119 Rn. 5 ff., und Spindler, in: K. Schmidt / Lutter (o. Fn. 54), § 119 Rn. 7 ff. – jew. m. w. N. 61 Vgl. Kort, in: GK-AktG (o. Fn. 58), § 76 Rn. 31. 62 BGHZ 83, 122 – „Holzmüller“. Danach gibt es derart „grundlegende Entscheidungen, die durch die Außenvertretungsmacht des Vorstandes, seine . . . begrenzte Geschäftsführungsbefugnis wie auch durch den Wortlaut der Satzung formal noch gedeckt sind, gleichwohl aber so tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe sie in ausschließlich eigener Verantwortung treffen, ohne die Hauptversammlung zu beteiligen“ (S. 131). Die „Holzmüller“-Doktrin hat in den sog. „Gelatine“-Urteilen aus dem Jahr 2004 (BGHZ 159, 30; NZG 2004, 575) unter weitgehender Zustimmung des Schrifttums Präzisierungen erfahren, s. Nachw. bei Spindler, in: K. Schmidt / Lutter (o. Fn. 54), § 119 Rn. 28. Den „Gelatine“-Entscheidungen lässt sich klar entnehmen, dass ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten „nur ausnahmsweise und in engen Grenzen“ anzuerkennen sind (BGHZ 159, 30, 40 ff.). 63 Während der II. BGH-Zivilsenat die ungeschriebenen Mitwirkungsrechte der Aktionäre bei Geschäftsführungsmaßnahmen im „Holzmüller“-Urteil 1982 zunächst auf § 119 Abs. 2 AktG stützte, sieht er die Grundlagen in seinen „Gelatine“-Urteilen 2004 in einer „offenen Rechtsfortbildung“ (BGHZ 159, 30, 43; NZG 2004, 575, 578). Vgl. auch BGHZ 153, 47 – „Macrotron“, wo auf Art. 14 Abs. 1 GG abgestellt wird (S. 55). Die Literatur zu dieser Frage ist überaus uneinheitlich, vgl. nur Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 119 Rn. 17, Spindler, in: K. Schmidt / Lutter (o. Fn. 54), § 119 Rn. 29, und K. Schmidt, (o. Fn. 48), S. 872 f. Zur Reichweite, insbesondere den qualitativen und quantitativen Anforderungen an die Kompetenzverlagerung, s. Spindler, in: K. Schmidt / Lutter (o. Fn. 54), § 119 Rn. 30 ff.; Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 119 Rn. 18a ff. m. w. N. 64 S. nur K. Schmidt, (o. Fn. 48), S. 870 ff.; Raiser / Veil, Kapitalgesellschaften (o. Fn. 59), § 16 Rn. 11. – jew. m. w. N. zur Diskussion. 65 Hefermehl / Spindler, in: MK-AktG (o. Fn. 52), § 93 Rn. 111.

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eine Charakterisierung der Aktionäre als wirtschaftliche Eigentümer, wie sie nicht nur von Anhängern der strengen Gesellschaftertheorie unter Rückgriff auf Einschätzungen im GmbH-Kontext vorgenommen wird66, begründen lässt. Allerdings ist die Hauptversammlung das einzig denkbare Organ, das innerhalb der AG für eine Zustimmungsbefugnis in pflichtwidrige Vorstandsmaßnahmen in Frage kommt.67 Die umfassende Vermögensbindung und die starre Kompetenzstruktur des Aktienrechts könnten aber nur dann zugunsten einer untreuerelevanten Einwilligungskompetenz der Aktionäre durchbrochen werden, wenn anderenfalls der spezifische Schutzzweck des § 266 StGB unterlaufen würde. 3. Gesellschaftsrechtliche Dispositionsschranken und ihre Schutzrichtung Es ist heute anerkannt, dass im gesellschaftsrechtlichen Kontext durch § 266 StGB keine Gläubigerinteressen, sondern allein Vermögensinteressen geschützt werden (sollen). Weiterhin gibt es großen Konsens darüber, dass die Gesellschafter der GmbH in ihrer machtvollen Organstellung jenseits von Stammkapitaleingriffen (§ 30 GmbHG) bzw. Existenzgefährdungen frei über das Gesellschaftsvermögen disponieren können, während im Aktienrecht die Vermögensbindung das gesamte Gesellschaftsvermögen mit Ausnahme des festgestellten Bilanzgewinns umfasst (vgl. §§ 57, 58, 172 ff. AktG). Im Streit steht allerdings, inwieweit aus den für die GmbH und die AG unterschiedlich weit reichenden Kapitalbindungen für das Strafrecht materielle Einverständnisgrenzen folgen. Die Frage nach dem Zweck, zu dem die gesellschaftsrechtlichen Dispositionsschranken errichtet wurden, führt dann in die Diskussion, ob hier Drittinteressen oder Eigeninteressen der Gesellschaft geschützt werden. Die Auseinandersetzung wird bei der GmbH heftig, bei der AG kaum geführt.68 a) Eigeninteresse der GmbH Der BGH (in Zivilsachen) hatte die Existenz eines Eigeninteresses der GmbH zunächst ausdrücklich zurückgewiesen.69 Auch im Schrifttum findet sich teilweise 66 Etwa Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht (o. Fn. 7), Rn. 194; Brand, AG 2007, 681, 684; Busch (o. Fn. 2), S. 155 f.; s. auch Weise, Finanzielle Beeinflussungen von sportlichen Wettkämpfen durch Vereinsfunktionäre – Überlegungen zur Missbrauchsuntreue auf der Grundlage des sog. Bundesliga-Skandals, 1982, S. 186 ff. (zum Verein); aus dem Lager der strengen Gesellschaftertheorie Schramm (o. Fn. 9), S. 143; Lenckner / Perron, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 18), § 266 Rn. 21c; Seier, in: Achenbach / Ransiek (o. Fn. 3), V 2 Rn. 222; Eisele, GA 2001, 377, 391 f. (für den Idealverein). 67 Die Annahme einer Kompetenz des Vorstandes (zur Einwilligung in eigene pflichtwidrige Verhaltensweisen) ist ebenso fernliegend wie die, eine solche beim Aufsichtsrat anzusiedeln, der überwiegend Kontroll-, nicht Willensbildungsorgan ist. 68 In diesem Sinne J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 149; Busch (o. Fn. 2), S. 162; aus der Rechtsprechung BGHZ 129, 136, 151 – „Girmes“.

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unter Hinweis auf die Identität von Gesellschafts- und Gesellschafterinteressen eine kategorische Ablehnung70, während andere mit Blick auf den Zweck der Kapitalbindung (Haftungsfonds im Interesse der Gläubiger) und die eigene Rechtspersönlichkeit der GmbH die Existenz eines Eigeninteresses bejahen71. In der „Bremer Vulkan“-Entscheidung hat der II. BGH-Zivilsenat anscheinend eine Kehrtwende vollzogen, indem er zur Begründung einer Haftung der Gesellschafter für existenzvernichtende Eingriffe ausdrücklich die „Eigenbelange der GmbH“ anspricht.72 Dennoch darf bezweifelt werden, ob das höchste Zivilgericht wirklich in der Sache ein eigenes Interesse der GmbH anerkennt. In einer aktuellen Entscheidung73 und bereits zuvor im sog. „KBV“-Urteil74 wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Rechtsgrund der Haftung ein Eingriff in das im Gläubigerinteresse zweckgebundene Gesellschaftsvermögen (Hervorhebung durch Verf.) sei.75 Der Senat formuliert weiter, der Gläubiger sei „nur ,mittelbar‘ von der Eingriffsfolge betroffen“, während unmittelbar die Gesellschaft in ihrem Vermögen geschädigt sei; dieses Gesellschaftsvermögen sei „freilich zweckgebunden“.76 Führt aber wirklich die unmittelbare Schädigung des Gesellschaftsvermögens zur mittelbaren Schädigung von Gläubigerinteressen oder nicht doch die „freilich“ vorhandene Zweckbindung im Gläubigerinteresse zu einer mittelbaren Schädigung der Gesellschaft? Je nach Gewichtung wird entweder die eine oder die andere Schutzrichtung zum unmittelbaren Schutzzweck erklärt. Es fragt sich mit Blick auf den Schutzzweck von § 266 StGB, ob tatsächlich ein (eigenes) materielles Gesellschaftsinteresse übrig bleibt, wenn man das Gläubigerinteresse abzieht. Die Antwort auf diese Frage findet sich in dem bereits beschriebenen Wesen der GmbH. Die klare Organhierarchie und die qua Satzungsfreiheit herstellbare personalistische Binnenstruktur führen in materieller Hinsicht zur weitgehenden Gleichsetzung von GmbH und Personengesellschaft.77 Die Gesellschafter können nicht nur im Gesellschaftsvertrag Vorgaben hinsichtlich des Gesellschaftszwecks 69 Vgl. nur BGHZ 119, 257, 262; 122, 333, 336; weiterhin BGH ZIP 1999, 1352. Näher dazu Bitter, konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, S. 310 ff. 70 Kübler / Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, § 22 III. 3; Zöllner, in: Baumbach / Hueck (o. Fn. 49), GmbHG, SchlAnhKonzernR Rn. 112. 71 Vgl. Ulmer, in: FS Pfeiffer, 1988, S. 853, 860 f.; Fleck, ZGR 1990, 31, 37 f.; Brammsen, DB 1989, 1609, 1610. 72 BGHZ 149, 10, 16 – „Bremer Vulkan“. Nachdrücklich für ein auf Bestandswahrung beschränktes Eigeninteresse der GmbH plädierend Röhricht, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, Bd. I, S. 83, 103 ff. m. w. N. 73 BGH NJW 2007, 2689 ff. – „Trihotel“. 74 BGHZ 151, 181, 186 f. und im Leitsatz unter a). Kasiske (wistra 2005, 81, 84 f.) leitet das fehlende Eigeninteresse der GmbH aus der vom BGH a. a. O. akzeptierten Durchgriffshaftung der Gesellschafter ab. 75 So ausdrücklich BGH NJW 2007, 2689 – „Trihotel“ im Leitsatz unter 2. 76 BGH NJW 2007, 2689, 2692 – „Trihotel“ 77 Dazu oben III. 2. a).

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machen (vgl. § 1 GmbHG), sie können auch kraft ihrer Weisungsbefugnis konkrete, ggf. private Interessen durch Einfluss auf die Geschäftsführung zu Lasten der Gesellschaft (vorbehaltlich der Stammkapitalbindung) durchsetzen.78 Das Zusammentreffen von Zielvorgabe- und Weisungsbefugnis bei den GmbH-Gesellschaftern führt zu einer umfassenden Interessendefinitionsmacht, kraft derer die Gesellschafter ihre eigenen Interessen zum Gesellschaftsinteresse erheben können. Demgegenüber bleibt für ein echtes Eigeninteresse der Gesellschaft selbst, welches den Gesellschafterinteressen übergeordnet ist, kein Raum.79 Die Stammkapitalbindung in § 30 GmbHG kann daher – im Umkehrschluss – nur den Gläubigerschutz (und damit einen von § 266 StGB nicht erfassten Schutzgegenstand) zum Ziel haben.80 b) Eigeninteresse der AG Die Gründe für die Ablehnung eines Eigeninteresses der GmbH bereiten bereits den Boden für ein entgegengesetztes Ergebnis bei der AG. Die AG ist eine echte, körperschaftlich strukturierte juristische Person, womit sie sich von der in der Binnenstruktur personalistisch geprägten GmbH fundamental unterscheidet.81 Die juristische Person wird durch ihre Gründung zu einer verabsolutierten rechtlichen Wirkungseinheit.82 Bei auf diese Weise verfassten Wirtschaftsunternehmen83 handelt es sich nach h. M. um „interessenpluralisitische Veranstaltungen“; Träger dabei zu berücksichtigender Interessen sind die Aktionäre (Kapital), die Arbeitnehmer (Arbeit) sowie die Öffentlichkeit (Gemeinwohl).84 Fragt man nun nach einem (Gesamt-)Interesse des körperschaftlich verfassten Wirtschaftsunternehmens – dem im Kontext des Aktienrechts heftig diskutierten Unternehmensinteresse –, so gibt es kein absolut vorrangiges Interesse innerhalb dieser Interessenpluralität. 85 78 Vgl. Flume (o. Fn. 50), S. 61; zu den im Einzelnen streitigen Fragen der gesellschaftsrechtlichen Weisungsfolgepflicht des Geschäftsführers vgl. Raiser / Veil (o. Fn. 59), § 32 Rn. 91. 79 In diesem Sinne Flume (o. Fn. 50), S. 61. 80 Aus dem jüngeren Schrifttum nur Kasiske, wistra 2005, 81, 84 f., und Kubiciel, NStZ 2005, 353, 359 – jew. m. w. N.; vgl. auch K. Schmidt, NJW 2001, 3577, 3580: Mit einem Eigeninteresse der GmbH ist es, solange nicht Dritte betroffen sind, „nicht weit her“. 81 Überzeugend zum Ganzen Flume (o. Fn. 50), S. 57 ff.; zum korporativen Charakter der AG auch Heider, in: MK-AktG, Bd. I (§§ 1 – 75), 3. Aufl. 2008, § 1 Rn. 13 f. m. w. N. 82 Näher K. Schmidt (o. Fn. 48), S. 207 m. w. N. 83 Bei den hier behandelten Kapitalgesellschaften besteht das Gesellschaftsziel grundsätzlich in der eigennützigen und erwerbswirtschaftlichen Teilnahme der Gesellschaft am Wirtschaftsverkehr, vgl. Pentz, in: MK-AktG (o. Fn. 81), § 23 Rn. 76 m. w. N. (auch zur Diskussion über das Verhältnis von Gesellschaftsziel und Gesellschaftszweck). Abweichungen sind in der Satzung allerdings zulässig. 84 Flume (o. Fn. 50), S. 58; für die AG Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 76 Rn. 12 ff. und K. Schmidt (o. Fn. 48), S. 768 und S. 804 – 806 – jew. m. w. N. 85 Flume (o. Fn. 59), S. 58; zur AG Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 76 Rn. 12b m. w. N.; Semler / Spindler, in: MK-AktG (o. Fn. 52), Vor § 76 Rn. 88. Instruktiv zum vieldeutigen Begriff

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Die Abwägung der Einzelbelange erfordert vielmehr, dass das Unternehmensinteresse nur als selbständiges, den Einzelinteressen übergeordnetes Moment und nicht als deren bloße Summe verstanden werden kann. Andernfalls könnte es seine Funktion als Richtschnur der Abwägung nicht erfüllen.86 Das so verstandene Unternehmensinteresse ist also dem Interesse der Gesellschafter übergeordnet; Letzteres ist lediglich ein Abwägungsfaktor.87 Aufgrund dieser Überordnung fehlt es an einer (alleinigen) Interessendefinitionsmacht der Aktionäre, so dass von einem Eigeninteresse der AG gesprochen werden kann. Bei der Geschäftsführung in „eigener Verantwortung“ (§ 76 AktG) ist der Vorstand zur Beachtung dieses Unternehmensinteresses verpflichtet, das – soweit die Satzung nichts anderes vorsieht – vor allem auf dauerhafte Rentabilität und Fortbestand gerichtet ist.88 Der Vorstand hat selbst dann nach dem Unternehmensinteresse zu entscheiden, wenn der Mehrheits- oder Alleinaktionär abweichende Interessen verfolgt.89 Das Leitungsermessen des Vorstands wird im Wesentlichen nur durch die Pflicht zur Erhaltung des Bestands des Unternehmens und damit einer dauerhaften Rentabilität begrenzt.90 Weisungen der Hauptversammlung zur Vornahme von gegen das Unternehmensinteresse verstoßenden (vermögensschädigenden) Geschäftsführungsakten oder Zustimmungen zu solchen Maßnahmen sind aufgrund der fehlenden Weisungsbefugnis schlicht wirkungslos.91 Hat der Vorstand die Hauptversammlung zuvor gem. § 119 Abs. 2 AktG gefragt und hat diese daraufhin der Maßnahme zugestimmt, ist § 93 Abs. 4 S. 1 AktG zu beachten (dazu sogleich). Die Ausrichtung auf dauerhafte Rentabilität und Fortbestand ist also quasi eine aktienrechtlich verordnete Vorgabe für den Umgang mit dem AG-Vermögen. Dieses wird als solches, nämlich als (werbendes Sonder-)Vermögen der AG, strafrechtdes Unternehmensinteresses als dogmatischem Ausrichtungspunkt für das Vorstandshandeln – insbesondere zum Vorrang von shareholder- oder stakeholder-Interessen – Fleischer, in: Hommelhoff / Hopt / v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 129 ff. (der selbst unter Betonung rechtsökonomischer Begründungsmuster den shareholder value-Ansatz präferiert); s. auch Klöhn, ZGR 2008, 110, 118 ff. m. w. N. 86 Überzeugend Flume (o. Fn. 50), S. 58. 87 Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 76 Rn. 12b; Semler / Spindler, in: MK-AktG (o. Fn. 52), Vor § 76 Rn. 88 ff. 88 Kort, in: GK-AktG (o. Fn. 58), § 76 Rn. 52; Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 76 Rn. 13 m. w. N.; vgl. auch Tiedemann, in: FS Weber, 2004, S. 319, 326; zu den heftig diskutierten Fragen des shareholder value s. etwa Eidenmüller, JZ 2001, 1041 ff.; Kübler, in: FS Zöllner, 1998, S. 321 ff.; Mülbert, ZGR 1997, 129 ff. 89 Flume (o. Fn. 50), S. 60. Ausnahmen sind jedoch in Konzernstrukturen zu machen, in denen der Vorstand des beherrschten Unternehmens – auch für seine Gesellschaft nachteiligen – Weisungen des herrschenden Unternehmens unterworfen ist (vgl. § 308 AktG). 90 OLG Hamm AG 1995, 512, 514 – „Harpener / Omni“; Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 76 Rn. 13 m. w. N. 91 Vgl. auch Volk (o. Fn. 20), S. 803, 812. Die Möglichkeit der Aktionäre, die Gesellschaft jederzeit liquidieren zu können (vgl. §§ 262 ff. AktG und BGHZ 151, 181, 186 – „KBV“), erzwingt nicht die Annahme, diesen auch während der aktiven Phase der werbenden Gesellschaft eine Letztentscheidungskompetenz zuzusprechen.

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lich geschützt.92 Die umfassende Bindung dieses Vermögens im Aktienrecht93, die u. a. in der gegenüber § 31 GmbHG erweiterten (da selbst bei Gutgläubigkeit des Empfängers angeordneten) Rückgewährpflicht gemäß § 62 Abs. 1 AktG zum Ausdruck kommt94, dient auch dem Zweck, diese aktienrechtlich vorgegebene Bestands- und Rentabilitätssicherung der AG zu gewährleisten. § 93 Abs. 4 S. 1 AktG lässt sich für eine untreuerelevante Letztentscheidungskompetenz der Aktionäre nicht ins Feld führen.95 Diese Norm schließt eine Haftung des Vorstands gegenüber der Gesellschaft bei Vorliegen eines gesetzmäßigen Hauptversammlungsbeschlusses aus. Sie greift nur dort, wo die Hauptversammlung – auf Verlangen des Vorstandes (§ 119 Abs. 2 AktG) – gesetzmäßig innerhalb ihrer Zuständigkeit beschließt und der Vorstand daher gem. § 83 Abs. 2 AktG an den Beschluss gebunden ist.96 Die Beschränkung der Enthaftung auf gesetzmäßige Beschlüsse durch den Gesetzgeber des AktG 1937 ging einher mit der Beendigung der Rolle der General(heute: Haupt-)versammlung als oberstem Willensbildungsorgan der AG,97 wollte deren Vorrangstellung und Machtfülle also gerade einschränken. Die Regelung des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG ist eine Konsequenz dieser bis heute geltenden Kompetenzverteilungsordnung. Ihre Interpretation hängt ganz wesentlich von dem zum Eigeninteresse der AG eingenommenen Standpunkt ab – und nicht umgekehrt die Frage des Eigeninteresses von der Auslegung des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG. Über die Bedeutung des Begriffs „gesetzmäßig“ wird jenseits des noch allgemein akzeptierten Ausgangspunktes, wonach anfechtbare (§ 243 AktG) und nichtige (§ 241 AktG) Hauptversammlungsbeschlüsse nicht gesetzmäßig sind, ebenso gestritten wie über sein Verhältnis zum Begriff der Pflichtverletzung i.S.v. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG.98 Gegen den hier vertretenen Ansatz lässt sich daher aus dieser Haftungsfreistellungsnorm nichts herleiten.99 Aber ganz grund92 Vgl. Busch (o. Fn. 2) , S. 161 ff. m. w. N. (der von einer „Doppelfunktion“ des Stammbzw. Grundkapitals ausgeht und daneben noch dessen Funktion als „Garantieeinrichtung für die Gläubiger“ erwähnt). Dies ist die entscheidende Konsequenz aus der – nahezu unstreitigen – Rechtsgutsinhaberschaft der juristischen Person. Die gesamte Tragweite dieser Vermögenszuordnung wird offenbar verkannt oder aber die daraus resultierenden Ergebnisse werden schlicht für inakzeptabel gehalten, wenn unter Rückgriff auf das Schlagwort der wirtschaftlichen Eigentümer letztlich doch eine Vermögenszuweisung an die Aktionäre erfolgt. 93 Auf deren Bedeutung als Hindernis einer möglichen Einwilligungskompetenz der Aktionäre weist auch Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127, 130 f. hin. 94 Insoweit zutreffend J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 150 ff. 95 Vgl. auch Hefermehl / Spindler, in: MK-AktG (o. Fn. 52), § 93 Rn. 110 ff., denen zufolge die Vorschrift angesichts der nach heutiger Rechtslage deutlich eingeschränkten Hauptversammlungskompetenzen nur noch bedingt zeitgemäß sein soll; anders aber wohl Brand, AG 2007, 681, 683. 96 Näher dazu Hefermehl / Spindler (o. Fn. 95), a. a. O. Rn. 111. 97 Hefermehl / Spindler (o. Fn. 95), a. a. O. Rn. 110. 98 S. nur Hefermehl / Spindler (o. Fn. 95), a. a. O. Rn. 111 und 112 f. m. w. N. 99 Dies verkennt Brand, AG 2007, 681, 683 f., wenn er meint, ein informelles Zusammenwirken zwischen Hauptversammlung und Vorstand stehe dem Verfahren nach § 119 Abs. 2

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sätzlich fällt es bei einer Gesamtbetrachtung der §§ 119 Abs. 2, 93 Abs. 4 AktG schwer, der Hauptversammlung eine Schlüsselposition zuzusprechen, wenn diese nur auf Initiative eines anderen Organs – hier des Vorstands – tätig werden kann. c) Zusammenfassung der Überlegungen zum Eigeninteresse Die grundlegenden Unterschiede in der Struktur von GmbH und AG wirken demnach bei der Bestimmung der Schutzrichtung gesellschaftsrechtlicher Dispositionsschranken fort. Die GmbH, vertreten durch ihren Geschäftsführer, kann – lässt man ein Bild zu – als Marionette begriffen werden, bei der die Gesellschafter durch Zielvorgabe und Weisungsbefugnis (= umfassende Interessendefinitionsmacht) die Fäden ziehen. Eigenen Bewegungsspielraum im Verhältnis zu ihren Gesellschaftern hat die GmbH nicht. Soweit die Gesellschafter (= Puppenspieler) also in ihrem Umgang mit der GmbH gesetzlich eingeschränkt werden (§ 30 GmbHG), dient dies ausschließlich dem Drittschutz. Dies führt im dogmatischen Ergebnis zur strengen Gesellschaftertheorie, nach der eine Untreuestrafbarkeit des Geschäftsführers bei Einverständnis aller Gesellschafter stets ausgeschlossen ist. Bei der AG, vertreten durch den Vorstand, handelt es sich dagegen nicht um eine Marionette am Band der im Hintergrund agierenden Aktionäre. Vielmehr ist jedem Organ der AG gleich einem Rädchen im Getriebe eine spezielle Aufgabe (im Kern: unternehmerische Leitung [Vorstand], Kontrolle und Beratung [Aufsichtsrat], Grundlagenentscheidungen jenseits der Geschäftsführung [Hauptversammlung]) zugewiesen. In einem durch Rechtsregeln festgelegten Zusammenspiel bestimmen sie in Ausrichtung am Unternehmensinteresse (insbesondere einer dauerhaften Rentabilität) über den Einsatz des Vermögens der AG als eigener Rechtspersönlichkeit. Den in der Hauptversammlung zusammengefassten Anteilseignern tritt die AG mit ihrem Vermögen nicht nur formal-juristisch, sondern auch materiell als fremd gegenüber. Sie müssen den festgestellten Jahresabschluss hinnehmen und können – in den Grenzen des § 174 Abs. 2 AktG – nur über die Verwendung des Bilanzgewinns entscheiden (§ 174 Abs. 1 AktG). Gegenüber ihren Gesellschaftern hat die maßgeblich vom Vorstand (als Handlungsorgan) gesteuerte AG einen erheblichen Spielraum, der es erlaubt, ihr ein Eigeninteresse am (im Unternehmensinteresse einzusetzenden) Gesellschaftsvermögen zuzusprechen. Die Vermögensbindung im Aktienrecht dient (jedenfalls auch) der Verwirklichung dieses Interesses. Sie ist daher in ihrer Auswirkung auf den Umfang der Einwilligungsschranken im Rahmen des § 266 StGB grundsätzlich berücksichtigungsfähig, wobei ein strafrechtlicher Schutz des festgestellten Eigeninteresses der AG gleichwohl einer gesonderten Begründung bedarf.

AktG gleich; vgl. zu Einschränkungen des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG bei drohendem Schaden für die AG Hüffer, AktG (o. Fn. 52), § 93 Rn. 26 m. w. N.

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4. Strafrechtlicher Schutz von Vermögensinteressen der AG Ob das festgestellte (Eigen-)Interesse der AG an ihrem Vermögen auch strafrechtlichen Schutz – sogar vor ihren Aktionären – verdient, bleibt zu überprüfen. Denn immerhin ist nach einer verbreiteten Anschauung der Unternehmensbetrieb in der Rechtsform der AG zuförderst eine „Veranstaltung der Aktionäre“100, werden diese nicht nur als „Eigentümer der Aktie“, sondern teilweise wirtschaftlich auch als „Eigentümer der AG“ behandelt.101 Können die Anteilseigner jedenfalls in ihrer Gesamtheit nicht vielleicht doch wirksam in vermögensschädigende Maßnahmen der Geschäftsleitung einwilligen, kann die Vermögens(interessen)trennung nicht wenigstens im strafrechtlichen Bereich aufgehoben werden? Die bisherigen – gerade im Vergleich mit der GmbH entwickelten – Überlegungen sprechen massiv gegen ein solches Ergebnis. Vor einer abschließenden Bewertung soll aber noch ein Aspekt hervorgehoben werden, der in der Diskussion leicht untergeht. Schon die juristische Person ist (als gedanklich-fiktives Konstrukt) nur Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke der an ihr beteiligten Personen; sie unterscheidet sich damit fundamental von der natürlichen Person (im moralischen Sinne), der eine freie Zwecksetzung wesenseigen ist.102 Das Vermögen juristischer Personen wird daher nur in spezifischen Funktionen (als „Plattform“ für die Verwirklichung von Unternehmensinteressen) geschützt. Die Freiheit zur willkürlichen Verfügung über Vermögen, die für die natürliche (unbeschränkt geschäftsfähige) Person durch (Straf)Recht garantiert wird, gehört damit schon nicht zum Rechtsgut, Handlungsmöglichkeiten in Form der Schädigung des AGVermögens liegen also außerhalb des Schutzgegenstandes. Eine (auch in der Diskussion zum „Mannesmann“-Verfahren anklingende) Sichtweise dahin gehend, durch die Nichtanerkennung der Zustimmung der Aktionäre werde der AG Vermögensschutz gleichsam aufgedrängt und damit den Anteilseignern unberechtigt Dispositionsfreiheit genommen, trifft ein solches Rechtsgutsverständnis nicht. Nimmt man demnach die – von der absolut herrschenden Auffassung nicht in Frage gestellte – Rechtsgutsinhaberschaft der juristischen Person ernst, so kann nur das Vermögen der AG in seiner wesensbedingten Gebundenheit103 Gegenstand des strafrechtlich geschützten Vermögens sein, sofern diese Bindung (wie bei der GmbH) nicht ausschließlich Drittinteressen dient. Alles andere führte im Ergebnis zu einer Rechtsgutsinhabervertauschung, da die existierenden, den Interessen der Anteilseigner übergeordneten Eigeninteressen des Rechtsgutsinhabers Gesellschaft unter Rückgriff auf die Interessen der (bei der AG nicht mit der Gesellschaft idenSeibt, in: K. Schmidt / Lutter, AktG (o. Fn. 54), § 76 Rn. 12 m. w. N. Nachw. in Fn. 66. 102 Vgl. Birkholz (o. Fn. 18), S. 101 m. w. N. 103 S. nochmals C. Schäfer (GmbHR 1992, 509, 511) mit dem Hinweis, dass die Vermögenszuordnung zu juristischen Personen sich notwendig von derjenigen zu natürlichen Personen unterscheiden muss. 100 101

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tifizierbaren) Gesellschafter übergangen und diese somit zum wahren Rechtsgutsinhaber gemacht werden.104 Ein originärer Vermögensschutz der AG selbst entspricht – dieser Seitenblick sei erlaubt – zudem ihrer Bedeutung im heutigen Wirtschaftsleben. Die wichtigsten und vom Umsatzvolumen her größten Vermögensträger sind auch in Deutschland als AG verfasste börsennotierte Unternehmen. Die Anerkennung einer strafrechtlichen Dispositionsbefugnis der Gesellschafter über deren Vermögen konterkariert nicht nur diese Realität, sie stellt auch die körperschaftliche Struktur der AG auf den Kopf. Dies gilt auch dort, wo es nur wenige oder sogar nur einen Aktionär gibt. Eine AG mit wenigen Anteilseignern weist dieselbe, körperschaftlich geprägte Struktur auf wie eine große Publikums-AG. Die Satzungsstrenge des Aktienrechts steht einer Personalisierung der Binnenstruktur unabhängig von der Zahl der Anteilseigner entgegen. Die Interessen der Anteilseigner bleiben bei dieser Konstruktion gewahrt, da es zuallererst dem Interesse eines (verständigen) Aktionärs entspricht, die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu gewährleisten. Im Übrigen steht es jedem Gesellschafter frei, seine Aktien zu verkaufen und sich in einer weniger körperschaftlich strukturierten Gesellschaft zu engagieren. Eine Überschreitung von der Hauptversammlung aktienrechtlich vorgegebenen Kompetenzen ist auch im Strafrecht unzulässig. 5. Der Gleichklang von Aktienrecht und Strafrecht Den Aktionären kommen bei pflichtwidrigen Vorstandsmaßnahmen also keinerlei untreuerelevante Zustimmungsbefugnisse zu.105 Die Kompetenzstruktur der aktienrechtlichen Organverfassung und ihre indisponible Ausrichtung auf das Unternehmensinteresse versperren auch Differenzierungen – etwa im Sinne einer eingeschränkten Gesellschaftertheorie. Dort, wo die Hauptversammlung eigene Kompetenzen zur freien Verfügung über das AG-Vermögen hat, insbesondere bei der Verwendung des Bilanzgewinns, bleiben diese selbstverständlich unberührt. Einiges spricht dafür, dass über den bereits festgestellten Bilanzgewinn hinaus auch die sog. freien Rücklagen im Kontext des § 266 StGB zur Disposition der Aktionäre stehen, obwohl die Hauptversammlung in der Regel nicht allein über ihre Auflösung beschließen kann (Ausnahme: § 173 AktG). Denn die Missachtung der Mitwirkungsbefugnisse von Vorstand und Aufsichtsrat – d. h. von Regeln, die das Verfahren der Gewinnverteilung festlegen – verletzt in diesem Fall ausschließlich Vorschriften, die nicht Ausdruck des Eigeninteresses der AG sind und daher nicht 104 Insoweit ist Nelles mit ihrer (freilich abzulehnenden) Konstruktion die einzige Vertreterin der strengen Gesellschaftertheorie, die diese bei der AG schlüssig zu begründen vermag. Der bei der GmbH zutreffende Hinweis auf eine Rechtsgutsvertauschung greift nämlich bei der AG nicht. 105 Diese Grundthese hat bisher J. Kaufmann in seiner Dissertation aus dem Jahre 1999 am gründlichsten ausgearbeitet.

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den Schutz ihres Vermögens bezwecken.106 Ihre Übertretung muss, soweit es die Frage der untreuerechtlichen Pflichtwidrigkeit betrifft, unbeachtlich bleiben, obwohl sie aktienrechtlich zu einer Verletzung von § 57 AktG führt und nach § 62 AktG die Pflicht zur Rückgewähr auslöst.107 Im Hinblick auf den Untreuetatbestand ist also das gesamte aktienrechtlich gebundene Vermögen (ggf. mit Ausnahme der freien Rücklagen) der Disposition der Gesellschafter entzogen. Eine Durchbrechung der damit grundsätzlich hergestellten Parallelität von Strafrecht und Aktienrecht auf der Ebene der Pflichtwidrigkeit ist nur dort möglich, wo aktienrechtliche Verstöße nicht die spezifisch strafrechtlichen Anforderungen des Untreuetatbestandes erfüllen.108 IV. Fazit Die Unterschiede zwischen GmbH und AG und ihre Auswirkungen im Untreuekontext könnten größer kaum sein. Einer allzu leichtfertigen Übertragung von für die eine Gesellschaftsform entwickelten Grundsätzen auf die andere muss daher mit großer Skepsis begegnet werden. Festgestellte Differenzen zwischen der GmbH und der AG führen dann auch bei der Frage der Einwilligungskompetenz der Gesellschafter zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Die GmbH-Gesellschafter sind aufgrund ihrer umfassenden Interessendefinitionsmacht im Verhältnis zur Gesellschaft (und somit im Rahmen des § 266 StGB) hinsichtlich des Gesellschaftsvermögens uneingeschränkt dispositionsbefugt. Demgegenüber kommt den Aktionären mangels ausreichender Verfügungsmacht keine Einwilligungskompetenz zu. Konsequenz ist einmal die Straflosigkeit des vom Einverständnis gedeckten Verhaltens des GmbH-Geschäftsführers sowie andererseits eine Untreuestrafbarkeit des Vorstands auch in Fällen, in denen alle Aktionäre oder der Alleinaktionär dem vermögensschädigenden Verhalten zugestimmt haben. Ein Widerspruch liegt in diesem Befund trotz gleichartigen Organverhaltens nicht. Vielmehr ist die unterschiedliche Bewertung Folge stark divergierender Kompetenzen der Gesellschaftsorgane und spiegelt letztlich nur die um106 Näher zum Ganzen Brand, AG 2007, 681, 685 ff. Allgemeiner zur Unbeachtlichkeit reiner Verfahrensverstöße für die Untreuestrafbarkeit etwa Ransiek, NJW 2006, 814, 816; Eisele, GA 2001, 377, 393; Busch (o. Fn. 2), S. 167; Nelles (o. Fn. 22), S. 547 f. 107 Betont man dagegen die (insbesondere zur Vorbeugung von Missbräuchen vorgesehene) strenge Formalisierung des Aktienrechts und weist den einschlägigen Verfahrensvorschriften ausreichend vermögensschützenden Charakter zu, kommt eine Erweiterung der Dispositionsbefugnisse der Aktionäre im Umgang mit den freien Rücklagen nicht in Frage. 108 Als Kriterien seien etwa genannt: Schutzzweckzusammenhang, Art 103 Abs. 2 GG und die Strafwürdigkeit des Verhaltens; zu Einschränkungsfaktoren bei der Untreue näher Rönnau, ZStW 119 (2007), 887, 906 ff. Diese die Tatbestandsebene betreffenden Feststellungen lassen die Überlegungen von Volk (o. Fn. 20, S. 803, 813) zur möglichen Entwicklung eines strafrechtsspezifischen Rechtfertigungsgrundes (im Falle der Zustimmung aller Anteilseigner) unberührt.

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fassende Leitungsmacht des Vorstands und seine Verantwortung für das Gesellschaftsvermögen wider.109 Bei der GmbH deckt sich das ermittelte Ergebnis mit der in der Literatur ohnehin bereits stark vertretenen strengen Gesellschaftertheorie. Im Bereich der AG kann der restriktive Ansatz nur denjenigen Leser überraschen, der die unterschiedlich weitreichende Rechtsmacht der Gesellschafter ausblendet. Seine Richtigkeit sei abschließend anhand einer Aussage des Jubilars bestätigt. Dieser hat die Einwilligung stets als „Instrument der Interessenwahrnehmung“110 charakterisiert. Wo aber der Inhaber eines auf dauerhafte Rentabilität gerichteten Interesses (die AG) selbst nicht zur Bildung eines hiervon abweichenden Willens in der Lage ist, kann nicht einfach der Wille eines anderen (der Hauptversammlung) an diese Stelle gesetzt werden, sofern keine originäre Willensbildungskompetenz eines Organs besteht. Eine solche Einwilligungsmöglichkeit führte nicht zur Interessenwahrnehmung, sondern letztlich zur Interessenvereitelung, weil das Interesse der AG nur in den Grenzen des Aktienrechts gewährleistet wird. Der hier entwickelte Ansatz brächte somit den Amelungschen Gedanken in der Sache auch bei der AG konsequent zur Geltung.

109 Ebenso J. Kaufmann (o. Fn. 2), S. 152. Dass das Einverständnis der Aktionäre zu einer Unrechts- und Schuldminderung führt, kann auf der Ebene der Strafzumessung oder des Prozessrechts (durch Verfahrenseinstellung gemäß §§ 153, 153a StPO) berücksichtigt werden, vgl. BGHSt 50, 331, 343 – „Mannesmann“, Zech (o. Fn. 18), S. 110 (m. w. N.), und schon J. Kaufmann ebenda. 110 Amelung, ZStW 104 (1992), 525, 544.

Einwilligung, Persönlichkeitsautonomie und tatbestandliches Rechtsgut Von Claus Roxin

I. Einführung Knut Amelung, der verehrte Jubilar, ist einer meiner frühesten Schüler. Ich habe ihn in meiner Göttinger Zeit schon als Studenten gekannt. Bekanntlich hat er später, obwohl er als Assistent im öffentlichen Recht bei Peter Badura arbeitete, bei mir 1972 mit einer Arbeit über „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ promoviert, die auf ihrem Gebiet noch heute grundlegend ist. Ich hatte sie damals summa cum laude bewertet und in meinem Votum darauf hingewiesen, dass diese Schrift ihrem wissenschaftlichen Range nach den an eine Habilitationsschrift zu stellenden Anforderungen entspreche. Dies war nicht allein meine Ansicht, so dass Amelung schon auf Grund seiner Dissertation auf einen Lehrstuhl berufen worden ist. Er hat das Fehlen einer Habilitationsschrift dann durch eine bei Professoren heute selten gewordene Vielzahl von monographischen Darstellungen mehr als kompensiert. Sie alle zeichnen sich durch Klarheit, Scharfsinn, prononcierte Eigenständigkeit und durch die fruchtbare Verarbeitung öffentlich-rechtlicher, rechtssoziologischer und philosophischer Aspekte aus. In der Sache bin ich mit ihm in vielen, aber keineswegs allen – auch nicht in allen zentralen – Punkten einig. So hat zwar z. B. meine Deutung der Anstiftung als „Aufforderung“ in einer neueren gründlichen Untersuchung Amelungs1 eine glänzende Bestätigung erfahren. Aber schon mit dem systemtheoretischen Strafbegründungskonzept seiner Dissertation habe ich mich bei aller Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Qualität nicht befreunden können.2 Ein Thema, über das wir seit langem streiten, ist die Einwilligung. Für mich und die Anhänger einer vordringenden Meinung führt eine wirksame Einwilligung zum Tatbestandsausschluss, während Amelung seit Jahrzehnten eine bloß rechtfertigende Kraft der Einwilligung verficht3 und seine Auffassung für den Tatbestand 1 Amelung, Die Anstiftung als korrumpierende Aufforderung zu strafbedrohtem Verhalten, FS Fr.-Chr. Schroeder, 2006, S. 147 ff. 2 Vgl. nur Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 116. 3 Vgl. nur etwa seine Monographien „Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes“, 1981, S. 26 ff., sowie „Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willens-

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der Körperverletzung noch unlängst als der meinen „ethisch überlegen“ bekräftigt hat4. Er hat die noch herrschende Meinung auf seiner Seite. Angesichts dessen erscheint es mir als sinnvoll, meine Position noch einmal präzisierend zu verdeutlichen und dabei auf die von Amelung und anderen erhobenen Einwände etwas näher einzugehen. Zwar ist umstritten, ob der systematischen Einordnung der Einwilligung die Bedeutung zukommt, die ihr in der strafrechtlichen Literatur beigemessen wird. Denn es besteht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass die Behandlung von Willensmängeln des Einwilligenden davon nicht abhängt.5 Wenn man mit der h. M. die irrtümliche Annahme der sachlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes als vorsatzausschließend ansieht, spielt es für die Behandlung von Irrtumsfragen ebenfalls keine Rolle, ob man die Einwilligung als tatbestandsausschließend oder als rechtfertigend beurteilt. Von daher wird es verständlich, wenn Arzt6 sagt: „Der Aufwand im AT, mit dem z. B. über die Zuordnung der Zustimmung des Opfers . . . zur Kategorie Tatbestandsausschluss oder Rechtfertigung diskutiert wird, hat etwas Querulatorisches.“ Andererseits betrifft der Streit zentrale Begriffe des Strafrechts wie Tatbestand, Persönlichkeitsautonomie und Rechtsgut, die so klar und sachgerecht wie möglich gefasst werden sollten. Und wenigstens von bestimmten Standpunkten aus wird der Frage nach Rechtsnatur und systematischer Stellung der Einwilligung durchaus auch praktische Bedeutung beigemessen. Das gilt aus der Sicht der strengen Schuldtheorie sowohl für die irrtümliche Annahme einer Einwilligung wie für die Verkennung einer tatsächlich vorliegenden Einwilligung. Auch wirft Amelung in seiner jüngsten Veröffentlichung zum Thema7 der von mir vertretenen Auffassung „Schutzlücken“ vor, „die – wenn man so will – als unmenschlich erscheinen“, so wie er umgekehrt auch moniert, dass die Konsequenz meiner Thesen eine zu weit gehende Strafbarkeit im Gefolge habe und „in die Nähe der Behauptung“ gelange, „es gebe eine Körperverletzung ohne Versehrung des Körpers“8. Angesichts dessen scheint es mir doch gerechtfertigt, die Auseinandersetzung – in aller Freundschaft – noch einmal aufzunehmen. Die Mahnung von Arzt soll dabei insoweit beherzigt werden, als ich bestrebt bin, mich vornehmlich auf neuere Autoren zu beziehen und bekannte Argumente nicht in aller Breite nochmals zu entwickeln. mängeln bei der Einwilligung des Verletzten“, 1998, S. 25 – 30 (kritische Auseinandersetzung mit meiner Position). 4 Amelung / Lorenz, Mensch und Person als Schutzobjekte strafrechtlicher Normen, insbesondere bei der Körperverletzung, FS Otto, 2007, S. 527 ff., 531. 5 Die wichtigsten Monographien zu diesem Thema liefern Amelung, (o. Fn. 3, 1998) und Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001. 6 Arzt, Die deutsche Strafrechtswissenschaft zwischen Studentenberg und Publikationsflut, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 839 ff., 875. 7 Amelung / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 530. 8 Amelung / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 533. Das Wort „Versehung“ im Text ist wohl ein Druckfehler.

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II. Die zentralen Gründe für die tatbestandsausschließende Wirkung der Einwilligung 1. Die Tatbestandserfüllung als Rechtsgutsverletzung (bzw. -gefährdung) Wenn man innerhalb der umfassenden Kategorie eines Gesamtunrechtstatbestandes zwischen den selbständigen Stufen von Tatbestand und Rechtfertigung unterscheiden will, dann ist das sinnvoll nur in der Weise möglich, dass man im Tatbestand eine Verletzung (bzw. gegebenenfalls Gefährdung) des jeweils geschützten Rechtsgutes verkörpert sieht, während die Rechtfertigungsgründe auf der Basis einer gesetzgeberischen Abwägung übergeordnete Interessen in Kollisionsfällen zur Geltung bringen. Anders ausgedrückt: Der Tatbestand ist erfüllt, wenn der Rechtsgutsträger in deliktstypischer Weise handgreiflich geschädigt ist. Die Rechtswidrigkeit eines tatbestandserfüllenden Handelns ist ausgeschlossen, wenn der Gesetzgeber um höherwertiger Ziele willen eine derartige Schädigung ausnahmsweise gestattet. Auf der Grundlage einer solchen Differenzierung kann eine wirksame Einwilligung des Rechtsgutsträgers unmöglich ein bloßer Rechtfertigungsgrund sein.9 Wenn jemand im Rahmen der gesetzlich gewährten freien Verfügbarkeit Dispositionen über sein Eigentum oder seinen Körper trifft, indem er z. B. einen Gärtner mit dem Schneiden seiner Hecke oder einen Frisör mit dem Schneiden seiner Haare beauftragt, dann enthalten solche verlangten Dienstleistungen keinerlei Schädigung des Rechtsgutsinhabers und können deshalb auch nicht den Tatbestand der §§ 303, 223 StGB erfüllen. Vielmehr macht der Rechtsgutsträger nur von den Möglichkeiten persönlicher Lebensgestaltung Gebrauch, die ihm das Rechtsgut gewährt. Wenn § 903 BGB ausdrücklich betont, der Eigentümer könne „mit der Sache nach Belieben verfahren“, kann eine solche Ausübung der Eigentumsrechte durch Einschaltung Dritter schlechthin nicht als Eigentumsverletzung durch diesen gedeutet werden. Und für den Umgang mit dem eigenen Körper gilt in den durch §§ 216, 228 StGB gezogenen Grenzen dasselbe. Das Rechtsgut besteht also nicht nur aus seinem realen Substrat, sondern auch aus dem Stück persönlicher Autonomie, das sich in ihm verkörpert. Wer dem Rechtsgutsträger wunschgemäß bei dem gesetzlich freigestellten Umgang mit seinen Rechtsgütern hilft, kann keinen Tatbestand verwirklichen, solange man der Tatbestandsverwirklichung irgendeine strafrechtliche Relevanz beimessen will (ohne welche der Begriff sinnlos wäre).

9 Für die Gründe im Einzelnen, die ich hier nicht wiederholen will, verweise ich auf die Darstellung meines Lehrbuches (o. Fn. 2), § 13 Rn. 12 ff., und die Argumente, die die zahlreichen Befürworter eines Tatbestandsausschlusses seit langem vorgetragen haben; die Befürworter werden bei Roxin (o. Fn. 2), § 13 Rn. 11, Anm. 19 aufgelistet.

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2. Das Fehlen aller Rechtfertigungsmerkmale bei der Einwilligung Aber es fehlt bei einer wirksamen Einwilligung nicht nur an allen Kriterien einer Tatbestandserfüllung. Auch die Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes liegen samt und sonders nicht vor. Es mangelt an jeglicher Kollision gegenläufiger Interessen, wenn der Handelnde mit dem Willen und im Interesse des Rechtsgutsträgers tätig wird. Deshalb kommt es auch nicht auf die Erforderlichkeit seines Tuns nach gesetzlichen Maßstäben, sondern auf die freie, willkürliche Entscheidung des Rechtsgutsträgers an.10 3. Selbsthandeln und vom Rechtsgutsträger gewolltes Dritthandeln begründen im Rahmen der freien Verfügbarkeit keinen sozialrelevanten Unterschied Auch unter dem Gesichtspunkt der Lebensrealität verdienen ein unbestritten tatbestandslos und ein durch Einwilligung gedecktes Verhalten keine unterschiedliche Beurteilung, während etwa – um ein altes Beispiel Welzels aufzugreifen – die tatbestandslose Tötung einer Mücke und die Tötung eines Menschen in Notwehr völlig heterogene Ereignisse sind. Demgegenüber begründet es unter strafrechtlichen Aspekten keinerlei Bewertungsdifferenz, ob ich meine Haare selbst schneide oder schneiden lasse. Daher besteht kein Grund, im zweiten Fall eine Körperverletzung oder Sachbeschädigung anzunehmen, von der im ersten Fall keine Rede sein kann. Auch kann es für die rechtliche Bewertung vernünftigerweise keinen Unterschied machen, ob ich mir vor Interkontinentalflügen die Spritze, die ich zur Vorbeugung gegen ThromboseGefahren benutze, selbst appliziere oder ob ich wegen handwerklichen Ungeschicks meine Frau darum bitte. Wenn der Hausherr am Polterabend nach einem alten Hochzeitsbrauch Porzellan zum Zertrümmern bereitstellt, kann es für die strafrechtssystematische Beurteilung des Zerstörungsvorganges nicht darauf ankommen, ob er selbst das gesamte Geschirr zerdeppert oder ob er andere Hochzeitsgäste bittet, dabei mitzuwirken. Es bedarf keiner weiteren Beispiele, um zu erkennen, dass es nicht der Zweck strafrechtlicher Systematisierungsbemühungen sein kann, sozial gleichbedeutende, vollkommen einwandfreie, niemandes Rechtsgüter verletzende Verhaltensweisen unterschiedlichen strafrechtlichen Systemstufen zuzuweisen.

10 Der Versuch von Hirsch, die Erforderlichkeit mit einer beliebigen Entscheidung des Rechtsgutsträgers gleichzusetzen, verfehlt den Sinn des Erforderlichkeitsmerkmals; dazu Rönnau (o. Fn. 5), S. 146 f.

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4. Die fehlende objektive Zurechenbarkeit eines durch Einwilligung gedeckten Handelns Auf einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt macht neuerdings Kindhäuser11aufmerksam. Er betont, dass die Behandlung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund aus einer Zeit stamme, „als die Lehre von der objektiven Zurechnung in ihrer heutigen Gestalt auch noch nicht ansatzweise entwickelt war und insbesondere Tatbestandseinschränkungen noch nicht unter dem Aspekt der fehlenden Risikozuständigkeit des Täters vorgenommen wurden“. Mit Recht deutet er die Einwilligung als „Übernahme der Verantwortung für einen Eingriff in eigene Güter“ und kommt zu dem Ergebnis, dass sie „als Sonderfall des Ausschlusses der objektiven Tatbestandszurechnung begriffen“ werden müsse: „Mit der Einwilligung übernimmt der Berechtigte die Zuständigkeit für das erfolgsverursachende Geschehen.“ In der Tat: Wenn die einverständliche Fremdgefährdung als eine die Zurechnung zum objektiven Tatbestand ausschließende Risikoübernahme zu deuten ist – und diese von mir vorgeschlagene Rechtsfigur ist heute weitgehend anerkannt12 –, dann kann es bei der Einwilligung nicht anders sein. III. Die zentralen Argumente der Rechtfertigungslösung Die vorstehend zusammengefassten Argumente für den tatbestandsausschließenden Charakter der Einwilligung erscheinen als zwingend. Welche Gründe sind es aber, die die immer noch überwiegende Meinung an der Annahme eines Rechtfertigungsgrundes festhalten lassen? Fast alle neueren Autoren vertreten einen selbständig formulierten Standpunkt; darauf kann hier nicht in allen Einzelheiten eingegangen werden.13 Doch lassen sich zwei zentrale Gegenargumente feststellen: der Hinweis auf den Gesetzeswortlaut und der Versuch, doch eine Interessenkollision aufzuweisen, bei der einer wirksamen Einwilligung der Vorrang gebührt. Einen anderen selbständigen Begründungsansatz wählt Amelung, auf den im Anschluss an die Auseinandersetzung mit differenzierenden Lösungen (IV.) noch gesondert eingegangen werden soll (V.). 1. Das Wortlautargument Zahlreiche Autoren – und gerade auch solche, die der Tatbestandslösung einige Plausibilität zugestehen – berufen sich für den bloß rechtfertigenden Charakter der Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2006, § 12 Rn. 4. Näher Roxin (o. Fn. 2), § 13 Rn. 121 ff. 13 Eine umfassende und durchweg überzeugende Auseinandersetzung mit allen einzelnen Vertretern der Rechtfertigungslösung liefert Rönnau (o. Fn. 5), S. 116 ff., der selbst die Tatbestandslösung vertritt. 11 12

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Einwilligung auf den Wortlaut des Gesetzes. So bezeichnet Kühl14 die Tatbestandslösung als „durchaus begründbar“, findet dann aber die „Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund“ doch „treffender“: „Schon nach dem Alltagsverständnis und dem normalen Sprachgebrauch ist ein verwundeter Mensch ,körperverletzt’ (§ 223) und eine zertrümmerte Vase ,sachbeschädigt‘ (§ 303), auch wenn der Mensch in der Körperverletzung und der Eigentümer in die Sachbeschädigung eingewilligt hat.“ Sternberg-Lieben hält die Einordnung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund nicht für zwingend15 und akzeptiert auch, dass bei einer wirksamen Einwilligung Erfolgsunwert, Handlungsunwert und die Verwirklichung des Deliktstypus entfallen,16 meint dann jedoch:17 „Gegen eine Zuordnung der Einwilligung zum Tatbestand spricht nun aber der Wortlaut . . . Die Preisgabe des Rechtsguts durch den Rechtsgutsinhaber vermag nichts daran zu ändern, dass die gesetzlich vorgegebenen Tatbestandsmerkmale – etwa ,Beschädigen‘ im Sinne einer Sachbeschädigung, § 303, beziehungsweise eine Körperverletzung (§ 223) in Form einer Gesundheitsbeschädigung – auch bei einem von einer Einwilligung des Rechtsgutsinhabers gedeckten Verhalten des Täters vorliegen.“ In entsprechender Weise äußern sich Baumann / Weber / Mitsch,18 Zieschang19 und andere. Doch hat das Wortlautargument aus zwei Gründen keine Überzeugungskraft.20 Erstens ist eine einschränkende Auslegung selbstverständlich auch im Strafrecht möglich, und sie ist sogar geboten, wenn eine rechtsgutsbezogene Interpretation dies verlangt. Wenn ich einen Nachbarn bitte, mir eine alte Kommode, die ich für ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr gebrauchen kann, zu Brennholz zu verarbeiten, verfahre ich mit meinem Eigentum im Sinne des § 903 BGB. Ein Gebrauchmachen vom Eigentum kann aber natürlich keine Eigentumsverletzung sein. Wenn demnach das tatbestandlich geschützte Rechtsgut nicht beeinträchtigt ist, kann eine rechtsgutsbezogene Auslegung nicht zur Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit kommen. Vielmehr ist die fehlende Einwilligung des Eigentümers als negativ gefasstes Tatbestandsmerkmal zu verstehen, § 303 also so zu lesen, dass es heißt: „Wer ohne Einwilligung des Eigentümers eine fremde Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 9 Rn. 22. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 66. 16 Sternberg-Lieben (o. Fn. 15), S. 61 f. 17 Sternberg-Lieben (o. Fn. 15), S. 62 / 63. 18 Baumann / Weber / Mitsch, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 95. 19 Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2005, S. 72. 20 Nur am Rande sei bemerkt, dass auch die immer noch hier und da vertretene Annahme, die Bejahung eines bloßen Rechtfertigungsgrundes folge aus dem Wortlaut der §§ 228 und 34 StGB, nicht haltbar ist. Zu § 228 StGB verweise ich auf die Ausführungen bei Roxin (o. Fn. 2), § 13 Rn. 29. Soweit ich sehe, hat noch niemand, der sich auf das dort vorgetragene Argument eingelassen hat, mir widersprochen. Zu § 34 vgl. die überzeugende Widerlegung bei Rönnau (o. Fn. 5), S. 42 ff. 14 15

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Sache beschädigt oder zerstört . . .“. Dafür gibt es gesetzliche Vorbilder wie § 248b StGB: „Wer ein Kraftfahrzeug oder ein Fahrrad gegen den Willen des Berechtigten in Gebrauch nimmt . . .“. Hier schließt also schon nach dem Gesetzeswortlaut eine Einwilligung den Tatbestand aus. Mit Recht sagt Schlehofer:21 „. . . es gibt systematisch gesehen keinen Grund, diese gesetzliche Wertung nicht auf die Einwilligung zu übertragen.“ Das Beispiel zeigt außerdem, dass historisch bedingte und zufällige Textfassungen nicht über Fragen der systematischen Zuordnung entscheiden sollten. Zweitens wird auch die Bedeutung des Alltagssprachgebrauchs für eine Wortauslegung weit überschätzt; jedenfalls spricht sie nicht durchweg, wie ihre Anhänger meinen, für eine Rechtfertigungslösung. Bei näherem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass in zahlreichen Fällen der Einwilligung nach normalem Sprachverständnis eine Beschädigung (§ 303) oder Misshandlung (§ 223) keineswegs vorliegt. Wenn ich einen Gärtner zum Rasenmähen oder Heckenschneiden engagiere, kann man nicht sagen, dass durch diese Dienstleistungen der Rasen oder die Hecke „beschädigt“ werden. Auch ein Baum wird nicht „beschädigt“, wenn der Eigentümer jemandem gestattet, sich ein paar Äpfel zu pflücken. Wenn ich mir die Haare schneiden oder aus prophylaktischen Gründen eine Spritze geben lasse, kann man das vernünftigerweise nicht als „Misshandeln“ (= „üble, unangemessene Behandlung“) bezeichnen. Damit fällt aber für weite Bereiche der durch Einwilligung gedeckten Sach- und Körpereingriffe das Wortlautargument dahin und verliert auch für die übrig bleibenden Fälle seine Aussagekraft, weil sich eine an den Wortlaut anknüpfende Sachdifferenz nicht aufweisen lässt. Es kommt hinzu, dass auch in den Fällen des Einverständnisses, in denen die Vertreter der Rechtfertigungslösung unter Hinweis auf den Wortlaut des Gesetzes ebenfalls einen Tatbestandsausschluss annehmen, der Wortlaut alles andere als eindeutig ist. Das zeigt schon das Paradebeispiel des § 242 StGB: Bei einer Erlaubnis des Eigentümers soll der Tatbestand entfallen, weil keine Wegnahme vorliegt. Unter Wegnehmen wird also ein An-sich-Nehmen gegen den Willen des Gewahrsamsinhabers verstanden. Das ist aber keineswegs selbstverständlich. Vielmehr belehrt uns der Duden, dass man unter „Wegnehmen“ auch ein bloßes Von-derStelle-Nehmen versteht.22 Jeder weiß auch selbst, dass Eigentümer oft sagen: „Du darfst Dir gern ein Stück wegnehmen.“ Sogar das „Eindringen“ im Sinne des § 123 StGB ist sprachlich vieldeutig. Man dringt in eine unterirdische Höhle auch dann ein, wenn man dafür beim Eigentümer eine Erlaubnis eingeholt hat. Bei anderen Tatbeständen wie §§ 185, 201, 202, 239 ist unklar und umstritten, ob und inwieweit eine Einwilligung schon den Wortlaut des Tatbestandes ausschließt.23 Schon angesichts dieses Befundes lässt sich die These, dass es vom Wortlaut einer Strafvorschrift abhängt, ob die Einwilligung den Tatbestand oder die Rechts21 22 23

Schlehofer, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, Rn. 106 vor §§ 32 ff. Schlehofer, in: MK-StGB (o. Fn. 21), Rn. 104 vor §§ 32 ff. Näher Roxin (o. Fn. 2), § 13 Rn. 24.

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widrigkeit ausschließt, nicht halten. Denn ob ein die Tatbestandshandlung kennzeichnendes Verbum ein Handeln ohne Einwilligung des Berechtigten in sich schließt, hängt von schwankenden Deutungen des Sprachgebrauchs ab. Darauf lassen sich strafrechtssystematische Unterscheidungen nicht gründen. 2. Das Kollisionsargument Viele Autoren bemühen sich auch, trotz eines evidentermaßen fehlenden Interessengegensatzes einen Kollisionsfall zu konstruieren, bei dem der Vorrang dem Willen des Rechtsgutsträgers zugesprochen wird. Zum Beispiel lesen wir bei Gropp,24 die tatbestandlichen „Lebensgüter“ würden unabhängig von der Selbstbestimmung des Rechtsgutsträgers geschützt. „Daher liegt auch bei wirksamer Einwilligung die Verwirklichung des in den Tatbeständen umschriebenen Unwertes vor.“ Geht man davon aus, kann man die Einwilligung nur noch als rechtfertigend ansehen, indem man dem Willen des Rechtsgutsträgers ein zur Verwirklichung dieses Unwertes berechtigendes höheres Interesse zuschreibt. Otto25 meint, der Staat schütze die „Beziehung einer Person zu einer sozialen Funktionseinheit“. Die „Beeinträchtigung dieser Beziehung“ sei „unabhängig von der Einwilligung des konkret Betroffenen“, weil die Gesellschaft „ein Interesse daran hat, dass sich der Einzelne in dieser Wertbeziehung entfaltet. Verzichtet der Begünstigte auf den Schutz im konkreten Fall, so ist damit die Wertbeziehung als solche nicht schutzunwürdig, vielmehr rechtfertigt das verbleibende gesellschaftliche Interesse im Regelfall keine strafrechtliche Absicherung mehr.“ Das sind schwer nachvollziehbare Gedankengänge, die einer Prüfung an der Lebensrealität nicht standhalten. Wenn ich mir die Hecke oder die Haare schneiden lasse, wenn ich bauliche Maßnahmen an meinem Hause oder die kosmetische Korrektur einer Missbildung oder Narbe vornehmen lasse, liegt entgegen Gropp schlechterdings überhaupt kein tatbestandlicher „Unwert“, sondern ein von vornherein nur wertschaffendes, nämlich den Eigentums- und Körperzustand verbesserndes, durch die Handlungsfreiheit des Rechtsgutsträgers gedecktes Geschehen vor. Es ist auch nicht angemessen, mit Beulke26 und anderen Autoren von einem „abstrakten Unwert“ zu sprechen. Denn damit kann nur gemeint sein, dass ein Unwert vorläge, wenn man von der Einwilligung absieht. Das ist zwar richtig, ändert aber nichts daran, dass beim Vorliegen einer Einwilligung jeder Unwert von vornherein fehlt. Denn anders als bei einer abstrakten Gefahr, die jederzeit in eine konkrete Gefahr oder Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, kann der postulierte „abstrakte Unwert“ niemals zu einer Rechtsgutsverletzung führen. 24 25 26

Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 57. Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 127. Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 363.

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Man kann auch nicht mit Otto sagen, dass die Beziehung des Rechtsgutsträgers zu seinem Eigentum oder seinem Körper in Fällen wie den genannten „beeinträchtigt“ werde, weil die Gesellschaft unabhängig von der Einwilligung ein Interesse daran habe, dass sich der Einzelne in dieser Wertbeziehung entfalte. Denn gerade in einem auch Substanzeingriffe einschließenden Umgang mit seinen Rechtsgütern entfaltet sich der Einzelne. Verbreitet ist sodann die Auffassung, die die Einwilligung als „Rechtsgutsverzicht“ deutet.27 Es gehe „um eine Kollision zwischen den bei der Aufstellung der Rechtsnormen generell getroffenen Wertentscheidungen und einer nur ausnahmsweise abweichenden subjektiven Bewertung im Einzelfall“28. Aber der Gesetzgeber hat im Rahmen der freien Verfügbarkeit über eigene Rechtsgüter niemals eine deren Unantastbarkeit intendierende „generelle Wertentscheidung“ getroffen. Dass er der freien und willkürlichen Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsträgers in §§ 228, 216 StGB Grenzen gesetzt hat, begründet keinerlei Kollision in den Fällen der freien Verfügbarkeit. Auch Vorliegen oder Nichtvorliegen eines „Verzichts“ kann keine sinnvolle Unterscheidung von Tatbestandsausschluss und Rechtfertigung begründen. Denn einerseits lassen sich die meisten Einwilligungsfälle sinnvollerweise nicht als Verzicht verstehen. In den oben genannten Beispielsfällen verzichtet der Rechtsgutsträger nicht auf irgendein entwickelbares Eigentums- oder Körperpotential, sondern seine Dispositionen dienen ausschließlich einer Verbesserung seiner Eigentums- oder Körperbeschaffenheit. Andererseits liegt gewiss ein Eigentumsverzicht vor, wenn ich jemandem gestatte, zur Erinnerung an seinen Besuch ein Buch aus meiner Bibliothek mitzunehmen. Gerade dies aber ist unstreitig ein Fall des tatbestandsausschließenden Einverständnisses. Der Begriff des Verzichts kann daher keine systematische Relevanz beanspruchen. IV. Differenzierende Lösungen Zwischen den Fronten der Tatbestands- und der Einwilligungslösung hat sich eine differenzierende Mittellösung herausgebildet, die eine Einwilligung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten teils als tatbestandsausschließend, teils als nur rechtfertigend beurteilt. Hier sei nur kurz auf die – ihrerseits unterschiedlichen – Konzeptionen von Stratenwerth / Kuhlen und Paeffgen hingewiesen.29

27 Am ausführlichsten begründet bei Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1994, Rn. 104 ff. vor § 32. 28 Hirsch, in: LK-StGB (o. Fn. 27), Rn. 105. 29 Über andere Differenzierungsversuche wie diejenigen von Jescheck, der nur bei einer Änderung der Zweckbestimmung, und Jakobs, der nur bei leichteren Rechtsgutseingriffen zum Tatbestandsausschluss kommt, näher Roxin (o. Fn. 2), § 13 Rn. 25 und Rn. 20, Anm. 39.

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Stratenwerth / Kuhlen30 meinen, dass die Einwilligung grundsätzlich ein Rechtfertigungsgrund sei, weil der Tatbestand kein abschließendes Urteil über die Rechtswidrigkeit enthalte, sondern nur bedeute, „dass er die typischerweise unrechtsbegründenden Merkmale aufweist“. Dann aber wollen die Autoren bei den „Holzfällern im Staatsforst“ und bei „einem mit Einwilligung des Patienten kunstgerecht vorgenommenen ärztlichen Heileingriff“ die Einwilligung doch tatbestandsausschließend wirken lassen. Das ergebe sich aber nicht aus der Einwilligung allein, sondern daraus, dass es sich um „völlig normale Dispositionen über das Eigentum oder die körperliche Integrität“ handele „mit der Konsequenz, dass die entsprechenden Tatbestände bereits unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz ausscheiden sollten“. Jedoch wird man sagen müssen, dass Dispositionen, die im Rahmen der gesetzlich gewährten Dispositionsbefugnis rechtswirksam getroffen werden, immer normal und sozialadäquat sind und jedenfalls keiner rechtlichen Bewertung als unrechtstypisch unterliegen. Denn damit würde sich das Strafrecht unzulässigerweise in die Dispositionsfreiheit des Rechtsgutsträgers einmischen. Freilich ist das Prinzip eines generellen Tatbestandsausschlusses kraft Einwilligung weitaus präziser als das vage Kriterium der Sozialadäquanz.31 Paeffgen32 versucht den nur rechtfertigenden Charakter der Einwilligung bei der Körperverletzung aus § 228 StGB (freilich nicht aus dessen Wortlaut) abzuleiten. Er hält der von mir vertretenen Ansicht entgegen: „Warum die Wirkung einer rechtsgültigen Einwilligung dann aber nach der Gesetzesfassung noch von anderen Kriterien, namentlich bei § 228 von dem Kriterium mangelnder Sittenwidrigkeit abhängen soll, vermag dieser Ansatz nicht systemgerecht zu beantworten.“ Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens liegt in den Fällen des § 228 überhaupt keine wirksame Einwilligung vor, während der Streit sich nur um die systematische Einordnung der unbestritten wirksamen Einwilligung dreht. Und zweitens lässt sich § 228 zwanglos mit dem Gedanken vereinbaren, dass § 223 neben dem Realsubstrat des Körpers auch die darauf bezogene Persönlichkeitsautonomie schützt. Eine Sittenwidrigkeit sollte nämlich nur in den Fällen bejaht werden, in denen die mit Einwilligung begangene Körperverletzung nicht der autonomen Entfaltung der Persönlichkeit des Rechtsgutsträgers, sondern der Zerstörung seiner Lebensentfaltungsmöglichkeiten dient (wie z. B. bei irreparablen schweren Verstümmelungen).33 Paeffgen kommt dann aber bei den §§ 303 ff. StGB auch zu einem Tatbestandsausschluss: „Es ist nämlich nicht zu erkennen, warum bei einer Preisgabe dieser vollständig der Dispositionsfreiheit des Rechtsinhabers unterliegenden Befugnis 30 31 32 33

Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2004, § 9 Rn. 9, 10. Dazu näher Roxin, FS Klug, 1983, Bd. 2, S. 303 ff. Paeffgen, in: Nomos Kommentar zum StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2005, § 228 Rn. 7. Näher dazu Roxin (o. Fn. 2), § 13 Rn. 38 ff.

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(§ 903 BGB) eine ,Einwilligung‘ nicht bereits das tatbestandliche Unrecht aufheben soll, denn diese Tatbestände werden dadurch gekennzeichnet, dass dem Rechtsgut nur in dem Maße Schutz gewährt wird, wie der Wille des Berechtigten für dieses Gut auf rechtlichen Schutz nicht verzichtet (exemplarisch die Dereliktion § 959 BGB).“ Das stimmt insoweit mit der hier vertretenen Ansicht überein. Es ist freilich ebenfalls nicht zu erkennen, warum für eine wirksame Einwilligung bei der Körperverletzung nicht dasselbe gelten soll. Denn auch der Körper unterliegt bis zur Grenze des § 228 StGB „vollständig der Dispositionsfreiheit des Rechtsgutsinhabers“. V. Die Konzeption Amelungs Zum Schluss soll uns die Konzeption Amelungs beschäftigen, der den Vertretern der Tatbestandslösung mit besonderer Schärfe entgegentritt und ihnen einerseits „Schutzlücken“ und andererseits auch unangemessene Überdehnungen der Strafbarkeit vorwirft. Ich diskutiere im Folgenden beide Einwände nacheinander, wobei ich die Stellungnahmen anderer Autoren einbeziehe. 1. Das Schutzlückenargument Amelung hatte sich schon 198134 gegen Autoren gewandt, die die Verfügungsbefugnis über das tatbestandliche Realsubstrat als Bestandteil des geschützten Rechtsguts selbst ansehen. Diese Auffassung gerate in Schwierigkeiten, wo die Rechtsordnung bestimmten Personen, wie etwa Kleinkindern, eine Verfügungsbefugnis abspreche. Das ihnen gegenüber bei einer Körperverletzung oder einem Eigentumseingriff vorliegende Unrecht müsse dann konsequenterweise als geringer beurteilt werden als bei einer gegenüber einem Verfügungsberechtigten begangenen Tat. Das Gesetz, das dafür keine Anhaltspunkte biete, werde bei der Tatbestandslösung durch ein „personalistisches Vorverständnis verfälscht“. Im Jahre 1998 wendet sich dann Amelung35 direkt gegen „Roxins Zielbestimmung“, wonach die Persönlichkeitsautonomie zusammen mit dem tatbestandlich geschützten Realsubstrat das Rechtsgut ausmacht, so dass eine in Ausübung dieser Autonomie erfolgende Einwilligung eine Rechtsgutsverletzung und Tatbestandserfüllung ausschließe. „Der Tatbestand der Sachbeschädigung schützt das Sacheigentum und nicht die Befugnis des Eigentümers, über seine Sache zu verfügen. Wäre es anders, so blieben Sachen strafrechtlich ungeschützt, die als res extra commercium, Gegenstände des Denkmalschutzes, Bestandteile einer Konkursmasse etc. der Verfügungsbefugnis des Eigentümers entzogen sind. . . . Ebenso schützt § 223 StGB nur den Körper und nicht zugleich die Möglichkeit, ihn zu 34 35

Amelung (o. Fn. 3), S. 26 / 27. Amelung (o. Fn. 3), S. 28.

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autonomer Selbstbestimmung zu gebrauchen. Wäre es anders, so bliebe das Bein eines Querschnittsgelähmten ohne (oder doch ohne vollen) Schutz, und man müsste sich fragen, ob derjenige (voll) bestraft werden kann, der ein willensunfähiges Baby schlägt.“ Im Jahr 200736 wird dieser Ansatz speziell beim Tatbestand der Körperverletzung weiter radikalisiert. Der Auffassung, dass § 223 StGB „zwei eng miteinander verschmolzene Werte: den Körper und die Person in Gestalt ihrer Autonomie“ schützen, hält er die „Schutzlücken“ entgegen, die seiner Meinung nach bei der Verletzung von Menschen eintreten, die „keine realen Handlungsmöglichkeiten besitzen“. Er denkt dabei „an Säuglinge, im Wachkoma Liegende oder bewusstlos dem Tode entgegen Dämmernde“. Wenn man darauf beharre, dass die „Person“ Schutzobjekt der Körperverletzungsdelikte sei, so schütze man in derartigen Fällen entweder „nur eine Fiktion“ oder man müsse „die unmenschliche Konsequenz“ ziehen, „dass man die dauerhaft Handlungsunfähigen, also gerade besonders schutzbedürftige Menschen, aus dem Schutzbereich der Körperverletzungsdelikte herausnehmen“ müsse. Amelung zieht aus alledem den Schluss, dass das Rechtsgut der §§ 223 ff. StGB nicht die menschliche Person, sondern allein der Körper als biologische Gegebenheit sei. Das klinge zwar „naturalistisch“, sei aber der Rechtsgutsbestimmung des Personalismus ethisch überlegen. Denn seine Auffassung knüpfe nicht an irgendwelche Eigenschaften an, die nicht jeder Mensch besitzt, sondern an das, was alle Menschen als biologische Wesen miteinander verbinde: die Fähigkeit zum Leiden. § 223 solle „jeden, der anderen durch die Verletzung ihres Körpers Leiden zufügt, mit Hilfe des Strafrechts daran hindern“. Der Tatbestand schütze „den menschlichen Körper als Quelle von Leiden, die bei seiner Verletzung entstehen“37. Ich hatte zur Verteidigung meiner Auffassung vorgetragen, dass es für Fälle der Handlungsunfähigkeit eine Stellvertretung im Willen38 gebe, die durch sorgeberechtigte Eltern, Vormünder, Betreuer und auch gewillkürte Stellvertreter ausgeübt werde, so dass es auch hier bei einer Einwilligung der zuständigen Person an einer Willensbeeinträchtigung fehle. Auch in dem konstruierten Fall, dass momentan überhaupt kein Willensvertreter vorhanden sei (Amelung:39 „Der Täter tötet die Eltern und misshandelt danach deren vierjähriges Kind“) könne doch nur die Ausübung der Dispositionsbefugnis vorübergehend in der Schwebe sein. Amelung erklärt solche Überlegungen für „äußerst künstlich“40 und erklärt die Unmöglichkeit einer so begründeten Dispositionsbeeinträchtigung damit, dass es dem Wesen der Autonomie widerspreche, sie für übertragbar zu erklären, dass 36 37 38 39 40

Amelung / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 530 / 531. Amelung / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 531. Näher Roxin, (o. Fn. 2), § 13 Rn. 92 ff. Amelung (o. Fn. 3, 1981), S. 27, Anm. 31. Amelung (o. Fn. 3, 1981), S. 27, Anm. 31.

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gesetzliche Vertreter auch schon deshalb keine Autonomie haben könnten, weil ihnen die Ziele ihrer Tätigkeit gesetzlich vorgegeben seien und sie vom Staat überwacht würden und dass eine in der Schwebe befindliche Verfügungsgewalt eine reine Hilfskonstruktion sei.41 Man kann über das Gewicht dieser Gegeneinwände streiten. Sternberg-Lieben42 erklärt meine Ausführungen zur Stellvertretung im Willen für „zutreffend“, und Jox43 spricht bei Vertreterentscheidungen von „substitutiver Autonomie“. Rönnau44 dagegen sieht hier „einen wunden Punkt in der Konstruktion des Integrationsmodells“ (so nennt er die von mir vertretene Auffassung, weil sie die Autonomie des Rechtsgutsträgers in den Schutzbereich des Tatbestandes integriert). Er folgt zum guten Teil der Argumentation Amelungs, betont aber einlenkend,45 „dass für jedes Rechtsgutskonzept, welches die Person und ihre Freiheitsbedürfnisse in den Mittelpunkt der dogmatischen Konstruktion stellt, Grenzfälle . . . verbleiben, in denen die Möglichkeit der Persönlichkeitsentfaltung in den Hintergrund tritt bzw. ausgeschlossen ist und nach herrschender und zutreffender Meinung dennoch strafrechtlicher Schutz bestehen bleiben soll“. Rönnau selbst, der in Übereinstimmung mit mir die Einwilligung für tatbestandsausschließend hält, versucht das Problem mit Hilfe des von ihm entwickelten sog. Basismodells zu lösen. Danach werden Individualrechtsgüter geschützt, „weil sie dem konkreten Gutsinhaber als Basis für seine personale Entfaltung dienen“46. Der Strafrechtsschutz von Rechtsgütern vorübergehend handlungsunfähiger Menschen rechtfertigt sich danach „durch die Möglichkeit, mit Ablauf der ohne bzw. mit getrübtem Bewusstsein verbrachten Phase weiterhin ihre Güter willkürlich einsetzen zu können“47. Das ist ein konstruktiver Gedanke, der sich mit der Überlegung, dass bis zur Erlangung oder Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit eine Stellvertretung im Willen stattfinden könne, durchaus verbinden ließe. Aber wenn man allein auf das Basismodell abstellt, lässt sich nicht verkennen und wird auch von Rönnau nicht verkannt,48 dass es dort nicht weiterführt, wo der Rechtsgutsträger keine Aussicht hat, die Handlungsfähigkeit je wieder zu erlangen, wie dies bei irreversibel bewusstlosen Apallikern oder unheilbar Geisteskranken der Fall ist. Weiteres Nachdenken hat mich jedoch gelehrt, dass es auf die um die Handlungsfähigkeit kreisenden Streitfragen überhaupt nicht ankommt. Denn wir schrei41 42 43 44 45 46 47 48

Amelung / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 532. Sternberg-Lieben (o. Fn. 15), S. 64, Anm. 36. Jox, Ethik Med 2004, 401, 404 f., 406 f. Rönnau (o. Fn. 5), S. 71 ff. Rönnau (o. Fn. 5), S. 73. Rönnau (o. Fn. 5), S. 453. Rönnau (o. Fn. 5), S. 101. Rönnau (o. Fn. 5), S. 109 ff.

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ben dem Menschen eine über seine physisch-biologische Existenz hinausreichende Personqualität zu, solange er lebt. Die Autonomie, die den Kern der Persönlichkeit bildet, enthält in erster Linie das Recht des Menschen, in seiner Körperintegrität und in seinem Eigentum unbeeinträchtigt zu bleiben, soweit nicht höhere Interessen einen Eingriff rechtfertigen. Erst in zweiter Linie erwächst aus der Autonomie das Recht, über seinen Körper oder sein Eigentum nach eigenem Willen zu disponieren. Das zentrale Recht auf den Schutz der Körper- und Eigentumssphäre haben selbstverständlich auch der Schlafende, der Bewusstlose, der Geisteskranke, der Sterbende, der Apalliker und der Säugling. Wenn diese Menschen von den Handlungsmöglichkeiten, die die ihrer Person zugeordneten Rechtsgüter bieten, nicht oder wenigstens einstweilen nicht oder nicht in vollem Umfang Gebrauch machen können, so bewirkt das zwar ein Autonomiedefizit. Aber der aus der Persönlichkeitsautonomie folgende Eingriffsschutz bleibt uneingeschränkt bestehen. Da die strafrechtlichen Tatbestände gerade den Eingriffsschutz bezwecken, kann der Unwert ihrer Verwirklichung durch Einschränkungen der Handlungsmöglichkeit des Rechtsgutsträgers nicht betroffen werden: Die Misshandlung eines Säuglings begründet keinen geringeren Unwert als die Misshandlung eines Erwachsenen. Die bisherige Diskussion leidet also an einer Blickverengung, indem sie die Persönlichkeitsautonomie ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Dispositionsfreiheit betrachtet. Diese schiefe Sicht beruht darauf, dass man immer nur auf die Einwilligung geschaut hat, die sich in der Tat als autonome Verfügung über das tatbestandliche Realsubstrat darstellt. Die Tatbestände aber sollen gerade gegen Eingriffe schützen, die ohne oder ohne wirksame Einwilligung erfolgen. Die Verfügungsfähigkeit hat nur die Bedeutung, dass sie, wenn von ihr in autonomer Gestaltung Gebrauch gemacht wird, den tatbestandlichen Schutz ausschließt. Wenn sie aber nicht oder zeitweilig nicht besteht oder der Rechtsgutsträger von ihr keinen Gebrauch machen will, ändert das nichts daran, dass ein Eingriff in seine Eigentums- oder Körpersphäre seine Persönlichkeitsautonomie in einer in vollem Umfange unrechtsbegründenden Weise verletzt. Es entstehen also keinerlei „unmenschliche“ Schutzlücken. Diese Sicht der Dinge erscheint mir sachgerechter als das „Basismodell“ Rönnaus. Denn sie erklärt zwanglos, warum auch bei unheilbar Geisteskranken, bei Wachkomapatienten und Sterbenden eine Körper- oder Eigentumsverletzung sich als eine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsautonomie darstellt. Denn diese erlischt erst mit dem Tode des Menschen und ist unabhängig davon, ob er seine Handlungsfähigkeit jemals wiedererlangt. Die hier entwickelte Lösung ist aber auch der „naturalistischen“ Konzeption Amelungs überlegen, die eine Körperverletzung nicht als Beeinträchtigung der Persönlichkeitsautonomie, sondern nur als Zufügung von Leiden verstehen will. Ich will dem verehrten Jubilar seine Vorhalte der „Unmenschlichkeit“ oder der ethischen Unterlegenheit der bekämpften Position nicht zurückgeben. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass die von ihm bemängelten vermeintlichen

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„Schutzlücken“ gerade bei seiner Auffassung in besonderem Maße auftreten. Denn eine Tötung oder Körperverletzung muss nicht immer die Zufügung von Leiden sein. Soll etwa eine schmerzlose Tötung nicht mehr den Tatbestand des § 212 erfüllen? Soll es keine Körperverletzung sein, wenn jemand einer schlafenden Frau die Haare abschneidet oder einen anderen durch schmerzlos wirkende K.-o.-Tropfen bewusstlos macht? Das lässt sich nicht vertreten. Denn die Autonomie der Körpersphäre kann auch anders als durch die Zufügung von Leiden in tatbestandsmäßiger Weise verletzt werden. 2. Der Vorwurf der Strafbarkeitsüberdehnung Auf der anderen Seite wird einem „personalistischen“ Rechtsgutsverständnis von Amelung – aber nicht nur von ihm – vorgeworfen, dass es bei konsequenter Durchführung zu einer erheblichen Ausweitung der Strafbarkeit führen müsse. So haben bereits Brandts / Schlehofer49 gemeint, nach meinem Ansatz müsse man eine Sachbeschädigung schon immer dann annehmen, wenn jemandem der zweckentsprechende Umgang mit seinem Eigentum unmöglich gemacht werde. Wenn ein Grundstückseigentümer seinem Nachbarn, der ein dingliches Wegerecht besitzt, die Ausübung der Dienstbarkeit dadurch unmöglich mache, dass er das Schloss im Zugangstor auswechsele, so könne der Nachbar über sein Eigentum, den Schlüssel, nicht mehr zweckentsprechend verfügen. Eine Sachbeschädigung müsse man aber trotzdem ablehnen. Ich habe auch, wie Brandts / Schlehofer selbst betonen, nie etwas anderes angenommen, sondern immer verlangt, dass der Täter „unter Missachtung der Verfügungsbefugnis des Rechtsgutsträgers auf den Verfügungsgegenstand in tatbestandsmäßiger Weise einwirkt“50. Hier liegt aber gar keine Einwirkung auf den Verfügungsgegenstand (den Schlüssel) und mithin auch keine Sachbeschädigung vor. Brandts / Schlehofer finden jedoch, dass sich deren Ablehnung nicht mit meiner Ausgangsthese vertrage, dass die Rechtsgüter dem Einzelnen zur Persönlichkeitsentfaltung dienen. Dieser vermeintliche Widerspruch besteht aber nicht. Denn erstens legt der Grundsatz nullum crimen sine lege, an den jeder Interpret gebunden ist, eindeutig fest, dass in § 303 die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit auf einer Sachbeschädigung beruhen muss. Und zweitens führt die These, dass eine wirksame Disposition des Rechtsgutsträgers die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt, keineswegs zu dem Schluss, dass jede Beeinträchtigung der Dispositionsmöglichkeit auch ohne Sachbeschädigung (also ohne Einwirkung auf die Sache) den Tatbestand erfülle.

49 50

Brandts / Schlehofer, JZ 1987, 442 ff., 447. So schon Roxin, GS Noll, 1984, S. 275 ff., 280.

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Rönnau51 hat die Kritik von Brandts / Schlehofer aufgegriffen und durch den Hinweis ergänzt, dass nach meiner Konzeption auch „aufgedrängte Bereicherungen“ als Rechtsgutsbeeinträchtigung qualifiziert werden müssten. Er verdeutlicht das an dem Fall, dass jemand über einer Fuhre Eisenschrott, die der Eigentümer verrosten lassen will, in dessen Abwesenheit ein Zeltdach aufspannt, um den Korrosionsprozess zu verzögern.52 Er sieht freilich auch, dass ich eine „tatbestandsmäßige Einwirkung“, also im gegebenen Fall eine Sachbeschädigung, verlange, an der es hier fehlt. Doch findet er diese Einschränkung „halbherzig“. Er vertritt die Ansicht, dass meine Konzeption zu „Spannungen mit dem Prinzip des fragmentarischen Rechtsgüterschutzes“53 führen müsse. Davon kann aber keine Rede sein, wenn man, wie ich es tue, auf der Notwendigkeit einer Beschädigung oder Verletzung des tatbestandlichen Realobjekts beharrt. Damit sammle ich nicht, wie Rönnau sagt,54 mit der einen Hand wieder ein, was ich mit der anderen zuvor ausgeteilt habe, sondern trage nur in selbstverständlicher Weise einem Verfassungsgebot Rechnung. Dass eine mit Einwilligung des Eigentümers erfolgende substanzverändernde Einwirkung auf den Eisenschrott keine Rechtsgutsbeeinträchtigung im Sinne des § 303 StGB darstellt, kann außerdem nicht die Folgerung in sich schließen, dass eine ohne Konsultation des Eigentümers erfolgende Bewahrung der Unversehrtheit des Schrotts deshalb eine strafbare Sachbeschädigung sein müsste. Ich sehe hier keinen logischen Zusammenhang. Rönnau selbst hat dargelegt,55 es sei unter den Anhängern des Integrationsmodells „unbestritten, dass die von ihnen vorgenommene Anreicherung des Individualrechtsgutes durch den Willen / die Dispositionsfreiheit des Berechtigten nicht bedeutet, dass die gegenständlich-objektive Komponente aus dem Rechtsgut vollständig zu verbannen ist“. Sie ist vielmehr bei Individualrechtsgütern, wie dargelegt, ein essentieller Bestandteil eines der Persönlichkeitsautonomie einschließenden Rechtsgutsbegriffs. Auf eine Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit (wenn auch nicht der Persönlichkeitsautonomie) kann verzichtet werden, wenn sie im Einzelfall fehlt oder durch den Eingriff nicht betroffen ist, auf die Verletzung (bzw. Gefährdung) des tatbestandlichen Rechtsgutes aber nicht! Auch Amelung bringt in seiner letzten Publikation zum Thema56 den Einwand der Tatbestandsüberdehnung wieder vor, ohne freilich auf seine Vorläufer Bezug zu nehmen. Er wählt zur Verdeutlichung einen Fall aus dem Bereich der Körperverletzung: „Patient P wünscht vom Arzt A wegen eines Krebsleidens operiert zu werden und dies wird ihm zugesagt. Später erfährt P, dass statt des Arztes A der 51 52 53 54 55 56

Rönnau (o. Fn. 5), S. 57. Rönnau (o. Fn. 5), S. 61. Rönnau (o. Fn. 5), S. 77. Rönnau (o. Fn. 5), S. 74. Rönnau (o. Fn. 5), S. 57. Amelung / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 532 f.

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ebenso befähigte Arzt B die Operation erfolgreich durchgeführt hat.“ Amelung will das straflos lassen, weil zwar der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, jedoch „die Versehrung des Körpers . . . gerechtfertigt“ sei. Dagegen müsste nach seiner Auffassung die „Einheitstheorie“, die eine Verletzung der Persönlichkeitsautonomie zur Voraussetzung der Tatbestandserfüllung macht, „konsequent angewendet den Arzt B wegen Körperverletzung bestrafen, obgleich der Körper als solcher gar nicht rechtswidrigerweise versehrt worden ist. Damit gelangt sie . . . in die Nähe der Behauptung, es gebe eine Körperverletzung ohne Versehrung des Körpers.“ So ist es aber nicht, wie sich aus dem schon Dargelegten ergibt. Denn es genügt nicht irgendeine „Verletzung der Autonomie“, sondern diese muss sich gerade in einer verletzenden Beeinträchtigung des Körpers manifestieren. Daran fehlt es, wenn man mit der in der Literatur herrschenden Meinung in einer medizinisch indizierten und gelungenen Operation keine Körperverletzung sieht. Eine Missachtung des Patientenwillens allein reicht dann für die Annahme einer Körperverletzung nicht aus. Wenn die Rechtsprechung das anders sieht und jeden nicht durch eine Einwilligung gedeckten ärztlichen Eingriff als Körperverletzung beurteilt, so beruht das allein darauf, dass sie, weil wir keinen Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung haben, die darin liegende Autonomieverletzung als zusätzlichen zweiten Tatbestand in den Schutzbereich des § 223 StGB hineingezogen hat. Aus meiner Einwilligungskonzeption folgt die Annahme einer Körperverletzung aber weder bei der eigenmächtigen Heilbehandlung noch bei Fällen wie den von Amelung gebildeten.57 Umgekehrt muss aber Amelung sich fragen lassen, wie er in dem von ihm gebildeten Fall zur Annahme der Straflosigkeit des Arztes B kommt. Denn er sieht im Banne seiner naturalistischen Rechtsgutskonzeption in jedem ärztlichen Eingriff eine tatbestandsmäßige Körperverletzung und sagt dann zu dem von ihm gebildeten Operationsfall nur: „Die Versehrung des Körpers ist gerechtfertigt und deshalb kann B nicht aus § 223 StGB bestraft werden.“ Woher nimmt er aber die Rechtfertigung, da es doch an einer Einwilligung in eine Operation durch B gerade fehlt? Darauf erhalten wir keine Antwort. Man könnte also Amelung den Vorwurf der unangemessenen Strafbarkeitsausweitung zurückgeben. VI. Schluss Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen. Ich habe mich auf die von Amelung und anderen Autoren immer wieder aufgeworfenen Streitfragen noch einmal 57 Vgl. dazu schon mein Lehrbuch (o. Fn. 2), § 13 Rn. 26: „Ob bei einem Heileingriff ohne Zustimmung des Patienten der Tatbestand des § 223 gegeben ist, ist eine Frage, die außerhalb der Einwilligungslehre liegt.“

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eingelassen, um meinen Standpunkt in verbesserter Form und in hoffentlich abschließender Weise gegen zahlreiche Einwände zu verteidigen und dadurch vielleicht auch zu einer Annäherung der streitenden Parteien beizutragen. Knut Amelung, dem einstigen Schüler und mir seit langem freundschaftlich verbundenen Kollegen, der wissenschaftliche Auseinandersetzungen wie auch ich als Wege zum Fortschritt der Erkenntnis ansieht, wünsche ich für die Folgezeit viel Glück und fruchtbare Schaffensjahre!

Der Umweltschutzbeauftragte: Ein Mann ohne Eigenschaften? Von Hero Schall

I. Einleitung Im Zusammenhang mit den in den 70er Jahren verstärkten Bemühungen zum Schutz der Umwelt hat der Gesetzgeber die Betreiber umwelttangierender Anlagen und Unternehmen zur Bestellung besonderer Betriebsbeauftragter zum Schutz der Umwelt verpflichtet. Als fachspezifische Betriebsbeauftragte werden in den einschlägigen Umweltverwaltungsgesetzen mittlerweile der Gewässerschutzbeauftragte (§§ 21 a ff. WHG), der Immissionsschutzbeauftragte (§§ 53 ff. BImSchG), der Störfallbeauftragte (§§ 58 a ff. BImSchG i.V. m. 5. BImSchV = Verordnung über Immissionsschutz- und Störfallbeauftragte), der Abfallbeauftragte (§§ 54, 55 KrW- / AbfG), der Strahlenschutzbeauftragte (§§ 31 ff. StrlSchV) sowie der Gefahrgutbeauftragte (§ 3 Abs. 1 Nr. 14 GGBefG i.V. m. §§ 1 ff. GbV) aufgeführt.1 Gemeinsames Kennzeichen dieser Umweltschutzbeauftragten ist einerseits ihre Verpflichtung, die Einhaltung der Umweltgesetze zu überwachen (betriebsinterne Kontroll- und Überwachungsfunktion) sowie auf eine Integration des Umweltschutzes in die Betriebsorganisation hinzuwirken. Andererseits steht ihnen in ihrer Funktion als Umweltschutzbeauftragte keine betriebliche Entscheidungs- oder Weisungsbefugnis zu, um etwa umweltschützende Maßnahmen selbst zu treffen oder anzuordnen.2 Trotz der im öffentlichen Interesse geschaffenen und durch öffentlich-rechtliche Regelungen ausgestalteten „Wächterfunktion“ 3 handelt der Umweltschutzbeauftragte nicht als verlängerter Arm der Verwaltungsbehörde, sondern als reines Binnenorgan des Unternehmens,4 eben als Betriebsbeauftragter. An der Schnittstelle 1 Zu weiteren Beispielen s. die Übersicht bei Eidam, Unternehmen und Strafe, 2. Aufl. 2001, S. 53 ff., und Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 422 ff. 2 Etwas anderes gilt insoweit nur für den Strahlenschutzbeauftragten, der gem. § 33 Abs. 3 StrlSchV bei unmittelbar drohenden Gefahren selbst sofortige Maßnahmen zur Gefahrenabwehr anordnen kann. 3 Salje, BB 1983, 2297 ff., 2298; s. auch Kuhlen, in: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 71 ff. 4 Dahs, NStZ 1986, 97 ff., 98; Kaster, GewA 1998, 129 ff., 134; Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1 ff., 10.

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zwischen Unternehmens- und Umweltschutzinteressen sind die Umweltschutzbeauftragten nahezu zwangsläufig in die Verletzung der durch die §§ 324 ff. StGB geschützten Umweltmedien involviert und rücken demzufolge häufig in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden wegen unternehmensbezogener Umweltdelikte.5 Umso überraschender ist es, dass Voraussetzungen und Reichweite der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Umweltschutzbeauftragten nach wie vor ungeklärt sind, auch wenn es an Stellungnahmen zu diesen Fragen nicht mangelt.6 Zu erklären ist dieses Desiderat wohl nur mit den grundsätzlichen Schwierigkeiten, mit denen das Strafrecht in seiner gegenwärtigen Struktur bei der Bekämpfung von Wirtschafts- und insbesondere Verbandsdelikten zu kämpfen hat.7 Dass das Strafrecht dabei – entgegen manchen Unkenrufen8 – durchaus nicht von vornherein auf verlorenem Posten steht, hat gerade auch der Jubilar Knut Amelung mit zahlreichen Beiträgen und Veranstaltungen nachdrücklich vor Augen geführt.9 Ihm ist dieser Beitrag daher in freundschaftlicher Verbundenheit und zugleich mit dem Dank für viele wissenschaftliche Anregungen, die bis in die gemeinsame Göttinger Assistentenzeit zurückreichen, gewidmet.

II. Garantenstellung und Garantenpflicht Die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Umweltschutzbeauftragten stellt sich hauptsächlich in Fällen des Unterlassens,10 indem z. B. der Gewässerschutzbeauftragte einen von ihm bemerkten Defekt in der betrieblichen Abwasserreinigungsanlage, aufgrund dessen es zu erheblichen Gewässerverunreinigungen 5 Dahs, NStZ 1986, 97 ff., 98. Allerdings sind entsprechende gerichtliche Entscheidungen, abgesehen von der umweltstrafrechtlichen „Pilotentscheidung“ des OLG Frankfurt a.M. NJW 1987, 2753 ff. (s. dazu nur Schall, NStZ 1992, 209 ff., 267 f.), eher selten; s. dazu mit einigen weiteren Nachweisen auch Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 72. 6 Vgl. nur die zahlreichen Nachweise bei Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2006, § 324 Rn. 17. 7 Beispielhaft dafür die Beiträge auf der jüngsten Strafrechtslehrertagung in Osnabrück mit ihrem Leitthema „Wirtschaftslenkung durch Wirtschaftsstrafrecht?“ (s. dazu die Referate in ZStW 119 (2007), 789 ff. und die Zusammenfassung der Diskussionsbeiträge von Beckemper, daselbst, S. 959 ff., sowie Wagner, JZ 2008, 83 ff. 8 So etwa jüngst von Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816 ff., 828 ff. 9 Beispielhaft dafür das Symposium über „Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft“. Die einzelnen Beiträge sind als Sammelband unter dem gleichen Titel im Jahre 2000 veröffentlicht worden. 10 Soweit der Betriebsbeauftragte aktiv an einem unternehmensbezogenen Umweltdelikt beteiligt ist (was in der Praxis eher selten vorkommen dürfte – s. dazu Michalke, Umweltstrafsachen, 2. Aufl. 2000, Rn. 81), mag zwar die Beurteilung der Tatbeteiligung im Einzelfall schwierig sein, doch sind dies generell mit der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme verbundene Schwierigkeiten und nicht solche, die aus der spezifischen Rolle eines Umweltschutzbeauftragten erwachsen. Vgl. zu solchen Fallkonstellationen Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71, 74 ff.

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(§ 324 StGB) kommt, den im Unternehmen zuständigen Stellen verschweigt, so dass die verschmutzten Abwässer weiterhin (ungenehmigt) in den Fluss eingeleitet werden.11 1. Die gesetzliche Ausgangslage Die oben genannten umweltverwaltungsrechtlichen Regelungen zur Bestellung von Betriebsbeauftragten umschreiben allesamt eine Art Mindeststandard an Pflichten. Beispielhaft sei hier der im Umweltrecht typische Gewässerschutzbeauftragte genannt.12 Ihm obliegt gem. § 21 b Abs. 2 WHG die Überwachung der den Gewässerschutz betreffenden Vorschriften, insbesondere durch Kontrolle und Wartung der Abwasseranlagen sowie durch Messung der Abwässer, die Mitteilung festgestellter Mängel an den Betriebsinhaber, das Hinwirken auf umweltfreundliche Verfahren sowie die Aufklärung der Betriebsangehörigen über die Gewässerbelastungen und entsprechende Gegenmaßnahmen. Zu diesen Kontroll-, Informations-, Aufklärungs- und Initiativpflichten13 tritt noch die Pflicht, dem Betriebsinhaber jährlich einen Bericht über die nach Abs. 2 getroffenen und beabsichtigten Maßnahmen zu erstatten (§ 21 b Abs. 3 WHG). Weitergehende Pflichten oder Befugnisse – wie etwa die Anordnung zur Beseitigung der festgestellten Mängel oder zum eigenmächtigen Stopp der Abwassereinleitungen – erwachsen ihm aus seiner gesetzlichen Stellung nicht.14 Er bleibt – betriebsorganisatorisch gesehen – in einer sog. „Stabsposition“, die ihn, anders als in der „Linienposition“, darauf beschränkt, Entscheidungsprozesse durch Beratung und Information vorzubereiten.15 Diese gesetzliche Pflichtenzuweisung schließt allerdings nicht aus, dass im Einzelfall dem jeweiligen Stelleninhaber betriebsintern weitergehende Kompetenzen übertragen werden,16 deren Qualität und Quantität im Einzelfall dann natürlich auch wie bei sonstigen Unternehmensangehörigen die Grenzen der strafrechtlichen Verantwortung bestimmen. Bezugsobjekt der nachfolgenden Untersuchung ist daher – wie auch in der Diskussion bisher – der Betriebsbeauftragte „als solcher“, der sog. „Nur-Betriebsbeauftragte“17, der durch die Umweltverwaltungsgesetze mit S. dazu sowie zu weiteren Beispielen Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71, 87 ff. Abweichungen gegenüber anderen umweltrechtlichen Betriebsbeauftragten bestehen (abgesehen von wenigen Ausnahmen – s. dazu oben Fn. 2) nur in Nuancen. 13 Ausführlich zu den Rechten und Pflichten des Gewässerschutzbeauftragten Dahs, NStZ 1986, 97 ff., sowie Nisipeanu, NuR 1990, 439 ff. 14 Nur für besondere Einzelfälle gestattet § 21 b Abs. 4 WHG der nach Landesrecht zuständigen Behörde, den Aufgabenkatalog zu präzisieren und zu modifizieren (s. dazu näher Czychowski / Reinhardt, WHG, 9. Aufl. 2007, § 21 b Rn. 15 ff.). 15 S. dazu mit weiteren Präzisierungen Böse, NStZ 2003, 636 ff., 638; Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1 ff., 8; ausführlich zur „Aufbauorganisation als Unternehmensstruktur“ Busch, Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997, S. 359 ff. 16 Czychowski / Reinhardt (o. Fn. 14), § 21 b Rn. 1; Kotulla, WHG, 2003, § 21 b Rn. 2; Schall, in: Schünemann (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III: Unternehmenskriminalität, 1996, S. 99 ff., 120. 11 12

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einem beschränkten Kreis von Rechten und Pflichten institutionalisiert ist und dessen strafrechtliche Verantwortung eben deshalb auch höchst unterschiedlich beurteilt wird. 2. Die These der generellen Ablehnung einer Garantenstellung Aus der Begrenzung der dem Umweltschutzbeauftragten gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen folgert ein Teil des Schrifttums die generelle Ablehnung einer Garantenstellung mit der Konsequenz, dass der jeweilige Betriebsbeauftragte trotz Nichterfüllung der ihm übertragenen Pflichten und einer daraus entstehenden Umweltverletzung straflos bleibt.18 Mangels eigener Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse könne der Gewässerschutzbeauftragte das Gewässer nicht effektiv schützen und habe daher auch nicht i. S. d. § 13 StGB rechtlich dafür einzustehen, dass der Erfolg (hier die Gewässerverunreinigung) nicht eintritt. Diese Argumentation überzeugt nicht: Die Einstandspflicht i. S. d. § 13 StGB meint nicht die Übernahme einer Garantie für den Nichteintritt des unerwünschten Erfolges, sondern lediglich (aber immerhin) die Verpflichtung, alles in seiner Macht stehende zu tun, um den Erfolgseintritt zu vermeiden. Die Umschreibung des rechtlichen Einstehenmüssens „verdeutlicht das Erfordernis der Garantenstellung und der aus ihr entspringenden Garantenpflicht, in Richtung auf die Abwendung des drohenden Erfolges tätig zu werden.“19 Das bedeutet für den Gewässerschutzbeauftragten, dass er sehr wohl als Garant zur Verhinderung von Gewässerverunreinigungen verpflichtet sein kann, auch wenn ihm die Auswahl der dafür notwendigen Maßnahmen nicht selbst überlassen bleibt, seine Handlungspflichten also eingeschränkt sind. Er hat mit anderen Worten gem. § 13 StGB nur, aber immerhin dafür einzustehen, „dass Gewässerverunreinigungen nicht deshalb eintreten, weil er seine Kontroll- und Informationspflichten nicht erfüllt hat. . . ,“ dass der tatbestandsmäßige Erfolg also „nicht deshalb eintritt, weil dem betrieblichen Garanten (der entscheidenden Stelle i. S. d. § 21 e WHG) die drohende oder bereits erfolgende unbefugte Gewässerverunreinigung verborgen geblieben ist.“20 Die Beschränkung der konkreten Handlungspflichten schließt die Annahme einer 17 Böse, NStZ 2003, 636 ff., 637; Kloepfer, (o. Fn. 1), § 7 Rn. 28 ff.; Kloepfer / Vierhaus, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2002, Rn. 60; Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 73. 18 So Michalke (o. Fn. 10), Rn. 79; Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1 ff., 17 f.; Sander, NuR 1987, 47 ff., 54 f.; Steindorf, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2005, § 324 Rn. 49; Stich, GewA 1976, 145 ff., 153; Truxa, ZfW 1980, 220 ff., 224; Weber, Der Betriebsbeauftragte, 1988, S. 239 ff.; Wernicke, NStZ 1986, 223; Winkemann, Probleme der Fahrlässigkeit im Umweltstrafrecht, 1997, S. 171 ff. 19 So die treffende und auch heute noch anerkannte Interpretation durch den E 1962, BTDrs. IV / 650, S. 124; s. dazu auch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 32 Rn. 1 f. 20 So die den Kern treffende Formulierung von Rudolphi, in: FS Lackner, 1987, S. 863 ff., 875, 878; in der Sache ebenso OLG Frankfurt a.M. NJW 1987, 2753 ff., 2757; Böse, NStZ 2003, 636 ff., 639; Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 88.

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Garantenstellung und einer daraus folgenden Erfolgsabwendungspflicht somit nicht aus.21 3. Die Gegenthese: Der Umweltschutzbeauftragte als Beschützergarant Nur vereinzelt wird aus dem Aufgaben- und Pflichtenkatalog der §§ 21 b ff. WHG eine Beschützergarantenstellung des Gewässerschutzbeauftragten hergeleitet: Er sei für das „in seiner Obhut stehende schutzwürdige und im übrigen wehrlose Gewässer . . . auf Posten gestellt.“22 Auch diese These widerspricht den Grundsätzen der Unterlassungsdogmatik. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass der Umweltschutzbeauftragte zum Schutz des jeweiligen Umweltmediums quasi „auf Posten gestellt“ ist, aber anders als der Beschützergarant steht er dabei nicht vor dem zu schützenden Rechtsgut, um dieses gegen Gefahren von allen Seiten zu beschützen (also keine sog. „Rundumverteidigung“); vielmehr hat er, wie die gesetzliche Ausgestaltung seiner Rechte und Pflichten deutlich erkennen lässt, – quasi in dem umwelttangierenden Betrieb stehend – das jeweilige Umweltmedium nur vor solchen Gefahren zu schützen, die durch eben diesen Betrieb drohen. Das aber ist die typische Konstellation einer Überwachergarantenstellung. 4. Der Umweltschutzbeauftragte als Überwachergarant Bereits die vorstehenden kritischen Anmerkungen indizieren die Einordnung des Umweltschutzbeauftragten als Überwachergarant, wie sie denn auch heute von der überwiegenden Meinung angenommen wird.23 Umstritten sind allerdings sowohl die dogmatische Begründung (sofern das Ergebnis denn überhaupt begründet wird) als auch die Konsequenzen für die Strafbarkeit des Betriebsbeauftragten als Täter oder Teilnehmer.24 Der Versuch, die Garantenstellung unmittelbar aus dem gesetz21 Dass eine Garantenstellung mit eingeschränkten Handlungspflichten (konkreten Garantenpflichten) korrespondieren kann, ist nicht ungewöhnlich; vgl. dazu nur Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 2000 (33. Lfg.), § 13 Rn. 31, 37 a, 52, sowie Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 13 Rn. 14. 22 So das AG Frankfurt a.M. NStZ 1986, 72 ff., 75. Anklänge an diese Auffassung finden sich auch bei Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71, 88 / 89: Die Garantenstellung des Gewässerschutzbeauftragten weise „gleichermaßen Momente des Beschützens wie des Überwachens auf“; seine Garantenstellung lasse sich „zwanglos als Beschützer- und als Überwachergarantie auffassen.“ 23 OLG Frankfurt a.M. NJW 1987, 2753, 2756; Böse, NStZ 2003, 636 ff., 639; Busch (o. Fn. 15), S. 551 ff.; Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 324 Rn. 17; Fischer, Der Betriebsbeauftragte im Umweltschutzrecht, 1996, S. 225 ff.; Horn, in: SK-StGB, 2001 (51. Lfg.), § 324 Rn. 11; Kaster, GewA 1998, 129 ff., 138; Kloepfer / Vierhaus (o. Fn. 17), Rn. 60; Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. (2007), § 324 Rn. 16; Nisipeanu, NuR 1990, 439 ff., 455; Rudolphi, in: FS Lackner, 1987, S. 863 ff., 877 f.; Sack, Umweltschutz-Strafrecht, 5. Aufl. 2006, § 324 Rn. 196; Schall, in: Schünemann (o. Fn. 16), S. 99, 118 f.; Vierhaus, NStZ 1991, 466 ff., 467. 24 S. zum letzteren unten unter III.

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lichen Pflichtenkatalog der umweltverwaltungsrechtlichen Regelungen (z. B. § 21b WHG oder des § 54 BImSchG) herzuleiten,25 mag zwar auf den ersten Blick naheliegen, führt aber m. E. ebenso wenig weiter wie der umgekehrte Versuch, aus der gesetzlichen Begrenzung der Pflichten das Fehlen einer Garantenstellung zu folgern. Die Berufung allein auf die gesetzlichen Pflichten erlaubt noch keine Aussage über die materielle Berechtigung der Garantenstellung, wie sie von der heutigen Unterlassungsdogmatik – im Gegensatz zur überholten formellen Rechtspflichttheorie – zur Begründung einer die Unterlassungsstrafbarkeit auslösenden Garantenstellung verlangt wird.26 Unabhängig von der Suche nach weiteren Entstehungsgründen ist der Versuch, eine Überwachergarantenstellung des Umweltschutzbeauftragten aus dem jeweiligen gesetzlichen Pflichtenkatalog herzuleiten, somit schon vom Ansatz her zu verwerfen.27 a) Der Grundgedanke der gesetzlichen Bestellungspflicht Nimmt man die den Umweltschutzbeauftragten gesetzlich auferlegten Pflichten genauer in den Blick, so fällt auf, dass sie letztlich nur solche Pflichten widerspiegeln, die bereits primär dem jeweiligen Betriebsinhaber aus der „Herrschaft über eine Gefahrenquelle“, hier dem umweltgefährdenden Betrieb, obliegen und zu deren Delegation auf spezielle Betriebsbeauftragte er wegen der Größe bzw. wegen des Gefahrenpotentials des Betriebes vom Gesetzgeber gezwungen wird, um jedenfalls die organisatorischen Voraussetzungen für die Erfüllung der vielfältigen, zum Umweltschutz notwendigen Pflichten sicherzustellen. Dieser Befund sei hier kurz anhand der gesetzlichen Regelung für drei klassische Umweltschutzbeauftragte verdeutlicht: (1) Die Bestellung eines Gewässerschutzbeauftragten schreibt § 21a WHG für solche Betriebe vor, die pro Tag mehr als 750 m3 Abwasser einleiten dürfen. Dieser Wert entspricht der Abwassermenge, die 5000 Menschen täglich an häuslichem Schmutzwasser erzeugen (5000 „Einwohnergleichwerte“).28 Der gesetzliche Schwellenwert legt daher nahe, dass hier ein Bereich definiert werden soll, bei dem der Inhaber des Betriebes regelmäßig nicht mehr in der Lage ist, allen Pflichten in eigener Person nachzukommen, eine Pflichtendelegation daher unerlässlich ist.29 25 So Dahs, NStZ 1986, 97 ff., 99 ff.; Kloepfer (o. Fn. 1), § 7 Rn. 29; Kloepfer / Vierhaus (o. Fn. 17), Rn. 60; Vierhaus, NStZ 1991, 466 ff., 467. 26 Ausführlich dazu Roxin (o. Fn. 19), § 32 Rn. 4 ff., 10 ff.; im Ergebnis ebenso Jescheck / Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 621, 624; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 18 Rn. 41; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 21), § 13 Rn. 24 f. 27 Ebenso Böse, NStZ 2003, 636 ff., 638; Weber (o. Fn. 18), S. 240; Winkemann (o. Fn. 18), S. 171. 28 Der sog. „Einwohnergleichwert“ dient als Messzahl zum Vergleich von gewerblich-industriellem mit häuslichem Schmutzwasser. Zur Definition s. http: // www.umweltdatenbank. de / lexikon / einwohnergleichwert.htm.

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(2) Der gleiche Grundgedanke liegt auch der gesetzlichen Regelung zur Bestellung eines Immissionsschutzbeauftragten zugrunde, denn § 53 Abs. 1 S. 1 BImSchG verpflichtet den Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen zur Bestellung eines solchen Betriebsbeauftragten, „sofern dies im Hinblick auf die Art oder die Größe der Anlagen wegen der von den Anlagen ausgehenden Emissionen, technischen Probleme der Emissionsbegrenzung oder Eignung der Erzeugnisse, bei bestimmungsgemäßer Verwendung schädliche Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche oder Erschütterungen hervorzurufen, erforderlich ist.“30 (3) Und schließlich gilt Gleiches – mutatis mutandis – auch für den Abfallbeauftragten i. S. d. §§ 54, 55 KrW- / AbfG. Zu seiner Bestellung werden Betreiber von genehmigungsbedürftigen Anlagen (gem. § 4 BImSchG), von Anlagen, in denen regelmäßig besonders überwachungsbedürftige Abfälle anfallen, sowie Betreiber ortsfester Sortier-, Verwertungs- oder Abfallbeseitigungsanlagen dann verpflichtet, wenn „dies im Hinblick auf die Art und Größe der Anlagen“ wegen der Eignung der dort entstehenden Abfälle oder Produkte, „Probleme hinsichtlich der ordnungsgemäßen und schadlosen Verwertung oder umweltverträglichen Beseitigung hervorzurufen, erforderlich ist“ (§ 54 Abs. 1 S. 1 KrW- / AbfG). b) Die abgeleitete Garantenstellung kraft Übernahme Was den Inhalt der gesetzlich aufgeführten Pflichten des Umweltschutzbeauftragten angeht, so handelt es sich durchweg um solche Pflichten, wie sie primär dem Betriebsinhaber selbst obliegen.31 Denn gerade bei den hier in Rede stehenden, d. h. in den oben genannten Regelungen umschriebenen, Betrieben handelt es sich um eine in seinem Herrschaftsbereich liegende und daher von ihm zu über29 Eine solche Intention des Gesetzgebers wird denn auch in den Gesetzesmaterialien zur Einfügung der §§ 21 a ff. in das WHG deutlich zum Ausdruck gebracht, indem der „durch Gesetz ausgeübte Zwang zur Selbstorganisation des Umweltschutzes“ wie folgt begründet wird: „. . .kann der Umweltschutz im Unternehmen und bei Betrieben der öffentlichen Hand, wenn er intensiviert werden soll, nicht mehr stets von der Geschäftsleitung neben anderen Aufgaben wahrgenommen werden. Die vielfältigen Erfordernisse des modernen arbeitsteiligen Großbetriebs, die technische Kompliziertheit der Materie und der gesetzlichen Bestimmungen und behördlichen Auflagen, aber auch die politische Bedeutung der Vermeidung von Umweltbelastungen machen es erforderlich, den internen Umweltschutz der Unternehmen und der Betriebe der öffentlichen Hand bei einer bestimmten Gefährlichkeit der Umweltbelastungen generell, und nicht nur von Fall zu Fall durch Auflage, einem besonderen Funktionsträger, dem Umweltbeauftragten für Wasserreinhaltung anzuvertrauen“ (BT-Drs. 7 / 1088, S. 14). S. zur Gesetzgebungsgeschichte auch Dahme, in: Sieder / Zeitler / Dahme, WHG, Bd. 1, 19. Lfg. (1997), § 21 a Rn. 1 ff. 30 Die Vorschriften über den Immissionsschutzbeauftragten dienten als Vorbild und Parallele für den Gewässerschutzbeauftragten der §§ 21 a ff. WHG. Zu den Gesetzesmotiven s. Hansmann, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht Bd. I, 47. Lfg. (2005), Vor § 53 BImSchG Rn. 1 ff., 6 ff. 31 Wobei sich Modifizierungen (wie die Pflicht zur Beratung und Information des Inhabers) lediglich aus dem Umstand der Delegation als solcher ergeben.

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wachende Gefahrenquelle. Der entscheidende Grund dieser Überwachergarantenstellung ist darin zu sehen, dass Außenstehende die fremde Herrschaftssphäre respektieren müssen, sich dann aber auch – als Ausgleich für die von der Rechtsordnung eingeräumte Herrschaft – darauf verlassen können müssen, dass der Betriebsinhaber und seine Leitungspersonen „die Gefahren beherrschen, die sich durch Zustände, Maschinen, Anlagen, Tiere und Einrichtungen in oder aus diesem Bereich ergeben können.“32 Da der Inhaber eines wirtschaftlichen Betriebes, bei dem es sich regelmäßig um einen komplex organisierten Herrschaftsbereich handelt, aus dem sich erfahrungsgemäß die unterschiedlichsten Gefahren entwickeln können, die zur Gefahrabwendung notwendigen Aufgaben naturgemäß nicht alle selber wahrnehmen kann, muss er – eben wegen seiner Überwachergarantenstellung – diese Aufgaben ganz oder zumindest teilweise delegieren.33 Diese Delegation bewirkt auf Seiten des Inhabers als des originär Garantenpflichtigen keine völlige Befreiung, sondern nur eine Befreiung von der Verpflichtung zur persönlichen Wahrnehmung der übertragenen Inhaberpflichten. Ihm verbleiben die sog. sekundären Garantenpflichten in Form von Auswahl-, Instruktions- und Kontrollpflichten. Diese Konsequenz ist heute generell bei der Übertragung betrieblicher Garantenpflichten anerkannt.34 Gleichwohl ist der Gesetzgeber im Umweltrecht auch insoweit „auf Nummer sicher“ gegangen, als er derartige sekundäre Garantenpflichten des Betriebsinhabers ausdrücklich festgeschrieben hat.35 Umgekehrt bedeutet diese Pflichtenübertragung für den Umweltschutzbeauftragten, dass er mit der Übernahme der Funktion als Betriebsbeauftragter für den jeweiligen Umweltbereich (Gewässerschutz usw.) in die Überwachergarantenstellung des Betriebsinhabers eintritt, wobei aber die daraus entstehenden Garantenpflichten – sofern es sich um den „Nur-Beauftragten“36 handelt – durch die umweltverwaltungsrechtlichen Regelungen konkretisiert und eingegrenzt werden. 32 Jescheck, in: LK, 11. Aufl. (1992), § 13 Rn. 35. S. zu dieser Begründung auch Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 21), § 13 Rn. 27; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 290; Wessels / Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 723. 33 Grundsätzlich dazu Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 13 Rn. 26: „Das Vorhandensein vielfältiger Gefahren, denen der Einzelne im täglichen Leben ausgesetzt ist, zwingt dazu, zur Beherrschung gewisser Gefahrenquellen besondere Schutzpersonen einzusetzen; diese übernehmen dem Einzelnen oder der Allgemeinheit gegenüber die Pflicht, in dem zu überwachenden Bereich dafür zu sorgen, dass keine Schäden entstehen.“ So der Sache nach auch schon BGHSt 19, 286, 288. 34 S. dazu nur – jeweils mit zahlreichen Nachw. – Schall, in: Schünemann (o. Fn. 16), S. 99 ff., 114; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 13 Rn. 26, sowie Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), Vor §§ 324 ff. Rn. 2 a; ebenso BGHSt 47, 224, 230 („Wuppertaler Schwebebahn“). 35 So in den §§ 21 c – e WHG, §§ 55 ff. BImSchG, § 58 c BImSchG i.V. m. 5. BImSchV, § 55 Abs. 3 KrW- / AbfG, §§ 31, 32 StrlSchV, § 7 Gefahrgutbeauftragtenverordnung (GbV). 36 S. o. bei Fn. 17.

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Insoweit lässt sich hier auch von einem gesetzlich fixierten Mindeststandard von Garantenpflichten des Umweltschutzbeauftragten sprechen. Denn seine Überwachergarantenstellung leitet er von der des Betriebsinhabers ab und daher hat er mit der tatsächlichen Übernahme seines Postens auch die ursprünglichen Inhaberpflichten wahrzunehmen,37 allerdings nur in dem Umfang, in welchem sie ihm ausdrücklich übertragen oder – bei pauschaler Bestellung zu einem solchen Beauftragten – wie sie durch die umweltverwaltungsrechtlichen Regelungen fixiert worden sind.38

III. Das Strafbarkeitsrisiko als Täter oder Teilnehmer Ist die Garantenposition des Umweltschutzbeauftragten geklärt, so stellt sich die weitere Frage, ob die Verletzung der Garantenpflichten stets eine Strafbarkeit als Täter auslöst oder nur die Beteiligungsform der Teilnahme (in Form der Beihilfe) zulässt, was dann bei fehlender Haupttat sogar zur Straflosigkeit führen würde. Diese Frage wird – stärker noch als die der Garantenpflicht – außerordentlich kontrovers beantwortet.39 Ursache des Meinungsstreits ist allerdings auch hier wieder der Umstand, dass die dem Umweltschutzbeauftragten obliegende Überwachergarantenpflicht gesetzlich auf die o. g. Kontroll-, Initiativ- und Aufklärungspflichten beschränkt ist.40 1. Die generelle Teilnehmer-Lösung Die heute wohl überwiegende Meinung verneint für die Fälle der unterlassenen Kontrolle bzw. Aufklärung die Möglichkeit einer täterschaftlichen Verantwortung des Umweltschutzbeauftragten. Wegen seines begrenzten Aufgabenkreises, insbe37 S. zu derartigen „abgeleiteten Rechtspflichten kraft Übernahme“ Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 13 Rn. 26, sowie BGHSt 47, 224, 228 ff. („Wuppertaler Schwebebahn“) mit Anm. Freund, NStZ 2002, 424 f., und Kudlich, JR 2002, 468 ff. 38 So ausdrücklich auch Böse, NStZ 2003, 636 ff., 639 m. w. N.; im Ergebnis ebenso OLG Frankfurt a.M. NJW 1987, 2753, 2756; Franzheim / Pfohl, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 134 f.; Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71, 88 ff.; Ransiek, in: Nomos Kommentar zum StGB, 2. Aufl. (2005), § 324 Rn. 67; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 21), § 13 Rn. 28; Schendel, in: Meinberg / Möhrenschlager / Link, Umweltstrafrecht, 1989, S. 246 ff., 254. 39 Weniger problematisch und daher hier nicht zu erörtern sind die Fälle einer Beteiligung des Umweltschutzbeauftragten durch positives Tun (s. dazu oben Fn. 10). 40 Auch hier geht es also ausschließlich um den sog. „Nur-Beauftragten“ als dem typischen Umweltschutzbeauftragten (s. oben unter II. 1. m. Fn. 16, 17). Dass sein Aufgabenbereich trotz der gesetzlichen Fixierung in der Praxis außerordentlich vielgestaltig ist, zeigen die instruktiven Beschreibungen von Dahs, NStZ 1986, 97 ff., 100 f., und Eidam (o. Fn. 1), S. 53 ff. Nicht einzugehen ist hier auf die weiteren Voraussetzungen einer Unterlassungsstrafbarkeit, insbesondere auf die in der Praxis häufig schwer zu beantwortende Frage der sog. „Quasi-Kausalität“ der vom Betriebsbeauftragten unterlassenen Aufklärung (vgl. dazu nur Dahs, NStZ 1986, 97 ff., 101; Michalke [o. Fn. 10], Rn. 81; s. auch OLG Frankfurt a.M. NJW 1987, 2753, 2756).

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sondere mangels Entscheidungsbefugnis, könne er lediglich Teilnehmer – d. h. in Form der Beihilfe durch Unterlassen – einer von den zuständigen Leitungspersonen begangenen Umweltstraftat sein, wenn er seinen Kontroll-, Initiativ- oder Aufklärungspflichten nicht nachkomme.41 Zu einer generellen Teilnehmer-Lösung gelangt man zudem in den Fällen, in denen der Betriebsbeauftragte die aktive Tatbegehung durch einen anderen Mitarbeiter (bzw. den Vorstand) nicht verhindert, sofern man bei der grundsätzlichen Problemfrage, ob der die täterschaftliche Tatbegehung eines Dritten nicht hindernde Garant Unterlassungstäter oder nur Teilnehmer an der Tat des Dritten ist, der sog. Gehilfentheorie folgt.42 2. Die generelle Täter-Lösung Demgegenüber wird von einem Teil des Schrifttums für die ihre Garantenpflichten verletzenden Umweltschutzbeauftragten generell eine Strafbarkeit als Täter des jeweiligen Umweltdelikts (also z. B. einer Gewässerverunreinigung durch Unterlassen) propagiert. Dies wird – wenn überhaupt – damit begründet, dass dem Betriebsbeauftragten „ein Teil der aus dem Betrieb einer gefährlichen Anlage resultierenden Garantiefunktion zur alleinverantwortlichen Wahrnehmung zugesprochen wird“ und die „Verantwortlichkeit aus seiner Stellung heraus . . . regelmäßig gerade auf der fehlenden Täterschaft Dritter begründet“ sei.43 Zum anderen wird dieses Ergebnis auf die grundsätzliche Überlegung gestützt, dass Unterlassungsdelikte Pflichtdelikte seien, ihr Täterschaftskriterium daher nicht die Tatherrschaft sei, sondern die Verletzung der tatbestandsbegründenden Erfolgsabwendungspflicht. Allein durch den Pflichtenverstoß werde der Unterlassende so sehr in das Zentrum der Deliktsverwirklichung gerückt, dass er als „Zentralgestalt“ des Geschehens und damit automatisch, unabhängig vom Vorliegen einer Tatherrschaft, als Täter anzusehen sei.44 41 So OLG Frankfurt a.M. NJW 1987, 2753, 2756; Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 324 Rn. 17; Fischer, Strafgesetzbuch, 55. Aufl. (2008), § 324 Rn. 9; Franzheim / Pfohl (o. Fn. 38), Rn. 134 f.; Kaster, GewA 1998, 129 ff., 138; Kloepfer / Vierhaus (o. Fn. 17), Rn. 60; Sander, NuR 1985, 47 ff., 55; Schendel (o. Fn. 38), S. 254; Steindorf, in: LK-StGB (o. Fn. 18), § 324 Rn. 49; Vierhaus, NStZ 1991, 466, 467. Nach Salje, BB 1993, 2297 ff., 2299 f. soll, wenn es an einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat der verantwortlichen Geschäftsleiter fehlt, zur Vermeidung von Strafbarkeitslücken eine Strafbarkeit des Betriebsbeauftragten wegen fahrlässigen Unterlassungsdelikts (z. B. § 324 Abs. 3 StGB) in Betracht kommen. 42 Zu den verschiedenen Auffassungen und ihren jeweiligen Vertretern s. die Übersicht bei Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2006, S. 121 ff. 43 So Fischer (o. Fn. 23), S. 227. Zum gleichen Ergebnis (aber ohne nähere Begründung) gelangen auch: Nisipeanu, NuR 1990, 439 ff., 455; Sack (o. Fn. 23), § 324 Rn. 196, und wohl auch Ransiek, in: NK-StGB (o. Fn. 38), § 324 Rn. 67, sowie Rudolphi, in: FS Lackner, 1987, S. 863 ff., 879 f. 44 Grundlegend dazu Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl. 2000, S. 352 ff., 695 ff.; ders. (o. Fn. 19), § 31 Rn. 140 ff. m. w. N. Zur Anwendung dieser Pflichtdeliktslehre

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3. Der differenzierende Lösungsansatz a) Begründung der notwendigen Differenzierung Zwischen den beiden extremen Positionen findet sich eine differenzierende Betrachtungsweise, die die Frage der Täterschaft oder Teilnahme davon abhängig macht, in welchem Umfang der Umweltschutzbeauftragte die Entscheidung des Betriebsinhabers als des primären Garanten im konkreten Einzelfall beherrschen kann.45 Eine derartige einzelfallbezogene Differenzierung zwingt den Strafrichter zwar – im Gegensatz zu den „glatten“ Lösungen der Extrempositionen – zu oft mühsamer (und im Hinblick auf die strafrechtlichen Konsequenzen oft schwer berechenbarer) Kleinarbeit bei der Feststellung der Arbeits- und Entscheidungsabläufe in dem jeweiligen Betrieb, sie erscheint mir aber sowohl aus dogmatischen Gründen als auch wegen des notwendigen Realitätsbezugs unabdingbar.46 Eine pauschale Lösung im Sinne von Täterschaft oder Teilnahme – unter Hinweis auf die Erfolgsabwendungspflicht als solche bzw. auf die gesetzliche Beschränkung dieser Pflicht – verbietet sich schon deshalb, weil zum einen das rechtliche Einstehen-Müssen i. S. d. § 13 StGB überhaupt erst die Grundvoraussetzung dafür schafft, dass das bloße Unterlassen der Erfolgsabwendung der aktiven Herbeiführung des Unrechtserfolges gleichgesetzt wird, ohne aber etwas über die Intensität der Beteiligung auszusagen.47 Und auf der anderen Seite kann auch die mangelnde Entscheidungsbefugnis des Betriebsbeauftragten kein Kriterium zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme sein, denn die Möglichkeit der Erfolgsabwendung ist bereits Voraussetzung des Tatbestandes des unechten Unterlassungsdelikts.48

auf den Umweltschutzbeauftragten s. Arndt, Der Betriebsbeauftragte im Umweltrecht – Garant im Umweltstrafrecht?, 1985, S. 197 f. 45 So ausdrücklich Busch (o. Fn. 15), S. 553 f.; Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 90 f.; Schall, in: Schünemann (o. Fn. 16), S. 99 ff., 119 f. Für diese Position wird man wohl auch in Anspruch nehmen können die Ausführungen von: Arndt (o. Fn. 44), S. 194 ff.; Böse, NStZ 2003, 636 ff., 641; Horn, in: SK-StGB (o. Fn. 23), § 324 Rn. 11, 13, sowie Maiwald, in: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil 2, 9. Aufl. 2005, § 58 Rn. 29. 46 Eine Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Streitfragen einer Beteiligung durch Unterlassen (vgl. dazu nur Roxin [o. Fn. 19], § 31 Rn. 124 ff., sowie den Meinungsstand bei Hillenkamp [o. Fn. 42], S. 121 ff.) kann hier verständlicherweise nicht geleistet werden. Die nachfolgende Argumentation beschränkt sich daher auf die mir wesentlich erscheinenden Kernaussagen, soweit sie für die spezifische Problematik des Umweltschutzbeauftragten unmittelbar relevant sind. 47 Bezeichnend ist insoweit, dass auch die Anhänger der Pflichtdeliktslehre immerhin für bestimmte Fallgruppen eine „Beihilfe durch Unterlassen“ anerkennen wollen (vgl. Roxin [o. Fn. 19], § 31 Rn. 143, sowie Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder [o. Fn. 6], Vor §§ 25 ff. Rn. 99, 101 ff.). 48 So auch Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), Vor §§ 25 Rn. 85.

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b) Voraussetzungen täterschaftlicher Verantwortung Letztlich bleibt daher auch bei den Unterlassungsdelikten eine Abgrenzung der Beteiligungsformen nur nach dem Leitprinzip der Tatherrschaft – wenn auch gegenüber den Begehungsdelikten in modifizierter Form. Das bedeutet, dass der Garant als Täter zumindest eine „Zentralgestalt“ des Geschehens bilden muss,49 die das Ob und Wie des Erfolgseintritts in der Weise beherrscht oder mitbeherrscht, dass der Erfolgseintritt als das Werk (auch) seines lenkenden oder die Tat mitgestaltenden Willens erscheint.50 Diese Voraussetzungen wird man etwa bei dem Umweltschutzbeauftragten ohne weiteres bejahen müssen, der den von ihm bemerkten Defekt der Abwasserreinigungsanlage den im Unternehmen zuständigen Stellen bewusst verschweigt,51 so dass die mit Schadstoffen belasteten Abwässer weiterhin ungefiltert in den Fluss gelangen. Was hier seine strafrechtliche Verantwortung als Unterlassungstäter des § 324 StGB begründet, ist nicht schon seine Garantenpflicht als solche (diese verpflichtet ihn sicher nicht zum absoluten Schutz des Gewässers, sondern nur zu bestimmten darauf abzielenden Aufgaben), sondern der Umstand, dass er durch die Nichterfüllung eben dieser Pflicht (Information der leitenden Stellen) ein Einschreiten der Unternehmensleitung zwecks Verhinderung weiterer Abwassereinleitungen (bzw. sofortiger Instandsetzung der Anlage) bewusst unterbindet, so dass der Unrechtserfolg der Gewässerverunreinigung eben deshalb als das Werk seines die Tat gestaltenden Willens erscheint. Diese Konstellation ist durchaus vergleichbar mit der Begehungsvariante einer mittelbaren Täterschaft in Form der Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens, indem der Betriebsbeauftragte der Unternehmensleitung bewusst falsche Auskünfte erteilt.52 Die „weitgehend akademische Frage“,53 ob es sich bei den Unterlassungskonstellationen um unmittelbare oder mittelbare Unterlassungstäterschaft handelt, ist m. E. für die hier zu entscheidenden Fälle im ersteren Sinne zu beantworten. Denn der Betriebsbeauftragte ist als Garant zur Weiterleitung eben dieses „über49 Diese Umschreibung findet sich übrigens auch bei den Anhängern der Pflichtdeliktslehre: s. Roxin (o. Fn. 19), § 31 Rn. 153. 50 So die – hier sub specie Unterlassungsdelikt leicht modifizierte – Umschreibung des Tatherrschaftsprinzips bei Wessels / Beulke (o. Fn. 32), Rn. 518. 51 Aus welcher Motivation auch immer: sei es, dass er dem Vorstand bewusst Schwierigkeiten bereiten will, sei es, dass er einen längerfristigen Produktionsstopp und damit verbunden den Verlust seines Arbeitsplatzes befürchtet. Geht der Betriebsbeauftragte irrtümlich davon aus, dass die verantwortlichen Leitungspersonen von dem Defekt der Anlage keine Kenntnis haben, so macht er sich konsequenterweise wegen versuchter täterschaftlicher Verwirklichung eines Unterlassungsdelikts strafbar (vgl. zu dem Parallelproblem des nur vermeintlich gutgläubigen Werkzeugs Wessels / Beulke [o. Fn. 32], Rn. 549 m. w. N.). 52 Insoweit treffend Horn, in: SK-StGB (o. Fn. 23), § 324 Rn. 11: „Ob er die entscheidende Stelle i. S. des § 21 e WHG pflichtwidrig falsch (dann: mittelbare Täterschaft in der Form aktiven Tuns) oder gar nicht informiert (dann: mittelbarer Unterlassungstäter), macht keinen nachvollziehbaren Unterschied.“ Ausdrücklich zustimmend Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 75, 89 f.; Ransiek, in: NK-StGB (o. Fn. 38), § 324 Rn. 67. 53 Weigend, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 85.

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legenen Wissens“ an die Unternehmensleitung verpflichtet; verletzt er diese Pflicht in der Weise, dass er das zur Umweltverletzung führende Geschehen selber in den Händen hält, so wird schon dadurch seine Strafbarkeit als unmittelbarer Unterlassungstäter begründet, des Umwegs einer „Zurechnung“ über die Figur der mittelbaren Täterschaft bedarf es daher hier nicht.54 c) Der Umweltschutzbeauftragte als Unterlassungsgehilfe Und ebenso deutlich fehlt es an einer derart lenkenden Gestaltung des zur Umweltverletzung führenden Geschehens, wenn der Umweltschutzbeauftragte seiner Aufklärungs- oder Initiativpflicht gegenüber dem bereits informierten (und die Umweltverletzung duldenden oder gar selber vornehmenden) Betriebsinhaber nicht nachkommt. Die das Ob und Wie des zur Gewässerverunreinigung führenden Kausalgeschehens lenkende „Zentralgestalt“ ist hier allein der Betriebsinhaber (und gegebenenfalls der unmittelbar handelnde Mitarbeiter), nicht aber der Betriebsbeauftragte. Dieser wirkt zwar durch sein pflichtwidriges Nichteinschreiten 55 an dem Geschehen mit, belässt aber die Entscheidung über das Ob und Wie des Erfolgseintritts den jeweiligen Leitungspersonen. Anders als im Ausgangsfall – in dem der Umweltbeauftragte derjenige war, der das Einleiten der verschmutzten Abwässer nach seinem Willen hemmen (durch Intervention bei den zuständigen Betriebsstellen) oder ablaufen lassen konnte (durch sein Untätigbleiben) – hat der Betriebsbeauftragte hier (bei Kenntnis der Leitungspersonen) keinen entscheidenden Einfluss auf den weiteren Ablauf.56 Er bleibt hier „Randfigur“ des realen Geschehens, fördert aber durch sein Nichteinschreiten den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges und macht sich daher wegen Beihilfe durch Unterlassen zu dem jeweiligen Umweltdelikt strafbar.57 54 Vgl. hierzu auch die Begründung, mit der die heute überwiegende Lehre die Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft durch Unterlassen generell ablehnt: Roxin (o. Fn. 19), § 31 Rn. 175; Weigend, in: LK-StGB (o. Fn. 53), § 13 Rn. 84 f., sowie Jescheck / Weigend (o. Fn. 26), S. 673. Für eine Strafbarkeit des Gewässerschutzbeauftragten in Form der mittelbaren Unterlassungstäterschaft sprechen sich demgegenüber Horn, in: SK-StGB (o. Fn. 23), § 324 Rn. 11, sowie Ransiek, in: NK-StGB (o. Rn. 38), § 324 Rn. 67, aus. 55 Das heißt dadurch, dass er es unterlässt, den Betriebsinhaber und die im Betrieb zuständigen Leitungspersonen auf die die Umwelt gefährdenden Mängel (z. B. der Abwasserreinigungs- oder der Rauchgasentschwefelungsanlage) hinzuweisen und Vorschläge zu ihrer Abhilfe zu unterbreiten. 56 Etwas anderes dürfte für den von Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 90, gebildeten Fall gelten, wonach der Vorstand die Einleitung der verschmutzten Abwässer nur dann fortsetzen will, wenn er nicht vom Betriebsbeauftragten auf den Defekt der Reinigungsanlage hingewiesen würde. Weiß der Betriebsbeauftragte davon und unterlässt er gleichwohl die vorgeschriebene Meldung, so bildet sein Unterlassen einen „Beitrag . . . von entscheidender Bedeutung“ (BGHSt 39, 381, 386), d. h. eine „funktionelle Tatherrschaft“ und macht ihn daher zum Mittäter (so auch Kuhlen, a. a. O., S. 91). 57 So im Ergebnis auch Busch (o. Fn. 15), S. 553 f.; Kuhlen, in: Amelung (o. Fn. 3), S. 71 ff., 90.

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Dieses Ergebnis lässt sich zum einen damit begründen, dass das Untätigbleiben des speziell zum Schutz der Umwelt beauftragten und dafür besonders kompetenten Mitarbeiters den Betriebsinhaber (oder sonstige Tatbeteiligte) in seinem Tatentschluss zur Begehung der Umweltverletzung58 in der Regel bestärken wird (psychische Beihilfe).59 Zum anderen wird man bei dieser Konstellation eine Strafbarkeit wegen Beihilfe schon daraus herleiten können, dass der zum Einschreiten verpflichtete Umweltschutzbeauftragte es unterlässt, die im Betrieb zuständigen Stellen auf die die Umweltmedien gefährdenden bzw. bereits verletzenden Ursachen – gegebenenfalls wiederholt und eindringlich – aufmerksam zu machen und mit konkreten Vorschlägen zu ihrer Abhilfe bei diesen Stellen vorstellig zu werden. Dass den jeweiligen Leitungspersonen dadurch, dass sie von dererlei – von ihnen als unliebsame Störmanöver empfundenen – Interventionen verschont bleiben, die Verwirklichung der Umweltstraftat erleichtert wird, lässt sich m. E. nicht ernstlich bestreiten.60 Trotz aller Streitigkeiten über die genauen Anforderungen an die Kausalität der Hilfeleistung im Falle der „psychischen Beihilfe“ sowie der „unterlassenen Taterschwerung“ sind daher die von der heute h. M. verlangten Mindestanforderungen – dass die Beihilfe „die Haupttat ermöglicht, erleichtert, beschleunigt oder intensiviert hat“61 – in der hier gegebenen Konstellation erfüllt.62 Dass schon die vom Garanten unterlassene Taterschwerung als solche eine Strafbarkeit wegen Beihilfe auslöst, ist auch insofern folgerichtig, als die Garantenstellung den Garanten verpflichtet, in Richtung auf die Abwendung der drohenden Rechtsgutsverletzung tätig zu werden.63 Die Nichterfüllung dieser Pflicht bildet das strafbegründende Pendant zum aktiven Tun. Ist nun aber bei aktivem Handeln schon das Beseitigen eines Hindernisses (auch wenn sich dieser Beitrag nachträg58 Wobei hier natürlich auch ein garantenpflichtwidriges Unterlassen des Betriebsinhabers bzw. der Vorstandsmitglieder in Betracht kommt, so dass dann eine Beihilfe durch Unterlassen am Unterlassungsdelikt vorläge (vgl. Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder, o. Fn. 6, Vor §§ 25 ff. Rn. 99). 59 Eine solche „voluntative“ Beihilfe ist zwar im einzelnen umstritten, wird von der überwiegenden Meinung aber dann anerkannt, wenn das Verhalten tatsächlich zu einer Stabilisierung des Tatentschlusses geführt hat. S. dazu sowie zu den Meinungen en detail Joecks, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 27 Rn. 7 ff., 32 ff.; Kühl (o. Fn. 26), § 20 Rn. 225 ff., sowie Roxin (o. Fn. 19), § 26 Rn. 199 ff. 60 S. dazu auch die treffende Feststellung von Joecks, in: MüKo-StGB (o. Fn. 59), § 27 Rn. 86: „. . . kann Beihilfe auch dadurch begangen werden, dass man eine „angenehme“ Tatbegehung nicht modifiziert und damit erschwert.“ 61 Jescheck / Weigend (o. Fn. 26), S. 694 m. w. N. 62 Zutreffend daher auch die Feststellung von Joecks, in: MüKo-StGB (o. Fn. 59), § 27 Rn. 86, dass es sich bei den unterschiedlichen Meinungen zur Beihilfe durch „unterlassene Taterschwerung“ zum Teil um einen bloßen Streit um Worte handelt. Weitere überzeugende Argumente für die Anerkennung einer solchen Beihilfe finden sich insbesondere bei Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 29. Abschn. Rn. 102 a; Hoyer, in: SK-StGB, 2000 (34. Lfg.), § 27 Rn. 10; Ranft, ZStW 97 (1985), 268 ff. 63 S. schon oben unter II. 2. mit Fn. 19.

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lich als überflüssig herausstellt) nach allgemeiner Meinung64 eine strafbare Beihilfe, dann kann das Nicht-Schaffen eines Hindernisses durch den Garanten, der – wie der Umweltschutzbeauftragte durch seine Aufklärungs- und Initiativpflichten – zur Schaffung gerade solcher Hindernisse verpflichtet ist, schlechterdings nicht anders bewertet werden.65 d) Beschränkung der Strafbarkeit durch Begrenzung der Pflichten Kann der Umweltschutzbeauftragte den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges zwar nicht durch die ihm gesetzlich zugestandenen, wohl aber durch andere Maßnahmen verhindern – z. B. durch Meldung des Störfalls an die Umweltverwaltungs- oder Strafverfolgungsbehörden oder auch durch eigenmächtiges Abschalten der defekten Anlagen –, so begründet das Unterlassen solcher Abwehrmaßnahmen gleichwohl keine Unterlassungsstrafbarkeit. Denn auch wenn der Betriebsbeauftragte als Überwachergarant zum Schutz des jeweiligen Umweltmediums verpflichtet ist, so sind ihm zur Wahrnehmung dieser Aufgabe (prinzipiell anders als beim Beschützergaranten) doch nur bestimmte Pflichten auferlegt worden. Zur Vornahme darüber hinausgehender Maßnahmen ist er nicht verpflichtet und noch nicht einmal befugt. Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit – sei es als Täter oder als Teilnehmer – trifft den Umweltschutzbeauftragten im Bereich des Unterlassens also immer nur dann, wenn er zum Schutz der Umwelt notwendige Maßnahmen unterlässt, die zu seinem spezifischen Pflichtenkreis gehören.66

IV. Resümee Bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts hat Robert Musil die Identitätskrise des bürgerlichen Intellektuellen als Folge der arbeitsteiligen, hochorganisierten Industriegesellschaft empfunden und in der Formel vom „Mann ohne Eigenschaften“ zu fassen versucht. Vor einem solchen gesellschaftlichen Hintergrund ist auch der Umweltschutzbeauftragte zu sehen: als eines von mehreren Phänomenen, die in einem modernen, arbeitsteilig organisierten Wirtschaftsleben mit komplexen Anforderungen zunehmend zu beobachten sind und verstärkt als strafrechtsdogmatische Probleme wahrgenommen werden.67 Bemerkenswert ist allerdings, dass es 64 S. nur Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 6), § 27 Rn. 10; Hoyer, in: SKStGB (o. Fn. 62), § 27 Rn. 9, 10; Jescheck / Weigend (o. Fn. 26), S. 694; Kühl (o. Fn. 26), § 20 Rn. 216, 218. 65 Überzeugend Jakobs (o. Fn. 62), 29. Abschn. Rn. 102 a, Fn. 201: „Bei dieser Lage kann das Nicht-Schaffen des Hindernisses nicht rechtlich neutral sein.“ 66 So ausdrücklich auch Dahs, NStZ 1986, 97 ff., 100, 102; Eidam (o. Fn. 1), S. 61; ebenso mit ausführlicher (auch kriminalpolitischer) Begründung Arndt (o. Fn. 44), S. 188 ff. 67 Neben dieser Form der „arbeitsteiligen Beseitigung einer Gefahrenquelle“ (so die Formulierung im Leitsatz BGHSt 47, 224, im Zusammenhang mit der Übertragung betrieblicher

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ausgerechnet die gesetzliche Fixierung der dem Umweltschutzbeauftragten obliegenden Pflichten ist, die in der bisherigen Diskussion seiner strafrechtlichen Eigenschaften als Garant sowie als Täter zu erheblicher Unsicherheit geführt hat.68 Gleichwohl ist diese Begrenzung sinnvoll, da sie – wie oben dargelegt – zum einen einen Mindeststandard an Garantenpflichten hinsichtlich einer umweltschutzsichernden Betriebsorganisation fixiert, zu deren Delegation der jeweilige Betriebsinhaber in aller Regel bereits aus seiner Stellung als originärer Überwachergarant verpflichtet ist. Und zum anderen ist eine Begrenzung dieser Pflichten insofern notwendig, als eine gesetzliche Pflicht zur Übertragung von Entscheidungsund Weisungsbefugnissen den Betriebsinhaber in unzulässiger Weise bevormunden würde, denn dann könnte mittels Verwaltungszwang durchgesetzt werden, dass sich der Betriebsinhaber wesentlicher Kompetenzen zu begeben hätte, was dem Grundsatz der Selbstorganisation von Unternehmen69 eindeutig zuwiderlaufen würde. Trotz aller Begrenzung verbleiben dem Umweltschutzbeauftragten eine Fülle von Aufgaben und Pflichten,70 um die aus dem jeweiligen Betrieb drohenden Gefahren zu verringern und damit die Sicherheit von Mensch und Umwelt zu erhöhen. Die damit verbundene Verantwortung setzt ihn, wie gesehen, einem nicht geringen Strafbarkeitsrisiko aus, macht ihn aber auch bei gewissenhafter Wahrnehmung dieser Aufgaben zu einem „Mann mit ausgesprochen positiven Eigenschaften“.

Garantenpflichten im Fall „Wuppertaler Schwebebahn“) sind dies vor allem Fragen der sog. Geschäftsherrenhaftung, der Kollegialentscheidungen, des Rückrufs gefährlicher Produkte sowie der sog. neutralen Beihilfe (von Amelung in: FS Grünwald, 1999, S. 9, zutreffend als „Modethema“ apostrophiert). S. dazu auch die Auflistung und Nachweise bei Kudlich, JR 2002, 468 ff. (468). 68 Die gesetzliche Ausgangslage wird auch in absehbarer Zukunft keine andere sein, denn auch der Referentenentwurf des Umweltgesetzbuchs (UGB I) hält in den §§ 20 ff. am Leitbild des Umweltschutzbeauftragten mit den Kontroll-, Informations-, Aufklärungs- und Initiativpflichten fest (s. Fundstelle im Internet vom 29. 04. 2008: http: / www.bmu.de / files / pdfs / allgemein / application / pdf / ugb1_allgem_vorschriften.pdf) und auch der neue auf den §§ 20 ff. UGB I beruhende Entwurf einer Umweltbeauftragtenverordnung bringt insoweit in den §§ 9, 10 keine Änderungen (s. Fundstelle im Internet vom 29. 04. 2008: http: // www. bmu.de / files / pdfs / allgemein / application / pdf / ugb_umweltbeauftragtenv.pdf). 69 S. dazu Knopp / Striegl, BB 1992, 2009 f.; Schottelius, BB 1995, 1549 ff., 1550; Schottelius / Küpper-Djindjic, BB 1994, 2214, 2216. 70 S. dazu die Nachw. oben in Fn. 40.

Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt Dogmenhistorische, rechtsvergleichende und sachlogische Auswegweiser aus einem Chaos Von Bernd Schünemann

I. Ein dogmatisches Chaos im Herzen der strafrechtlichen Zurechnung 1. Während Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts die im Geiste Wilhelm von Humboldts geschaffene, aus der apokalyptischen Asche des Dritten Reiches scheinbar gleich einem Phönix wieder auferstandene deutsche Universität von der sogenannten 68er Studentengeneration erschüttert wurde1, haben – davon kaum beeindruckt – sechs später zu Ordinarius-Ehren gelangte Schüler Claus Roxins gleichzeitig an ihren Dissertationen gearbeitet, darunter der verehrte Jubilar Knut Amelung und ich2. Knut Amelungs Thema „Rechtsgüterschutz oder Schutz der Gesellschaft?“ ist heute noch so aktuell wie je zuvor3. Und mein eigenes Thema 1 Notabene ohne ihr zu erliegen – das ist, jedenfalls in wesentlichen Zügen, der betreffenden Generation erst gelungen, nachdem sie in teilweise abenteuerlichen Karrieren die politische Macht errang, sich mit den die Universität mit einem Produktionsunternehmen verwechselnden Kräften amalgamierte und zu unguter Letzt das für die Weltgeltung der deutschen Universität bis 1933 unentbehrliche, unter Friedrich Althoff zu einem freilich von dessen persönlichen Qualitäten nicht zu trennenden Höhepunkt gelangte Rekrutierungssystem der Wissenschaftler durch ein den Geist von McDonalds’ „Mitarbeiter des Monats“ atmendes Pseudo-Anreizsystem auf Basalniveau ersetzt hat. In einem Beitrag zu Ehren eines Gelehrten, der wie wenige das alte Ideal der deutschen Universität bis heute verkörpert und der miterleben musste, wie die von ihm mit unerreichbarem Einsatz glänzend aufgebaute Dresdner Juristenfakultät politischem Kalkül geopfert wurde, muss diese Entwicklung wenigstens zu Anfang notiert werden, weil ja auch akademische Festschriften keinen Sinn mehr machen werden, wenn es für akademische Feste keinen eigentlichen Sinn mehr gibt. 2 Nämlich außer uns beiden von Hans Achenbach, Bernhard Haffke, Hero Schall und Jürgen Wolter. Ich habe meine Dissertation über „Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte“ (publiziert 1971) im Jahre 1970 der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen eingereicht, Knut Amelung ist mit seiner fundamentalen Arbeit über „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ jeweils im nächsten Jahr gefolgt. 3 Ersichtlich nicht nur greifbar an den beiden Sammelbänden von Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, sowie von Hirsch / Seelmann / Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, sondern in jüngster Zeit auch an dem Inzest-Urteil des BVerfG

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der unechten Unterlassungsdelikte? Im Jahre 1971 hub ich, als vorläufig letzter Autor in einer ganzen Batterie einschlägiger Monographien, mit einem Zitat Franks aus dem Jahre 1931 an, wonach in der Frage der Haftbarkeit für Unterlassungen das letzte Wort noch nicht gesprochen sei4, naturgemäß im jugendlichen Überschwang in der heimlichen Erwartung, dies werde sich nun aber mit der Veröffentlichung meiner Dissertation definitiv geändert haben. Weit gefehlt, hätte unser Göttinger Lehrer Claus Roxin in seinen unnachahmlichen Vorlesungen ausgerufen, denn in den seither nahezu verstrichenen 4 Jahrzehnten hat sich auf diesem Feld geradezu ein dogmatisches Chaos etabliert, bei dem ein gewisser Fundus an von der h. M. geteilten Ergebnissen nicht darüber hinweg täuschen darf, dass so gut wie jeder Autor eine abweichende, mit anderen Ansätzen inkommensurable Ableitung favorisiert und die Rechtsprechung längst auf jede dogmatische Herleitung verzichtet und ihr Heil in einer reinen Kasuistik gesucht hat. 2. Weil ein Festschriftbeitrag nicht der Ort ist, um dies mit ganzen Zitatensalven akribisch zu belegen, beschränke ich mich pars pro toto auf die (von unseren fünf imponierenden großen Kommentaren jüngste) Kommentierung des § 13 StGB, die soeben Thomas Weigend im Leipziger Kommentar vorgelegt hat. a) Weigends Ausgangspunkt bildet die These, dass sich in Ermangelung legislatorischer Richtlinien „eine materielle Legitimation von strafbewehrten Handlungspflichten nur aus allgemeinen Prinzipien der Fairness ergeben“ könne (§ 13 Rdnr. 23). Aber diese These erscheint mir unhaltbar, denn selbst wenn man nicht unter „Fairness“ mit dem üblichen Sprachgebrauch die prozedurale Gerechtigkeit verstehen würde, was vorliegend bar jeden Sinnes wäre, so würde sich der Satz immer noch selbst ad absurdum führen. Denn der bloße Verweis auf allgemeine Prinzipien der Gerechtigkeit würde ja (1) einer Restituierung des seit 200 Jahren mit Recht obsoleten Naturrechts das Wort reden, wäre (2) speziell im Strafrecht mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 II GG eklatant unvereinbar und ist im übrigen (3) durch sein Denkschema, es ginge um die Strafbewehrung von vom Strafrecht zunächst getrennt zu denkenden Handlungspflichten, einer eigentlich ebenfalls seit Jahrzehnten obsoleten zivilrechts(etc.)-akzessorischen Konstruktion der strafrechtlichen Zurechnungslehre verhaftet. Von einer derartigen Abstraktionshöhe weit oberhalb auch nur der Minimalia der strafrechtlichen Zurechnung (in Gestalt des Rechtsgüterschutzes durch generalpräventiv wirkende Verhaltensnormen) kann (NJW 2008, 1137 ff.), dessen Verleugnung der Rechtsgutstheorie sich an allen Ecken und Kanten selbst ad absurdum führt (zur Kritik vgl. nur das Sondervotum von Hassemer, NJW 2008, 1142 ff., sowie Greco, ZIS 2008, 234 ff., dessen eigener Kritik an der vermeintlich der deontologischen Komponente entratenden Rechtsgutstheorie m. E. durch deren Verankerung in der Theorie des Gesellschaftsvertrages unschwer die Spitze genommen werden kann). Ob die Rechtsgutstheorie gegenüber der Sozialschadenstheorie der Aufklärung einen Rückfall oder eine Weiterentwicklung darstellt, ist zwischen dem Jubilar und mir kontrovers (vgl. unsere Beiträge in dem zitierten Sammelband „Die Rechtsgutstheorie“, S. 133 ff., 155 ff.), kann hier aber nicht erneut aufgegriffen werden. 4 Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 1.

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schon aus logischen Gründen kein inhaltliches Gleichstellungskriterium des aktiven Tuns mit dem unechten Unterlassen abgeleitet werden, wie es doch § 13 StGB ausdrücklich voraussetzt. b) Dass eine solche unverbindliche Allgemeinheit zu einer Lösung nicht hin-, sondern von ihr wegführt, manifestiert Weigends sogleich anschließende Apostrophierung eines „gemeinsamen Ausgangspunktes“ in Gestalt der „Feuerbachschen Einsicht“, dass jemand nur dann Garant sein könne, wenn er in einer „besonderen“ Beziehung zu dem drohenden Erfolg stehe, wobei die entscheidende – und schwierige – Frage allerdings sei, worin die „Besonderheit“ bestehen solle (§ 13 Rdn. 23). Tatsächlich hatte Feuerbach aber – anders als Weigend es ihm hier zuschreibt – nicht ein derart verschwommenes Konzept entwickelt, sondern eine präzise formelle Rechtspflichttheorie, die im Kielwasser von Kants Rechtstheorie und einer liberalen Staatstheorie den Begehungsdelikten die allgemeine staatsbürgerliche Pflicht subintellegiert, Verletzungen anderer zu unterlassen, und deswegen für die Unterlassungsdelikte eine positivrechtlich begründete Pflicht zum Tätigwerden, nämlich aus Gesetz oder Vertrag, verlangt5. Dass der Fehler dieser wie jeder anderen „formellen Rechtspflichttheorie“ in der Verwechslung der strafrechtlichen Zurechnung mit der Verletzung einer allenfalls als Epi-Phänomen hinzukommenden außerstrafrechtlichen Rechtspflicht besteht, räumt auch Weigend ein (§ 13 Rdn. 21). Die Ersetzung der formellen Rechtspflicht durch eine „besondere Beziehung“ bedeutet dem gegenüber aber keinen Fortschritt, sondern nur den Ausdruck einer Verlegenheit. c) Diese Verlegenheit wird durch Weigends eigene Lösung, die Garantenpflichten dadurch zu legitimieren, „dass man sie auf einfache normative Sätze zurückführt“ (§ 13 Rdn. 24), eher gesteigert als beschwichtigt. Das folgt nicht nur aus der erneuten Steigerung des Abstraktionsgrades bei gleichzeitiger semantischer Entleerung (ich muss gestehen, dass ich mir unter einem „einfachen normativen Satz“ wenig vorstellen kann, es sei denn eine völlig undifferenzierte und deshalb für zahlreiche Fälle notwendig falsche Regel), sondern auch aus Weigends gleich einem deus ex machina hinzugefügter Konkretisierung, dass sich die Plausibilität „im wesentlichen“ daraus ergeben solle, dass die Handlungspflicht als Konsequenz aus einem früheren Verhalten aufgebürdet würde, dem dann wiederum die drei Garantentypen der Übernahme, der Ingerenz und des Herrschaftsbereichs zugeordnet werden (§ 13 Rdn. 24). Wieso diese Konstellationen aber, wie es § 13 StGB fordert und durch die identische Rechtsfolge ohnehin erzwungen wird, der Verwirklichung des Tatbestandes durch ein aktives Tun entsprechen, wird aus dem „einfachen normativen Satz“ nicht deutlich, eben weil er sich nicht zu den Voraussetzungen der strafrechtlichen Zurechnung verhält. Und dafür reicht eben – ebenso wie im Fall der formellen Rechtspflichttheorie – die „Aufbürdung (scil. irgend-)einer Hand5 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 2. Aufl. 1803, § 24, von Weigend selbst zitiert in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 20 Fn. 53.

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lungspflicht“ nicht aus, wie die unstreitige Behandlung des Falles zeigt, dass der Babysitter absprachewidrig abends nicht erscheint und die Eltern dann trotzdem das später verunglückende Kind allein lassen: Hier begehen nur die Eltern, nicht aber der Babysitter ein unechtes Unterlassungsdelikt. Der Topos des Vorverhaltens liefert also nicht das eigentlich differentialdiagnostische Kriterium zur Ermittlung des begehungsgleichen Unterlassens, er beschreibt weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung und damit nur ein häufig auftretendes, aber nicht die ratio essendi der Gleichstellung bildendes Epi-Phänomen. 3. Nichts desto weniger wäre es ungerecht, aus der vorstehenden Kritik auf ein spezifisches Defizit von Weigends Unterlassungsdogmatik zu schließen, da sich in ihr lediglich das „deutsche Dilemma“ widerspiegelt: Während die Strafrechtsdogmatik in manchen Ländern wie England und Frankreich zum unechten Unterlassungsdelikt keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht hat6, hat sie in Deutschland hierzu eine kaum noch überschaubare Fülle einander widersprechender Theorien entwickelt7, deretwegen man mit leicht polemischer Zuspitzung von einem dogmatischen Chaos sprechen kann. Man kann sich darüber auch nicht mit der Überlegung beruhigen, dass in der durch das Prinzip der „Überfeinerung“ charakterisierten deutschen Strafrechtsdogmatik8 schließlich so gut wie alles umstritten sei. Denn in der Regel geht es dabei nur um die semantischen Ränder (die Begriffshöfe) der Zurechnungskategorien, deren Kern außer Streit steht – ein gutes Beispiel bietet der Vorsatzbegriff. Bei der ratio essendi der Garantenstellungen fehlt es dagegen schon an der Einigkeit über die Kernfrage, und das ausgerechnet im Herzen der strafrechtlichen Zurechnung, weil es beim unechten Unterlassungsdelikt um die Gleichstellung mit dem aktiven Tun (=den Handlungsbegriff) und um das „Wesen“ der Täterschaft geht. II. Begriffliche Sackgassen des Gleichstellungsproblems Wenn es beim unechten Unterlassungsdelikt um die Gleichstellung mit der Tatbestandserfüllung durch aktives Tun (also um eine tatbestandsmäßige Handlung i. w. S. und um eine Form der Täterschaft) geht, muss die Beziehung des strafrechtlich verantwortlichen Individuums zum Erfolg für beide gleich zu stellende Konstellationen eine unter dem leitenden Wertaspekt vergleichbare ontologische Struktur aufweisen. Denn es gibt keine bloß wertungsmäßige Vergleichbarkeit, wenn 6 Dazu im einzelnen Schünemann, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002, S. 103, 106 ff. 7 Zu der der Vielfalt und Unübersichtlichkeit eines Dschungels gleichkommenden Dogmengeschichte der unechten Unterlassungsdelikte siehe für die Zeit vor 1933 Nagler, Der Gerichtssaal 111, 3 ff.; für die Epoche nach dem 2.Weltkrieg bis 1970 Schünemann, Grund und Grenzen (o. Fn. 4), S. 79 – 221; für die anschließenden Jahrzehnte ders., in: Gimbernat / Schünemann / Wolter (Hrsg.), Internat. Dogmatik der obj. Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 49 ff.; ders., in: Tiedemann (o. Fn. 6), S. 105 ff. mit. weit. Nachw. 8 Schünemann, FS Roxin, 2001, S. 1, 2 ff., 6.

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nicht der empirisch fassbare Sachgehalt der Bewertung Ähnlichkeiten aufweist – sonst erläge man dem sog. normativistischen (axiologischen) Fehlschluss, der aus einer „reinen“ (d. h. auf keinen Wirklichkeitssachverhalt bezogenen Wertung) nur mit Hilfe von vitiösen Zirkelschlüssen auf die bewertete Wirklichkeit schließen kann9. Infolge dessen führen aber alle jene bis heute einflussreichen Ansätze in eine Sackgasse, die den Begriff der Unterlassung so bestimmen, dass jegliche das aktive Tun und die (unechte) Unterlassung übergreifende, reale Gemeinsamkeit per definitionem ausgeschlossen ist. 1. Das gilt zunächst für die bekannte und heute immer noch vielfach vertretene These Gustav Radbruchs, Tun und Unterlassen stünden sich wie a und non-a ohne die Möglichkeit eines Oberbegriffs gegenüber10. Gimbernat Ordeigs Nachweis, dass es durchaus möglich ist, gemeinsame Merkmale zu finden11, ist von Puppe12 um eine sprachanalytische Kritik ergänzt worden. Für mein heutiges Thema noch wichtiger ist ein drittes Argument: Beim Begehungsdelikt und dem gleichgestellten unechten Unterlassungsdelikt geht es einerseits um die Verursachung des Erfolges durch aktives Tun, aber andererseits nicht um das Unterlassen dieses Tuns, sondern um das Unterlassen eines völlig anderen Tuns, nämlich der Rettungshandlung. Hier besteht also von vornherein nicht der Gegensatz von a und non-a, so dass es unter logischen Aspekten ohne weiteres zulässig ist, die aktive Verletzung und die unterlassene Rettung unter einem noch genauer zu explizierenden Oberbegriff zusammenzufassen. 2. In eine vergleichbare Sackgasse führen philosophische Reflektionen über die Möglichkeit, bei der Unterlassung einen Kausalbegriff zu bilden. Auch das aktive Tun erschöpft ja niemals den zur Rechtsgutsverletzung führenden Kausalverlauf, sondern gibt nur den Grund dafür ab, dem Täter diesen Kausalverlauf als sein Werk zuzurechnen – so dass man also beim unechten Unterlassungsdelikt nach den dem aktiven Tun vergleichbar intensiven Gründen dafür fragen muss, dem Täter den von ihm nicht abgewendeten Kausalverlauf zuzurechnen. Auf den für die Dogmengeschichte bis heute verhängnisvollen Irrweg, nach einer mit dem aktiven Tun identischen Kausalität zu fahnden, komme ich sogleich zu sprechen. Das Gleichstellungsproblem ist keine (bloße) Frage des Vorhandenseins oder Fehlens von Kausalität, sondern bezeichnet die zweite Stufe der Zurechnung nach der Feststellung, dass der Täter überhaupt „abwendungsmächtig“ war. Es ist deshalb selbstverständlich, dass es sich bei der Unterlassung um einen transitiven Begriff handelt, der die Unterlassung eines bestimmten aktiven Tuns bezeichnet; ferner, dass man 9 Dazu näher Schünemann, FS Schmitt, 1992, S. 117, 130 f.; ders., GA 1995, 201, 220 f.; ders., FS Roxin, 2001, S. 1, 13 ff. 10 Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, S. 140; ihm folgend z. B. Gallas, ZStW 67 (1955), 8; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 200; Hirsch, FS Rechtswiss. Fakultät Köln, 1988, S. 408; Lenckner / Eisele, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 35. 11 Gimbernat Ordeig, GS Arm. Kaufmann, 1989, S. 159, 168 ff. 12 Puppe, in: NK-StGB, 2. Aufl. 2005, Rn. 51 ff. vor § 13.

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von einem Unterlassen dieses Tuns infolgedessen nur sprechen kann, wenn dessen Vornahme dem individuellen Täter möglich gewesen ist; und dass man von der unterlassenen Abwendung einer Rechtsgutsverletzung nur sprechen kann, wenn die Vornahme der Rettungshandlung durch den Täter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Rettung des Rechtsguts geführt hätte. Man hat hier immer von einer Quasi-Kausalität des Unterlassens gesprochen, und zahlreiche Strafrechtsdogmatiker haben darin ein großes ontologisches Problem zu finden geglaubt13. Aber für eine gemäßigt normativistische Strafrechtsdogmatik, wie ich sie für richtig halte und hier nicht im einzelnen beschreiben und begründen kann14, ist das ein bloßes Scheinproblem. Denn die Unterlassung einer sicheren Rettungsmöglichkeit steht unter dem (bloßen) Aspekt der Kausalität der Verursachung einer Verletzung vollständig gleich, wie durch die Zwischenform der aktiven Verhinderung rettender Kausalverläufe15 demonstriert werden kann. Eine andere, normative Frage ist es, ob schon die unterlassene Wahrnehmung einer reellen Rettungschance (also das Unterlassen einer „Risikoverminderung“) durch den Garanten für eine Haftung aus dem Tatbestand des Erfolgsdelikts ausreichen sollte16. Sie ist im Prinzip zu verneinen, denn sonst würde das Erfordernis der Risikoerhöhung, das beim aktiven Tun zur Kausalität hinzukommen muss und hier also strafbarkeitseinschränkend wirkt, beim Unterlassen die (Quasi-)Kausalität ersetzen und dadurch die Strafbarkeit ausdehnen – ein das Rangverhältnis von Tun und Unterlassen auf den Kopf stellendes, unhaltbares Ergebnis17. Freilich darf, wie neuerdings Roxin gezeigt hat18, die Kausalitätsprüfung nicht auf das abstrakte Endresultat reduziert werden, sondern muss zwischen den konkreten Stationen unterscheiden: Wenn die Rettungshandlung den tatsächlich zum Erfolg führenden Ablauf mit Sicherheit verhindert hätte, bleibt sie auch dann kausal, wenn Reserveursachen in diesem Fall möglicherweise auf anderem Wege zum selben Endergebnis geführt hätten – nicht anders als bei der Erfolgsherbeiführung durch aktives Tun.

13 Das zur Formulierung der sog. Interferenztheorie Anlaß gab, s. v. Buri, GS 21 (1869), 199 f.; ders., Ueber Causalität und deren Verantwortung, 1873, S. 99; zust. Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. II, 2. Aufl. 1914, 552 ff.; dagegen schon v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 14. / 15. Aufl. 1905. Ausführlicher Überblick bei Binding, ebenda., S. 516 ff. 14 Vgl. Schünemann, in: UNED (Hrsg.), Modernas tendencias en la ciencia del derecho penal y en la criminología, Madrid 2000, S. 643 ff.; ders., Festschrift Roxin, 2001, S. 1 ff.; ebenso Roxin, in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 21 ff.; Silva Sánchez, ebenda, S. 1 ff. 15 Dazu Gimbernat Ordeig, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus, 2005, S. 163 ff. 16 Dazu eingehend Roxin, Strafrecht AT II, 2003, S. 642 ff. 17 Schünemann, StV 1985, 229, 231 ff.; ebenso etwa Gimbernat Ordeig, ZStW 111 (1999), 323, 330 f. 18 Roxin (o. Fn. 16), S. 645 ff.

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III. Holzwege der Dogmengeschichte 1. Bessere Fingerzeige als begriffliche Streitigkeiten gibt die Dogmengeschichte. Wie schon erwähnt, versuchte Feuerbach am Beginn des 19. Jahrhunderts, die Gleichstellung von Tun und Unterlassen aus der Theorie des liberalen Staates abzuleiten. Weil der Bürger grundsätzlich nur verpflichtet sei, Verletzungen der Rechtsgüter anderer Bürger zu unterlassen, könne grundsätzlich nur die aktive Verursachung einer Schädigung bestraft werden, so dass die Strafbarkeit der Unterlassung einer Rettungshandlung nur in Betracht komme, wenn es eine spezielle Rechtspflicht zur Vornahme dieser Handlung gebe19. Der logische Fehler dieses Ansatzes ist erst mehr als 100 Jahre später erkannt worden, immerhin aber heute seit mehr als 70 Jahren allgemein bekannt. Zunächst einmal liegt eine Verwechselung von notwendiger und hinreichender Bedingung vor, wenn man aus der bloßen Existenz einer durch Gesetz oder Vertrag begründeten Handlungspflicht, die ja notwendig außerhalb des Strafrechts begründet wird, auf eine strafrechtliche Gleichstellbarkeit schließt. Und zum zweiten ist die Folgerung von einer außerstrafrechtlichen, zumeist zivilrechtlichen Pflicht auf die strafrechtliche Gleichstellung von Tun und Unterlassen auch wegen der unterschiedlichen Funktion der beiden Rechtsgebiete systematisch falsch, denn eine strafrechtliche Pflicht kann nur aus den Zurechnungsnormen des Strafrechts, nicht aber aus einer außerstrafrechtlichen Norm abgeleitet werden. Dass diese theoretische Widerlegung der formellen Rechtspflichttheorie auch von den evidenten Forderungen der Gerechtigkeit getragen wird, haben Schaffstein und Nagler20 vor 70 Jahren anhand des berühmten Falles des Kindermädchens nachgewiesen, welches in der ersten Variante seinen Dienst unter Verletzung des abgeschlossenen zivilrechtlichen Vertrages nicht antritt, während es in der zweiten Variante einen (wie den Beteiligten erst später bewusst wird) zivilrechtlich nichtigen Vertrag abgeschlossen hat. Wenn jetzt die Eltern in der ersten Variante ihr Kleinkind unbeaufsichtigt zu Hause zurücklassen, obwohl das Kindermädchen vertragswidrig nicht zur Beaufsichtigung des Kindes erschienen ist, so ist es evident, dass wegen Tötung durch Unterlassen nur die Eltern, nicht aber das Kindermädchen verantwortlich sind, wenn das allein gelassene Kind an ausgehustetem Brei erstickt. Umgekehrt ist allein das Kindermädchen wegen Tötung des Kindes durch Unterlassen strafbar, wenn es einen Spaziergang mit dem Kind unternommen hat, ihm während dieses Spazierganges von einem befreundeten Juristen die zivilrechtliche Nichtigkeit des abgeschlossenen Betreuungsvertrages erläutert wird und wenn es daraufhin passiv zusieht, wie das Kind über einen Zaun am Rande eines Abgrundes klettert und zu Tode stürzt. Offensichtlich ist es also nicht die formelle Vertragspflicht des Zivilrechts, sondern die tatsächliche Übernahme der Schutzfunktion über das hilflose Rechtsgut, welches die strafrechtliche Gleichstellung auslöst; und die zivilrechtliche Vertragspflicht ist nicht mehr als ein juristisches Epi-Phänomen der strafrechtlichen Garantenstellung. 19 20

Feuerbach (o. Fn. 5). Schaffstein, Festschrift Graf Gleispach, 1936, S. 70 ff.; Nagler, GS 111, 1, 59 ff.

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2. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland eine völlig andere Theorie des Unterlassungsdelikts entwickelt, die auf der damals alle Wissenschaften dominierenden Philosophie des Positivismus beruhte und in dem Begriff der Kausalität den Angelpunkt für alle Fragen der strafrechtlichen Zurechnung zu finden glaubte. Man suchte deshalb auch bei der Unterlassung nach einem echten Wirkungszusammenhang, der über die Quasi-Kausalität hinausging, und glaubte ihn in Gestalt einer vom Täter vorgenommenen Vorhandlung zu finden, deren weitere Auswirkungen vom Täter nicht abgewendet wurden. Das vorangegangene eigene gefährliche Tun sollte also die nachfolgende Unterlassung zu einer „Begehung durch Unterlassen“ machen – und damit war genau diejenige Rechtsfigur geboren, die man später als „Garantenstellung aus Ingerenz“ bezeichnet hat. Während sich nun in der Dogmatik die Anhänger der auf Feuerbach zurückgehenden Rechtspflichttheorie und die Anhänger der auf den Kausal-Monismus zurückgehenden Ingerenztheorie erbittert befehdeten, kombinierte das RG einfach die beiden sich logisch eigentlich ausschließenden Konzepte und fügte den Rechtspflichten aus Gesetz und Vertrag (also den formellen, außerhalb des Strafrechts existierenden Rechtspflichten) die angebliche Rechtspflicht aus vorangegangenem gefährlichen Tun (die erst für das Strafrecht erfunden wurde und außerhalb des Strafrechts nicht existierte) als Grund für die Gleichstellung des Unterlassens mit einem aktiven Tun hinzu21. Von der Begründung her war die Doktrin des 19. Jahrhunderts ebenso fehlerhaft wie die Argumentation des RG, denn die Anknüpfung an ein vorangegangenes unvorsätzliches aktives Tun bedeutete ja die Bestrafung eines dolus subsequens und damit eine Verletzung des Schuldprinzips; und während es bei Gesetz und Vertrag immerhin außerstrafrechtliche Rechtspflichten zum Handeln gab, war die angebliche Rechtspflicht aus Ingerenz eine strafrechtliche Erfindung, die in die formelle Rechtspflichttheorie gerade nicht hineinpasste. Auch von der Reichweite der Ingerenz-Garantenstellung her ergaben sich zahllose Probleme, nämlich wenn die vorangegangene Handlung völlig sorgfaltsgemäß oder sogar gerechtfertigt war. Dass der BGH später in Anknüpfung an Rudolphis Einschränkungsbemühungen die Ingerenz-Garantenstellung 22 auf die Schaffung unerlaubter Gefahren reduziert hat23, führte seinerseits zu sonderbaren Differenzierungen: Wenn jemand fahrlässig einen Unfall verursachte und das Opfer verbluten ließ, obwohl er es noch rechtzeitig hätte ins Krankenhaus bringen können, wurde er danach wegen Totschlages oder sogar Mordes durch Unterlassen 21 Erstmals im Jahre 1888 in RGSt 18, 96, 98, wobei es eindeutig nicht um eine außerstrafrechtliche Pflicht ging, sondern um die aus dem Straftatbestand abgeleitete Norm, denn es wird einfach der Begriff der Handlung auf die noch abwendbaren kausalen Wirkungen erstreckt (unter Berufung auf die frühere Entscheidung RGSt 3, 316, 318, in der es in Wahrheit um den Ort der Tatbegehung ging). 22 Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 163 ff., 182 f.; ders., in: SK-StGB, § 13 Rn. 39; zust. etwa Wohlers, in: NK-StGB (o. Fn. 12), § 13 Rn. 43; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 10), § 13 Rn. 35, beide m.w.Nachw. 23 BGHSt 23, 327; 25, 218.

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bestraft24; ließ er das Opfer aber nach einem von ihm selbst unverschuldeten Unfall verbluten, so wurde eine Zurechnung des Todes verneint, und es blieb nur eine Bestrafung wegen des geringfügigen Spezialdelikts der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323 c StGB übrig25. Die geringe Überzeugungskraft dieser Unterscheidung hat der Bundesgerichtshof vor einigen Jahren selbst erkannt, und er hat deshalb im Ledersprayfall eine Garantenstellung des Warenproduzenten auch für den Fall bejaht, dass dieser alle Sorgfaltsanforderungen einhielt, sich aber nachträglich die Gefährlichkeit seines Produktes herausstellte26. Diese zickzackartige Rechtsprechung wird erst dann verständlich, wenn man sich klar macht, dass die Ingerenz – ähnlich wie die außerstrafrechtliche Rechtspflicht aus Gesetz oder Vertrag – ebenfalls ein bloßes Epi-Phänomen zu dem eigentlichen Grund der Gleichstellung von Tun und Unterlassen darstellt, nämlich zu der Übernahme einer Schutzfunktion über ein hilfloses Rechtsgut oder durch Überwachung einer bestimmten Gefahrenquelle. 3. Bevor ich das im einzelnen ausführe, möchte ich noch kurz die Stationen betrachten, auf denen sich Rechtsprechung und Doktrin in Deutschland diesem ausschlaggebenden Kriterium intuitiv angenähert haben, ohne aber die in Wahrheit obsoleten früheren Begründungen aufzugeben. So hat man schon bald neben der formellen Rechtspflicht aus Gesetz oder Vertrag die Gleichstellungsgründe der Gefahrengemeinschaft und der engen Lebensgemeinschaft27 anerkannt, bei der es sich übrigens nur um einen Sonderfall der Gefahrengemeinschaft handelt: Die meisten Unfälle passieren nicht bei der Besteigung eines Berges und ähnlichen offensichtlich riskanten Unternehmungen, sondern im gemeinsamen Haushalt, etwa wenn der eine Partner der Lebensgemeinschaft in der Badewanne ausrutscht oder sich während des gemeinsamen Frühstücks am Toaster einen elektrischen Schlag zuzieht, also sozusagen in der Gefahrengemeinschaft des täglichen Lebens. Nicht nur die Wissenschaft28, sondern auch die Rechtsprechung29 haben sich also schon

24 Siehe BGHSt 7, 287, wo die Verdeckungsabsicht noch abgelehnt wurde; sie bejahend jedoch BGHSt 38, 358, 361; anders wieder BGH NJW 2003, 1060; zusammenfassend Grünwald, GA 2005, 502 ff. 25 Z. B. BGHSt 25, 218, 221 f.; in der Lehre etwa Rudolphi (o. Fn. 22), S. 179 f. Das spanische Recht ermöglicht hier übrigens eine angemessenere Abstufung in Gestalt von Art. 195.3 CP, in dem Silva Sánchez sogar eine dritte „Mittel“-Form des Unterlassungsdelikts erblickt, siehe dens., FS Roxin, 2001, S. 641, 648 ff.; zust. und weiterführend Robles Planas, Garantes y cómplices, 2007, S. 100 ff. 26 BGHSt 37, 106, 116 ff.; dass dem BGH hierbei eine schlichte Verwechselung von objektiver und subjektiver Fahrlässigkeit unterlief (s. Schünemann, in: Gimbernat / Schünemann / Wolter [o. Fn. 7], S. 49, 69), zeigt die Unverzichtbarkeit einer begrifflich und systematisch exakten Strafrechtsdogmatik. 27 RGSt 10, 100; 17, 260; 69, 321; 73, 389; 74, 309. 28 Neben Schaffstein (Festschrift Graf Gleispach, 1936, S. 70 ff.) und Nagler (GS 111, 1, 59 ff.) könnte man noch andere nennen wie Sauer und Kissin, deren Versuch, auf die materielle Rechtswidrigkeit als solche zu rekurrieren, später von Freund (Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 51 ff., fortgesetzt in seiner Kommentierung in MüKo-StGB, Bd. 1, 2003, § 13

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seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts von der Anknüpfung an formelle Rechtspflichten weg und statt dessen zu einer sachlogischen Begründung für die Gleichstellung von Tun und unechtem Unterlassen hin entwickelt. Armin Kaufmann konnte deshalb in seiner Monographie über „Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte“ 1959 zutreffend bilanzieren, dass es zwei Typen eines begehungsgleichen Unterlassens gebe, nämlich einerseits zum Schutz eines hilflosen Rechtsguts und andererseits zur Überwachung einer Gefahrenquelle30. Anstatt daraufhin weiter zu untersuchen, worin nun jeweils der sachlogische Grund für diese Gleichstellung besteht, ist er jedoch unmittelbar vor dieser entscheidenden Frage wieder umgekehrt und in eine andere Richtung marschiert, indem er die These aufgestellt hat, dass man die Garantenstellungen nicht im Allgemeinen Teil, sondern auf der Ebene der Tatbestände des Besonderen Teils jeweils speziell bestimmen müsse31. In Wahrheit geht es aber bei der Gleichstellung von Tun und Unterlassen jedenfalls für die überwältigende Mehrzahl der Straftatbestände, bei denen das Unrecht in einer Rechtsgutsverletzung besteht, um eine spezifische Beziehung des Unterlassungstäters zu eben dieser Rechtsgutsverletzung und damit um eine allgemeine Struktur für alle Erfolgsdelikte. Der zunächst genial zielführende und dann abbrechende Gedankengang Armin Kaufmanns und, ihm folgend, Wolfgang Schönes32 ist deshalb dem Vorgehen der Archäologen vor Howard Carter vergleichbar, die kurz vor dem Grab des Tut-ench-Amun wieder umkehrten und an einer anderen Stelle in der ägyptischen Wüste weiter suchten. IV. Die sachlogische Gemeinsamkeit der Garantenherrschaft mit der Tatherrschaft durch aktives Tun 1. Dieser Gewaltmarsch durch die Entwicklung der deutschen Dogmatik der Begehungsdelikte durch Unterlassen in den letzten 200 Jahren bietet ein buntes, in der Gesamtschau fast chaotisches Bild, das durch eine ständige Veränderung sowohl der Begründungen als auch des Strafbarkeitsumfanges gekennzeichnet ist. Verantwortlich waren dafür stets Gedankengänge und Argumentationsstrukturen, die in der betreffenden Epoche allgemein vorherrschten, aber keinen spezifischen Bezug zum Problem der Unterlassung durch Begehung aufwiesen. Ich erinnere an die rein staatstheoretische Konzeption Feuerbachs oder an den Kausalmonismus im naturalistischen Strafrechtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die finale Handlungslehre Welzels hätte hier mit Hilfe der auf ihrer Grundlage entRn. 60 ff.) erneuert worden und deshalb denselben Einwänden wie dieser (Schünemann, in: Gimbernat / Schünemann / Wolter [o. Fn. 7], S. 52 ff.) ausgesetzt ist. 29 Deren ideologisch bedingte Entgleisungen in der kurzen Phase des Nationalsozialismus im vorliegenden Zusammenhang beiseite gelassen werden können. 30 S. 283. 31 A. a. O., S. 287. 32 Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 342 ff.

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wickelten Theorie der Tatherrschaft33 eine bessere Chance gehabt, zu einer strafrechtsspezifischen Lösung des Gleichstellungsproblems zu kommen: Wenn der Erfolg beim unechten Unterlassungsdelikt genau so zugerechnet wird, wie wenn der Täter ihn durch aktives Tun herbeigeführt hätte, dann muss die Stellung des Unterlassungstäters in dem zum Erfolg führenden Geschehen mit derjenigen des Begehungstäters vergleichbar sein und auf einer Stufe stehen. Der auf dem Boden der finalen Handlungslehre entwickelte Begriff der Tatherrschaft hätte deshalb die entscheidende Brücke bilden können, weil er ja die Täterschaft beim Begehungstäter nicht an die schlichte Kausalität, sondern an die durch das aktive Tun vermittelte Beherrschung des zur Rechtsgutsverletzung führenden Gesamtgeschehens knüpft34. Leider ist diese Chance von den Vertretern des Finalismus nicht genutzt worden, weil Welzels Schüler Armin Kaufmann in seiner „Dogmatik der Unterlassungsdelikte“ die unglückliche These des Umkehrprinzips aufgestellt hat, wonach die Zurechnung beim Unterlassungsdelikt umgekehrt, also gewissermaßen spiegelbildlich wie beim Begehungsdelikt erfolgen solle35. Das ist schon in logischer Hinsicht nicht überzeugend, weil die präzise Anwendung eines Umkehrprinzips bedeuten würde, dass der Täter bei der aktiven Verletzung eines Rechtsguts zu bestrafen und umgekehrt bei der Rettung des Rechtsguts aus einer Gefahr zu belohnen ist. Und bei den unechten Unterlassungsdelikten führt das Umkehrprinzip erst recht in die Irre, weil die hierfür im Gesetz vorgesehene gleiche Strafe wie beim Begehungsdelikt gerade keinen Gegensatz, sondern eine Vergleichbarkeit von Tun und Unterlassen voraussetzt. 2. Diese Vergleichbarkeit des Unterlassens mit dem aktiven Tun ist unter dem für die Täterschaft ausschlaggebenden Aspekt der Tatherrschaft dann und nur dann gegeben, wenn auch der Unterlassungstäter eine Herrschaft über das zur Rechtsgutsverletzung führende Geschehen ausübt, und zwar eine ebenso reale Herrschaft wie der Begehungstäter, die also nicht mit der bloßen Verhinderungsmöglichkeit als potentieller (hypothetischer) Beherrschung verwechselt werden darf. In den eingangs apostrophierten Göttinger Jahren habe ich in meiner Dissertation über „Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte“ das Prinzip der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ als die gemeinsame Grundstruktur, in Worten der formalen Logik als das „tertium comparationis“ von Begehung durch aktives Tun und Begehung durch unechtes Unterlassen, ausfindig gemacht und dies wie folgt begründet: „Der entscheidende Zurechnungsgrund (bei der Tatbestandserfüllung durch aktives Tun) ist die Beziehung zwischen dem personalen Steuerungszentrum und der 33 Zu dieser sich anbietenden Brücke siehe Schünemann, in: Moreno / Struensee / Cerezo / Schöne (Hrsg.), Problemas capitales del moderno derecho penal, Lo permanente y lo transitorio del pensamiento de Hans Welzel en la política criminal y en la dogmática penal del siglo XXI, Mexiko 2003, S. 231, 232 f.; ders., in: Libro Homenaje a Rodríguez Mourullo, Navarra 2005, S. 981, 995 ff. 34 Grundlegend Welzel, ZStW 58 (1939), 539; zur Relevanz für die allgemeine Struktur der Täterschaft Schünemann, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 39 ff. 35 A. a. O. (o. bei Fn. 30), S. 87 ff.

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den Erfolg verursachenden Körperbewegung. Das für die Gleichstellungsfrage entscheidende Wesen des Verhältnisses zwischen Person und Körperbewegung . . . besteht in der absoluten Herrschaft der Person über den Körper . . . Da die Körperbewegung vermöge des Kausalnexus als unmittelbarer Grund des Erfolges erscheint, ist die unmittelbare Herrschaft über diesen unmittelbaren Grund des Erfolges somit der mittelbare Grund des Erfolges, der die Zurechnung zur Person rechtfertigt. Wir können damit die Zurechnung eines Erfolges an eine Person qua Handlung als Verbesonderung des allgemeinen Prinzips begreifen, einen Erfolg derjenigen Person zuzurechnen, die die Herrschaft über den Grund des Erfolges ausübt.“36 Heute würde ich noch hinzufügen, dass das tertium comparationis der aktuellen Willensherrschaft bei der Begehung durch aktives Tun nicht nur in Bezug auf die Körperbewegung, sondern gerade auch in Bezug auf das Gesamtgeschehen das Wesen der Täterschaft ausmacht, weil ja die Körperbewegung des Begehungs-Täters nur dann Grund des Erfolges ist, wenn sie Tatherrschaft begründet, und dass also die Garantenstellung des Unterlassungstäters, um eine vergleichbare Beziehung zum Erfolg herzustellen, in Form einer aktuellen Herrschaft über einen wesentlichen Aspekt des Gesamtgeschehens vorhanden sein muss. 3. Damit ist eine Formel für die sachlogische Gleichstellbarkeit von aktivem Tun und Unterlassen gefunden, mit deren Hilfe die von mir zuvor angesprochene Unterscheidung der Garantenstellungen in Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter einerseits oder in die Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen andererseits aus einer zufälligen formalen Einteilung in ein die sachlogischen Bedingungen von realer Geschehensherrschaft abbildendes System überführt werden kann: Die Herrschaft über den Grund des Erfolges zerfällt in die Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsguts (mit den einzelnen Garantenstellungen der Lebensgemeinschaft, der Gefahrengemeinschaft und der Übernahme von Obhut über ein hilfloses Rechtsgut) und in die Herrschaft über eine wesentliche Erfolgsursache (mit den einzelnen Garantenstellungen der Verkehrspflichten im Sinne der Kontrolle über gefährliche Sachen und der Herrschaft über gefährliche Personen oder Verrichtungen). Dass es sich bei der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ damit um eine für die Begehungs- wie für die unechten Unterlassungsdelikte gleichermaßen zutreffende Grundstruktur der Täterschaft handelt, die auch bei den (Garanten-)Sonderdelikten und den eigenhändigen Delikten vorzufinden ist, habe ich in meinen neueren Beiträgen näher dargelegt37. Als zusätzlichen Beweis für die Unterlassungsdelikte möchte ich auf jene schon erwähnten Grundfälle verweisen, bei denen die Strafbarkeit wegen Begehung durch Unterlassen noch niemals zweifelhaft gewesen ist: Das Kindermädchen, das tatsächlich die Obhut über den Säugling übernommen hat, haftet für einen tödlichen Unfall, der infolge der Hilflosigkeit des Säuglings eintritt und von ihr nicht verhindert wird, völlig unabhängig Gekürzter Text aus Schünemann, Grund und Grenzen (o. Fn. 4), S. 235 f. Zu den (Garanten-)Sonderdelikten Schünemann, in: LK-StGB (o. Fn. 34), § 25 Rn. 42 ff.; zu den eigenhändigen Delikten Schünemann, FS Jung, 2007, S. 881 ff. 36 37

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von der zivilrechtlichen Wirklichkeit ihres Dienstvertrages aufgrund ihrer Obhutsherrschaft. Ebenso bleibt sie umgekehrt straflos, wenn sie ihren Dienst nicht antritt und die Eltern gleichwohl das Kind unbeaufsichtigt zu Hause lassen, denn dann haben allein die Eltern die Obhutsherrschaft über das Kind ausgeübt und sind für den Tod des Kindes wegen der Unterlassung anderweitiger Vorsorge verantwortlich. Noch fundamentaler ist die Herrschaft der stillenden Mutter über ihren Säugling, so dass es mit Recht immer schon anerkannt war, dass eine Mutter wegen Tötung des Kindes zu verurteilen ist, wenn sie es verdursten lässt38. Und schließlich ein letztes Beispiel: Wer mit einem bissigen Hund spazieren geht und diesen nicht zurückpfeift, wenn er einen Passanten angreift und beißt, wird mit Recht wegen Körperverletzung durch Unterlassen bestraft, was noch niemals angezweifelt worden ist. Und die Grenzen der Herrschaft markieren hier immer auch die Grenzen der strafrechtlichen Garantenstellung, so dass also der Eigentümer eines ungehorsamen und endgültig entlaufenen Hundes kein unechtes Unterlassungsdelikt begeht, wenn er später seinen Hund wild herumlaufen und andere Menschen beißen sieht, ohne diesen mit Hilfe des zufällig mitgeführten Gewehrs zu erschießen. Denn er hat die Herrschaft über die Gefahrenquelle „Hund“ längst verloren und steht deshalb dem weiteren Geschehen nur noch wie jeder andere gegenüber. 4. Zu guter Letzt spricht es entscheidend für die Herrschaftstheorie, dass die drei in der heutigen Zeit wichtigsten Konstellationen allein durch sie eine überzeugende Lösung erfahren, nämlich die Garantenstellungen des Betriebsinhabers, des Amtsträgers und des Warenproduzenten: a) Bezüglich des Betriebsinhabers, dessen Garantenstellung in der modernen Rechtsprechung eine zentrale Rolle spielt39, kann nur die Herrschaftstheorie sowohl zu einer Begründung als auch zugleich zu einer angemessenen Begrenzung seiner Garantenstellung führen. Ich habe das bereits 1979 eingehend begründet40 und seitdem in Auseinandersetzung mit der jeweils hinzukommenden Judikatur und Literatur wiederholt vertieft und aktualisiert41, so dass ich hier nur darauf zu verweisen brauche. RGSt 61, 199; JW 1927, 2696 m. Anm. Bohne; ebenso OLG Celle HanRpfl. 1947, 33. RGSt 24, 353, 354 f.; 33, 261 ff.; 57, 148, 151; 58, 130, 132 ff.; 75, 296; BGHSt 25, 158, 162 f.; 37, 106, 123 f.; Schw. BGE 96 IV 174; eingehende Darstellung der Rechtsprechung m.w. N. bei Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 70 ff.; Hsü, Garantenstellung des Betriebsinhabers zur Verhinderung strafbarer Handlungen seiner Angestellten?, 1986, S. 17 ff. 40 Unternehmenskriminalität (o. Fn. 39), S. 84 ff. 41 In Deutschland zuletzt Schünemann, in: LK-StGB (o. Fn. 34), § 14 Rn. 67 f.; in Spanien z. B. ders., in: Hacia un derecho penal economico europeo, Boletin Oficial del Estado, Madrid 1995, S. 565, 575 ff.; Temas actuales y permanentes del Derecho penal después milenio, 2002, S. 129, 137 ff.; ADPCP 2002, 30 ff.; Bajo Fernández / S. Bacigalupo / Gómez-Jara Díez (eds.), Constitución Europea y derecho penal económico, Madrid 2006, S. 141 ff.; Schünemann, Delincuencia empresarial: Cuestiones dogmaticas y de politica criminal, Buenos Aires 2004, S. 23 ff., 66 ff. Eine umfassende Analyse für das spanische Recht findet sich bei Gracia Martín, in: Hacia un derecho penal economico europeo (o. selbe Fn.), S. 81 ff. 38 39

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b) Ähnlich verhält es sich mit dem Amtsträger, der dann, aber auch nur dann mit Recht für einen Erfolg als Täter verantwortlich gemacht wird, wenn er nicht nur eine formelle öffentlich-rechtliche Amtspflicht verletzt, sondern auch das Geschehen beherrscht hat. Neuerdings hat Michael Pawlik die Ableitung der Garantenstellung aus der bloßen Amtspflicht staatstheoretisch zu begründen versucht42, aber das ist genau wieder der alte Rückfall in die formelle Rechtspflichttheorie und in den fehlerhaften Versuch, ein Problem der strafrechtlichen Zurechnung mit Hilfe der Regeln anderer Rechtsgebiete zu lösen. Den ausschlaggebenden Unterschied zwischen bloßer Amtspflicht und echter Herrschaft auf Grund der Amtsstellung illustriert etwa der Vergleich des Direktors einer Justizvollzugsanstalt, der die Gefangenen kraft seiner Herrschaft über ihre Hilflosigkeit vor den spezifischen Anstaltsgefahren schützen muss, mit dem Beamten in einer Umweltschutzbehörde, der nur seine eigenen Verwaltungsakte43, nicht aber das Verhalten der Bürger beherrscht: Wenn dieser rechtswidrige Erlaubnisse nicht aufhebt, haftet er für darauf beruhende Umweltschädigungen als Garant; das bloße Nicht-Einschreiten gegen Umweltstraftaten der Bürger führt dagegen (neben der beamtenrechtlichen Verantwortlichkeit) nur zu einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323 c StGB44. c) Die am heftigsten diskutierte und umstrittene Garantenstellung ist gegenwärtig diejenige des Warenproduzenten in den Fällen, in denen die Entwicklung und Herstellung des Produkts an sich unter Einhaltung aller Sorgfaltsregeln verlaufen ist, später aber eine ursprünglich nicht erkennbare Schädlichkeit des Produkts für die Gesundheit der Konsumenten bemerkbar wird. Zunächst haben die Zivilgerichte hier eine Pflicht zum sog. Rückruf des Produkts bejaht45, und sodann hat der ZStW 111 (1999), 335, 348 ff. Etwa eine Erlaubnis zur Einleitung giftiger Abwässer in einen Fluss. 44 Die Frage ist sehr umstritten. Zum eigenen Standpunkt siehe Schünemann, wistra 1986, 235 ff.; ders., FS Rudolphi, 2004, S. 297, 309; zur deutschen Diskussion insgesamt und übereinstimmend Czychowksi, ZfW 1984, 265 ff., 267 f.; GenStA Hamm NStZ 1984, 219; Hohmann, NuR 1991, 12; Immel, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträgern im Umweltstrafrecht, 1987, 183 f.; Jescheck / Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl., 1996, S. 624; Rudolphi, FS Dünnebier, 1982, S. 580; ders., NStZ 1984, 198 f.; ders., JR 1987, 336 ff.; ders., JR 1995, 167 f.; ders., in: SK-StGB § 13 Rn. 40c, 54c f.; Tiedemann, GS f. Meyer, 1990, S. 618 f.; Tröndle / Fischer, StGB 54. Aufl. 2007, vor § 324 Rn. 18 ff.; Weber, Strafrechtliche Verantwortung von Bürgermeistern und leitenden Verwaltungsbeamten im Umweltrecht, 1988, S. 56 f.; Schall, NJW 1990, 1270; ders., JuS 1993, 723. Anders Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 197 f.; Freund, Erfolgsdelikt (o. Fn. 28), S. 305 ff.; Horn, in: SK-StGB, vor § 324 Rn. 23; Hüwels, Fehlerhafter Gesetzesvollzug und strafrechtliche Zurechnung, 1986, S. 175 f., 182 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 5. Aufl., § 18 Rn. 80 ff.; Cramer / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 10), Vor § 324 Rn. 30, 38 ff.; Schultz, Amtswalterunterlassen, 1984, 166 ff.; Steindorf, LK-StGB 11. Aufl. 2005, § 324 Rn. 64; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht AT, 5. Aufl., 2004, § 13 / 17; Winkelmann, Probleme der Fahrlässigkeit im Umweltstrafrecht, 1991, S. 67; ebenso OLG Frankfurt NJW 1987, 2753 ff., 2757, während BGHSt 38, 325 den Sonderfall der kommunalen Abwässer (mit Herrschaftsposition des Bürgermeisters!) betraf. 45 Dazu Sprau, in: Palandt, BGB, 66. Aufl. 2007, § 823 Rn. 173 m.w.Nachw. 42 43

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Bundesgerichtshof in der Aufsehen erregenden Lederspray-Entscheidung auch eine entsprechende strafrechtliche Garantenstellung angenommen46. Zur Begründung hat er auf Ingerenz abgestellt, was aber schon deshalb in die Irre führt, weil diejenigen Personen, die bei der Herstellung gehandelt haben, mit den später entscheidenden Personen selten identisch sein werden47. In Wahrheit geht es um eine ganz andere Konstellation, nämlich um die nur in gewissen Fällen bestehende Übernahme einer Obhut über die Hilflosigkeit des Rechtsguts, vergleichbar mit der Garantenstellung des Arztes für die Gesundheit seines sich ihm anvertrauenden Patienten. Denn Markenware – und nur Markenware! – wird in der modernen Industriegesellschaft mit dem Versprechen vertrieben, dass sich der Produzent weiterhin um ihre Sicherheit und Gefahrlosigkeit kümmert, und gerade deswegen kauft ein Kunde die viel teurere Markenware und vertraut sich der weiteren Sorge des Produzenten an. Ein Beispiel bieten etwa Fahrzeuge, bei denen der Produzent ganz gezielt mit ihrer Sicherheit wirbt und damit bei seinen Kunden ein ganz ähnliches Vertrauen bewirkt wie der Arzt bei seinen Patienten. Allein bei Markenware besitzt der Produzent deshalb eine Garantenstellung zur Warnung48 des Konsumenten, wenn ihm auf Grund der von ihm zumindest konkludent zugesicherten Produktbeobachtung nachträglich unerlaubte Risiken bekannt werden49 – was übrigens BGHSt 37, 106 ff. Meine eigene Kritik findet sich in Breuer / Kloepfer / Marburger / Schröder (Hrsg.), Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen, 1994, S. 137, 163 ff. Wegen der Vielfalt der in der Lederspray-Entscheidung zu entscheidenden dogmatischen Probleme ist die Zahl der dazu ergangenen Rezensionen fast unübersehbar, siehe Armbrüster, JR 1993, 317; Beulke / Bachmann, JuS 1992, 737, 739; Böse, wistra 2005, 41; Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 104 f.; Brammsen, Jura 1991, 533 ff., und ders., GA 1993, 97, 102 ff., 113 f.; Braum, KritV 1994, 179; Deutscher / Körner, wistra 1996, S. 292 und 327 (Teil II); Göhler, wistra 1991, 207; Haeusermann / Ringelmann, ZStW 109 (1997), 444; Hamm, StV 1997, 159; Hassemer, JuS 1991, 253; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 110 f.; ders., ZUR 1995, 63; Hilgendorf, NStZ 1993, 10; ders., NStZ 1994, 561; ders., Pharma Recht 1994, 303, 561; ders., GA 1995, 515; Hirte, JZ 1992, 257; Hoyer, GA 1996, 160, 173; Jakobs, FS Miyazawa, 1995, 419 ff.; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 613; Kienle, NVwZ 1996, 871; Kuhlen, NStZ 1990, 566, 569; ders., JZ 1994, 1142; ders., GA 1994, 347; ders., FS Eser, 2005, S. 359 ff.; Kurzawa, VW 1991, 1079; Langkeit, WiB 1995, 1016; Marxen, EWiR 1990, 1017; Meier, NJW 1992, 3193; Molitoris, PHI 1997, 225; ders., PHI 2000, 33; Nehm, in: DAV (Hrsg.), Produkthaftung, 2001, S. 7 ff.; Neudecker, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen, 1995; Otto, WiB 1995, 929; ders., FS Hirsch, 1999, S. 291 ff.; Puppe, JR 1992, 30 ff.; dies., JZ 1994, 1147; dies., Jura 1997, 408; Ransiek, ZGR 1999, 613; Rotsch, wistra 1999, 321; Samson, StV 1991, 182, 184; Schmid, FS Max Keller, 1989, 647; Schmidt-Salzer, NJW 1990, 2966 ff.; ders., PHI 1990, 234; Schulz, ZUR 1994, 26; Seelmann, ZStW 108 (1996), 652; Rudolphi, in: SK-StGB, § 13 Rn. 39b; Vieweg / Schrenk, Jura 1997, 561; Weimar, GmbHR, 1994, 82; Wohlers, JuS 1995, 1019. Zum Garantenproblem eingehend Roxin (o. Fn. 16), S. 778 ff. 48 Und nicht zum Rückruf, wie BGHSt 37, 106 in Übernahme der zivilrechtlichen Rechtsprechung irrig gemeint hat: Die Herrschaft des Produzenten über die Hilflosigkeit des Konsumenten hat seinen Informationsvorsprung zur notwendigen (wenn auch nicht hinreichenden) Bedingung, so dass bereits mit der Aufklärung des Konsumenten die Herrschaft und damit auch die Garantenstellung erlöschen. 46 47

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in einer prästabilierten Harmonie mit den realen Handlungsbedingungen steht: Anonyme Waren sind in der Massengesellschaft sowieso unauffindbar und genießen kein spezifisches Vertrauen des Konsumenten. Auch in diesem Brennpunkt des modernen Wirtschaftsstrafrechts führt also allein die Herrschaftstheorie zu einer überzeugenden Begründung und Begrenzung des unechten Unterlassungsdelikts. Die Kritik, die kürzlich Kuhlen an dieser Eingrenzung der strafrechtlichen Produkthaftung nach Produktauslieferung auf die unterlassene Warnung vor den nachträglich erkannten Gefahren von Markenware geübt hat49a, scheint mir die Richtigkeit meines dogmatischen Ansatzes eher zu bestärken als zu erschüttern. Denn von Kuhlen wird – fast noch unverblümter als in der von mir eingangs kritisierten Begründung Weigends – kein Wort zur dogmatischen Begründung einer Begehungsgleichheit des Unterlassens verloren, sondern die Garantenstellungspflicht „auf Präventions- und Fairnesserwägungen gestützt“ (FS Eser, 364), was aber schon im Ansatz keine Gleichstellbarkeit mit einer aktiven Verletzungshandlung, sondern nur die soziale Nützlichkeit einer Hilfspflicht des Warenproduzenten begründen kann. Dass die „Annahme einer Garantenstellung . . . präventiv geboten ist, (weil sie) konkurrenzlos effektiv ist“, ist eine klassische Normherleitung qua ökonomischer Analyse des Rechts, die aber im Strafrecht am nullum-crimen-Satz scheitert und allein im Zivilrecht eine Produkthaftung durch Rechtsfortbildung zu tragen vermöchte (weshalb es auch kein Zufall ist, dass Kuhlen Bodewigs zivilrechtliche Monographie „Der Rückruf fehlerhafter Produkte“, 1999, allein zehnmal mit der Wertung „eingehend und zutreffend“ als zentrale Belegstelle benutzt). Dass die strafrechtliche Garantenpflicht nur eine Warnung des Konsumenten und keinen (allein zivilrechtlich relevanten) Rückruf verlangen kann, folgt schon aus den Grundsätzen der objektiven Zurechnung, weil die eigenverantwortlichen Handlungen eines über die Risiken aufgeklärten Konsumenten nicht mehr dem Produzenten zugerechnet werden können (der ja nicht einmal die Rechtsmacht zu ihrer Verhinderung besitzt), während Kuhlens Meinung, der über die bloße Warnung hinausgehende „Sicherheitsgewinn“ eines Rückrufs sei evident (FS Eser, 365), abermals die strafrechtsspezifische Zurechnung durch eine zivilrechtliche Interessenabwägung ersetzt. Dass Kuhlen bei diesem Ansatz die Einschränkung auf Markenware „wenig einleuchtend“ findet, leuchtet umgekehrt mir wenig ein, weil sie ja nicht nur (wie dargelegt) strafrechtlich aus der Gleichstellungsbedingung der Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsguts folgt, sondern auch die Verkehrserwartung und ökonomische Realisierbarkeit eindeutig hierauf beschränkt sind. Oder hat man jemals etwas davon gehört, dass ein Bauer einen Sack Kartoffeln nach Verkauf weiter beobachtet und ggf. zurückgerufen hat? 49 Schünemann, in: FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, Band IV, S. 621, 640 f.; zustimmend Schmucker, Die „Dogmatik“ einer strafrechtlichen Produktverantwortung, 2001, S. 150 f. In der Grundkonstruktion ebenfalls zustimmend, aber ohne die Einschränkung auf Markenware Roxin (o. Fn. 16), S. 783. 49a FS Eser, 2005, S. 359 ff. sowie zusammenfassend in: Achenbach / Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, S. 41, 57 f.

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5. Abschließend möchte ich noch einige Bemerkungen zur bisherigen Auswirkung meiner Herrschaftstheorie im nationalen und internationalen Raum machen. a) In der Rechtsprechung des BGH ist sie nur dort ausdrücklich benutzt worden, wo mit ihrer Hilfe Garantenstellungen begründet werden können, die von der traditionellen formellen Rechtspflichttheorie nicht gedeckt sind. Dies gilt etwa für die Garantenstellung des Inhabers oder des Leiters eines Wirtschaftsunternehmens bezüglich der rechtsgutsverletzenden Handlungen der Mitarbeiter. Hier versagt die formelle Rechtspflichttheorie vollständig, während nach der Herrschaftstheorie für den Fall, dass der Untergebene den Anweisungen seines Chefs ohne weiteres folgen würde und also eine tatsächliche Geschehensherrschaft besteht, die Garantenstellung des Chefs überzeugend begründet werden kann. Andererseits hat die Herrschaftstheorie in den Fällen, in denen sie zu einer Einschränkung des unechten Unterlassungsdelikts führt, in der Rechtsprechung des BGH bisher keine Gefolgschaft gefunden, was sich durch bestimmte Züge der neueren Judikatur erklärt: Diese hat grundsätzlich eine Tendenz zur Strafbarkeitsausdehnung und bedient sich deshalb der in der Wissenschaft entwickelten dogmatischen Konstruktionen wie in einem Supermarkt, indem sie bevorzugt das herausgreift, was zu dem von ihr intuitiv gewünschten Ergebnis passt50. Freilich könnte sich in dieser Hinsicht eine Änderung anbahnen, nachdem sich unser gemeinsamer Lehrer Claus Roxin in seinem Lehrbuch meiner Herrschaftstheorie angeschlossen hat51. b) Auch international ist die Herrschaftstheorie nicht nur in Spanien, sondern darüber hinaus auf erhebliches Interesse gestoßen. In den Beschlüssen auf dem 13. Internationalen Strafrechtskongress in Kairo 1984 über die Reichweite des unechten Unterlassungsdelikts hat der Kongress ausdrücklich an das Herrschaftsprinzip angeknüpft und den Garanten durch den Besitz der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ definiert, in der englischen Fassung mit folgenden Worten: „having the power to dominate some essential conditions of the materialization of the typical event“52. In Spanien ist die Herrschaftstheorie von führenden Dogmatikern aufgegriffen worden, wobei sich vor allem Luis Gracia Martín und Jesus Maria Silva Sánchez in tiefschürfenden Analysen um eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes verdient gemacht haben53. Auch in der Konzeption des unechten UnterlassungsVgl. Schünemann, GA 1995, 201, 223 ff.; ders., GA 2001, 205, 216 ff. Roxin (o. Fn. 16), S. 717 ff. 52 Revue Internationale de Droit Pénal 1985, 489, 491, 495. 53 Zur Position von Gracia Martín siehe vor allem dessen oben in Fn. 41 nachgewiesenen umfassenden Aufsatz zur Garantenstellung in Wirtschaftsunternehmen; ferner ders., in: Estudios de derecho penal, Lima 2004, S. 140 ff.; ders., in Modernas tendencias (o. Fn. 14), S. 411 ff. Silva Sanchez hebt als Gleichstellungsgrund ausdrücklich die „Herrschaft über den verletzenden Kausalverlauf“ hervor (Festschrift Roxin, 2001, S. 641, 645) und erklärt Begehung und unechte Unterlassung als normativ identische Formen der Herrschaft über das tatbestandsmäßige Risiko (in: Cobo del Rosal (Hrsg.), Comentáríos al Códígo Penal I, Madrid 1999, S. 455); siehe auch die Zusammenfassung seiner eingehenden Analysen in: El delito de omisión, 1986, S. 368 ff. 50 51

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delikts bei Santiago Mir Puig stellt die „personale Herrschaft“ (control personal) das entscheidende Kriterium dar54, und zu der Unterlassungskonzeption von Enrique Gimbernat Ordeig laufen zahlreiche Verbindungslinien, die sich in einer weitgehenden Übereinstimmung in den Ergebnissen bewahrheiten55. Und erst recht im Völkerstrafrecht lässt sich das Herrschaftsprinzip als Grundlage der in der neueren Rechtsprechung allgemein anerkannten Begehung durch Unterlassen nicht mehr hinwegdenken.56 V. Auswegweiser des Gesetzgebers? 1. In den Strafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts ist das Unterlassen als Form des strafbaren Verhaltens nur im Besonderen Teil und auch dort nur selten erwähnt worden, weil man auf eine zukünftige allgemeine Lösung des Problems durch Rechtsprechung und Wissenschaft vertraute.57 Das scheint uns heute mit der Garantie „nullum crimen sine lege“ unvereinbar zu sein. Aber was kann der Gesetzgeber hier wirklich leisten? Bei den modernen Kodifikationen des Strafrechts, die im 20. Jahrhundert geschaffen wurden, stand er vor derselben schwierigen Aufgabe wie die Jurastudenten, deren Wissensdurst entweder von einer armseligen Strafrechtsdogmatik nicht gestillt oder aber von einer ebenso komplizierten wie unübersichtlichen Dogmatik in Verwirrung verwandelt wird. Es ist faszinierend und zugleich lehrreich, wenn man die aufeinander aufbauenden Strategien studiert, mit deren Hilfe der deutsche, der spanische und der kolumbianische Gesetzgeber einen Ausweg aus diesem Dilemma durch eine Definition der Bedingungen gesucht haben, unter denen ein („unechtes“) Unterlassen dem aktiven Tun gleichgestellt und gleich diesem als Begehungsdelikt bestraft werden kann. 2. Der deutsche Gesetzgeber der Strafrechtsreform von 1969 sagte sich wie Sokrates, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, und formulierte deshalb in § 13 Abs. 1 StGB nur zwei allgemeine Grundsätze, nämlich das „rechtliche Einstehen-Müssen“ und die sog. „Entsprechensklausel“. Mit dem ersten Kriterium wollte er die 54 So Mir Puig, Derecho Penal, parte general, 7. Aufl. 2004, § 12 Rn. 38 f. Wegen der näher bei der normativistischen Konzeption von Jakobs liegenden Position Bacigalupos, in: Conde Pumpido Ferreiro [Hrsg.], Código Penal. Doctrina y jurisprudencia, Bd. I, Madrid 1997, S. 432 ff. kann ich an dieser Stelle nur auf meine eigene Auseinandersetzung mit Jakobs verweisen, in: Revista del Poder Judicial 51, 203 ff. Cerezo Mir schließlich befürwortet zwar die Regelung von Art. 11 CP aus Gründen der Gesetzlichkeit und der Rechtssicherheit, steht in der Sache aber vollständig auf dem Boden der Funktionenlehre (Derecho Penal, Parte General, 2. Aufl. 2000, S. 226 ff.; ebenso Calderón Cerezo, Codigo Penal Comentado, 2005, S. 23), die ohne die Herrschaftstheorie, wie ich oben im Text dargelegt habe, in der Luft hängen würde. 55 Dazu im einzelnen Schünemann (u. Fn. 64), S. 1609, 1628 f. 56 Eingehend dazu Berster, Die völkerstrafrechtl. Unterlassungsverantwortlichkeit, Münchener jur. Diss. 2008. 57 Näher Schünemann Grund und Grenzen (o. Fn. 4), S. 48 ff.

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(in der Rechtsprechung der NS-Zeit zu beobachtende) Ableitung von Garantenstellungen aus bloß moralischen Pflichten unterbinden, aber nicht etwa die formelle Rechtspflichttheorie festschreiben, was durch die hinzugefügte Entsprechensklausel klargestellt wurde.58 Damit reduzierte sich der Begriff des „rechtlichen Einstehen-Müssens“ freilich auf die Verletzung der strafrechtlichen Erfolgsabwendungspflicht und geriet zu einer Tautologie. Dasselbe gilt für die Entsprechensklausel, die sich wegen der (in Abs. 2 lediglich abgeschwächten) Identität der Rechtsfolge eigentlich von selbst versteht59. Immerhin macht § 13 StGB doppelt deutlich, dass es um eine strafrechtsspezifische Gleichstellung geht, so dass die Lösung auf dem Gebiet der strafrechtlichen Zurechnung und nicht in abstrakten Pflichtkonstruktionen oder Fairnesskonzepten zu suchen ist. Das ist eine „Minimallösung“, die ganz sicher nicht falsch ist, aber auf die dogmatische Lösung durch die Wissenschaft vertraut – nicht anders als der Gesetzgeber des Jahres 1871. 3. Der spanische Gesetzgeber von 1995 hat dagegen in Art. 11 Satz 1 CP zwar zunächst die beiden allgemeinen Grundsätze des § 13 StGB übernommen, sie aber dann ausdrücklich in Satz 2 für erfüllt erklärt, wenn (lit. a) eine „spezielle Handlungspflicht aus Gesetz oder Vertrag“ gegeben ist, was direkt an Feuerbach anknüpft, oder wenn (lit. b) der Unterlassung ein gefährliches Verhalten vorangegangen ist, womit er die im Kausalmonismus des strafrechtlichen Naturalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts als zentraler Grund für die Gleichstellung des Unterlassens mit dem aktiven Tun angesehene „Ingerenz“60 hinzugefügt hat. Art. 11 Satz 2 CP wiederholt damit exakt jene „formale Vereinigungstheorie“ aus Gesetz, Vertrag und vorangegangenem Tun, die um 1930 der in Deutschland herrschenden Meinung entsprach61, deren gravierende Fehler dann aber, wie oben dargelegt, von Schaffstein und Nagler aufgedeckt wurden62. Es war deshalb keine weise Entscheidung des spanischen Gesetzgebers, die im Grunde längst obsolete Zu deren Genese instruktiv Roxin, FS Lüderssen, 2002, S. 577 f. Dementsprechend für weitgehend überflüssig erklärt von Roxin (Fn. 59). 60 s. o. III, 2; weit. Nachw. b. Schünemann, Grund und Grenzen (o. Fn. 4), S. 218 f.; siehe ferner Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 26 ff.; Schünemann, ZStW 96 (1984), 287, 289 f. 61 Unangefochten in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, siehe RGSt 58, 130 ff., 244 ff.; 63, 392 ff.; 64, 273 ff.; 66, 71 ff. Für die Kombination der auf Gesetz und Vertrag gegründeten, von Traeger (Das Problem der Unterlassungsdelikte im Straf- und Zivilrecht, 1913, S. 66 ff., 83 ff.) erneuerten Rechtspflichttheorie mit der Ingerenztheorie repräsentativ bereits v. Liszt (o. Fn. 13), S. 133 f. (obwohl er mit Recht den „Streit um die Kausalität der Unterlassung als einen der unfruchtbarsten, welchen die strafrechtliche Wissenschaft je geführt hat“, bezeichnet); v. Liszt / Eb. Schmidt, 26. Aufl. 1932, S. 172 f., 189 ff.; weit. Nachw. bei Schünemann, ZStW 96 (1984), S. 291 Fn. 16. Zurückhaltender Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, Einl. IV vor § 1. Weil das Reichsgericht auch bei der Ingerenz eine „Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung“ postulierte (o. Fn. 21, ferner etwa RGSt 64, 276 m. weit. Nachw.), spricht man gewöhnlich, aber stricto sensu inkorrekt von der „formellen Rechtspflichttheorie“ (Schünemann, Grund und Grenzen [o. Fn. 4], S. 218 ff.; Roxin [o. Fn. 16], S. 714). 62 Schaffstein, Festschrift Graf Gleispach, 1936, S. 70 ff.; Nagler, GS 111, 1, 59 ff. 58 59

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formelle Rechtspflichttheorie in den Código Penal hineinzuschreiben, und es kann umgekehrt aus deutscher Sicht nur begrüßt werden, dass die spanische Strafrechtswissenschaft ganz überwiegend keinen sklavischen Gehorsam leistet, sondern die in § 11 Satz 2 CP aufgeführten Gleichstellungsbedingungen entweder für weder notwendig noch für hinreichend erklärt oder sie stillschweigend so extensiv interpretiert, dass zahlreiche andere Garantenstellungen anerkannt werden, die eigentlich nicht darunter passen63. 4. Während sich der deutsche Gesetzgeber 1969 bei Verabschiedung des § 13 StGB einer im Hinblick auf die damals ungeklärte dogmatische Situation weisen Zurückhaltung befleißigt und der spanische Gesetzgeber in Art. 11 CP in (wie vorstehend dargelegt) misslungener Form obsolete Anschauungen wieder zu beleben versucht hat, hat der neue kolumbianische Código Penal64 die Modernisierungsaufgabe entschlossen angepackt und bei ihrer Lösung die Herrschaftstheorie zwar nicht fugenlos, aber sowohl in ihrem Grundkonzept als auch in ihren zentralen Formulierungen und damit außerordentlich weitgehend übernommen. Weil Art. 25 Abs. 2 CPCol die Garantenstellungen im einzelnen aufführt, kann die in Abs. 1 vorausgesetzte Rechtspflicht nicht als außerstrafrechtliche im Sinne der formellen Rechtspflichttheorie, sondern nur als strafrechtliche Folge der Garantenstellungen verstanden werden, die bereits in Art. 1 Satz 2 in die beiden Gruppen der Übernahme des konkreten Schutzes über das Rechtsgut und der Überwachungs-Garantenstellung bezüglich einer bestimmten Gefahrenquelle aufgegliedert und in Abs. 2 Nr. 1 durch den „eigenen Herrschaftsbereich“ ganz in dem von mir entwickelten Sinn charakterisiert werden. Die in Abs. 2 Nr. 2 und 3 ausdrücklich angesprochenen Lebens- und Gefahrengemeinschaften sind selbstverständlich nur ein Unterfall der in Nr. 1 bereits erfassten Obhuts-Garantenstellungen, so dass sich die ganze

Dazu näher Schünemann, FS Gimbernat Ordeig, Madrid 2008, S. 1609, 1612 f. Ley 599 von 2000 mit folgender Regelung der unechten Unterlassungsdelikte in Art. 25 CPCol: Art. 25.-Acción y omisión. La conducta punible puede ser realizada por acción o por omisión. Quien tuviere el deber jurídico de impedir un resultado perteneciente a una descripción típica y no lo llevare a cabo, estando en posibilidad de hacerlo, quedará sujeto a la pena contemplada en la respectiva norma penal. A tal efecto, se requiere que el agente tenga a su cargo la protección en concreto del bien jurídico protegido, o que se le haya encomendado como garante la vigilancia de una determinada fuente de riesgo, conforme a la Constitución o a la ley [9o, 84 párr. 3o, Const. Pol. 6o, 122] Son constitutivas de posiciones de garantía las siguientes situaciones: 1. Cuando se asuma voluntariamente la protección real de una persona o de una fuente de riesgo, dentro del propio ámbito de dominio. 2. Cuando exista una estrecha comunidad de vida entre personas. 3. Cuando se emprenda la realización de una actividad riesgosa por varias personas. 4. Cuando se haya creado precedentemente una situación antijurídica de riesgo próximo para el bien jurídico correspondiente [ 131, 152; Const. Pol. 92 num. 2] Parágrafo.-Los numerales 1, 2, 3 y 4 solo se tendrán en cuenta en relación con las conductas punibles delictuales que atenten contra la vida e integridad personal, la libertad individual, y la libertad y formación sexuales [101 a 134, 165 a 177, 198 a 219]. 63 64

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Regelung allein durch die in Nr. 4 ausdrücklich erfasste Ingerenz-Garantenstellung bei Verursachung eines unerlaubten Risikos außerhalb der vom Herrschaftsprinzip bezeichneten Grenzen bewegt65. 5. Was vor vierzig Jahren in Göttingen begonnen hat, scheint deshalb eine Lebenskraft zu beweisen, auf die damals Knut Amelung und ich wohl nur in unseren geheimen Träumen zu hoffen gewagt haben: Seine Forschungen zu Grund und Grenzen der Strafgesetzgebung sind heute aktueller und wichtiger denn je, und meine Bemühungen um Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte finden heute national und international weiterhin Resonanz. Und – horribile seu admirabile dictu – beide haben, ebenso wie ihre Erzeuger, die Insolvenz der Verlage, in denen sie das Licht der Welt erblickt haben, überlebt. Ad multos annos!

65 Die Möglichkeiten, unter Rückgriff auf Abs. 1 Satz 2 die Ingerenzfälle doch wieder auf die Herrschaft über eine Gefahrenquelle zu beschränken, müssen hier ebenso unerörtert bleiben wie die im hinzugefügten Paragraphen von Art. 25 CPCol vorgenommene Beschränkung der Gleichstellung auf bestimmte Rechtsgüter, die offenbar im Anschluß an die Theorie von Armin Kaufmann und Schöne erfolgt ist und dadurch freilich in die Gesamtregelung einen (restriktiv wirkenden) Fremdkörper hineinbringt.

Die Strafbarkeit eines nicht indizierten ärztlichen Eingriffs Von Detlev Sternberg-Lieben

Die kontinuierliche Weiterentwicklung medizinischer Mittel hat nicht nur das Bedürfnis prospektiver Patienten geweckt, sich bestimmte Formen ärztlichen Zugriffs auf ihren Körper zu verbitten (Stichwort: Patientenverfügung). Umgekehrt wirft ärztliches Handeln, das sich nicht mehr nur als (Heilungs-)Bedürfnisse befriedigende, sondern als eine darüber hinausgreifende, Patientenwünsche erfüllende Medizin (Stichwort: „Enhancement“ 1) darstellt, die Frage nach den auch strafrechtlichen Grenzen entsprechenden ärztlichen Tuns auf. Als Stichworte seien hier nur reine Schönheitsoperationen ohne medizinische Veranlassung,2 eine medizinisch nicht gebotene Kaiserschnittentbindung („Wunschsectio“)3 oder die aus welchen Gründen auch immer erfolgende Abtrennung gesunder Körperteile4 genannt. All dies gibt Anlass, der Frage nachzugehen, ob – und wenn ja: in welchem Umfang – entsprechendes ärztliches Handeln allein auf Basis der vom Betroffenen 1 Perfektionierung des Menschen namentlich durch Einsatz von Biotechnologien. Ob verbessernder bzw. optimierender Eingriffen zur Behebung von Körperzuständen auch ohne Krankheitswert durch Rekurs auf die »Natur des Menschen« Einhalt geboten werden soll und darf, dies bildet derzeit eines der Diskussionsfelder medizinbezogener moralphilosophischer Auseinandersetzung, vgl. nur Clausen, Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006), 391 ff.; Urban, ebd., 52 ff.; Wiesing, ebd., 323 ff.; sowie Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, 2007, S. 9 ff., s. a. zuletzt Eberbach, MedR 2008, 325 ff. 2 Zur Abgrenzung zwischen reinen Schönheitsoperationen und (auch) medizinisch indizierten Eingriffen: Eser, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 223 Rn. 50b m. w. N.; Lorz, Arzthaftung bei Schönheitsoperationen, 2007, S. 38 ff. 3 Hierzu Hickl / Franzki, Gynäkologe 35 (2002), 197 ff. (Stellungnahme der AG Medizinrecht in der Dtsch. Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe); sowie Bockenheimer, EthMed 14 (2002), 186 ff.; Schlund / Ottenjahn, MMW-FortschrMed 145 (2003), 18; Ulsenheimer, unter: www.nwgg.de / arciv / pdf / ulsenheimer.de (abgerufen im Januar 2008). 4 Hierbei reicht die Bandbreite möglicher „Patienten“-Wünsche von dem (ggf. aus einer psychischen Erkrankung herrührenden) Begehren, auf diese Weise den eigenen Körper zu vervollkommnen (sog. Wannabes; hierzu eingehend Nitschmann, ZStW 119 [2007], 548 ff.) über den (jedenfalls vorstellbaren) Wunsch nach Amputation zwecks Vorbereitung einer „Bettlerkarriere“ bis hin zur (zukünftigen) Zielstellung, durch Einsatz einer optimierten Prothese für einen ursprünglich nicht behinderten Athleten (zum „Techno-Doping“ vgl. FAZ vom 15. 1. 2008, S. 28, bzw. 18. 1. 2008, S. 35), den „Einbau“ wettkampfoptimierter Knochen oder gentechnisch bewirkte Körperveränderungen sportlichen Ruhm und die hiermit verbundenen finanziellen Vorteile zu erlangen.

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erteilten Einwilligung strafbarkeitsbefreiende Legitimation erfährt. Diesen Überlegungen in einer Festgabe nachzugehen, die mit Knut Amelung einem von mir hochgeschätzten Strafrechtswissenschaftler gewidmet ist, ist mir nicht nur wegen seines im Schrifttumsverzeichnis dieser Festschrift dokumentierten, steten Interesses an Rechtsproblemen der Einwilligung, sondern auch deshalb ein Bedürfnis, weil der Jubilar von Anfang an der Nestor des Strafrechts an der von seinem Wirken nachhaltig geprägten, zu seiner großen Freude allen politischen Querelen zum Trotz fortbestehenden Juristischen Fakultät in Dresden war und ist. I. Medizinische Indikation des Heileingriffs keine Voraussetzung für seine Straflosstellung Ob ein ärztlicher Eingriff, für den keine medizinische Indikation (mehr) besteht, überhaupt noch als ein zulässiger Heileingriff angesehen werden kann, ist bekanntlich umstritten,5 wobei dies zuletzt von einem Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe6 im Falle einer riskanten Laserbehandlung zur Behebung einer erheblichen Sehschwäche verneint wurde. Die Notwendigkeit einer medizinischen Indikation für eine Straflosstellung körperverletzenden ärztlichen Handelns könnte sich daraus herleiten lassen, dass man – anders als die ständige Rechtsprechung7 – einen medizinisch indizierten, von einem Arzt lege artis (erfolgreich) durchgeführten Heileingriff aus dem Tatbestand der Körperverletzungsdelikte auch des Strafgesetzbuches ausgeklammert sehen will.8 Fehlt nun die medizinische Indikation als die nach allen Spielarten dieser Auffassung unerlässliche Grundvoraussetzung eines von den §§ 223 ff. StGB nicht zu erfassenden ärztlichen Heileingriffs, so steht zumindest fest, dass dieses ärztliche Handeln dem Anwendungsbereich der 5 Hierzu näher Verf., Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 192 ff., sowie zuletzt Duttge, MedR 2005, 706 ff. (unter dem Blickwinkel eines kontraindizierten Eingriffs); jeweils m. w. N. 6 MedR 2003, 104 ff. 7 Grundlegend: RGSt 25 , 375, 378: Das Reichsgericht ging 1894 in seinem bahnbrechenden Judikat, in dem zusätzlich im Gegensatz zur damals herrschenden Rechtslehre (vgl. die Nachweise bei Noack, Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, 2004, S. 20 ff.) einer Einwilligung des Rechtsgutsträgers rechtfertigende Wirkung zugesprochen wurde, allerdings noch davon aus, dass ohne weitere Aufklärung allein durch das Aufsuchen des Krankenhauses durch den Kranken eine präsumtive Zustimmung vorgelegen habe, die aber wirksam widerrufen worden sei (ebd., 383); nach Rückverweisung an das Landgericht sprach i.Ü. die dortige Strafkammer den Arzt frei, da Gefahr im Verzuge bestanden habe; sehr instruktiv zu den Protagonisten dieses Strafverfahrens: Noack, ebd., S. 29 ff.; ferner BGHSt 11, 111, 112; 45, 219, 221; für den Bereich des Zivilrechts: RGZ 68, 431; 151, 349, 352; BGHZ 29, 46, 49. Noack (ebd., S. 38 ff.) macht zudem auf eine ursprünglich viel diskutierte, mittlerweile dem Vergessen anheim gefallene Entscheidung des OLG Dresden aus dem Jahre 1897 aufmerksam, in der in einer gegen den Wunsch der Patientin durchgeführten Operationserweiterung (Eileiter- und Eierstockentfernung) eine zum Honorausschluss (!) führende rechtswidrige Körperverletzung gesehen wurde. 8 So bekanntlich die herrschende Literaturauffassung (für alle Eser, in: Schönke / Schröder [o. Fn. 2], § 223 Rn. 30 ff. m. w. N.).

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Körperverletzungstatbestände nicht von vornherein entzogen ist, da eine medizinische Indikation als privilegierender Tatbestandsausschlussgrund9 nicht vorliegt.10 Bei der sich anschließenden Überlegung scheiden sich aber die Geister: Während ganz überwiegend ein indikationsloses Handeln zwar dem Straftatbestand des § 223 StGB zugeordnet, eine Rechtfertigung dann aber infolge der erteilten Einwilligung für möglich erachtet wird,11 gelangen andere Autoren12 zu dem Ergebnis, es läge eine Strafbarkeit13 wegen vorsätzlicher Körperverletzung vor. Es besteht jedoch keine Veranlassung, im Bereich ärztlicherseits bewirkter Körperverletzungen gleichsam ein Sonderrecht14 zu statuieren (sei es im tatbestandlichen Bereich des § 223 StGB15 für einen Heileingriff, sei es eben auch für eine S. a. Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, S. 102. Daraus kann aber sicherlich nicht im Gegenschluss einfach die Annahme hergeleitet werden, dass bei fehlender Indikation strafbares Unrecht verwirklicht wird (abl. auch – i.Z.m. einer kontraindizierten Behandlung – Schroth, in: Roxin / Schroth [Hrsg.], Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 21, 42). 11 Z. B. Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 2), § 223 Rn. 50; ders., ZStW 97 (1985), 16 f., 24 f.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl., 2008, Rn. 57b. 12 Soweit hierfür überhaupt eine Begründung gegeben wird, wird dem Eingriff ohne medizinische Indikation eine stets zur Sittenwidrigkeit i.S.v. § 228 StGB führende Standeswidrigkeit beigemessen: Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., 1993, Rn. 488 (in Bezug auf die Anwendung einer aussichtslosen Therapie) oder ohnehin zur Rechtfertigung des Eingriffs im Rahmen einer geforderten Mittel-Zweck-Relation verlangt, dass sich Einwilligung und Indikation verbinden müssten: Geilen, Einwilligung und ärztliche Aufklärungspflicht, 1963, S. 135; ders., NJW 1978, 2345; ebenso: Ehlers, Die ärztliche Aufklärung vor medizinischen Eingriffen, 1987, S. 43: Indikation als Rechtfertigungsgrund, Einwilligung lediglich als Rechtfertigungsschranke. Hierzu zurecht ablehnend Rogall, NJW 1978, 2344; Hruschka, JR 1978, 521 f. 13 Für das Zivilrecht: Kern, MedR 2003, 104: In Behandlungsfehler kann nicht eingewilligt werden; weitere Nachw. aus der durchaus differenzierten zivilrechtlichen Kommentarliteratur bei Duttge, MedR 2005, 706 in Fn. 9. – Zumeist wird insoweit allerdings eine legitimierende Einwilligung für möglich erachtet, für die dann freilich den Arzt eine deutlich erhöhte Aufklärungslast (auch hinsichtlich des Fehlens der Indikation) träfe (vgl. OLG Düsseldorf VersR 2002, 611, 612; OLG Köln VersR 2000, 492; Wagner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl. 2004, § 823 Rn. 666). 14 So betont zuletzt auch Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 558, dass ein Fehlen des medizinischen Legitimationszusammenhangs nicht zu einem von bestehenden rechtlichen Grundsätzen abweichenden Sonderrecht führen und das Autonomieprinzip von vornherein außer Kraft setzen sollte. 15 Dass die hergebrachte Definition der „körperlichen Misshandlung“ als „übles, unangemessenes Behandeln“ der Erfassung ärztlichen Tuns jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn dieses in die Körperintegrität des Patienten eingreift, dies wies Kargl, GA 2001, 538, 547 f. (ebenso Schreiber, FG BGH, Bd. IV, 2000, S. 503, 506; Schroth, in: Neumann / Prittwitz [Hrsg.], „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 113, 120 f.; ders., in: Roxin / Schroth [o. Fn. 10], S. 28 f.) mit seinem auslegungshistorischen Nachweis nach, dass durch diese Subdefinition lediglich zusätzlich Eingriffe ohne Substanzverletzungen oder Gesundheitsbeeinträchtigungen (etwa: Anspucken) erfasst werden sollten; dazu, dass auch durch ein Einstellen der substanzbeeinträchtigenden ärztlichen Maßnahme in einen positiv zu bewertenden Gesamtzusammenhang (sei es durch Inblicknahme des Ausgangs der Behandlung, sei es durch Abstellen auf den ärztlicherseits verfolgten Zweck) das 9

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wegen Standeswidrigkeit infolge fehlender ärztlicher Indikation unwirksamen Einwilligung des Verletzten) und von den sonst geltenden Grundsätzen abzuweichen,16 wonach bei freiverantwortlicher Disposition des Rechtsgutsinhabers infolge Einwilligung die Strafbarkeit entfällt. Zusätzlich ist zu beachten, dass die hergebrachten Grenzen ärztlicher Berufstätigkeit und damit auch des ärztlichen Heileingriffs ohnehin zunehmend verschwimmen; erinnert sei an Schönheitsoperationen, aber auch an ärztliche Hilfestellungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin.17 Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Grenzen medizinischer Indikation als allgemeiner arztrechtlicher Voraussetzung18 zulässigen ärztlichen Handelns19 sind noch nicht absehbar.20 Dies bildet einen weiteren Grund, den Einsatz des scharfen Schwertes des Strafrechts von vornherein nicht auf dem Treibsand sich wandelnden ärztlichen Standesrechts zu verankern.21 Hinzu kommt der Umstand, dass schon der Bezugspunkt der ärztlichen Indikation, nämlich die Krankheit des Patienten, nicht ausschließlich objektiv bestimmt werden kann, sondern als Abweichung vom „Normalen“ die subjektive Sicht des betroffenen Patienten, die von ihm empfundene Belastung, einzube-

bei isolierter Betrachtung verwirklichte Merkmal der „körperlichen Misshandlung“ nicht neutralisiert werden kann: Kargl, ebd., 549 f., sowie Mitsch, Strafrechtlicher Schutz gegen medizinische Behandlung, 2000, S. 19 ff. 16 Und zwar dadurch, dass ein „reasonable standard of good medical practice“ dem Willen des Patienten übergeordnet würde (so Rüping, Jura 1979, 91 f., in seiner Besprechung von BGH, NJW 1978, 1206); ablehnend zur Entmündigung des Patienten durch Gleichsetzung von Kontraindikation und Sittenwidrigkeit auch Schroth, in: Kaumann / Hassemer / Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., 2004, S. 466; ders. (o. Fn. 10), S. 39 ff. 17 Krit. zur Erweiterung des ärztlichen Heilauftrages bereits Laufs, Der ärztliche Heilauftrag in juristischer Sicht, 1969, S. 27 ff., der einen Paradigmenwechsel des ärztlichen Berufes beklagte; s. a. dens., FS Geiger, 1989, S. 228, 230 ff. 18 Insoweit sind als Konsequenzen etwaiger Standeswidrigkeit durchaus berufsrechtliche Sanktionen, aber auch zivilrechtliche Folgen (§§ 138, 823 ff. BGB) vorstellbar; zu den mittelbaren Folgen fehlender Indikation auch für das Strafrecht s. u. im Text (unter IV.). 19 S. Laufs, in: Laufs / Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., 2002, § 6 Rn. 1 f.: Indiziertheit, Einwilligung nach Aufklärung sowie Verfahren lege artis als „die drei zusammenhängenden, nebeneinander erforderlichen Elemente rechtmäßigen ärztlichen Eingreifens“. 20 Hierzu vertiefend Damm / Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101 ff.; s. a. auch (i.Z.m. übermäßigen, d. h. medizinisch nicht indizierten, Behandlungswünschen) Verf., FS Seebode, 2008 (unter III.). 21 Ebenfalls ablehnend Hruschka, JR 1978, 521 f., der in seiner Anmerkung zur bekannten Zahnextraktionsentscheidung von BGH NJW 1978, 1206, hervorhebt, dass zwar der ärztlichen Standesethik das Verbot entnommen werden könne, gegen die wohlverstandenen Interessen des Patienten zu handeln (primum nil nocere); diese Verletzung des Standesrechts könne aber ebenso wenig wie ein sonstiger Verstoß gegen das wohlverstandene Interesse des Einwilligenden (einen Sittenverstoß i.S.v. § 228 StGB und damit) die Unwirksamkeit der Einwilligung begründen, da anderenfalls die Verfügungsfreiheit des Rechtsgutsträgers unter Verstoß gegen das Gebot der Achtung seiner Autonomie und seines Personenseins auf Null zurückgeschnitten würde.

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ziehen hat;22 auch dieser Aspekt spricht für die strafrechtliche Relevanz des Patientenwillens in der vorliegend diskutierten Fragestellung. Wollte man nun die Unzulässigkeit eines ärztlichen Heileingriffs, der ohne ärztliche Indikation allein auf Grund der Patienteneinwilligung durchgeführt wird, annehmen, so würde sich folgende Überlegung aufdrängen: Eine derartige, wegen der Hintanstellung der Selbstbestimmung des Patienten hinter dem Primat einer Bewahrung ärztlichen Standards ohnehin abzulehnende,23 Einwilligungsschranke24 wäre materiell ja letztlich nur damit zu begründen, dass andernfalls das Vertrauen der Allgemeinheit in die Lauterkeit der Ärzteschaft als Basis eines funktionierenden Systems der Heilbehandlung gefährdet würde.25 Ein derartiges Vertrauen in eine ärztliche Praxis, die sich sowohl an fachlich-medizinischen Vorgaben als auch an arztethischen Parametern ausrichtet, wäre indessen allenfalls dann beeinträchtigt, wenn ärztlicherseits „Heil“behandlungen durchgeführt würden, die kontraindiziert wären.26 Ein solcher Vertrauensverlust stünde hingegen nicht zu befürchten, wenn lediglich die Durchführung von nicht indizierten Heilmaßnahmen im Raum steht.27 Mithin würde eine Einwilligung28 des Patienten den vorgenommenen Eingriff auch ohne Vorliegen einer medizinischen Indikation strafrechtlich legitimieren, es S. Joerden, Menschenleben, 2003, S. 101. Vgl. Verf. (o. Fn. 5), S. 192 ff., sowie zuletzt Duttge, MedR 2005, 706 ff. (unter dem Blickwinkel eines kontraindizierten Eingriffs); Schroth, in: Roxin / Schroth (o. Fn. 10), S. 41. 24 Hiervon unberührt bleibt dann die innere Verknüpfung zwischen Indikation und ärztlicher Aufklärungspflicht in ihrer Bedeutung für die Wirksamkeit der Patienteneinwilligung: Je weniger indiziert eine ärztliche Maßnahme ist, desto ausführlicher muss über sie aufgeklärt werden (vgl. nur Eser, in: Schönke / Schröder [o. Fn. 2], § 223 Rn. 40c). 25 Vgl. Horn, JuS 1979, 30 f.: Generalpräventiver Schutz der therapeutischen ärztlichen Wissenschaft vom Missbrauch durch nicht indizierten Gebrauch; s. bereits Engisch, ZStW 58 (1939), 1, 50: Maßgeblichkeit der Einwilligung „um einer zweckmäßigen, von allseitigem Verantwortungsgefühl und Vertrauen getragenen Gesundheitspflege willen.“ 26 Auch für diesen Fall lehnt Duttge, MedR 2005, 706, 709 f., zurecht de lege lata eine Strafbarkeit des Arztes ab und stellt stattdessen die Schaffung eines Straftatbestands des „Patientenverrats“ zur Diskussion, um Fälle offensichtlicher Kontraindikation strafrechtlich erfassen zu können; zu Letzterem abl. Fateh-Moghadam (o. Fn. 9), S. 42 f., Schroth, in: Roxin / Schroth (o. Fn. 10), S. 41 f. 27 Insoweit ist nur an das weite Feld kosmetischer „Schönheitsoperationen“ zu denken, für die regelmäßig kein medizinisch-fachlicher Anlass besteht (vgl. Eser, in: Schönke / Schröder [o. Fn. 2], § 223 Rn. 50b). Derart fließende, in Randbereichen kaum noch plausibel abgrenzbare Konturen des ärztlichen Heilauftrags infolge eines sich wandelnden ärztlichen Berufsbildes finden sich gerade bei „neu erschlossenen“ ärztlichen Tätigkeitsfeldern, etwa in Bezug auf das generative Verhalten des Menschen; für eine vorsichtige Weiterentwicklung der herkömmlichen Typologie ärztlicher Eingriffe auch G. Kirchhof, MedR 2007, 147 ff. 28 Der Frage, ob infolge der Patienten-Einwilligung mangels Rechtsgutsverletzung bereits der Tatbestand der Körperverletzung entfällt (so etwa Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 12 ff., zuletzt auch in seinem Beitrag zu dieser Festschrift, unter II.-V.) oder „erst“ die Rechtswidrigkeit aufgehoben wird (so z. B. – neben der ständigen 22 23

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sei denn, geschriebene (§ 228 StGB) oder ungeschriebene Dispositionsschranken griffen ein. II. Nicht indizierter Heileingriff und die Schranke des § 228 StGB 1. Möglicherweise unterfällt ein nicht indizierter Heileingriff als Verstoß gegen die „guten Sitten“ der Verfügungsschranke29 des § 228 StGB. Ungeachtet der Trennung des auf die Sicherung der äußeren Freiheit der Bürger abzielenden (Straf-) Rechts von Moral und Ethik stellt diese Vorschrift einen Beleg für die Verbindung30 von (Straf-)Recht und Moral dar.31 Angesichts der freiheitswahrenden Funktion der Trennung dieser „Polarität von Recht und Sittlichkeit“32 ist aber zwischen einer – unzulässigen – Ergänzung des positiven Rechts aus einer ungeschriebenen Werteordnung heraus einerseits, der Wertebegründung gerade des Strafrechts andererseits, zu unterscheiden. Von vornherein beiseite gerückt bleiben sollte33 Rechtsprechung – zuletzt BGHSt 49, 34, 40 f.; 49, 166, 169 – Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 95 f.; Mitsch [o. Fn. 15], S. 22; aber auch Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsguts, 1981, S. 26 ff.; ders., Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, 1998, S. 25 ff.; ders. / Lorenz, FS Otto, 2007, S. 527, 531), soll und muss hier nicht entschieden werden. 29 Für den Zweck der vorliegenden Betrachtung ist die verbrechenssystematische Einordnung der Einwilligung (vgl. Fn. 28) ohne Belang; so auch Kühl, FS Jakobs, 2007, S. 293, 301. 30 Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 52, 131, 169 f. – Minderheitenvotum) ging in seiner viel zitierten Entscheidung zur Arzthaftung von einer gemeinsamen Schnittstelle zwischen (Arzt-)Ethik und Recht aus: „Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist, so Eberhard Schmidt (Der Arzt im Strafrecht, in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. Aufl., 1957, S. 2), weit mehr als eine juristische Vertragsbeziehung. ,Die Standesethik steht nicht isoliert neben dem Recht. Sie wirkt allenthalben und ständig in die rechtlichen Beziehungen des Arztes zum Patienten hinein. Was die Standesethik vom Arzte fordert, übernimmt das Recht weithin zugleich als rechtliche Pflicht. Weit mehr als sonst in den sozialen Beziehungen des Menschen fließt im ärztlichen Berufsbereich das Ethische mit dem Rechtlichen zusammen‘.“. 31 Hierzu näher: Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 35 ff.; ders., FS Meurer, 2002, S. 545, 551 ff.; ders., JRE 11 (2003), S. 219 ff.; ders., FS Schreiber, 2003, S. 959, 962 ff.; ders., JRE 16 (2006), S. 243 ff.; ders., in: Düwell u. a. (Hrsg.), Handbuch Ethik, 2. Aufl., 2006, Stichwort „Recht und Moral“; ders., FS Jakobs, 2007, S. 293, 295 ff. 32 Arthur Kaufmann, in: ders., Über Gerechtigkeit, 1993, S. 73, 78: Gegensätzlichkeit bei wesensmäßiger Zusammengehörigkeit. 33 So auch Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 363 ff.; Joerden, JRE 14 (2006), 407, 410 f.; Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 510; Kargl, JZ 2002, 389, 399; Mosbacher, Strafrecht und Selbstschädigung, 2001, S. 182 f.; Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 560 f.; sowie grundsätzlich auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten – Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, S. 61 f.

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deshalb eine Interpretation des Verstoßes gegen die guten Sitten durch einen Rückgriff auf eine vorrechtliche Werteordnung, also durch Anknüpfen an ein (naturrechtsähnliches34) objektiv feststehendes und der Rechtsanwendung vorgegebenes Sittengesetz.35 Dies würde die seit der Aufklärung bestehende, freiheitssichernde Trennung von Recht und Moral36 verkennen: Das Vernunftrecht der Aufklärung brach die vormoderne prinzipielle Einheit von Recht und Moral auseinander und stellte das Recht des modernen Staates in freiheits- und friedenssichernde Distanz und Neutralität37 gegenüber allem Glauben und Meinen.38 Die abzulehnende Ergänzung des positiven (Straf-)Rechts39 aus einer ungeschriebenen Werteordnung heraus ist aber zu unterscheiden von der Wertebegründung gerade des Strafrechts.40 Letztere dient – insoweit entsprechend zur Lehre vom Rechtsgut41 in ihrer systemkritischen Variante – zur rechtsethischen42 bzw. rechtspolitischen Kontrolle des gesetzten Rechts an einem hierüber hinausgreifenden Bezugsmaßstab;43 für die (Straf-)Rechtsanwendung als solche bleibt aber das 34 Zur „Renaissance des Naturrechts“ – z. B. BGHSt (GS) 6, 46, 52 (Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten als „Unzucht“ im Sinne der damaligen Kuppeleidelikte); 6, 147, 153 (Suizidversuch als Unglücksfall i. S. d. § 323c StGB) – nach 1945: Arthur Kaufmann, FS Gagnér, 1991, S. 105 ff.; Kühl, in: Köbler (Hrsg.), Geschichtliche Rechtswissenschaft, S. 331 ff. 35 Zum Folgenden: Verf. (o. Fn. 5), S. 137 ff. 36 Die bloße Moralwidrigkeit als solche birgt eben nicht per se einen Sozialschaden i.S.e. Rechtsgutsbeeinträchtigung (vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 318 ff.); die Körperverletzung als solche vermag ihn – mangels vom Betroffenen ungewollter Einbuße – nicht zu begründen. 37 Ein Rückgriff auf „absolute Werte“ ist für die Rechtsanwendung ohnehin nur dann praktikabel, sofern insoweit auf einen unfehlbaren „Gesetzgeber“ (sei es ein religiöses Oberhaupt: Papst, sei es eine weltliche Höchstinstanz: Zentralkomitee) zurückgegriffen werden kann. 38 Hofmann, JZ 1992, 165, 167. 39 In Bezug auf § 228 StGB bejaht aber von Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 531; s. a. dens., JRE 14 (2006) 243, 249; ebenso Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 111, der eine gesetzliche Verweisung auf überpositive Normen auch im Strafrecht für legitim hält, sofern hiermit durch „größere Gerechtigkeit das positive Recht sicherer“ gemacht würde, ein Kriterium, das meiner Überzeugung nach von § 228 StGB gerade nicht erfüllt wird. 40 Kühl, JRE 11 (2003), 219, 240; Lampe (o. Fn. 39), S. 108 f.; s. a. Starck, FS Geiger, 1974, S. 40 ff.; krit. Appel (o. Fn. 33), S. 380. 41 Hierzu immer noch grundlegend Amelung in seiner o. (Fn. 36) angeführten Monographie; die nachfolgende Diskussion reflektierend ders., in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 155 ff. – Vom 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes allerdings wurde in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 II 2 StGB der Rechtsgutslehre keine den Gesetzgeber limitierende Funktion zugesprochen und ihr Anwendungsbereich in durchaus zweifelhafter Rigidität auf (allenfalls) Strafrechtspolitik und Strafrechtsdogmatik verengt (BVerfG NJW 2008, 1137, 1138, im Anschluss insb. an Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 143 ff., 536). 42 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1993, S. 95 ff., 198 ff. 43 Zu der dem Rechtspositivismus zu dankenden Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte: Renzikowski, ARSP 1995, 335 ff.

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positiv gesetzte Recht44 maßgebend. Auch dann, wenn man angesichts des Rückgriffs des (Straf-)Rechts auf ethisch bedeutsame Sachgehalte wie etwa die Rechtsgüter Leben und Gesundheit ein beziehungsloses Nebeneinander von Recht und Ethik ablehnt,45 bildet nur das staatlich gesetzte Recht angesichts der Pluralität der Lebensverhältnisse und höchstpersönlichen Entwürfe eines guten Lebens einzig46 die noch allen Bürgern gemeinsame Handlungsanleitung.47 Die Basis rechtsgüterschützenden Strafrechtes ist zwar im ethisch-moralischen Bereich anzusiedeln (Verbrechen als sozialethisch unerträgliche Tat, die Tadel verdient48), doch setzt der Strafrechtsanwender nicht unmittelbar „Moral“ (wessen auch?) um.49 2. Die von der Methodenlehre50 herausgearbeiteten Funktionen einer Generalklausel führen bei § 228 StGB nicht zu dessen hinreichender Bestimmtheit: 51 Die 44 Jedenfalls soweit es verfassungskonform ist; insoweit erfolgt durchaus eine – allerdings durch den Verfassungstext (etwa die Menschenwürdegarantie des Art 1 I GG) mediatisierte – Einbeziehung allgemeingültiger Werte in die Rechtsanwendung (vgl. auch Dreier, Recht, Staat, Vernunft, 1991, S. 107; dens., Recht, Moral, Ideologie, 1981, S. 182 f.), da das in bewusster Abkehr von der nationalsozialistischen Un-Rechtsordnung erfolgende Bemühen um ein Ausrichten des Verfassungsgesetzes hin auf ethische Prinzipien dazu führte, dass konsentierte vorpositive Grundwerte und Prinzipien zum Teil der positiven Rechtsordnung (nämlich der Verfassung) wurden. Aber auch dann handelt es sich um Rechtsanwendung in Form von Verfassungsinterpretation und nicht um angewandte Moralphilosophie. Werden ethische Regeln in die Rechtsordnung übernommen, so verlieren ethische Postulate durch diese Einkleidung in die Form des Rechts zwar nicht ihre ethische Rückbezüglichkeit; sie werden aber zu Teilen der Rechtsordnung, die als für alle Bürger gemeinsame Friedensordnung dann aus sich heraus und eben nicht durch Rückgriff auf mehr oder weniger partikulare „Ethiken“ auszulegen bzw. zu ergänzen ist. Die moralische Norm wird also nicht in das Recht aufgenommen, sondern bleibt als solche erhalten und ist Ausgangpunkt der rechtlichen Bestimmung, während die inkorporierende Rechtsnorm sich gegenüber der moralischen Norm verselbständigt. In den Worten von Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935 / 1987, S. 26, Anm. 3: „Einverleibt wird vielmehr nur der in Bezug genommene Norminhalt (ergänze: von Normen der Moral und Sitte), man kann auch sagen: Es werden einverleibt die Worte als Sinnträger.“ 45 Z. B. Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 9; speziell auch für das Arztrecht: Schreiber, FS Dünnebier, 1982, S. 633, 641; Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991, S. 184 f. 46 Anders Kühl, FS Jakobs, 2007, S. 293, 307 f. 47 Ebenso Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, S. 265, der unter Bezug auf Arbeiten von Rawls und Dworkin betont, dass dieser Ansatz für eine pluralistische Gesellschaft, deren moralischer Grundkonsens ja gerade darin bestehe, dass in den Grenzen des Rechts bzw. der äußeren Freiheit eine Vielzahl unterschiedlicher Konzeptionen des „Guten“ nebeneinander bestehen, von vornherein unannehmbar sei. 48 Hierzu Kühl, FS Eser, 2005, S. 149, 153 ff. 49 Es handelt sich vielmehr um eine strafgesetzmediatisierte Moralgültigkeit. Das staatliche Recht bildet also ein selbständiges Subsystem menschlicher Verhaltenssteuerung mit autonomem Regelungszusammenhang gegenüber der Moral (s. a. Maus, Rechtstheorie 20 [1989], 191 ff.; Smid, Einführung in die Philosophie des Rechts, 1991, S. 58, 166 ff.). 50 Nachw. bei Verf. (o. Fn. 5), S. 144 ff. 51 Zum Folgenden: Verf., (o. Fn. 5), S. 144 ff.; ders., GS Keller, 2003, S. 289, 297 f.

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Delegationsfunktion kann von vornherein nicht in Betracht kommen,52 da Art. 103 II GG eine Verschiebung der Entscheidung über die grundsätzliche Strafbarkeit eines Verhaltens vom Gesetzgeber hin zum Rechtsanwender von vornherein versperrt.53 Auch das Abstellen auf eine Rezeptionsfunktion, also die Bindung der strafrichterlichen Entscheidung an die Sozialmoral der Gemeinschaft,54 führt nicht weiter,55 verstieße ein derartiges Verständnis von § 228 StGB doch gegen den Parlamentsvorbehalt, der hier nur mit dem Schlagwort „Wesentlichkeitsvorbehalt“ in Erinnerung gebracht sein soll:56 Wenn das Bundesverfassungsgericht57 zu Recht im Falle von Blankettgesetzen die grundsätzliche Entscheidung über das Ob und Wie der Strafbarkeit dem Gesetzgeber zuweist, so verbietet sich bei Anwendung einer Generalklausel ein Rekurs auf die Sozialmoral als „Ersatzgesetzgeber“ auch in Form einer kontrollierten – also an den Wertentscheidungen der Rechtsordnung überprüften58 – Rezeption, ein Ausweichen, das ohnehin stets den Verdacht nährt, das vom Rechtsanwender ermittelte Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden sei letztlich nichts anderes als dasjenige des Rechtsanwenders selbst.59 Eine bloße Sozialmoral-Widrigkeit als solche verletzt überdies andere Personen nicht in ihren rechtlich geschützten Interessen.60 Ohnedies wäre ein Anbinden strafrichterlicher Entscheidung an die herrschende Sozialmoral angesichts des Wertepluralismus inhaltlich kaum ergiebig.61 Schließlich kann das Merkmal der Abl. auch Kühl, FS Jakobs, 2007, S. 293, 301; ders., JRE 11 (2003), 219, 223. Auf das erhebliche Verführungspotential von Generalklauseln wies bereits Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 71, hin: Sittenrichter sein, nicht Paragraphenknecht. 54 S. BGHSt 49, 34, 41 (Heroin-Verabreichung): Bestimmung der guten Sitten i.S.v. § 228 StGB durch empirische Feststellung bestehender Moralüberzeugungen (letztlich wurde aber entscheidend auf den Umfang der vom Opfer hingenommenen Gesundheitsschädigung und des Grades der damit verbundenen weiteren konkreten Todesgefahr abgehoben: ebd., 44; hierzu krit. Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 533; ders., FS Jakobs, 2007, S. 293, 303). 55 Abl. auch Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten, 1999, S. 66 ff., 80. 56 BVerfGE 49, 89, 126; 98, 218, 245 ff. 57 BVerfGE 14, 174, 185, 245, 252; 78, 374, 382 f.; NStZ 1991, 88. 58 Vgl. Duttge, NJW 2005, 260 f. 59 S. Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 533; krit. zu dieser der zivilgerichtlichen Judikatur (RGZ 48, 114, 124 f.) entlehnten „Anstandsformel“ bereits Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1970, S. 176; s. a. Schmidhäuser, FS Henkel, 1974, S. 234, mit seinem mahnend angeführten Goethe-Zitat: „Was Ihr den Geist des Volkes heißt, das ist im Grunde der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“ (Faust I, Nacht, 577). Die „Anstandsformel“ – angesiedelt auf gleichem Abstraktionsniveau wie das Merkmal „gute Sitten“ – täuscht mithin eine empirische Nachprüfbarkeit des richterlichen Werturteils nur vor; hieran ändert sich letztlich nichts bei einem Abstellen auf vernünftigerweise nicht anzweifelbare, allgemein geteilte Wertmaßstäbe (so die Einschränkung z. B. von BGHSt 49, 34, 41; Stree, in: Schönke / Schröder [o. Fn. 2], § 228 Rn. 6). 60 Auf die deshalb fehlende Legitimierung einer Bestrafung weist Wohlers (o. Fn. 47), S. 271 ff., hin. 52 53

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guten Sitten auch nicht als Verweis auf sonst in der Rechtsordnung enthaltene Verfügungsbeschränkungen verstanden werden (Transformationsfunktion). Eine derartige Funktion62 kann – anders als etwa bei Verwendung des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“ – dem sich auf die „guten Sitten“ beziehenden Normtext gerade nicht entnommen werden. Selbst ein Anknüpfen wenigstens an die strafrechtliche Binnenordnung (also z. B. Unwirksamkeit der Einwilligung in eine Körperverletzung zur Vorbereitung eines Betruges zu Lasten einer Versicherung63) kommt nicht in Betracht: Zum einen sähe sich eine derartige Pönalisierung zu Recht dem Vorwurf unzulässiger Rechtsgutsvertauschung64 ausgesetzt,65 würde doch ein Geschehen als Körperverletzungsunrecht geahndet, das vom Rechtsanwender im Grunde unter einem ganz anderen Aspekt (im Beispiel: dem des Vermögensschutzes) in den Blick genommen wurde. Hiermit verbunden wäre die Gefahr überdehnten Vorfeldschutzes unter Vernachlässigung der gesetzgeberischen Entscheidung für Strafbarkeitsgrenzen (im Beispiel: bereits Strafbarkeit wegen Körperverletzung, obgleich unter dem Blickwinkel des – zur Begründung einer Strafbarkeit wegen Körperverletzung herangezogenen – Betruges zulasten der Versicherung Täter und Opfer der Körperverletzung sich noch im Bereich strafloser Vorbereitung befänden).66 Selbst wenn man unabhängig von diesen Bedenken § 228 StGB eine Transformation- oder Rezeptionsfunktion zusprechen wollte, so wäre dieser Vorschrift keine Entscheidung zwischen diesen beiden Funktionen einer Generalklausel zu entnehmen. Bereits hieraus ist ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit67 abzuleiten. Insoweit kann an die Darlegungen Hassemers in seinem (leider nur) Minderheiten-Votum im bundesverfassungsgerichtlichen Judikat68 zu § 173 II 2 StGB angeknüpft werden: „(Absatz Nr. 79) Unverzichtbarer 61 Kühl, FS Jakobs, 2007, S. 293, 305; Roxin (o. Fn. 28), § 13 Rn. 39 (der ebd. zurecht ergänzend darauf aufmerksam macht, dass eine derartige Auslegung das Rechtsgut der §§ 223 ff. StGB verfehlen würde); Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 587; Verf. (o. Fn. 5), S. 148. 62 Für die Sittenwidrigkeitsregelung des § 138 I BGB hat namentlich Simitis, Gute Sitten und ordre public (1960), S. 77, 165 ff., 195 ff., diese Funktion hervorgehoben. 63 Z. B. Horn / Wolters, in: Systematischer Kommentar, StGB, 7. Aufl. (Stand: August 2003), § 228 Rn. 9. 64 Zu den hierbei aufgeworfenen Fragen von Parlamentsvorbehalt, Verrufswirkung und Generalprävention: Verf. (o. Fn. 5), S. 512 ff., 568 ff.; s. a. Frisch, FS H. J. Hirsch, 1999, S. 485, 488 ff.; Niedermair (o. Fn. 55), S. 171. 65 So auch Duttge, GS Schlüchter, 2002, S. 775, 781; ders., NJW 2005, 260, 261 f.; Niedermair (o. Fn. 55), S. 171 ff. 66 Krit. zu dieser Verschiebung der Strafbarkeitsstadien: Niedermair (o. Fn. 55), S. 172 ff.; Verf. (Fn. 5), S. 493 ff. 67 S. a. Benda, DStZ 1984, 159, 162 (Normenklarheit als wesentlicher Teil des Rechtstaatsprinzips . . . Recht muß für Bürger überschaubar, klar und berechenbar sein). 68 BVerfG NJW 2008, 1137, 1142; in diesem Verfahren war Knut Amelung einer der Prozessbevollmächtigten des wegen Inzests verurteilten Beschwerdeführers.

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Bestandteil der Entscheidung des [ergänze: Straf-]Gesetzgebers ist jedenfalls Klarheit über die Ziele, die er mit seiner Regelung verfolgt. Der Gesetzgeber darf es nicht der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft überlassen, seiner Strafnorm einen Zweck nachträglich zu unterlegen. Das ist unter anderem darin begründet, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Norm ohne Klarheit über den Zweck der Norm nicht gelingt, ja dass sie gar nicht methodengerecht durchgeführt werden kann. Was geeignet, erforderlich und angemessen ist, steht in unaufhebbarer Beziehung zu dem, was mit welchen Mitteln erreicht werden soll. Der Zweck einer Norm ist notwendiger Bezugspunkt ihres Maßes, und das Maß ändert sich mit dem Zweck.“ Das materiell einzig von § 228 StGB zulässig zu verfolgende Programm, nämlich der Schutz Dritter oder der Allgemeinheit,69 wird vom Gesetzeswortlaut (gute Sitten) eher verborgen. Weder Bürger noch Richter finden im Normtext hinreichende Anhaltspunkte dafür, welcher Erfolgs- und Handlungsunwert hierin eigentlich vertypt sein soll: derjenige der Körperverletzung entfällt ja infolge der erteilten Einwilligung. Der Strafgesetzgeber hat es somit versäumt, dem Rechtsanwender für den Prozess der Entfaltung des Tatbestandes an der Wirklichkeit zumindest die Richtung vorzugeben. 3. Ergänzend sei noch an die aus Art. 20 II, III GG allgemein hergeleiteten, gegenüber dem Nulla-Poena-Grundsatz also reduzierten, Anforderungen an eine hinreichende Bestimmtheit belastender Gesetze erinnert.70 § 228 StGB vermag nämlich nicht einmal diesem abgesenkten Maßstab gerecht zu werden, nach dem eine Norm dann zu unbestimmt ist, wenn objektive Handhabungskriterien für ihre Anwendung weder aus der Zielsetzung des Gesetzes noch aus dem sachlichen Zusammenhang der Vorschrift oder ihrer Entstehungsgeschichte zu gewinnen sind. Im Normtext des § 228 StGB ist lediglich verfügt, dass eine Verfügungsgrenze – welcher Art auch immer – bestehen soll, ohne aber hierfür inhaltliche Kriterien vorzugeben. Auch aus dem sachlichen Zusammenhang des § 228 StGB kann nichts hergeleitet werden, da §§ 223 ff. StGB ja die Autonomie der Betroffenen über ihre Körperintegrität bzw. Gesundheit schützen sollen und § 228 StGB sich hierzu geradezu gegenläufig verhält. Ein ohnehin inhaltlich keineswegs unbedenklicher71 Schutz des Einwilligenden vor Unvernunft in eigener Angelegenheit mag dem jeweiligen Rechtsanwender durchaus angemessen erscheinen, dem Wortlaut der Vorschrift ist er aber nicht zu entnehmen. Auch der Ansatz historischer Auslegung führt nicht weiter: Die Verfügungsschranke für konsentierte Körperverletzungen stand bei ihrer Einführung als § 226a StGB im Jahre 193372 in untrennbarem Zusammenhang mit Fragen (un)zulässiger Sterilisierungen:73 Von den damaligen Hierzu Verf. (o. Fn. 5), S. 33 ff. Zum Folgenden: Verf., GS Keller, 2003, S. 289, 299 f. m. w. N. 71 Vgl. Verf. (o. Fn. 5), S. 33 ff.; dens., FS Lenckner, 1998, S. 349, 357 f.; jeweils m. w. N. 72 Sie darf allerdings angesichts von Vorarbeiten in der Weimarer Zeit (Nw. bei Niedermair [o. Fn. 55], S. 2 ff.) keineswegs mit der nationalsozialistischen Hintanstellung des Individuums gegenüber Belangen der Volksgemeinschaft gleichgesetzt werden. 73 Niedermair (o. Fn. 55), S. 4, 7 f.; Verf. (o. Fn. 5), S. 131 Fn. 300. 69 70

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Machthabern gewünschte Unfruchtbarmachungen aus eugenischen Gründen sollten auf diese Weise – anders als etwa die sog. Gefälligkeitssterilisation – straffrei gestellt werden; auf diesen historischen Hintergrund wird heute kein Rechtsanwender mehr zurückgreifen wollen und dürfen. Zwar kann man zusätzlich annehmen, dass der Strafgesetzgeber des Jahres 1933 mit der Gute Sitten-Klausel auch an jene reichsgerichtlichen Entscheidungen74 zur Unwirksamkeit der Einwilligung in Körperverletzungen im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen anschließen wollte, doch vermag dieser Rückblick angesichts der zwischenzeitlichen Veränderungen im rechtlichen Umfeld (neben der grundgesetzlichen Freiheitsvorgabe sei an die Neustrukturierung des Sexualstrafrechts75 erinnert) keine Wegweisung zu geben. Aber auch ein systematisch-teleologisches Herangehen führt nicht weiter: Ein noch zulässiger Normzweck im Sinne eines Rechtsgüterschutzes76 ist der Vorschrift gerade nicht zu entnehmen; bei einer Unwirksamkeitserklärung der Einwilligung zu Gunsten von Rechtsgütern Dritter bzw. der Allgemeinheit wäre der Vorwurf der Rechtsgutsvertauschung77 berechtigt. Somit käme allein noch das Abstellen auf eine schwere und irreversible Körperverletzung in Betracht, doch hat der Gesetzgeber – auch der des 6. StrRG des Jahres 1998 – eben hierauf im Normtext gerade nicht abgestellt. 4. Bestehen mithin gewichtige Bedenken gegen die hinreichende Bestimmtheit von § 228 StGB,78 so könnte diese Vorschrift doch gleichsam als „kleineres Übel“ ggf. im Wege verfassungskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten sein,79 etwa in Verfolgung der von Frisch80 vorgeschlagenen Konzeption, mit Hilfe der Gute Sitten-Klausel Fälle willensmängelähnlicher Situationen zu erfassen: Bestimmte Einwilligungen in schwere Körperverletzungen seien nicht mehr als Ausdruck einer autonomen Willensentscheidung anzusehen, weil und soweit eine vernünftige Person eine solche Einwilligung nicht erteilt hätte, eine Einwilligung, die unter Berücksichtigung der Bandbreite – auch für Frisch maßgeblicher – subjektiver PräRG JW 1928, 2229, 2231 f.; 1929, 1015; HRR 1931 Nr. 1611. 4. StrRG vom 21. 11. 1973 (BGBl. I 1725); s. a. BGHSt 49, 166, 172 f. (zu sadomasochistischen Praktiken). 76 Zu dieser (strittigen) Strafrechtsbeschränkung: Verf. (o. Fn. 5), S. 362 ff.; zuletzt Paeffgen, FG BGH, Bd. IV, 2000, S. 695, 703 f., aber auch Wohlers (o. Fn. 47), S. 218 ff., 279 f. 77 S.o., Fn. 64. 78 So insb. auch Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 247; Paeffgen, in: NomosKommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, § 228 Rn. 44 ff., 53; wohl auch Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 173; ders., in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 12. Aufl. 2006, vor § 32 Rn. 190; aus der älteren Literatur: R. Schmitt, FS Maurach, 1972, S. 113, 118 ff.; ders., GS Schröder, 1978, S. 263, 265; zw. Horn / Wolters, in: SK-StGB (o. Fn. 63), § 228 Rn. 8; and. etwa Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 2), § 1 Rn. 22, Hardtung, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, § 228 Rn. 29. 79 So Niedermair (o. Fn. 55), S. 260 ff.; Erb, ZStW 108 (1996), 271, 293. 80 FS H. J. Hirsch, 1999, S. 485, 492 ff. 74 75

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ferenzen bei Entscheidung einer Vernunftsperson nur als Irrtum zu erklären sei, ohne dass derartige Willensmängel sich auf der Ebene psychischer Befunde stets eindeutig zuordnen ließen. Frisch81 selbst räumt allerdings ein, dass bei dieser Konzeption die Sittenwidrigkeit der Körperverletzung zu einem von § 228 StGB gar nicht gemeinten Sekundär- und Begleitphänomen herabsinkt; der Normtext mit seiner Gute Sitten-Klausel bezeichnet nämlich das nach diesem Ansatz Maßgebliche gar nicht. Sicherlich hält dieser Ansatz den Bereich der von § 228 StGB erfassten Einwilligungsrestriktionen freiheitsachtend gering,82 doch handelt es sich letztlich um das Kaschieren eines Freiheitseingriffes dadurch, dass auf die sog. echte Freiheit des schließlich im Ergebnis doch Bevormundeten abgestellt werden soll. Da aber auch eine unvernünftige Entscheidung Ausdruck eines freien Willentschlusses sein kann,83 ist für fürsorgliche Fremdbestimmung nur dann Raum, wenn der Betroffene defektbedingt nicht in der Lage ist, seine Interessen zu wahren.84 Im übrigen bliebe insoweit offen, nach welchen Maßstäben der Bereich noch hinzunehmender Selbstbestimmung einer „Vernunftsperson“ begrenzt werden soll, da die Zone der Willensmängel oder sonstiger zur Unwirksamkeit einer Einwilligung führender Defekte noch nicht erreicht ist.85 Mittels des Vehikels der Sittenwidrigkeit könnten Ebd., S. 506; s. a. Paeffgen, in: NK-StGB (o. Fn. 78), § 228 Rn. 119 (de lege ferenda). Entsprechendes gilt m. E. auch für die – hier aus Platzgründen nicht eigenständig in den Blick zu nehmenden, ihrerseits durchaus unterschiedlichen – primär an die Schwere (bzw. Lebensgefährlichkeit) der konsentierten Rechtsgutsverletzung (so ja auch die neuere Rechtsprechung: BGHSt 49, 34, 42 [3. Senat], bzw. 166, 173 [2. Senat]) – wobei dieser rechtsgutsbezogene Ausgangspunkt partiell zugunsten einer Bewertung des Eingriffszwecks Korrektur erfährt – Interpretationen der Sittenwidrigkeit von Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 2), § 1 Rn. 22; Hardtung, in: MüKo-StGB (o. Fn. 78), § 228 Rn. 19, 24, 30; Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 11. Aufl., 2005, § 228 Rn. 8; ders., FS BGH, Bd. IV, 2000, S. 199, 219; ders., in seinem Beitrag zur vorliegenden Festschrift, unter IV. 2. und 3., V.; Köhler, (o. Fn. 78), S. 256 f., Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 587 ff., Roxin (o. Fn. 28), § 13 Rn. 44 ff.; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 2), § 228 Rn. 6; Stratenwerth / Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., 2004, § 9 Rn. 18 ff. Inhaltliche Bedenken hätten insoweit an eine unzulässige Bevormundung des Einwilligenden einerseits, an einen problematischen Schutz von Drittinteressen anderseits, anzuknüpfen. Darüber hinaus bliebe zu bedenken, dass der Gesetzgeber die Entscheidung eben der Moral in Form der guten Sitten überlassen hat (and. Hirsch in seinem Beitrag zu dieser Festschrift, unter IV. 1.), so dass die Fragestellung nach den Grenzen richterlicher Korrektur gesetzgeberischer Entscheidungen zumindest aufgeworfen ist (vgl. Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 531; ders., FS Jakobs, 2007, S. 293, 306, der deshalb ein entsprechendes Eingreifen des Gesetzgebers für geboten erachtet (JRE 11 [2003], 219, 249, das dann sicherlich Normenklarheit herbeiführen würde, seinerseits allerdings wiederum unter dem Blickwinkel des Fehlens freiheitswidrigen Unrechts – s. Kargl, JZ 2002, 389, 399 – zu überprüfen bliebe). 83 So auch Hirsch, FS BGH, Bd. IV, 2000, S. 199, 220; Kühl, FS Meurer, 2002, S. 545, 555. 84 Verf. (o. Fn. 5), S. 33 ff., 45 ff., 163 ff. 85 Abl. auch Rönnau (o. Fn. 78), S. 168 f. – Dieses Bedenken spricht auch gegen den Ansatz von Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 501 ff., der einen Sittenverstoß i.S.v. § 228 StGB bei einer von äußeren Umständen nahegelegten 81 82

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mithin prozessual nicht nachweisbare Einwilligungsdefekte überspielt und richterliche Eigenwertung verschleiert werden.86 Demgegenüber erscheint es mir zielführender, insoweit die zunehmend verfeinerte Dogmatik zu den subjektiven Anforderungen an die Einwilligung nutzbar zu machen87 und den von Amelung88 vorgewiesenen Weg weiter zu beschreiten, mit dem eine unzulässige Bevormundung des Rechtsgutsträgers vermieden wird: Für die Annahme von Einwilligungsfähigkeit ist die Fähigkeit des Betroffenen zur Kosten-Nutzen-Analyse nach höchstpersönlicher Wertpräferenz zu verlangen, die nur bei einer infolge biologischen Defektes (Alter, geistiger Erkrankung) verzerrten Urteilskraft entfällt. Damit liegt ein wenigstens im Ansatz empirisch überprüfbares Abstellen auf eine subjektive Rationalität vor, da von einer einwilligungsrelevanten unvernünftigen Entscheidung nicht allein aus Gründen objektiver Unvernunft (aus der Sicht Dritter), sondern nur bei einem biologischen Defekt gesprochen werden darf, der zu dieser Falschwertung geführt hat.89 5. Nicht weiter verfolgt werden sollte auch die Überlegung, § 228 StGB gleichsam „auf Vorrat“ für neuartige90 Fallgestaltungen vorzuhalten.91 Strafbewehrte Verbote in Bezug auf neuartige Fallgestaltungen im Bereich konsentierter Körper-

möglicherweise (!) defizitären Entscheidung des Betroffenen annimmt; krit. zu dieser Spielart „weichen Paternalismus“: Fateh-Moghadam (o. Fn. 9), S. 127 f.: unzulässige Deliktstypvertauschung hin zu einem abstrakten Gefährdungsdelikt. 86 So auch Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 563. 87 S. a. Niedermair (o. Fn. 55), S. 60 ff. 88 Seinen entscheidungstheoretischen Ansatz führte Amelung aus in: ZStW 104 (1992), 525, 537 ff., 540 ff.; Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention, 1995, S. 10 f.; NJW 1996, 2393, 2395 ff.; Recht und Psychiatrie 1995, 20, 24 ff.; JR 1999, 45, 46 f.; NStZ 1999, 458, 459 f. 89 Da einerseits Selbstbestimmung die Fähigkeit zur selbstverantworteten Entscheidung voraussetzt, andererseits sich hinter dem Blankett der „natürlichen Einsichts- und Urteilsfähigkeit“ eine sittliche Bewertung des Täterverhaltens als unausgesprochener Entscheidungsgrund verbergen könnte (so deutlich Amelung, ZStW 104 [1992], 525, 538), bleibt die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit nach wie vor die „Sollbruchstelle“ jedes auf freiheitliche Selbstbestimmung eines mündigen Menschen abstellenden Konzeptes (vgl. Verf. [o. Fn. 5], S. 251 ff.). Auf jeden Fall sollte der Fehlschluss von der „objektiven Unvernunft“ einer Einwilligungsentscheidung auf die Einwilligungsunfähigkeit vermieden werden, da sonst „dem Nonkonformisten allein wegen seiner Abweichung vom Üblichen die Freiheit genommen wird, selbständig über den Einsatz seiner Güter zu entscheiden (so deutlich Amelung, Vetorechte [o. Fn. 88], S. 9). 90 Etwa zukünftig einmal: Amputation gesunder Gliedmaßen zwecks „Techno-Doping“, also des Einsatzes einer optimierten Prothese für einen nicht behinderten Athleten oder die Neuauflage von Gladiator-Kämpfen im Privat-TV (s. Joerden, JRE 14 [2006], 407, 411). 91 Tendenziell auch Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 534; ders., JRE 14 (2006), 243, 249); sowie Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 510: Kontrolle des Extraordinairen; s. a. Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 579, 591: § 228 StGB für neu auftretende, außergewöhnliche Fälle, wobei gesetzlich erfassten Konstellationen (Organentnahme beim Lebendspender, operative Geschlechtsumwandlung bei Transsexualität, Kastration sowie Sterilisation (hierzu dies., ebd., 571 ff.) ein Negativ-Katalog des Nicht-Sittenwidrigen entnommen werden soll.

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verletzungen (insoweit könnten Gentechnik / Fortpflanzungsmedizin, Transplantationsmedizin / Kybernetik zukünftig reiches Fallmaterial bieten), Konstellationen also, bei denen überdies häufig genug ein allgemeiner (rechts-)ethischer Konsens noch nicht (bzw. nicht mehr!) feststellbar sein wird, verlangen nach der grundsätzlichen Wegweisung seitens des Gesetzgebers und nicht nach Einzelfallkorrekturen durch den Rechtsanwender, ein Weg, den der Gesetzgeber etwa mit dem Transplantationsgesetz 92 ja bereits partiell beschritten hat. 6. Da eine Feststellung eines Verstoßes gegen die guten Sitten im Sinne des § 228 StGB weder im Wege eines Typenvergleiches erfolgen noch als zulässiges Argumentieren in einem beweglichen System für unproblematisch erklärt werden kann,93 bliebe einzig der Ansatz, im Falle eines nicht indizierten Heileingriffs dem Konsens des Patienten infolge ungeschriebener Schranken der Einwilligung von vornherein eine strafbarkeitsbefreiende Wirkung abzusprechen.94 III. Schutz des Einzelnen vor sich selbst bei freiverantwortlicher Rechtsgutspreisgabe als verfassungsrechtlich unzulässige Bevormundung Möglicherweise lassen sich – auch im Bereich nichtindizierter ärztlicher Maßnahmen – Einwilligungsschranken95 unter dem Aspekt kreieren, dass der Einzelne davor bewahrt werden soll,96 sich durch einen konsentierten Eingriff in seine 92 Z. B. § 19 I Nr. 3 i.V.m. § 8 II TransplG i.d.F. vom 4. 9. 2007 (BGBl. I S. 2206). Auch an anderer Stelle hat sich das gesetzte Strafrecht an der Schnittstelle von Moral und Recht Regelungsbereiche „zurückgeholt“, denkt man etwa an das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten vom 11. 1. 2002 (BGBl. 2001 I, S. 3983) mit seinen Konsequenzen für den Bereich des Vermögensschadens i.S.v. § 263 StGB (s. Kühl, FS Schreiber, 2003, S. 959, 969) oder an §§ 6a I, IIa, 95 I Nr. 2a, 2b, III Nr. 4 AMG i.d.F. des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport v. 31. 10. 2007 (BGBl. I, S. 2510); s. a. Kühl, FS Meurer, 2002, S. 545, 555. 93 Hierzu näher Verf. (o. Fn. 5), S. 304 ff. 94 Dass die nachfolgenden Überlegungen von ihren Autoren als probates Mittel zur (verfassungskonformen) Konturierung des § 228 StGB verstanden werden, kann für die nachfolgende Betrachtung, bei der es um die materielle Berechtigung derartiger Beschränkungen geht, vernachlässigt werden. 95 Für den Zweck der Untersuchung ist es ohne Belang, ob derartige (mittelbare) Schranken der Selbstverfügungsfreiheit in den Sittenverstoß des § 228 StGB subintelligiert oder im Wege allgemeiner Prinzipienkonkretisierung durch den Rechtsanwender (zu deren Grenzen s. Verf. [o. Fn. 5], S. 289 ff., 341) als – angesichts fehlender gesetzlicher Regelung der Einwilligungsvoraussetzungen zulässiger – ungeschriebene Schranke des Instituts der Einwilligung kreiert werden. 96 Insoweit kann – was den Freiheitsgehalt der Grundrechte angeht – durchaus auf den Diskussionsstand (vgl. nur Eser, in: Schönke / Schröder [o. Fn. 2], vor § 211 Rn. 28b) um die Wirksamkeit einer Patientenverfügung und die dortige Betonung des Selbstverfügungsrechts hinsichtlich einer Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen verwiesen werden: Zwar handelt es sich dort formal um die (umgekehrte) Situation einer Nicht-Einwilligung in die mit

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Körperintegrität dauerhaft selbst zu schädigen.97 Um entscheiden zu können, ob und wenn ja, in welchem Umfange, ggf. unter Berufung auf ein Allgemeininteresse98 am Erhalt der Gesundheit des Einzelnen,99 eine freiwillige Preisgabe seiner Körperintegrität bzw. Gesundheit durch den Einzelnen überhaupt verbindlich Schranken gesetzt werden dürfen,100 ist ein kurzer Exkurs in das Verfassungsrecht unerlässlich.101 1. Aus den Art. 2 ff. GG wird man eine staatliche Pflicht zum Schutze eines Grundrechtsträgers vor sich selbst nicht herleiten können.102 Zwar bildet die Gewährleistung von Sicherheit das wesentliche Ziel jedweder Staatlichkeit; staatliches Gewaltmonopol und die hiermit korrelierende Friedenspflicht der Bürger imder Weiterbehandlung verbundene Körperverletzung, doch geht es materiell ebenfalls um die Respektierung des individuellen Willens. 97 Die Einwilligungsschranke der Sittenwidrigkeit wird aus einem letztlich selbstwidersprüchlichen Verhalten des Einwilligenden, der einen auf die Beseitigung der Basis seiner Selbstbestimmung gerichteten Eingriff gestattet, hergeleitet; so die durchaus unterschiedlichen Ansätze von Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 518 f.: Interesse der Allgemeinheit an objektiver Verständigkeit, an die die Freiheit gebunden sei; Köhler, JRE 14 (2006), S. 425, 439; Roxin (o. Fn. 28), § 13 Rn. 44: Kombination von Individual- und Gemeinwohlinteressen (Schutz der Sozialkassen); Weigend, ZStW 98 (1986), 44, 65: Schutz vor Verlust gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten; einschr. Seelmann, FS Angehrn, 2006, S. 250, 263. Krit. (auch) zur moralphilosophischen Herleitung derartiger Rechtspflichten gegen sich selbst: Fateh-Moghadam (o. Fn. 9), S. 120 ff. 98 So – ohne nähere Spezifizierung – BGHSt 49, 166, 173: „. . . ; im Allgemeininteresse wird aber die Möglichkeit, existentielle Verfügungen über das Rechtsgut der eigenen körperlichen Unversehrtheit oder des eigenen Lebens zu treffen, begrenzt.“; zu diesem Judikat einerseits krit. Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521, 530 f.; ders. , FS Jakobs, 2007, S. 293, 304 f.; andererseits zust. Hirsch (in seinem Beitrag zu dieser Festschrift, unter VI.). Ähnlich unkonturiert BVerfGE 60, 123, 132: Zu gesetzlichen Regelungen, die in das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) eingreifen, ist der Gesetzgeber befugt, wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen; die dort in Bezug genommenen Judikate (BVerfGE 22, 180, 219; 58, 208) betrafen nicht zur freiverantwortlichen Rechtsgutspreisgabe fähige Personen (Unterbringung Geisteskranker aus fürsorgerischen Gründen). 99 Weigend, ZStW 98 (1986), 44, 65: Schutz vor Verlust gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten. Vgl. auch Jakobs, FS Schroeder, 2006, S. 507, 518 f.): Interesse der Allgemeinheit an objektiver Verständigkeit, an welche die Freiheit gebunden ist. Die Frage fehlender Verständigkeit wirft dann aber doch eher das Problem eines möglichen Autonomiedefizits, mithin eine Frage der Einwilligungsfähigkeit, auf (so auch Nitschmann, ZStW 119 [2007], 548, 570).- Durch ein Abstellen auf den Schutz der „Volksgesundheit“ könnte man sich dieser Frage nicht entziehen, stellt die Volksgesundheit letztlich nichts anderes dar als die Summe der Gesundheit aller Individuen der Gesellschaft: Wohlers (o. Fn. 47), S. 191. 100 Abl. Kargl, JZ 2002, 389, 398; Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 561. 101 Die Pönalisierung des Täterverhaltens führt beim (unwirksam) Einwilligenden zu einem mittelbaren Grundrechtseingriff: Verf. (o. Fn. 5), S. 24 ff., 334.- Zum Folgenden s. Verf. (o. Fn. 5), S. 33 ff. 102 So zuletzt im Zusammenhang mit einer möglichen gesetzgeberischen Straffreistellung der Tötung auf Verlangen: Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 206; Kämpfer, Die Selbstbestimmung Sterbewilliger, 2005, S. 368 ff.

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plizieren die Pflicht des Staates zum Schutz der Bürger. Die Gewährleistungen der Grundrechte erschöpfen sich nicht in der bloßen Abwehr ungerechtfertigter staatlicher Übergriffe; sie beinhalten zugleich eine Verpflichtung des Staates zur Abwehr von Gefahren für diese grundrechtlichen Freiheiten.103 Der Schutz individueller Rechtsgüter gehört seit der naturrechtlichen Staatsvertragslehre zu den unerlässlichen Aufgaben eines modernen Staates, also erst recht zu den Aufgaben eines Staatswesens, das sich als ein die Grundrechte seiner Bürger bewahrender Rechtsstaat versteht.104 Der Staat muss die Grundrechte nicht nur selbst achten; er hat die grundrechtlichen Schutzgüter auch vor Angriffen von dritter Seite zu bewahren.105 Die Funktion der staatlichen Schutzpflicht besteht hierbei – und dies ist entscheidend – in einer Verstärkung der Abwehrfunktion (Freiheitssicherung) der Grundrechte,106 nicht aber in einer freiheitsfeindlichen Umkehrung der dem Grundrechtsträger dienenden Funktion der Grundrechte.107 Auch wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht108 davon ausgeht, dass das Grundgesetz in seinem Abschnitt über die Grundrechte zugleich Elemente einer objektiven Ordnung aufgerichtet hat, darf der individualfreiheitssichernde Gehalt der Grundrechte durch ihren Wertgehalt109 nicht verkürzt werden. Anderenfalls würden die Grundrechte aus ihrer dem Grundrechtsträger dienenden Funktion entlassen und gegenläufig freiheitsverkürzend zu einer den (von ihnen ja zu schützenden) Einzelnen gängelnden Funktion, also zur Bevormundung des Grundrechtsträgers zu seinem fremdbestimmten „besten Wohl“, umgewandelt.110 Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten soll jedoch die Schutzwirkung der Grundrechte verstärken,111 indem die Verpflichtung des Staats zur Respektierung dieser Freiheitssphäre der Bürger in eine Drittrichtung gelenkt wird (nicht der Staat, sondern ein privater Dritter als Störer grundrechtlich geschützter Freiheitssphären), ohne aber den Dietlein, Die Lehre von den grundrechtliche Schutzpflichten, 1992, S. 231. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 146. 105 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33. 106 BVerfGE 7, 198, 205; 50, 290, 337; s. a. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 918. 107 Dietlein (o. Fn. 103), S. 230; Hillgruber (o. Fn. 104), S. 147. 108 Z. B. BVerfGE 73, 261, 269; zur Entwicklung der Rechtsprechung: Stern (o. Fn. 106), S. 899 ff.; ebenda, S. 913 ff., zur hierzu geübten Kritik und Gegenkritik hieran. 109 Dieser Wertgehalt ist i.Ü. identisch mit dem grundrechtlich geschützten, vom jeweiligen Grundrecht thematisierten Freiheitsbereich: Der in den Grundrechten jeweils verkörperte objektive Wert ist nicht durch einen Rückgriff auf außerhalb der Verfassung liegende Werte aufzufüllen (Stern [o. Fn. 106], S. 916), sondern aus dem subjektivrechtlichen Gehalt der Grundrechtsbestimmungen zu erschließen (Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 1992, S. 103, im Anschluss an Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75 ff.); damit ist eine Verkürzung des Freiheitsgehalts der Grundrechte durch Betonung ihres „Wertcharakters“ ausgeschlossen (Hillgruber [o. Fn. 104], S. 127). 110 Dietlein (o. Fn. 103), S. 230; Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 570; s. a. Paeffgen in: NK-StGB (o. Fn. 78), § 228 Rn. 16. 111 Stern (o. Fn. 106), S. 918. 103 104

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Schutzzweck der Grundrechte zu ändern.112 Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht113 betont, dass in dem von den Grundrechten konstituierten Wertsystem „eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte“ zum Ausdruck kommt. Durch diese Verstärkungsfunktion wird nun der Geltung der Grundrechte als objektiven Wertentscheidungen zugleich eine Grenze gesetzt: Die subjektive Grundrechtsposition des Einzelnen darf durch den objektiven Grundrechtsgehalt nicht eingeschränkt werden, würde doch anderenfalls die intendierte Verstärkung des subjektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte ins Gegenteil verkehrt werden. Mithin ist eine dem Grundrechtsträger aufgedrängte staatliche Schutzgewähr verfassungsrechtlich nicht legitimierbar, die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten lässt sich nicht für einen – dem Grundrechtsberechtigten aufgedrängten – Schutz des Menschen vor sich selbst in Anspruch nehmen.114 Demzufolge geht es nicht an,115 das Grundrechtsgut von seinem Träger abzuspalten und in einen Abwägungsprozess zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über dieses Grundrechtsgut einerseits, dem objektiv bestimmten Wert dieses Gutes andererseits, einzutreten, aus dem sich dann bei Vorrang des letzteren eine staatliche Schutzverpflichtung ergeben soll:116 Anders als bei der Grundsituation staatlicher Schutzpflichten (Kollision von Handlungsfreiheit des Störers mit grundrechtlich geschützten Gütern des Gestörten) geht es eben nicht um die Abwägung zwischen zwei kollidierenden Rechtsgütern, sondern um die Bestimmung des Verhältnisses einzelner Grundrechtsschichten117 innerhalb desselben Rechts zueinander;118 insoweit ist der staatliche Schutzauftrag aber an das von 112 Hillgruber (o. Fn. 104), S. 147; s. a. Dreier, Jura 1994, 505 (Abwehrfunktion der Grundrechte als Systemmitte und Bezugspunkt für alle mit dem objektivrechtlichen Grundrechtsgehalt verbundenen Weiterungen der Grundrechtsdimension). 113 BVerfGE 7, 198, 205; 50, 290, 337: „. . . [sind die Grundrechte] in erster Linie individuelle Rechte . . . , die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft . . . , hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung . . . Sie läßt sich deshalb nicht von diesem Kern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen, in denen der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt.“ Weitere Nachw. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Hillgruber (o. Fn. 104), S. 130 in Fn. 108, sowie bei Stern, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2000, Bd. V, § 109 Rn. 39 in Fn. 132 f. 114 Dietlein (o. Fn. 103), S. 54 m. w. N. in Fn. 54; Hillgruber (o. Fn. 104), S. 147. 115 Ebenso: Fink (o. Fn. 109), S. 133 f.; Hillgruber (o. Fn. 104), S. 74, 84. 116 So aber etwa: BVerwG NJW 1989, 2960, 2961; BayVerfGH BayVBl 1989, 205, 207; BayObLG BayVBl 1989, 219, 220; VG Karlsruhe JZ 1988, 208, 209; Nachw. aus entsprechenden Stellungnahmen des Schrifttums bei Fink (o. Fn. 109), S. 133 in Fn. 621. 117 Zur subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Schicht der Grundrechte: Stern (o. Fn. 113), § 109 Rn. 38 ff. m. w. N. in Fn. 129. 118 Fink (o. Fn. 109), S. 133 f. Für den Bereich strafbarkeitsdispensierender Einwilligung hat diesen Gedanken einer ausschließlich internen Abwägung des Rechtsgutsträgers – im Gegensatz zur externen Abwägung kollidierender Interessen mehrerer Personen etwa im Falle des Notstandes (§ 34) – Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 413 ff., 429 ff., herausgestellt.

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den Grundrechten geschützte Autonomieprinzip des Grundrechtsberechtigten und damit auch an seine freiverantwortlich getroffene Entscheidung, Gutseinbußen hinzunehmen, gebunden.119 Würden die Grundrechte demgegenüber bei einer ausschließlich eigene Belange des Grundrechtsträgers berührenden Konstellation (sei es Selbstgefährdung durch eigene Hand, sei es eben diese Gefährdung durch fremde Hand) zu – dem Grundgesetz ohnehin grundsätzlich fremden – Grundpflichten120 umgedeutet,121 so würde die aus der objektiven Komponente abgeleitete, die Geltungskraft individualfreiheitssichernder Grundrechte verstärkende staatliche Schutzpflicht für eben diese Grundrechte unter der Hand zur Grundlage freiheitsbeschränkender Reglementierungen.122 Dem Fazit der Untersuchung Hillgrubers123 kann nur zugestimmt werden: „[Bei Abkehr von der primär subjektiv-rechtlichen Schutzrichtung] würden die Grundrechte selbst – als Eingriffstitel – dem Grundrechtsberechtigten wieder nehmen, was sie demselben . . . an Freiheit gegeben haben. Die Grundrechtsgewährleistung würde sich – mit sich selbst im Widerspruch stehend – selbst aufheben. Ein solches „dialektisches“ Grundrechtsverständnis verbietet sich von selbst.“ Sicherlich kann der objektive Gehalt von Grundrechtsnormen auch zur Beschränkung von Freiheiten herangezogen werden: Die Anerkennung objektiver 119 Das Bundesverfassungsgericht hielt allerdings i.Z.m. Altergrenzen für Personenstandsänderungen Transsexueller eine Autonomiebeschränkung aus Selbstschutzgründen für zulässig (BVerfGE 60, 123, 132: „Zu gesetzlichen Regelungen, die in das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) eingreifen, ist der Gesetzgeber befugt, wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“ (Die dort in Bezug genommenen Judikate (BVerfGE 22, 180, 219; 58, 208) betrafen allerdings die Unterbringung Geisteskranker, also selbstbestimmungsunfähiger Personen, aus fürsorgerischen Gründen.) In einer späteren Entscheidung zu Beschränkungen der Organentnahme beim Lebendspender (NJW 1999, 3399, 3401) anerkannte das Bundesverfassungsgericht, dass „der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen in Ansehung der durch Art. 2 I GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung [bedarf]. Auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit.“ Es fügte allerdings die – in ihrer Pauschalität bedenkliche (krit. zur insoweit fehlenden Konturierung auch Nitschmann, ZStW 119 [2007], 548, 576) – Einschränkung hinzu: „Das ändert aber nichts daran, daß es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“ Gemeinwohlbelange können m. E. insoweit nur unter dem – ebenfalls nicht unzweifelhaften (vgl. Verf. [o. Fn. 5], S. 48 ff.) – Aspekt möglicher sozialer Drittlasten tangiert sein, wie sie auch das Bundesverfassungsgericht (E 59, 275, 279; NJW 1987, 180) zur Legitimation der bußgeldbewehrten Schutzhelmtragepflicht herangezogen hat. 120 Hierzu nur: Hofmann, in: Isensee / Kirchhof (o. Fn. 113), § 114; Fink (o. Fn. 109), S. 114 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 114 f. (Asymmetrie zugunsten der Freiheit). 121 Etwa durch Bindung der Grundrechtsausübung an die Förderung des Gemeinwohls. 122 Insoweit (also für den Fall einer ausschließlich internen „Konfliktlage“ bei ein und demselben Grundrechtsträger) kann dem Minderheitenvotum von BVerfGE 39, 1, 73, zugestimmt werden. 123 (o. Fn. 104), S. 148.

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Wertentscheidungen wirkt grundrechtseinschränkend gegenüber Dritten, gegen deren Verhalten Schutz gewährt werden soll.124 Dann handelt es sich aber gerade nicht um eine Einschränkung individueller Freiheitsrechte durch Vorbehalt einer „Grundwertverträglichkeit“ des Freiheitsgebrauches, mithin nicht um ein Ausspielen der Grundrechte gegen ihre Träger durch Bindung der Grundrechtsausübung an die Förderung des Gemeinwohls. Verstärkt werden diese Überlegungen durch Rückbesinnung auf die Zwecksetzung der Grundrechte: Diese bilden „negative Kompetenzvorschriften“ für die Gesetzgebung125 und garantieren die Freiheit der Bürger zur Beliebigkeit in der Ausübung ihrer Grundrechte (jedenfalls soweit sie nur selbst betroffen sind); sie schirmen einen Bereich ungestörter individueller Entfaltung vor staatlichem Zugriff ab, um ihn der Selbstbestimmung und autonomen Lebensgestaltung des Einzelnen zu überantworten.126 Eine „Wertgerichtetheit“ der allgemeinen Handlungsfreiheit bzw. der Grundrechtsausübung besteht nicht: Die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die Rechtssubjektivität des Einzelnen (Art. 1 I GG; 2 I GG) stellt eine Entscheidung für die Freiheit als privates Belieben dar.127 Das Menschenbild des Grundgesetzes ist dasjenige einer sich vernunftbegabt entfaltenden, in Würde und Freiheit sein Leben eigenverantwortlich gestaltenden Person.128 Da nach der Leitentscheidung des Art. 1 I GG der Staat um des Menschen willen konzipiert ist, wurde der Geltungsgrund für die Ausbildung der bürgerlichen Freiheitssphäre aus ihrer naturrechtlichen, vorstaatlichen Verortung in einen verfassungstextlich ausgewiesenen Grundansatz staatlicher Ordnung verlagert:129 Autonomie als grundgesetzlich fixierter Wesenszug des Menschen, Freiheit also als Zustand, in dem der Einzelne zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen kann. Das der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG immanente Autonomieprinzip prägt auch die Auslegung der Grundrechte,130 die auf den Schutz der menschlichen 124 Etwa im Falle einer Beeinträchtigung des postmortalen Persönlichkeitsrechts: BGHZ 50, 133, 136 ff.; BVerfGE 30, 173, 194 ff. 125 Pieroth / Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rn. 73; weitere Nachw. bei Fink (o. Fn. 109), S. 117 in Fn. 547. 126 Dreier, Jura 1994, 505, 512; s. a. Stern (o. Fn. 106), S. 620 ff. 127 Hillgruber (o. Fn. 104), S. 109 m. w. N. in Fn. 204; Fink (o. Fn. 109), S. 97 f., 17: Die Kernaussage des grundgesetzlichen Freiheitsprinzips liegt objektiv in der Eröffnung von Handlungsalternativen und subjektiv in der Zuordnung der vorzunehmenden Interessenbewertung an den Grundrechtsträger. 128 BVerfGE 32, 98, 107 f.; 45, 187, 227; s. a. Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 50; dens., GA 1982, 346, 354: Grundgesetz setzt die Leitfigur des Menschen als vernunftbegabtes und nicht als fremdvernunftunterworfenes Lebewesen voraus. 129 Vgl. Fink (o. Fn. 109), S. 96 f. 130 Hierzu nur Bleckmann, JZ 1988, 57, 60: Da die Grundrechte in ihrem Kern Ausfluss der Menschenwürde sind, müssen alle Freiheiten im Lichte des Art. 1 I GG interpretiert werden; hieraus ergibt sich, dass alle Grundrechte die Selbstbestimmung und damit das völlig freie Belieben ihres Trägers schützen; ferner sei auf Hillgruber (o. Fn. 104), S. 109, 115, sowie Fink (o. Fn. 109), S. 98 m. w. N. in Fn. 446 und 448, verwiesen.

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Freiheit für Bereiche ausgelegt sind, die nach den geschichtlichen Erfahrungen besonderer staatlicher Gefährdung ausgesetzt sind. Autonomie besteht nun aber gerade auch in dem Recht, die Ziele und Mittel des eigenen Handelns selbst festlegen zu können.131 Würde der aus dem grundgesetzlichen Freiheitsprinzip abzuleitende Gedanke einer inhaltlichen Undefinierbarkeit der nach subjektiver Präferenz auszuübenden grundrechtlichen Freiheit durch eine Wertgerichtetheit der Freiheitsausübung überspielt, so würden freiheitliche Rechte in von außen lenkbare Kompetenzen verwandelt.132 Das Wertsystem des Grundgesetzes133 wird jedoch gerade durch seine an die Spitze der Verfassung gestellten Grundrechtsvorschriften konstituiert. In seinem Mittelpunkt steht nach liberal-rechtsstaatlichem Grundrechtsverständnis die sich aus eigener Anlage und Initiative frei entfaltende menschliche Persönlichkeit.134 Hiermit ist ein dem Grundrechtsträger aufgedrängter Schutz vor sich selbst grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Somit kann es auch nicht Aufgabe des Strafrechts sein, einen Einwilligenden vor den Folgen des Gebrauchs seiner Freiheit zu schützen. 2. Nun wird allerdings – im Zusammenhang mit der jetzt auch parlamentarisch135 stattfindenden Diskussion um Wirksamkeit und Reichweite sog. Patientenverfügungen – (auch) um gesetzliche Vorkehrungen gestritten, durch die der Betroffene nicht unter die Entscheidungsmacht Dritter gestellt, sondern vor möglicherweise unüberlegtem Verhalten geschützt werden soll. Es handelt sich bei diesen Maßnahmen (etwa dem Erfordernis der Schriftform oder der Notwendigkeit ärztlicher Beratung) nicht um – unzulässigen136 – „starken“ Paternalismus, der einer Person fremde Wertvorstellungen oder Entscheidungen zu ihrem Wohle aufzwingen will.137 Vielmehr läge ein Fall von sog. schwachem Paternalismus vor: 131 Bleckmann, JZ 1988, 57, 58; so auch Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 178 f., 166. 132 Fink (o. Fn. 109), S. 128 m. w. N. in Fn. 597. 133 Von einem derartigen Wertsystem geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung aus (BVerfGE 7, 198, 205; w. Nachw. bei Stern, in: Isensee / Kirchhof [o. Fn. 113], § 109 Rn. 30 in Fn. 106 ff.). 134 Vgl. insoweit auch Art. 2 II des Verfassungsentwurfs vom Herrenchiemsee (JöR, N.F., 1 [1951], 54 ff.): „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet“; auf die Hoch- oder Minderwertigkeit der konkreten Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit sollte es also nicht ankommen (vgl. auch die entsprechende umfassende Garantie der Reichweite der allgemeinen Handlungsfreiheit durch BVerfGE 80, 137, 154 – Reiten im Wald – mit ablehnendem Sondervotum von Grimm, ebenda, 164 ff.). 135 Vgl. den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts (BT-Drs. 16 / 8442 vom 6. März 2008) sowie die Bundestagsplenardebatte vom 29. März 2007 (Plenarprotokoll 16 / 91 – TOP 3; abgerufen unter http: //dip.bundestag.de/btp/16/16091.pdf); vgl. bereits die Bundestagsplenardebatte vom 10. März 2005 (Plenarprotokoll 15 / 163 – TOP 4; abgerufen unter: http: //dip.bundestag.de/btp/15/15163.pdf). 136 Duttge, GA 2006, 573, 580; Schroth, in: Hager (Hrsg.), Die Patientenverfügung, 2006, S. 60, 1; s. bereits Merkel, in: Hegselmann / Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, 1991, S. 71, 82 f.

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Der Betroffene soll davon abgehalten werden, etwas zu tun, was er, wenn er besser informiert wäre, nicht tun würde.138 Es handelt sich hierbei zumeist um eine Freiheitsbeschränkung bei mutmaßlicher Diskrepanz zwischen aktuellen, aber (etwa infolge falscher Tatsachenvorstellung) fehlerhaft gebildeten Wünschen auf der einen, fehlerfrei zustande kommenden Wünschen auf der anderen Seite,139 also um einen Schutz des Einzelnen vor sich selbst, um ihm zur Verwirklichung seiner eigenen Werte zu verhelfen. Hierzu zählt gerade ein Schutz vor nicht hinreichend bedachten Verhaltensweisen. Die Autonomie des Einzelnen kann – so der berechtigte Ansatz von Kritikern einer „unreflektierten Auffassung über die lebensweltliche Substanz individueller Selbstbestimmung“140 – auch durch Vernachlässigung materialer Freiheitsbedingungen141 als Ausübungsbasis für eben diese Selbstbestimmung bedroht sein. In diesem Zusammenhang werden auch – hier nicht näher zu hinterfragende142 – Erkenntnisse der Verhaltensökonomik sowie der kognitiven Psychologie angeführt, nach denen klassische Rationalitätsannahmen infolge kognitiver und voluntativer Schwächen des Entscheidenden in Zweifel zu ziehen seien.143 Letztlich geht es darum, im Rahmen verhältnismäßiger Eingriffe144 die 137 Im Arzt-Patienten-Verhältnis läge harter Paternalismus vor, wenn ein ärztlicher Heileingriff auch ohne (informierte) Zustimmung des Patienten unter Hinweis darauf für legitim erklärt würde, der Arzt wisse am besten, was für seinen Patienten gut sei. Wie sehr auch gutmeinende Ärzte den Willen ihrer Patienten verfehlen können, belegt eine kalifornische Studie aus dem Jahre 1993 (mitgeteilt von Bickhardt, in: Meier / Borasio / Kutzer [Hrsg.], Patientenverfügung, 2005, S. 120, 125), bei der die Eigenbeurteilung lebensbedrohlich Erkrankter mit der Beurteilung durch die behandelnden Ärzte verglichen wurde: Nach ärztlicher Einschätzung würden 75% der Betroffenen eine künstliche Ernährung wünschen; tatsächlich waren es aber nur 23%. 138 Vgl. Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 177 f.; ders., JZ 2006, 821, 829; Kämpfer (o. Fn. 102), S. 330 f., 370 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 170 ff., 179 ff.; ders., KritV 2005, S. 230, 239 ff. 139 Hierzu von der Pfordten, in: Anderheiden / Bürkli / Heinig / Kirste / Seelmann (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 93, 100; Wolf, ebd., S. 55, 59. 140 Duttge, ZfL 2006, 81, 85. 141 Damm, FS Eike Schmidt, 2005, S. 73, 79. Vgl. auch (in Anlehnung an das viel zitierte Diktum von Bockenförde) Hollerbach, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, 1996, S. 25: Selbstbestimmung lebt von Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen und garantieren kann. 142 Krit. Kahlo, in: Anderheiden u. a. (o. Fn. 139), S. 259, 262. 143 van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, S. 93 ff.; dies. in: Anderheiden u. a. (o. Fn. 139), S. 69, 114 ff.; Lorenz in: Schildmann / Fahr / Vollmann (Hrsg.), Entscheidungen am Lebensende in der modernen Medizin: Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, 2006, S. 179, 189 ff. 144 Zu Recht wird allerdings auf die Freiheitseinbußen aufmerksam gemacht, die fürsorgliche Wahlhilfen für Individuen ohne Defizite mit sich bringen (s. van Aaken [o. Fn. 143], S. 135, 139), also etwa i.Z.m. einer Patientenverfügung die Notwendigkeit auch für einen Arzt (oder für einen über seinen Krankheitszustand voll informierten Patienten), sich ärztlich beraten zu lassen. Der auch verfassungsrechtlich legitime Zweck derartiger Freiheitseinschränkung beim bereits hinreichend Informierten liegt nicht im – insoweit überflüssigen und damit unverhältnismäßigen – Paternalismus zu Gunsten dieser Person, sondern im Drittschutz

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Selbstbestimmung des Einzelnen nicht etwa aufzuheben, sondern die tatsächlichen Voraussetzungen für eine autonome Entscheidung zu sichern. Es ist mithin vom Ansatz durchaus legitim, durch eine sozialstaatlich motivierte Freiheitsvorsorge die Bedingungen freier Selbstbestimmung in Bezug auf weitreichende bzw. sogar existenzielle Entscheidungen zu gewährleisten oder zu verbessern.145 146 Die notwendigerweise imperfekte Autonomie des Patienten147 bedarf als hochwertiges Schutzgut148 der rechtlichen Sicherung im Sinne ihrer Optimierung149 gerade unter (möglicherweise) autonomiewidrigen Umständen.150 Allerdings wäre es unzulässig, unter dem Deckmantel eines Übereilungsschutzes die grundgesetzliche Maßgeblichkeit des individuellen Präferenzsystemes des Einzelnen als maßgebliche Entscheidungsvorgabe für Eingriffe in die körperliche Integrität in Frage zu stellen.151 Die legitime Aufgabe des Gesetzgebers liegt also darin, die Voraussetzungen für eine materielle Selbstbestimmung zu sichern, ohne aber hierbei über- und damit fehlregulierend die Selbstbestimmung des Einzelnen aufzuheben. 3. Auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde als höchstem Verfassungswert folgt kein abweichendes Ergebnis.152 So kann von vornherein ein Verstoß gegen die guten Sitten (i.S.v. § 228 StGB) nicht normpräzisierend mit einem Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 I GG) gleichgesetzt werden,153 wie für nicht entsprechend Informierte begründet (so auch Lorenz, in: Schildmann u. a. [o. Fn. 143], S. 188: Herstellung praktischer Konkordanz im Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und Lebensschutz). Da der Gesetzgeber seine Regelungen in zulässiger Weise typisieren darf, wäre ein entsprechendes Erfassen auch hinreichend Informierter nicht von vornherein unzulässig (vgl. Möller [o. Fn. 138], S. 192 ff.); ob dies auch rechtspolitisch sinnvoll wäre, dies steht auf einem anderen Blatt. 145 Damm, MedR 2002, 375, 385 f., Lorenz, in: Schildmann u. a. (o. Fn. 143), S. 188; ders. dann detailliert in seiner Dresdener Dissertation „Sterbehilfe – Ein Gesetzentwurf“ (im Erscheinen). 146 Duttge, Preis der Freiheit, 2. Aufl., 2006, S. 34, 39, ders., ZfL 2006, 81, 84 f., ders., GA 2006, 573, 580. 147 Damm, FS Eike Schmidt, 2005, S. 73, 104 f. 148 S. Damm, MedR 2002, 375, 385; ferner gibt es eben auch den „defizitären“ (also sich Vernunfthoheit anmaßenden) Arzt: Damm ebd., S. 383. 149 Freiheit und Kontrolle über eine medizinische Entscheidung allein konstituiert noch keine Patientenautonomie: Krones / Richter, in: Schulz / Steigleder / Fangerau / Paul (Hrsg.) Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin, 2006, S. 94, 113. 150 Damm, FS Eike Schmidt, 2005, S. 73, 104 f., der ebd., S. 75, betont, dass auch beim Patientenschutz die Kontextabhängigkeit und die tatsächlichen Bedingungen von Autonomie ins Kalkül gezogen werden müssen. 151 So auch Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 589. 152 Abl. auch Kühl, FS Jakobs, 2007, S. 293, 306 f., unter Hinweis auf die WortsinnGrenze des § 228 StGB. 153 Hierzu Verf. (o. Fn. 5), S. 47 f.; ders., GS Keller, 2003, S. 289, 299; and. aber BayObLG NJW 1999, 372, 373, m. insoweit zweifelnder Anm. von Amelung, NStZ 1999, 458, 460.

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dies etwa (im Bereich des Gewerberechts) das Bundesverwaltungsgericht154 in seiner Peepshow-Entscheidung getan hat. Zwar kann der Betroffene in die Verletzung seiner Menschenwürde nicht wirksam einwilligen,155 da Art. 1 I GG ein seiner Disposition entzogenes Konstitutionselement156 des Rechtsstaats bildet. Die freie Disposition des Einzelnen lässt aber eine Tangierung des Schutzbereiches entfallen: Maßnahmen, die bei Durchführung gegen den Willen des Einzelnen seine Subjektsqualität menschenwürdewidrig in Frage stellten, unterliegen diesem Verdikt nicht, wenn sie im Konsens mit dem Betroffenen durchgeführt werden.157 Zur Menschenwürde gehört eben auch, nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu werden.158 Anderenfalls bestünde die Gefahr, die Freiheitsverbürgung159 der Grundrechte – der Staat ist um der Menschen willen da, nicht umgekehrt – ausgerechnet mittels einer ihrer verfassungsrechtlichen Hauptstützen auszuhebeln.160 Steht also der Inhalt der Menschenwürde nicht zur Disposition des Einzelnen, so bildet doch die Selbstdefinition des Betroffenen,161 also seine Auffassung darüber, was seiner Würde entspricht, gleichsam ein „negatives Tatbestandsmerkmal“ des Verletzungstatbestandes des Art. 1 I GG,162 welches verhindert, dass sich der Anspruch auf Achtung der Würde in eine Pflicht zu würdigem Verhalten verkehrt.163 154 BVerwGE 64, 274, 278 f. – hierzu noch u. in Fn. 164; s. aber auch BVerwGE 84, 314, 319 ff. (dort wurde nur noch allgemein auf Sittenwidrigkeit rekurriert). 155 BVerfGE 45, 187, 229; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 86 f., Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 2, 1994, S. 923 (ebd., S. 905, kritisch zum Vorschlag von Amelung [Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 116 f.], den Begriff des Grundrechtsverzichts aufzugeben und durch die Einwilligung des Betroffenen zu ersetzen). 156 Zuletzt BVerfGE 115, 118, 152 (tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Grundwert). 157 Amelung, Einwilligung (o. Fn. 28), S. 49 f.; ders., StV 1985, 257, 259; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 1 I Rn. 36; Stern (o. Fn. 106), S. 30 f. 158 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 152. Anderenfalls würde der von Art 1 I GG zu Schützende nicht als selbstbestimmtes Subjekt ernstgenommen, sondern zu einem „Objekt erzieherisch-fürsorgerischer Maßnahmen im Namen vermeintlich herrschender Vorstellungen von würdigem Verhalten“ (Frankenberg, KJ 33 [2000]), 325, 331) herabgestuft. Auch Kühl, FS Jakobs, 2007, S. 293, 306, kritisiert das paternalistische Ausspielen der Menschenwürde gegen ihren Träger. 159 Pflichten gegen sich selbst gehören allenfalls zu den moralischen Pflichten (i. S. d. Tugendpflichten Kants), nicht aber zu den Rechtspflichten: Joerden, JRE 14 (2006), 407, 413. 160 S. Amelung, Einwilligung (o. Fn. 28), S. 48; Kargl, JZ 2002, 389, 398; Mosbacher (o. Fn. 33), S. 135 f., 143; Nitschmann, ZStW 119 (2007), 548, 560; Verf. (o. Fn. 5), S. 47. Auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 1, 2006, S. 64, 94, warnt vor der Gefahr, den objektiv-rechtlichen Gehalt gegen den konkreten Würdeträger selbst in Stellung zu bringen. 161 Vgl. nur Höfling (o. Fn. 120), S. 104 ff., 125 ff.; ders., in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl., 2007, Art. 1 Rn. 37 (Recht auf das je eigene Menschenbild). 162 Geddert-Steinacher (o. Fn. 155), S. 91 f.

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Diese Problematik wurde zuletzt intensiv i.Z.m. unerfreulichen Erscheinungen des sog. Realitätsfernsehens diskutiert, für die hier prototypisch auf die Staffel „Big Brother“ bzw. zuletzt: „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ verwiesen sei.164 In diesem Zusammenhang wurde auf eine anders geartete, gegebenenfalls aus Art. 1 I GG herzuleitende Verfügungsschranke aufmerksam gemacht, durch die die Interessen Dritter165 bzw. der Allgemeinheit (und eben nicht diejenigen eines unter Verkehrung des von Art. 1 I GG garantierten Autonomieprinzips vor sich selbst „geschützten“ Einzelnen) gewahrt werden sollen.166 Hierbei wäre auf eine – hier nicht näher zu diskutierende – objektive Dimension der Menschenwürde als Staatsfundamentalnorm abzustellen, die bei einem äußerst eng zu haltenden Einsatzbereich ausnahmsweise dann zum Einsatz kommen könnte, wenn die Ausübung allgemeiner Handlungsfreiheit durch Einzelne167 essentielle Voraussetzungen unserer Gesellschaft in Frage stellen würde.168 Es würde sich dann nicht

163 Art. 1 I GG mit seinem hierin verankerten Schutz der Autonomie des Einzelnen lässt sich eben nicht – hierzu gegenläufig – ein Prinzip der Fremdbestimmung unterschieben (vgl. auch Fink [o. Fn. 109], S. 140). 164 Klass, Rechtliche Grenzen des Realitätsfernsehen, 2004, S. 142 ff., kam nach gründlicher Auseinandersetzung auch mit den insoweit abweichenden Judikaten von BVerwG NJW 1982, 664, 665 = BVerwGE 64, 274 (1. „Peep-Show“-Entscheidung) sowie VG Neustadt NVwZ 1993, 98, 99 („Zwergenweitwurf“), zu dem zutreffenden Ergebnis, dass die von Art. 1 I GG geschützte Autonomie gerade auch die Freiheit schützt, sich anders verhalten zu können als die Mehrheit und nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu werden (so auch Dreier, in: ders. [o. Fn. 157], Art 1 Rn. 152) so dass ein Schutz des Einzelnen vor sich selbst ausscheidet (ebd., S. 174 ff.). Das Problem insoweit wird von ihr vielmehr zutreffend in der Frage verortet, inwieweit bei den Mitwirkenden entsprechender TV-Staffeln, aber auch TalkShows, wirklich von einer freiverantwortlich getroffenen Teilnahme-Entscheidung des Einzelnen gesprochen werden kann (ebd., S. 188 ff.). 165 Beeinträchtigungen Dritter, die sie durch eine unfreiwillig erlittene, mit einer Körperverletzung verbundene Menschenwürdeverletzungen erleiden könnten, fielen allerdings in den Verantwortungsbereich späterer Täter, so dass es zweifelhaft ist, hieraus die Bestrafung eines im Konsens des Verletzten Handelnden zu begründen (dezidiert abl. Mosbacher [o. Fn. 33] S. 122 f.). Allerdings weist der (abstrakte) Lebensschutztatbestand des § 216 StGB eine entsprechende Schutzrichtung auf (gegen ihn konsequent Mosbacher, ebd. S. 147 ff., 179). In vorliegendem Zusammenhang genügt die Feststellung, dass es sich bei § 216 StGB im Gegensatz zu § 228 StGB um eine zwar sicherlich problematische, aber immerhin normenklar verfügte Handlungsbeschränkung handelt. 166 Vgl. bereits Verf. (o. Fn. 5), S. 48 in Fn. 90. 167 Diese Beschränkung (auch sonstiger) grundrechtlicher Freiheitsausübung würde allerdings ihrerseits umso eher an eine Schranke stoßen, je näher diese Freiheitsbetätigung ihrerseits dem Schutzbereich des Art. 1 I GG käme (also etwa bei Vorgaben i.Z.m. selbstbestimmtem Sterben, durch die ohnehin kaum einmal essentielle Voraussetzungen unserer Gesellschaft in Frage gestellt werden dürften); so auch Mosbacher (o. Fn. 5), S. 145: Vorrang der Menschenwürde im individuellen Sinne vor Menschenwürde im Gattungssinne. 168 Klass (o. Fn. 164), S. 178 ff., im Anschluss an Di Fabio, Der Schutz der Menschenwürde durch Allgemeine Programmgrundsätze, 2000, S. 41 f. (Art. 1 I GG als letzte Grenze gesellschaftlichen Wertewandels), und Dörr, Big Brother und die Menschenwürde, 2000, S. 82 f.; vgl. auch BVerfGE 87, 209, 229 f. (zu § 131 I StGB); ferner Höfling, in: Sachs

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um einen – unzulässigen – Einsatz der grundgesetzlichen Garantie der Menschenwürde zur Bevormundung des Benifiziars der Menschenwürdegarantie handeln.169 Um zu verhindern,170 dass es insoweit doch zu einem unzulässig bevormundenden Eingriff zum Schutze des Einzelnen vor sich selbst kommt,171 wird dieser sehr eng zu begrenzende Einsatz von Art 1 I GG „als letzte Grenze“ zur Sicherung eines Grundbestandes an Werten auf Fälle zu beschränken sein, in denen ein Menschenbild172 propagiert würde, das den Grundwerten unserer Gesellschaft widerspräche.173 Diese einen aus Art. 1 I GG herzuleitenden Drittschutz rechtfertigende174 „Tabu-Grenze“ mag bei dem Problemgegenstand der erwähnten Diskussion angesichts der Wirkkraft des Fernsehens und anderer Medien zukünftig einmal erreicht werden. Die Konstellation einer nicht indizierten Heilbehandlung ist hiervon jedenfalls weit entfernt, geht es hierbei doch gerade um die (körperbezogene) Selbstdefinition des Einzelnen, die als Basis geistig-psychischer Individualisierung die Grundlage seiner zu schützenden Menschenwürde ausmacht.175 Auch konsentiertes ärztliches Verhalten mag einmal diese Grenze überschreiten (Stich(o. Fn. 161), Art. 1 Rn. 50 (gattungsethisches Selbstverständnis); Duttge, NJW 2005, 260, 261; weitergehend noch ders., GS Schlüchter, 2002, S. 775, 784 ff. 169 Verfassungsrechtlich könnte diese Selbstverfügungsschranke zum Schutze der Würde der Menschheit als Gattung durch eine dogmatische „Wiederbelebung“ der nach fast einhelliger Auffassung des verfassungsrechtlichen Schrifttums (s. Dreier, in: ders. [o. Fn. 158], Art. 2 I Rn. 60) bedeutungslos gewordenen Grundrechtsschranke des „Sittengesetzes“ (Art. 2 I GG) umgesetzt werden (so dezidiert Hörnle [o. Fn. 33], S. 63 ff.; ebd., S. 430 bzw. 406 ff., 420, von ihr nutzbar gemacht für eine Legitimierung des Verbots fiktionaler Kinderpornographie, § 184 b StGB, sowie gewalttätiger und gewaltpornographischer Darstellungen, §§ 131, 184 a StGB). 170 Genau hierin liegt die Problematik selbst einer vorsichtigen Anwendungsausweitung des auf den Schutz des Einzelnen zielenden Art. 1 I GG, vgl. Kargl, JZ 2002, 389, 398, sowie Dreier, in: ders. (o. Fn. 158), Art. 1 I Rn. 116 ff., mit dem ernstzunehmenden Hinweis darauf, dass bei Abstellen auf die „Gattungswürde“ die Gefahr besteht, auf diese Weise eigene Wertungen und Überzeugungen gegen alle Einwände zu immunisieren (Rn. 120); abl. auch Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 497 f.; Geddert-Steinacher (o. Fn. 155), S. 73 ff., 188; Frankenberg, Autorität und Integration, 2003, S. 282. 171 Es ginge ja bei einer entsprechenden Handlungsbeschränkung i.d.R. (nur) um die Begrenzung der allgemeinen Handlungsfreiheit und nicht um eine Beeinträchtigung der Menschenwürde des Betroffenen (Klass [o. Fn. 164], S. 164), da zu deren Schutzbereich sicher nicht Auftritte als Darstellerin einer Peepshow oder als Flugartist zählen; bei einem Patienten, der durch sein Verhalten einen selbstbestimmten Tod anstrebt, läge der Fall hingegen schon anders (s. Verf., JRE 15 [2007], S. 307, 310, 315, 323). 172 Zur grundsätzlichen Problematik einer menschenbildbezogenen Argumentation: Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1995, S. 126 (nicht offengelegtes Vorverständnis / Menschenbild als „Passepartout“). 173 Roxin (o. Fn. 28), § 2 Rn. 22, macht allerdings zu Recht darauf aufmerksam, dass auch in derartigen Fällen nur bei Sozialschädlichkeit des Täterverhaltens (i.S.e. Beeinträchtigung von Sicherheit und Freiheit anderer) eine Inkriminierung zulässig sein sollte. 174 Vgl. Verf., GS Keller, 2003, S. 289, 299. 175 Vgl. Gusy, DVBl. 1982, 984, 986.

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wort: Gentherapie in Keimbahnzellen 176), doch ist es dann Aufgabe des (Straf-) Gesetzgebers, diese Limitierung zu verfügen (vgl. § 5 ESchG). 4. Nicht mehr näher verfolgt werden kann hier die Überlegung, ob strafschutzwürdige Interessen Dritter (etwa ein abstrakter Schutz177 ihrer Körperintegrität) bzw. der Allgemeinheit (z. B. Schutz der Sozialkassen: Folgelasten der bewilligten Körperverletzung für die Solidargemeinschaft der Versicherten bzw. Steuerzahler) zu einer Einwilligungsschranke führen können.178 Von grundsätzlichen Zweifeln179 abgesehen, stehen die von mir an anderer Stelle dargelegten Bedenken einer unzulässigen Rechtsgutsvertauschung180 einem Errichten derartiger Verfügungsbeschränkungen durch den Rechtsanwender entgegen.181 IV. Fazit Ein nicht indizierter ärztlicher Eingriff unterliegt ebenso wie ein indizierter dem Körperverletzungstatbestand des § 223 StGB. Er kann aber ebenfalls durch eine Einwilligung des Patienten legitimiert werden, ohne dass dem die fehlende medizi176 Dass hierbei nicht vorschnell auf die Sicherung eines bestimmten Menschenbildes rekurriert werden sollte, dies belegen die Ausführungen von Joerden zum reproduktiven Klonen (JRE 14 [2006], 407 ff., 422). 177 Vgl. Joerden, JRE 14 (2006), 407, 411: Sittenwidrigkeit könnte dann gegeben sein, wenn durch die Körperverletzung eine Signalfunktion in der Öffentlichkeit entstünde, die eine Herabsetzung der allgemeinen Achtung vor dem Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit befürchten ließe. 178 Drittnützige Einwilligungsschranken (vgl. etwa §§ 109, 284a, 304 StGB) würden nicht von vornherein einen unter speziellem Legitimationsdruck stehenden Fremdkörper bilden (s. Nitschmann, ZStW 119 [2007], 548, 562; Verf. [o. Fn. 5], S. 81 ff., 163 ff.). 179 Bei der Einwilligung hat (anders als etwa im Falle des rechtfertigenden Notstandes) gerade keine Abwägung gegenläufiger Interessen verschiedener Bürger zu erfolgen; die Einwilligung als höchstpersönliche Entscheidung ist vielmehr an dem je individuellen Wertesystem und den hieraus resultierenden Präferenzen des Betroffenen ausgerichtet (Amelung, ZStW 104 [1992], 525, 547; ders., Recht und Psychiatrie 1995, 20, 23; ders., Irrtum [o. Fn. 28], S. 41; Baumann / Weber / Mitsch [o. Fn. 28], § 17 Rn. 97; Mitsch [o. Fn. 118], S. 417 ff., 433; Verf. [o. Fn. 5], S. 38, 65, 249). Etwaige Schranken für diese Selbstverfügung sind mithin von außen heranzutragen. Hierfür finden sich aber im Normtext des § 228 StGB keine Kriterien. Da anders als z. B. im Falle des § 34 StGB nicht die Interessen verschiedener Personen auf dem Spiele stehen, wäre als Minimum zu fordern, dass gesetzgeberisch eine Beschränkung auf bestimmte Abwägungskoordinaten erfolgt und immerhin gewisse Vorrangregeln angegeben werden, da anderenfalls keine Rechtsanwendung, sondern nur noch ein mehr oder weniger notdürftig verschleiertes höchstpersönliches Votum vorläge. 180 Vgl. Verf. (o. Fn. 5), S. 512 ff.; s. a. Niedermair (o. Fn. 55), S. 171 ff.; Rönnau (o. Fn. 78), S. 172 f. 181 So sind bspw. denkbare finanzielle Lasten Folgen für die Solidargemeinschaft (hierzu aber Verf. [o. Fn. 5], S. 50 ff.), die aus der Zufügung schwerer Körperverletzungen resultieren, nicht Schutzgegenstand der Körperverletzungsdelikte (so auch Niedermair [o. Fn. 55], S. 191; Nitschmann, ZStW 119 [2007], 548, 585).

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nische Indikation entgegenstünde. Diese Einwilligung wäre auch – ungeachtet der Schwere der konsentierten Körperverletzung – schon deshalb nicht nach § 228 StGB unwirksam, weil diese an einen Verstoß gegen die guten Sitten anknüpfende Vorschrift nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine hinreichend bestimmte Strafrechtsregelung genügt. Dieser grundlegende Mangel des § 228 StGB kann auch nicht durch ein ersatzweises Abstellen auf eine willensmängelähnliche Situation beim Einwilligenden geheilt werden. Ungeschriebene Einwilligungsschranken182 mit dem Ziel, den über sein Rechtsgut Körperintegrität freiverantwortlich Disponierenden vor sich selbst183 zu schützen, würden mit der Freiheitsgarantie der Grundrechte kollidieren; auch Art. 1 I GG verpflichtet den Einzelnen nicht zu einem drittdefinierten würdigen Verhalten. Mittelbar kann das Fehlen medizinischer Indikation im Strafrecht allerdings durchaus Bedeutung erlangen: Eine wirksame Einwilligung des Patienten setzt eine hinreichende Aufklärung über den Eingriff und seine möglichen Folgen voraus. Das Maß der Aufklärung wird von der medizinischen Indikation bestimmt.184 Je dringlicher der Eingriff indiziert ist, desto geringer fällt die Aufklärungslast aus. Umgekehrt ist bei Fehlen einer medizinischen Indikation eine weitestreichende Aufklärung (gerade auch über das Fehlen dieser Indikation) zu verlangen. Ihr Fehlen führt aber nicht per se bei Durchführung des Eingriffs zu einer Sorgfaltspflichtverletzung im Sinne der §§ 222, 229 StGB, während eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit wegen einer bei diesem nicht indizierten Eingriff zusätzlich verübten Sorgfaltswidrigkeit (bspw. durch Verwenden nicht hinreichend sterilisierter Instrumente) möglich bliebe.185 Das Fehlen einer medizinischen Indikation kann ferner mittelbar Bedeutung im Falle einer vom Personensorgeberechtigten stellvertretend erteilten Einwilligung erlangen, da in einem derartigen Fall bspw. eine von den 182 Sie wären nicht von vornherein unzulässig: Da die Einwilligung als solche zulässigerweise nicht strafgesetzlich vertypt ist, können auch die Schranken dieses strafbefreienden Instituts im Wege systemgerechter Auslegung festgelegt werden (s. Verf. [o. Fn. 5], S. 323 ff., 587). 183 Dem Aspekt eines Schutzes Dritter konnte vorliegend nicht mehr nachgegangen werden. 184 BGH[Z] NJW 1999, 2349; 2006, 2108; Schöch, in: Roxin / Schroth (o. Fn. 10), S. 63; Ulsenheimer (o. Fn. 11) Rn. 71 f.; dies wurde nicht zuletzt i.Z.m. bloßen Schönheitsoperationen auch von der Rechtsprechung ((BGH[Z] ebd.) immer wieder hervorgehoben. Die insoweit geforderte umfassende und schonungslose Aufklärung (z. B. OLG Celle NJW-RR 2000, 904, 905; OLG Frankfurt NJOZ 2006, 166, 168) birgt allerdings eine gewisse Gefahr, den Zweck der Selbstbestimmungsaufklärung paternalistisch zu verfehlen (vgl. Lorz [o. Fn. 2], S. 101). – Ferner steht es dem Patienten frei, das Vorliegen der medizinischen Indikation zur Wirksamkeitsbedingung seiner Einwilligung zu erheben. 185 Setzt sich der behandelnde Arzt hingegen bewusst über die insoweit anerkannten Regeln sorgfältiger Berufsausübung – die auch außerhalb medizinisch indizierter Eingriffe bestehen (bspw. das Gebot, hinreichend sterilisierte Instrumente zu verwenden) – hinweg, so liegt sogar eine vorsätzliche Körperverletzung vor, da sich die Einwilligung eines insoweit nicht aufgeklärten Patienten grundsätzlich nur auf einen „kunstgerecht“ erfolgenden Eingriff bezieht (s. BGH NStZ 2008, 278, 279, i.Z.m. einem indizierten Heileingriff).

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Eltern des zu behandelnden Minderjährigen erteilte Einwilligung in den körperverletzenden Eingriff infolge Missbrauchs der elterlichen Personensorgebefugnis mangels Vertretungsbefugnis im Einzelfall unwirksam sein kann.186

186 So etwa für den Fall religiös motivierter Beschneidung eines Neunjährigen LG [Z] Frankenthal, MedR 1985, 243, 244; zustimmend Jerouschek, NStZ 2008, 313, 317 ff.; Putzke, FS Herzberg, 2008, S. 669, 707. Die Einwilligung der Eltern war infolge Missbrauchs ihres elterlichen Sorgerechts unwirksam (mangels medizinischer Indikation nicht am Kindeswohl orientiert); die elterlichen Grundrechtspositionen aus Art. 6 I GG sowie Art 4 I, II GG fanden ihre verfassungsimmanente Schranke in den Grundrechten ihres Kindes (Art. 2 II GG – Körperintegrität sowie Art. 1 I i.V.m. 2 I GG – allg. Persönlichkeitsrecht [Entscheidung über eine Religionszugehörigkeit und deren sinnfällige Dokumentation]).

Tötung und Körperverletzung mit Einwilligung des Betroffenen Von Günter Stratenwerth I. Knut Amelung hat mir 1972 seine große Dissertation „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ mit der handschriftlichen Widmung zugeeignet, er habe im Sommersemester 1962 – zehn Jahre zuvor! – in Lausanne von mir (der dort vorübergehend von Basel aus deutsches Strafrecht vertreten hat) zum ersten Male gehört, „daß in der modernen (?) Strafrechtsdogmatik der Güterschutzgedanke nicht mehr eine so große Rolle spiele“1. Ich erinnere mich dieser Bemerkung natürlich nicht, würde es mir aber zum Verdienst anrechnen, wenn ich auf solche Weise zu seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der Frage beigetragen haben sollte. Sie muss ihn ja schon während seines Studiums beschäftigt haben – sonst hätte er jenen ziemlich nichtssagenden Satz nicht behalten –, sie war Gegenstand seines legendären Rezensionenduells mit Winfried Hassemer von 19752 und einer Abhandlung im Sammelband „Recht und Moral“ von 19913 sowie dann wieder seines sehr bemerkenswerten Beitrags zu der gegenwärtig erneut aufgeflammten Diskussion über die Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz4. Das mag es rechtfertigen, das Thema auch in der ihm gewidmeten Festschrift aufzugreifen, allerdings unter einem sehr speziellen Gesichtspunkt, und damit vielleicht ein neues Blatt in der Kontroverse aufzuschlagen. Jene Bemerkung in Lausanne muss damals in dem Zusammenhang gestanden haben, in dem ein Welzel-Schüler sich über die Struktur des strafrechtlichen Unrechts Rechenschaft zu geben versuchte: Gegenstand des Strafrechts kann nicht die Rechtsgüterverletzung als solche, sondern allein das Verhalten sein, das sie herbeiführt oder herbeizuführen droht5. Amelung und Hassemer6 haben die RechtsEingeklammertes Fragezeichen im Original! Amelung, ZStW 87 (1975), 132 ff.; Hassemer, ebenda, 146 ff. 3 Amelung, Rechtsgutsverletzung und Sozialschädlichkeit, in: Jung / Müller-Dietz / Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 269 ff. 4 Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 155 ff. 5 Stratenwerth, Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, Schweiz. Zeitschr. f. Strafrecht 79 (1963), 233 ff. (Text meiner Basler Antrittsvorlesung vom 13. 12. 1962). 6 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973. 1 2

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gutsfrage dagegen, zunächst unabhängig voneinander, im Blick auf jene systemkritische Bedeutung gesehen, die heute wieder und immer noch im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Und dies allerdings, zumindest auf den ersten Blick, mit einander diametral entgegengesetzten Positionen: Während Amelung, unter entschiedener Ablehnung individualistischer Rechtsgutslehren7, die Grundfrage der Aufklärer nach den Bedingungen menschlichen Zusammenlebens wieder aufnehmen wollte, mit der das Rechtsgutsdogma „wenig zu tun“ habe8, stand für Hassemer von Anfang an, unter Rückgriff auf die Lehre vom Staatsvertrag9, die Maxime im Vordergrund, dass Einschränkungen der Handlungsfreiheit des Einen nur mit Rücksicht auf die Handlungsfreiheit des Anderen legitimiert werden könnten10. Ich habe mich mit dieser Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz ichbezogener Interessen seit Längerem auseinandergesetzt und will dazu schon Gesagtes hier nicht wiederholen.11 Wohl aber scheint mir sinnvoll, auch einmal konkreter zu fragen, ob und inwieweit sich Strafnormen des geltenden Rechts, deren Berechtigung kaum einem Zweifel unterliegt, mit jenen in der Rechtsgutsfrage einander gegenüberstehenden Grundpositionen in Einklang bringen lassen.

II. Ich möchte dazu ein Beispiel wählen, bei dem es um fundamentale Normen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens geht: einen Teilaspekt der Regelung der vorsätzlichen Tötungsdelikte im geltenden Recht. Amelung hat sich in einer ganzen Reihe seiner Arbeiten12 immer wieder mit der Frage der strafausschließenden Einwilligung des Verletzten auseinandergesetzt. Sie liegt im Schnittpunkt von Individual- und Allgemeininteressen. Konkreter gesagt, muss hier entschieden werden, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen der Respekt vor der Freiheit des Einzelnen gebietet oder doch zulässt, sein Einverständnis mit einer strafrechtlich relevanten Beeinträchtigung seiner Güter oder Interessen als legitime Verfügung über sie anzuerkennen. Das kann, angesichts einer längst nicht mehr übersehbaren Literatur, hier natürlich nur in einem Teilaspekt zur Sprache kommen, den Amelung, soweit ich sehe, bislang nur gelegentlich behandelt Zuletzt Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 4), S. 155, 159 ff. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 4 f. 9 Dazu jetzt: Stratenwerth, Freiheit und Gleichheit, 2007. 10 Hassemer, Theorie (o. Fn. 6), 31 ff. 11 Siehe zuletzt: Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (Hrsg.), Mediating Principles, 2006, S. 157 ff.; ders., Freiheit und Gleichheit (o. Fn. 9), S. 111 f. 12 Genannt seien hier nur, in chronologischer Folge: Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981; ders., Die Einwilligung des Unfreien, ZStW 95 (1983), 1 ff.; ders., Über die Einwilligungsfähigkeit, ZStW 104 (1992), 525 ff., 821 ff.; ders., Willensmängel bei der Einwilligung als Tatzurechnungsproblem, ZStW 109 (1997), 490 ff.; ders., Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, 1998. 7 8

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hat13, der aber das Zentrum auch seiner Überlegungen zur Aufgabe des Strafrechts berühren dürfte: mit der näheren Bestimmung des Umfangs der Dispositionsfreiheit des Einzelnen über sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit. 1. Den Ausgangspunkt muss dabei § 216 StGB bilden. Über dessen Begründung wird zwar nach wie vor gerätselt14, seine Existenzberechtigung jedoch ganz überwiegend anerkannt15. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Strafdrohung nicht nur zur Straflosigkeit der Teilnahme am Suizid – wie immer man strafbares und strafloses Verhalten hier gegeneinander abgrenzt –, sondern auch und vor allem zu dem mit zunehmender Entschiedenheit betonten Recht auf Ablehnung medizinischer Maßnahmen, insbesondere gerade solchen, die auf Lebensverlängerung gerichtet sind. Bestehen hier nicht, wie von mancher Seite geltend gemacht wird, massive Wertungswidersprüche? a) Was zunächst die strafbare Tötung auf Verlangen und die straflose Mitwirkung am Suizid anbetrifft, so irritieren in erster Linie die Schwierigkeiten der Abgrenzung, die hier bestehen. Gelöst werden sie gemeinhin im Prinzip so, dass entscheidet, als wessen Tat die Herbeiführung des Todes erscheint, ob als die eines Außenstehenden oder allein – und in den besonders kritischen Fällen des einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmordes auch – als die des Betroffenen.16 Nur in diesem zweiten Fall soll die Mitwirkung straflos sein. Damit verschiebt sich die Frage auf die Abgrenzung der Beteiligungsrollen, die sich zumeist freilich schon nach dem äußeren Geschehensablauf entscheiden lässt. Höchst umstritten ist sie jedoch bekanntlich dann, wenn beim Getöteten Mängel der Selbstbestimmung bestanden haben: seine Urteilsfähigkeit beeinträchtigt war, er sich geirrt oder in einer Notoder Zwangslage befunden hat. Nach der sog. „Exkulpationslösung“ führen solche Mängel nur dann zur Verantwortung des Außenstehenden, wenn sie so schwer wiegen, dass sie im vergleichbaren Fall einer Straftat des Betroffenen dessen Schuld ausgeschlossen hätten, nach der „Einwilligungslösung“ hingegen schon dann, wenn er ihretwegen auch in eine Körperverletzung nicht rechtfertigend hätte einwilligen können. 13 Amelung, Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft durch Beherrschung eines nicht verantwortlichen Selbstschädigers, in: Schünemann / Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des Europäischen Strafrechts – Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, S. 247, 251 ff. 14 Siehe nur die – in jeder Hinsicht erschöpfende – Aufzählung bei Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 566 ff. 15 Schon Engisch (FS Hellmuth Mayer, 1966, S. 399 ff., 411) hat es immerhin „auffallend“ genannt, dass die Forderung, die Tötung auf Verlangen allgemein straflos zu lassen, noch nie erhoben worden sei. Diskutiert werden praktisch nur Ausnahmen etwa für Fälle gravierend beeinträchtigter Lebensqualität eines Menschen, der sich selbst nicht mehr töten kann (v. Hirsch / Neumann, GA 2007, 671 ff.). 16 Dazu etwa Roxin, in: J. Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, 1993, S. 177 ff.; Schroeder ZStW 106 (1994), 565, 574 ff.; Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 216 Rn. 11.

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Nach beiden Lösungen endet die Freiheit des Betroffenen dort, wo er die Entscheidung über sein Leben aus der Hand gibt. Beide müssen zwar – angesichts der Straflosigkeit des Suizids nach geltendem Recht – die Freiheit des Betroffenen respektieren, über sein Leben zu verfügen, auch dann, wenn dies aus Gründen geschieht, die, von außen gesehen, als nicht nachvollziehbar oder auch nur vertretbar erscheinen. Für die Mitwirkung Außenstehender gilt dies eben nicht. Nach dem Exkulpationsprinzip wird jene Freiheit nur noch insoweit anerkannt, wie der Betroffene beanspruchen kann, überhaupt als verantwortliche Person zu gelten, nach dem Einwilligungsprinzip, das auch Amelung vertritt17, sogar nur dann, wenn seine Entscheidung im konkreten Einzelfall das Prädikat der Eigenverantwortlichkeit verdient. Nach der einen wie der anderen Lehre steht danach außer Zweifel, dass es nicht die Freiheit des Betroffenen sein kann, um derentwillen der Außenstehende strafbar bleibt, dass § 216 StGB vielmehr seine Freiheit zur Verfügung über sein eigenes Leben einschränkt. Die heute vorherrschende Deutung der Norm geht denn auch dahin, dass sie dem gesellschaftlichen Interesse an der Unverbrüchlichkeit des Tötungsverbots entspreche, der Notwendigkeit, fremdes Leben umfassend zu tabuisieren; beschworen wird die Gefahr eines „Dammbruchs“18. Es ist die Geltung des Tötungsverbotes als solche, die geschützt wird, noch dadurch bekräftigt, dass selbst die mildere Strafdrohung des § 216 StGB mit dem ernstlichen Verlangen des Betroffenen mehr voraussetzt als eine Einwilligung, die andere Verletzungen seiner Rechtsgüter rechtfertigen könnte19. b) In noch höherem Maße erklärungsbedürftig als der Stellenwert von § 216 StGB im System der Tötungsdelikte ist das Verhältnis von aktiver und passiver Mitwirkung beim Eintritt des Todes eines Menschen, wie es sich nach heute ganz herrschender Lehre darstellt. Auf der einen Seite kann nicht zweifelhaft sein, dass Handlungen eines Außenstehenden, die diesen Tod herbeiführen sollen, auch dann verboten und strafbar bleiben, wenn der Betroffene in sie nicht nur einwilligt, sondern sie „ernstlich“ verlangt. Nur das entspricht auch der praktisch einmütigen Ablehnung aktiver Sterbehilfe durch die Ärzteschaft sowohl in Deutschland wie in der Schweiz. Auf der anderen Seite sind Praxis und Lehre – mit Nuancen im Einzelnen – darüber einig, dass auch ein Garant sich, insbesondere im Verhältnis von Arzt und Patient, nicht über dessen Ablehnung lebensrettender oder -verlängernder medizinischer Maßnahmen hinwegsetzen darf.20 Die in solcher Form durch UnterAmelung, in: Schünemann / Figueiredo Dias (o. Fn. 13), a. a. O. Vgl. nur Neumann, in: Nomos Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2005, § 216 Rn. 1; Weigend, ZStW 98 (1986), 44 ff., 66; jeweils m. w. N. 19 Für die Einwilligungslösung soll überdies sprechen, dass sich derjenige, der auf Verlangen tötet, über „den Appell des strafbewehrten Verbotes“ hinwegsetzen müsse (Herzberg, JA 1985, 336, 339; Neumann, in: NK-StGB (o. Fn. 18), Rn. 61 vor § 211). Darin liegt freilich insofern ein Zirkelargument, als es vom Verbot eben des Verhaltens ausgeht, das es allererst begründen will: Die Mitwirkung des Außenstehenden am Suizid soll eben dann verboten sein, wenn ihn Defizite in der Willensbildung des Suizidenten als verantwortlich erscheinen lassen. 20 Zuletzt Geilen, Materielles Arztstrafrecht, in: Frank Wenzel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2007, S. 326 ff., 380. 17 18

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lassen begangene Tötung auf Verlangen ist danach straflos, selbst wenn nicht einmal die engeren Voraussetzungen von § 216 StGB, wie das Erfordernis des entsprechenden Tatmotivs, erfüllt sind. Dass dies mit der üblichen Gleichstellung von Tun und Unterlassen nicht in Einklang steht, bedarf keiner Betonung. Um dies verständlich zu machen, liegt rein dogmatisch natürlich nahe, die Garantenpflicht des Außenstehenden entsprechend zu begrenzen: Gegen den, soweit ersichtlich, ernstzunehmenden Willen des Betroffenen darf der Garant nicht in dessen Freiheitssphäre eingreifen, auch außerhalb ärztlicher Befugnisse nicht, wobei die umstrittenen Einzelfragen der strafrechtlichen Beurteilung unterlassener Suizidhinderung hier außer Betracht bleiben können21. Aber auch dieser Grundsatz bedarf natürlich der Begründung, wenn das theoretisch gleichgewichtige Tun, insbesondere die aktive Sterbehilfe auf Verlangen des Betroffenen, die keinen Eingriff in dessen Freiheit darstellt, strafbar bleibt. Es ist, anders gesagt, offenbar nicht ein unterschiedliches Verhältnis zur Selbstbestimmung des Sterbewilligen, das die tiefgreifende Differenz zwischen aktiver Herbeiführung und passiver Hinnahme seines Todes bei der Bewertung des Verhaltens Außenstehender begründet. Es kann vielmehr nur eben der Unterschied von Tun und Unterlassen sein. Und dafür gibt es keine andere Erklärung als wiederum die kategorische Geltung des Tötungsverbotes, das – in unseren Augen – durch eine Tötungshandlung, mag der Betroffene auch mit ihr einverstanden sein, sehr viel radikaler in Frage gestellt wird als durch die bloße Nichthinderung seines Todes. Wie schon im Verhältnis von Tötung auf Verlangen und Suizidteilnahme ist es, noch einmal anders gesagt, nicht das Interesse des Betroffenen, das hier den Ausschlag gibt: Es ist die Unverbrüchlichkeit der Norm. 2. Hinzugefügt werden mag ein Blick auf die in wesentlichen Punkten übereinstimmende Regelung bei der (schweren) Körperverletzung. Wiederum kann sich fragen, ob die Strafbarkeit solcher Verletzung mit Einwilligung des Betroffenen im Falle ihrer „Sittenwidrigkeit“ nach § 228 StGB nicht der Straflosigkeit jeder, auch der schwersten Selbstverletzung, widerspricht. Und wiederum finden sich in der Lehre die verschiedensten Versuche, dies verständlich zu machen22, mit der Quintessenz, dass es auch hier um die prinzipielle Unantastbarkeit eines der fundamentalen Lebensgüter des Menschen geht. Darüber kann keine der mehr oder minder gewundenen Erklärungen, die hier bemüht werden, hinweghelfen. Es finden sich auch kaum Stimmen, die jene Einschränkung grundsätzlich verwerfen würden, ebenso wenig wie im schweizerischen Recht, das keine § 228 entsprechende Bestimmung kennt. Auf der anderen Seite steht außer Frage, dass jede ärztliche Maßnahme von der Zustimmung des Betroffenen abhängt, auch wenn sie der Heilung oder Verhinderung schwerer Leiden oder Gebrechen dienen soll. Das Unterlassen des Schutzes der körperlichen Integrität eines Menschen gegen ihre gravierende Beeinträchtigung wird hingenommen, wenn es seinem Willen entspricht, 21 22

Dazu etwa Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 16), vor § 211 Rn. 39 ff. Siehe nur Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 16), § 228 Rn. 5.

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die Durchbrechung dieses Schutzes nicht. Das Fazit kann kein anderes sein als bei den Tötungsdelikten. III. Die (halb scherzhafte) Frage eines Kollegen aus der naturwissenschaftlichen Fakultät, wer eigentlich gesagt habe, dass wir einander nicht töten dürften, habe ich vor einiger Zeit nur mit dem Hinweis auf den Dekalog beantworten können, und dies auch nur im Bewusstsein, dass seit Jahrhunderten selbst die Tragweite einer so elementaren Norm wie die des Tötungsverbotes nicht außer Zweifel steht, die uns ja bis heute beschäftigt – man denke nur an die Grenzen der Notwehr und den „finalen“ Todesschuss. Das heißt, dass man hier gar nicht anders wird verfahren können, als auf die heute in unserem Gemeinwesen herrschenden Wertüberzeugungen zu rekurrieren, als die gewissermaßen letzte Instanz. Dabei besteht einer der wichtigsten Befunde, zu denen die Anthropologie des 20. Jahrhunderts geführt hat, in der Relativität kulturbedingter Werte und der immensen Variabilität in den kulturellen Formen der verschiedensten menschlichen Gesellschaften.23 Hinter diese Einsicht können wir nicht zurück. Sie gilt selbstverständlich auch für unsere soziale Ordnung. Also kann es in der Rechtsgüterfrage „nur“ darum gehen, wie sich Normen, die uns als unabdingbar erscheinen, von hier aus darstellen. Dabei kommen, wenn ich recht sehe, beide eingangs einander gegenüber gestellten Positionen in Schwierigkeiten. 1. Dass es bei den Verboten der Tötung auf Verlangen und einer mit Einwilligung des Betroffenen vorgenommenen, aber sachlich unbegründeten schweren Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität nicht um seine Freiheit geht, wird man nach dem Gesagten feststellen dürfen, ohne die Versuche, § 216 StGB verständlich zu machen, erneut durchzudeklinieren. Also kann sich nur fragen, ob es im Rahmen einer an sich allein auf die individuelle Handlungsfreiheit abstellenden Lehre nicht doch einen Raum auch für Verhaltensnormen gibt, die sich so nicht legitimieren lassen. Hassemer hat in seiner frühen Arbeit unter dem Stichwort des Tabus ausführlich erörtert, dass die „normative gesellschaftliche Verständigung“ unserer Gesellschaft auch magische Elemente aufweist, illustriert an den Beispielen des Schutzes der Staatssymbole (§§ 90 ff. StGB), des Schutzes der Toten (§§ 167a, 168 und 189 StGB) und des Sexualstrafrechts, mit dem Fazit, dass Rechtsgüterpolitik nicht außerhalb solcher Verständigung betrieben werden könne.24 Dabei sollen sich Versuche der Rechtsgutslehre, „sich gegenüber dem kulturhistorischen Kontext oder der herrschenden Werterfahrung kritisch und aktiv abzusetzen“, zwar „nicht wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Kontext befreien, innerhalb dessen sie handeln“, aber doch, notabene durch „Aufklärung“, aus ihm heraus Alternativen entwickeln können: „Entwürfe eines ,humaneren‘, 23 24

Siehe nur A. Irving Hallowell, Culture and Experience, 1967, S. 236. Hassemer, Theorie (o. Fn. 6), S. 160 ff., 239 f.

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,rationalen‘ oder auch ,effektiveren‘ Umgangs mit abweichendem Verhalten“25. Aber auch wenn man das gern zugestehen wird, bleibt natürlich die Frage nach den möglichen Gegenständen solcher Aufklärung, und sie führt hier unausweichlich zu der Feststellung, dass es bei den in Rede stehenden Verboten der Tötung und des schweren Eingriffs in die körperliche Integrität eines Menschen nichts aufzuklären gibt. Bei ihnen geht es ohne jeden Zweifel nicht um Magie. 2. Amelung hingegen hat die Aufgabe, kritische Maßstäbe für eine legitime Strafgesetzgebung zu benennen, unter einem anderen Blickwinkel in Angriff genommen. Seine Grundthese war stets die, dass der Staat allein solche Handlungen bei Strafe verbieten dürfe, die den Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zuwiderlaufen26, und das ist, soweit ich sehe, im Prinzip seine Position noch heute. Sie entspricht auch insofern einer communis opinio, als sie die Aufgabe des Strafrechts auf die Sicherung elementarer sozialer Normen beschränkt. Dabei hat Amelung zwar keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm um das durch das Grundgesetz begründete soziale System gehe, dessen Strukturen auf den Respekt der Menschenwürde angelegt sind27, hat zugleich aber das Strafrecht nie auf freiheitssichernde Bestimmungen einschränken wollen28. Deshalb dürfte es von seinem Ansatz aus, zumindest auf den ersten Blick, wesentlich einfacher sein, die hier diskutierten Verbote als legitim zu akzeptieren. Aber es bleibt natürlich die Frage, welche Normen in diesem Sinne für den Bestand des Gemeinwesens unerlässlich sind. Amelung scheint ursprünglich gemeint zu haben, dass sie, „im Zweifelsfalle unter Rückgriff auf die empirische Sozialforschung“, durch „scharfe Reflexion“ zu ermitteln seien29, während er heute eher resignierend bemerkt, dass man über die sozialen Wirkungen abweichenden Verhaltens in den Lehrbüchern der Kriminologie, „wie so oft bei strafrechtsdogmatisch interessanten Fragen“, nichts finde30. Er hat sich freilich, im Blick auf allgemeine und tief verinnerlichte Werthaltungen der Bevölkerung, in seiner Dissertation selbst mit der Frage auseinandergesetzt und sie dort in dem Sinne entschieden, dass wohl nur solche Verstöße eine strafrechtliche Sanktion erfordern, die schwere soziale Konflikte befürchten lassen31. Das dürfte für den Großteil der Hassemer, Theorie (o. Fn. 6), S. 191, 240. Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 8), S. 382; ders., ZStW 87 (1975), 132, 145. 27 Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 4), S. 155, 180 f. Insofern erscheint es als geradezu abenteuerliches Missverständnis, seine Option für systemtheoretische Analysen als Bekenntnis zu einer kollektivistischen gesellschaftlichen Ordnung zu interpretieren. 28 Michael Marx, der als Rechtsgüter nur anerkennen wollte, was der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht (Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, 1972, 62), musste sich von Amelung deshalb in einer frühen Besprechung auch die Frage entgegengehalten lassen, ob „das nach Zweck und Gültigkeit doch praktisch unumstrittene Tierschutzgesetz der freien Entfaltung der Person“ diene (ZStW 84 [1972], 1026). 29 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 8), S. 382; ders., ZStW 87 (1975), 132, 145. 30 Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 4), S. 155, 181. 31 Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 8), S. 325. 25 26

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Straftatbestände in unserer Gesellschaft und sicherlich für ein Verbot wie das der Tötung auf Verlangen zu eng sein32. Weniger hohe Anforderungen ergeben sich denn auch aus seiner späteren Feststellung, Normen (und Institutionen) gewährleisteten „eine bestimmte Gestalt der Gesellschaft“, und schon insoweit habe „Normschutz die Funktion eines Bestandsschutzes der Gesellschaft“33. Nur lässt diese Umschreibung erneut offen, von welchen Normen der Bestand der Gesellschaft in einem präziseren Sinn abhängt, und dafür gibt es offenbar dann doch kein anderes Kriterium, als dass wir sie hier und heute – zumindest überwiegend – für unabdingbar halten. 3. Alle Überlegungen enden danach wieder bei dem Fazit, dass hinter den gesellschaftlichen Konsens kein Weg zurückführt. Dies allein entspricht ja auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit in einem demokratischen Staatswesen. Wie anders hätte etwa der jahrzehntelange Streit über die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs entschieden werden sollen? Oder wie die Diskussion über die Zulässigkeit aktiver Sterbehilfe? Maßgebend kann doch nur sein, worauf wir uns in einem öffentlichen Meinungsbildungsprozess am Ende verständigen. Das schließt selbstredend die kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Stand der Strafgesetzgebung nicht aus, sondern sollte geradezu als Aufforderung zu ihr, als dem Movens weiterer Rechtsentwicklung, verstanden werden. Aber es sollte doch verbieten, den Gesetzgeber, zu dem wir ja kraft Stimmrecht alle gehören, aus der Höhe für unanfechtbar gehaltener, womöglich noch verfassungsrechtlich begründeter Wahrheiten darüber belehren zu wollen, auf welche neuen Regelungsbedürfnisse er mit Strafbestimmungen reagieren darf und auf welche nicht, wie etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, mit den Verboten, die sich gegen das Klonen oder die Chimären- und Hybridbildung bei menschlichen Embryonen richten (§§ 6, 7 ESchG). Wenn eine verfassungsändernde Mehrheit beschließt, wie es 1994 geschehen ist, unter die schutzwürdigen Güter auch die „natürlichen Lebensgrundlagen“ künftiger Generationen aufzunehmen (Art. 20a GG), dann kann doch wohl kein Zweifel daran bestehen, dass sie damit eine legitime Entscheidung getroffen hat, auch wenn dies andere Freiheiten, wie die der Forschung oder auch des Gewinnstrebens, einschränkt. Das muss dann natürlich ganz ebenso für die zugehörigen Strafbestimmungen (§§ 324 ff. StGB) gelten. In der gegenwärtigen Diskussion über die Rechtsgutsfrage geht es, das scheint nicht oft genug wiederholt werden zu können, nicht darum, den Schutz des Einzelnen in seiner Freiheit und seinen Gütern als Aufgabe des Strafrechts zu leugnen, sondern allein darum, den Blickwinkel zu erweitern: darauf, dass es zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehört, in einer sozialen Ordnung zu leben, die zumindest im Großen und Ganzen als „richtig“ empfunden wird. Für uns sollte deshalb nicht zweifelhaft sein, dass die Achtung der Menschenwürde auch gebieVgl. Stratenwerth, in: von Hirsch / Seelmann / Wohlers (o. Fn. 11), S. 157, 158 f. Amelung, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (o. Fn. 4), S. 155, 179; Hervorhebung von mir. 32 33

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tet, den Anderen, außer in dieser seiner persönlichen Freiheit, prinzipiell ganz ebenso in seinen Überzeugungen von einem „guten“ Leben zu respektieren. Von hier aus sollte es dann, bei aller Distanz zu jeder Berufung auf den „Volksgeist“, die ich mit Amelung teile, keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten, auch Normen als berechtigt anzuerkennen, für die es keine andere Begründung gibt, als dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, die diese Regeln respektiert, gehe es dabei um bisher schon anerkannte Bereiche wie etwa den Tierschutz, die Religionsausübung und den Umgang mit Toten oder auch um neuere Entwicklungen wie die Möglichkeit krasser Missbräuche der Gentechnologie. In dieser Grundhaltung hoffe ich mit Amelung einig zu sein, der ja „bei der konkreten Anwendung des Postulats, das Strafrecht habe die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten“, normative „politische Entscheidungen über die Art der Problembewältigung“ – wie sie hier in Frage stehen dürften – stets einbezogen wissen wollte34. In jedem Falle soll dieser kleine Beitrag, wie es sich bei einer Festschrift geziemt, nichts anderes sein als ein Widerhall der großen wissenschaftlichen Verdienste Knut Amelungs. Ich hoffe deshalb, dass er, der die von ihm verfochtenen Positionen ja immer äußerst engagiert vertreten hat, ihn in diesem Sinne versteht, als Votum in einem Disput, der fortgeführt werden sollte, und tue es mit meinen besten Wünschen für ihn.

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Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 8), S. 389.

III. Strafrecht (Besonderer Teil)

Gedanken zur Aufsichtspflichtverletzung (§ 130 OWiG) Von Hans Achenbach

I. Themenstellung Knut Amelung hat 1997 in Moritzburg bei Dresden ein Rundgespräch organisiert, das sich mit den Fragen der individuellen Verantwortung bei Straftaten in bürokratischen Organisationen beschäftigte.1 Im Vordergrund standen dabei grundlegende Probleme der Dogmatik des Wirtschaftsstrafrechts. Bei der in diesen Zusammenhang gehörenden Regelung der „Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen“ gemäß § 130 OWiG haben sich in jüngster Zeit Veränderungen ergeben, die den Blick zurücklenken auf dessen Grundfragen. Diesen sollen deshalb hier einige Überlegungen gewidmet werden.

II. Das Pflichtenmodell des § 130 OWiG 1. § 130 OWiG2 in seiner heute geltenden Gestalt droht Geldbuße an für die Unterlassung von Aufsichtsmaßnahmen, „die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist, [ . . . ] wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre“ (Abs. 1 Satz 1). Ursprünglich hatte der Tatbestand von Pflichten gesprochen, die den Inhaber „als solchen“ treffen; jedoch sind diese beiden Wörter 2007 gestrichen worden.3 Der Gesetzgeber4 begründet das mit den Vorgaben in dem Rahmenbeschluss 2005 / 222 / JI des Rates vom 24. 2. 2005 über Angriffe auf Informationssysteme5 1 Publiziert in dem Sammelband: Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000. 2 Im Folgenden werden die Paragraphen des OWiG ohne Angabe des Gesetzes zitiert. 3 Durch Art. 2 des 41. Strafrechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Computerkriminalität (41. StrÄndG) vom 7. 8. 2007 (BGBl. I, S. 1786). 4 Hier der Entwurf der Bundesregierung (künftig: RegE) zum 41. StrÄndG, BT-Drucks. 16 / 3656, S. 14.

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und in dem Abkommen des Europarates über Computerkriminalität vom 23. 11. 2001. Danach erfordern Art. 8 Abs. 2 des EU-Rahmenbeschlusses und Art. 12 Abs. 2 des Europarats-Abkommens die Verantwortlichkeit einer juristischen Person bereits dann, wenn mangelnde Überwachung oder Kontrolle einer ihrer Leitungspersonen die Begehung des computerbezogenen Delikts ermöglicht hat, um das es dort geht. Die Tatbestände der §§ 202a – 202c, 303a und 303b StGB seien Allgemeindelikte. Die Streichung der Wörter „als solchen“ soll nach der Intention des Gesetzgebers daher klarstellen, „dass § 130 nicht nur Sonderdelikte erfasst, sondern – wie § 30 – grundsätzlich auch Allgemeindelikte erfassen kann“. Daher könnten auch die genannten Straftatbestände taugliche Bezugstaten nach § 130 sein und damit über diese Vorschrift eine Verantwortlichkeit der juristischen Person nach § 30 begründen.6 Freilich hebt die Entwurfsbegründung der Bundesregierung hervor, Pflichtverletzungen mit per se höchstpersönlichem Einschlag und solche, die keinen Bezug zur wirtschaftlichen Betätigung des Betriebes und oder Unternehmens haben, seien weiterhin ausgeschlossen. Es bleibe bei dem Erfordernis, dass die Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Betriebs- oder Unternehmensführung erfolgt sein müsse. Das widerspreche auch nicht den europarechtlichen Vorgaben.7 Damit strebt der Entwurf eine Parallelisierung zwischen den gesetzlichen Voraussetzungen der Festsetzung einer Verbands- oder Unternehmensgeldbuße gemäß § 30 und der bußbaren Aufsichtspflichtverletzung in § 130 an. 2. Mit diesem berichtigenden Wort des Gesetzgebers hat sich eine Streitfrage erledigt, die zuvor anknüpfte bei den unterschiedlichen Formulierungen in § 30 (Verletzung von Pflichten, „welche die juristische Person oder Personenvereinigung treffen“, als eine der Voraussetzungen für die Festsetzung einer Geldbuße gegen eben diese) und § 130 a.F. (Zuwiderhandlung gegen Pflichten, „welche den Inhaber als solchen treffen“). Beide Normen verlangen jetzt übereinstimmend sachlich eine Zuwiderhandlung gegen betriebsbezogene Pflichten. Die von mir zur alten Fassung des § 130 vertretene „normtheoretische Betrachtungsweise“8 ist damit insoweit überholt, als sie sich für eine Beschränkung auf Sonderpflichten des Inhabers als den Bezugspunkt der Aufsichtspflicht aussprach.9 Wenn es nicht mehr um Pflichten „des Inhabers als solchen“, sondern nur noch um solche „des ABl.EU L 69 vom 16. 3. 2005, S. 67. Allerdings bleibt eine Divergenz weiter unaufgelöst, weil die 2002 Gesetz gewordene Erweiterung des Täterkreises der Anknüpfungstat in § 30 Abs. 1 (Nrn. 4 und 5) nicht voll von § 130 und der ergänzenden Regelung in § 9 aufgenommen wird (vgl. dazu nur Achenbach, wistra 2002, 441, 442 f., 445). 7 BT-Drucks. 16 / 3656, S. 14 f. 8 So die treffende Benennung von Rogall, in: Senge (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl., 2006 (KKOWiG), § 130 Rn. 83. 9 S. dazu zuletzt Achenbach, in: Achenbach / Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 1. Aufl. 2004, Kap. I Abschn. 3, Rn. 45 (in der 2. Aufl. von 2008, a. a. O., Rn. 44, ersetzt durch eine Einbeziehung von Jedermannspflichten). 5 6

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Inhabers“ geht, dann können diese Pflichten auch allgemeiner Natur sein, sofern sie sich nur im konkreten Fall auf den Inhaber selbst beziehen. Es fallen also neben alleinigen Sonderpflichten des Unternehmensinhabers jetzt auch Pflichten in den Anwendungsbereich des § 130, die für jedermann gelten, hier aber den Inhaber treffen, z. B. die Pflichten zur Vermeidung von Körperverletzungen oder gar Todesfällen beim Arbeitsschutz oder zur Vermeidung der Verunreinigung von Gewässern (s. §§ 223 ff., 211 ff., 324 StGB). Weiterhin für zutreffend, ja zwingend halte ich aber den normtheoretischen Ansatz als solchen: § 130 Abs. 1 formuliert selbst sehr differenziert und spricht nur von der Zuwiderhandlung gegen „Pflichten“ des Inhabers, „deren Verletzung“ mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Die Norm knüpft damit nicht an bei einem bestimmten Typus von Sanktionstatbestand, sondern bei der diesem vorgelagerten Verhaltensnorm und der Pflicht zu ihrer Beachtung.10 § 130 Abs. 3 macht die konkrete Geldbußdrohung jeweils davon abhängig, ob und in welcher Höhe die „Pflichtverletzung“ mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. § 131 Abs. 2 stellt darauf ab, ob die „Pflichtverletzung“ nur auf Antrag etc. verfolgt werden kann; auch für die anwendbaren Verfahrensvorschriften kommt es gemäß § 131 Abs. 3 darauf an, welche Normen für die Verfolgung der „Pflichtverletzung“ gelten oder gelten würden. Diesen Zusammenhang verzeichnet auch der RegE des 41. StrÄndG, wenn er davon spricht, § 130 solle nicht nur Sonder-, sondern auch Allgemeindelikte erfassen.11 Es geht allemal um die aus Allgemein- oder Sonderdelikten erschließbare und darin sanktionierte vorgelagerte Pflicht, die freilich häufig allein aus der für ihre Verletzung angedrohten Sanktion hergeleitet werden kann, dennoch aber von der Sanktionsnorm gedanklich zu trennen ist.12 Freilich folgt aus dieser Vorgabe kein sachlicher Unterschied, weil § 130 Abs. 1 ja nur auf solche Pflichten anwendbar ist, „deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist“. Aber für die normtheoretische Analyse wie für die gesetzliche Terminologie ist doch die Differenzierung zwischen der Pflicht und ihrer Sanktionierung grundlegend. 3. Der Betriebsbezug der von § 130 allein erfassten Pflichten ergibt sich hinreichend deutlich daraus, dass der Tatbestand des § 130 nur die Verhinderung von Zuwiderhandlungen „in dem Betrieb oder Unternehmen“ als Ziel der Norm um10 Das soll die Verwirklichung des Tatbildes von inhaberbezogenen Sonderdelikten durch nicht sonderpflichtige Unternehmensmitarbeiter in den Kreis der Anknüpfungs-Zuwiderhandlungen einbeziehen, so der RegE des OWiG 1968, BT-Drucks. V / 1269, S. 70 linke Spalte; Achenbach, in: Achenbach / Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Kap. I Abschn. 3 (zit. HWSt I 3) Rn. 46; König, in: Göhler, OWiG, 14. Aufl. 2006, § 130 Rn. 21; Rebmann / Roth / Herrmann, OWiG (Loseblatt-Kommentar), § 130 Rn. 10; Rogall, in: KKOWiG, § 130 Rn. 76. 11 BT-Drucks. 16 / 3656, S. 14. 12 Auf die in dem Sanktionstatbestand verkörperte vortatbestandliche Pflicht stellt auch Rogall, in: KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 84 a.E. ab, der freilich im Rahmen der alten Fassung allein eine Sonderpflicht für einschlägig hält.

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schreibt. Weil damit nur ein sachlicher und nicht ein bloß lokaler oder sonst zufälliger Zusammenhang gemeint sein kann, fallen Privathandlungen eines Betriebsangehörigen nicht unter den Tatbestand. Als Beispiel dafür nennt der RegE des 41. StrÄndG die gelegentliche Ausspähung von Daten einer Privatperson, ihre Löschung oder unbefugte Veränderung u. Ä. durch den allein für den internen EDV-Einsatz zuständigen Mitarbeiter eines Architekturbüros, im Gegensatz zu entsprechenden Handlungen der Mitarbeiter eines Software-Unternehmens gegenüber Firmenkunden.13

III. Tatbestand oder außerordentliche Zurechnungsform? 1. § 130 stellt eine enge Bindung her zwischen der Regelung der Aufsichtspflichtverletzung und der Sanktionsnorm, in welcher die mittels Aufsicht unzulänglich kontrollierte „Pflichtverletzung“ mit Strafe oder Geldbuße bedroht wird. Ausgelöst wird die Verhängung einer Geldbuße für die Aufsichtspflichtverletzung erst, wenn eine „solche Zuwiderhandlung“ auch tatsächlich begangen wird; nach der Satzstellung (Tatbestand und Rechtsfolge vor dem Wenn-Satz) soll darin eine objektive Bedingung der Ahndung liegen, die von dem Vorsatz oder dem bloßen Kennenmüssen auf Seiten des Aufsichtspflichten unabhängig sein soll.14 Weiter richtet sich der Geldbußrahmen nach der Straf- oder Geldbußdrohung für die Pflichtverletzung (§ 130 Abs. 3). Auch wird die Antragsbedürftigkeit für die Verfolgung der Aufsichtspflichtverletzung und der Anknüpfungs-Zuwiderhandlung in § 131 Abs. 2 parallelisiert, und § 131 Abs. 3 erklärt diejenigen Verfahrensvorschriften für maßgeblich, die für die Verfolgung der mit Geldbuße bedrohten Pflichtverletzung anzuwenden sind oder – im Falle einer für die Pflichtverletzung angedrohten Strafsanktion – anzuwenden wären. 2. Diese enge Abhängigkeit von der Anknüpfungstat – die an § 323a StGB erinnert – wirft die Frage nach der Eigenständigkeit der Aufsichtspflichtverletzung auf. Entschieden verneint hat sie Wolfram Bauer. Er ist der Ansicht, dass es sich bei § 130 „in Wirklichkeit um eine außerordentliche Zurechnungsform und nicht um einen selbständigen (Gefährdungs-)Tatbestand handelt“.15 § 130 beruhe auf dem Gedanken der Zurechnung des Fremdverschuldens als Vorverschulden, und zwar für die Festsetzung einer Verbandsgeldbuße gemäß § 30. Diese Norm wiederum ermöglicht es, gegen einen Personenverband und damit gegen Unternehmensträger wie die Aktiengesellschaft, die GmbH, die KG und anBT-Drucks. 16 / 3656, S. 14. So der RegE des OWiG 1968, BT-Drucks. V / 1269, S. 70. Aus der Literatur übereinstimmend etwa Achenbach HWSt I 3 (o. Fn. 10), Rn. 61; König, in: Göhler, OWiG (o. Fn. 10), § 130 Rn. 17; Rebmann / Roth / Herrmann, OWiG (o. Fn. 10), § 130 Rn. 5a; Rogall, in: KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 18. 15 So wistra 1992, 47, 49; ähnlich wistra 1995, 170, 172 ff. (Hervorhebung nicht im Original). 13 14

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dere überpersonale Einheiten eine Geldbuße zu verhängen, wenn eine Leitungsperson des Unternehmens i.S. von § 30 Abs. 1 Nr. 1 – 5 eine unternehmensbezogene Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat. Wird indes die eigentliche Anknüpfungstat – etwa ein computerbezogenes Delikt, eine strafbare oder bußbare Zuwiderhandlung gegen Umweltrecht oder ein bußbarer bzw. (gemäß §§ 298 oder 263 StGB) strafbarer Kartellrechtsverstoß – nicht von einer Person begangen, die in formalisierter Form oder materiell „für die Leitung des Betriebs oder Unternehmens“ einer juristischen Person oder einer gesetzlich bestimmten Personenvereinigung „verantwortlich handelt“ (s. § 30 Abs. 1 Nr. 5), so würde die Regelung des § 30 ohne die Ergänzung durch § 130 ins Leere laufen. Denn Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von Angehörigen der mittleren oder unteren Betriebs- oder Unternehmensebene lösen keine Unternehmensgeldbuße aus. Hier greift aber nun § 130 ein, indem er die Möglichkeit eröffnet, dem oberen Management, das nicht selbst an dem eigentlichen Gesetzesverstoß nachweisbar beteiligt war, jedenfalls die mangelnde Aufsicht zum Vorwurf zu machen, wenn sie diesen nicht verhindert oder ihn zumindest wesentlich erleichtert hat. Damit gibt es dann wieder eine Ordnungswidrigkeit (wenigstens) einer Leitungsperson, an die eine Verbandsgeldbuße geknüpft werden kann – obwohl es doch materiell um den Angriff auf Informationssysteme, den Umweltverstoß oder die Kartellrechtszuwiderhandlung geht, die von dem nicht der Leitungsebene angehörigen Mitarbeiter begangen worden war: halt i. S. der §§ 130, 131 um die „Pflichtverletzung“. Dass § 130 im Sinne einer Sicherung von Zurechnung einer Verantwortlichkeit des leitenden Managements bei der Festsetzung der Unternehmensgeldbuße zu wirken geeignet ist, kann danach gar nicht bestritten werden.16 Das gilt besonders für das Kartellordnungswidrigkeitenrecht. Demgemäß hat auch das Bundeskartellamt formuliert: „Eine Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 Abs. 1 OWiG ist [ . . . ] die praktisch wichtigste Bezugstat des § 30 OWiG“.17 Noch entschiedener der II. Zivilsenat des BGH:18 „Sinn des § 130 OWiG ist [ . . . ] die Erstreckung der Sanktionsmöglichkeit auf den Unternehmensträger.“ Auch die Motivation des 41. StrÄndG war es – wie dargelegt –, über die Änderung des § 130 die Verantwortlichkeit einer juristischen Person (in dem umfassenden Verständnis der europarechtlichen Abkommen) zu begründen.19 3. Dennoch erscheint mir die These von Bauer zweifelhaft, die Norm erschöpfe sich in dieser einen Funktion. Es fällt allerdings auf, dass § 130 seinen Standort nicht in dem eigentlichen Besonderen Teil des OWiG20 hat, sondern den Inhalt eines eigenen Vierten Teils des OWiG bildet. Aber nach der gesetzlichen Konstruktion handelt es sich doch um einen besonderen Ordnungswidrigkeiten-Tatbestand 16 17 18 19 20

So auch Rogall, in: KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 4, 5. BKartA WuW / E DE-V 85, 88 „Preisetiketten“ (= WuW 1999, 385, 388). BGHZ 125, 366, 374. BT-Drucks. 16 / 3656, S. 14 rechte Spalte, dazu o. II 1. Dritter Teil: Einzelne Ordnungswidrigkeiten, §§ 111 – 129.

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mit der Umschreibung eines tatbildlichen Verhaltens und seiner Deklarierung als ordnungswidrig (bei Erfüllung der objektiven Ahndungsbedingung) in Abs. 1 und der Bestimmung des Geldbußrahmens in Abs. 3. Unleugbar droht das OWiG in § 130 dem Inhaber des Betriebes oder Unternehmens und den ihm gemäß § 9 gleichstehenden Personen als solchen eine Geldbuße an. Diese Funktion tritt also neben die einer Sicherung von Zurechnung in § 30 zu dem zu bebußenden Verband: § 130 enthält auch eine veritable Geldbußdrohung für die je betroffene natürliche Person. Bauer hält das indes für einen bloßen „Etikettenschwindel“.21 Er sieht also offenbar die Bußgelddrohung für die natürliche Person als irrelevant oder doch wenigstens illegitim an. Nun zeigt die Praxis des Kartellordnungswidrigkeitenrechts, dass die Geldbußen gegen die Manager wegen Aufsichtspflichtverletzung signifikant niedriger ausfallen als die daran anknüpfenden Geldbußen gegen die Unternehmensträger, für die sie gehandelt haben. Aber das beruht auf den unterschiedlichen Anknüpfungsparametern: die wirtschaftlichen Verhältnisse der natürlichen Person in § 17 Abs. 3 und die des von ihr repräsentierten Unternehmens bei Anwendung des § 30.22 Es ist auch möglich und kommt vor, dass die zuständige Verwaltungsbehörde das Verfahren gegen die natürliche Person nach dem Opportunitätsprinzip des § 47 gar nicht erst eröffnet und sofort eine isolierte Unternehmensgeldbuße i.S. von § 30 Abs. 4 anstrebt. Illegitim aber wäre der Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung allein dann, wenn die Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Normierung in § 130 verneint werden müsste; dafür aber sind wieder wesentliche Hilfen die Denkansätze, Sachkriterien und Limitierungen in der Debatte um das in § 130 gemeinte Rechtsgut.23 4. Der Gesetzgeber sah in der bußbaren Aufsichtspflichtverletzung die Sanktion für eine bloße Verletzung von Ordnungsvorschriften, die kein sozialethisches Unrecht darstelle.24 Indes hat der Jubilar in seinen grundlegenden Untersuchungen zum Rechtsgutsbegriff schon 1972 aufgewiesen, dass eine solche Entgegensetzung von Ordnung und Sozialethik, von bloßen Verwaltungsinteressen und geschützten Rechtsgütern die wahren Verhältnisse verzeichnet. 25 Auch OrdnungswidrigkeitenTatbestände dienen weithin dem Zweck, den wir üblicherweise als Schutz von Rechtsgütern umschreiben.26 In der Literatur wird dies auch dem Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung zugestanden. Freilich zeigt die Diskussion zugleich die Wistra 1992, 47, 49; wistra 1995, 170, 172. Dieser Parameter für die Zumessung der Verbandsgeldbuße ist anerkannt, obwohl § 30 Abs. 3 nur auf § 17 Abs. 4 und nicht auf § 17 Abs. 3 Bezug nimmt; s. nur Achenbach, in: Jaeger u. a. (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Loseblattkommentar – zit. FK-KartR), § 81 GWB 2005 Rn. 281 mit umfassenden Nachweisen. 23 Näher dazu Achenbach, ZStW 119 (2007), 789, 811 ff. m. w. N. 24 RegE OWiG 1968, BT-Drucks. V / 1269 S. 68 linke Spalte. 25 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 287 ff., insbesondere 289, 296 f. 26 Näher dazu Achenbach GA 2008, 1, 9 und passim. 21 22

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zahlreichen Aporien auf, welche die Rechtsgutsdebatte trotz der verdienstlichen Forschungen von Amelung immer noch kennzeichnen. Die bloße Sicherung von Zurechnung wird als Rechtsgut des § 130 zu Recht ausgeschlossen.27 Eine verbreitete Meinung nimmt aber an, Zweck des § 130 sei der Schutz der von der jeweils verwirklichten Anknüpfungstat geschützten Rechtsgüter durch Verlagerung dieses Schutzes in ein Vorfeld der eigentlichen Zuwiderhandlung.28 Dem gegenüber steht eine Argumentationslinie, welche eine davon unabhängige eigenständige Begründung der Norm sucht. Den entschiedensten Standpunkt nimmt hier Bosch ein, der das Rechtsgut des § 130 in der „Ordnung im Betrieb“ sehen will;29 der Tatbestand solle der generellen Gefährlichkeit entgegenwirken, „die sich für alle relevanten Güter des Ordnungswidrigkeiten- und Strafrechts ergeben kann, wenn in einem Betrieb die Einhaltung betriebsspezifischer Pflichten nicht durch Organisationsmaßnahmen sichergestellt ist“; die damit verbundene Verstärkung des Schutzes der betroffenen Individualrechtsgüter sei eine bloße Funktion, nicht aber das Rechtsgut der Norm. Ob man sich auf die Differenzierung von geschützten Rechtsgütern, bloßen sonstigen Funktionen und Schutzreflexen begrifflich wirklich einlassen muss, möchte ich – der verehrte Jubilar möge mir meine Skepsis verzeihen – hier offen lassen. Aber gegenüber den Angriffen von Bauer auf die Legitimität des Tatbestandes der Aufsichtspflichtverletzung wäre sicher eine eigenständige, nicht einseitig auf die Ziele der je verwirklichten Anknüpfungstat des Mitarbeiters beschränkte Bestimmung seines gesetzlichen Zweckes hilfreicher als die Gegenmeinung. Ich halte sie auch für möglich, ja geboten. Allerdings muss man einen Gedanken deutlicher damit verbinden, der für die Auslegung des § 130 ohnehin unverzichtbar erscheint: Eine zentrale Schwierigkeit der Norm liegt darin, dass das Gesetz im Prinzip völlig offen lässt, welche Aufsichtsmaßnahmen denn im Einzelnen von dem Inhaber und seinen Substituten erwartet werden; allein die Bestellung, Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen wird in § 130 Abs. 1 Satz 2 als mögliche Konkretisierung genannt. Eine „Aufsicht an sich“ unabhängig von den je besonderen Bedingungen des einzelnen Unternehmens oder Betriebes lässt sich nicht bestimmen. Andererseits geht es auch nicht an, die generell ex ante gebotenen Aufsichtsmaßnahmen erst im Nachhinein aus der tatsächlich begangenen Anknüpfungstat des Mitarbeiters zu entwickeln. Die Lösung liegt nach einer inzwischen weit verbreiteten Überzeugung in einem Rückgriff auf die Betriebstypik:30 Was 27 In diesem Sinne etwa Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002, S. 318 f.; Rogall, in: KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 12. 28 König in Göhler, OWiG (o. Fn. 10), § 130 Rn. 3a; Lemke / Mosbacher OWiG, 2. Aufl. 2005, § 130 Rn. 3; Rebmann / Roth / Herrmann, OWiG (o. Fn. 10), § 130 Rn. 2; Rogall in KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 14. 29 Organisationsverschulden (o. Fn. 27), S. 321 ff., Zitat von S. 322. 30 Achenbach, in: HWSt I 3 (o. Fn. 12), Rn. 55 m. w. N.; Hellmann / Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, 2004, Rn. 890; Hüneröder, Die Aufsichtspflichtverletzung im Kartellrecht,

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die gehörige Aufsicht gebietet, richtet sich nach den betriebstypischen Zuwiderhandlungsgefahren, die wieder abhängen von der Branche und ihren Usancen, aber auch von der Größe des Unternehmens und der konkreten Zusammensetzung des betrieblichen Mitarbeiterstabes. Der Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung will deshalb den Unternehmensinhaber oder die an seiner Stelle handelnden Leitungspersonen dazu anhalten, den betriebs- und unternehmenstypischen Zuwiderhandlungsgefahren so weitgehend vorzubeugen, wie es mit dem normativen Regulativ der Zumutbarkeit und mit übergeordneten Gesichtspunkten wie dem Betriebsfrieden und der Eigenverantwortung der Betriebsangehörigen31 vereinbar erscheint. Eben darin liegt der Schutzzweck des § 130: Der Tatbestand dient der Vermeidung der betriebstypischen Zuwiderhandlungsgefahren durch die Organisation von Aufsicht über die Mitarbeiter im Rahmen des rechtlich Möglichen.32 Diese Deutung erklärt im Übrigen auch die Korrelation zwischen dem Geldbußrahmen für die Aufsichtspflichtverletzung und der Sanktionsdrohung für die konkrete Anknüpfungs-Zuwiderhandlung des Mitarbeiters. Denn der Unrechtsgehalt der unterlassenen Aufsicht hängt ja wieder ab von dem Gewicht der jeweils drohenden (betriebstypischen) Zuwiderhandlung; es ist evident etwas anderes, ob etwa mit einer bloßen Missachtung der Regeln korrekten Verhaltens im Verwaltungsverfahren zu rechnen ist oder mit einem gewichtigen Verstoß gegen materielles Umwelt- oder Kartellrecht. Für dieses Gewicht ist die dann tatsächlich begangene Zuwiderhandlung aber indiziell. 5. Ein „Etikettenschwindel“ wäre der besondere Ordnungswidrigkeiten-Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen nur dann, wenn man die Geldbußdrohung gegen die leitenden Manager selbst als absolut illegitim oder als völlig funktionslos bewerten müsste. Das wird man beides nicht sagen können. Dass die Leitung eines Unternehmens gegen die von ihm ausgehenden typischen Zuwiderhandlungsgefahren vorgehen muss, liegt auf der Hand. Da solche Verstöße häufig zur Ersparnis von Aufwendungen oder gar zu illegalen Gewinnen führen können, können die rechtssetzenden Instanzen auch nicht auf bloße Unternehmensethik, Compliance-Programme oder dergleichen als allein ausreichende Gegenkraft vertrauen. Der Einsatz hinreichend belastender ahndender Sanktionen findet darin seine Rechtfertigung. 1989, S. 113; König, in: Göhler, OWiG (o. Fn. 10), § 130 Rn. 9; Rebmann / Roth / Herrmann, OWiG (o. Fn. 10), § 130 Rn. 13 a.E.; Otto, Jura 1998, 409, 414; Rogall, in: KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 17, 36; Többens, NStZ 1999, 1, 5. 31 S. dazu BGH wistra 1986, 222, 223 = WuW / E BGH 2262, 2264 f. „Aktenvermerke“. 32 In ähnlichem Sinne hatte schon BGHZ 125, 366, 373, das Schutzgut der Aufsichtspflichtverletzung in dem „Interesse der Allgemeinheit an der Schaffung und Aufrechterhaltung einer innerbetrieblichen Organisationsform“ gesehen, „mit der den von einem Unternehmen als der Zusammenfassung von Personen und Produktionsmitteln ausgehenden Gefahren begegnet wird“.

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Allerdings kann man die Frage stellen, ob neben einer hohen, zudem auch diese illegalen Vorteile abschöpfenden Geldbuße gemäß § 3033 gegen den Unternehmensträger als solchen eine eigene Geldbuße gegen den oder die für die mangelhafte Aufsicht verantwortlichen Manager noch eine nennenswerte Bedeutung entfalten kann. Doch sollte man das nicht von vornherein als undenkbar verwerfen. Immerhin richtet hier die Rechtsordnung eine Geldsanktion direkt gegen die verantwortliche natürliche Person, die von der Geldbuße gegen das Unternehmen ja nicht notwendig betroffen sein muss. Welchen Grad von Fühlbarkeit solche Geldbußen entfalten, hängt von deren Höhe, der (gegebenen oder fehlenden) Bereitschaft des Unternehmens zu ihrer Erstattung und den persönlichen Vermögensverhältnissen des Betroffenen ab. Das aber ist keine Besonderheit des § 130, sondern gilt für andere unbestrittene Ordnungswidrigkeiten-Tatbestände auch. Die Eignung und Erforderlichkeit der eigenen Geldbußdrohung gegen das leitende Management wegen unterlassener Aufsichtsmaßnahmen von vornherein generell zu verneinen, besteht kein Anlass. Der Vorwurf eines bloßen Etikettenschwindels ist nicht berechtigt.

IV. Strafbare Aufsichtspflichtverletzung? 1. § 130 droht eine bloße Geldbuße auch für den Fall an, dass die durch mangelnde Aufsicht ermöglichte oder wesentlich erleichterte Pflichtenzuwiderhandlung ihrerseits mit genuiner Kriminal-Strafe bedroht ist. Hier findet sich also die gleiche Asymmetrie wie in § 30, der ja auch bei unternehmensbezogenen Straftaten der Leitungspersonen lediglich die Festsetzung einer (Verbands-)Geldbuße gegen das von ihnen geleitete Unternehmen vorsieht. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diese Asymmetrie bei der Aufsichtspflichtverletzung zu beseitigen: In seinem Gutachten für den 49. Deutschen Juristentag34 schlug Klaus Tiedemann 1972 vor, nach dem Vorbild älterer Spezialstrafbestimmungen 35 die Aufsichtspflichtverletzung in den Fällen der Begehung einer Straftat durch den zu Beaufsichtigenden ihrerseits als Straftat auszugestalten. Der Juristentag verabschiedete die Empfehlung, subsidiär zu einer Garantenpflicht für führende Organe von Wirtschaftsunternehmungen zur Verhinderung von Straftaten ihrer Untergebenen einen Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung einzuführen36; ob damit wirklich ein Straftatbestand gemeint war, ist aber nicht eindeutig.37 Die in den Zur Abschöpfungsfunktion s. § 30 Abs. 3 i.V.m. § 17 Abs. 4. Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 49. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1972, S. C 56 f. 35 Zu ihnen s. etwa Rogall, ZStW 98 (1986), 572, 579 ff.; Thiemann, Aufsichtspflichtverletzungen in Betrieben und Unternehmen, 1976, S. 4 ff. 36 Verhandlungen des 49. DJT, Bd. II, 1972, S. M 204, Beschluss Nr. 13 lit. a. 37 Eine entsprechende Prüfempfehlung wurde nämlich ausdrücklich abgelehnt, S. Verhandlungen des 49. DJT, Bd. II, S. M 109. 33 34

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siebziger Jahren tagende Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – Reform des Wirtschaftsstrafrechts38 plädierte dann aber entschieden für die Schaffung eines Straftatbestandes der Aufsichtspflichtverletzung.39 In dem Gesetzgebungsprozess, der zu der 1994 verwirklichten Reform des Umweltstrafrechts führte40, hatte zunächst eine Interministerielle Arbeitsgruppe und dann auch der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums einen entsprechenden Straftatbestand vorgeschlagen41, der sich in der Formulierung an die alte Fassung des § 130 Abs. 1 anlehnte.42 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung43 enthielt diesen Vorschlag dann jedoch nicht mehr. Ein Vorstoß des Bundesrates zur Übernahme der Vorstellungen des Referentenentwurfs in diesem Punkt44 stieß im Bundestag auf keine Gegenliebe.45 Das Gesetz blieb deshalb bei der Doppelfunktion des § 130 für geldbuß- und strafbewehrte Pflichtverletzungen der Mitarbeiter. In den Diskussionen der Arbeitsgruppe „Unternehmensstrafbarkeit“ im Rahmen der vom Bundesjustizminister eingesetzten Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems spielte 1999 die Idee einer strafbaren Aufsichtspflichtverletzung nur ganz am Rande eine Rolle, obwohl es doch um die Thematik der Verbandsstrafe ging, deren Anwendungsbereich dadurch erweitert worden wäre.46 Seither gab es keine neuen Vorstöße zu einer Änderung. 2. Die Modelle einer strafbaren Aufsichtspflichtverletzung waren, soweit überhaupt näher ausgearbeitet, unterschiedlich ausgestaltet. Die SachverständigenkomS. dazu Achenbach, Jura 2007, 342, 346, sowie in: FS Tiedemann, 2008, S. 47, 50 ff. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Schlußbericht der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – Reform des Wirtschaftsstrafrechts – über die Beratungsergebnisse, 1980, S. 30 ff. 40 Durch das 31. Strafrechtsänderungsgesetz – 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität (31. StrÄndG – 2. UKG) v. 27. 6. 1994 (BGBl. I, S. 1440). 41 Seinerzeit als § 261 E-StGB an der damals freien Stelle, die jetzt der Tatbestand der Geldwäsche und der Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte einnimmt. S. zum Ganzen Kohlmann / Ostermann, wistra 1990, 121, 122, 125 ff. 42 § 261 Abs. 1 E-StGB sollte lauten: “ (1) Wer vorsätzlich oder leichtfertig als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens die Aufsichtsmaßnahmen unterläßt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Verstöße gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber als solchen treffen und deren Verletzung mit Strafe bedroht ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn eine solche Pflichtverletzung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht hätte verhindert werden können. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehört auch die sorgfältige Bestellung, Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen.“ 43 BT-Drucks. 11 / 7101 = 12 / 192. 44 BT-Drucks. 12 / 192, S. 38 linke Spalte; Gegenäußerung der Bundesregierung S. 43. 45 Schon der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hatte sich die Idee nicht zu Eigen gemacht (s. BT-Drucks. 12 / 376); die Fraktion hatte dann aber den Vorschlag des Bundesrates aufgegriffen, doch lehnte ihn der Bundestag im Anschluss an die Empfehlung des Rechtsausschusses mehrheitlich ab (s. den Ausschussbericht und -antrag, BT-Drucks. 12 / 7300, S. 41). 46 S. dazu Hettinger (Hrsg.), Reform des Sanktionenrechts, Bd. 3: Verbandsstrafe, 1999, passim. 38 39

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mission zur Reform des Wirtschaftsstrafrechts47 wollte allein die vorsätzliche Unterlassung der erforderlichen Aufsicht unter Strafe stellen, dies aber kombinieren mit der Aufnahme des Risikoerhöhungsgedankens in das Gesetz oder genauer: mit der Forderung nach einer wesentlichen Risikoverminderung durch die gehörige Beaufsichtigung. Bestraft werden sollte schon derjenige, der durch die unterlassenen Aufsichtsmaßnahmen „die Begehung derartiger48 Taten erleichtert“; zurechenbar sollte die Aufsichtspflichtverletzung – wie in dem seit 1994 bis heute geltenden § 130 Abs. 1 – schon dann sein, wenn die Anknüpfungstat durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Der vom Bundesrat übernommene Referentenentwurf des 2. UKG schlug dagegen die Ausdehnung auf leichtfertig unterlassene Aufsichtsmaßnahmen vor, wollte sie aber kombinieren mit der im Sinne strikter Unterlassungs-Kausalität gedeuteten alten Zurechnungsformel, nach der es darauf ankommen sollte, dass die begangene Pflichtverletzung „durch gehörige Aufsicht hätte verhindert werden können“.49 Die Praktikabilität beider Modelle muss indes als zweifelhaft beurteilt werden. Eine (auch nur bedingt) vorsätzliche Aufsichtspflichtverletzung dürfte phänotypisch die Ausnahme, in jedem Fall aber kaum zu beweisen sein. Andererseits hat die Erfahrung mit der alten Zurechnungsformel gezeigt, dass sie bei der Deutung als regelrechte (Quasi-)Kausalität des Unterlassens nur einen begrenzten Anwendungsbereich für die Sanktionierung der Aufsichtspflichtverletzung belässt; denn die Überzeugung, dass die unterlassene Aufsichtsmaßnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Pflichtverletzung des Mitarbeiters verhindert hätte,50 war häufig nicht zu gewinnen. Diese Interpretation der Formel war freilich nicht zwingend; die potentiale Formulierung „hätte . . . können“ war auch schon einer Deutung im Sinne ausreichender bloßer Risikoverminderung zugänglich.51 Aber angesichts des deutlich formulierten gesetzgeberischen Willens zu einem engeren Verständnis in dem Bundesrats-Vorschlag wäre der Weg zu einer solchen Auslegung wohl versperrt gewesen. Einen weiteren Anwendungsbereich würde allerdings die Kombination des leichtfertigen oder gar fahrlässigen Unterlassens der gehörigen Aufsicht mit dem Gedanken der Risikoverringerung als ausreichendem Zurechnungsmaßstab eröffnen. 3. Aber das ist bloße Tatbestandstechnik. Schwerer wiegt die Frage, ob Kriminalstrafe für unterlassene Aufsichtsmaßnahmen bei strafbedrohten MitarbeiterPflichtverletzungen überhaupt als sinnvoll oder gar geboten angesehen werden muss. Der Bundesrat begründete den entsprechenden Vorstoß mit der Erwägung, Schlussbericht (o. Fn. 39), S. 31 f. D. h. rechtswidriger Taten anderer bei Wahrnehmung von Betriebsaufgaben. 49 BT-Drucks. 12 / 192, S. 38. 50 In diesem Sinne u. a. BGH MDR 1976, 504, sowie in wistra 1982, 34 m. Anm. Möhrenschlager = WuW / E BGH 1799 „Revisionsabteilung“. 51 So etwa Achenbach, wistra 1998, 296, 298; Rogall, in: KKOWiG (o. Fn. 8), § 130 Rn. 98 m. w. N. 47 48

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der Aufsichtspflichtige, der durch grob achtlose oder gar vorsätzliche Vernachlässigung der Aufsichtspflicht zu strafbaren Verstößen gegen Pflichten mit beigetragen hat, habe „Schuld auf sich geladen, die Kriminalstrafe rechtfertigt“.52 Doch das ist ersichtlich zirkulär und nicht mehr als ein bloßer Appell an das Rechtsgefühl. Wir stehen hier vor den bis heute letztlich ungelösten Fragen der materiellen Abgrenzung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Der Jubilar hatte in seiner Dissertation53 dazu einen strengen Standpunkt eingenommen: Er sah die Differenz beider Materien nicht in der Vorgegebenheit von Rechtsgütern, sondern in der Vorgegebenheit von Normen, d. h. er nahm an, dass der Unterschied zwischen ihnen „in der Form der Institutionalisierung – oder genauer: der Internalisierung – von Normen liegt und damit die Frage der Gewissensbildung betrifft.“ Die Tatbestände des Strafrechts knüpften offenbar an Normen an, die der Mensch im Stadium seiner (primären) Sozialisierung, seiner Personwerdung verinnerlicht; im Ordnungswidrigkeitenrecht müsse der Gesetzgeber dagegen die konkreten Verhaltensnormen, deren Befolgung er verlangt, selbst institutionalisieren. Allerdings gesteht Amelung dem Gesetzgeber im Anschluss an das Bundesverfassungsgericht54 das Recht zu einer legislatorischen Willensentscheidung zu; doch sieht er diesen Spielraum begrenzt: Belege der Gesetzgeber reines Ordnungsunrecht mit krimineller Strafe, so verstoße er gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil er dem Täter einen persönlichen Defekt bescheinige, der in dieser Form und Reichweite nicht bestehe.55 Dass die Abgrenzung von Straf- und Geldbußsanktionen in der wirtschaftsstrafrechtlichen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte diesem auf die Gewissensbildung abstellenden Maßstab gerecht würde, kann man bezweifeln. Ein Tatbestand der strafbaren Aufsichtspflichtverletzung bei Ermöglichung strafbedrohter Pflichtverstöße der Mitarbeiter eines Unternehmens wäre danach aber nicht von vornherein als illegitim anzusehen. Man muss sich nur klar machen, dass es darin um die Gefahr betriebstypischer Straftaten ginge, die durch die unterlassenen Aufsichtsmaßnahmen hätte beseitigt oder doch erheblich verringert werden können. Hier erweist sich, dass die oben skizzierte stärker eigenständige Deutung der Aufsichtspflichtverletzung die Dialektik des gleichzeitigen Bezuges auf die Kontrolle ihrerseits (hier) strafbedrohter Pflichtverletzungen und damit auf die Zielsetzung der entsprechenden Straftatbestände nicht aufheben kann. Damit kommen die Rechtsgüter ins Spiel, denen überhaupt oder jedenfalls in stärkerem Maße Gefahren drohen, wenn nicht die Unternehmensleitung Aufsicht organisiert. Eine mögliche Pönalisierung der Aufsichtspflichtverletzung greift zu auf die Verhaltensnormen, deren Missachtung in diesen Anknüpfungs-Tatbeständen mit Strafe sanktioniert 52 53 54 55

BT-Drucks. 12 / 192, S. 38 re. Sp. Amelung, Rechtsgüterschutz (o. Fn. 25), S. 286 ff., Zitate von S. 291 f. BVerfGE 27, 18, 30 f. Amelung, Rechtsgüterschutz (o.Fn. 25), S. 294.

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wird. Somit hat ein solcher Straftatbestand über die Zuwiderhandlungs-Tatbestände, um deren Verhinderung es geht, teil an der Institutionalisierung und Internalisierung der darin strafrechtlich bewehrten Verhaltensnormen. Die Frage nach der Illegitimität oder Legitimität der strafbaren Aufsichtspflichtverletzung verlagert sich damit auf die darin vorausgesetzten Anknüpfungs-Zuwiderhandlungen. Die Entscheidung, einen Straftatbestand der Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen einzuführen, stünde dem Gesetzgeber danach prinzipiell frei.56 Bei der hier vertretenen Deutung des Tatbestandes als Norm zur Verhinderung konkreter betriebstypischer Zuwiderhandlungsgefahren scheinen mir auch Bedenken gegen seine Bestimmtheit57 nicht stärker begründet, als sonst im Strafrecht auch. Zu fragen bleibt aber, ob eine solche Entscheidung kriminalpolitisch vernünftig wäre.58 Denn der praktische Ertrag einer solchen Pönalisierung scheint mir Zweifeln ausgesetzt. Das kann hier freilich nur noch kurz angedeutet werden:59 Den Befürwortern geht es vor allem um die Möglichkeit der Freiheitsstrafe, die anders als die Geldstrafe der verantwortlichen Leitungsperson nicht vom Unternehmen abgenommen werden kann. Doch der mediatisierte Unwert der bloßen Verfehlung gehöriger Aufsicht dürfte die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den meisten Fällen ausschließen, zumal bei Ersttätern, so dass dann doch wieder nur die erstattungsfähige Geldstrafe übrig bleibt.60 Damit scheidet aber auch die Verhängung der Untersuchungshaft aus61 – deren von manchen im Stillen gewünschter Einsatz als apokryphe Kurzzeit-Strafe mit Nötigungseffekt ohnehin illegitim erscheint. Schwerer noch wiegen aber die Bedenken, dass die Strafjustiz ohnehin schon an den Grenzen ihrer Leistungskapazität agiert, ja diese eigentlich längst überschritten hat und sich nur noch mit Verfahrenseinstellungen gegen Geldauflagen (§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 2 StPO), der Ausscheidung nicht beträchtlich 56 Die Kritik von Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 111 ff.. insbesondere 120 ff., sowie in wistra, 1982, 41, 48 f., gilt in wichtigen Punkten der Fassung des § 130 vor 1994 und 2007. Eine Auseinandersetzung mit dem anders ansetzenden Modell einer Aufsichtsgarantenstellung ist hier leider nicht möglich; s. dazu Schünemann (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit, Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III: Unternehmenskriminalität, 1996, S. 145, 156 ff. 57 Wie sie Kohlmann / Ostermann, wistra 1990, 121, 130, und Schünemann, wistra 1982, 41, 48, vortragen. 58 So schon die berechtigte Frage bei Schünemann, Unternehmenskriminalität (o. Fn. 56), S. 111. 59 Wegen der Einzelheiten sei wegen des beschränkten Raumes verwiesen auf meine Stellungnahme zu der Debatte um die – polemisch so genannte – Kriminalisierung des Kartellrechts in: FK-KartR (o. Fn. 22), Vorbem. § 81 GWB 2005 Rn. 24, 27. 60 Nach BGHSt 37, 226 ff., erfüllt die Bezahlung einer Geldstrafe durch Dritte nicht den Tatbestand der Strafvereitelung (§ 258 Abs. 2 StGB). Untreue dürfte nur in Sonderkonstellationen gegeben sein. 61 Die dann zu der (Art der) zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht, s. § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO.

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ins Gewicht fallender Taten und Rechtsfolgen gemäß §§ 154, 154a StPO und nicht immer unzweifelhaften Absprachen über die Runden hilft. Dass dabei die Sanktionen hinter denen zurückbleiben, die das Ordnungswidrigkeitenrecht schon heute ermöglicht, ist eine nicht ganz unberechtigte Befürchtung. Es spricht also einiges gegen die Pönalisierung der Aufsichtspflichtverletzung.

V. Fazit Die Ergebnisse lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen: 1. Seit der Änderung des § 130 Abs. 1 OWiG durch das 41. StrÄndG von 2007 erfasst der Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen sämtliche betriebsbezogenen Pflichten, also auch Jedermannspflichten, wenn sie den Inhaber des Unternehmens treffen. An der normtheoretisch korrekten Trennung zwischen der verletzten Pflicht und dem der Sanktionierung ihrer Verletzung dienenden Bußgeld- oder Straftatbestand ist aber weiterhin festzuhalten. 2. § 130 OWiG erweitert den Anwendungsbereich der Verbands- oder Unternehmensgeldbuße gemäß § 30 OWiG, doch erschöpft sich seine Bedeutung nicht darin. Die Norm enthält einen legitimen veritablen Bußgeldtatbestand mit einer eigenen Geldbußdrohung gegen den Unternehmensinhaber und die ihm gemäß § 9 OWiG gleichgestellten Personen; darin liegt kein bloßer „Etikettenschwindel“. 3. Einen Straftatbestand der Aufsichtspflichtverletzung in den Fällen der Begehung einer Straftat durch den zu Beaufsichtigenden zu schaffen, wäre ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht möglich. Die kriminalpolitische Vernünftigkeit eines solchen Schrittes bleibt jedoch zweifelhaft. Ich widme diesen kleinen Beitrag meinem hoch geschätzten und verehrten Kollegen Knut Amelung in langjähriger Verbundenheit seit der gemeinsamen Zeit in Göttingen, als sein Nachfolger auf unserer jeweils ersten Professorenstelle in Bochum und in Dankbarkeit für die reichen Einsichten in Grundfragen unserer Disziplin und ihre Querverbindungen zum Verfassungs- und Verwaltungsrecht, die ich in zahlreichen Diskussionen und aus seinen Schriften gewinnen durfte, und ich verbinde damit die Hoffnung, dieser Ausflug in das Vorfeld des Strafrechts möge sein Interesse finden.

Im Zweifel: Geldwäsche? Überlegungen zum Verhältnis von materiellem und Prozess-Recht bei der Geldwäsche (§ 261 StGB) Von Klaus Bernsmann I. Wenn das Folgende nicht an diesem „festlichen“ Ort erörtert würde, hätte der Verfasser den hoch verehrten Jubilar und Förderer seit alten Bochumer Zeiten mit einiger Sicherheit wie so häufig um Gehör und wissenschaftlichen Rat gebeten und hätte – wie immer – größte Hilfe erfahren. Ohne diese Hilfe bleibt nur die Hoffnung, zumindest einem Problem auf der Spur zu sein, das ein wenig das Interesse des Jubilars findet, weil es im Schnittpunkt von materiellem Strafrecht und Prozessrecht angesiedelt ist, einen verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Hintergrund hat und damit – zumindest tendenziell – in eine Gruppe des so überaus weit gefächerten Amelungschen „Forschungssets“ fallen könnte. II. 1. Über die Vorschrift der Geldwäsche nach § 261 StGB ist – zu Recht – schon viel Vernichtendes gesagt worden.1 Das hält die Praxis – von der Literatur auf relativ breiter Linie gestützt – allerdings nicht immer davon ab, bei Gelegenheit der vergleichsweise wenigen zur Anklage gebrachten Verfahren wegen Geldwäsche2 die Effizienz eines ausschließlich kriminalpolitisch gesteuerten Konzepts der Verbrechens-„Bekämpfung“ gleichsam exemplarisch zu demonstrieren, mag sich auch ansonsten die Erfolglosigkeit einer u. a. auf § 261 StGB setzenden Austrocknung der „Organisierten Kriminalität“ kaum noch ernsthaft bestreiten lassen.3 Dabei wird – wie etwa bei dem Verzicht auf auch nur annähernd konkretisierte Vortaten4 – nicht nur gleichsam nebenbei das Bestimmtheitsgebot verletzt. Im „Kampf“ geVgl. hier nur: Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 261 Rn. 4 ff. Nachweise zur Statistik bei Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 4 b f. 3 Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 4 c: „dramatisch unwirksam“, „exorbitantes Dunkelfeld“; vgl. auch: Hefendehl, StV 2005, 155 ff.; Kaiser, wistra 2000, 121 ff.; Kilching, wistra 2000, 245 ff. 4 Zu den geringen Anforderungen an die Vortaten-Konkretisierung vgl. nur einerseits: BGH StV 1997, 508; Altenhain, in: Nomos Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2005, § 261 Rn. 23, 1 2

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gen die Bedrohung der inneren Sicherheit – oder was immer sonst Rechtsgut der Geldwäsche sein mag5 – sind Gesetzgeber, Rechtsprechung und Lehre in seltener Einmütigkeit unempfindlich (oder unempfänglich) für den Wider-, wenn nicht UnSinn mancher Regelung. In diesen Zusammenhang gehört auch die Vorschrift des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB, derzufolge wegen Geldwäsche „nicht bestraft“ wird, „wer wegen Beteiligung an der Vortat strafbar ist“. 2. Gemeint ist Folgendes: a) Mit Art. 1 Nr. 19 des OrgKG vom 15. 7. 19926 hat der Gesetzgeber – nicht zuletzt auf Drängen aus dem Bereich der Kriminalpolitik und der Ermittlungsbehörden – mit § 261 StGB eine Vorschrift in das StGB eingeschleust, deren Zweck auch oder primär in der Beweisbeschaffung für die Verfolgung der sog. „Katalogtaten“ liegt.7 Dem entspricht es, dass nach h. A. eine „lückenlose Aufklärung der Vortatbeteiligung nicht . . . erforderlich sein soll“8. Wenn sich eine solche Möglichkeit des Verzichts auf prozessual an sich gebotene Feststellungen wirklich aus dem materiellen Recht ergeben sollte, steht dahinter das nicht sonderlich neue, im Falle der Geldwäsche in Ansehung des Zwecks der Vorschrift einerseits und den allfälligen Problemen, die Geldwäschevortaten zu konkretisieren andererseits, nachgerade offensichtliche Anliegen, das Prozessrecht und dessen rechtsstaatlich-sperrige Anforderungen materiell-rechtlich auszuhebeln.9 Dies wäre in Bezug auf die Geldwäsche auch beinahe gelungen. Der Gesetzgeber war aber im Zuge einer beabsichtigten endgültigen Lücken-Füllung übereifrig: aa) Die mit Blick auf die bisherige „Geschichte“ der Geldwäsche mit Sicherheit nur vorläufig letzte „Reform“ des § 261 StGB hat – kurioser Weise oder doch „List“ rechtstaatlicher Vernunft – prozessrechtliche Grundsätze, d. h. insbesondere den materiell-rechtlich angeblich eliminierten Zweifelssatz, an einer entscheidenden Stelle – bislang noch kaum bemerkt – doch wieder ins Spiel gebracht: Um eine letzte, dem Zweifelssatz prinzipiell noch zugängliche und daher für die Ermittlungsbehörden unerquickliche Pattsituation von möglicher Vortatbeteiligung 30 ff. und andererseits: Henninger, in: Rönnau / Samson, Wirtschaftsstrafrecht aus Sicht der Strafverteidigung, 2003, S. 341 ff.; s. auch: Bernsmann, StV 1998, 46, 51. 5 Soweit es überhaupt ein annäherungsweise konkretisierbares Schutzobjekt gibt – vgl. dazu: Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 10 ff.; Arzt / Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, 2000, § 29 Rn. 7; Bernsmann, StV 2000, 42. 6 BGBl. I, S. 1302. 7 Vgl. Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 3; Bernsmann, StV 1998, 217 ff. 8 Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 23; vgl. auch: Hoyer, in: Systematischer Kommentar zum StGB, § 261 Rn. 9; Stree, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 261 Rn. 4 a. 9 Dazu grundlegend: Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff.

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und anschließender Geldwäsche durch eine an der Vortat beteiligte Person zu beseitigen, wurde im „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ vom 4. 9. 199810 auf das Erfordernis einer Personenverschiedenheit von Vortäter und „Geldwäscher“ (§ 261 a. F.: „. . . ein anderer . . .“) verzichtet. bb) Nach altem Recht konnte eine „geldwaschende“ Person, bei der die Möglichkeit einer alleintäterschaftlichen Begehung der Vortat nicht auszuschließen war, unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur – in dubio pro reo – einer Verurteilung wegen der Vortat, sondern – in erneuter Anwendung des Zweifelssatzes – auch wegen Geldwäsche entgehen. Auf Grund des unklaren Rechtsgutes der Geldwäsche war eine Wahlfeststellung zwischen Vortat und Geldwäsche zwar nicht kategorial auszuschließen, konnte aber gerade bei schweren Vortaten eher fernliegen. In Bezug auf sonstige Vortatbeteiligte (Mit-Täter ohne unmittelbaren „Geld“Zugriff; Anstifter; Gehilfen) gab es dieses Strafbarkeitshindernis nicht. Der Zweifel an einer Vortatbeteiligung, aus anderer Perspektive: die Möglichkeit der Vortatbeteiligung, hinderte die Bestrafung wegen Geldwäsche nicht: Mit Hilfe der sog. Postpendenzfeststellung11 ließ sich in solchen Fällen relativ zwanglos begründen, dass unbeschadet einer Vortatbeteiligung eindeutig alle Voraussetzungen der Geldwäsche vorliegen.12 Eine gelungene Beseitigung des Zweifels an einer Vortatbeteiligung schuf – bei Ausschluss einer Beteiligung – kein Geldwäsche-Problem und umgekehrt – bei Nachweis der Vortatbeteiligung – lediglich ein Problem der Konkurrenz von Vortat und Geldwäsche. Für den Beschuldigten ergaben sich aus der möglicherweise nicht sonderlich intensiv erforschten, weil erfahrungsgemäß ohnehin kaum erfolgreich aufklärbaren Vortatbeteiligung jedenfalls dann keine nennenswerten Nachteile, wenn im Einzelfall Zweifel bezüglich der Beteiligung an einer im Verhältnis zur Geldwäsche milderen Vortat immerhin zur Anwendung des milderen Gesetzes führten13 und – was allerdings in der Gerichtspraxis kaum je der Fall gewesen sein dürfte – die zweifelhafte Vortatbeteiligung entsprechend den Anforderungen, die für die Möglichkeit einer wahlweisen Verurteilung gelten, mitangeklagt 14 und damit einer rechtskräftigen freisprechenden Entscheidung zugänglich gemacht wurde. cc) Die Neufassung des § 261 Abs. 1 StGB durch das „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ wollte nunmehr auch in Bezug auf den alleinigen Vortäter die „Postpendenzfeststellung“ erschließen: BGBl. I, S. 845. Dazu grundlegend: Hruschka, JZ 1970, 637, 641. 12 Vgl. BGH NStZ 1995, 500; BGH NStZ-RR 1997, 359; BGH NJW 2000, 3729. 13 Vgl. Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 8), § 261 Rn. 5; Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 23. 14 Vgl. hier nur: Fischer (o. Fn. 1), § 1 Rn. 19. 10 11

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Weil nunmehr jeder („Wer . . .“) nach Maßgabe einer „geldwäschegeeigneten“ Vortat eine Straftat nach § 261 StGB begehen kann, ist auch der alleinige Vortäter Adressat der Vorschrift des § 261 StGB und kann daher die Voraussetzungen dieser Vorschrift unabhängig davon erfüllen, ob er, in welcher Ausgestaltung auch immer, Vortatbeteiligter war oder nicht. Damit sollte endgültig das offensichtlich kriminalpolitisch und ermittlungstechnisch perhorreszierte Verfahrensende ausgeschlossen werden, einen ggf. „nur“ nicht-ausschließbar möglichen Alleintäter der Vortat in dubio pro reo von jeglicher Strafbarkeit ausnehmen zu müssen.15 Mit der durch § 261 StGB zumindest oberflächlich problemlos gewordenen Erfassung aller (nur) möglicherweise Vortatbeteiligten hätte es sein Bewenden haben können. Der Gesetzgeber hat sich aber – möglicherweise in Verkennung der rein materiell-rechtlichen „Natur“ einer Postpendenzentscheidung – in seiner Betriebsamkeit nicht bremsen können. Mit der Einfügung von § 261 Abs. 9 S. 2 StGB in das ausladende Gebäude der Geldwäsche nach § 261 StGB hat er sich doch wieder (und nachhaltiger als zuvor) im Gestrüpp des für Strafverfolgungs-Eiferer nicht selten recht fatalen Prozessrechts verfangen. Zwar soll nach h. A. Straflosigkeit nach § 261 Abs. 9 S. 2 StGB nur für den Täter oder Teilnehmer in Frage kommen, dessen Beteiligung an der Vortat feststeht,16 eine (tragfähige) Begründung für den damit behaupteten Übergriff des materiellen Rechts auf das Prozessrecht, d. h. den Ausschluss einer in dubio pro reo-Entscheidung in Bezug auf § 261 Abs. 9 S. 2 StGB, fehlt allerdings. dd) Das Problem mag am Beispiel eines der Praxis entlehnten Falles verdeutlicht werden: Ein Ausländer (A) ist wegen gewerbsmäßiger Geldwäsche (§ 261 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 4; 5; Abs. 4 StGB) angeklagt. Er befindet sich seit einiger Zeit in Untersuchungshaft. Das von ihm angeblich gewaschene Geld soll u. a. aus „Erträgen“ einer ausländischen kriminellen Vereinigung (§ 129 b StGB) stammen, das diese durch schwere und schwerste Straftaten im Ausland und in Deutschland generiert haben soll. A soll ein führendes Mitglied dieser Vereinigung gewesen sein; „möglicherweise“ sei er – so die Anklage – auch unmittelbar an Taten beteiligt gewesen, aus denen das später von ihm gewaschene Geld i. S. von § 261 Abs. 1 S. 1 StGB „herrührt“. In Bezug auf die Vortaten, an denen A beteiligt gewesen sein soll, enthält die Anklage keine konkreten Angaben zu Tatopfern, Tatzeit, Tatort, (sonstigen) Tatbeteiligten; das gilt insbesondere auch für die Taten, bei denen eine Alleintäterschaft des A nicht auszuschließen sein soll. Vgl. oben; zu diesem Gesetzeszweck Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 21 f. Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 46; Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 8), § 261 Rn. 5; Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 8), § 261 Rn. 34; Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 63. 15 16

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Diese Verfahrens- und mit Blick auf die gesamte Vortat konkretisierungsdürftige Verdachtslage ist nicht untypisch für den Umgang der Praxis mit der Geldwäsche: Für eine Anklage reicht (angeblich) schon eine durch vage Indizien gestützte Vermutung aus, um einen in Zusammenhang mit § 261 StGB ausreichenden Vortatverdacht anzunehmen. Dass Staatsanwaltschaft und Gericht demgegenüber nicht davon ausgehen, auch die Vortat(-Beteiligung) sei Gegenstand unmittelbar von Anklage und Hauptverhandlung, dürfte ebenfalls die Regel sein. III. Für Staatsanwaltschaft und Gericht dürfte – gestützt auf die h. M. – der geschilderte Fall als nachgerade schulmäßig einfach gelagert erscheinen: Dass A Vortatbeteiligter, zum Teil vielleicht sogar alleiniger (Vor-)Täter noch so schwerer Delikte gewesen sein könnte, hat kaum bzw. gar keine besonderen Ermittlungsaktivitäten ausgelöst. Umgekehrt waren die Zweifel an Art und Umfang seiner Vortatbeteiligung kein Hinderungsgrund dafür, ihm die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale der Geldwäsche nach § 261 Abs. 1 StGB zuzuschreiben. Bei alldem wird allerdings der prozessuale Gehalt von § 261 Abs. 9 S. 2 StGB übersehen: Über die Rolle, die diese allgemein als persönlicher Strafausschließungsgrund betrachtete Vorschrift durch die Straffreistellung desjenigen spielt, der „wegen Beteiligung an der Vortat strafbar ist“, besteht kaum bzw. keine Klarheit. Die im Gesetz zwischen zwei Regelungen der tätigen Reue systemwidrig schon fast versteckte Vorschrift wird, wenn überhaupt, nur nebenbei wahrgenommen; und dann vornehmlich auch nur im Licht des gesetzgeberischen Anliegens der flächendeckenden Erfassung der Geldwäsche, nicht aber in ihrem eigentlichen Regelungsgehalt. Beim Wort und ernst genommen könnte § 261 Abs. 9 S. 2 StGB nämlich dem Anliegen des Gesetzgebers, die Geldwäsche als Auffangdelikt für Verdachtsfälle17 zu etablieren, diametral entgegenstehen. In jedem Fall macht die Vorschrift bei näherem Zusehen auf rechtsstaatliche Defizite beim derzeitigen forensischen Umgang mit der Geldwäsche aufmerksam. IV. Der Plan des Gesetzgebers, durch die Einbeziehung des Vortäters in den Tatbestand der Geldwäsche auch denjenigen zu bestrafen, dessen Beteiligung an der Geldwäsche feststeht, bezüglich dessen aber nicht feststeht, dass er Alleintäter der Vortat ist, um damit jegliche Strafbarkeitslücke zu schließen,18 geht in Ansehung So zu Recht: Arzt / Weber (o. Fn. 5), § 29 Rn. 31. Vgl. BT-Drucks. 13 / 8651, S. 10 f.; s. auch: Oswald, Implementation. Die gesetzlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche in der Bundesrepublik Deutschland, 1997, S. 141 f.; Kilchling, wistra 2000, 241, 243. 17 18

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des „persönlichen Strafausschließungsgrundes“ des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB19 nur dann auf, wenn es zuträfe, dass § 261 Abs. 9 S. 2 StGB nur zugunsten desjenigen Geldwäschebeteiligten eingreift, „dessen Strafbarkeit wegen der Vortatbeteiligung unzweifelhaft feststeht“20 bzw. „zur Überzeugung des Gerichts gegeben ist“.21 § 261 Abs. 9 S. 2 StGB würde dann ggf. lediglich eine Doppelbestrafung vermeiden,22 könnte aber in den notorischen Zweifelsfällen nicht zu einer auf einer zweifachen Anwendung des Zweifelssatzes gründenden Straflosigkeit sowohl in Bezug auf eine mögliche alleinige Vortäterschaft als auch in Bezug auf die Geldwäsche führen.23 Einer näheren Prüfung hält das nicht stand: 1. Warum – wie angeblich im Falle des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB – der in dubio pro reo-Satz auf einen „persönlichen Strafausschließungsgrund“ nicht oder – bei möglichem Vorliegen einer minderstrafbaren Vortat – allenfalls mittelbar, d. h. durch Berücksichtigung eines ggf. milderen Strafrahmens anwendbar sein soll,24 ist nicht ersichtlich. Es sei denn, § 261 Abs. 9 S. 2 StGB wäre ein Unikat, besser wohl ein Unikum: a) Der in dubio pro reo-Grundsatz, dessen unmittelbare Geltung im Strafverfahren unangefochten ist,25 ist auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen anzuwenden.26 Im Zusammenhang der Geldwäsche ist es aber von Entscheidungserheblichkeit, ob der „Geldwäscher“ an der Vortat beteiligt war oder nicht: War er beteiligt, ist er gemäß § 261 Abs. 9 S. 2 StGB wegen Geldwäsche straflos. War er nicht ausschließbar an der Vortat beteiligt, ist er aus der Perspektive des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB im Zweifel wegen der Vortatbeteiligung strafbar und wird daher (im Zweifel) von dem Strafausschließungsgrund erfasst. Dass der „Vortat-Zweifel“ durch die herrschende Handhabung der Vortatkonkretisierung, d. h. auf Grund des weitgehenden Verzichts auf annähernd valide Feststellungen zu den Vortaten, strukturell vorgegeben ist, kann nicht zu Lasten des Beschuldigten gehen. Ebenso wenig, dass er in Anbetracht des Zweifels nicht wegen einer Vortatbeteiligung bestraft werden kann. 19 Zu dieser – aus guten Gründen – nicht unstreitigen Katalogisierung vgl. Hoyer, in: SKStGB (o. Fn. 8), § 261 Rn 34; Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 21; Neuheuser, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 261 Rn. 41; ohne ausdrückliche deliktssystematische Festlegung, aber wohl in diese Richtung („Straflosigkeit der Selbstbegünstigung“) Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 46; s. auch: BGH NJW 2000, 3725; zweifelnd: Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 8), § 261 Rn. 5. 20 Hoyer, in: SK-StGB (o. Fn. 8), § 261 Rn. 34; s. auch: Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 46. 21 Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 23. 22 Vgl. BT-Drucks. 13 / 8651, S. 11; so offenbar auch: Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 18. 23 Mitsch, Strafrecht BT II / 2, § 5 Rn. 41. 24 Vgl. Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 8), § 261 Rn. 5; NK-Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 23; vgl. oben. 25 Vgl. hier nur: Kühne, in: Löwe / Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. I Rn. 50. 26 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 15 Rn. 28 ff.

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b) Um der notorischen Beweisnot bezüglich der Vortaten prozessual zu entgehen, hätte die Änderung von § 261 Abs. 1 StGB ausgereicht: Im Wege der „Postpendenzfeststellung“ könnte Bestrafung wegen Geldwäsche unabhängig von jeder Vortatbeteiligung erfolgen. Bei gesicherter Vortatbeteiligung würde sich ein – lösbares – Konkurrenzproblem ergeben.27 Dieser Möglichkeit steht nunmehr § 261 Abs. 9 S. 2 StGB jedenfalls dann entgegen, wenn allgemeinen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen Vorrang vor bloßen gesetzgeberischen Absichten zukommt. 2. Unter der in der Praxis (s. o.) in aller Regel gegebenen Voraussetzung, dass die Vortat(en) nicht von der Geldwäscheanklage gegen den möglicherweise Vortatbeteiligten erfasst ist (sind) und auch nicht als selbständige Tat(en) im prozessualen Sinn (§ 264 StPO) angeklagt ist (sind),28 zeigt sich i. Ü., wie wenig durchdacht bzw. – weniger wohlwollend – wie ergebnisorientiert das Konzept des Gesetzgebers war. a) Als Begründung für die herrschende Sichtweise der Regelung des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB wird angeführt, dass im Falle der Vortatbeteiligung eine Doppelbestrafung verhindert werden solle.29 Das mag – wenn überhaupt allerdings nur im Ergebnis – zutreffen können, ist aber mit Blick auf bestimmte Konstellationen nicht frei von Euphemismus: Eine Doppelbestrafung wird problemlos verhindert, wenn die Vortatbeteiligung feststeht. Dann schließt § 261 Abs. 9 S. 2 StGB eine Bestrafung wegen Geldwäsche aus. Abgesehen davon ist bei zweifelhafter Vortatbeteiligung eine Doppelbestrafung nur ausgeschlossen, wenn – eher selten – Vortat und Geldwäsche eine Tat im prozessualen Sinn bilden. Dann würde eine Verurteilung wegen Geldwäsche Rechtskraft auch in Bezug auf die mögliche Vortatbeteiligung erzeugen und der Geldwäscher wäre – aus prozessualen Gründen („ne bis in idem“) – vor einer Bestrafung wegen Vortatbeteiligung auch dann gefeit, wenn sich die bloße Möglichkeit der Beteiligung irgendwann einmal als sicher herausstellen sollte. Das wird aber, wenn überhaupt, nur selten der Fall sein, weil v. a. schwere und schwerste, bzw. im Ausland begangene Delikte mit einer ggf. (viel) später begangenen Geldwäsche kaum zu einer prozessualen Tat verquickt werden können.30 Vgl. unten 3. Daran zeigt sich die Auffangfunktion des § 261 StGB: Wer einen Raub begangen hat, „wäscht“ später auch Geld; ist seine Täterschaft zweifelhaft, springt § 261 StGB zwanglos in die Bresche. 29 Vgl. BT-Drucks. 13 / 8651, S. 11; BGH NJW 2000, 3725; Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 18; Altenhain, in: NK-StGB (o. Fn. 4), § 261 Rn. 81. 30 Da eine etwaige Vortatbeteiligung – als angebliche Pointe des § 261 StGB – keiner besonderen Konkretisierung bedarf und bei ihrem Vorliegen ohnehin eine Geldwäschestrafbarkeit ausscheidet (§ 261 Abs. 9 S. 2 StGB), besteht in Bezug auf die entsprechenden Taten natürlich auch kein angeklagetauglicher hinreichender Tatverdacht. 27 28

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Letzteres kann i. Ü. auch gar nicht im Interesse der „Rechtspflege“ liegen: Man stelle sich z. B. vor, im eingangs geschilderten Fall erwiese sich nach rechtskräftiger Verurteilung des A wegen Geldwäsche, dass einige der „gewaschenen“ Gegenstände aus von A begangenen Taten nach § 211 StGB und / oder schweren Raubdelikten ggf. mit Todesfolge „herrühren“. Hier ist nichts ersichtlich, was die Staatsanwaltschaft von einer Anklage in dieser Sache und ein Gericht von einer entsprechenden Verurteilung des A wegen Mordes etc. sollte abhalten können. Die Strafklage wegen Mordes etc. wäre nicht etwa deswegen verbraucht, weil § 261 Abs. 9 S. 2 StGB eine Bestrafung wegen Geldwäsche in einem früheren, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren verboten hätte. Entscheidend wäre, dass § 211 StGB keinen persönlichen Strafausschließungsgrund enthält, der Bezug auf eine Strafbarkeit wegen Geldwäsche nimmt, und die Verurteilung wegen Geldwäsche auch prozessual keine Auswirkung auf die Verfolgbarkeit anderer Taten im prozessualen Sinn hat. Den wegen Geldwäsche rechtskräftig verurteilten Vortäter nach Maßgabe von § 359 Nr. 5 StPO auf ein Wiederaufnahmeverfahren unter Berufung auf „neue Tatsachen oder Beweismittel“ in Bezug auf die Voraussetzungen des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB zu verweisen, hätte möglicherweise einen faden, wenn nicht zynischen Beigeschmack: A dürfte kaum Freude daran haben, dass er letztlich „nur“ noch wegen Mordes bestraft würde. Abgesehen davon hätte § 261 Abs. 9 S. 2 StGB in dieser Konstellation eine Doppelbestrafung wenn überhaupt nur mittelbar verhindert. b) Wenn immer es zutrifft, dass eine Verurteilung wegen Geldwäsche außer im äußerst seltenen Fall einer mitangeklagten Vortat keine Wirkungen auf die Verfolgbarkeit der Vortatbeteiligung hat (s. o.), zeigt sich im Übrigen auch daran, dass die Vortatbeteiligung dem Zweifelssatz zugänglich sein muss: Was sich im fortgeschriebenen Ausgangsfall aus der Sicht der Ermittlungsbehörden als Anfangsverdacht zum hinreichenden, zur Anklageerhebung verpflichtenden (Mord-)Verdacht verdichtet, ist in anderer (weniger strafprozessualer) Terminologie nichts anderes als die angewachsene „Möglichkeit“ der Vortatbeteiligung. Die (gesteigerte) Wahrscheinlichkeit der Vortatbeteiligung mag sich in der Hauptverhandlung zur „Sicherheit“ des Gerichts verdichten. Das zeigte aber nur, dass es um Etappen der Tatsachenvergewisserung geht: Wie der Versuch der Vollendung und die Gefahr dem Schaden vorausgehen (können), gehen Verdacht bzw. Möglichkeit oder Zweifel der für eine Verurteilung erforderlichen „Gewissheit“ voraus. Der ausgeräumte (oder nicht ausgeräumte) Zweifel bzw. der bestätigte (oder nicht bestätigte) Verdacht sind Institute des Straf-Prozesses – hier gilt der Zweifelssatz. Die Regelung des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB kann sich dagegen – ihrer „Natur“ gemäß – nur auf das materielle Recht beziehen:

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Wer z. B. wegen (erwiesenen) Irrtums oder (erwiesenen) Vorliegens von Schuldausschließungsgründen nicht wegen der Vortat bestraft werden kann, kann wegen Geldwäsche bestraft werden. Umgekehrt kann nicht bestraft werden, wer wegen (erwiesener) Vortatbeteiligung im materiellen Sinn strafbar ist. Von der Anwendung des verfassungs- und prozessrechtlichen Zweifelssatzes, der sich nicht auf die „Strafbarkeit“, sondern die prozessual durchsetzbare Bestrafbarkeit bezieht, kann § 261 Abs. 9 S. 2 StGB dagegen nicht suspendieren. c) Wenn im dauerpropagierten „Kampf“ gegen die „Organisierte Kriminalität“, zu dessen Bannerträgerin auch die strafrechtliche Erfassung der Geldwäsche zählt, überhaupt noch über „Fairness“ nachgedacht werden darf, wäre – in Ansehung einer Weiterexistenz von § 261 Abs. 9 S. 2 StGB – Mindesterfordernis einer fairen Strafverfolgung auch in Fällen der Geldwäsche, dass eine Vortatbeteiligung, so sie denn nicht völlig ausgeschlossen werden kann, mit zur Anklage gebracht werden müsste, und zwar auch dann, wenn hinreichender Tatverdacht i. S. von § 203 StPO gar nicht vorliegt. Das würde einerseits die Ermittlungsbehörden zur Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Identifizierung und Konkretisierung von Vortaten anhalten und dem Beschuldigten andererseits Rechtssicherheit gewähren: Er würde – ggf. – entweder wegen Vortatbeteiligung verurteilt oder insoweit freigesprochen und wegen Geldwäsche verurteilt. Blieben relevante Zweifel an der Vortatbeteiligung, zwänge § 261 Abs. 9 S. 2 StGB zum Freispruch insgesamt.31 Wer dem entgegenhielte, es sei absurd, eine Tat anzuklagen, in Bezug auf die gar kein hinreichender Tatverdacht besteht, würde ausblenden, dass die Vortaten – tatbestandlich vorgegeben – eigentlich bei jeder Anklage wegen Geldwäsche hinreichend sicher beweisbar sein müssen oder müsste begründen, warum das insoweit nicht erforderlich sein soll. Wer die gebotene Anwendung des Zweifelssatzes auf § 261 Abs. 9 S. 2 StGB – durchaus naheliegend – für unangemessen hält, sollte gleichwohl nicht Übergriffen des materiellen Rechts auf das Prozessrecht das Wort reden, sondern der Streichung dieser Vorschrift: Bei zweifelhafter Vortatbeteiligung würde eine Bestrafung eines möglicherweise wie auch immer Beteiligten durch den Wortlaut des § 261 Abs. 1 StGB ermöglicht. Ob Vortatbeteiligung oder nicht, die Voraussetzungen der Geldwäsche sind in beiden Fällen erfüllt; ein Beweisproblem stellt sich in Bezug auf § 261 StGB nicht. Bei feststehender Vortatbeteiligung stellen sich Konkurrenzfragen, die – abhängig vom jeweiligen Gewicht von Vortat und Geldwäsche – durchaus differenziert beantwortet werden könnten: Geldwäsche mag in der Regel mitbestraft sein, könnte aber auch, z. B. bei divergierenden Rechtsgütern und schwacher Form der Beteiligung an der Vortat, in Realkonkurrenz zu dieser treten. Im Extremfall etwa 31 Anders möglicherweise für Vortaten, die grundsätzlich einer Wahlfeststellung mit der Geldwäsche zugänglich sind.

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des § 261 Abs. 4 StGB könnte aber die Geldwäsche einer im Verhältnis zu ihr extrem „leichtgewichtigen“ Vortat vorgehen. 3.a) Dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB nicht sonderlich sorgfältig ausgelotet haben kann, zeigt sich auch daran, dass Mittäter, Anstifter und Gehilfen bei nachgewiesener Vortatbeteiligung deutlich besser gestellt werden als zu Zeiten des § 261 a. F. StGB. Immerhin kann nach neuem Recht ein erhebliches Strafbarkeitsgefälle zwischen der Geldwäsche einerseits und der Vortatbeteiligung andererseits bestehen, das gemäß der „Konkurrenzregel“ des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB zu Gunsten der Strafbarkeit wegen Vortatbeteiligung aufzulösen ist. Das heißt: Wenn z. B. entsprechend der Handhabung des Verhältnisses von Vortatteilnahme und Nachtat bei der Hehlerei (§ 259 StGB)32 eine Anstiftung / Beihilfe zur Vortat und die anschließende Geldwäsche eigentlich zueinander im Verhältnis der Realkonkurrenz (§ 53 StGB) stehen könnten, schließt § 261 Abs. 9 S. 2 StGB dies aus. Ein Grund, das Verhältnis von Geldwäsche und Vortatteilnahme anders zu behandeln als den gleichen Zusammenhang bei der Hehlerei, ist kaum ersichtlich. Insbesondere deswegen nicht, weil die Vortatteilnahme bei der Geldwäsche erheblich leichter wiegen kann als die nachfolgende Geldwäsche. Um ein extremes Beispiel zu wählen: Wer als extraneus einem Amtsträger bei dessen Bestechlichkeit (§ 332 StGB) Hilfe leistet (§ 27 StGB), kommt in den mehrfachen Genuss einer Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB. Wäscht dieser Vortatteilnehmer anschließend gewerbsmäßig Gegenstände, die aus der Bestechlichkeit (vgl. § 261 Abs. 1 Nr. 2 a StGB) herrühren, muss ihn der durch § 261 Abs. 4 StGB insoweit eröffnete Strafrahmen wegen § 261 Abs. 9 S. 2 StGB nicht sonderlich schrecken.33 b) Der soeben geschilderte Fall macht auf eine weitere Ungereimtheit aufmerksam: Die im Verhältnis zur anschließenden Geldwäsche noch so bagatellarische Vortatbeteiligung schließt eine Geldwäschestrafbarkeit kategorisch aus. Der Zweifel an der Vortatbeteiligung lässt dagegen nach gängiger Lesart des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB Bestrafung zu. Auch hier hinkt der Vergleich zur Hehlerei und deren Verhältnis zur Vortat: 32 Vgl. BGHSt (Gr. S.) 7, 134; zur entsprechenden Handhabung bei der Geldwäsche vgl. Stree, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 8), § 259 Rn. 55. 33 Die „gerechte“ Strafe könnte ihn – folgt man der h. A. – nur treffen, wenn sich die Vortatbeteiligung nicht beweisen ließe. Dass dieser Aspekt keine Auswirkung auf entsprechende Ermittlungsaktivitäten haben darf, versteht sich natürlich von selbst (lässt sich aber kaum überprüfen).

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Bei erwiesener Vortatteilnahme – man nehme Anstiftung zum erpresserischen Menschenraub – kann realkonkurrierende Hehlerei für den Anstifter unproblematisch gegeben sein. Bei Zweifeln an der Vortat entfällt eine Strafbarkeit insoweit, während die Hehlerei strafbar bleibt. Bei der Geldwäsche würde es sich ohne die Regelung des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB gleich verhalten: Der Zweifel an der Vortatbeteiligung ließe die die Geldwäsche betreffenden Feststellungen unberührt. Dass der Gesetzgeber dieses Ergebnis mit der Einfügung von § 261 Abs. 9 S. 2 StGB nur klarstellen wollte,34 mag zutreffen, gelungen ist es ihm aber nicht – es sei denn, man ignoriert zu Lasten des Zweifelssatzes die „Existenz“ eines Strafausschließungsgrundes. c) Die in Bezug auf eine ggf. erwiesene Geldwäsche möglicherweise erheblich günstigere Straferwartung hat noch eine weitere, fatale, mit einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren kaum kompatible Konsequenz für den Beschuldigten: Man nehme eine marginale Beihilfe zur Vortat und eine opulente Geldwäsche nach § 261 Abs. 1 i.V. mit § 261 Abs. 4 StGB. Materiell-rechtlich ist der Fall einfach gelagert: § 261 Abs. 9 S. 2 StGB gebietet Bestrafung allein wegen der Vortatteilnahme. Was aber geschieht, wenn der Beschuldigte trotz durch ihn leicht beweisbarer Vortatteilnahme und offen zu Tage liegender „Geldwäsche in einem besonders schweren Fall“ im Verfahren schweigt; etwa deswegen, weil er zum Beweis „seiner“ Vortatbeteiligung andere Beteiligte offenbaren müsste. Ein solcher Beschuldigter sieht durch § 261 Abs. 4 StGB eine Strafe auf sich zukommen, die er in Ansehung von § 261 Abs. 9 S. StGB eigentlich nicht hinzunehmen hätte. Er muss aber auch erkennen, dass die Beweislast allein bei ihm liegt: Weil das Gericht sich auf eine die Verurteilung wegen Geldwäsche nicht hindernde Annahme der bloßen Möglichkeit der Vortatbeteiligung zurückziehen und eine Postpendenzentscheidung in Richtung § 261 Abs. 4 StGB treffen kann, bleibt dem Beschuldigten zu seiner „Rettung“ nur, die Möglichkeitsvorstellung, die das Gericht von seiner Vortatbeteiligung haben mag, in Gewissheit umzuwandeln. D. h., er muss das Geschehen offenbaren, aus dem sich seine Vortatbeteiligung ergibt. Anders gewendet: Die Nicht-Geltung des Zweifelssatzes in Bezug auf § 261 Abs. 9 S. 2 StGB zwingt den Beschuldigten, der der Schärfe einer Strafdrohung des § 261 Abs. 4 StGB entgehen will, zur Offenbarung ihn belastender Umstände. Gegen diesen „Zwang“ spricht, dass es Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist, dass eine Person vom Staat nicht in eine Konfliktlage gebracht werden darf, in der sie sich selbst strafbarer Handlungen bezichtigen muss. Der Staat darf einer Person nicht zumuten, durch eigene Aussagen die Grundlage für eine strafrechtliche Verurteilung zu liefern.35 Das muss auch in dieser Konstellation gelten. 34

Vgl. BT-Drucks. 13 / 8651, S. 10 f.; ferner: Fischer (o. Fn. 1), § 261 Rn. 18.

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Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Beschuldigte entscheide sich durch seine Beweisbeschaffung doch nur für das kleinere Übel; materiell betrachtet belaste er sich nicht, sondern entlaste sich. Dieses Argument setzte jedoch voraus, was zu beweisen wäre: Die Nicht-Geltung des in dubio pro reo-Satzes. Soweit (auch) in diesem Zusammenhang darauf verwiesen würde, dass Zweifel an der Strafbarkeit wegen Beteiligung an einer im Verhältnis zur Geldwäsche milderen Vortat zur Anwendung des Strafrahmens des milderen Gesetzes führen sollen, fragt sich, worauf eine solche mittelbare Berücksichtigung des Zweifelsatzes bei einem schweigenden Angeklagten gründen soll. Auch die Weckung relevanter Zweifel zum Zwecke der Herbeiführung eines milderen Strafrahmens ist verbunden mit dem Zwang zu einer selbstbelastenden Äußerung. d) In letzterem Zusammenhang muss es aber nicht notwendig um die Herbeiführung einer milderen Strafe gehen. Das lässt sich am eingangs skizzierten Fall demonstrieren: Die schweren und schwersten Vortaten, die A möglicherweise begangen hat, sind nicht angeklagt. Die Untersuchungshaft des A gründet allein auf der Geldwäsche. Eine ihm mögliche, aber sicher nicht zumutbare Aufdeckung seiner Vortatbeteiligung würde im laufenden Verfahren wegen Geldwäsche zum Freispruch führen. Einer Nachtragsanklage (§ 266 StPO) würde A gewiss nicht zustimmen. Damit würde sich die Haftfrage neu und im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG zur Untersuchungshaft36 möglicherweise mit für den A günstiger Entlassungsprognose stellen.

V. Fazit: Mit der Neufassung der Vorschrift des § 261 Abs. 1 StGB durch das „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ wollte der Gesetzgeber der Geldwäsche eine lückenlose Auffangfunktion verschaffen. Mit der zusätzlichen Einfügung des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB hat er – aus der Perspektive dieses Programms – des Guten zu viel getan. Letztere Vorschrift ist nicht immun gegen die dem Rechtsstaat geschuldeten Verfahrensgrundsätze. Statt dies zu ignorieren, wäre für eine rationale Strafrechtspflege die Streichung von § 261 Abs. 9 S. 2 StGB Mittel der Wahl.

35 Vgl. zu dieser Ausgestaltung des „nemo tenetur se ipsum accusare“ hier nur: BVerfGE 38, 105, 114 f.; 56, 37, 41 f.; 95, 220, 241. 36 Vgl. zuletzt: BVerfG 2 BvR 2652 / 07, Beschl. v. 23. 01. 2008.

EG-Verordnung und Blankettgesetz – Zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht Von Monika Harms und Sonja Heine

Einleitung Die Europäisierung des Strafrechts schreitet seit geraumer Zeit voran. Dies gilt ganz besonders seit dem Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union geschaffen wurde. Seither ist die „polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ eine der drei Säulen, auf denen die Union ruht.1 Sie verfügt damit über einen institutionellen Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit, der auch reichlich genutzt wird. Der Praktiker verbindet mit dem Handeln der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafrechts in erster Linie Erleichterungen und Vereinheitlichungen auf verfahrensrechtlicher Ebene; das bekannteste Beispiel hierfür ist der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl.2 Zahlreicher noch sind jedoch die materiellen Vorgaben, die die Union den Mitgliedstaaten im Bereich der dritten Säule gemacht hat und die zur Schaffung oder Änderung von Straftatbeständen geführt haben.3 Europäisches Recht beeinflusst das materielle Strafrecht allerdings nicht erst seit der Gründung der Europäischen Union. Auch das Gemeinschaftsrecht der ersten Säule spielt über Verordnungen und Richtlinien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese Europäisierung im Bereich der ersten Säule wirkt sich jedoch in erster Linie im Nebenstrafrecht aus und ist vielleicht aus diesem Grunde noch nicht in gleichem Maße in das Bewusstsein der Rechtsanwender gedrungen wie die Vereinheitlichungen des Verfahrensrechts.

Titel VI des EU-Vertrages, Art. 29 – 42. Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002 / 584 / JI), ABl. L 190 / 1 vom 18. Juli 2002. 3 Von den 20 bisher zustande gekommenen Rahmenbeschlüssen betreffen 12 das materielle Strafrecht. Einige davon greifen allerdings nach der Rechtsprechung des EuGH in die Zuständigkeit der Gemeinschaft ein, Urteil vom 13. September 2005, Rs. C-176 / 03, Komm. / Rat, Slg. 2005, I-7879, Urteil vom 23. Oktober 2007, Rs. C-440 / 05, Komm. / Rat, noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht. Vgl. auch die Zusammenstellung in der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 24. November 2005, KOM (2005) 583 endg. / 2. 1 2

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In einem zusammenwachsenden Europa, in dem Kriminalität vor den Landesgrenzen nicht haltmacht, ist diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Sie stellt allerdings neue Anforderungen an Staatsanwaltschaften und Gerichte, die sich in erster Linie aus dem spezifischen Verhältnis von nationalem zu Gemeinschaftsund Unionsrecht ergeben. Zu nennen ist hier die Verpflichtung zur konformen Auslegung nationaler Rechtsvorschriften, die auf europarechtliche Vorgaben zurückgehen.4 Für Zivil- und Verwaltungsrichter ein inzwischen selbstverständlicher Auslegungstopos, ist die konforme Auslegung für den Strafrechtler häufig noch ein ungewohntes Instrument bei der Ermittlung des materiellen Gehalts einer Strafnorm. Vor allem für den Bereich des Nebenstrafrechts stellen sich darüber hinaus andere, strafrechtsspezifische Fragen, die im Zivil- und Verwaltungsrecht in dieser Form keine Parallelen finden. Insbesondere arbeitet der nationale Gesetzgeber hier in erheblichem Umfang mit Blankettgesetzen, um EG-Verordnungen durch Strafoder Bußgeldbewehrung zur Durchsetzung zu verhelfen. Diese Regelungstechnik ist für den Gesetzgeber einfach und bei Beachtung gewisser verfassungsrechtlicher Vorgaben unbedenklich. Für die Praxis der Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden bringt sie jedoch Schwierigkeiten mit sich, die zum einen die zeitliche Geltung solcher Strafgesetze betreffen und zum anderen ihre Deutung vor dem Hintergrund des Auslegungsmonopols des EuGH. Beides soll uns im Folgenden beschäftigen.

I. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit europäischer Blankettstrafgesetze Von einem Blankettgesetz spricht man, wenn ein Gesetz lediglich die Rechtsfolge selbst regelt, für den Tatbestand aber auf eine andere Norm verweist. Erst beide Vorschriften zusammen, das Blankett und die Ausfüllungsnorm, ergeben das vollständige Gesetz mit Tatbestand und Rechtsfolge. In zahlreichen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die Grenzen dieser Regelungstechnik innerhalb des nationalen Rechts aufgezeigt. Maßstab für die Zulässigkeit von Verweisungen im Strafrecht ist das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, das einen doppelten Zweck verfolgt: Zum einen soll der Normadressat vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist, zum anderen muss sichergestellt sein, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet und der Parlamentsvorbehalt gewahrt bleibt.5 Unproblematisch sind danach Verweisungen auf ein anderes Par4 Für Gemeinschaftsrechtsakte entspricht dies ständiger Rechtsprechung des EuGH, vgl. nur – auf dem Gebiet des Strafrechts – Urteil vom 12. Dezember 1996 in den verb. Rechtssachen C-74 / 95 und C-129 / 95, X, Slg. 1996, I-6609; Urteil vom 3. Mai 2005 in den verb. Rechtssachen C-387 / 02, C-391 / 02 und C-403 / 02, Berlusconi u. a., Slg. 2005, I-3565. Mit Urteil vom 16. Juni 2005 in der Rechtssache C-105 / 03, Pupino, Slg. 2005, I-5285, hat der Gerichtshof die Pflicht zur konformen Auslegung auf Rahmenbeschlüsse erweitert.

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lamentsgesetz, dessen Kenntnis von den Rechtsunterworfenen erwartet werden kann. Zumeist handelt es sich bei den Strafblanketten auch um sogenanntes Expertenstrafrecht, in dem die tatbestandsausfüllenden Vorschriften in einem dem Normadressaten ohnehin geläufigen Spezialgesetz enthalten sind.6 Erfolgt die Ergänzung eines Blankettstrafgesetzes dagegen nicht durch ein förmliches Gesetz, müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe im Blankett selbst hinreichend deutlich umschrieben werden; lediglich gewisse Spezifizierungen des Straftatbestandes können durch Verweisung auf eine andere Norm, regelmäßig eine Rechtsverordnung erfolgen.7 Dies gilt unproblematisch für sogenannte statische Verweisungen, die sich auf die Ausfüllungsnorm in der bei Erlass des Blankettstrafgesetzes geltenden Fassung beziehen. Mit den genannten Vorgaben ist aber zugleich auch die Frage nach der Zulässigkeit von dynamischen Verweisungen innerhalb des nationalen Rechts beantwortet: Wird auf ein anderes Gesetz desselben Gesetzgebers verwiesen, sind auch Verweisungen, die sich auf die jeweils geltende Fassung der Ausfüllungsnorm beziehen, ohne weiteres zulässig, denn der Gesetzgeber hat dessen Modifikation selbst in der Hand. Gegen dynamische Verweisungen auf eine Ausfüllungsnorm, die nicht vom Blankettgesetzgeber selbst erlassen wird, sondern von einem Verordnungs- oder Landesgesetzgeber, bestehen ebenfalls keine Bedenken. Denn die dargestellten Schranken, denen eine derartige Außenverweisung unterliegt, bieten zugleich die Gewähr dafür, dass trotz Modifikation der Ausfüllungsnorm sowohl der Normenklarheit als auch dem Parlamentsvorbehalt genügt ist.8 Die verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten für Verweisungen auf EG-Verordnungen gleichermaßen. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh die für nationale Rechtsverordnungen entwickelten Grundsätze auf die Verordnungen des Gemeinschaftsrechts übertragen.9 Diese Lösung ist sachgerecht, obwohl die europäi5 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 47, 109, 120; Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 17. Oktober 2007 – 2 BvR 1095 / 05. 6 Vgl. § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB – unerlaubtes Betreiben von Anlagen – mit Verweis auf das BImschG (hierzu BVerfGE 75, 329, 344 f.) oder § 283b StGB – Verletzung der Buchführungspflicht – mit Verweis auf § 238 ff. HGB. Ebenfalls hierher gehört § 370 AO, der auf die Einzelsteuergesetze verweist (hierzu BGHSt 37, 266, 272; BVerfG NJW 1995, 1883; BVerfG Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 26. Februar 2003 – 2 BvR 150 / 03). 7 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 75, 329, 342; 78, 374, 382. 8 Ebenso Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 255. 9 BVerfGE 29, 198, 209 f.; Beschluss des 2. Senats vom 17. März 1978, 2 BvR 1086 / 77, RIW 1979, 133; Enderle, Blankettstrafgesetze, 2000, S. 199. Die Fälle, in denen wie in § 49 Nr. 6 WeinG die Strafbewehrung des Gemeinschaftsrechts erst von der Festlegung eines deutschen Verordnungsgebers abhängt, sog. Rückverweisungen, sollen außer Acht bleiben. Da die Entscheidung über die Strafbewehrung hier letztlich dem Verordnungsgeber überlassen ist, weil das Blankett nicht selbst auf die zu bewehrende EG-Verordnung verweist, geht die Literatur ganz überwiegend von der Verfassungswidrigkeit derartiger Blankettgesetze aus, vgl. nur Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 273, Enderle (o. dieselbe Fn.), S. 265 f.

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schen Verordnungen der Sache nach die „Gesetze“ der Gemeinschaft10 darstellen. Wie Rechtsverordnungen oder Landesrecht handelt es sich aber um Normen, die nicht von dem Blankettgesetzgeber selbst erlassen werden. Art. 103 Abs. 2 GG ist deshalb genügt, wenn die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe im Blankett selbst hinreichend deutlich umschrieben sind. Ist dies der Fall, bestehen auch gegen dynamische Verweisungen auf Gemeinschaftsverordnungen keine Bedenken.11 Dennoch wird bisweilen geltend gemacht, dass Verweisungen auf Gemeinschaftsrecht weitergehenden Anforderungen im Hinblick auf die Bestimmtheit zu unterwerfen seien. So fordert etwa Satzger die Angabe der genauen Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union, weil dem Normadressaten die Rechtsfindung ansonsten unzumutbar erschwert werde.12 Abgesehen davon, dass dynamische Verweisungen damit schon von vornherein ausgeschlossen wären,13 überzeugt dies vom Ansatz her nicht. Denn das Gemeinschaftsrecht ist genauso geltendes Recht in den Mitgliedstaaten wie das jeweils nationale. Es stellt keine fremde Rechtsordnung dar, sondern ist ebenso Rechtsordnung der Mitgliedstaaten wie ihre rein nationale. Sie besteht nicht nur parallel neben der nationalen, sondern genießt dieser gegenüber sogar Anwendungsvorrang. Mit dem gleichen Anspruch, mit dem von dem Rechtsunterworfenen die Kenntnis des Bundesgesetzblattes gefordert wird, kann von ihm darum auch die des EG-Amtsblattes erwartet werden.14 Mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot lassen sich besondere Anforderungen an die Zulässigkeit europäischer Blankette schon deshalb nicht begründen, weil Maßstab für die Bestimmtheit nicht die Ausfüllungsnorm ist. Es ist vielmehr das Blankettgesetz selbst, das nach dem Bundesverfassungsgericht bei Außenverweisungen die Voraussetzungen der Strafbarkeit nennen und Art und Maß der Strafe im Wesentlichen umschreiben muss. Ob die Ausfüllungsnorm nun eine nationale Rechtsverordnung oder eine EG-Verordnung ist, darf dabei für die Beurteilung der Bestimmtheit des Blankettgesetzes keine Rolle spielen.

10 Vgl. nur Ruffert, in: Callies / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 EGV Rn. 39. 11 Ebenso Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettgesetzgebung?, 1999, S. 195; Böse, Strafen und Sanktionen im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 439 f. Für grundsätzlich verfassungswidrig halten sie dagegen Satzger (o. Fn. 8), S. 270; ders. JuS 2004, 948; Enderle (o. Fn. 9), S. 266; für nur ausnahmsweise zulässig Ambos, Internationales Strafrecht, 2006, S. 392. 12 Satzger (o. Fn. 8), S. 269. 13 Das sieht Satzger, JuS 2004, 948, selbst. 14 Praktisch stellt beides gleichermaßen eine Fiktion dar, weder das BGBl. noch das ABl. zählen zur allgemeinen Lektüre. Im Bedarfsfall ist der Zugang zum EG-Recht aber ohne weiteres möglich und angesichts der Suchfunktionen der einschlägigen Suchmaschine Eur-Lex im digitalisierten Computerzeitalter faktisch sogar einfacher als das Auffinden von BGBl.Fundstellen, insbesondere bei dynamischen Verweisungen.

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II. Strafbarkeitslücken bei Änderungen des Verweisungsobjekts 1. Die zeitliche Geltung eines Blankettstrafgesetzes richtet sich wie die jedes Strafgesetzes nach § 2 StGB. Insbesondere die Lex-mitior-Regel des § 2 Abs. 3 StGB kann bei Blanketten mit EG-Bezug jedoch zu Strafbarkeitslücken führen. Denn der Gemeinschaftsgesetzgeber neigt eher dazu, ein Regelungswerk insgesamt aufzuheben und durch ein neues zu ersetzen, als ein vorhandenes abzuändern. Bezieht sich eine Blankettvorschrift auf eine Verordnung, die mit dem Erlass ihrer Nachfolgevorschrift außer Kraft tritt, geht das Blankett von diesem Zeitpunkt an ins Leere; soll es weiter gelten, muss es vom Gesetzgeber erst an die neue Vorschrift angepasst werden. Ein vollständiges Strafgesetz ist nämlich nur gegeben, wenn sowohl die Sanktionsnorm als auch die das Blankett ausfüllende Verhaltensnorm wirksam sind. Fehlt es auch nur zeitweise an einem von beiden, so ist das mildere Gesetz dasjenige, das den Wegfall der Strafdrohung zur Folge hat.15 Fällt die Ersetzung der ursprünglichen Bezugsnorm in den Zeitraum zwischen Tatbegehung und Verurteilung, so führt die Anwendung von § 2 Abs. 3 StGB damit auch dann zur Straffreiheit, wenn das Handeln sowohl bei Tatbegehung als auch bei Aburteilung mit Strafe bedroht war.16 Verfassungsrechtlich ist dieses Ergebnis nicht geboten und folgt insbesondere nicht aus dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Denn dieses Verbot untersagt nur die rückwirkende Anwendung neuen materiellen Rechts zuungunsten des Täters und verhält sich damit über das „von wann an“ der Strafverfolgung, nicht aber über das „wie lange“. Es soll den einzelnen davor schützen, aufgrund eines Gesetzes bestraft zu werden, dass ihm bei der Tat nicht bekannt sein konnte. Maßgeblich für das Rückwirkungsverbot ist damit der Zeitpunkt der Handlung; auf spätere Entwicklungen kommt es nicht an. War das Verhalten aber zur Tatzeit genauso strafbar wie zum Zeitpunkt des Urteils, ist Art. 103 Abs. 2 GG nicht verletzt.17 In diesem Fall ist die Straffreiheit folglich nur die einfachgesetzliche Folge von § 2 Abs. 3 StGB.18 15 Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 2 Rn. 8, vgl. auch Dannecker, ZIS 2006, 316. Diese Rechtsfolge versucht der Gemeinschaftsgesetzgeber zum Teil durch die Anordnung zu umgehen, dass die zur Vorläufervorschrift von den Mitgliedstaaten festgesetzten Sanktionen solange weiter Anwendung zu finden haben, bis neue Rechtsvorschriften angenommen sind, so z. B. Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 881 / 2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 467 / 2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan (ABl. L 139 vom 29. Mai 2002, S. 9), die § 34 Abs. 4 AWG konkretisiert. Zur Zulässigkeit einer solchen Bestimmung vor dem Hintergrund der fehlenden Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft zur Setzung von Strafrecht vgl. Dannecker / Freitag, ZStW 116 (2004), 809 f., 815 f. 16 Hecker (o. Fn. 9), S. 271.

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2. Wie lassen sich Strafbarkeitslücken aufgrund der Lex-mitior-Problematik vermeiden oder zumindest begrenzen? Unterschiedliche dogmatische Ansätze sind denkbar. Will der Gesetzgeber nicht auf die Regelungstechnik der Verweisung verzichten, wäre insbesondere zu erwägen, ob nicht generell § 2 Abs. 4 StGB auf europäische Blankettgesetze anzuwenden ist, ob sie also nicht durchgängig als Zeitgesetze begriffen werden müssen. a) Gänzlich vermeiden ließe sich Straffreiheit bei Austausch des Verweisungsobjekts nur durch einen gesetzgeberischen Verzicht auf die ökonomische Blanketttechnik. Der Gesetzgeber müsste stattdessen das inkriminierte Verhalten in dieselbe Norm aufnehmen, die auch die Rechtsfolge festlegt. Neben Strafbarkeitslücken würden so auch die bei Blankettstrafgesetzen gelegentlich auftretenden Zweifel an der Bestimmtheit der Norm vermieden, weil nicht mehr auf externe Vorschriften zurückgegriffen werden muss.19 Einem solchen vollständigen Strafgesetz, dessen Tatbestand eine gemeinschaftsrechtliche Regelung wiedergibt, könnte insbesondere nicht entgegengehalten werden, dass es unzulässig sei, unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht im nationalen Recht zu wiederholen.20 Diese Regel hat der EuGH schon früh aufgestellt und sie hat auch ihre Berechtigung, verhindert sie doch, dass der Normadressat über den Gemeinschaftsrechtscharakter der Norm und die daraus folgenden besonderen Anforderungen an den Umgang mit ihr im Unklaren gelassen wird.21 Sie greift allerdings nicht im Strafrecht, denn auf diesem Gebiet hat die Gemeinschaft keine Kompetenz zur Setzung unmittelbar geltenden Rechts. Ihr kommt auch nach den umstrittenen Entscheidungen des EuGH zum Umweltstrafrecht22 lediglich eine Anweisungskompetenz zu, die auf Gemeinschaftsebene nur zum Erlass von umset17 BVerfGE 81, 132, 136 f., zum Fall einer Ahndungslücke bei bußgeldbewehrten Lenkzeitregelungen für Fahrpersonal. Die Untergerichte hatten nach der zum Zeitpunkt der Aburteilung geltenden Fassung des Bußgeldtatbestandes verurteilt, was – da die Tat auch zur Tatzeit sanktioniert war – keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot darstellte. Vgl. auch BVerfG NJW 1993, 2167. 18 Auch Art. 2 Abs. 1 GG führt in dieser Konstellation nicht von Verfassungs wegen zur Straffreiheit. Zwar hat das BVerfG NJW 1993, 2167, entschieden, dass eine außer Kraft getretene und damit aus der verfassungsmäßigen Ordnung ausgeschiedene Strafvorschrift die allgemeine Handlungsfreiheit nicht mehr wirksam beschränken kann. Der Fall betraf jedoch den endgültigen Wegfall der Strafdrohung, so dass zum Zeitpunkt der Aburteilung keine Strafbarkeit mehr bestand. Anders als in dem BVerfGE 81, 132, zugrunde liegenden Fall konnte gar nicht nach dem zum Zeitpunkt der Aburteilung geltenden Fassung des Straftatbestandes verurteilt werden. 19 Ebenso Satzger (o. Fn. 8), S. 288. 20 So aber Satzger (o. Fn. 8), S. 289. 21 Vgl. etwa Urteil vom 10. Oktober 1973 in der Rs. C-34 / 73, Variola, Slg. 1973, 981; Ruffert, in: Callies / Ruffert (o. Fn. 10), Art. 249 EGV Rn. 42 m. w. N. 22 Urteil vom 13. September 2005, Rs. C-176 / 03, Komm. / Rat, Slg. 2005, I-7879, Urteil vom 23. Oktober 2007, Rs. C-440 / 05, Komm. / Rat, noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht.

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zungsbedürftigen Rechtsakten ermächtigt.23 Hierbei wird es auch nach dem Vertrag von Lissabon bleiben,24 so dass es bis auf weiteres keine vollständigen, Tatbestand und Rechtsfolge festlegenden europäischen Strafvorschriften geben wird. Wird der Wortlaut einer Gemeinschaftsverordnung in ein nationales Strafgesetz aufgenommen, wird also kein unmittelbar geltendes Recht in unzulässiger Weise wiederholt, sondern es wird außerhalb der Zuständigkeit der Gemeinschaft eine nationale Regelung geschaffen, die sich an gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für andere Rechtsgebiete orientiert. Bezogen auf das Strafrecht wird eine Verordnung damit funktional zur Richtlinie. Dann aber ist es für die Zulässigkeit einer solchen Strafnorm auch ohne Belang, ob der Gesetzgeber die gemeinschaftsrechtlichen Wurzeln seines Handelns offenlegt, indem er bei Beschreibung des verbotenen Verhaltens den Zusatz „entgegen dem Europäischen Gemeinschaftsrecht“ aufnimmt oder nicht.25 Zu den mit einem Verzicht auf die Blanketttechnik verbundenen Vorzügen gehörte nicht nur die Vermeidung der dargestellten Strafbarkeitslücken. Auch die Notwendigkeit einer Abänderung könnte sich im Einzelfall seltener stellen als bei der Schaffung eines Blankettgesetzes. Denn bloße Neuverkündungen einer bestimmten Verordnung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber, die nicht mit einer inhaltlichen Änderung einhergehen, würden eine Änderung des vollständigen Strafgesetzes nicht erfordern, wohl aber eine solche des Blanketts, in das die neue Regelung inkorporiert werden muss.26 Es darf indessen bezweifelt werden, ob sich der Verzicht auf Blankettgesetze in großem Umfang realisieren lässt. Die Blanketttechnik ist zu weit verbreitet und in vielen Spezialgebieten allein wegen der Komplexität der Materie kaum vermeidbar.27 Gerade bei umfangreichen Verweisungen und Verweisungsketten wäre mit deren Transformation in ein einziges Gesetz auch kein Gewinn an Normenklarheit verbunden.28 Die gemeinschaftsrechtliche Entwicklung müsste außerdem von den Rechtsanwendern sehr genau beobachtet wer23 Gleiches gilt für die Strafrechtsharmonisierung der dritten Säule, denn auch Rahmenbeschlüsse sind wie Richtlinien nur für die Mitgliedstaaten verbindlich, Art. 34 Abs. 2 S. 2 Buchst. b) EUV. 24 Vgl. den durch Art. 2 Nr. 67 des Lissabonner Vertrages eingefügten Art. 69 b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ehemals EGV), der zum Erlass von Richtlinien zur Festlegung von Mindestvorschriften in bestimmten Bereichen des Strafrechts ermächtigt, ABl. C 306 vom 17. Dezember 2007, S. 1, 65. 25 Anders Satzger (o. Fn. 8), S. 289 f., im Anschluss an Böse (o. Fn. 11), S. 437. Bei der Umsetzung von Richtlinien in anderen Rechtsgebieten werden Hinweise auf den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund einer Regelung auch nicht gefordert, vgl. etwa die umfangreichen Änderungen des BGB aus Anlass der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Das ändert nichts daran, dass die Aufnahme eines entsprechenden Verweises für die Praxis hilfreich ist, legt sie doch nahe, was gerade im Strafrecht – weil dort noch eher ungewohnt – leicht übersehen werden kann, nämlich dass die Auslegung bestimmter Tatbestandsmerkmale durch den zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsakt bestimmt wird. 26 Ein Beispiel für einen derartigen Fall enthält BVerfGE 81, 132. 27 Ähnlich Satzger, Jus 2004, 948. 28 Darauf weist auch Satzger (o. Fn. 8), S. 290, hin.

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den, damit es nicht umgekehrt dort zu einer Strafverfolgung kommt, wo das gemeinschaftsrechtliche Verbot zwischenzeitlich weggefallen ist. Zwar dürfte ein Straftatbestand, der gemeinschaftsrechtlich erlaubtes Verhalten sanktioniert, nicht mehr angewandt werden.29 Diese Neutralisierung des nationalen Strafrechts setzt aber voraus, dass Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten die entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, die hinter dem Straftatbestand stehen, überhaupt bekannt sind. Bei einem Blankettgesetz ist dies eher gewährleistet, denn der Verweis auf supranationales Recht zwingt zur Beschäftigung mit der Gemeinschaftsnorm. Zur Vermeidung ungewollter Lex-mitior-Folgen sollte der Gesetzgeber bei einfacheren Sachverhalten, bei denen auch zukünftig keine allzu großen Änderungen zu erwarten sind, aber doch überlegen, ob er den anfänglichen Aufwand, der mit der Schaffung eines vollständigen Strafgesetzes verbunden ist, um der geschilderten Vorteile willen nicht doch in Kauf nimmt. b) Keine brauchbare Lösung bietet dagegen der Ansatz, vom Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 StGB oder des gleichlautenden § 4 Abs. 3 OWiG diejenigen Fälle auszunehmen, in denen der Gesetzgeber das Blankett später angepasst hat. Zwar haben diese Vorschriften nur einfachgesetzlichen Charakter, so dass ihre Änderung nicht schon an Verfassungsgrundsätzen scheiterte. Für eine solche Lösung könnte außerdem sprechen, dass neu gefasste Gemeinschaftsverordnungen häufig Klauseln enthalten, wonach Verweise auf die Vorgängervorschrift auch als Verweis auf die Nachfolgeregelung zu verstehen sind.30 Aus der Sicht des Gemeinschaftsgesetzgebers soll das ursprüngliche Verbot trotz der Neukodifizierung unverändert fortgelten,31 so dass die Ahndungslücke nach nationalem Recht nur auf der Säumnis des Gesetzgebers beruht, das Blankett nicht rechtzeitig angepasst zu haben. Immerhin hat sogar das Bundesverfassungsgericht entschieden, es sei de lege lata wohl fehlerhaft, aber trotzdem „nachvollziehbar“, wenn ein Gericht der Auffassung sei, dass die Lex-mitior-Regelungen des StGB und des OWiG derartige Ahndungslücken nicht beträfen.32 29 Diese sogenannte Neutralisierungswirkung ist allgemein anerkannt und beruht auf dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts: Ist das Verhalten gemeinschaftsrechtlich erlaubt, tritt das dem Strafgesetz zugrunde liegende entgegenstehende Verbot zurück und wird vom Gemeinschaftsrecht verdrängt oder neutralisiert, vgl. nur Hecker (o. Fn. 9), S. 322 m. w. N. 30 Als Beispiel mag die Verordnung (EWG) Nr. 3820 / 85 dienen, die die Verordnung (EWG) Nr. 543 / 69 abgelöst hat und die der Entscheidung des AG Hamburg vom 24. April 1987, 132 I OWi 813 Js 46 / 87, zugrunde lag. Zwischen Tatzeit und Verurteilung war – mit einer gewissen Verzögerung – die Ausfüllungsnorm des einschlägigen Bußgeldtatbestandes ausgetauscht worden. Das AG hat die Anwendung von § 4 Abs. 3 OWiG nicht in Betracht gezogen und nach der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung des Tatbestandes verurteilt; die Rechtsbeschwerde hiergegen blieb erfolglos, Urteil des OLG Hamburg vom 29. September 1987, 3 Ss 20 / 87 OWi. Auch die Verfassungsbeschwerde des Betroffenen blieb ohne Erfolg, s. u. Fn. 32. 31 Komplizierter wird die Situation, wenn die neue Regelung auch noch inhaltliche Veränderungen mit sich bringt und zugleich die Kontinuität des Unrechtstyps in Frage steht, vgl. zu dieser Problematik Eser, in: Schönke / Schröder (Hrsg.), StGB, 27. Aufl. 2006, § 2 Rn. 26 f.

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Eine entsprechende Anpassung der Lex-mitior-Regelungen würde jedoch zu kaum zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen führen, je nachdem, wie viel Zeit bis zur Anpassung des Blankettgesetzes verstreicht.33 Denn solange noch nicht feststeht, dass der Gesetzgeber sein Blankett überhaupt anpassen will, kann eine Verurteilung sicher nicht erfolgen. Schließlich bestünde ja auch die Möglichkeit, dass er auf die weitere Strafbewehrung des gemeinschaftsrechtlichen Verbots verzichtet und die Verordnungsziele mit den Mitteln des Verwaltungsrechts zu erreichen sucht. Erst wenn die Anpassung tatsächlich erfolgt ist, käme darum eine Strafbarkeit des Betroffenen in Betracht. Dauert die Umsetzung wie im Fall von § 30 a BNatSchG a. F. knapp ein Jahr, würden diejenigen straffrei bleiben, die unverdienterweise während dieses Zeitraums zur Aburteilung anstehen.34 Diejenigen, deren Verfahren erst nach der Anpassung rechtskräftig abgeschlossen wird, wären dagegen zu verurteilen, weil ja nunmehr feststünde, dass die zwischenzeitliche Ahndungslücke auf einer gesetzgeberischen Säumnis beruhte.35 Gänzlich schief wird das Bild, wenn man berücksichtigt, dass Taten, die zwischen der Änderung der Ausfüllungsnorm und der Änderung des Blanketts begangen würden, in jedem Falle straffrei blieben. Denn da zur Tatzeit kein wirksames Strafgesetz bestand, weil das alte Blankett ins Leere ging, könnte sich der Täter auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot berufen und deshalb auch nach der Anpassung des Blanketts nicht bestraft werden.36 Die Modifikation von § 2 Abs. 3 StGB würde damit im Ergebnis lediglich dazu führen, dass derjenige, bei dem die Mühlen der Justiz besonders langsam mahlen, bestraft würde – eine Konsequenz, die schon vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 1 EMRK erheblichen Bedenken begegnet, ganz zu schweigen von dem Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Möglichkeit, früher begangenes tatbestandsmäßiges Handeln durch eine Änderung von § 2 Abs. 3 StGB nach dem zur Urteilszeit geltenden neuen Recht zu bestrafen, scheidet damit aus. c) Damit verbleibt als letzte Option, gem. § 2 Abs. 4 StGB das zur Tatzeit geltende Recht heranzuziehen. Die Vorschrift schließt § 2 Abs. 3 StGB für Gesetze, die von vornherein nur für eine bestimmte Zeit gelten sollen, aus und lässt eine Bestrafung nach dem zur Tatzeit geltenden Recht auch dann zu, wenn dieses außer Kraft getreten ist. Damit würden die Strafbarkeitslücken bei Änderung des Verweisungsobjekts erheblich reduziert, weil sie auf die Fälle beschränkt blieben, in denen die Tat in der Zeit zwischen Änderung des Verweisungsobjekts durch den 32 BVerfGE 81, 132, 138. Die Entscheidungen der Vorinstanzen seien deshalb nicht willkürlich und verstießen nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. 33 Ebenso Pohl, wistra 1999, 166. 34 Eine Verurteilung aufgrund ungültiger Vorschriften verletzt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, BVerfGE 7, 111, 119, BVerfG NJW 1993, 2167. Diese Konstellation meint offenbar auch Satzger (o. Fn. 8), S. 274. 35 Vgl. das Beispiel bei Pohl, wistra 1999, 166 zu der in § 39 Abs. 2 BNatSchG a. F. enthaltenen nachträglichen Derogierung von § 2 Abs. 3 StGB und § 4 Abs. 3 OWiG. 36 Ähnlich Pohl, wistra 1999, 166.

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Gemeinschaftsgesetzgeber und Anpassung des Blanketts durch den nationalen Gesetzgeber begangen wird. Tatfremde Umstände wie die Dauer der Strafverfolgung spielten keine Rolle mehr. Zu den Zeitgesetzen im Sinne von § 2 Abs. 4 StGB zählen neben kalendermäßig befristeten auch solche, bei denen sich aus Inhalt und Zielsetzung ergibt, dass sie nur für bestimmte Zeitverhältnisse gelten und mit deren Wegfall oder Änderung außer Kraft treten sollen, ohne die Strafbarkeit rückwirkend zu beseitigen.37 In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass gerade Blankettgesetze häufig derartige Zeitgesetze im weiteren Sinne sind, im Einzelfall komme es jedoch auf den konkreten Inhalt und Zweck der Ausfüllungsnorm an.38 Dieses Verständnis ist gewiss richtig, machen doch erst Blankett und Ausfüllungsnorm zusammengenommen das vollständige Strafgesetz aus. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies nicht bei europäischen Blanketten generell zu einer Qualifikation als Zeitgesetz führen muss und zwar auch in den Fällen, in denen die Ausfüllungsnorm selbst vom europäischen Verordnungsgeber gerade nicht als Norm von zeitlich begrenzter Geltung gedacht war. Dieses Resultat mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, lässt sich aber dogmatisch wie folgt begründen: Entscheidet sich der nationale Gesetzgeber, ein in einer Gemeinschaftsverordnung enthaltenes Verbot mit einer Strafbewehrung zu versehen, weil ihm nur so effektiv zur Durchsetzung verholfen werden kann, hat er dies mit geeigneten Maßnahmen zu tun. Diese Verpflichtung ergibt sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht, nämlich aus Art. 10 EGV.39 Hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nun erkennbar ein dauerhaftes Verbot festsetzen wollen, besteht die geeignete Umsetzung in der Gewährleistung einer möglichst lückenlosen Strafbarkeit. Ist eine solche Strafbarkeit aber gerade wegen der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts nicht ohne jede zeitliche Unterbrechung zu gewährleisten, muss derjenige Weg gewählt werden, der Strafbarkeitslücken so weit wie möglich einschränkt. Die geringsten Strafbarkeitslücken aber entstehen, wenn auch bei einer Änderung der Bezugsnorm die Strafbarkeit nach dem zur Tatzeit geltenden Recht möglich bleibt und Art. 2 Abs. 3 StGB nicht deren Wegfall bewirken kann. Indem der nationale Gesetzgeber ein Blankettgesetz schafft, dessen Bezugsnorm eine EG-Verordnung ist, dürfte auf diese Weise automatisch ein Zeitgesetz entstehen, weil nur so eine möglichst weitreichende Kontinuität der Strafbewehrung gesichert ist. III. Die Auslegung europäischer Blankette und das Auslegungsmonopol des EuGH 1. Auch wenn an die Zulässigkeit eines europäischen Blanketts keine anderen Anforderungen zu stellen sind als an jede andere dynamische Außenverweisung, 37 38 39

Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 31), § 2 Rn. 37 m. w. N. Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 31), § 2 Rn. 37, Fischer (o. Fn. 15), § 2 Rn. 13b. Vgl. auch Enderle (o. Fn. 9), S. 54.

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bleibt eine solche Norm doch etwas Besonderes. Dies gilt vor allem für ihre Auslegung. Denn indem sie auf eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsvorschrift verweist, wird das durch die Verweisung entstehende vollständige Strafgesetz doppelgesichtig oder „janusköpfig“40: das Blankett ist eine nationale Norm, die Ausfüllungsnorm dagegen eine gemeinschaftsrechtliche. Beide Teile entstammen autonomen, nebeneinander geltenden Rechtsordnungen und folgen damit auch unterschiedlichen Auslegungsregeln; für das Blankett gelten die nationalen Auslegungsregeln, für den normausfüllenden Teil dagegen die gemeinschaftsrechtlichen. Der Strafrichter muss den gemeinschaftsrechtlichen Teil der Vorschrift, die in Bezug genommene Verordnung unter Berücksichtigung der verschiedenen Sprachfassungen vor dem Hintergrund des gesamten Gemeinschaftsrechts so auslegen, dass dem effet utile, der bestmöglichen Förderung der Gemeinschaftsziele, so weit wie möglich Rechnung getragen wird.41 Nicht immer wird das Ergebnis dieser Auslegung eindeutig sein, so dass sich dann die Frage nach einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften stellt, dem gemäß Art. 234 EGV das Auslegungsmonopol für Gemeinschaftsrechtsakte zukommt. a) Wie weit diese Schwierigkeiten schon bei der Bestimmung des Tatbestandes reichen können, sei an einem Beispiel aus dem Bereich der Proliferation gezeigt. § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG bestimmt, dass unter anderem derjenige bestraft wird, der einem im Bundesanzeiger veröffentlichten, unmittelbar geltenden Dienstleistungsverbot eines Rechtsaktes der Europäischen Gemeinschaften zuwiderhandelt, der der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient.42 Zu diesen das Blankett konkretisierenden Rechtsakten zählt das in der Verordnung (EG) Nr. 423 / 2007 enthaltene Iran-Embargo,43 das unter anderem die Erbringung von Maklerdienstleistungen im Zusammenhang mit bestimmten gelisteten Gütern für Empfänger im Iran untersagt.44 Für die Strafbarkeit Satzger (o. Fn. 8), S. 233, Hecker (o. Fn. 9), S. 266, Ambos (o. Fn. 11), S. 390. Zu den gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsätzen vgl. nur EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rs. C-283 / 81, Cilfit, Slg. 1982, 3415, sowie Cremer in: Callies / Ruffert (o. Fn. 10), Art. 53 EUV Rn. 4; Satzger, JuS 2004, 947 f., jeweils m. w. N.; Dannecker, Festgabe Bundesgerichtshof, 2000, Bd. IV, S. 364 f. 42 § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG erfasst neben den Dienstleistungs- auch Ausfuhr-, Verkaufs-, Liefer-, Bereitstellungs-, Weitergabe-, Investitions-, Unterstützungs- oder Umgehungsverbote. Zum Erfordernis der Veröffentlichung im Bundesanzeiger gerade im Hinblick auf die Strafbewehrung in § 34 Abs. 4 AWG und die Bindung der Reichweite der Verbote an Sanktionsmaßnahmen der Vereinten Nationen BGHSt 41, 127. 43 Verordnung (EG) Nr. 423 / 2007 des Rates vom 19. April 2007 über restriktive Maßnahmen gegen den Iran (ABl. L 103 vom 20. April 2007, S. 1), bekannt gemacht im Bundesanzeiger Nr. 45 vom 8. Mai 2007, S. 4721. Die Verordnung setzt den Gemeinsamen Standpunkt 2007 / 140 / GASP des Rates vom 27. Februar 2007 über restriktive Maßnahmen gegen den Iran (ABl. L 61 vom 28. Februar 2007, S. 49) um. 44 Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 423 / 2007. Die Verordnung enthält darüber hinaus Aus- und Einfuhrbeschränkungen, Investitions- und Beschaffungsverbote und 40 41

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ist es damit von Bedeutung, was unter Maklerdienstleistungen im Sinne der EGVerordnung zu verstehen ist. Hierzu enthält die Verordnung in Art. 1 Buchst. f die Definition, dass darunter Tätigkeiten von Personen, Einrichtungen und Partnerschaften fallen, „die als Vermittler beim Kauf, beim Verkauf oder bei der Organisation des Transfers von Gütern und Technologien tätig sind oder die Transaktionen aushandeln oder organisieren, die den Transfer von Gütern oder Technologien beinhalten“. Die deutsche Fassung legt das Verständnis nahe, dass es sich bei dem verbotenen Vermitteln um ein Unternehmensdelikt handelt, bei dem der Täter – einem Makler im Sinne von § 652 BGB vergleichbar – einen Verkäufer und einen Käufer zusammenführt, um ihnen den Abschluss eines Geschäftes zu ermöglichen. Die Anwendung der gebotenen europäischen Auslegungsmethode lässt daran jedoch zweifeln, denn in anderen Sprachfassungen erfasst die Vorschrift an erster Stelle den Zwischenhändler oder Strohmann, der selbst Vertragspartei wird, und behandelt erst in der Alternative den Vermittler im engeren Sinn.45 So heißt es im Englischen, „brokering services“ means activities of persons, entities and partnerships acting as intermediaries by buying, selling or arranging the transfer of goods and technology, or negotiating or arranging transactions that involve the transfer of goods or technology, und im Französischen sind „activités de courtage“, les activités de personnes, d’entités et de partenariats, agissant en tant qu’intermédiaires, qui procèdent à l’achat, à la vente ou au transfert de biens et de technologies, ou qui négocient ou organisent des transactions comportant le transfert de biens ou de technologies.46 Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die deutsche Fassung nicht zu eng ist. Selbst wenn die europäische Auslegung allerdings ergäbe, dass auch der Zwischenhändler von der Verordnung erfasst wird, müsste dies im konkreten Fall für die Auslegung des Straftatbestandes in Art. 34 Abs. 4 AWG aber wohl ohne Bedeutung bleiben. Denn auch wenn die Norm janusköpfig ist und die ordnet das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen von Personen und Organisationen an, die an dem iranischen Atomprogramm beteiligt sind. Zum Ganzen vgl. Morweiser in: Wolffgang / Simonsen (Hrsg.), AWR-Kommentar, 17. Erg.-Lfg. 2008, § 34 Abs. 4, Rn. 60 f., 73 ff. 45 Dass zunächst der Zwischenhändler erfasst werden soll, würde die in der deutschen Fassung ansonsten wenig einleuchtende Doppelung der Definition erklären, denn Vermittler im Sinne eines Maklers ist ja gerade derjenige, der Transaktionen aushandelt oder organisiert, wie es am Ende noch einmal ausdrücklich heißt. 46 Ebenso das Italienische, das „servizi di intermediazione“ definiert als le attività di persone, entità e società che agiscono da intermediari acquistando, vendendo o disponendo il trasferimento di beni e tecnologie o che negoziano o organizzano transazioni che comportano il trasferimento di beni o tecnologie. Nicht ganz so eindeutig sind die spanische und die portugiesische Fassung, die ebenfalls den Begriff intermediario verwenden, ohne dass sich anders als in der englischen, französischen und italienischen Fassung aus dem Text ergibt, dass es dieser selbst ist, der in der ersten Alternative kauft oder verkauft. Auch danach wird der Zwischenhändler allerdings zwanglos mit erfasst. Ähnlich auch die niederländische und dänische Sprachfassung, in denen von einem tussenhandelaar (Zwischenhändler) bzw. mellemmaend (Mittelsmann) die Rede ist.

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Auslegung der Ausfüllungsnorm ausschließlich nach der europäischen Methode vorzunehmen ist, stellt doch der Wortlaut die absolute Grenze der Auslegung einer nationalen Strafnorm dar. Insoweit schlägt die mit Verfassungsrang versehene nationale Auslegungsmethodik auch bei europäischen Blankettstrafgesetzen durch.47 Mit der Mehrsprachigkeit der Ausfüllungsnorm enden die Schwierigkeiten bei der Strafbewehrung von Maklerdienstleistungen jedoch nicht. Auch bei dem eindeutig der Verordnung unterfallenden Vermittler im Sinne eines Maklers stellen sich Auslegungsprobleme, denn der Verordnung lässt sich nicht entnehmen, wann ein solches Vermitteln beginnt. Zweifellos wird der Fall erfasst, dass es dem Vermittler gelungen ist, ein Geschäft zustande zu bringen, also der Fall, dass sich Käufer und Verkäufer verbindlich geeinigt haben und nur noch die Lieferung erfolgen muss.48 Dass die Vermittlungsbemühungen von Erfolg gekrönt sein müssen, sagt die Verordnung selbst indessen nicht, sprachlich wird nur die Tätigkeit als solche verboten. Doch ab wann ist das von der Verordnung erfasste Aushandeln oder Organisieren von Geschäften, die sich auf gelistete Produkte oder Technologien beziehen, gegeben? Ab welchem Zeitpunkt ist ein solches Vermitteln vollendet – bereits mit der ersten Kontaktaufnahme mit einem der beiden potentiellen Geschäftspartner, mit der Kontaktanbahnung zwischen beiden oder erst, wenn der Abschluss eines Geschäftes zwischen diesen unmittelbar bevorsteht? Diese Frage kann im Einzelfall über die Strafbarkeit des Betroffenen entscheiden. Zwar ist auch der Versuch in § 34 Abs. 5 AWG unter Strafe gestellt, die Abgrenzung zwischen Versuch und Vollendung entscheidet jedoch darüber, ob ein Täter etwa durch Aufgabe weiterer Vermittlungsbemühungen strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten ist oder nicht. Dies wiederum kann für die Frage von Bedeutung sein, ob der Betroffene in Untersuchungshaft zu nehmen ist oder nicht. Denn angesichts des meist mit guten Verbindungen in den Iran ausgestatten Täterkreises dürften die sonstigen Haftvoraussetzungen in der Regel gegeben sein. Derartige Auslegungsfragen wird letztlich nur der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg beantworten können. Gemäß Art. 234 EGV ist er allein zur Auslegung von Gemeinschaftsrechtsakten berufen und sind jedenfalls letztinstanzliche Gerichte zur Vorlage an ihn verpflichtet, wenn die Auslegung entscheidungserheblich ist.49 Hängt von einer solchen Auslegungsfrage allerdings die Entscheidung ab, den Betroffenen in Untersuchungshaft zu nehmen, stellt sich die Frage, ob nicht schon der Ermittlungsrichter gehalten sein könnte, eine Klärung herbeizuführen.50 Denn angesichts der überragenden Bedeutung der nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgarantien und der Bestimmungen der Ebenso Satzger (o. Fn. 8), S. 588. In der Praxis wird allerdings gerade auf die Durchführung des Geschäftes die größte kriminelle Energie verwandt und steht und fällt der Deal häufig damit, dass es gelingt, die für die Verbringung der Güter notwendigen (gefälschten) Papiere zu beschaffen. 49 Art. 234 Abs. 3 EGV. Andere als letztinstanzliche Gerichte können vorlegen, müssen aber nicht. 47 48

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EMRK erscheint es bedenklich, in einem Fall Untersuchungshaft anzuordnen, in dem die Tatbestandsmäßigkeit des vorgeworfenen Verhaltens derart unklar ist, wie es bei der Abgrenzung zwischen strafloser Vortat und Versuch oder zwischen rücktrittsfähigem Versuch und Vollendung bei der Frage des Vermittelns der Fall sein kann. b) Nicht minder problematisch ist die Anwendung des § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG im Zusammenhang mit den Terrorlistungen der Europäischen Gemeinschaft. Anders als bei der Bekämpfung der Proliferation ist es hier allerdings nicht die Tathandlung, deren Handhabung Schwierigkeiten bereitet, sondern der personelle Anwendungsbereich, jedenfalls soweit es die EU-eigene Listung betrifft.51 In der Europäischen Gemeinschaft existieren derzeit zwei Terrorlisten, die sich in ihrem Zustandkommen grundlegend unterscheiden: Zum einen ist durch die Verordnung (EG) Nr. 881 / 2002 die Listung des Sanktionsausschusses des UN-Sicherheitsrates in das Gemeinschaftsrecht überführt worden. Diese Verordnung betrifft Al-Qaida und die Taliban52 und wird regelmäßig im Verordnungswege an die vom Sanktionsausschuss vorgenommenen Änderungen der Liste angepasst.53 Daneben hat die Europäische Union in Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1373(2001) 50 Auch wenn der Ermittlungsrichter keine abschließende Sachentscheidung trifft, ist er Gericht im Sinne von Art. 234 EGV und zur Vorlage berechtigt, vgl. Urteile vom 23. Februar 1995 in den Rechtssachen C-54 / 94 und C-74 / 94, Cacchiarelli und Stanghellini, Slg. 1995, I-391, und vom 12. Dezember 1996 in den Rechtssachen C-74 / 95 und C-129 / 95, X, Slg. 1996, I- 6609. 51 Die das Blankett ausfüllenden EG-Verordnungen frieren Gelder und Bankkonten gelisteter Personen ein und untersagen bestimmte Finanztransaktionen zu ihren Gunsten; strafbar macht sich, wer den gelisteten Personen und Organisationen finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellt, vgl. hierzu Dahme, AW-Prax 2007, 451. § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG hat insbesondere neben § 129b StGB, also der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, nicht unerhebliche praktische Bedeutung, besteht doch die mitgliedschaftliche Betätigung in einer solchen Vereinigung im Inland häufig im Sammeln und Weiterleiten von Geldern. Zu den Konsequenzen der Verordnungen für in Deutschland tätige Unternehmen Schlarmann / Spiegel, NJW 2007, 870 ff., Dahme, AW-Prax 2007, 498 ff. 52 VO (EG) Nr. 881 / 2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden und dem Al-Qaida-Netzwerk in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 467 / 2001des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan (ABl. L 139 vom 29. Mai 2002, S. 9). Die Verordnung setzt den Gemeinsamen Standpunkt 2002 / 402 / GASP des Rates vom 27. Mai 2002 betreffend restriktive Maßnahmen gegen Osama bin Laden, Mitglieder der Al-Qaida-Organisation und die Taliban sowie andere mit ihnen verbündete Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen und zur Aufhebung der Gemeinsamen Standpunkte 96 / 746 / GASP, 1999 / 727 / GASP, 2001 / 154 / GASP und 2001 / 771 / GASP (ABl. L 139 vom 29. Mai 2002, S. 4) um, der seinerseits auf die Sicherheitsratsresolutionen UNSCR 1267(1999), 1333(2000), UNSCR 1267(1999) und UNSCR 1390(2002) zurückgeht. Sie ist im Bundesanzeiger Nr. 69b vom 7. April 2006, S. 94, bekanntgemacht. 53 Zuletzt Verordnung (EG) Nr. 580 / 2008 der Kommission vom 18. Juni 2008 zur sechsundneunzigsten Änderung der Verordnung (EG) Nr. 881 / 2002 des Rates über die Anwen-

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eine eigene Liste mit weiteren terroristischen Vereinigungen erstellt,54 die mit der Verordnung (EG) Nr. 2580 / 2001 in Gemeinschaftsrecht umgesetzt wurde.55 Diese EU-Liste enthält neben Einzelpersonen und islamistischen Gruppierungen wie der Al-Aqsa-Märtyrerbrigade oder der Gama’a al-Islamiyya auch Organisationen wie die Hamas, die PFLP, Aum Shinrikyo, die PKK, die DHKP-C, die FARC oder den Sendero Luminoso. Die eigentliche Listung erfolgt gemäß Art. 2 Abs. 3 der VO durch Beschlüsse des Rates, die regelmäßig halbjährlich aktualisiert werden. Voraussetzung für die Aufnahme in die Liste ist, dass eine zuständige nationale Behörde gegenüber dem Betroffenen einen Beschluss zur Aufnahme von Ermittlungen oder zur Strafverfolgung wegen einer terroristischen Handlung getroffenen hat; ein neuer Ratsbeschluss hebt den vorigen jeweils auf.56 Insbesondere diese Liste ist es, die im Rahmen des Strafblanketts von § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG Probleme bereitet. Gegen beide Terrorlistungsverordnungen, sowohl die auf der UN-Liste als auch die auf der EU-Liste beruhende, sind vor dem Europäischen Gericht erster Instanz zahlreiche Klagen von betroffenen Personen oder Vereinigungen eingereicht und einige auch entschieden worden, wobei sich die Argumentation des Gerichts je nach Verordnung grundlegend unterscheidet. Die Klagen gegen die UN-Listungsverordnungen sind bislang alle abgewiesen worden. Das Gericht entschied, dass ausgehend vom Vorrang der Verpflichtungen nach der UN-Charta Entscheidungen des Sicherheitsrats grundsätzlich nicht seiner Kontrolle unterlägen. Als Prüfungsmaßstab für deren Rechtmäßigkeit stünden deshalb nur die zum ius cogens gehörenden übergeordneten Regeln des allgemeinen Völkerrechts zur Verfügung, gegen die nicht verstoßen worden sei.57 Der Rechtsschutz für die Betroffenen sei durch dung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen (ABl. L 161 vom 20. Juni 2008, S. 25), bekanntgemacht im Bundesanzeiger Nr. 99 vom 4. Juli 2008, S. 2401. 54 Gemeinsamer Standpunkt 2001 / 931 / GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. L 344 vom 28. Dezember 2001, S. 93). 55 Verordnung (EG) Nr. 2580 / 2001 des Rates vom 27. Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. L 344 vom 28. Dezember 2001, S. 70), bekanntgemacht im Bundesanzeiger Nr. 22 vom 1. Februar 2002, S. 1817. 56 Vgl. zuletzt Beschluss 2007 / 868 / EG des Rates vom 20. Dezember 2007 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580 / 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung des Beschlusses 2007 / 445 / EG, ABl. L 340 vom 22. Dezember 2007, S. 100, berichtigt in ABl. L 4 vom 8. Januar 2008, S. 3, bekanntgemacht im Bundesanzeiger Nr. 69b vom 7. April 2006, S. 94. 57 Urteile vom 21. September 2005 in den Rechtssachen T-306 / 01 und T-315 / 01, Yusuf und Al Barakaat Foundation / Rat und Kadi / Rat, Slg. 2005, II-3533 und II-3649; Urteile vom 12. Juli 2006 in den Rechtssachen T-253 / 02 und T-49 / 04, Ayadi / Rat und Hassan / Rat, Slg. 2006, II-2139 und II-52.

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die nationalen Behörden zu gewährleisten, die im Falle einer unberechtigten Listung verpflichtet seien, sich beim Sanktionsausschuss für die Streichung von der Liste einzusetzen. Gegen diese Entscheidungen haben die Betroffenen Rechtsmittel eingelegt und es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof die Einschätzung des Gerichts erster Instanz teilen wird.58 Für die Frage der Strafbarkeit nach § 34 AWG bei Verstößen gegen die Listungsverordnung Nr. 881 / 2002 bringt die Argumentationslinie des Gerichts erster Instanz noch keine Schwierigkeiten mit sich. Problematisch für die Praxis der Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden sind dagegen die Entscheidungen des Gerichts erster Instanz zu der EU-Listungsverordnung. Hier hat das Gericht den Klagen der Betroffenen stattgegeben und dabei wie folgt argumentiert: Im Unterschied zu den UN-Listungsfällen seien bestimmte grundlegende Rechte und Garantien, darunter die Verteidigungsrechte, die Begründungspflicht und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, im Kontext des Erlasses eines Beschlusses der Gemeinschaft über das Einfrieren von Geldern nach der Verordnung Nr. 2580 / 2001 grundsätzlich in vollem Umfang zu gewährleisten. Den Betroffenen müssten die genauen Informationen, aus denen sich ergebe, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaates ihnen gegenüber einen Beschluss gefasst habe, so früh und so genau wie möglich mitgeteilt werden. Die Begründung von Ausgangs- und Folgebeschlüssen müsse sich in spezifischer und konkreter Weise auf diese Informationen beziehen. Sie müsse darüber hinaus die Gründe nennen, aufgrund derer der Rat in Ausübung seines Ermessens annehme, dass die Betroffenen einer solchen Maßnahme zu unterwerfen seien. Diesen Verfahrensanforderungen genügten die angefochtenen Beschlüsse nicht. Die vorgelegten Akten erlaubten dem Gericht darüber hinaus nicht, seine gerichtliche Kontrolle in materieller Hinsicht auszuüben, weil es nicht einmal in die Lage versetzt worden sei, mit Sicherheit den nationalen Beschluss zu benennen, auf den sich der angefochtene Beschluss stütze. Die Nichtigkeit der angefochtenen Beschlüsse beruhe demnach darauf, dass sie nicht begründet seien, dass sie im Rahmen eines Verfahrens erlassen worden seien, in dessen Verlauf die Verteidigungsrechte nicht gewahrt worden seien und dass das Gericht nicht in der Lage sei, die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse zu kontrollieren.59

58 Nach Auffassung von Generalanwalt Poiares Maduro ist der zurückgenommene Prüfungsmaßstab mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar, weil das Völkerrecht Wirkung nur unter den Bedingungen entfalten könne, die die Verfassungsgrundsätze der Gemeinschaft vorschrieben. Hierzu gehörten an erster Stelle die Achtung der Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Gemessen an den gemeinschaftsrechtlich anerkannten Grundrechten aber verletze die angefochtene Verordnung den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör, seinen Anspruch auf gerichtliche Kontrolle und sein Eigentumsrecht, Schlussanträge vom 16. Januar 2008 in der Rechtssache C-402 / 05, Kadi / Rat, noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht. Für die völkerrechtliche Bindung der Europäischen Union und den Vorrang diplomatischen Schutzes dagegen Tomuschat, EuGRZ 2007, 1 ff., vom Ansatz her ähnlich, im Ergebnis aber differenzierend Frowein, Festschrift Tomuschat, 2006, S. 785.

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Diese Entscheidungen sind rechtskräftig und führen trotz des auf den ersten Blick vollen Erfolgs für die Kläger zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Denn nachdem der Rat zwischenzeitlich das Verfahren zum Zustandekommen der Listungsbeschlüsse geändert hat und die Betroffenen nunmehr angehört und die Beschlüsse ihnen gegenüber begründet werden,60 sind sämtliche Kläger weiterhin gelistet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob damit die formell fehlerhafte Listung der Vergangenheit nicht gleichsam geheilt und die bisher ergangenen Urteile überholt sind, jedenfalls aber ihre Begründung nicht auf weitere Betroffene übertragen werden kann. Voraussetzung hierfür wäre, dass die Listung trotz der Folge einander aufhebender Ratsbeschlüsse als einheitlicher Vorgang verstanden werden muss und nicht etwa als eine Abfolge von in ihrer Dauer beschränkten einzelnen Rechtsakten. Hierfür spricht schon der Wortlaut der Verordnung (EG) Nr. 2580 / 2001, wonach der Rat die Liste im Einklang mit Artikel 1 Absätze 4, 5 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001 / 931 / GASP „erstellt, überprüft und ändert“61 und nicht etwa in regelmäßigen Abständen jeweils eine neue, wenn auch teilidentische Liste erstellt. Auch die Regelungen des Gemeinsamen Standpunkts 2001 / 931 / GASP verpflichten lediglich zur regelmäßigen Überprüfung der Betroffenen „um sicherzustellen, dass ihr Verbleib auf der Liste nach wie vor gerechtfertigt ist“62. All dies legt nahe, dass die Listung einen kontinuierliche Geltung beanspruchenden Rechtsakt darstellt, zumal dem Gemeinschaftsrecht ein derartiges Verständnis formal aufeinanderfolgender Regelungswerke nicht fremd ist.63 Diese Sichtweise wird auch dadurch bestärkt, dass das Gericht erster Instanz während der nicht unerheblichen Dauer der Verfahren den Betroffenen mit jedem neu erlassenen Beschluss die Umstellung ihres Klagantrages auf den jeweils aktuellen gestattet hat. Den früheren Beschlüssen wurde mit ihrer Aufhebung offenbar keine Rechtswirkung mehr zuerkannt, auch nicht für die Vergangenheit; für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit der Listung kam es auf sie nicht mehr an. Vor diesem Hintergrund aber wäre zu prüfen, ob durch das geänderte Listungsprozedere die ursprünglichen formellen Defizite nicht hinfällig geworden sind, jedenfalls soweit 59 Urteil vom 12. Dezember 2006 in der Rechtssache T-228 / 02, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran / Rat, Slg. 2006, II-4665, Urteile vom 11. Juli 2007 in den Rechtssachen T-47 / 03 und T-327 / 03, Sison / Rat und Stichting Al-Aqsa / Rat, noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht. 60 Vgl. die Mitteilung des Rates im ABl. C 90 vom 25. April 2007, S. 1. 61 Art. 2 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580 / 2001. 62 Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001 / 931 / GASP. 63 Vgl. neben dem oben Fn. 30 genannten Beispiel etwa aus dem Steuerrecht die Richtlinie 2006 / 112 / EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347 vom 11. Dezember 2006, S. 1), die aus Gründen der Klarheit insbesondere die Regelungen der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie (77 / 338 / EWG) neugefasst und diese zugleich aufgehoben hat, ohne dass dies zu inhaltlichen Änderungen des geltenden Rechts führen sollte, vgl. die Erwägungsgründe 1 – 3. Die in der Richtlinie enthaltene Regelung, dass Verweisungen auf die alte als Verweisungen auf die neue Regelung zu gelten haben, ist im Falle der Listungsbeschlüsse nicht erforderlich, weil sich dies aus der zugrunde liegenden Verordnung ergibt.

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es diejenigen Personen und Organisationen betrifft, die ihre Listung nicht gerichtlich angegriffen haben. Dem Gemeinschaftsrecht ist die Figur der Heilung bei lediglich formellen Verstößen jedenfalls nicht fremd.64 Letztlich wird nur der Europäische Gerichtshof diese Fragen beantworten können, dem sie deshalb zur Vorabentscheidung vorzulegen sind. Denn dass die aus der bisher ergangenen Rechtsprechung zu ziehenden Konsequenzen ein acte clair im Sinne der Rechtsprechung des EuGH seien,65 ist nicht auszumachen. c) Die Beispiele zeigen, dass bei Anwendung eines europäischen Blankettstraftatbestandes wie § 34 Abs. 4 Nr. 2 AWG die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Norm erforderlich werden kann. Insbesondere letztinstanzliche Gerichte trifft gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV die Verpflichtung zur Vorlage, deren Einhaltung auch verfassungsrechtlich geboten ist, soll dem Beschuldigten nicht der gesetzliche Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entzogen werden.66 Die Furcht vor einer allzu langen Unterbrechung des Verfahrens sollte nicht von einer Vorlage abhalten, denn gerade in Strafsachen sieht die Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Möglichkeit vor, das Verfahren abweichend von dem ansonsten üblichen Prozedere67 erheblich zu beschleunigen. Das seit dem 1. März 2008 bestehende Eilvorlageverfahren hilft zwar in den meisten Fällen europäischer Blankettstrafgesetze nicht weiter, denn es findet nur auf Rechtsfragen Anwendung, die sich im Rahmen von Rechtsakten aus dem Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Titel VI des EU-Vertrages) oder aus dem vergemeinschafteten 64 Vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Léger vom 10. Juli 2003 in der Rechtssache C-353 / 01P, Mattila / Rat, Slg. 2004, I-1073, Nr. 54 m. w. N. Dem steht auch nicht entgegen, dass das Gericht erster Instanz in den Urteilen vom 3. April 2008 in den Rechtsachen T-229 / 02 und T-253 / 04, Ocalan / Rat und Kongra-Gel / Rat, den Beschluss 2002 / 460 / EG vom 17. Juni 2002 und den Beschluss 2004 / 306 / EG vom 2. April 2004 für nichtig erklärt hat, soweit die erstmalige Listung der PKK bzw. des Kongra-Gel betroffen ist. Die Klagen waren bereits vor der Änderung des Listungsprozederes anhängig und das Gericht argumentiert hier ausschließlich prozessual; Erwägungen in der Sache fehlen. In einem solchen Fall scheide die rückwirkende Heilung der ursprünglich nicht begründeten Listung aus, weil der Kläger sich mit der Begründung der Listung nur noch in der Replik auseinandersetzen könne. Dies würde seine Verteidigungsrechte beschneiden und gegen den Grundsatz der Waffengleichheit vor Gericht verstoßen, Rn. 68 des Urteils T-229 / 02 und Rn. 101 des Urteils T-253 / 04, noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht. Für gelistete Personen und Organisationen, die vor der Änderung des Listungsverfahrens nicht geklagt haben, folgt daraus nichts, im Gegenteil: Das Gericht bräuchte nicht mit prozessualen Erwägungen argumentieren, wenn eine Heilung von vornherein ausschiede. 65 Vgl. zu den Anforderungen an die Annahme eines acte clair Urteil des Gerichtshofs vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache C-283 / 81, Cilfit u. a., Slg. 1982, 3415, zuletzt bestätigt durch Urteil vom 15. September 2005 in der Rechtssache C-495 / 03, Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151. 66 Hierzu Harms / Heine, Festschrift Hirsch, 2008, S. 94 ff. 67 Im Jahr 2007 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsersuchens bei 19,3 Monaten, Jahresbericht des Gerichtshofs für das Jahr 2007, S. 14, veröffentlicht unter http: //curia.europa.eu/de/instit/presentationfr/index.htms.

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Bereich Visa, Asyl, Einwanderung und anderer Politiken betreffend den freien Personenverkehr (Titel IV des EG-Vertrages) stellen.68 Die auf Art. 60, 301 und 308 EG-Vertrag gestützten Listungsverordnungen zählen nicht hierzu, ebenso wenig wie zahlreiche andere Rechtsakte aus dem Lebensmittel-, Naturschutz- oder Steuerrecht, die über Blankettvorschriften Eingang in das nationale Strafrecht gefunden haben. Die Verfahrensordnung sieht aber auf Antrag des nationalen Gerichts auch die Möglichkeit zur Entscheidung im beschleunigten Verfahren vor, wenn sich aus den angeführten Umständen die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage ergibt.69 In laufenden Hauptverhandlungen, bei denen sich die Angeklagten in Untersuchungshaft befinden, oder in Fällen, in denen über den Erlass eines Haftbefehls zu entscheiden ist, sind diese Voraussetzungen sicher gegeben. Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Dringlichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens in Haftsachen zudem unwiderleglich vermutet und Art. 234 EGV um einen entsprechenden Passus ergänzt.70 Allerdings bedingt die Vorlage in Strafverfahren, erfolgt sie während der Tatsacheninstanz, ähnlich dem Verfahren bei der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 GG letztlich die Wiederholung der Hauptverhandlung. Denn zur Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit muss feststehen, dass der Angeklagte nicht etwa schon aus tatsächlichen Gründen freizusprechen ist, es muss also die Beweisaufnahme im Wesentlichen abgeschlossen sein. Wird erst danach die Hauptverhandlung zur Einholung der Auslegungsentscheidung des EuGH ausgesetzt, muss mit ihr nach Eingang der Antwort von neuem begonnen werden. Solange der Gesetzgeber für diesen Fall nicht eine außerordentliche Unterbrechungsmöglichkeit schafft, spricht dies dafür, dass die Vorlage zum EuGH erst durch das Revisionsgericht erfolgt, zumal die Tatsacheninstanzen zur Vorlage nicht verpflichtet, sondern lediglich berechtigt sind.71

68 Vgl. die Änderungen der Verfahrensordnung, ABl. L 24 vom 29. Januar 2008, S. 39. Hierzu Kokott / Dervisopoulos / Henze, EuGRZ 2008, 10 ff. 69 Art. 104a der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, in der aktuellen Fassung veröffentlicht unter http: / / curia.europa.eu / de / instit / txtdocfr / index.htms. In einem Vorabentscheidungsersuchen des OLG Stuttgart betreffend eine Haftsache ist dieses Verfahren zur Anwendung gekommen, vgl. den Beschluss des Präsidenten des EuGH vom 22. Februar 2008 in der Rechtssache C-66 / 08, veröffentlicht auf der Homepage des Gerichtshofs unter http: / / curia. europa.eu / jurisp / cgi-bin / form.pl?lang=de. 70 „Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit.“, so Art. 2 Ziff. 218 des Lissabonner Vertrages zur Änderung von Art. 234 des in Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union umbenannten EG-Vertrages, ABl. C 306 vom 17. Dezember 2007, S. 110. 71 Anders dürfte der Fall dagegen liegen, wenn der Verstoß gegen das Blankettstrafgesetz den einzigen Tatvorwurf darstellt. Dann müsste wohl schon das Tatgericht – und zwar im Zwischenverfahren – die Vorlagefrage stellen. Denn erfüllt das Verhalten selbst im Fall der Erweislichkeit des Anklagevorwurfs nicht den Tatbestand, müsste das Gericht die Eröffnung ablehnen, so dass an der Erheblichkeit der Vorlagefrage in diesem Stadium keine Bedenken bestehen. Für eine Reduzierung des Vorlageermessens auf Null Jung, ZStW 116 (2004), 505.

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IV. Fazit Blankettstrafgesetze, deren Ausfüllungsnorm dem europäischen Gemeinschaftsrecht entstammt, zeigen besonders deutlich die Schwierigkeiten, die das Zusammenspiel der verschiedenen Rechtsordnungen mit sich bringen kann. Dies beginnt schon in rein nationaler Hinsicht, weil europäische Blankettstrafgesetze, insbesondere was die Lex-Mitior-Problematik betrifft, nicht ohne weiteres mit nationalen Blankettstrafgesetzen gleichgesetzt werden können. Um dem Willen des Gesetzgebers entsprechend europäische Verbote wirksam umzusetzen, sind europäische Blankettstrafgesetze vielmehr auch dann als Zeitgesetze zu begreifen, wenn die Ausfüllungsnorm aus Sicht des europäischen Normgebers kontinuierliche Geltung beansprucht. Besondere Schwierigkeiten aber ergeben sich aus den besonderen Anforderungen an die Auslegung derartiger Normen. Im Bereich des Strafrechts sind die andernorts vertrauten Mechanismen, die das Hineinwirken des supranationalen Gemeinschaftsrechts in das nationale Recht regeln, noch nicht in gleicher Weise eingespielt. Hinzu kommt, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben unseres Grundgesetzes im Strafrecht deutlich ausgeprägter sind, als in anderen Rechtsgebieten, und dass dies über das nationale Blankett letztlich auf das in Bezug genommene Gemeinschaftsrecht zurückwirkt. Im Ergebnis führt dies zu Überlagerungen der gemeinschaftsrechtlichen Normen mit nationalen Unverrückbarkeiten, zumal wenn die Ausfüllungsnormen wie die zu § 34 AWG herausgestellten Beispiele zwar die Regelungsabsicht erkennen lassen, im Einzelfall aber wenig präzise und mehrdeutig gefasst sind. Gewiss wird auch hier mit zunehmender Erfahrung in der Anwendung derartiger Normen die Sicherheit im Umgang mit ihnen wachsen, insbesondere unter dem Einfluss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

Zum Begriff des Glücksspiels aus europäischer Perspektive Zugleich ein Beitrag zur praktischen Umsetzung supranationaler Vorgaben Von Günter Heine

I. Einleitung Globalisierter Wirtschaftsliberalismus und eine Freizeitgesellschaft, die stets neue Anreize sucht, um mittels Abtauchen aus der Alltagsrealität Entspannung zu suchen und die zudem von sozialen Erwartungen auf beständig neuen Vermögenszufluss getragen wird, stellen das Recht der Glücksspiele vor neue Herausforderungen. Motor der Rechtsentwicklung ist dabei das Europäische Recht, speziell der EuGH, der entsprechende nationale Verbote von Glücksspielen an den Grundfreiheiten des EG-Vertrages misst. In einem ersten Schritt vergewissern wir uns der europäischen Vorgaben des EuGH (unten II.). Die Auswirkungen auf das nationale Recht sind vielfältiger Natur. Im deutschen Strafrecht empfiehlt es sich, bereits bei dem Begriff des Glücksspiels anzusetzen. Dies wird anhand eines Beispielfalles durchexerziert (unten III.). Methodisch halten wir uns an die bewährten Vorgaben des Jubilars, der Recht und Praxis bekanntlich seit jeher untrennbar verbunden sieht und immer die Funktionsbedingungen einer „normativ durchformten Wirklichkeit und deren Bezug zu rechtlichen Schwesterdisziplinen“ im Blick hat.1

II. Europäische Vorgaben Tenor der Urteile des EuGH in Sachen Schindler, Läära, Zenatti, Anomar, Lindman, Gambelli und Placanica2 ist, dass mitgliedschaftliche Monopole auf GlücksS. z. B. Amelung, Die Ehre als Kommunikationsvoraussetzung, 2002, S. 15. S. zuerst EuGH, Urteil v. 24. 3. 1994 („Schindler“), EuZW 1994, 2014, sodann EuGH, Urteil v. 21. 9. 1999 („Läära“), EuZW 2000, 149; Urteil v. 21. 10. 1999 („Zenatti“), EuZW 2000, 152; Urteil v. 11. 9. 2003 („Anomar“), GewArch 2004, 26; Urteil v. 13. 11. 2003 („Lindman“), Slg. 2003, I-13519; Urteil v. 6. 11. 2003 („Gambelli“), NJW 2004, 139, Urteil v. 6. 3. 2007 („Placanica“), Slg. 2007, I-1891. 1 2

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spiele und deren Strafbewehrung am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts scheitern können, da die zulässigen Beschränkungen von Privaten hohen Anforderungen unterliegen. Ausgangspunkt ist, dass die Veranstaltung, Vermittlung usw. von Glücksspielen, also Tätigkeiten, die es dem Interessenten erlauben, gegen Bezahlung an einem Spiel teilzunehmen, dessen Ausgang vom Zufall abhängt, in den Anwendungsbereich der Dienstleistungs- (Art. 49 EG) bzw. der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG) fällt. Glücksspiele „können nicht als Tätigkeiten angesehen werden, die wegen ihrer Schädlichkeit in allen Mitgliedstaaten verboten sind und im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht in die Nähe von Tätigkeiten gerückt werden können, die sich auf unerlaubte Erzeugnisse (wie z. B. Betäubungsmittel) beziehen“.3 Beschränkungen dieser Grundfreiheiten können sich aber aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses ergeben. Zu diesen Gründen gehören insbesondere der Schutz des Verbrauchers vor Spielsucht, die Betrugsvorbeugung und die Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu überhöhten Ausgaben für die Spiele sowie die Verhütung von Störungen der sozialen Ordnung im Allgemeinen.4 Auf den ersten Blick erhalten die nationalen Gesetzgeber im Prinzip einen breiten Beurteilungsspielraum. Dabei ist indes zu beachten, dass schon im Hinblick auf bestimmte Glücksspiele, so etwa Sportwetten, eine entsprechende Folge- und Begleitkriminalität, insbesondere die Prävention von Wirtschaftskriminalität und Geldwäsche, von verschiedenen EG-Richtlinien, wie etwa Richtlinie 2001 / 79 / EG,5 erfasst wird. Die EG-Kommission leitet daraus ab, dass in solchen Fällen der Mitgliedstaat ein Glücksspielverbot nicht mit dieser Begründung aufrecht erhalten darf.6 Dies überrascht, haben doch Richtlinien anders als EG-Verordnungen keine unmittelbare Wirkung für die Mitgliedstaaten. Doch sind EG-Richtlinien im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprüfung in Rechnung zu stellen. Dieses Prinzip7 weist nun – im Vergleich zum deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – zahlreiche Besonderheiten auf.8 Eine davon ist, dass diese gemeinS. bereits EuGH („Schindler“), EuZW 1994, 2014 Rn. 32, ständige Rspr. S. nur EuGH („Schindler“), EuZW 1994, 2014 Rn. 57 f., Urteil v. 6. 3. 2007 („Placanica“), Slg. 2007, I-1891 Rn. 46. 5 Zu weiteren s. den Überblick bei Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 10 Rn. 64 ff. 6 EG-Kommission, Aufforderungsschreiben vom März 2007 in dem laufenden Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, 2003 / 4350 K (2006), S. 10 Rn. 18; s. auch EuGH, Urteil v. 25. 7. 1991, Rs. C-76 / 96 („Säger“), Slg. 1991, I-04221, Rn. 12 – 15. In der Sache ebenso OVG Bremen, Beschluss vom 15. 5. 2007, 1 B 447 / 06, S. 5. 7 Dazu Hecker (o. Fn. 5), § 8 Rn. 66 ff., § 9 Rn. 44 ff. 8 Vgl. auch Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 324 ff. Aus nationaler Sicht siehe grundlegend Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 138 ff., 511 ff. Vgl. auch weiterführend für die nationale Diskussion Lüderssen, Keine Strafandrohung für gewerbliche Spielvermittler, 2006, S. 27 ff. 3 4

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schaftsrechtliche Prüfung an Art. 2 EG, den Aufgaben der Gemeinschaft, bzw. an Art. 10 EG, taxiert wird.9 Daraus werden gemeinschaftsrechtlich folgende Konsequenzen gezogen: Soweit EG-Richtlinien für die Regelung einer Sachfrage bestehen, fehlt es an der Erforderlichkeit eines Verbots des Glücksspiels. Und die Geeignetheit steht in Rede, wenn der EuGH nur Beschränkungen zulässt, die sich als „kohärente und systematische“ Schutzpolitik verstehen lassen und zudem „wirklich“ diesen Zielen dienen, was plausibel mit hinreichenden Fakten belegt sein muss.10 Insgesamt sind sowohl die Art der Tätigkeit und deren Risikopotential als auch die Art des Glücksspiels zu bewerten. So darf etwa schärferen staatlichen Beschränkungen unterworfen werden, wer selbst tatherrschaftlichen Einfluss auf die Bedingungen des Glücksspiels besitzt, im Vergleich zu demjenigen, der nur einen Vermittlungsbetrieb organisiert und Gelegenheiten zu Spielabschlüssen offeriert.11 Keine Rolle spielt dabei im Hinblick auf die Gleichrangigkeit staatlicher Beschränkung, ob es um Strafen oder andere vergleichbar beeindruckende Sanktionen geht.12 III. The best is yet to come: Notwendige und hinreichende Bedingung des Glücksspiels Diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben haben weitreichende Auswirkungen.13 Eine davon ist die Neubestimmung des Begriffs Glücksspiel, wie am Beispiel von Zertifikaten als pars pro toto für neuartige Einsatzformen von Vermögenswerten in Spiel und Wette zu demonstrieren ist.14 Methodisch wird dem Gebot der gemeinschaftskonformen Auslegung gefolgt.15 9 Vgl. Generalanwalt Colomer, Schlussanträge v. 16. 5. 2006, Rs. C-338 / 04 („Placanica“), Slg. 2007, I-1891 Rn. 128. S. auch bereits die Rechtsprechung des EuGH in Kartellsachen, bei Heine, Schweiz ZStrR 2007, 111 ff. 10 S. EuGH, Urteil v. 6. 3. 2007 („Placanica“), Slg. 2007, I-1891 Rn. 53; Urteil v. 21. 10. 1999 („Zenatti“), EuZW 2000, 152 Rn. 35 f.; Urteil vom 6. 11. 2003 („Gambelli“), NJW 2004, 139 Rn. 62, 67. 11 Vgl. EuGH, Urteil vom 6. 11. 2003 („Gambelli“), NJW 2004, 139 Rn. 73; Urteil v. 6. 3. 2007 („Placanica“), Slg. 2007, I-1891 Rn. 49, 62, 69; BVerfG NJW 2006, 1261 Rn. 103, 118. Vgl. auch Heine, wistra 2003, 441, 446. 12 S. EG-Kommission (o. Fn. 6), S. 11, vgl. auch bereits EG-Kommission, erstes Aufforderungsschreiben vom 10. 4. 2006, 2003 / 4350 K (2006), 1080, dazu VG Freiburg, Beschluss v. 27. 12. 2006, 1 K 2034 / 06, S. 3 f. Anders aber noch BVerwGE 114, 92 ff., und Postel, WRP 2006, 703, 718, zur herrschenden Praxis, welche die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen ignorierte. 13 Dazu Heine, FS Lahti, 2007, S. 151 ff. 14 Dazu rechtsvergleichend Heine, in: Wohlers (Hrsg.), Europa und die strafrechtliche Bekämpfung des Glücksspiels, 2007, S. 1 ff.

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Es geht um die Frage, ob der Handel mit Sportzertifikaten an einer deutschen Wertpapierbörse dem objektiven Tatbestand des § 284 StGB unterfällt. Der Sachverhalt stellt sich beispielsweise so dar: Gegenständlich ist der Handel mit Zertifikaten in Form von nennwertlosen, auf den Inhaber lautenden Schuldverschreibungen. Die Verbriefung der Zertifikate erfolgt in einer „Sammelurkunde“. Der Anspruch des Zertifikatinhabers auf die Lieferung effektiver Stücke ist ausgeschlossen. Die Inhaber der Zertifikate haben das Recht, von der Emittentin am Zahltag die Zahlung des Einlösungsbetrages oder des vorzeitigen Einlösungsbetrages zu verlangen. Die „Endgültigen Bedingungen“ können darüber hinaus vorsehen, dass die Emittentin an den dort näher bezeichneten Terminen Ausschüttungen an die Inhaber der Zertifikate erbringt. Die Höhe des Einlösungsbetrages hängt vom Ausgang des in den Endgültigen Bedingungen näher beschriebenen Sportereignisses ab. Bei als „Meister-Zertifikate“ begebenen Urkunden hängt die Höhe des Einlösungsbetrages davon ab, ob ein bestimmter Teilnehmer in der offiziellen Schlusswertung des Sportereignisses den ersten Platz belegt, also z. B. ob der “ FC Bayern München“ Deutscher Fussballmeister wird. Bei als „Platzierungs-Zertifikaten“ begebenen Urkunden hängt die Höhe des Einlösungsbetrages vom Abschneiden eines bestimmten Teilnehmers in der offiziellen Schlusswertung des Sportereignisses ab, also ob etwa „Schalke 04“ Platz 7 in der Fussballbundesliga erreicht. Bis zum Endzeitpunkt der Schuldverschreibung – gewöhnlich dem letzten Spieltag der Saison – verändern sich die Preise des Wertpapiers ständig, weil sich die für die Auszahlung maßgeblichen Tabellenplatzierungen der Vereine an den noch zu absolvierenden Spieltagen verändern. Zum amtlichen Handel sollen zwei unterschiedliche Typen von Sportzertifikaten einbezogen werden. Bei den „Meister-Zertifikaten“ beträgt die Auszahlung 100 A je Zertifikat am Ende der Laufzeit, sofern eine betreffende Mannschaft Meister der laufenden Bundesliga-Saison wird. In allen anderen Fällen beträgt die Auszahlung 0,00 A. Bei den „Platzierungs-Zertifikaten“ beträgt die maximal mögliche Auszahlung 100 A je Zertifikat, falls der in dem Zertifikat verbriefte Verein am Ende der Laufzeit „Meister“ geworden ist. Im Unterschied zum Meister-Zertifikat ergibt sich nicht automatisch eine Wertlosigkeit für alle anderen Platzierungen, sondern auch bei diesen können verbriefte Gewinne erzielt werden (2. Platz 95 A; 3. Platz 90 A, 4. Platz 85; usw. – die Abstiegsränge 16 – 18 gehen leer aus). Die Höhe der Rückzahlung hängt danach vom Rang eines Vereins am Ende der Saison ab.

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Zur gemeinschaftskonformen Auslegung s. nur Hecker (o. Fn. 5), § 10 Rn. 1 ff.

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1. Abhängigkeit vom Zufall als notwendige Bedingung Als Glücksspiel wird ein Spiel angesehen, bei dem die Entscheidung über Gewinn und Verlust nicht wesentlich von den Fähigkeiten und Kenntnissen und vom Grade der Aufmerksamkeit der Spieler bestimmt wird, sondern allein oder hauptsächlich vom Zufall.16 Solange es dabei um sozial gewachsene Glücksspiele ging, wie etwa Würfelspiele, konnte es mit dieser „unberechenbaren, der entscheidenden Mitwirkung der Beteiligten in ihrem Durchschnitt entzogenen Ursächlichkeit“ sein Bewenden haben.17 Im Laufe der Entwicklung suchte die Rechtsprechung naheliegenderweise Hilfe bei der Mathematik und Statistik.18 Schon früh zeigte sich indes, wenig beachtet, dass es nicht um eine Entscheidung geht, die strikt an naturwissenschaftliche Ergebnisse gebunden ist, sondern um eine normative Wertung. 2. Normative Betrachtung des Zufalls BGHSt 29, 152 zeigt, dass das Kriterium des Zufalls einer Normativierung offen ist. Bei Warenterminoptionen lehnt der BGH ein Glücksspiel deshalb ab, weil „die Mitspieler innerhalb der sogenannten Rahmenlaufzeit ihren Gewinnanspruch dadurch maßgeblich selbst beeinflussen konnten, dass sie aufgrund eigener Beurteilung der Preisentwicklung auf den Warenmärkten und der davon abhängigen Börsenkurse bestimmten, wann sie von der Option Gebrauch machten.“ Dies erstaunt bereits auf den ersten Blick. So werden Fussballwetten (gerade umgekehrt) als vom Zufall abhängig angesehen,19 obwohl wir in Deutschland bekanntlich über ein Millionenheer von Bundestrainern verfügen. Entsprechend konnte auch ein Amtsrichter, dem jene Entscheidung des BGH nicht bekannt war, wie folgt formulieren: Es käme doch „niemand auf die Idee, solche hochspekulativen Geschäfte . . . rechtlich als strafrechtlich inkriminiertes Glücksspiel anzusehen“.20 Vertiefte Forschung hat klar gemacht, dass diese BGH-Entscheidung „derart neben der Sache liegt, dass selbst kapitalmarktnahes Schrifttum diese Judikatur nicht in Rechnung stellt“.21 In der Tat hängt die Entwicklung des zugrunde liegenden Basiswerts von Umständen ab, die der Einflussnahme des Optionsberechtigten (entgegen dem BGH) 16 H. M.: S. statt aller Fischer, StGB, 55. Aufl. § 284 Rn. 2; rechtsvergleichend Heine (o. Fn. 14), S. 4 m. w. N. 17 Grundsatzentscheid RGSt 62, 165. 18 Grenze: Nichttrefferquote von 50 % (BVerwG NStZ 2002, 864). 19 S. nur BGH, NStZ 2003, S. 372, Kretschmer, ZfWG 2006, 52, 53 f.; krit. Lesch, JR 2003, 342. 20 So AG Karlsruhe-Durlach NStZ 2001, 255. In der Sache ebenso LG Bochum NStZ-RR 2002, 171. 21 Mülbert / Böhmer, WM 2006, 985, 989 f.

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entzogen ist: Auf der Grundlage des Zufallskriteriums ist die BGH-Entscheidung nicht haltbar: hier sprengt Richterrecht unterschwellig die Dogmatik. In Wirklichkeit geht es nicht um einen irgendwie gearteten Zufall, sondern um eine normative Entscheidung. So hängt in hochvolatilen Märkten, wie bei Geschäften mit Optionen, futures und anderen derivativen Finanzinstrumenten, der Erfolg eines Engagements sowohl aus der Sicht eines Durchschnittsinvestors als auch objektiv22 nicht weniger von unberechenbaren Ereignissen (wie z. B. der Entwicklung des Wetters bei Waren- oder Energietermingeschäften) ab, als etwa beim Roulette. Wie lässt sich dann ein Unterscheidungsmerkmal gewinnen – als zusätzliche Bedingung für ein strafrechtliches Glücksspiel? 3. Zivilrechtsakzessorietät? Teilweise wird die Lösung, also die Suche nach einem, neben dem Zufallskriterium weiteren Element in einer Zivilrechtsakzessorietät gesehen. So wird darauf abgestellt, ob ein „ernster wirtschaftlicher Geschäftszweck“ im Vordergrund steht (dann kein Glücksspiel im Sinne des § 284 StGB, wenn zumindest einseitige wirtschaftliche „berechtigte“ Interessen vorliegen), wobei sich die Diskussion bei Wertpapieren darum rankt, ob allein ein Kurssicherungsinteresse oder jedes Absicherungsinteresse genügt, um ein Glücksspiel im strafrechtlichen Sinne zu verneinen.23 Umgekehrt wird die Voraussetzung eines Glücksspiels mit dem Umdeuten von § 37e WpHG als Erlaubnis im Sinne des § 284 StGB bejaht.24 Diese im Zivilrecht vorherrschende Meinung ist als verfehlt zurückzuweisen. Sie beruht auf einer vordergründigen Interpretation des § 762 BGB. Indes will der Gesetzgeber mit dem Ausschluss des Spieleinwands des § 762 BGB nur eine sichere Rechtsphäre für die Privaten schaffen.25 Allgemeiner formuliert: Bei einer strikt zivilrechtsakzessorischen Betrachtungsweise bleiben öffentliche Interessen, um deren adäquate Berücksichtigung es bei unserer gemeinschaftsrechtlich geprägten Frage gerade geht, auf der Strecke. So mag etwa ein Zertifikat mit dem Basisprodukt Kinderpornographie die Eigenschaften eines Wertpapiers erfüllen, die Voraussetzungen für einen ordnungsgemässen Handel im Sinne des § 38 Abs. 3 BörsG sind dagegen nicht gegeben. Im Unterschied zu einem sozial-ethisch und rechtlich absolut inkriminierten Gegenstand (§ 184b StGB: generell und ausnahmslos sozialschädlich) dürfen Zertifikate in Verbindung mit Sportwetten gemeinschaftsrechtlich eben nicht mehr per se als sozialschädlich, als Störung der öffentlichen Ordnung begriffen werden.26 22 Zum Maßstab siehe Eser / Heine, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 284 Rn. 5 ff. 23 S. Kessler / Heda, WM 2004, 1812, 1815. 24 Mülbert / Böhmer, WM 2006, 985, 991 f. 25 BT-Drs. 14 / 8017, S. 96. 26 S. oben Fn. 3.

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Offenbar sind die Implikationen des Gemeinschaftsrechts für das Zivilrecht bislang noch nicht angemessen aufgegriffen worden. Immerhin ist die Debatte im Zivilrecht deshalb von Bedeutung, weil sie die notwendige Bedingung für die Zuständigkeit des Börsen- und Wertpapierrechts benennt, nämlich dass Sportzertifikate als Optionsscheine Wertpapiere im Sinne des WpHG sind.27 So werden die eigentlichen Alternativen klar: Geht es um die Zuständigkeit unter dem Regime des Börsen- / Wertpapierrechts oder unter demjenigen des Strafrechts? 4. Realwirtschaftlich messbares Basisprodukt? Die Schlüsselfrage ist nach wie vor, jenen (neben dem Zufall als notwendiges Kriterium) zusätzlichen rechtlichen Gesichtspunkt zu ermitteln, der die Unterstellung von Sportzertifikaten unter § 284 StGB legitimieren könnte. Dieser Schutzzweck ist sodann gemeinschaftsrechtlich zu bewerten und an einer „kohärenten und systematischen Schutzpolitik“ (EuGH „Gambelli“) zu messen. Hierfür kommt das aus ökonomischer Sicht befürwortete Kriterium des realwirtschaftlich messbaren Basisprodukts, dessen Entwicklung wirtschaftlichen Gegebenheiten folgt, nicht in Frage. Zwar erklärt es im Detail die Unterstellung unter das Börsen- und Wertpapierregime von Kreditaus- und Versicherungseintrittsfällen ebenso wie Optionen auf den Gold- oder Weizenpreis.28 Gleiches gilt für moderne Optionen auf Kaffee oder Schweinebäuche. Mit den Worten des erwähnten Amtsrichters: Niemand käme auf Idee, solche hochspekulativen Geschäfte als strafbar anzusehen. Wie aber steht es dann mit Wetter- und Katastrophenfutures, deren zulässiger Handel an der Börse ausserhalb des Regimes des § 284 StGB und als „ordnungsgemäßer Börsenhandel“ nach dem Willen des Gesetzgebers außer Frage steht?29 Der bisherige Ertrag ist, dass sämtliche Unterscheidungskriterien aus der Sicht des Strafrechts entweder zu pauschal oder zu kurz greifen. Auch eine, hier vielleicht vermisste, dezidierte Behandlung einer Verwaltungsakzessorietät kommt nicht in Frage, weil sie in ihrer strikten Form (repressives Verbot), gemeinschaftsrechtlich betrachtet zu einer fatalen Sackgasse geführt hat.30 27 Z. B. Schäfer, in: Schwintowski / Schäfer, Bankrecht 2. Aufl. § 20 Rn. 58; Zimmer / Unland, BB 2003, 1445. 28 Zutreffend Franke, Börsenzeitung v. 31. 5. 2007, S. 1. 29 BT-Drs. 14 / 8017, S. 176. 30 Dazu eingehend Heine, FS Lahti, 2007, S. 151, 154, Eser / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 22), § 284 Rn. 2a und insbes. 22a. Daran ändert auch der zum 1. 1. 2008 in Kraft getretene Glücksspielstaatsvertrag wenig. S. dazu das jüngste Aufforderungsschreiben der EGKommission v. 2. 2. 2008. Zu Übergangsfragen s. BVerfGE 115, 276 Rn. 159; NJW 2007, 1523, und BGH wistra 2007, 111; OLG Stuttgart NJW 2006, 2422; OLG München NJW

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5. Teleologische Reduktion des Tatbestandes Angesichts dieses tour d’horizon muss sich das Strafrecht auf seine eigentliche Wertungskraft besinnen. Ganz im Sinne des Jubilars geht es um eine rechtsgutsbezogene teleologische Reduktion des Tatbestandes, die durch das Gemeinschaftsrecht notwendig wird. Nicht zuletzt wird hier auch eine restriktive Bedeutung des Gemeinschaftsrechts deutlich – die von einer zahlenmässig vorherrschenden Meinung in Deutschland fast nicht zur Kenntnis genommen wird. a) Rechtsgüter: europäisch justiert Das Gemeinschaftsrecht hat die einschlägigen Rechtsgüter neu justiert.31 Die Sittlichkeit ist Rechtsgeschichte,32 die von Goldschmidt begründete und von Goldmann präzisierte reine Verwaltungsrechtswidrigkeit erweist sich als gemeinschaftswidrig.33 Gewichen ist all dies einem mehr funktionalen Strafrechtsverständnis.34 Ein Strafrecht, das sich zum Ziele setzt, gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu steuern, muss sich auf dem Prüfstand seiner Legitimität anderen als den traditionellen Kriterien stellen.35 Wenn die letztgenannten ereignisbezogenen Wertpapiere sowohl nach der Einschätzung der Gesellschaft als auch nach der Wertung des Rechts niemals dem § 284 StGB zu unterstellen sind, so ist Folgendes klar: Die ansonsten bei § 284 StGB ins Spiel gebrachten Schutzzwecke unterscheiden sich in keiner Weise von Sportzertifikaten. Es geht um die Gefahren vor Manipulationen zum Schutz des Vermögens des Anlegers, Gefahr vor manipulativer Ausbeutung oder Folge- und Begleitkriminalität.36

2006, 3588; LG Frankfurt NStZ-RR 2007, 201 sowie Fischer (o. Fn. 16) § 284 Rn. 16c. Es greift freilich zu kurz, dabei allein auf verfassungsrechtliche Vorgaben abzustellen. Denn das BVerfG ist für die Frage der Vereinbarkeit des § 284 StGB in seiner Akzessorietät zu dem Glücksspielrecht der Bundesländer mit den Bestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts überhaupt nicht zuständig – was das BVerfG selbst zum Ausdruck bringt (BVerfG NJW 2006, 1261 Rn. 77). 31 S. oben II. und bereits Heine, FS Lahti, 2007, S. 151, 154 f. 32 Zur Geschichte s. Annette Volk, Glücksspiel im Internet, 2006, S. 3 ff. S. bereits Tacitus, Germania, Cap. XXIV. 33 Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, 1902; Goldmann, Die behördliche Genehmigung als Rechtfertigungsgrund, 1967, S. 196 ff. Dazu Eser / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 22), § 284 Rn. 2 m. w. N. 34 S. Heine, FS Lahti, 2007, S. 151, 153. 35 S. Heine, JZ 1995, 651 ff. Vgl. auch Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung, 2005, S. 34 ff. 36 S. oben II., insbes. Fn. 5.

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b) Verhinderung von Spielsucht in der Gesellschaft Der einzig denkbare normative Unterschied zwischen dem traditionellen Glücksspielbegriff des § 284 StGB und dem Regime des Wertpapier- und Börsenrechts ist folglich der Umstand, dass die Anknüpfung an die Sportkomponente infolge der gesellschaftlichen Attraktivität des Sports geeignet erscheint, Emotionen anzusprechen und sie deshalb den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung fördert. Dies ist offenbar auch die einschlägigen Verbotsverfügungen zugrunde liegende Ansicht in der Praxis. Wir können als Zwischenbefund festhalten, dass für die rechtliche Zuordnung des Handels mit Sportzertifikaten neben dem Zufallselement als Unterscheidungsund Legitimationskriterium allein die Förderung der Spielsucht in Frage kommt. Daran hat sich derjenige (der Staat) messen zu lassen, der beim Handel mit Sportzertifikaten für eine Unterstellung unter das Regime von § 284 StGB eintritt. Andere Schutzzwecke müssen deshalb ausser Betracht bleiben, weil es ansonsten im Vergleich zu anderen gesellschaftlich und rechtlich akzeptierten Wertpapieren, insbesondere Wetter- und Katastrophenfutures, an einer „kohärenten und systematischen Schutzpolitik“, europäisch betrachtet, mangelt.37 Hinzu kommt, dass sich die Erfassung von Begleit- und Folgekriminalität als Straf- und Verbotsgrund wegen entsprechender EG-Richtlinien von vornherein verbietet.38 Dieser Schutzzweck (Förderung des natürlichen Spieltriebs der Bevölkerung durch Handel mit Sportzertifikaten) ist gemeinschaftsrechtlich zu bewerten. Er fällt nicht in den unüberprüfbaren Gestaltungsspielraum der nationalen Gesetzgeber und Gerichte. Als Argument pro Bekämpfung einer Spielsucht mittels Strafrecht könnte man zunächst ins Feld führen, dass die Beeinflussung des Spielerfolgs im Wege von Können und Wissen der Kunden eine Rolle spielt,39 mithin unüberlegte Vermögensdispositionsentscheidungen sich gleichsam als Hang in der Bevölkerung entwickeln könnten. Indes fehlte es dann jedenfalls an der Erforderlichkeit eines strafrechtlichen Verbots des Glücksspiels. Denn die Besonderheiten des Börsenverkehrs und deren Schutzmechanismen sind in Rechnung zu stellen. Anders als etwa bei dem Abschluss von Sportwetten40 ist hier nicht jedermann tauglicher Beteiligter. Vielmehr ist gesetzlich im Wege des Wertpapier-Dienstleistungsunternehmens eine Institution dazwischengeschaltet, welche solche Suchtrisiken und zudem Gefahren eines Vermögensverfalls geradezu vorbildlich austariert. Denn die sanktionsbewehrte Informationspflicht des Wertpapier-Dienstleistungsunternehmens beinhaltet S. oben II, insbes. Fn. 10. S. oben II., Fn. 6. 39 S. EG-Kommission (o. Fn. 6), S. 16 Rn. 32, Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung, Study of Gambling Services in the Internal Market of the European Union, Untersuchung im Auftrag der EG-Kommission v. 14. 6. 2006, 4.4., 4.5.4. 40 S. dazu z. B. Heine, wistra 2003, 441, 446; BVerfG NJW 2006, 1261 ff. 37 38

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die Abklärung von Kenntnissen und Erfahrungen des Kunden im Bezug auf die angestrebten Geschäfte, wobei die finanziellen Verhältnisse des Kunden zu berücksichtigen sind. Vor allem darf ein konkretes Geschäft nur empfohlen werden, wenn die daraus erwachsenen Anlagerisiken für den Kunden finanziell tragbar sind (§ 34 Abs. 4 WpHG / Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz – FRUG).41 Gerade im Vergleich zu Sportwetten mit der Beteiligung von quivis ex populo, die von dem strafrechtlichen Begriff des Glücksspiels im Grundsatz erfasst werden,42 ist diese staatlich gesteuerte Selbstregulierung von sozialen Risiken nicht nur ein Kennzeichen moderner Gesetzgebungstechniken, sondern ein europäisches Paradebeispiel gelungenen Interessenausgleichs. Im Übrigen fehlt es auch an der Geeignetheit eines strafrechtlichen Verbotes. Soweit überhaupt einigermaßen valide Befunde vorliegen, so erscheint konstitutiv für ein Suchtverhalten der Bevölkerung, dass entweder mittels rascher Gewinnerfolge intensive Spannungserlebnisse in kurzen Zeitabständen realisierbar sind oder ein Abtauchen aus der Alltagsrealität gefördert werden kann.43 Davon kann beim Erwerb von Sportzertifikaten keine Rede sein. Und jedenfalls darf die Bekämpfung der Spielsucht der Bevölkerung gemeinschaftsrechtlich nur dann als legitimer Schutzzweck zur Einschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit eine Rolle spielen, wenn dieser Verbotszweck mit hinreichenden Fakten belegt ist.44 Dies ist in keiner Weise der Fall.45 Folglich muss der strafrechtliche Glücksspielbegriff teleologisch reduziert werden: Der Handel mit Sportzertifikaten ist von § 284 StGB tatbestandlich deshalb nicht erfasst, weil kein Glücksspiel i. S. d. § 284 vorliegt. 6. Befund und Schlussbemerkung Von einer vorherrschenden Strömung in den Strafrechtswissenschaften ist bislang zuwenig bedacht worden, dass sich die Einfügung des nationalen Strafrechts in ein europäisches Dach auch strafbarkeitseinschränkend auswirken kann. Dies ist bei Fragen des Glücksspiels der Fall. Der Einsatz von Vermögenswerten in Spiel und Wette ist von moralischen Vorbehalten befreit, auch der reine Formalverstoß, das Veranstalten eines Glücksspiels ohne Genehmigung, genügt nicht für die Legitimation von Strafe. Bei den Rechtsgütern ist Rationalisierung angesagt, die Legi41 Vgl. Mülbert, in: Assmann / Schneider, WpHG, 4. Aufl. 2006, vor § 37d Rn. 15; zum FRUG s. BR-Drs. 247 / 07, S. 10; BT-Drs. 15 / 5373, S. 50. 42 S. nur BGH NStZ 2003, 372; Heine, wistra 2003, 441, 443; Eser / Heine, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 22), § 284 Rn. 7 m. w. N. 43 S. oben Fn. 39. 44 S. oben Fn. 10. 45 EG-Kommission (o. Fn. 6), S. 17 Rn. 36, Schweizer Institut für Rechtsvergleichung (o. Fn. 39), S. 1196, 1211, Bundeskartellamt, 10. Beschlussabteilung, Beschluss v. 23. 8. 2006, B 10 – 92713-Vc-148 / 05, S. 169, Rn. 633 ff., 637 f.; BVerfG NJW 2006, 1261 Rn. 101.

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timation durch Folge- und Begleitkriminalität von Glücksspielen ist im Wege von EG-Richtlinien erheblich reduziert. Den europäischen Vorgaben kann auf unterschiedliche Weise im Aufbau der Straftat Rechnung getragen werden.46 Wie hier gezeigt, empfiehlt es sich vor allem, den Begriff des Glücksspiels teleologisch zu reduzieren:47 Notwendige Bedingungen für den strafrechtlichen Glücksspielbegriff ist das Zufallskriterium, hinzukommen muss aber die Eignung, mindestens eines der einschlägigen Rechtsgüter zu gefährden. Dem Jubilar ist diese kleine Studie in großer Dankbarkeit und herzlicher Verbundenheit gewidmet. Sein Wirken steht in unnachahmlicher Weise für eine kritische Strafrechtswissenschaft, die Recht und Praxis untrennbar verbunden sieht und die voraussetzt, dass ohne Berücksichtigung der normativ durchformten Wirklichkeit Recht vielleicht entstehen, niemals aber funktionieren kann. Seine überragende Innovationskraft, verbunden mit einer tiefgründigen Herzlichkeit, durfte ich während gemeinsamer Jahre an der neu gegründeten Juristischen Fakultät der Dresdner Technischen Hochschule erfahren, an der er als spiritus rector der strafrechtlichen Gruppe in den Aufbaujahren Unermessliches leistete und uns Jungprofessoren stets mitriss.

S. dazu Heine, FS Lahti, 2007, S. 151, 153 ff. S. allgemein Horn, NJW 2004, 2047, 2053; Wohlers, in: Nomos Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2005, § 284 Rn. 28 ff. 46 47

Zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik Von Thomas Hillenkamp I. Die von der Pränatalmedizin geleistete Betreuung beruht zu einem wesentlichen Anteil auf den Befunden, die mit den Mitteln der Pränataldiagnostik zu Tage gefördert werden. Mit Hilfe dieser hoch ausdifferenzierten Technik1 „kann der überwiegenden Mehrzahl der Schwangeren und ihrer Partner die Angst vor einem kranken oder fehlgebildeten Kind genommen“ und so „ein Abbruchbegehren aus bloßer anamnestisch begründeter Angst“ zurückgedrängt werden.2 Insofern dient die Pränataldiagnostik dem Schutz des ungeborenen Lebens. Das tut sie auch dann, wenn die pathologischen Auffälligkeiten durch intrauterine Therapie behebbar3 oder Anlass für in der Geburt oder unmittelbar danach wirksam werdende Vorsorgemaßnahmen sind. Zeigen sich allerdings Abweichungen, für die es Therapieoptionen nicht gibt, bildet ihre Erkennung nicht selten „den Ausgangspunkt einer Konfliktsituation“, in der sich die Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch stellt. Das gilt nicht nur dann, wenn die diagnostizierten Veränderungen mit dem Leben des Kindes unvereinbar oder mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Kind tödlich sind, sondern auch jenseits solcher Fälle mit infauster Prognose. Hierfür sei als Beispiel nur die Trisomie 21 mit ihren sehr unterschiedlichen Ausprägungsgraden genannt. Erwächst aufgrund des Befundes der Wunsch der Frau, die Schwangerschaft abzubrechen, begegnet der „embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbruch“4 1 S. dazu das Vorwort der von der Bundesärztekammer (BÄK) im Jahr 1998 bekannt gemachten „Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen“ (DÄBl 95 [1998], A-3236) sowie die Präambel des 2006 gemeinsam von der BÄK und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) erarbeiteten „Vorschlags zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation insbesondere unter Berücksichtigung der Pränataldiagnostik“. 2 S. Vorschlag (o. Fn. 1), S. 3. 3 Ein invasiv-operatives, fetalchirurgisches Vorgehen ist „wegen des hohen Risikos“ und oft „mangelhafter Erfolgschancen“ wohl eher selten indiziert (s. Richtlinien [o. Fn. 1], A-3241 sub 7.3), wird aber neben medikamentöser Behandlung z. B. für Fälle eines fetofetalen Transfusionssyndroms oder einer Diaphragmahernie als Mittel der Wahl benannt (s. Vorschlag [o. Fn 1], S. 12).

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schon im Grundsatz Bedenken. Sie sind (verfassungs-)rechtlicher, sie sind aber auch ethischer Natur. Sie schlagen bisweilen in Ablehnung um, wenn sich eine mit dem Leben des Kindes vereinbare Auffälligkeit erst zum Ende des zweiten Trimenons zeigt. Da die Fortschritte der Perinatalmedizin bereits Kinder mit 500 g Geburtsgewicht ab einem Schwangerschaftsalter von ca. 22 Wochen post conceptionem überleben lassen,5 bedeutet ein Schwangerschaftsabbruch in dieser (oder einer noch späteren) Zeit die Tötung eines außerhalb des Mutterleibes (über-) lebensfähigen Kindes. Dass zu einem solchen Spätabbruch zumal durch Fetozid – also einer gezielten Tötung der Frucht im Mutterleib – ein Recht bestehen kann und soll, leuchtet nicht jedermann ein.6 Diesen Bedenken soll hier aber nicht näher nachgegangen werden, steht es doch nach der Intention des Gesetzgebers, der im Schrifttum h. L. sowie der bisher ergangenen Rechtsprechung fest, dass der umschriebene Konflikt in jedem Stadium der Schwangerschaft – und d. h. bis unmittelbar vor Beginn der Geburt7 – unter besonderen Voraussetzungen durch einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch beendet werden kann. Es steht auch fest, dass dies in der Praxis geschieht. Es handelt sich nämlich unter den im Jahr 2007 dem Bundesamt für Statistik gemeldeten 116.871 Abbrüchen bei 2.037 um solche in der 13. bis zur 23. Woche – darunter 402 in der 20. bis 23. Woche – und bei weiteren 229 um Abbrüche in der 23. Woche oder später.8 Zwar rangieren sie in der Statistik „gesetzestreu“ sämtlich nach 4 So der Titel der von mir betreuten und im Jahr 2000 bei Peter Lang, Frankfurt a. M. erschienenen Heidelberger Dissertation von Heiko Hofstätter. 5 S. Vorschlag (o. Fn. 1), S. 19. 6 In ihrer Antwort auf eine „Kleine Anfrage“ zur „Tötung ungeborener Kinder usw.“ (BTDs. 13 / 5248) äußerte die Bundesregierung 1996 auf die Frage, ob nach ihrer Auffassung „schon vergleichsweise leichte oder einfach behebbare Behinderungen (wie etwa eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte)“ eine Abtreibung nach der geltenden Rechtslage decke, die „Ansicht, daß die medizinische Indikation zu einem Schwangerschaftsabbruch insbesondere in einem späten Stadium (nach der 24. Woche) äußerst streng gestellt und auf Fälle beschränkt werden soll, in denen das Leben der Mutter in Gefahr ist“ (BT-Ds. 13 / 5364, S. 8). In ihrer „Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik“ hat die BÄK „aus ärztlicher Sicht“ den „Zeitpunkt, zu dem die extrauterine Lebensfähigkeit des Ungeborenen gegeben ist, in der Regel als zeitliche Begrenzung für einen Schwangerschaftsabbruch angesehen“ und spätere Abbrüche nur „in besonderen Ausnahmefällen schwerster unbehandelbarer Krankheiten oder Entwicklungsstörungen des Ungeborenen, bei denen postnatal in der Regel keine lebenserhaltenden Maßnahmen ergriffen werden“, zulassen wollen (DÄBl 95 [1998], A-3015). S. zu diesen Positionen Hofstätter (o. Fn. 4), S. 140 ff. 7 Die von Herzberg (in: Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen, 2003, S. 39, 54, 59; s. auch Herzberg / Herzberg, JZ 2001, 1106) vertretene Erweiterung bis zum Abschluss der Geburt (in Fn. 38 des zuerst genannten Beitrags heißt es: „Angenommen, eine Frau erfährt vom Mongolismus ihres Kindes und verfällt in schwerste Depression mit Suizidgefahr, der nur der Tod des Kindes ein Ende machen würde. In den Grenzen des § 218 a Abs. 2 StGB wäre hier die Tötung des Kindes – als ,Schwangerschaftsabbruch‘ – erlaubt, und zwar von unserem Standpunkt aus noch in der Geburtsphase, solange das Kind ,ungeboren‘ ist“) lässt sich mit der Gesetzessystematik nicht vereinbaren, s. Hillenkamp, FS Herzberg, 2008, S. 498.

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ihrer „Begründung“ unter „Medizinische Indikation“. Auch weiß niemand genau, in wie vielen Fällen diese Indikation embryopathisch „unterlegt“ ist. Es ist aber gewiss, dass eine im engeren Sinne medizinische Indikation heute deshalb nur noch in „seltenen Fällen eine Indikation für einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch“ darstellt, weil „gravierende schwangerschaftsrelevante internistische Erkrankungen durch eine medizinische Betreuung in der Regel gut zu therapieren sind“. Deshalb gilt es als sicher, dass sich „der größte Teil der gegenwärtig medizinisch indizierten Abbrüche . . . aus Konfliktsituationen wegen Auffälligkeiten des ungeborenen Kindes“ ergibt.9 Auf diesem Hintergrund ist es für die Praxis10 von größerem Interesse, die Rechtfertigung des pränataldiagnostisch ausgelösten Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 2 StGB näher auszuleuchten, als die ohnehin bestehende Verunsicherung noch weiter zu schüren. Das gilt, weil mit dem Fortbestehen der geltenden Rechtslage in ihrem hier interessierenden Kern vorerst zu rechnen ist.11 Und es gilt umso mehr, weil die von der betroffenen Ärzteschaft veröffentlichten Erklärungen, Richtlinien und Vorschläge zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik nicht nur vom Gesetzgeber die diesem bei gegebenem Anlass auferlegte Nachbesserung12 einfordern, sondern sich auch um eine Verdeutlichung der zum embryopathisch bedingten Schwangerschaftsabbruch als unklar empfundenen Gesetzeslage bemühen.13 In diesem Bemühen will – bevor ihn ein begleitendes Wort zu den Forderungen de lege ferenda abschließt (s. dazu u. V) – dieser Beitrag die Ärzte unterstützen. Er ist Knut Amelung gewidmet, dem ersten Dekan der 8 Statistisches Bundesamt, Fachserie 12, Reihe 3, Gesundheitswesen / Schwangerschaftsabbrüche 2006, Wiesbaden 2007, Tab. 1.1; die Statistik wird nach § 15 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) geführt; s. zum vermuteten Dunkelfeld u. Fn. 16 und Vorschlag (o. Fn. 1), S. 4. 9 Beide Zitate aus Vorschlag (o. Fn. 1), S. 12. 10 S. zu ihrer Handhabung v. Kaisenberg / Jonat / Kaatsch, Spätinterruptio und Fetozid – das Kieler Modell, DÄBl 102 (2005), A-133; Wernstedt / Beckmann / Schild, Entscheidungsfindung bei späten Schwangerschaftsabbrüchen, Geburtshilfe und Frauenheilkunde (GebFra) 2005, 761. 11 Am im folgenden Text noch zu schildernden „Einbau“ der vormals embryopathischen Indikation in die medizinisch-soziale will einschließlich der damit einhergehenden „Entfristung“ weder die Ärzteschaft noch die Politik etwas „grundlegend“ ändern, s. dazu näher im Text u. IV. 12 BVerfGE 88, 203, 309. 13 So die 1998 von der BÄK publizierten „Richtlinien“ (o. Fn. 1) und die ebenfalls 1998 veröffentlichte „Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik“ (DÄBl 95 [1998], A-3013). Als hilfreich wird insoweit auch die in Fn. 10 schon zitierte Publikation des Verfahrens im Kieler Modell gesehen. Die schon in der „Erklärung“ enthaltenen Empfehlungen an den Gesetzgeber (DÄBl 95 [1998], A-3016) finden sich weiterentwickelt in dem im Juni 2003 herausgegebenen und im September 2004 in einer überarbeiteten Fassung publizierten Positionspapier der DGGG, Letzteres unter dem Titel: „Pränataldiagnostik – Beratung und möglicher Schwangerschaftsabbruch“ (abrufbar unter www.dggg.de). Die Vorstellungen der BÄK und der DGGG sind dann zusammengeführt in dem in Fn. 1 schon zitierten „Vorschlag“ vom 14. 12. 2006.

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Dresdner Juristenfakultät, dem ich mich aufgrund seiner mutigen Entscheidung für Dresden und seinem vorbildlichen Engagement für seine Fakultät in Dankbarkeit und Freundschaft verbunden fühle.14 II. Will man erfahren, wann eine Auffälligkeit des Feten einen Schwangerschaftsabbruch heute erlaubt, findet man zunächst die Quelle verschlossen, die über das Risiko einer Strafbarkeit (sonst) am verlässlichsten Auskunft erteilt: Strafrechtliche Rechtsprechung zum seit 1995 geltenden Recht ist bisher nicht vorhanden.15 Das liegt wahrscheinlich weniger an einem ausgebreiteten Dunkelfeld16, als eher daran, dass problematische Abbrüche oft unter Einhaltung eines Verfahrens geschehen, das mit der örtlichen Staatsanwaltschaft vorab festgelegt ist.17 Dazu gehört die Einhaltung der bei Lebend- und Totgeburten bestehenden Meldepflicht18, die die Vorgänge zwar den Ermittlungsbehörden bekannt macht, in der Regel aber nur zu einem Beweissicherungs- und nicht zu einem Ermittlungsverfahren, geschweige denn zu einer Anklage führt. 14 Nach langem und erfolgreichem Wirken in Trier konnte auch ein von der dortigen Studentenschaft initiierter Fackelzug Knut Amelung nicht abhalten, Verantwortung in der Erneuerung der Juristenausbildung im Osten zu übernehmen und einen Ruf an die neu gegründete Juristenfakultät der TU Dresden anzunehmen. Dafür hatte und hat er meine Bewunderung. Nachdem sieben Professuren besetzt waren, konnte ich 1993 meine Arbeit als Gründungsdekan einstellen und die Fakultät in die Hände des erfahrenen und hoch angesehenen Kollegen als erstem Dekan übergeben. Dank gilt auch seiner Frau, die diesen Schritt und Weg maßgeblich mitgetragen hat. 15 Im bei Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 333 mitgeteilten Fall des LG Görlitz (nebst Revisionsentscheidung und Anm. von Wiebe abgedruckt in ZfL 2003, 87 ff.bzw. 83 ff.) findet sich nur eine begründungslose Ablehnung der Indikation. Die Verfahrenseinstellung (StA Oldenburg NStZ 1999, 461; ZfL 2003, 99) bzw. Erledigung durch Strafbefehl (ZfL 2004, 117) im Fall des „Oldenburger Babys Tim“ beschäftigen sich nur mit der strafrechtlichen Beurteilung des unversorgten Liegenlassens des geschädigten Frühgeborenen. 16 S. allerdings die gegenteilige Annahme von Tröndle, FS Müller-Dietz, 2001, S. 919, 922 und Wiebe, ZfL 2004, 118, die von jährlich rund 800 Spätabtreibungen mit ca. 100 überlebenden Kindern ausgehen; vgl. auch Wernstedt / Beckmann / Schild, GebFra 2005, 763; Belege für diese Annahmen finden sich dort allerdings nicht. 17 Beispielhaft hierfür das von v. Kaisenberg / Jonat / Kaatsch in DÄBl 102 (2005), A-133 vorgestellte „Kieler Modell“; s. auch Wernstedt / Beckmann / Schild, GebFra 2005, 761. 18 S. dazu ausführlich die von Knut Amelung angeregte Dresdner Dissertation von Thomas Hanke, Nachsorgender Schutz menschlichen Lebens. Zum Umgang mit Spätabtreibungen im Personenstands-, Bestattungs- und Strafprozessrecht, 2002 (zu den Meldepflichten im Zusammenhang mit § 159 StPO insbesondere S. 219 ff.). S. zur Problematik auch Riedel / Vetter, Frauenarzt 2007, 747. Nach Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 218a Rn. 23 werden die Regelungen des Verfahrens bei einer Totgeburt von über 500 g allerdings „nicht selten mit der Begründung ignoriert, die Spätabtreibung belaste die Mutter und den Arzt (!) so stark, dass schon eine Vorprüfung durch die StA ,unverhältnismäßig‘ sei“. Belege für diese Aussage fehlen.

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Rechtsprechung ist allerdings im Zivilrecht zu finden. Sie bietet bei der Auslegung des geltenden Rechts auch sicherlich Hilfe. Zwar fragt sie nicht primär nach der Rechtfertigung strafbaren Handelns. Da sie aber „den Voraussetzungen“ nachgeht, „unter denen das auf einem ärztlichen Behandlungsfehler beruhende Unterbleiben eines nach den Grundsätzen der medizinischen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs die Pflicht des Arztes auslösen kann, den Eltern den Unterhaltsaufwand für ein Kind zu ersetzen, das mit schweren Behinderungen zur Welt kam,“19 muss auch der Zivilrichter entscheiden, ob im Zeitpunkt der (unterlassenen) Mitteilung des Befundes20 von einer gesundheitlichen Gefährdung der Mutter auszugehen gewesen wäre, die einen Abbruch nach § 218a Abs. 2 StGB erlaubt hätte. Das aber kann auch ein Zivilrichter nur beantworten, wenn er die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines pränataldiagnostisch veranlassten Schwangerschaftsabbruchs benennt. Gleichwohl ist das Strafbarkeitsrisiko hiernach nicht sicher zu bestimmen. Das liegt nicht nur daran, dass die „Ansicht“ der Zivil- und der Strafsenate zu identischen Fragen nicht selten auseinander tritt.21 Vielmehr können die divergierenden Folgen der jeweiligen Antwort ein Auseinandertreten der Gesetzesauslegung sogar gebieten.22 Eben das liegt zu unserer Frage nicht fern, weil eine die Interpretationsspielräume der Indikation eng begrenzende Auslegung den Arzt im Zivilrecht vor überzogener Anspruchsbegehrlichkeit schützt, während ihn eine gleich „strenge“ Auslegung im Strafrecht belastet. Es ist folglich nicht ausgeschlossen, dass die Zivilgerichte das strafrechtlich Erlaubte nicht vollends erschöpfen. Darauf ist bei der Verwertung zu achten.23 Wendet man sich deshalb erst einmal der eigentlichen Auskunftsquelle – also dem Strafgesetz – zu, werden die Interpretationsspielräume schnell sichtbar. Denn anders als das vormalige Recht, das die Strafbarkeit bei embryopathischer Indikation in genauerer Regelung ausschloss,24 lässt sie das geltende Recht expressis So der Leitsatz der Entscheidung BGHZ 151, 133. S. BGH NJW 2006, 1660 (Leitsatz 1). 21 Beispiele finden sich bei Wessels / Hillenkamp, Strafrecht Besonderer Teil / 2, 30. Aufl. 2007, Rn. 756 mit Fn. 31; Rn. 787 mit Fn. 166. 22 So verlangt das BVerfG (NJW 2006, 207), zum „Schutz vor Einschüchterungseffekten“ von den Gerichten bei einer Meinungsäußerung „für nachträglich an eine Äußerung anknüpfende rechtliche Sanktionen – wie eine strafrechtliche Verurteilung oder eine zivilgerichtliche Verurteilung zum Widerruf oder Ersatz materieller oder immaterieller Schäden“ – die dem Täter bzw. Angeklagten günstigere Deutung, für einen „zukunftsgerichteten Anspruch auf Unterlassung künftiger Persönlichkeitsbeeinträchtigung“ aber alle Deutungsvarianten zugrunde zu legen; s. dazu Hillenkamp, FS Herzberg, 2008, S. 493 f. Eine solche Folgenberücksichtigung legt auch rechtlich differente Interpretationen nahe. 23 Auswertbar sind neben BGHZ 151, 133 und BGH NJW 2006, 1660 die gleichfalls die seit 1. 10. 1995 geltende Fassung des § 218a Abs. 2 StGB zugrunde legenden Entscheidungen BGH NJW 2003, 3411; OLG Hamm NJW 2002, 2649 und VersR 2003, 1580; OLG Düsseldorf VersR 2003, 1542 und OLG Stuttgart NJW-RR 2003, 1256. Die vormalige embryopathische Indikation liegt noch BGH NJW 2002, 886; OLG Düsseldorf NJW 1987, 2306; AG Celle NJW 1987, 2307 zugrunde; s. auch schon BGHZ 89, 95; BGH NJW 1983, 1371. 19 20

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verbis gar nicht mehr zu. Von ihr ist mit Rücksicht auf Vorbehalte von Behindertenverbänden und der Kirchen „abgesehen worden“, um dem aus dem überkommenen Recht ableitbaren „Missverständnis“ vorzubeugen, „die Rechtfertigung ergebe sich aus einer geringeren Achtung des Lebensrechts eines geschädigten Kindes“.25 Hiernach erklärte die Bundesregierung die embryopathische Indikation für „entfallen“.26 Die nun geltende Rechtslage sehe „keine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nach pränataler Diagnostik“ mehr vor.27 Allerdings sollten die „Fallkonstellationen“, in denen sich aufgrund der Behinderung des erwarteten Kindes „eine unzumutbare Belastung für die Schwangere“ ergibt, nach dem Willen des Gesetzgebers in Zukunft durch die medizinische Indikation „aufgefangen werden“. Das wollte man dadurch ermöglichen, dass die nach dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) 1992 aus der medizinischen Indikation herausgenommene „Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse“, die das Gesetz seit 1976 vorsah, wieder eingefügt und damit aus der rein medizinischen (wieder) eine medizinisch-soziale Indikation gemacht wurde.28 Mit diesem Schritt ist in der ihn begleitenden Kritik „die vielschichtige Problematik der embryopathischen Indikation nur verlagert“ und das Erkennen ihrer Konturen „in einer allgemeinen Indikation“ durch deren „weite und unbestimmte Fassung“ deutlich erschwert. Dass die „größere Unbestimmtheit . . . zu extensiver und u. U. auch missverständlicher Auslegung geradezu“ einlädt,29 muss man als Befürchtung nicht teilen, dass sie größere Interpretationsspielräume eröffnet als zuvor, ist aber wohl sicher. Wie man sie ausfüllt, muss davon abhängen, was es bedeutet, dass von der embryopathischen Indikation „abgesehen worden“, dass sie „entfallen“, dass aber andererseits der wieder zur medizinisch-sozialen Indikation erweiterte Rechtfertigungsgrund für die Fälle einer unzumutbaren Belastung der Schwangeren als „Auffangtatbestand“ konzipiert ist. Das legt es nahe, den Fall, in dem „nach ärztlicher Erkenntnis dringende Gründe für die Annahme sprechen, dass das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht ver24 S. §§ 218a Abs. 2, 3, 218b Abs. 1 i.d.F. des 15. StÄndG vom 18. 05. 1976 (BGBl. I, 1213). Das SFHG vom 27. 07. 1992 (BGBl. I, 1398) änderte hieran in § 218a Abs. 3 im Kern nichts. 25 Beschluss, Empfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 28. 06. 1995, BT-Ds. 13 / 1850, S. 25 f. 26 BT-Ds. 13 / 5364, S. 15. 27 BT-Ds. 14 / 1045, S. 4. 28 S. BT-Ds. 13 / 1850, S. 26; Fischer (o. Fn. 18) § 218a Rn. 21; zur „Verabschiedung“ der embryopathischen Indikation s. näher Beckmann, MedR 1998, 155; Schumann / SchmidtRecla, MedR 1998, 497 mit Nachweisen aus dem BT-Plenarprotokoll 13 / 47 (S. 499). 29 Die Zitate sind Lackner, StGB, 22. Aufl. 1997, vor § 218a Rn. 22 und § 218a Rn. 15, 16 entnommen.

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langt werden kann“ (embryopathische Indikation nach § 218a Abs. 3 StGB i. d. F. des SFHG), nach Möglichkeit als einen Fall der medizinisch-sozialen Indikation nach § 218a Abs. 1 StGB geltender Fassung zu sehen. Das hieße mit anderen Worten, die embryopathische Indikation unter die medizinisch-soziale zu subsumieren, die erstere als bloßen Unterfall der letzteren zu verstehen. Auf diese Weise wäre erreicht, was manche als Willen des Gesetzgebers ausgeben: Dass nämlich die Fälle der früheren embryopathischen Indikation „praktisch vollständig“ von der medizinisch-sozialen „aufgefangen“ werden.30 Dass dies nun aber gesetzwidrig wäre, zeigt eine Entscheidung des OLG Hamm, in der die frühere embryopathische Indikation in die medizinische Indikation des § 218a Abs. 2 StGB mit einbezogen und als denkbarer (weiterer) Rechtfertigungsgrund erörtert wird. Er wird im Angesicht des „bloßen“ Fehlens der linken Hand und der Hälfte des linken Unterarmes des geborenen Kindes verneint, weil „diese Schädigung“ nicht „so schwer“ sei, „dass sie – aus nachträglicher Sicht – den Abbruch der Schwangerschaft erlaubt hätte“. Bei einem Fehlen nur „von Teilen von Gliedmaßen“ sei nämlich der „erforderliche Schweregrad keinesfalls erreicht“, der „über den embryopathischen Aspekt die medizinische Indikation“ auslösen könne. Soweit demgegenüber „mit der früheren strafrechtlichen Literatur recht weitgehend Missbildungen von Gliedmaßen und Verkrüppelungen die embryopathische Indikation begründen sollten“, vermöge „der Senat dem im Hinblick auf die Neufassung des Gesetzes nicht (mehr) zu folgen“.31 Diese Gedankenkette stimmt – als „Subsumtion“ unter § 218a Abs. 2 StGB – weder „vorne“ noch „hinten“ und sie trifft auch die für die medizinisch-soziale Indikation nach ihrer ratio für embryopathisch unterlegte Fälle zu bildende Mitte nicht. „Vorne“ leistet sie unvertretbar Verzicht auf die unabdingbare Voraussetzung, dass die Mitteilung des Befundes eine Lebens- oder schwerwiegende Gesundheitsgefahr für die Schwangere auf den Plan rufen muss. „Hinten“ ist verkannt, dass das Gesetz als Auslöser einer „schwerwiegenden seelischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes der Schwangeren“ einen bestimmten Schweregrad der Behinderung (oder ihre fehlende Behebbarkeit)32 gerade nicht mehr 30 So Merkel, in: Nomos Kommentar zum StGB, Band 2, 2. Aufl. 2005, § 218a Rn. 95; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 6. Aufl. 2000, § 218a Rn. 8, 11; die zitierte Textstelle aus BT-Ds. 13 / 1850, S. 25 f. legt diese Interpretation zwar nahe, weil es dort heißt, dass „durch die Formulierung der medizinischen Indikation in § 218a Abs. 2 StGB . . . diese Fallkonstellationen aufgefangen werden“ könnten. Immerhin fehlt dort aber das von Merkel und Rudolphi eingefügte Wort „vollständig“. 31 OLG Hamm NJW 2002, 2649, 2650 f.; mit der „Neufassung des Gesetzes“ ist das SFHÄndG von 1995 gemeint. Vor den wiedergegebenen Ausführungen ist die medizinische Indikation unter dem Aspekt einer prospektiven Lebens- oder Gesundheitsgefahr für die Schwangere erörtert und verneint. 32 Das ist verkannt in OLG Hamm VersR 2003, 1580; dafür, dass „unstreitig sein dürfte“, dass „auch nach der Neuregelung des Abs. 2 eine »nicht behebbare Schädigung« des Ungeborenen . . . zu verlangen ist“, finden sich bei Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 95 keine Belege.

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verlangt.33 Und in der Mitte ist die Gedankenkette inakzeptabel, weil sie das Missverständnis nährt, es „wäre die bloße Tatsache einer festgestellten Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Anlageträgerschaft des Kindes für eine Erkrankung bereits eine Rechtfertigung für einen Schwangerschaftsabbruch“, es „dürfe“ also „allein aufgrund eines“ – wenn auch schwerwiegenden – „auffälligen Befundes eine Schwangerschaft“ nach geltendem Recht „beendet werden“.34 Eine solche „Auslegung“ und Subsumtion holte nicht einmal die vormalige embryopathische Indikation, vielmehr holte sie deren Missverständnis zurück.35 Vor allem aber ist sie mit Text und ratio des § 218a Abs. 2 StGB vollständig unvereinbar. Denn hiernach ist bei Fallgestaltungen, die früher der embryopathischen Indikation unterfielen, eine Rechtfertigung nur möglich, wenn sich für die über den pränataldiagnostischen Befund aufgeklärte Schwangere aus der (Fortsetzung der) Schwangerschaft „Belastungen ergeben, die sie in ihrer Konstitution überfordern und die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung“ ihres physischen oder „seelischen Gesundheitszustandes“ heraufbeschwören.36 Gleiches gilt, wenn sich erst für die prospektive Mutter aus der Geburt und den hieraus resultierenden besonderen Lebensverhältnissen, also vor allem dem „Haben“ des „behinderten“ Kindes, solche Belastungen und Gefahren ergeben. Sind diese Gefahren für die Schwangere nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abwendbar, sind sie und die Unzumutbarkeit ihrer Aufsichnahme Grund für die Begrenzung der „Pflicht zum Austragen des Kindes“.37 In einem solchen Fall steht das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Schwangeren selbst auf dem Spiel, dessen Aufopferung für das ungeborene Leben von ihr nicht erwartet wird. Trifft das die „Mitte“ der medizinisch-sozialen Indikation, wird einerseits deutlich, dass sich mit ihr keineswegs die Fälle der vormaligen embryopathischen Indikation „praktisch vollständig“ auffangen lassen. Das gilt, obwohl es auch bei ihnen allein darum ging, „dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt“, also nicht zugemutet werden konnte.38 Denn für diese Annahme war eine Belastung der Schwangeren, die sich in „psychischen Nöten oder S. nur – zutr. –Gropp, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 218a Rn. 60. S. die zutr. Ablehnung dieser Deutung in Erklärung (Fn 1), A-3014 f. 35 Dass dies die 1995 etablierte medizinisch-soziale Indikation ermöglichte, war auch die unzutreffende Interpretation von Tröndle, StGB 48. Aufl. 1997, § 218a Rn. 9a; dagegen zu Recht Schumann / Schmidt-Recla, MedR 1998, 500. 36 So im Ausgangspunkt zutreffend BGHZ 151, 133, 139; der BGH spricht hier allerdings – wohl unreflektiert – von „schwerbehindertem“ Kind und will andererseits verlangen, dass die Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes der Schwangeren „als so bedrohend“ erscheine, „dass bei der gebotenen Güterabwägung das Lebensrecht des Ungeborenen dahinter zurückzutreten“ habe. Zur Missverstehbarkeit dieser vom Gesetz nicht verlangten zusätzlichen Güterabwägung s. klarstellend BGHZ NJW 2006, 1660, 1662. 37 BVerfGE 88, 203, 256 f. unter Berufung auf BVerfGE 39, 1, 48 ff. 38 Für diesen Fall sah BVerfGE 88, 203, 256 eine Rechtfertigungsmöglichkeit auch der embryopathischen Indikation jenseits einer eigenen Lebens- oder Gesundheitsgefahr für die Schwangere. 33 34

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gesundheitlichen Beeinträchtigungen“ niederschlug, nicht gefordert. Vielmehr reichte es aus, dass die Schädigung des Kindes „so erheblich ist, dass die Pflege und Erziehung des kranken Kindes auch bei voller Anerkennung seines Lebensrechts eine zeitlich, kräftemäßig oder wirtschaftlich unzumutbare Überforderung der Schwangeren . . . bedeuten würde“.39 Insofern „ist die Rechtslage“ durch den Wegfall der embryopathischen Indikation „eher restriktiver“40, jedenfalls anders geworden. Andererseits steht nach dem Wortlaut der medizinisch-sozialen Indikation nichts entgegen, ihr auch pränataldiagnostisch ausgelöste Konfliktlagen zuzuordnen, in denen der (geringe) Behinderungsgrad oder eine behebbare Schädigung die embryopathische Indikation nach früherem Recht ausgeschlossen hätten, die heutige medizinisch-soziale Indikation aber deshalb begründen, weil „unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren“ gleichwohl die Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung besteht.41 Insoweit ist der Kreis der rechtfertigungsfähigen Abbrüche mit der Wiedereinführung der medizinisch-sozialen Indikation eher erweitert.

III. Erst auf diesem Hintergrund kann man sich an die Ausfüllung der Interpretationsspielräume machen, die die medizinisch-soziale Indikation belässt. Dabei ist zwar der Weg verschlossen, die embryopathische Indikation „praktisch vollständig“ für die medizinisch-soziale zu vereinnahmen. Es ist aber zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber dann, wenn sich eine „embryopathische“ Indikation erst spät ergibt, die Entscheidung über das Austragen des Kindes – wie schon das 5. StrRG – in den „freiwilligen Entschluss“ der Schwangeren stellen will.42 Anders ist die Absicht, Fälle aufzufangen, in denen sich „eine unzumutbare Belastung für die 39 So Lackner, StGB, 19. Aufl. 1991, § 218a Rn. 14; er konnte sich hierfür auf BT-Ds. VI / 3434, S. 23 berufen; s. auch Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, 24. Aufl. 1991, § 218a Rn. 27. Die Beibehaltung dieser Aussage durch Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 218a Rn. 14 begegnet dem Vorhalt, dass eine „nur“ zeitlich, kräftemäßig oder wirtschaftlich unzumutbare Überforderung nicht notwendig die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung hervorruft. 40 So – zutr. –Kröger, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2002, § 218a Rn. 50; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 8; führte die Überforderung zugleich zu einer Gefahr der Gesundheitsschädigung, lag neben der embryopathischen auch die medizinischsoziale Indikation (mit ihrer fehlenden Befristung) vor, s. Schumann / Schmidt-Recla, MedR 1998, 499 f. 41 Hierauf weist zu Recht Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 60 hin. 42 1972 führte der Gesetzgeber als Grund hierfür an, dass „die Übernahme einer derart schweren Aufgabe. . . auf einem freiwilligen Entschluss der Eltern beruhen“ sollte. „Die Erwägungen, die die Eltern angesichts der Wahrscheinlichkeit einer schweren Schädigung des noch nicht geborenen Kindes anstellen müssen“, seien „so komplexer Art, dass das Strafrecht kein angemessenes Mittel“ sei, „um eine Entscheidung in der einen oder anderen Richtung zu erzwingen“, s. die Begründung zum Entwurf des 5. StrRG, BT-Ds. VI 3434, S. 23.

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Schwangere ergeben kann“,43 nicht zu verstehen. Da dieser Wille in der Rückkehr zur medizinisch-sozialen Indikation seinen Ausdruck gefunden hat, ist er bei der Auslegung auch zu beachten. Fragt man, wieweit das möglich ist, liegt es nahe, als erstes die „Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren“ in den Blick zu nehmen. Hierzu ist nicht nur zu klären, was darunter zu verstehen ist. Vielmehr ist im Hinblick auf den „Unterfall“ der embryopathisch unterlegten Indikation die Frage einzubeziehen, ob die Lebens- und Gesundheitsbedrohung von einer bestimmten „Qualität“ der pränataldiagnostisch festgestellten und der Schwangeren mitgeteilten Auffälligkeit des Kindes abhängig ist. Dazu gibt bereits der Fall der Lebensgefahr maßgebliche Auskunft. Da medizinisch nicht beherrschbare physiologisch bedingte Lebensgefahren offenbar selten und – sieht man von einer denkbaren Kombination der Abbruchsmotive bei einer (hochgradigen) Mehrlingsschwangerschaft einmal ab44 – jedenfalls kaum einmal Folge der (mitgeteilten) Auffälligkeit sind,45 sind Fälle der Lebensgefahr im hier erörterten Zusammenhang namentlich solche, in denen eine ernst zu nehmende Selbstmordgefahr besteht.46 Sie kann daraus resultieren, dass die Schwangere darunter leidet, dass sie ein behindertes Kind in sich trägt, oder daraus, dass sie sich außerstande sieht, mit der Sorge um das geborene Kind dereinst zu leben. Ob deshalb der Selbstmord bereits unmittelbar oder erst für die Zeit nach der Geburt droht, ist – weil und wenn zumutbar nur durch den Schwangerschaftsabbruch abwendbar – für das Vorliegen einer „gegenwärtigen“ Gefahr belanglos.47 Auch darf der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nach allgemeinen Notstandsregeln umso niedriger sein, umso gravierender der Schaden wäre. Hiernach muss das Risiko zu sterben zwar über das statistisch geringe, das jede normale Schwangerschaft mit sich bringt, sicher hinausgehen.48 Die Suizid- und Lebensgefahr kann aber – ist sie nach ärztlicher Erkenntnis gegeBT-Ds. 13 / 1850, S. 26. Hier können zu erwartende lebensgefährliche Komplikationen mit der pränataldiagnostisch festgestellten Behinderung (nur) eines oder mehrerer Feten zusammentreffen, s. zu dieser Spezialproblematik Merkel, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 113 ff. 45 In Vorschlag (o. Fn. 1), S. 18 werden als „akute Indikation“ mit Lebensgefahr schwere Präeklampsie oder Eklampsie der Frau genannt; weitere Beispiele bei Eser, in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 218a Rn. 28. 46 Nach Eschelbach, in: Beckscher Online-Kommentar, StGB, Juni 2007, § 218a Rn. 18 ist das „wegen der fortgeschrittenen Möglichkeiten der Medizin sogar der wichtigste Fall der Gefahr für das Leben . . .“. 47 Zutr. Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 84; da auch die zukünftigen Lebensverhältnisse zu berücksichtigen sind, reicht auch eine Gefahr aus, die erst später „akut“ wird, s. Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 24; Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 33; BT-Ds. VI / 3434, S. 20. 48 Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 83; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 29; beide unter Berufung auf BR-Ds. 58 / 72, S. 21. 43 44

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ben – nicht mit der Begründung verneint werden, dass „der Selbstmord in der Schwangerschaft ein äußerst seltenes Ereignis“ und auch bei Ablehnung des Abbruchs eher die Ausnahme sei.49 Sicher ist nun, dass sich eine Selbstmordgefahr gerade deshalb einstellen kann, weil die Behinderung des Kindes schwer oder nicht behebbar ist. Auch ist nicht zu beanstanden, wenn ein solcher Befund in die Begründung dafür einfließt, dass der Gedanke an Selbsttötung nachvollziehbar, die Suizidgefahr ernst zu nehmen ist. Insoweit mag man der Behinderung „Indizwirkung“ zumessen.50 Es ist aber – in beiderlei Richtung – davor zu warnen, hieraus einen „Automatismus“ zu entwickeln. Denn einerseits ist es keineswegs ausgeschlossen, dass auch weniger gravierende und selbst postnatal behebbare Auffälligkeiten den Anlass zu einem Suizidentschluss bilden,51 der den Abbruch rechtfertigen kann. Und andererseits kann die Ankündigung, sich angesichts einer schweren Missbildung des Kindes das Leben zu nehmen, auch einem nur spontanen und alsbald revisiblen „Entschluss“ entspringen. Jede „generelle Vermutung“52 läuft deshalb Gefahr, die allein maßgebliche innerpsychische Reaktion der Schwangeren auf den Befund in ihrer Individualität zu verfehlen. Ließe man einen Regelmechanismus zu, befestigte man zudem eine graduelle Abwertung behinderten Lebens. Es kann daher nicht zweifelhaft sein, dass eine Suizidgefahr den Abbruch unabhängig von der „Qualität“ des sie auslösenden Anlasses rechtfertigt, wenn auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind. Nichts anderes kann im Grundsatz für die „Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren“ gelten. Steigert sich die eingetretene oder zu erwartende psychische Reaktion „nur“ zu einer schweren Depression, muss sie unabhängig davon beachtet werden, ob ihre Entstehung nach Grad und Schwere der Behinderung des Kindes plausibel oder für Dritte nachvollziehbar ist. Auch hier gilt, dass nicht das Leiden des Kindes, sondern „der Grad des dokumentierten Leidens am missgebildeten Kind“ den Ausschlag gibt.53 Verführe man anders, machte man „die Fehlbildung 49 So Prill und Schulte, Prot. des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform VI, S. 2173, 2196, 50 S. BGH NJW 2006, 1660, 1662; Eschelbach, in: Beck-OK (o. Fn. 46), § 218a Rn. 24; Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 61. 51 Etwa, weil die Frau durch das Insuffizienzgefühl, nicht wie andere Mütter ein „normales“ Kind bekommen zu können, ernsthaft an Suizid denkt (s. Merkel, in: NK-StGB [o. Fn. 30], § 218a Rn. 98). 52 Dass BGHZ 151, 133, 139 es nicht beanstandet, dass das Berufungsgericht „angesichts der zu erwartenden oder schweren Behinderung des Kindes sowohl die Gefahr eines Suizidversuchs als auch einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes der Mutter“ angenommen hat, ist nicht als Annahme einer gegenteiligen „generellen Vermutung“ deutbar; insoweit ist die gegen sie an sich berechtigte Kritik von Schmidt-Recla / Schumann, MedR 2002, 645 überzogen; zur Relation zwischen Behinderung und psychischer Belastung s. zutr. OLG Stuttgart NJW-RR 2003, 1256, 1257.

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des Kindes . . . zur Krankheit der Frau“.54 Das schließt es naturgemäß nicht aus, dass die Schwere der Behinderung auch hier eine Indizwirkung entfalten oder umgekehrt eine nur geringfügige Auffälligkeit eine schwerwiegende Beeinträchtigung auch einmal definitiv ausschließen kann.55 Auch hier gibt aber die je individuelle Diagnose den Ausschlag. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an die Beeinträchtigung des „seelischen Gesundheitszustandes“ nicht im Sinne einer (zu erwartenden) manifest seelischen Erkrankung überspannt werden dürfen. Dagegen streitet der hierzu gut dokumentierte gesetzgeberische Wille. Er hat darin Ausdruck gefunden, dass statt einer Beeinträchtigung „der Gesundheit“ nur eine solche des „Gesundheitszustandes“ verlangt worden ist. Damit sollte anders als bei den Körperverletzungsdelikten auch der psychische Gesundheitszustand erfasst und gerade kein „komplementärer Begriff zum Begriff der Krankheit“ gebraucht werden.56 Auch sollte durch die Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren der „Entwicklung der modernen Medizin“ gefolgt und eine Annäherung an den Gesundheitsbegriff der WHO erreicht werden.57 Diese Auskünfte haben zu der im strafrechtlichen Schrifttum unangefochten h. M. geführt, dass die Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes „weit“ und nicht im Sinne eines „festen Krankheitsbildes“ in einem „engen medizinischen Sinne“ zu verstehen ist. Vielmehr reichen hierfür „Zustände“ aus, die nach „einer die (gegenwärtigen und zukünftigen) Lebensverhältnisse der Schwangeren einbeziehenden Gesamtwürdigung eine feststellbare Verschlechterung ihrer körperlichen“ oder „seelischen Verfassung bedeuten“. Schwerwiegend ist nicht mit dauerhaft gleichzusetzen, ein lang anhaltender Erschöpfungszustand im Sinne der „verbrauchten Frau“ reicht aus. Ausgeschieden werden mit diesem Begriff übereinstimmend nur Beeinträchtigungen, die mit einer Schwangerschaft zwangsläufig 53 Stürner, JZ 2003, 155; er sieht in dieser Abhängigkeit von der „Belastungsfähigkeit“ der Mutter zu Recht eine „noch stärkere Subjektivierung“ des Rechtfertigungsgrundes bei embryopathisch unterlegter Indikation. Zu dieser Subjektivierung der medizinisch-sozialen Indikation generell s. Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 90 ff. 54 So Monika Knoche (BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN) in der FAZ vom 28. 08. 2002, S. 10 (hier zit. nach Schmidt-Recla / Schumann, MedR 2002, 645). 55 So etwa dann, wenn – wie in BGH NJW 2003, 3411, 3412 – bei einer Schwangeren wegen eines Bruches zweier Wirbel eine erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung mit der Notwendigkeit einherginge, ein schwer behindertes Kind ständig zu tragen, die Behinderung aber so „leicht“ ist, dass sich das Getragen-Werden-Müssen in engen, die Gesundheit nicht maßgeblich verschlechternden Grenzen hält. 56 BT-Ds. VI / 3434, S. 20; psychoneurotische Persönlichkeitsverbiegungen, neurasthenische Entwicklungen mit ständigen Versagenserlebnissen und depressive Fehlentwicklungen sollen eingeschlossen sein. 57 BT-Ds. VI / 3434, S. 21 f.; s. zu diesem Begriff Hillenkamp, FS Katoh, 2008, S. 158 f. Er eignet sich freilich nur „mit Vorbehalt“ für die „Würdigung individueller gesundheitlicher Verhältnisse“ und ist auch nach dem Willen des Gesetzgebers nur insoweit verwertbar, als „auch die sozialen Zusammenhänge in Rechnung gestellt werden müssen“ (a. a. O., S. 22).

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verbunden sind.58 Für eine solche Auslegung spricht auch, dass § 1905 Abs. 2 BGB als schwerwiegende Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren auch die „Gefahr eines schweren und nachhaltigen Leides“ ausreichen lässt, das der Schwangeren droht, wenn man sie von ihrem Kind trennt. „Leid“ ist weniger als Krankheit.59 All das bedeutet nun sicher nicht, dass schon dessen Gesundheitszustand bedroht ist, „der bei intakter physischer und geistiger Gesundheit“ lediglich „in seinem sozialen Wohlbefinden – zum Beispiel in seiner sozialen Geltung, in seinem Einkommen oder in seiner beruflichen Befriedigung – beeinträchtigt ist“.60 Auch berücksichtigt die unabdingbare Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes zu wenig, wer nach wie vor „eine zeitlich, kräftemäßig oder wirtschaftlich unzumutbare Überforderung der Schwangeren“ ausreichen lässt und damit die Eignung der medizinisch-sozialen Indikation als Auffangtatbestand für die embryopathische behauptet.61 Es werden die Anforderungen aber überspannt, wenn ein „deutlicher Krankheitswert“62 zur Voraussetzung gemacht wird. In dieser Richtung steht die Zivilrechtsprechung in Verdacht. Sie hat zwar den „deutlichen Krankheitswert“ bislang nicht zur Bedingung gemacht. Es fällt aber auf, dass sie zur Rechtfertigung einen sehr erheblichen, an manifeste Krankheitsbilder gemahnenden Schweregrad der seelischen Beeinträchtigung verlangt und dabei auf jeden Abgleich mit den hier zitierten Gesetzesquellen und der an sie angelehnten, im Strafrecht h.L. verzichtet. So reichen z. B. ein bei der Geburt eines mongoloiden Kindes erlittener „Schock“ und eine „sich daraus entwickelnde Depression“, die zu einer dreimonatigen völligen Ablehnung des Kindes, wochenlangen Weinkrämpfen, Kopfschmerzen und anhaltender Schlaflosigkeit sowie zu „massiven Suizidgedanken“ geführt haben, dem OLG Stuttgart nicht aus, auch wenn diese Reaktionen im Zeitpunkt der schuldhaft unterlassenen Aufklärung über die Behinderung des Kindes „vorausschauend zu befürchten gewesen“ wären.63 In einer solchen Verengung findet 58 S. Arzt / Weber, Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 5 Rn. 62; Eschelbach, in: Beck-OK (o. Fn. 46), § 218a Rn. 20; Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 26; Lackner / Kühl (o. Fn. 39), § 218a Rn. 11 / 12; Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 34, 37 ff.; Gropp, in: MKStGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 44 f.; Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 90 ff.; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 29 f.; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 27 f. 59 Die Kommentierungen zu § 1905 Abs. 1 Nr. 4 BGB verweisen bisweilen auf strafrechtliches Schrifttum zu § 218a Abs. 2, s. z. B. Erman-Roth, BGB, 11. Aufl. 2004, § 1905 Rn. 15; Schwab, in: MK-StGB-BGB, 4. Aufl. 2002, § 1905 Rn. 22. 60 BT-Ds. VI / 3434, S. 22. 61 S. Lackner / Kühl (o. Fn. 39), § 218a Rn. 14, die sich für ihre zu weite Auffassung auf Quellen (BT-Ds VI / 3434, S. 24; BVerfGE 39, 1, 49; 88, 203, 256) berufen, in denen die Legitimation eines Schwangerschaftsabbruchs jenseits der medizinischen Indikation begründet wird. 62 Von ihm spricht BGHZ 151, 133, 140. 63 OLG Stuttgart NJW-RR 2003, 1256 f.; die später tatsächlich eingetretene Gesundheitsbeeinträchtigung der Frau gilt dem Zivilgericht zu Recht „lediglich als Indiz“ für die ex

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sich weniger die Rechtslage als die oben schon vermutete Scheu der Zivilrichter wieder, einem in der fehlenden Aufklärung über die Behinderung liegenden Behandlungsfehler „vorschnell“ einen umfangreichen Schadensersatzanspruch folgen zu lassen.64 Das aber ist für das Strafrecht nicht maßgeblich. Das gilt auch dann, wenn sich die Zivilrechtsprechung für die von ihr errichteten hohen Hürden vornehmlich darauf beruft, dass von einer „schwerwiegenden“ Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes nur dann die Rede sein könne, wenn sie „die insoweit zu ziehende Opfergrenze für den Ausnahmetatbestand der Rechtfertigung der mit dem Tode des Embryos verbundenen Abtreibung aus medizinischer Indikation“ überschreite.65 Darin liegt zwar die im Ansatz richtige Erwägung, dass die Aufopferung werdenden Lebens bei lapidaren oder leicht behebbaren seelischen Beeinträchtigungen unverhältnismäßig wäre. Das ist mit dem Begriff „schwerwiegend“ ausgedrückt. Es ist aber ein Fehlschluss aus der Formel von der „zumutbaren Opfergrenze“, wenn über sie eigentlich schwerwiegende seelische Beeinträchtigungen hinzunehmen sein sollen. Eine solche Folgerung geht daran vorbei, dass das Bundesverfassungsgericht die Beachtung der zumutbaren Opfergrenze nicht dem Rechtsinterpreten, sondern dem Gesetzgeber aufgibt. Er soll die Rechtfertigung eines Schwangerschaftsabbruchs aus anderen als den hergebracht anerkannten Gründen davon abhängig machen, dass „der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die – vergleichbar den Fällen der medizinischen und embryopathischen Indikation . . . – so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt“.66 Nicht aber soll der Richter diese Opfergrenze in der (bereits geregelten) medizinisch-sozialen Indikation selbstständig und neu bestimmen. Sie ist bei einer schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung überschritten. Dazu reichen Umstände nicht, „die im Rahmen der Normalsituation einer Schwangerschaft verbleiben“. Es reichen aber „Belastungen“ aus, „die ein solches Maß an Aufopferung eigener Lebenswerte verlangen, dass dies von der Frau nicht erwartet werden kann“.67 Das ist ein anderer Maßstab, als der einer (erneuten) Abwägung zwischen Gesundheit der Frau und (behindertem) Leben des Feten. Eben das ist vom 6. Zivilsenat nunmehr selber erkannt, wenn er schreibt: „Liegen die Voraussetzungen des § 218 II StGB vor, so post anzustellende Prognose; ebenso BGH NJW 2003, 3411, 3412; s. auch BGH NJW 2002, 886, 888 (noch zum vormaligen Recht). 64 Insbesondere die Berufungsgerichte scheinen hierzu mehr als der BGH selbst zu neigen, s. die diesbezügliche Rüge in BGH NJW 2003, 3411, 3412 sowie die vorinstanzliche Bewertung in BGHZ 95, 199, 202. 65 BGHZ 151, 133, 141; BGH NJW 2002, 886, 887; OLG Stuttgart NJW-RR 2003, 1256. 66 BVerfGE 88, 203, 272. 67 BVerfGE 88, 203, 257; das „schwerwiegend“ bezeichnet dann, was der Frau individuell unzumutbar ist; dem folgt die Bestimmung dieses Begriffes durch die im Strafrecht h. L., s. z. B. Eschelbach, in: Beck-OK (o. Fn. 46), § 218a Rn. 20; Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 26; Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 41; Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 45; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 30; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 28.

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ist der Schwangerschaftsabbruch von Gesetzes wegen erlaubt. Die erforderliche Abwägung zwischen dem Lebensrecht des Kindes und den Belastungen der Mutter hat der Gesetzgeber durch die Ausgestaltung dieses Tatbestandes bereits vorgenommen. . . weiterer Voraussetzungen, die im Wege einer zusätzlichen Abwägung zu berücksichtigen wären, bedarf es nicht“.68 Das verdient Zustimmung; denn nur das wird der medizinisch-sozialen Indikation als einem speziellen Fall des rechtfertigenden Notstandes gerecht, in dem die Opfergrenze bereits durch eine „gesetzgeberische Vorwegabwägung“ festgelegt ist.69 Schon die vorstehend erörterte Lebens- oder Gesundheitsgefahr ist nach „ärztlicher Erkenntnis“ zu beurteilen. Art, Grad und Schwere, auch die Wahrscheinlichkeit70 der kindlichen Auffälligkeit sind wie Art, Schwere und Dringlichkeit der aus der Befundmitteilung erwachsenden Gefahr im Rahmen der embryopathisch ausgelösten Indikation nach dem jeweiligen Stand und den „Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft“ zu bemessen. Die Ersetzung dieser ursprünglichen Wortwahl durch „ärztliche Erkenntnis“ erweitert die Beurteilungsgrundlage auf alle (auch nicht i.e.S. medizinisch-technische) Faktoren, die für die ärztliche Beurteilung von Bedeutung sind.71 Soweit soziale oder psychologische Fragen namentlich im Zusammenhang mit den gegenwärtigen oder zukünftigen Lebensverhältnissen zu beantworten sind, kann sich der Arzt auf seinen „gesunden Menschenverstand“ verlassen, muss sich aber, wenn er sich überfordert sieht, wie auch bei medizinisch über sein Fachwissen hinausgehenden Fragen beraten lassen. Zu all dem gilt in pränataldiagnostisch bedingten Konfliktlagen im Grundsatz nichts Besonderes gegenüber den Kernfällen der überkommenen medizinisch-sozialen Indikation. Das gilt auch insoweit, als bei Vorliegen der bezeichneten Gefahr der Abbruch der Schwangerschaft nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn er – abermals nach ärztlicher Erkenntnis – „angezeigt ist, um“ die Gefahr „abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere“, für die Schwangere „zumutbare Weise abgewendet werden kann“. Es besteht aber Anlass, auch hierzu etwas zu sagen. 68 BGH NJW 2006, 1660, 1661 f.; der Senat korrigiert damit seine anders lautende, zumindest missverstehbare Forderung in BGHZ 151, 133, 141, auch bei medizinischer Indikation eine richterliche „Güter- und Interessenabwägung“ zur Bestimmung der „Opfergrenze“ vorzunehmen. Schon in dieser Entscheidung war mit der Bezugnahme auf BGHZ 129, 178, 183 f. übergangen, dass es dort – wie in der Entscheidung des BVerfGE 88, 203, 272 ff.– um die Anforderungen einer Notlagenindikation jenseits der medizinisch-sozialen bzw. embryopathischen Indikation ging. 69 S. hierzu Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 15; Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 36; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 22. 70 Bei unsicherer Schädigung muss sich der Arzt fachkundiger Beratung bedienen; bleibt auch danach die Schädigung unsicher, darf ihr Wahrscheinlichkeitsgrad, wie bei der Lebensgefahr der Schwangeren (s. dazu BT-Ds. VI / 3434, S. 21) – umso geringer sein, umso schwerwiegender die vermutete Schädigung ist; es gilt die Sorgfalt des besonnenen und gewissenhaften Arztes, s. Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 99. 71 Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 18; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 36.

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Zum einen ist daran zu erinnern, dass der Gesetzgeber in dem hier in Frage stehenden Spezialfall eines rechtfertigenden Notstandes schon generell die Rechtfertigung nicht davon abhängig macht, dass die Gefahr (für die Schwangere) nicht anders als durch die Tat abwendbar, der Schwangerschaftsabbruch also „notwendig“, sondern nur, dass er „nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt“ ist und dass eine anderweitige Abwendbarkeit auch nur dann in Betracht kommt, wenn der für sie zu beschreitende Weg der Schwangeren zugemutet werden kann. Beides lockert die strengeren Notstandsregeln auf und gibt einer gegenüber der allgemeinen Notstandsregelung „differenzierenden ärztlichen Erwägung Raum“.72 Das erlaubt es dem Arzt, schon bei physiologisch bedingter Gesundheits- oder Lebensgefahr nach den „Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft“ aussichtsreiche, die Schwangere aber unzumutbar belastende Alternativen beiseite zu lassen und den für ihre Güter (und nicht das Eingriffsgut) schonenderen Weg einzuschlagen.73 Geht es um die seelische Gesundheit, gilt dies erst recht. Bei einer schwerwiegenden Gefahr für die seelische Gesundheit werden deshalb psychotherapeutische wie psychopharmakologische Optionen, werden sie von der Schwangeren abgelehnt, ebenso ausscheiden, wie eine zur Suizidprophylaxe gebotene stationäre Unterbringung der Schwangeren.74 Sonst erwogene Alternativen wie finanzielle Hilfen oder die Weggabe des Kindes zur Adoption spielen im Zusammenhang mit den hier erörterten Konflikten ohnehin keine praktische Rolle. Zum anderen ist daran zu erinnern, dass nach der im Zivil- und im Strafrecht übereinstimmenden Auffassung des BGH75 der Begriff der „ärztlichen Erkenntnis“ einen „ärztlichen Beurteilungsspielraum“ eröffnet, der der Nachprüfbarkeit Grenzen setzt.76 Zwar überlässt das Gesetz den Abbruch nicht dem „freien ärztlichen Belieben“. Auch ist die „Erkenntnis einer Person . . . nicht schon deshalb eine ,ärztliche‘, weil diese Person Arzt ist“. Vielmehr verdient sie „diese Bezeichnung nur, wenn der Arzt, der sie gewinnt, hierbei die Regeln seines Berufs beachtet“.77 Der 1. Straf- und der 6. Zivilsenat stimmen aber darin überein, dass der Arzt dagegen zu schützen ist, „dass eine von ihm bejahte Indikation nachträglich allein aufgrund anderer Gewichtung der maßgeblichen Faktoren als nicht bestehend und seine Entscheidung letztlich als rechtswidrig bewertet“ wird.78 Das gilt nach dem 1. StrafBT-Ds. VI / 3434, S. 20. Dabei ist zu beachten, dass natürlich auch der Schwangerschaftsabbruch erhebliche Belastungen mit sich bringt, s. BT-Ds. VI / 3434, S. 20 f. 74 Das ist – bezüglich einer Zwangsbehandlung oder Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus – allgemeine Meinung, s. z. B. Eschelbach, in: Beck-OK (o. Fn. 46), § 218a Rn. 21; Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 28; Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 45; Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 49; Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 126; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 34; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 34. 75 BGHSt 38, 144; BGHZ 95, 199. 76 BGHZ 95, 199, 204. 77 BGHSt 38, 144, 152; was diese Beachtung bedeutet, ist a. a. O., S. 154 ff., näher dargelegt. 72 73

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senat umso mehr, „als die Fassung des Gesetzes wertende Entscheidungen verlangt, die zwangsläufig in erheblichem Umfang nicht oder jedenfalls nicht voll objektivierbar“ sind.79 Das alles bedeutet zwar nicht, dass die richterliche Prüfung „bei der Feststellung Halt machen“ kann, „die ärztliche Sachverhaltsaufklärung“ sei nicht zu beanstanden. Vielmehr müssen sich Richter oder Staatsanwalt „notwendigerweise auch mit der getroffenen Entscheidung befassen“.80 Dabei haben sie sich aber auf die Frage zu beschränken, ob „die Indikationsstellung »nach ärztlicher Erkenntnis« in der damals gegebenen Situation vertretbar“ war. War sie es, hat sie rechtfertigende Wirkung.81 Die h. L. im Strafrecht stimmt dieser Auffassung zu.82 Sie ist auch durch eine Entscheidung des 6. Zivilsenats nicht relativiert. Denn sie entzieht die ärztliche Entscheidung „nicht jeder staatlichen Überprüfung“, sondern billigt den Ärzten nur „gewisse Entscheidungsspielräume“ zu. Das aber ist mit den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts vereinbar.83 Dass diese Aussagen auch die hier erörterten Fälle betreffen, ergibt sich daraus, dass die von den Senaten zur Begründung ihrer Auffassung herausgestellten gesetzesbedingten Unsicherheiten bei der prognostischen Bewertung seelischer Entwicklungen besonders zu Buche schlagen.84 Hier ist es sachgerecht, dem Arzt die „Gewissheit“ zu geben, dass er nicht gegen das Strafgesetz verstößt, „wenn er entsprechend den Regeln seines Standes und nach seiner pflichtgemäßen Erkenntnis zu der Überzeugung gelangt, eine Indikation sei gegeben“.85

BGHZ 95, 199, 207; BGHSt 38, 144, 153. BGHSt 38, 144, 153. 80 BGHSt 38, 144, 156. 81 BGHZ 95, 199, 206; BGHSt 38, 144, 158, 159 f. 82 S. Eschelbach, in: Beck-OK (o. Fn. 46), § 218a Rn. 23, Fischer (o. Fn. 18), § 218a Rn. 19; Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 48; Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 51 f.; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 36; mit teilweise abw. Begründung, i. E. aber ähnlich Lackner / Kühl (o. Fn. 39), § 218a Rn. 10; Merkel, in: NKStGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 135 f.; Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 39. 83 S. zu Einschränkungen für die Überprüfung einer Notlagenindikation BGHZ 129, 178, 182 ff.; die Entscheidung beruft sich auf BVerfGE 88, 203, 274; mit dessen Forderung nach staatlicher Überprüfung stimmt ein den entscheidenden Personen vom Gesetzgeber zugemessener Entscheidungsspielraum aber überein, s. BGHSt 38, 144, 154. 84 Die zivilrechtliche Rechtsprechung verlangt in Fällen embryopathisch unterlegter Indikation deshalb, dass sich der Richter zur Bildung seines Urteils i. d. R. eines Sachverständigengutachtens bedient, s. BGH NJW 2003, 3411, 3412. 85 BGHSt 38, 144, 153; das darf natürlich nicht dahin missverstanden werden, dass der Arzt die gesetzlichen Vorgaben dabei verfehlen und sich eine eigene Rechtsordnung bauen dürfe; dann hilft nur ein Irrtum. 78 79

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IV. Gilt für den „Spätabbruch“, gilt bei Lebensfähigkeit des Feten das vorstehend Erörterte einschränkungslos auch?86 Die gesetzliche Antwort ist eigentlich: ja; denn die medizinisch-soziale Indikation ist wie ihr historisches Vorbild87 in keiner Weise befristet. Auf den Entwicklungsstatus des Embryos, auf seine Lebensfähigkeit kommt es folglich nicht an. Auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist „kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen“, dass nur „eine derartige Befristung in Fällen der medizinischen Indikation“ der Verfassung entspräche.88 Im Gegenteil ist hiernach das „verfassungsrechtlich gebotene Maß des Schutzes“ gerade „unabhängig vom Alter der Schwangerschaft“, verträgt das Lebensrecht keine „dem Entwicklungsprozess der Schwangerschaft folgende Abstufungen“.89 Nach Grundrechtsträgern 1. und 2. Klasse90 wird nicht unterschieden. Andererseits „kann von der Mutter, wenn schwerwiegende Gefahren für ihr Leben oder ihre Gesundheit drohen . . . , ebenfalls während der gesamten Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich nicht verlangt werden, dass sie ihre eigenen existenziellen Belange und Rechtspositionen denen des Kindes aufopfert“.91 Die Konsequenz der Einbeziehung der embryonal motivierten Schwangerschaftsabbrüche in die medizinisch-soziale Indikation ist es deshalb, dass das auch dann gilt, wenn die gesundheitliche Gefährdung der Mutter daher rührt, dass sie „konstitutionell nicht in der Lage ist, während der Schwangerschaft und nach der Geburt eines schwer behinderten Kindes die damit verbundenen Belastungen und Verantwortlichkeiten psychisch zu bewältigen“.92 Der Schwangerschaftsabbruch geschieht auch in diesen Fällen nicht um der Behinderung, um der Auslöschung behinderten Lebens willen, sondern allein, um die Rechtsgüter der Mutter vor unzumutbarer Aufopferung zu schützen. Auf dieses Ziel ist die medizinische Indikation schon immer verpflichtet. Ist das Ziel nur erreichbar, wenn der Fetus stirbt, ist seine Tötung als Mittel das notwendige Zwischenziel. Das aber gilt ohne Rücksicht auf das die psychische Bedrängnis bedingende „Motiv“.93 Daher ist es auch nicht richtig, dass ein Perspektivenwechsel die Rechtfertigung der embryopathisch motivierten gegenüber der (sonst) medizinisch veranlassten Konfliktlösung erschwert; denn beide sind keineswegs „im Hinblick auf das ungeborene Leben radikal gegensätzlichen Maximen verpflichtet“.94 Vielmehr nehmen Arzt und Schwangere die gezielte S. zu Bedenken hierzu schon einleitend unter I. bei Fn. 6. RGSt 61, 242. 88 BGHZ 151, 133, 140. 89 BVerfGE 88, 203, 254. 90 Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 107. 91 BGHZ 151, 133, 141. 92 BGHZ 151, 133, 141. 93 Überspitzt heißt es bei Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 55, dass schon von Beginn an (RGSt 61, 242, 257 f.; BGHSt 3, 7, 9) einziges Ziel eines wegen Suizidgefahr durchgeführten Schwangerschaftsabbruchs die Tötung der Leibesfrucht ist. 86 87

Zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik

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Tötung der Frucht immer nur als notwendiges Mittel der Auflösung der Gesundheits- oder Lebensgefahr der Mutter in Kauf.95 Wenn gleichwohl Besonderheiten beim (pränataldiagnostisch veranlassten) Spätabbruch zu berücksichtigen sein sollen, so bedarf das jeweils auch besonderer Begründung. Sie kann nicht daraus fließen, dass sich „ . . . in den Fällen gegebener extrauteriner Lebensfähigkeit der Schutzanspruch des ungeborenen Kindes aus ärztlicher Sicht nicht von demjenigen des Geborenen“ unterscheide.96 Denn diese Sicht trifft rechtlich de lege lata nicht zu.97 Es ist deshalb nicht leicht, die allgemein für richtig gehaltene Auskunft zu bestätigen, „die Dauer der Schwangerschaft und die daraus resultierende Situation für Mutter und Kind“ müssten in dem Sinne „Berücksichtigung finden“,98 „dass je später der Abbruch . . . erfolgt, desto schwerwiegender auch die bei Fortbestehen der Schwangerschaft drohenden Gefahren“ zu sein hätten. Rudolphi, der das lehrt, beruft sich auf die Begründung des 5. StrRG, nach der „die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft noch weiter“ zunehmen soll.99 So gut vertretbar das „ethisch“ ist, so wenig ist es mit dem Abstufungsverdikt des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Deshalb ist von faulen Zugeständnissen an ein hier gut begründbares, die Botschaft des Bundesverfassungsgerichts aber verwässerndes „Rechtsgefühl“ abzuraten.100 Schwerwiegender als schwerwiegend, besonders 94 So aber Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 81; Erklärung (o. Fn. 1), A-3013: dass „bei der traditionellen mütterlich medizinischen Indikation die Tötung nicht das Ziel, immer aber die unvermeidbare Konsequenz ist, während bei der jetzt mitumfassten ,embryopathischen‘ Indikation wegen der Unzumutbarkeit für die Schwangere durchaus die Tötung des Kindes gemeint ist“, macht einen so nicht bestehenden Gegensatz auf. 95 Ist die Bedrohung durch die bloße Auflösung der „Zweiheit in Einheit“ (BVerfGE 88, 203, 253) aufhebbar, führt auch bei einem embryopathisch motivierten Abbruch das Überleben nicht zum „Misslingen“, sondern zu einem „gewünschten Erfolg“; das übersieht Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 81, der – wie die BÄK (o. Fn. 93) – nur die Fälle der Bedrohung durch das „Haben“ des Kindes ins Auge fasst. 96 Erklärung (o. Fn. 1), A-3015. 97 De lege ferenda so Gropp, GA 2000, 1, 7 ff.; auch Lackner / Kühl (o. Fn. 39), § 218a Rn. 16 behaupten, „Spätabtreibungen“ seien „nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich bedenklicher als frühere Abtreibungen“. Auf die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich das aber nicht stützen; rechtlich (und eigentlich auch medizinethisch) konsequent wäre nach der Auffassung der BÄK, dass „Spätabtreibungen mit dem Lebensrecht . . . unvereinbar sind“, so in der Tat Eschelbach, in: Beck-OK (o. Fn. 46), § 218a Rn. 24. 98 BGHZ 151, 133, 141 behauptet das, obwohl „das Lebensrecht des Kindes dem Grunde nach eine zeitliche Differenzierung der Schutzpflicht nicht zulässt (vgl. BVerfGE 88, 203, 254, 257)“. 99 Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 28; BR-Ds. 58 / 72, S. 21; bei Beeinträchtigungen des psychischen Gesundheitszustandes soll nach der Begründung des 5. StrRG deshalb der Abbruch „in aller Regel . . . nur während des ersten Drittels“, in späteren Stadien „nur noch bei besonders schwerwiegenden Gesundheitsgefahren“ oder bei „Lebensgefahr“ zulässig sein. 100 Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 107, der den Widerspruch zur Auffassung des BVerfG sehr deutlich macht, stützt seine Gefolgschaft auf ethisch-moralische Statusunterschiede im Leben des Feten.

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schwerwiegend müssen die (prospektiven) Beeinträchtigungen des seelischen Gesundheitszustandes auch beim Spätabbruch für die Rechtfertigung nicht sein. Auch sollte man „nur“ schwerwiegende Beeinträchtigungen der Schwangeren (contra legem) in diesem Stadium rechtlich nicht zumuten.101 Vielmehr sollte man den Rahmen der vom Gesetzgeber eingeräumten Rechtfertigungsmöglichkeit auch bei einem embryopathisch unterlegten Spätabbruch in dem Vertrauen respektieren, dass die Beteiligten sich angesichts der Lebensfähigkeit der Frucht und dem ja bis dahin dokumentierten Willen, das Kind haben zu wollen, zur Fruchttötung nur entschließen, wenn jeder andere Weg der Frau tatsächlich unzumutbar ist.102 Allein hierauf kommt es an. Dazu ist freilich nochmals daran zu erinnern, dass es auch beim Spätabbruch nur um den Schutz der gefährdeten Belange der Frau, nicht aber um eine Rechtfertigung nach Taxierung des Grades der Behinderung des Feten geht. Aus diesem Grund ist es ein rechtlich unzulässiger Transfer der vormals embryopathischen Indikation in ihre neue Heimstatt, wenn in Fällen eines „perinatal nicht lebensfähigen Kindes“103 behauptet wird, der Abbruch sei allein deshalb zulässig, „weil die mit der Fortsetzung der Schwangerschaft verbundene sinnlose Belastung der Schwangeren unzumutbar wäre“.104 Diese wohl auch unter Ärzten verbreitete Ansicht105 kann sich zu ihrer Rechtfertigung weder darauf stützen, dass die mit dem Leben unvereinbare Behinderung postnatal unter Umständen dazu berechtigt, lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen, noch darauf, dass das Leben „ohnehin“ verloren wäre. Auch über Sinnlosigkeit106 und Unzumutbarkeit verbietet sich ein allgemeingültiges Urteil. Vor allem aber ist der Verzicht auf eine schwerwiegende Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes – wo er erklärt wird – contra legem.107 Man sollte daher auch in diesen Fällen darauf beharren, dass nach 101 Dass die Zumutbarkeit anderer Abwendungsmaßnahmen (welcher?) zu steigen habe, behaupten z. B. Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 53; Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 53; Eser, in: Schönke / Schröder (o. Fn. 45), § 218a Rn. 42. 102 Für diese Vermutung spräche noch mehr, wenn die von der Ärzteschaft vorgeschlagene obligatorische Beratung Wirklichkeit würde (s. Vorschlag, o. Fn. 1), §§ 218a Abs. 2b, 219a – neu. 103 Ob der Gebrauch des Wortes „perinatal“ (statt postnatal) bei Lackner / Kühl (o. Fn. 39), § 218a Rn. 17 und Gropp, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 65 im medizintechnischen Sinne (die Perinatalperiode umfasst nach Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 257. Aufl. 1994 den „Zeitraum zw. dem Ende der 28. SSW u. dem 7. Lebenstag [einschl.] nach der Geburt“) gemeint ist, ist zweifelhaft, weil bei den angeführten Beispielen ein Leben über den 7. Tag hinaus nicht ausgeschlossen ist. 104 Lackner / Kühl (o. Fn. 39), § 218a Rn. 17. 105 S. Erklärung (o. Fn. 1), A-3015. 106 In einer beratenden Kommission, der ich angehöre, wurde berichtet, dass sich Schwangere auch in solchen infausten Fällen bisweilen ein Abschiednehmen vom geborenen Kind wünschen, also einen Sinn mit dem Austragen des Kindes verbinden. 107 Das ist bei Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218 Rn. 4, und Merkel, in: MK-StGB (o. Fn. 33), § 218a Rn. 120 ff. gesehen; die Rechtfertigungsfähigkeit wird aber gleichwohl praeter legem bejaht.

Zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik

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ärztlicher Erkenntnis bei einer Fortsetzung der Schwangerschaft eine schwerwiegende Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren zu befürchten ist. Nur das bewahrt auch die Schwangere davor, sich den Abbruch, den sie selbst sich nicht wünscht, allzu nahe legen zu lassen.108 Muss die Geburt eines lebenden Kindes verhindert werden, um das Ziel der medizinisch-sozialen Indikation zu erreichen, ist schließlich der Fetozid i. d. R. das Mittel der Wahl.109 Hierzu erstaunt, dass diese Aussage umstritten ist.110 Da bei Lebensfähigkeit Schmerz- und Empfindungsfähigkeit möglich sind, ist der Fetozid die den Fetus schonendste Art seiner Tötung. Dass sie „gezielt“ im Mutterleib geschieht, mag schrecken. Es ist aber schon gesagt, dass ein „Perspektivenwechsel“ hierin nicht liegt: Schon immer musste der Fruchttod bewirkt werden, wo ohne ihn die Gefahr für die Schwangere nicht wich. Das hat mit Pränataldiagnostik und ihren Folgen nichts Spezielles zu tun. Im Übrigen ist die Tötung im Mutterleib einer Frau eine Form der Abtreibung, die das Reichsstrafgesetzbuch noch ausdrücklich nannte. Spricht „ärztliche Erkenntnis“ für sie, ist der Fetozid selbst folglich erlaubt.111 Nicht geht es freilich um einen Schwangerschaftsabbruch nach, sondern um einen durch Fetozid; denn Schwangerschaftsabbruch heißt im Strafrecht nichts anderes als Tötung der Frucht. V. Sollte, muss man die gegenwärtige Rechtslage ändern? Die Antwort ist für viele ein (dringendes) Ja! Über das „Wie“ gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Nur wenige wollen zum status quo ante zurück, die embryopathische Indikation wieder einführen, für den Fall fehlender Lebensfähigkeit des Feten den Abbruch allerdings von der (alten) Befristung entbinden.112 Manche wollen ab Eintritt der Lebensfähigkeit von „Menschqualität“ sprechen und die embryopathische Indikation hierdurch begrenzen.113 Wenige plädieren polemisch und platt: 108 Auch wenn es bei der kritisierten Lehre um Rechtfertigung und nicht um Erweiterung der Strafbarkeit geht, ist mit BGHSt 38, 144, 151 zu bedenken, dass es nicht „Aufgabe des Richters ist . . . , das Gesetz so zu gestalten, wie der eine oder andere es gerne gestaltet sähe, weil er es so für richtig hielte“, sondern dass es „Sache des Richters ist . . . , das Gesetz so anzuwenden, wie es gestaltet ist“. Das ist auch vom Kommentator zu beherzigen, der dem Richter sagt, wie das Gesetz zu verstehen und anzuwenden ist. 109 Als Möglichkeit des Spätabbruchs dargestellt in Erklärung (o. Fn. 1), A-3015. 110 Abl. z. B. Schumann / Schmidt-Recla, MedR 1998, 501 f.; Wiebe, ZfL 2002, 74. 111 Überzeugend begründet bei Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 108 ff. m. w. N. 112 So z. B. Deutsch ZRP 2003, 382, 385; Katzenmeier, JR 2003, 31. Schmidt-Recla / Schumann, MedR 1998, 504, plädieren für eine 20-Wochen-Frist und wollen danach einen Schwangerschaftsabbruch nur durch Geburtseinleitung zulassen; ausführlicher Überblick bei Hofstätter (o. Fn. 4), S. 135 ff., 198 ff. 113 S. z. B. Gropp, GA 2000, 1 ff.; Philipp, Frauenarzt 1998, 1504, 1512; zust. Rudolphi, in: SK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 8a.

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„Spätabtreibungen dürfen künftig nicht mehr erlaubt sein!“114 Was – wenn überhaupt – an Änderung kommt, ist noch offen,115 was – wenn überhaupt – kommen sollte, sei abschließend aber wenigstens kurz noch gesagt. Da der wesentliche „Stein des Anstoßes“, der es bewirkt, dass auf diesem politisch verminten Feld nach dem 1995 mühsam errungenen Kompromiss gesetzgeberischer Handlungsbedarf eingeräumt wird, fraglos das vermeintliche Menetekel ist, es könnten lebensfähige Kinder aufgrund ihrer Behinderung noch in der Spätphase getötet werden, sollte es eigentlich schon helfen, wenn man dieser Verzerrung – wie hier geschehen – durch eine gesetzestreue Auskunft entgegentritt. Hiernach sind pränataldiagnostisch ausgelöste Schwangerschaftsabbrüche ausschließlich nach den seit Reichsgerichtstagen im Grundsatz anerkannten Maßstäben der medizinisch-sozialen Indikation zu bemessen. Dass sie bis zum Beginn der Geburt – also ohne Frist – gelten, ist so gut wie außer Streit. Dabei sollte es bleiben. Bei embryopathischer Problematik trägt das auch dazu bei, vorzeitige „Panikabbrüche“ zu vermeiden.116 Behinderung selbst ist niemals ein Rechtfertigungsgrund. Das stellt das heutige Recht eindeutig klar, auch für den Fall infauster Prognose.117 Deshalb wäre es richtig und gut, es so zu belassen, wie es ist und auf die zu hören, die nur für das Feld des Spätabbruchs – und hier generell und für alle Fälle der medizinisch-sozialen Indikation – Klarstellung, Beratung und genauere (statistische) Erfassung vorschlagen.118 Das diente der Rechtsklarheit und dem Lebensschutz und stellte die in § 218a Abs. 2 StGB gefallene Grundsatzentscheidung zu Recht nicht in Frage.

114 Rüttgers, ZRP 2007, 71, nach verzerrender Darstellung der Abtreibungswirklichkeit; die Forderungen der CDU sind im Übrigen deutlich differenzierter, s. BT-Ds. 15 / 3948 (v. 19. 10. 2004), S. 3 ff. 115 Auf (wohl) keinem Gebiet hat die dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht in seinen Grundsatzurteilen zur Fristenlösung auferlegte Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht (BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203, 269) zu soviel Aktivität geführt wie hier: s. den Bericht der „Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des Strafgesetzbuches“ mit Stellungnahme der BReg, BT-Ds. 8 / 3630 v. 31. 01. 1980; die beiden umfangreichen Antworten der BReg auf zwei „Kleine Anfragen“ in BT-Ds. 13 / 5364 vom 29. 07. 1996; BT-Ds. 14 / 1045 vom 10. 05. 1999; ferner die maßgeblich von der Erklärung der BÄK (o. Fn. 1) und den Positionspapieren der DGGG (Fn 13) angeregten Anträge der CDU / CSU (BT-Ds 15 / 3948 vom 19. 10. 2004), der FDP (BT-Ds 15 / 5034 vom 9. 03. 2005) und der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN (BT-Ds 15 / 4148 v. 10. 11. 2004). 116 S. Kröger, in: LK-StGB (o. Fn. 40), § 218a Rn. 52 m. w. N. 117 Das gilt allerdings nur, wenn man dem hier vertretenen Standpunkt folgt; Klarstellung regt insoweit zu Recht an Merkel, in: NK-StGB (o. Fn. 30), § 218a Rn. 112. 118 Auf die in diese Richtung zielenden, sehr beachtlichen Vorschläge der BÄK und der DGGG (o. Fn. 1) kann hier nicht mehr näher eingegangen werden; sie gehen auf die Erklärung (o. Fn. 1) und die Positionspapiere (o. Fn. 13) zurück, die in den Anträgen der Fraktionen (o. Fn. 114) erheblichen Anklang gefunden haben.

Die Auswirkungen der Osterweiterung der Europäischen Union auf das deutsche Steuerstrafrecht Von Markus Jäger

I. Einführung Aufgrund der Empfehlungen der Unabhängigen Föderalismuskommission des Deutschen Bundestages und Bundesrates vom 27. Mai 1992 wurden im Jahr 1997 der bis dahin in Berlin ansässige 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs und die diesem Senat zugeordnete Dienststelle des Generalbundesanwalts nach Leipzig verlagert. Knut Amelung, der bereits mit großem Engagement und außerordentlicher Leidenschaft am Aufbau einer – in nur wenigen Jahren zu einem hervorragenden Ruf gelangten – juristischen Fakultät an der Technischen Universität Dresden mitgewirkt hatte, erkannte sofort die Möglichkeiten, die sich für die Fakultät aus der räumlichen Nähe zu einem Strafsenat des Bundesgerichtshofs ergaben. Seine Idee, Studenten das Entstehen höchstrichterlicher Rechtsprechung miterleben zu lassen und ihnen den unmittelbaren Kontakt zu den Urhebern dieser Rechtsprechung zu ermöglichen, wurde beim 5. Strafsenat wohlwollend aufgenommen. Schon bald wurden die Besuche von Studentengruppen der Dresdner Fakultät anlässlich von Hauptverhandlungen des Bundesgerichtshofs in Leipzig zu einer festen Größe im Kalender des 5. Strafsenats. Sie waren jeweils verbunden mit einer Einführung in die Rechtsfragen des zu verhandelnden Falles und einer der Urteilsverkündung folgenden näheren Erläuterung der Entscheidungsgründe durch Mitglieder oder wissenschaftliche Mitarbeiter des Senats. Der Jubilar erkannte auch, dass gerade die neben der Zuständigkeit für allgemeine Strafsachen bestehende Sonderzuständigkeit des Leipziger Strafsenats für Revisionen in Steuer- und Zollstrafsachen1 den Studenten die Chance bot, durch das Gespräch mit Richtern des Senats einen guten Einblick in die Auswirkungen der bevorstehenden Veränderungen im Rechtsraum der Europäischen Union auf das nationale Strafrecht zu erhalten. Handelt es sich doch beim Steuerstrafrecht als Blankettstrafrecht um eine Rechtsmaterie, die in erheblichem Umfang von den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft und deren Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geprägt 1 Zum 1. Juni 2008 ist die Zuständigkeit für Revisionen in Zoll- und Steuerstrafsachen dem 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs übertragen worden, dem auch der Verfasser nun angehört.

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ist.2 Die damalige Vorsitzende des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und jetzige Generalbundesanwältin Monika Harms griff die Anregung des Jubilars gerne auf und stellte sich in Vorlesungen zum Steuerstrafrecht den interessierten Fragen und Diskussionsbeiträgen der Studenten. Die vom Verfasser fortgeführte Reihe von Lehrveranstaltungen zum Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht gehört nun bereits seit einigen Jahren zum festen Bestandteil des Lehrangebots der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden.

II. Wegfall deutscher EU-Außengrenzen durch die Osterweiterung der Europäischen Union Amelung sollte Recht behalten. Die Veränderungen im Rechtsraum der Europäischen Gemeinschaft hatten in den Folgejahren erhebliche Auswirkungen auf das deutsche Steuerstrafrecht. Ein bedeutsamer Umstand ist dabei die Osterweiterung der Europäischen Union durch den Beitritt der Tschechischen und der Slowakischen Republik sowie der Republiken Estland, Lettland, Litauen, Malta, Ungarn, Polen, Slowenien und Zypern zum 1. Mai 2004.3 Zum 1. Januar 2007 kamen als weitere Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien hinzu.4 Diese Erweiterung bewirkte, dass die Grenzen des deutschen Steuergebiets zu Polen und zur Tschechischen Republik keine Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft mehr waren. Im folgenden, dem Jubilar gewidmeten Beitrag sollen die Auswirkungen dieser Osterweiterung auf das deutsche Steuerstrafrecht am Beispiel des als „Zigarettenschmuggel“ bezeichneten Phänomens5 der Hinterziehung von Abgaben auf Zigaretten beim Verbringen nach Deutschland näher untersucht werden.6 Hierzu 2 Vgl. Jäger, NStZ 2005, 552, 553; Harms / Jäger, NStZ 2001, 181; Harms, NStZ-RR 1999, 129. Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die Auslegung nationaler Steuernormen anhand der diesen zugrundeliegenden Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft ist originäre Aufgabe der nationalen Strafgerichte. Die jeweils letzte Instanz ist nach Art. 234 Abs. 3 EGV verpflichtet, bei entscheidungserheblichen Auslegungsfragen des Gemeinschaftsrechts, deren Beantwortung nicht eindeutig ist, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu richten (vgl. zum Umfang der Vorlagepflicht EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT u. a., Slg. 1982, 3415, und Urteil vom 15. September 2005, Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151 sowie Harms / Heine, FS Hirsch, 2008, S. 85, 94 ff.). Wird die Vorlagepflicht missachtet, kann der verfassungsrechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sein (vgl. BVerfGE 82, 159, 193 ff.; BVerfG ZfZ 2008, 81; Harms / Heine a. a. O., S. 96). 3 Art. 3 Abs. 1 Zollkodex (ZK) in der Fassung der Beitrittsakte 2004 (ABl. EU 2003 Nr. L 236 S. 1 / 762 vom 23. September 2003). 4 Art. 3 Abs. 1 ZK in der Fassung der Beitrittsakte 2006 (ABl. EU 2006 Nr. L 363 S. 1 / 66 vom 20. November 2006). 5 Die Zollverwaltung hat im Jahr 2007 465 Mio. geschmuggelter Zigaretten sichergestellt (Quelle: Bundesministerium der Finanzen). 6 S. zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Schmuggel auch die Übersicht bei Jäger, NStZ 2008, 21.

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wird, ausgehend von einem Blick auf die einschlägigen Strafnormen (III.), zunächst die Strafbarkeit im „klassischen“ Fall einer unmittelbaren Einfuhr unversteuerter und unverzollter Zigaretten aus einem Drittland in das deutsche Steuergebiet unter Verletzung der steuerrechtlichen Erklärungspflichten dargestellt (IV.1.). Im Vergleich dazu wird die Strafbarkeit der an einer solchen Tat Beteiligten untersucht, wenn die Zigaretten vor dem Verbringen nach Deutschland zunächst in den freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft überführt und erst dann nach Deutschland verbracht werden oder wenn sie (nicht ausschließbar) in dem anderen Mitgliedstaat hergestellt worden sind (IV.2.). III. Steuerstrafrecht als Blankettstrafrecht Die Strafbarkeit der vorsätzlichen Hinterziehung von Einfuhrabgaben und sonstigen Verbrauchsteuern auf Tabakwaren bestimmt sich nach den Tatbeständen des in der Abgabenordnung geregelten Zoll- und Steuerstrafrechts (§§ 370 ff. AO). Nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO wird bestraft, wer den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht. Wegen Unterlassens im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO macht sich strafbar, wer die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt. Eine Sonderstellung nimmt § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO ein, weil er keine Verletzung von steuerlichen Erklärungspflichten unter Strafe stellt. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt. Hierzu gehört die pflichtwidrige Nichtverwendung von Steuerbanderolen bei Tabakwaren (§ 12 Abs. 1 TabStG). Da § 370 AO ein Blanketttatbestand ist, ergeben sich die Handlungspflichten nicht aus der Strafnorm selbst, sondern aus den materiellen Steuergesetzen. Ein Verstoß gegen die steuerlichen Handlungspflichten führt allerdings für sich allein noch nicht zur Strafbarkeit wegen vollendeter Steuerhinterziehung. Eine Steuerhinterziehung liegt vielmehr erst dann vor, wenn der Täter durch die Tathandlung Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt (§ 370 Abs. 1 AO a. E.).7 Zollstraftaten (vgl. § 369 Abs. 1 AO) sind solche Steuerstraftaten, die sich auf Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben beziehen. § 3 Abs. 3 AO bestimmt, dass auch die Einfuhr- und Ausfuhrabgaben nach Art. 4 Nr. 10 und 11 des Zollkodexes8 Steuern im Sinne der Abgabenordnung sind. Einfuhrabgaben sind neben den Zöllen auch die bei der Einfuhr zu erhebenden Verbrauchsteuern, wie z. B. Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer. Hinsichtlich der Steuerentstehung verweisen die Verbrauchsteuergesetze für den Fall der Einfuhr auf die für Zölle geltenden Vorschriften.9 7 Der Versuch einer Steuerhinterziehung, eines Schmuggels oder einer Steuerhehlerei ist ebenfalls strafbar (§ 370 Abs. 2, § 373 Abs. 3, § 374 Abs. 3 AO). 8 Verordnung Nr. 2913 / 92 / EWG des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. EG Nr. L 302 vom 18. Oktober 1992 S. 1).

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Nach § 370 Abs. 6 Satz 1 AO sind die Strafvorschriften des § 370 Abs. 1 bis 5 AO auch dann anwendbar, wenn sich die Tat auf Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen. Da derartige Taten nach § 370 Abs. 7 AO unabhängig vom Recht des Tatortes strafbar sind, können sie in Deutschland auch dann strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft begangen worden sind. Wegen Schmuggels ist strafbar, wer gewerbsmäßig Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben hinterzieht oder gewerbsmäßig durch Zuwiderhandlungen gegen Monopolvorschriften Bannbruch begeht (§ 373 Abs. 1 AO). Ebenso wird bestraft, wer gewaltsam (§ 373 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AO) oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung der Hinterziehung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben oder des Bannbruchs verbunden hat (§ 373 Abs. 2 Nr. 3 AO), eine solche Tat begeht. Steuerhehler ist, wer Erzeugnisse oder Waren, hinsichtlich deren Verbrauchsteuern oder Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben hinterzogen worden sind oder Bannbruch begangen worden ist, ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder abzusetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern (§ 374 Abs. 1 AO). Aufgrund der Verweisung auf § 370 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 7 AO erfassen diese Vorschriften auch eine im Ausland begangene Hinterziehung von Einfuhr- und Ausfuhrabgaben, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft verwaltet werden (§ 373 Abs. 4, § 374 Abs. 4 AO).10

S. z. B. § 21 Abs. 2 UStG; § 147 Abs. 1 BranntwMonG; § 21 TabStG; § 13 KaffeeStG. Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006 / 24 / EG (BGBl. I 2007 S. 3198) am 1. Januar 2008 ist § 370 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 7 AO auch auf den Straftatbestand des Schmuggels und damit ausnahmslos bei den Tatbeständen der Steuerhinterziehung (§ 370 AO), des Schmuggels (§ 373 AO) und der Steuerhehlerei (§ 374 AO) anwendbar. Damit ist – im Gegensatz zur früheren Rechtslage (s. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, Rn. 13, wistra 2007, 224, 225) – gewerbsmäßiges vorschriftswidriges Verbringen einfuhrabgabenpflichtiger Waren aus einem Drittland in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft auch dann unter den Tatbestand des Schmuggels und nicht lediglich den der Steuerhinterziehung zu subsumieren, wenn die Einfuhr nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat vorgenommen worden ist. 9

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IV. Die Auswirkungen der Osterweiterung der Europäischen Union am Beispiel des „Zigarettenschmuggels“ 1. Der bisherige „Normalfall“: Unmittelbare Einfuhr in das deutsche Steuergebiet über eine Außengrenze der Europäischen Gemeinschaft a) Tathandlung Bis zur Osterweiterung der Europäischen Union war es der Regelfall bei Einfuhren aus Osteuropa, dass das Verbringen verbrauchsteuerpflichtiger Waren, z. B. von Tabakwaren, in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar mit der Einfuhr in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft verbunden war. Denn beim Eingang in das deutsche Steuergebiet wurde bei Transporten aus Osteuropa in den meisten Fällen zugleich die Außengrenze der Europäischen Gemeinschaft überschritten. Die Handlungspflichten des Verbringers richten sich in solchen Fällen nach den Vorschriften des Zollkodexes, also nach Gemeinschaftsrecht. Danach sind Waren beim Eingang in das Zollgebiet der Gemeinschaft von der Person zu gestellen, die sie dorthin verbracht hat oder die gegebenenfalls die Verantwortung für ihre Weiterbeförderung übernommen hat (Art. 40 ZK). Werden Waren in einem Fahrzeug in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht, trifft die Pflicht zur Gestellung diejenigen Personen, die die Herrschaft über das Fahrzeug im Zeitpunkt der Verbringung haben.11 Gestellung ist nach der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 19 ZK die Mitteilung an die Zollbehörden in der vorgeschriebenen Form, dass sich die Waren bei der Zollstelle oder an einem anderen von den Zollbehörden bezeichneten oder zugelassenen Ort befinden. Da die Gestellungspflicht des Zollkodexes eine blankettausfüllende steuerrechtliche Offenbarungspflicht im Sinne der §§ 370, 373 AO ist, liegt eine tatbestandliche Hinterziehungshandlung dann vor, wenn der Verbringer die Ware pflichtwidrig nicht gestellt hat oder eine unrichtige oder unvollständige Zollanmeldung abgegeben hat. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften betrifft die Pflicht zur Gestellung alle Waren, und zwar auch solche, die versteckt oder durch besonders angebrachte Vorrichtungen verheimlicht worden sind.12 Wird gegen die Gestellungspflicht verstoßen, liegt ein vorschriftswidriges Verbringen im Sinne des Art. 202 Abs. 1 Buchstabe a ZK vor, das die Zollschuld zum Entstehen bringt. Dasselbe gilt, wenn in einer Zollanmeldung in den bei den Zollbehörden eingereichten Unterlagen unrichtige Warenbezeichnungen oder nur Tarnwaren angegeben werden.13 Als Täter einer Steuerhinterziehung (§ 370 AO) 11 EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376, Rn. 23. 12 EuGH (vorherige Fn.), Rn. 24. 13 EuGH, Urteil vom 3. März 2005, Rs. C-195 / 03, Papismedov u. a., ZfZ 2005, 192, Rn. 31.

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oder eines Schmuggels (§ 373 AO) kommen beim vorschriftswidrigen Verbringen zunächst die Verbringer der verbrauchsteuerpflichtigen Ware in Betracht. Bei einer Einfuhr mit einem Fahrzeug sind das die Personen, die beim Verbringen Herrschaft über das Fahrzeug haben, also insbesondere der Fahrer, aber auch ein Beifahrer oder Ersatzfahrer, sofern er sich im Fahrzeug befindet.14 Da es sich beim Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO um ein Jedermannsdelikt handelt, kann bei unrichtigen Angaben gegenüber den Zollbehörden auch ein am eigentlichen Verbringen nicht beteiligter Hintermann Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB) sein, wenn sich bei einer wertenden Gesamtbetrachtung der Umstände nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen15 ergibt, dass er aufgrund seiner beherrschenden Rolle eine täterschaftliche Stellung einnimmt. In dem gelegentlich vorkommenden Fall, dass der Fahrer keine Kenntnis von der tatsächlich von ihm beförderten Ware hat, kann mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 2. Alt. StGB) des Hintermanns vorliegen. Dasselbe gilt, wenn der mit der Abwicklung der Zollformalitäten beauftragte Spediteur oder Zollagent gegenüber den Zollbehörden vorsatzlos unrichtige Angaben macht. b) Taterfolg Taterfolg einer derartigen Zollstraftat ist die Verkürzung der bei dem vorschriftswidrigen Verbringen entstehenden Einfuhrabgaben. Bei der Einfuhr von Zigaretten aus einem Drittland nach Deutschland bestehen diese aus Zoll, deutscher Tabaksteuer und deutscher Einfuhrumsatzsteuer. aa) Der zu entrichtende Zoll ist als Wertzoll das Produkt aus Zollwert und Zollsatz. Der Wertzollsatz gibt an, welcher Prozentsatz an Zoll von der Bezugsgröße Zollwert zu erheben ist.16 Der Zollsatz ergibt sich aus der Verordnung Nr. 2658 / 87 / EWG des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif.17 Mit dieser Verordnung wurde eine als „Kombinierte Nomenklatur“ bezeichnete Warennomenklatur eingeführt, die sowohl den Erfordernissen des Gemeinsamen Zolltarifs als auch denen der Außenhandelsstatistik der Gemeinschaft entspricht. Zur Gewährleistung der Aktualität bestimmt Art. 12 dieser Verordnung, dass die Kommission der Europäischen Gemeinschaften jedes Jahr die vollständige Fassung der Kombinierten Nomenklatur mit den geltenden Zollsätzen zu veröffentlichen hat.18 Der Zollwert ist nach Maßgabe der Art. 28 ff. ZK zu ermitteln. Für die Zollwertermittlung stehen sechs Methoden zur 14 EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376, Rn. 23. 15 Vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, Vor § 25 Rn. 4 m.N. zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. 16 Vgl. zu den Zollsätzen und zum Zollwertrecht Witte / Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts, 5. Aufl. 2007, S. 417 ff. und 454 ff. 17 Verordnung Nr. 2658 / 87 / EWG des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl. EG Nr. L 256 vom 7. September 1987 S. 1.

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Verfügung, die in der vorgegebenen Reihenfolge zu prüfen sind (Art. 29, 30 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 ZK). Der Zollwert eingeführter Waren ist der Transaktionswert; das ist der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis (Art. 29 ZK). Dieser kann sich etwa aus Angaben der an den Zigarettengeschäften Beteiligten, sichergestellten Rechnungen oder Verkaufserlösen sowie Erkenntnissen aus der Telekommunikationsüberwachung19 ergeben. Wenn alle anderen Methoden nicht zur Ermittlung eines Zollwerts geführt haben, ist der Zollwert zollrechtlich nach der sogenannten Schlussmethode (Art. 31 ZK), d. h. auf der Grundlage von in der Gemeinschaft verfügbaren Daten, durch „zweckmäßige“ Methoden zu ermitteln. Als letzte Methode bleibt damit die Schätzung. Anknüpfungspunkte für die Schätzung können mangels besserer Erkenntnisse auch die vom Bundesministerium der Finanzen festgesetzten „Anhaltswerte“20 sein. Solche Wertansätze der Finanzverwaltung, bei denen abgestuft nach der Menge der eingeführten Zigaretten feste Zollwerte zugrundegelegt werden sollen, wenn der tatsächlich für die Zigaretten gezahlte Preis nicht nachgewiesen werden kann, dürfen allerdings nicht ungeprüft in das Strafverfahren übernommen werden. Vielmehr sind bei der Schätzung21, die im Strafverfahren eigenständig vorzunehmen ist,22 die vom Besteuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) zu beachten. bb) Bei der Tabaksteuer handelt es sich um eine harmonisierte Verbrauchsteuer auf der Grundlage der Richtlinie 95 / 59 / EG (Tabakstrukturrichtlinie).23 Danach ergibt sich der Zigarettensteuersatz aus einem spezifischen (stückbezogenen) Anteil, der eine vorgegebene Bandbreite nicht verlassen darf, und einem preisbezogenen (proportionalen) Anteil.24 Der preisbezogene Anteil knüpft am Kleinverkaufspreis an, d. h. dem effektiven Preis, zu dem das Produkt im Handel auf der letzten Handelsstufe angeboten wird.25 18 S. z. B. die Verordnung Nr. 1214 / 2007 / EG der Kommission vom 20. September 2007 zur Änderung von Anhang I der Verordnung Nr. 2658 / 87 / EWG (o. Fn. 17), ABl. EU Nr. L 286 vom 31. Oktober 2007 S. 1. Der elektronische Zolltarif kann über die Internetadresse http: / / www.ezt-online.de abgerufen werden. 19 S. § 100a Abs. 2 Nr. 2 StPO. 20 S. z. B. die Werte aus dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 13. Oktober 2006 (III B 2 – Z 5302 / 06 / 0001) in Abhängigkeit von der Zigarettenmenge: Zollwert je 10 Stück eingeführter Zigaretten: bis 50.000 Zigaretten 0,58 A, bis 1 Mio. Zigaretten 0,34 A und über 1 Mio. Zigaretten 0,31 A. 21 S. zur Ermittlung des Zollwertes und zur Berechnung der hinterzogenen Tabaksteuer BGHR AO § 370 Abs. 1 Berechnungsdarstellung 4, 10, 11. 22 St. Rspr.; vgl. nur BGH wistra 2001, 308, 309. 23 Richtlinie Nr. 95 / 59 / EG des Rates vom 27. November 1995 über die anderen Verbrauchsteuern auf Tabakwaren als die Umsatzsteuer, ABl. EG Nr. L 291 vom 6. Dezember 1995 S. 40, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2002 / 10 / EG, ABl. EG Nr. L 46 vom 26. Februar 2002 S. 26. 24 Art. 16 Abs. 2 der Tabakstrukturrichtlinie. 25 S. Art. 4 Abs. 1 TabStG.

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cc) Bei der Berechnung der verkürzten Abgaben ist darauf zu achten, dass die zur Tatzeit gültigen Zollsätze sowie Sätze der Tabaksteuer und der Einfuhrumsatzsteuer angewendet werden.26 Für das Entstehen der Tabaksteuer und der Einfuhrumsatzsteuer gelten die Regeln über die Zölle entsprechend.27 Der Steuertarif für die Tabaksteuer ergibt sich aus § 4 TabStG; der Umsatzsteuersatz beträgt derzeit 19 Prozent.28 Eine fehlerhafte Berechnung der Einfuhrabgaben wirkt sich steuerstrafrechtlich regelmäßig auf den Schuldumfang aus und kann damit jedenfalls hinsichtlich des Strafausspruchs von Bedeutung sein. 2. Die neue Situation: Auseinanderfallen der Einfuhr in die Europäische Gemeinschaft und des Verbringens in das deutsche Steuergebiet Seit der Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 werden unverzollte und unversteuerte Zigaretten oft nicht mehr direkt aus einem Drittland in die Bundesrepublik Deutschland verbracht. Vielmehr werden sie häufig zunächst in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft eingeführt, bevor sie nach Deutschland oder in einen dritten Mitgliedstaat weitertransportiert werden. Dies ist eine rein tatsächliche Folge der Erweiterung der Europäischen Union, da mit der Ausdehnung des Zollgebiets der Gemeinschaft nach Osten einige Haupttransportrouten von Schmuggelorganisationen nun bereits außerhalb Deutschlands in das Gemeinschaftsgebiet führen. Dies gilt etwa für Transporte aus der Ukraine über Ungarn nach Deutschland oder aus Weißrussland nach Polen mit dem Endziel Deutschland oder England. Damit stellt sich die Frage nach einer veränderten Strafbarkeit der an diesen Transporten beteiligten Personen. Die Veränderung ist offensichtlich: Einerseits verlagert sich der Tatort der vorschriftswidrigen Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft an die neue Außengrenze der Gemeinschaft; deshalb handelt es sich bei den im deutschen Steuergebiet verkürzten Steuern nicht mehr um Einfuhrabgaben. Andererseits werden steuerliche Erklärungspflichten in (mindestens) zwei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verletzt. Es ist sorgfältig zu prüfen, welche dieser Taten in Deutschland verfolgbar sind.

26 Bei der Einfuhr von 17.000 Stück Zigaretten (Codenummer 2402 2090 der Kombinierten Nomenklatur) ergeben sich z. B. bei einem Zollwert von 5,8 Cent pro Zigarette, einem Drittlandszollsatz von 57,6 % und einem Kleinverkaufspreis von 23,53 Cent bei einem Umsatzsteuersatz von 19 Prozent (§ 12 Abs. 1 UStG) Einfuhrabgaben von 567,94 Euro Zoll, 2.392,23 Euro Tabaksteuer (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 TabStG) und 749,77 Euro Einfuhrumsatzsteuer, insgesamt somit von 3.709,94 Euro. 27 § 21 TabStG, § 21 Abs. 2 UStG. 28 Der Umsatzsteuersatz gemäß § 12 Abs. 1 UStG wurde zuletzt mit Wirkung vom 1. Januar 2007 auf 19 Prozent angehoben (BGBl. I 2006 S. 1402).

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a) Strafbarkeit des vorschriftswidrigen Verbringens von Drittlandsware in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft außerhalb Deutschlands aa) Strafbarkeit des Fahrzeugführers Die in Art. 40 ZK geregelte Gestellungspflicht trifft den Fahrzeugführer eines mit Zigaretten beladenen Transportfahrzeugs bei der Einfuhr in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft unabhängig davon, ob er die Ware dabei in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland oder dasjenige eines anderen Mitgliedstaates der Gemeinschaft verbringt. Verstößt er in einem anderen Mitgliedstaat gegen diese Pflicht, steht der Umstand, dass die Tat dann nicht in Deutschland begangen ist, gemäß § 370 Abs. 7 AO einer Strafbarkeit in Deutschland nicht entgegen.29 Ein Unterschied gegenüber der unmittelbaren Einfuhr nach Deutschland besteht allerdings hinsichtlich der verkürzten Abgaben und des verletzten Rechtsgutträgers. Im Ergebnis ohne Auswirkungen auf die Strafbarkeit in Deutschland bleibt der Umstand, dass der Zoll aus der nach Art. 202 ZK beim vorschriftswidrigen Verbringen entstehenden Zollschuld in diesem Fall nicht von der Bundesrepublik Deutschland, sondern von dem Einfuhrstaat für die Europäische Gemeinschaft verwaltet wird. Denn nach § 370 Abs. 6 Satz 1 AO30 wird der strafrechtliche Schutz der Steuer- und Zollstraftatbestände auf Einfuhr- und Ausfuhrabgaben erweitert, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft verwaltet werden. Anders verhält es sich im Hinblick auf die deutsche Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer; diese Abgaben entstehen erst beim Verbringen ins deutsche Steuergebiet. Von § 370 Abs. 6 Satz 1 AO werden allerdings auch andere bei der Tat verkürzte Einfuhrabgaben erfasst, die von dem Mitgliedstaat der Einfuhr verwaltet werden. Maßgeblich sind grundsätzlich die Regelungen über die Tabaksteuer und die Umsatzsteuer des Einfuhrstaates. Zwar sind diese Abgaben durch die Richtlinie 2006 / 112 / EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem31 betreffend die Umsatzsteuer und durch die Tabakstrukturrichtlinie32 harmonisiert. Ob jedoch die jeweiligen Steuertatbestände die Erhebung von Einfuhrabgaben im Sinne des § 370 Abs. 6 Satz 1 AO regeln und ob die Vorschriften als Ausfüllungsnormen für die deutschen Blankettstraftatbestände hinreichend bestimmt sind, ist auf der Grundlage des deutschen Steuerrechts in einer vergleichenden Wertung festzustellen.33 Sofern dies nicht der Fall ist, wird die Verkürzung der ausländischen Abgaben von den deutschen Steuerstraftatbeständen nicht erfasst. DesS. o. Abschnitt III. Bei Schmuggel und Steuerhehlerei i.V.m. § 373 Abs. 4 AO bzw. § 374 Abs. 4 AO. 31 Richtlinie 2006 / 112 / EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EU Nr. L 347 vom 11. Dezember 2006 S. 1. 32 S.o. Fn. 23. 33 BGHR AO § 370 Abs. 6 Eingangsabgaben 2, 3. 29 30

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halb kann Bedeutung erlangen, ob der Mitgliedstaat der Einfuhr Regelungen geschaffen hat, die denen in § 21 TabStG und § 21 Abs. 2 UStG entsprechen. Wendet ein deutsches Strafgericht im Rahmen des § 370 Abs. 6 AO Steuernormen eines anderen Mitgliedstaates an, müssen diese im Urteil dargelegt werden. Denn in einem solchen Fall werden die Blankettstraftatbestände des deutschen Zollstrafrechts nicht nur durch deutsche Steuergesetze und die Vorschriften des Zollkodexes, sondern auch durch die Verbrauchsteuergesetze anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ausgefüllt. Erst das Blankettstrafgesetz und diese blankettausfüllenden Normen zusammen bilden die maßgebliche Strafvorschrift. Es ist daher unabdingbar, dass sich der im Steuerstrafverfahren tätige Jurist selbst mit den anzuwendenden Vorschriften des ausländischen Steuerrechts befasst und diese auf den Einzelfall anwendet. Nicht anders als bei der Verkürzung nationaler Steuern muss im Steuerstrafverfahren die Berechnungsdarstellung eine Überprüfung ermöglichen, ob von zutreffenden Besteuerungsgrundlagen ausgegangen und der Schuldumfang zutreffend ermittelt worden ist.34 bb) Strafbarkeit von Hinterleuten Die Strafbarkeit der Hinterleute, die den Schmuggel organisiert haben,35 hängt im Wesentlichen von der Art und Weise der Einfuhr sowie von Art und Maß der Kontrolle der Hinterleute über den konkreten Einfuhrvorgang ab.36 (1) Haben die Fahrer bei der Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft an einer Zollstelle auf die unter der Ladung versteckten oder durch besondere Vorrichtungen verheimlichten Zigaretten nicht hingewiesen und nur Tarnware gestellt, ist die Einfuhrzollschuld wegen vorschriftswidrigen Verbringens in das Zollgebiet der Gemeinschaft gemäß Art. 202 Abs. 1 Buchstabe a, Art. 40, Art. 4 Nr. 19 ZK entstanden. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften bewirkt auch eine im Zusammenhang mit der Gestellung abgegebene 34 BGH, Beschluss vom 19. April 2007 – 5 StR 549 / 06, NStZ 2007, 595. Einen Überblick über die gültigen Verbrauchsteuersätze in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gibt eine über die Homepage der Europäischen Kommission abrufbare Übersicht (http: //ec.europa.eu/taxation_customs/taxation/excise_duties/tobacco_products/rates/index _de.htm). In deren Anhang befindet sich eine Liste mit Telefonnummern und E-Mail-Adressen von Kontaktbeamten der zuständigen Ministerien der Mitgliedstaaten, über die nähere Informationen erlangt werden können. Bei Schwierigkeiten, die einschlägigen Normen der anderen Mitgliedstaaten aufzufinden, können sich die Staatsanwaltschaften und Gerichte auch an die Kontaktstellen des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) wenden (http: //www.ejn-crimjust. europa.eu); im Übrigen bieten auch auf ausländisches Steuerrecht spezialisierte Unternehmen die freilich kostenpflichtige Recherche nach ausländischen Rechtsvorschriften an (z. B. International Bureau of Fiscal Documentation, http: / / www.ibfd.org). 35 Vgl. zum Problemkreis des Transports durch Fahrer, die von dem Schmuggelgut keine Kenntnis haben Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445. 36 BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, Rn. 19 ff., wistra 2007, 224, 225, mit zust. Anm. Jatzke, ZfZ 2007, 191, und abl. Anm. Bender, wistra 2007, 309.

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unrichtige oder unvollständige Zollanmeldung, dass die nicht angemeldeten Schmuggelwaren von der Gestellung nicht erfasst und damit vorschriftswidrig verbracht sind.37 Die Hinterleute sind regelmäßig wegen mittäterschaftlich oder in mittelbarer Täterschaft begangener Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO (bzw. wegen Schmuggels nach § 373 AO) strafbar, wenn die Einfuhrabgaben infolge der unrichtigen Zollanmeldung nicht festgesetzt worden sind (Art. 217 ff., 221 ZK). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass ihr Tatbeitrag aufgrund einer Gesamtbetrachtung der Umstände nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen als täterschaftliche Mitwirkung zu werten ist. Andernfalls kommt lediglich Anstiftung oder Beihilfe in Betracht. (2) Sind die Zigaretten ohne Gestellung (Art. 4 Nr. 19 ZK) unter Umgehung von Zollstellen, d. h. über die sogenannte grüne Grenze, in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft gebracht worden, hat dies gemäß Art. 202 Abs. 1 Buchstabe a, Art. 38 Abs. 1, Art. 40 ZK zur Entstehung der Einfuhrzollschuld und, hieran anknüpfend, der weiteren Einfuhrabgaben geführt. In diesem Fall sind die Einfuhrabgaben wegen Verletzung der Pflicht zur Gestellung (Art. 40 ZK) der eingeführten Zigaretten nicht festgesetzt und damit im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1, Abs. 7 AO verkürzt worden. Die Fahrer der Transportfahrzeuge sind in einem solchen Fall regelmäßig bereits deswegen als bösgläubig anzusehen, weil sie Waren aus einem Drittland unter bewusster Umgehung der Zollstellen in das Zollgebiet der Gemeinschaft eingeführt haben. Die Hinterleute haben sich dann zumindest als Anstifter oder Gehilfen einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen strafbar gemacht. Eine Strafbarkeit wegen täterschaftlicher Steuerhinterziehung kommt nach hergebrachter Dogmatik der Unterlassungsdelikte dagegen nur dann in Betracht, wenn die Hinterleute sich selbst als Verbringer an der Einfuhr beteiligt haben und in eigener Person gestellungspflichtig waren. Denn nach herrschender Meinung ist die Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) ein Sonderdelikt. Täter kann danach nur derjenige sein, den eine besondere Pflicht zur Aufklärung der Finanzbehörden trifft.38 Da nur der Verbringer gestellungspflichtig ist, muss für jede an einem „Schmuggel“ beteiligte Person gesondert geprüft werden, ob sie als Verbringer einzustufen ist. Bei der Auslegung dieses rein gemeinschaftsrechtlichen Begriffs sind die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften aufgestellten Grundsätze zu beachten.39 Den Begriff des „Verbringens“ im Sinne von Art. 38 37 EuGH, Urteil vom 3. März 2005, Rs. C-195 / 03, Papismedov u. a., ZfZ 2005, 192, Rn. 31. 38 BGH wistra 1987, 147; 2003, 100, 102 und 344, 345; Joecks, in: Franzen / Gast / Joecks, Steuerstrafrecht, 6. Aufl. 2005, § 370 Rn. 18; Hellmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung (Lfg. 176, März 2003), § 370 AO Rn. 210; Kohlmann, Steuerstrafrecht (Lfg. 35, September 2006), § 370 Rn. 276 und Rn. 86 (Lfg. 34, Oktober 2005); Rolletschke, in: Rolletschke / Kemper, Steuerverfehlungen (Lfg. 31, Dezember 2006), § 370 Rn. 49; a. A. Bender, wistra 2004, 368, 371 und Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445, 455 ff. 39 Zum Erfordernis, bei Zweifeln über die zutreffende Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu richten, s. auch o. Fn. 2.

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und Art. 40 hat der Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen C-238 / 02 und C-246 / 02 für die nationalen Gerichte verbindlich ausgelegt: Danach „verbringen“ bei der Einfuhr mit einem Kraftfahrzeug „diejenigen“ Personen die Nichtgemeinschaftsware in das Zollgebiet der Gemeinschaft, „die die Herrschaft über das Fahrzeug im Zeitpunkt der Verbringung haben, nämlich u. a. die Fahrer, und zwar derjenige, der das Fahrzeug lenkt, und sein Beifahrer oder Ersatzmann, sofern er sich im Fahrzeug befindet.“ Ferner ist auch „eine andere im Fahrzeug befindliche Person“ Verbringer, „wenn nachgewiesen ist, dass sie hinsichtlich der Verbringung der Waren Verantwortung trägt.“40 Entscheidendes Kennzeichen des in Art. 38 ZK und Art. 40 ZK bezeichneten Verbringers und alleiniger Anknüpfungspunkt für die Gestellungspflicht in Art. 40 ZK ist damit nach dem Wortlaut dieser Entscheidung die Herrschaft über das Fahrzeug bei der Einfuhr. Herrschaft über das Transportfahrzeug haben aber nicht nur der Fahrer, weil er das Fahrzeug steuert, und seine Begleiter im Fahrzeug, sondern kraft ihrer Weisungsbefugnis auch diejenigen Organisatoren des Transports, die beherrschenden Einfluss auf den Fahrzeugführer haben, indem sie die Entscheidung zur Durchführung des Transports treffen und die Einzelheiten der Fahrt (z. B. Fahrtroute, Ort und Zeit der Einfuhr) bestimmen.41 (3) Strafbarkeitslücken offenbaren sich angesichts der für die nationalen Gerichte verbindlichen Auslegung zum Begriff des Verbringers nur für solche Fallkonstellationen, in denen sich Hinterleute für das Verbringen in das Gemeinschaftsgebiet vorsatzloser Fahrer bedienen, dabei selbst keine unmittelbare Kontrolle über die Einfuhr ausüben, aber regelhafte Abläufe ausnutzen, um die „Schmuggelware“ im Zielland wieder entgegennehmen zu können. Ein derartiger Fall liegt etwa dann vor, wenn die Hinterleute in einem Lkw-Anhänger mit besonderen Vorrichtungen ein festes Schmuggelversteck einrichten, dort Zigaretten verbergen und nach der Beladung mit Tarnware eine in das Schmuggelvorhaben nicht eingeweihte Spedition mit dem Transport an einen vorgegebenen Zielort im Gemeinschaftsgebiet beauftragen. Bei diesem Sachverhalt macht sich bei Zugrundelegung der herrschenden Dogmatik der Unterlassungsdelikte keiner der Beteiligten strafbar, sofern die Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft an einer Stelle vorgenommen wird, an der keine Zollkontrolle stattfindet. Die Fahrer der Zugmaschine sind dann zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften auch ohne ihr Wissen von dem wirklichen Transportgut Verbringer der geschmuggelten Zigaretten und haften sogar für die Einfuhrabgaben.42 Sie sind 40 EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376, 378, Rn. 23. 41 So auch der Bundesgerichtshof in einem obiter dictum, BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, Rn. 25, wistra 2007, 224, 226. In der Literatur wird dagegen überwiegend die Auffassung vertreten, als Verbringer kämen ausschließlich solche Personen in Betracht, die sich bei der Einfuhr in dem Transportfahrzeug befinden (vgl. z. B. Bender, wistra 2004, 368, 370 f.; 2006, 41, 42 f. und 2007, 309; Fuchs, ZfZ 2004, 160). 42 EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376.

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aber straflos, weil sie von den Zigaretten keine Kenntnis haben (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Eine leichtfertige Steuerverkürzung gemäß § 378 AO kommt hier regelmäßig ebenfalls nicht in Betracht. Dem Spediteur, der dem Fahrer die konkrete Fahrtroute vorgegeben hat, sind die Zigaretten zumeist auch nicht bekannt. Er befindet sich dann ebenso in einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum. Die Hinterleute, die die Beladung des Transportfahrzeugs vorgenommen haben, bleiben ebenfalls straflos. Sie haben zwar Kenntnis vom objektiv pflichtwidrigen Verbringen der Fahrer, sind aber mangels Herrschaft über die Einfuhr nicht „Verbringer“ der Ware. Da sie somit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nicht gestellungspflichtig sind, nach herrschender Meinung als Täter einer Steuerhinterziehung (oder eines Schmuggels) durch Unterlassen aber nur der Pflichtige selbst in Betracht kommt, scheidet sowohl Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) als auch mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 2. Alt. StGB) aus. Eine Strafbarkeit der Hinterleute wegen Anstiftung (§ 26 StGB) oder Beihilfe (§ 27 StGB) kommt nicht in Betracht, weil die Teilnahme im Verhältnis zur Haupttat akzessorisch ist,43 eine Haupttat aber mangels Vorsatzes der Fahrer nicht vorliegt. Allerdings dürfte der Fall, dass der Fahrer eines Transportfahrzeugs die Grenzkontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft umgeht, gleichwohl dabei aber nicht zumindest billigend in Kauf nimmt, dass sich in seinem Fahrzeug gestellungspflichtige Waren befinden, eher die Ausnahme darstellen.44 Indessen zeigt allein die Möglichkeit der Straflosigkeit mit hoher krimineller Energie agierender Hinterleute, die gutgläubige Spediteure und Fahrer für die organisierte Verkürzung von Abgaben auf Tabakwaren instrumentalisieren, die Notwendigkeit auf, die strafrechtliche Dogmatik im Bereich der Unterlassungsdelikte zu hinterfragen. Das deutsche Strafrecht muss sich darauf einstellen, auch Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts zu beachten und angemessen zu verarbeiten.45 Soweit nationales Recht umgesetztes Gemeinschaftsrecht ist, sind die anzuwendenden Strafnormen im Lichte des Gemeinschaftsrechts so auszulegen, dass diesem die größtmögliche Umsetzung und Anerkennung zuteil wird.46 Die Verpflichtung zu dieser gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung folgt aus dem Loyalitätsgebot des Art. 10 EGV, das die Mitgliedstaaten zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts und zur Gewährleistung seiner praktischen Wirksamkeit, des „effet utile“, verpflichtet. Ein weiterer Grundsatz des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Steht eine gemeinschaftsrechtliche Norm im Widerspruch zu einer nationalen Strafnorm, so ist die kollidierende nationale Rechtsnorm nicht anzuwenden, weil andernfalls eine unzulässige Beschränkung der durch den EG-Vertrag gewährleisteten Grundfrei43 44 45 46

Vgl. Fischer (o. Fn. 15), Vor § 25 Rn. 8 und § 26 Rn. 10. S. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, wistra 2007, 224, 226. So mit Recht bereits Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445. S. hierzu auch den Beitrag von Harms / Heine in dieser Festschrift.

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heiten des Binnenmarkts droht. Andererseits gehört es zu den Pflichten nach Art. 10 EGV, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Sanktionen bestimmen und verhängen, um die Beachtung des Gemeinschaftsrechts zu sichern.47 Diese Grundsätze konformer Auslegung gelten auch für die Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Verhaltensnormen im Rahmen von nationalen strafrechtlichen Blanketttatbeständen, etwa des Steuer- und Zollstrafrechts. Zu den insoweit zu beachtenden Vorgaben gehört die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, dass selbst derjenige verpflichtet ist, Waren zu gestellen, der von deren Existenz keine Kenntnis hat.48 Die auf den ersten Blick überraschende Anerkennung einer Offenbarungspflicht, zu deren Erfüllung der Verpflichtete mangels Kenntnis der die Pflicht auslösenden Umstände nicht in der Lage ist, rechtfertigt sich damit, dass nach dem Wortlaut und der Systematik der Art. 4 Nr. 19, Art. 38 Abs. 1 und Art. 40 ZK alle in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbrachten Waren zu gestellen sind.49 Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sämtliche eingeführten Waren eine zollrechtliche Bestimmung erhalten müssen (vgl. Art. 48 ZK). Würden hiervon in Abhängigkeit vom Kenntnisstand des Verbringers Ausnahmen zugelassen, wäre die gleichmäßige Anwendung des Zollrechts in der Gemeinschaft erheblich gefährdet. Die ordnungsgemäße Anwendung des Zollrechts erfordert eine funktionierende strafrechtliche Absicherung der sich aus dem Zollrecht der Gemeinschaft ergebenden Pflichten. Dies hatte erkennbar auch der Gesetzgeber der Abgabenordnung vor Augen, als er in § 3 Abs. 3 AO bestimmte, dass Einfuhr- und Ausfuhrabgaben nach Art. 4 Nr. 10 und 11 des Zollkodexes Steuern im Sinne der Abgabenordnung und damit auch im Sinne der §§ 369 ff. AO sind. Wirksamer strafrechtlicher Schutz setzt aber voraus, dass auch solche Verhaltensweisen von den Straftatbeständen erfasst werden, mit denen regelhafte Abläufe zur Rechtsgutverletzung ausgenutzt werden.50 Dabei kann es keinen wesentlichen Unterschied machen, ob der zur Tatbegehung instrumentalisierte Vordermann bei der Abgabe einer unrichtigen Zollanmeldung vorsätzlich oder vorsatzlos handelt. Nichts anderes darf für den Fall gelten, dass der Hintermann die Unwissenheit des Vordermannes gezielt zur Verletzung einer an objektiven Gegebenheiten anknüpfenden objektiven Pflicht ausnutzt, die sonst ihn treffen würde, wenn er selbst handeln und sich nicht durch eine vorsatzlose Person „vertreten“ lassen würde. Denn es hängt lediglich von der Ausgestaltung des materiellen Steuerrechts ab, ob eine Steuerhinterziehung von Nr. 1 oder Nr. 2 des § 370 Abs. 1 AO erfasst wird. 47 Vgl. EuGH, Rs. 68 / 88, „Griechischer Mais“, Slg. 1989, 2985, Rn. 23; EuGH, Rs. C-354 / 99, Kommission gegen Irland, Slg. 2001, I-7657, vgl. auch Voß in Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union, EGV Vorbem. 23 – 27, Rn. 21 m. w. N. 48 EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376, Rn. 22. 49 EuGH (vorherige Fn.), Rn. 22. 50 Vgl. die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft BGHSt 40, 236 f. und 316; BGH NJW 2003, 525.

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Man könnte auf den Gedanken kommen, dass der Gesetzgeber hier handeln müsste, zumal die „aktivste Form der Steuerhinterziehung, die es überhaupt gibt, der Schmuggel über die grüne Grenze, dazu noch bewaffnet und bandenmäßig, ein Unterlassungsdelikt ist, weil die pflichtwidrige Handlung gemäß Art. 40 des blankettausfüllenden Zollkodexes im Nichtgestellen von Nichtgemeinschaftsware und damit in einem In-Unkenntnis-Lassen der Finanzbehörde besteht“.51 Würde etwa der Gesetzgeber die Strafbarkeit des Schmuggels an das verbotswidrige Verbringen der Ware anknüpfen, läge die Tathandlung stets in einem aktiven Tun, nämlich im Verbringen. Damit wäre der Hintermann auch dann tauglicher Täter einer Steuerstraftat, wenn er selbst nicht gestellungspflichtig wäre. Im Falle der Instrumentalisierung eines vorsatzlosen Vordermanns käme dann ohne weiteres mittelbare Täterschaft in Betracht. Sachgerechte Ergebnisse lassen sich im Hinblick auf die Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung aber auch auf der Grundlage des geltenden Rechts erzielen. Denn die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gibt Anlass, die Einstufung von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als Sonderdelikt zu überdenken, die einer Zurechnung einer vom Hintermann herbeigeführten Pflichtverletzung des Vordermanns auf den selbst nicht handlungspflichtigen Hintermann bislang entgegensteht. Ebenso wie bei der Tatbegehung durch aktives Tun gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO grenzt das Gesetz auch bei § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO den Täterkreis nicht ein, sondern verwendet die für Allgemeindelikte typische Umschreibung „wer“.52 Auch mit der Adverbialverbindung „pflichtwidrig“ wird im Ergebnis nur eine besondere Art und Weise der Handlung festgelegt53 und nicht der Verstoß gegen eine höchstpersönliche Pflichtenstellung des Handelnden. Mit Recht hat Kuhlen darauf hingewiesen, dass das Merkmal „pflichtwidrig“ keine Pflichtenstellung mit einem „persönlichen Einschlag“, sondern ein strafrechtliches „Jedermann-Gebot“ für einen nicht durch individuelle Merkmale gekennzeichneten Personenkreis umschreibt.54 Auch der Bundesgerichtshof sieht in der von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO vorausgesetzten Pflichtwidrigkeit kein täter-, sondern ein tatbezogenes Merkmal und stuft sie deshalb nicht als besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 StGB ein.55 Damit bestehen auch keine rechtsdogmatischen Hinderungsgründe, dem Hintermann Pflichtverletzungen des Vordermanns zuzurechnen, wenn der Hintermann kraft überlegenen Wissens regelhafte Abläufe zur Verletzung einer Pflicht ausnutzt, deren Entstehung er unbemerkt vom Vordermann erst zur Erreichung seiner kriminellen Ziele herbeigeführt hat. So verhält es sich in den Fällen, in denen der Auftraggeber einem gutgläubigen Bender, wistra 2004, 368, 371. So zutreffend Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445, 457. 53 So zutreffend Bender, wistra 2004, 368, 371, und ihm folgend Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445, 457. 54 Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445, 457 / 458. 55 BGHSt 41, 1, 4 f. 51 52

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Spediteur oder Fahrer Waren „unterschiebt“ und ihn mit dem Transport von Gütern beauftragt, bei denen es sich in Wirklichkeit lediglich um Tarnware handelt. Auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat bei der Auslegung des Art. 40 ZK zur Gestellungspflicht des Verbringers deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er eine rein objektive, an zollrechtlichen Kriterien ausgerichtete Pflichtenbestimmung vorgenommen hat. Die Folgen eines Verstoßes gegen die objektive Pflicht – das Entstehen der Zollschuld – treffen deshalb den Pflichtigen auch dann, wenn die Pflicht für ihn nicht erkennbar war und er deswegen nicht in der Lage war, sie zu erfüllen; er wird gleichwohl Abgabenschuldner.56 b) Strafbarkeit des Verbringens von Zigaretten aus dem freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft nach Deutschland Eine gänzlich andere Situation besteht beim Verbringen von Zigaretten aus dem freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland. Da sich die Zigaretten bereits im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden, selbst wenn sie dort steuer- und zollrechtlich nicht erfasst worden sind,57 stellt das Verbringen nach Deutschland keine Einfuhr dar.58 Einfuhr im Sinne von Art. 4 Nr. 10 ZK, § 1 Abs. 1 Satz 3 ZollVG sowie Art. 30 der Richtlinie des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem59 ist vielmehr lediglich das unmittelbare Verbringen von (nicht im freien Verkehr der Gemeinschaft befindlicher) Nichtgemeinschaftsware in das Zollgebiet der Gemeinschaft. Die gemäß Art. 40 ZK beim Eingang von Waren in das Zollgebiet der Gemeinschaft vorgeschriebene Pflicht zur Gestellung der Waren besteht daher nicht. Auch die beim Verbringen in deutsches Steuergebiet entstehenden Abgaben unterscheiden sich. Mangels Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft entsteht beim Grenzübertritt nach Deutschland keine (weitere) Zollschuld.60 Die Vorschriften des § 21 TabStG und des § 21 Abs. 2 UStG, die für die Tabaksteuer und die Einfuhrumsatzsteuer die sinngemäße Geltung der Zollvorschriften anordnen, gelten ebenfalls nicht, da auch sie eine hier nicht vorliegende unmittelbare Einfuhr aus einem Drittland voraussetzen. Ob die verbrauchsteuerpflichtigen Waren in dem anderen Mitgliedstaat legal oder illegal in den freien Verkehr gelangt sind, ist ohne Bedeutung. Maßgeblich ist allein, ob sie sich überhaupt 56 EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376. 57 BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, wistra 2007, 224, 227. 58 BGH, (vorherige Fn., S. 225). 59 S.o. Fn. 31; vgl. für die Zeit vor Inkrafttreten dieser Richtlinie Art. 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie Nr. 77 / 388 / EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. EG Nr. L 145 vom 13. Juni 1977 S. 1. 60 BGH wistra 2005, 461, 463 m. w. N.

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in einem Mitgliedstaat im freien Verkehr befunden haben, bevor sie in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland verbracht worden sind.61 Damit richten sich die steuerlichen Erklärungspflichten im Hinblick auf die Tabaksteuer und die Umsatzsteuer62 nach den Regelungen des deutschen Tabaksteuergesetzes und des deutschen Umsatzsteuergesetzes. aa) Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. § 19 Satz 3 TabStG Gemäß § 19 TabStG entsteht die deutsche Tabaksteuer, wenn Tabakwaren unzulässigerweise entgegen § 12 Abs. 1 TabStG aus dem freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft zu gewerblichen Zwecken in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland verbracht oder versandt werden. § 19 TabStG setzt insoweit nicht voraus, dass derjenige, der die Waren in das Steuergebiet verbringt, selbst im Hinblick auf die Waren gewerbliche Zwecke verfolgt; es genügt vielmehr, dass die Waren nach ihrem Verbringen im Steuergebiet zu gewerblichen Zwecken verwendet werden sollen.63 Vorschriftswidrig64 in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft eingeführte Zigaretten befinden sich dort im freien Verkehr, auch wenn sie in diesem Staat nicht zum Verkauf angeboten worden sind. Das Überführen solcher Zigaretten nach Deutschland mit dem Ziel der Veräußerung auf dem Schwarzmarkt ohne Inanspruchnahme des innergemeinschaftlichen Steuerversandverfahrens (§ 16 Abs. 1 Satz 1 TabStG) ist ein gewerbliches unversteuertes Verbringen. Für die Zigaretten ist deshalb unverzüglich nach dem Verbringen in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland eine Steuererklärung abzugeben (§ 19 Satz 3 TabStG). Mit der vorsätzlichen Missachtung dieser Pflicht wird die deutsche Tabaksteuer hinterzogen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 AO). Da keine Einfuhr vorliegt, ist die Tabaksteuer hier keine Einfuhrabgabe im Sinne von § 373 AO. Selbst das gewerbsmäßige Verbringen unversteuerter Zigaretten aus dem freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaates der Gemeinschaft in das deutsche Steuergebiet erfüllt daher den Straftatbestand des Schmuggels nicht.65 Vielmehr liegt eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen vor (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i. V. m. § 19 Satz 3 TabStG).66 Gemäß § 19 Satz 3 TabStG hat der Steuerschuldner über Tabakwaren, für die die Steuer entstanden ist, unverzüglich eine Steuererklärung abzugeben. Steuer61 BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, wistra 2007, 224, 227. Die im Jahr 2004 vertretene gegenteilige Auffassung (BGH wistra 2004, 475, 476) hat der Bundesgerichtshof aufgegeben. 62 Vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 5, § 1a UStG. 63 BFH, Urteil vom 10. Oktober 2007 – VII R 49 / 06, DStRE 2008, 380, 382. 64 Vgl. Art. 40, 202 ZK. 65 BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, wistra 2007, 224, 225. 66 BGH, Urteil vom 14. März 2007 – 5 StR 461 / 06, wistra 2007, 262, 264.

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schuldner – und damit Erklärungspflichtiger im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO – ist, wer verbringt oder versendet und der Empfänger, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt hat (§ 19 Satz 2 TabStG). Bei der Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale ist die Richtlinie Nr. 92 / 12 / EWG des Rates über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (Systemrichtlinie) 67 zu beachten, auf der auch das deutsche Tabaksteuergesetz beruht. Allerdings findet sich dort eine Definition des Begriffes des Verbringens nicht. Vielmehr wird nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie die Verbrauchsteuer je nach Fallgestaltung u. a. von der Person geschuldet, die eine Lieferung vornimmt oder die zur Lieferung bestimmten Waren besitzt. Gleichwohl misst der Bundesfinanzhof dem Begriff des Verbringens hier dieselbe Bedeutung bei wie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften dem des Verbringens in das Zollgebiet der Gemeinschaft im Sinne von Art. 38 Abs. 1, Abs. 40 ZK.68 Es fehle an jedem ernsthaften Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber des § 19 TabStG den Begriff des Verbringens in einem anderen Sinne gebraucht haben sollte.69 Erklärungspflichtig ist damit beim Verbringen einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware in das deutsche Steuergebiet zu gewerblichen Zwecken neben dem Versender jedenfalls derjenige, der beim Verbringen der Ware oder als Empfänger einer Lieferung Herrschaft über die Ware hat.70 Der Umstand, dass an den Binnengrenzen der Europäischen Gemeinschaft keine Zollkontrollen stattfinden und deswegen beim Verbringen unversteuerter Zigaretten in das Steuergebiet der Bundesrepublik nur eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen in Betracht kommt, hat erhebliche Auswirkungen auf die Strafbarkeit solcher Hinterleute, die nicht zum Kreis der Erklärungspflichtigen gehören. Im Gegensatz zur Einfuhr in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft ist es hier nicht die Ausnahme, sondern der sich aus dem Wegfall der Grenzkontrollen ergebende Regelfall, dass beim Verbringen der Ware in das deutsche Steuergebiet gegenüber den Zollbehörden keine Angaben gemacht werden. Folgt man der herrschenden Meinung, dass es sich bei dem Straftatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO um ein Sonderdelikt für den Erklärungspflichtigen handelt71, ergeben sich Strafbarkeitslücken für am Tatgeschehen beteiligte Hinterleute, wenn alle Erklärungspflichtigen (z. B. Fahrer und Spediteure) gutgläubig sind, wie bereits für den Fall der Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft dargelegt worden ist.72 Allerdings 67 Richtlinie Nr. 92 / 12 / EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. EG Nr. L 76 vom 23. März 1992 S. 1). 68 S. EuGH, Urteil vom 4. März 2004, Verb. Rs. C-238 / 02 und C-246 / 02, Viluckas und Jonusas, wistra 2004, 376, 378, Rn. 22. 69 BFH, Urteil vom 10. Oktober 2007 – VII R 49 / 06, DStRE 2008, 380, 381. 70 BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, wistra 2007, 224, 226. 71 S. die Nachweise oben in Fn. 38. 72 S. hierzu oben Abschnitt IV.2.a) bb) (3).

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ist der Kreis der Erklärungspflichtigen hier gegenüber demjenigen bei der Gestellungspflicht nach Art. 40 ZK durch die Einbeziehung der Versender erweitert. bb) Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO i.V.m. § 12 Abs. 1 TabStG Auch die Nichtverwendung von Steuerbanderolen beim Verbringen unversteuerter Zigaretten in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland ist strafbewehrt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beförderung unter Steueraussetzung im innergemeinschaftlichen Versandverfahren (§ 16 Abs. 1 TabStG) vorgenommen wird. Nach § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO macht sich strafbar, wer pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstempeln unterlässt und dadurch Steuern verkürzt. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 TabStG ist die Steuer für Tabakwaren durch Verwendung von Steuerzeichen zu entrichten; die Steuerzeichen müssen entwertet und an den Kleinverkaufspackungen angebracht sein, wenn die Steuer entsteht (§ 12 Abs. 1 Sätze 2 und 3 TabStG).73 Daher muss der Verbringer oder Versender dafür Sorge tragen, dass beim Eingang in das Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland für die Zigaretten Steuerzeichen verwendet sind.74 Aus dem Umstand, dass es nur dem Hersteller oder Einführer gestattet ist, Steuerzeichen zu bestellen (§ 12 Abs. 2 Satz 1 TabStG), ergibt sich nichts anderes.75 cc) Konkurrenzverhältnis zwischen Unterlassungsdelikten gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO Ist der Verbringer sowohl nach § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO strafbar, weil er pflichtwidrig (§ 12 Abs. 1 TabStG) keine Steuerzeichen verwendet hat, als auch nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, weil er über die Tabakwaren, für die die Steuer entstanden ist, entgegen § 19 Satz 3 TabStG nicht unverzüglich eine Steuererklärung abgegeben hat, stellt sich die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis der beiden Unterlassungstaten. Die Besonderheit im Verhältnis der Handlungspflichten zueinander besteht darin, dass beide Pflichten im Ergebnis die Entrichtung der Tabaksteuer auf die in das Steuergebiet verbrachten Zigaretten sicherstellen sollen. Kommt der Verbringer schon nicht seiner Verpflichtung nach, die Tabaksteuer durch die Ver73 Die gemäß § 12 Abs. 1 TabStG zu verwendenden Steuerzeichen sind angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts solche im Sinne des Straftatbestands des § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO; s. BFH / NV 1996, 934, 935; Joecks, in: Franzen / Gast / Joecks (o. Fn. 38), Rn. 193; Kohlmann (o. Fn. 38) (Lfg. 34, Oktober 2005), § 370 AO Rn. 361; Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze (Lfg. 153, Juni 2004), § 370 AO Rn. 25; Hellmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (o. Fn. 38) (Lfg. 171, November 2001), § 370 Rn. 111; Rolletschke, in: Rolletschke / Kemper (o. Fn. 38), § 370 Rn. 73. 74 Vgl. BFH, Urteil vom 10. Oktober 2007 – VII R 49 / 06, DStRE 2008, 380, 381; BFH / NV 1996, 934, 935; FG Düsseldorf ZfZ 1996, 152, 153. 75 A. A. Hampel, ZfZ 1996, 358 f.; Weidemann, ZfZ 2008, 97, 99.

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wendung von Steuerbanderolen zu entrichten, muss er wenigstens den Finanzbehörden durch die Abgabe einer Steuererklärung die Möglichkeit geben, die geschuldete Tabaksteuer festzusetzen. (a) Zwar setzt die Pflicht aus § 19 Satz 3 TabStG einen Verstoß gegen die Verpflichtung, Steuerzeichen zu verwenden, voraus. Gleichwohl ist der Verbringer unversteuerter Zigaretten von der Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung für diese Zigaretten nicht etwa nach dem nemo-tenetur-Grundsatz76 befreit, weil er sich bereits zuvor gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO strafbar gemacht hat. Denn er befand sich nicht in einer unauflösbaren Zwangslage, sondern hatte die Möglichkeit, durch die in der Abgabe der vorgeschriebenen Steuererklärung liegende Selbstanzeige auch insoweit Straffreiheit zu erlangen.77 (b) Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung78 handelt es sich bei der Strafnorm des § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO nicht lediglich um einen Auffangtatbestand, der als subsidiär hinter die Tatbestände des § 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO zurücktritt. Subsidiarität bedeutet das Zurücktreten eines Gesetzes, das nur dann gelten soll, wenn kein anderes Gesetz die Strafbarkeit ausspricht.79 Eine derartige Subsidiarität ergibt sich hier weder aus dem Gesetzeswortlaut in der Form einer Subsidiaritätsklausel noch aus materiellrechtlichen Gründen. Zwar kann sich eine materielle Subsidiarität ergeben, wenn das geschützte Rechtsgut und die Angriffsrichtung dieselben sind oder ein leichteres Delikt im Tatbestand eines schwereren enthalten ist.80 Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Zwar ist Schutzgut aller Straftatbestände des § 370 Abs. 1 AO das öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuerart.81 Jedoch entsteht die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung gemäß § 19 Satz 3 TabStG erst dann, wenn gegen die Pflicht zur Verwendung von Steuerzeichen gemäß § 12 Abs. 1 TabStG verstoßen worden ist. Die Strafbarkeit nach § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO knüpft damit an ein anderes – und hier auch zeitlich vorgelagertes – pflichtwidriges Verhalten an als die Tatbestände in den Nummern 1 und 2 dieser Strafvorschrift. Dies verdeutlicht, dass sich das Unrecht der beiden Pflichtverletzungen unterscheidet und das in § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO umschriebene Handlungsunrecht von der Vorschrift des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht erfasst wird. Damit kommt durch die zweite Pflichtverletzung jedenfalls noch ein weiteres Handlungsunrecht hinzu. Aus der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO ergibt sich nichts andeVgl. hierzu BGHSt 47, 8; Jäger, NStZ 2005, 552, 556 m. w. N. Joecks, in: Franzen / Gast / Joecks (o. Fn. 38), § 371 Rn. 39, 59; Kohlmann (o. Fn. 38), § 371 Rn. 32, 64.5; Rüping, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler (o. Fn. 38), § 371 Rn. 31. 78 Hampel, ZfZ 1996, 358. 79 Vgl. Rissing-van Saan, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 52 Rn. 125 ff.; Fischer, StGB (o. Fn. 15), Vor § 52 Rn. 41. 80 Fischer, StGB (Fn. 15), Vor § 52 Rn. 41. 81 Vgl. Rolletschke, in: Rolletschke / Kemper (o. Fn. 38) (Lfg. 85, September 2007), § 370 Rn. 17 m. w. N. 76 77

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res. Danach sollen durch diese Vorschrift in der Nichtverwendung von Steuerzeichen liegende Begehungsformen pönalisiert werden, die sonst nicht erfasst würden, weil die in § 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO geregelten Tatbestände ein Handeln oder Unterlassen gegenüber den Finanzbehörden voraussetzen.82 So verhält es sich hier, weil sich an den Binnengrenzen der Gemeinschaft zumeist keine Zollstellen mehr befinden. Bei Annahme einer Subsidiarität könnte sich daher der Verbringer entgegen dem Schutzzweck des § 12 Abs. 1 TabStG auf der zum nächstgelegenen Zollamt liegenden Fahrtroute mit unversteuerten Zigaretten im freien Verkehr ohne jegliche zollamtliche Überwachung bewegen. (c) Auf der anderen Seite wird auch der Unterlassenstatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht von demjenigen in § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO im Wege der Konsumtion verdrängt. Konsumtion ist gegeben, wenn das eine (konsumierende) Gesetz, ohne dass ein Fall der Spezialität vorliegt, seinem Wesen und Sinn nach ein anderes Gesetz so umfasst, dass dieses in dem ersten aufgeht. Das ist namentlich dann gegeben, wenn eine Tatbestandsverwirklichung die regelmäßige Erscheinungsform einer anderen ist.83 Dies ist hier nicht der Fall; denn die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung für die unversteuerten Zigaretten entsteht erst aufgrund des Verstoßes gegen die Pflicht, Steuerbanderolen zu verwenden (§ 12 Abs. 1 TabStG). (d) Schließlich handelt es sich bei der Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. § 19 Satz 3 TabStG auch nicht um eine im Hinblick auf die Strafbarkeit nach § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO mitbestrafte Nachtat. Mitbestraft und damit straflos bleibt eine selbständige strafbare Handlung nur dann, wenn durch sie der Erfolg einer Vortat nur ausgenutzt oder gesichert wird und ihr gegenüber der Vortat kein eigenständiger weiter gehender Unrechtsgehalt zukommt.84 Diese Konstellation liegt hier ebenfalls nicht vor; denn der Verstoß gegen eine selbständige steuerliche Erklärungspflicht enthält einen eigenständigen strafrechtlich relevanten Handlungsunwert. Auch kann der Verkürzungserfolg bei der Steuerhinterziehung mehrfach herbeigeführt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es definitiv nicht zur Festsetzung der geschuldeten Steuer kommt, kann sich von der erstmaligen Verwirklichung des objektiven Tatbestands bis zum endgültigen Abschluss des Geschehens in einer Reihe von einzelnen Schritten steigern.85 (e) Damit verbleibt es letztlich bei der Frage, ob die beiden Unterlassungsdelikte im Verhältnis der Tatmehrheit (§ 53 StGB) oder der Tateinheit (§ 52 StGB) zueinander stehen. Auch bei Unterlassungsdelikten ist eine natürliche Handlungseinheit möglich. Sie ergibt sich aber nicht schon aus der Gleichzeitigkeit des Nichterfüllens mehrerer Handlungspflichten. Vielmehr ist hierfür regelmäßig erforderlich, dass die Erfüllung der unterschiedlichen Pflichten nur durch eine einzige 82 83 84 85

BT-Drucks. 7 / 4292, S. 44. Fischer, StGB (o. Fn. 15), Vor § 52 Rn. 43. Fischer, StGB (o. Fn. 15), Vor § 52 Rn. 65 m. w. N. Kuhlen, FS Jung, 2007, S. 445, 453.

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Handlung möglich ist.86 Dies ist hier zwar nicht der Fall, weil die Verwendung von Steuerzeichen und die Abgabe einer Steuererklärung unabhängig voneinander vorgenommen werden können. Gleichwohl wird man angesichts der engen Verzahnung der Pflichten, ihrer zeitlichen Überschneidung sowie des Umstandes, dass beide Pflichten letztlich der Abführung der Tabaksteuer auf dieselben Zigaretten dienen, Tateinheit annehmen müssen. Hierfür spricht insbesondere, dass die Abgabe der in § 19 Satz 3 TabStG vorgeschriebenen Steuererklärung zugleich als Selbstanzeige für die vorangehende und noch nicht beendete Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 12 Abs. 1 TabStG anzusehen ist.87 Jedenfalls darf aber bei einer Verurteilung in der Strafzumessung nicht außer Betracht bleiben, dass durch die Verletzung der Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung nach § 19 Satz 3 TabStG trotz neuen Handlungsunrechts im Ergebnis kein weitergehender Steuerschaden entsteht. dd) Strafbarkeit wegen Steuerhehlerei gemäß § 374 AO Folge des Auseinanderfallens der Grenzen des Zollgebiets der Europäischen Gemeinschaft und des Steuergebiets der Bundesrepublik Deutschland ist, dass ein Transporteur von unverzollten und unversteuerten Zigaretten, der vorsätzlich sämtliche ihn im Rahmen des Transports aus einem Drittland über einen Mitgliedstaat nach Deutschland treffenden steuerlichen Erklärungspflichten missachtet, mindestens wegen zweier in Tatmehrheit stehender und in Deutschland verfolgbarer Steuerdelikte strafbar ist. Hat etwa ein selbständiger Spediteur unter Tarnware versteckte Zigaretten von Weißrussland über Polen nach Deutschland transportiert und diese – gewerbsmäßig handelnd – den Zollbehörden nicht offenbart, hat er sich an der Grenze zu Polen wegen gewerbsmäßigen Schmuggels (§ 373 Abs. 1 AO) unter Hinterziehung von Zoll, polnischer Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer, bei der Einreise nach Deutschland wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2, 3 AO) unter Verkürzung deutscher Tabaksteuer strafbar gemacht. Anders liegt der Fall, wenn der Transporteur die unverzollten und unversteuerten Zigaretten in Polen erworben und dann ohne deutsche Steuerbanderolen und ohne Abgabe einer Steuererklärung gegenüber den deutschen Zollbehörden nach Deutschland verbracht hat. Er hat sich nicht wegen Schmuggels (§ 373 AO) strafbar gemacht, weil er keine Einfuhrabgaben verkürzt hat. Unverändert bleibt bei dieser Fallkonstellation allerdings die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen im Hinblick auf die Verkürzung deutscher Tabaksteuer. In diesem Fall kommt aber der Herkunft der Zigaretten strafrechtliche Bedeutung zu. Hat sich der Transporteur Zigaretten verschafft, die nicht in Polen ordnungsgemäß in den freien Verkehr gebracht worden waren, sondern hinsichtlich deren zuvor 86 87

Fischer, StGB (o. Fn. 15), Vor § 52 Rn. 9. S.o. Fn. 77.

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durch Dritte bei der Einfuhr in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft Einfuhrabgaben im Sinne von § 370 Abs. 6 Satz 1 AO hinterzogen worden waren, hat er sich – wenn er hiervon Kenntnis hatte – zugleich wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei gemäß § 374 Abs. 1, Abs. 2 AO strafbar gemacht.88 c) Strafbarkeit des Verbringens unversteuerter Zigaretten von einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft in einen anderen Nicht von den Strafnormen der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) und des Schmuggels (§ 373 AO) erfasst wird es, wenn verbrauchsteuerpflichtige Waren unter Verstoß gegen steuerliche Erklärungspflichten von einem Mitgliedstaat in einen anderen verbracht werden, ohne dass das deutsche Steuergebiet berührt wird. Ein derartiger Fall liegt etwa vor, wenn beim Transport von Zigaretten aus Ungarn nach Österreich dort bestehende steuerliche Erklärungspflichten verletzt werden. Die Vorschriften des deutschen Tabaksteuergesetzes und des deutschen Umsatzsteuergesetzes finden auf einen solchen Fall keine Anwendung, weil die Zigaretten nicht nach Deutschland verbracht worden sind. Eine Strafbarkeit dieser Auslandstaten in Deutschland über § 370 Abs. 6 Satz 1, Abs. 7 AO scheidet aus, da die österreichischen Steuern mangels unmittelbarer Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft hier keine Einfuhrabgaben sind. Zwar handelt es sich bei der österreichischen Tabaksteuer um eine harmonisierte Verbrauchsteuer, die von einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft verwaltet wird und deshalb nach § 370 Abs. 6 Satz 2 AO einer Einfuhrabgabe gleichgestellt wird. Die Hinterziehung einer solchen Abgabe kann jedoch gemäß § 370 Abs. 6 Satz 3 AO nur verfolgt werden, wenn die Gegenseitigkeit zur Zeit der Tat verbürgt ist und dies in einer Rechtsverordnung festgestellt ist. Eine derartige Rechtsverordnung besteht bislang nicht. Dies hat zur Folge, dass etwa bei einem unter Missachtung sämtlicher steuerlicher Erklärungspflichten durchgeführten „Zigarettenschmuggel“ von der Ukraine über Ungarn, Österreich, Deutschland und Frankreich nach England in Deutschland nur die in Ungarn und Deutschland begangenen Steuerstraftaten, nicht aber die in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft begangenen Taten verfolgt werden können. Im Hinblick auf die bei der Einfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft hinterzogenen Einfuhrabgaben kommt allerdings für Personen, die nicht als Täter an dieser Hinterziehung mitgewirkt haben, eine Strafbarkeit wegen (gewerbsmäßiger) Steuerhehlerei in Betracht (§ 374 Abs. 1, Abs. 4 i.Vm. § 370 Abs. 6 Satz 1, Abs. 7 AO).

88

Vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 372 / 06, wistra 2007, 224, 225.

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Markus Jäger

V. Ausblick Mit den vorstehenden Ausführungen sollte aufgezeigt werden, welche gewichtigen Auswirkungen allein die Osterweiterung der Europäischen Union auf das deutsche Steuerstrafrecht hatte. Ob der Jubilar das in dieser Dimension vorausgesehen hat, als er Vorlesungen zum Steuerstrafrecht in das Lehrangebot der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden aufgenommen hat, mag dahinstehen. Die Studenten werden es ihm jedenfalls danken, dass er ihnen den Zugang zu einem Rechtsgebiet ermöglicht hat, in dem die Notwendigkeit, immer neue europarechtliche Vorgaben sowie Veränderungen in den äußeren Rahmenbedingungen angemessen strafrechtlich zu verarbeiten, ganz besonders deutlich wird. Hinzu kommt das Erfordernis, im Wirtschaftsstrafrecht mit den sich ständig wandelnden Formen einer von den Möglichkeiten der Freizügigkeit im europäischen Binnenmarkt geprägten Kriminalität Schritt zu halten. Auch der Strafjurist muss sich darauf einstellen, dass es für die Rechtsanwendung in vielen Fällen nicht mehr ausreicht, deutsche Rechtsnormen anhand der Rechtsprechung deutscher Gerichte anzuwenden. Die Bereiche, in denen europäische Rechtsakte in das deutsche Strafrecht hineinwirken, nehmen stetig zu. Damit wird auch der nationale Richter immer häufiger zum originären Anwender von Gemeinschaftsrecht. Er muss sich mit den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft befassen und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften stets im Blick behalten. Dem deutschen Strafjuristen muss dabei bewusst sein, dass sich diese Rechtsprechung bei nunmehr 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht an deutscher Rechtsdogmatik, sondern an eigenen gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben und Auslegungsgrundsätzen ausrichten muss, selbst wenn teilweise dieselben Begriffe wie im nationalen Recht verwendet werden. Er muss daher zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts auch die europäische Auslegungsmethode beherrschen und anwenden. Kommt es zu Spannungszuständen mit den europäischen Vorgaben oder gar Widersprüchen mit dem nationalen Recht, muss sich das deutsche Recht hierauf einstellen und die eigene Rechtsdogmatik anpassen. Wer meint, diese Entwicklungen ignorieren zu können, gerät unweigerlich in eine Sackgasse. Das Gemeinschaftsrecht wird ihn zur Unzeit einholen. Wie sehr Veränderungen im europäischen Rechtsraum sogar Kernbereiche des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs beeinflussen, zeigt sich anschaulich an der Frage der Strafbarkeit von Hinterleuten beim Zigarettenschmuggel. Die an zollrechtlichen Begriffen des Gemeinschaftsrechts ausgerichtete objektive Bestimmung von Handlungspflichten durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften stellt das deutsche Strafrecht und ihre Dogmatik zu Täterschaft und Teilnahme vor neue Herausforderungen. Wir sollten sie zügig angehen. Angesichts der rasanten Entwicklungen im europäischen Gemeinschaftsrecht werden bald weitere Herausforderungen hinzukommen.

IV. Medizin- und Sportrecht

Patientenrechte im deutschen Recht Von Hans Lilie

I. Strafrecht und Patientenrechte 1. Einleitung Die Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient durch Gesetze, Verordnungen, Satzungen und richterliche Rechtsfortbildung ist Bestandteil der allgemeinen Entwicklung unseres sozialen Rechtsstaates mit seinen Interessengegensätzen, der die Gerechtigkeit in der Differenzierung sucht. Ein maßgeblicher Grund für die Verrechtlichung der Arzt-Patienten-Beziehung liegt in der arbeitsteiligen, von den naturwissenschaftlichen Fortschritten angetriebenen und technisierten Medizin selbst. Je weiter das technische Können reicht, desto dringender stellt sich die Frage nach dem Dürfen und Sollen. Im Rahmen dessen hat sich in den letzten Jahren eine Diskussion über Patientenrechte entwickelt. Diese Entwicklung wurde durch Knut Amelungs Arbeiten zur Einwilligung ganz wesentlich mitgeprägt.1 Schon diese Arbeiten Amelungs belegen, dass es bei den Fragen der Einwilligung um Patientenrechte im Kernbereich geht.2 Die Debatte über Patientenrechte ist also keineswegs neu, denkt man darüber hinaus etwa an die typischerweise in der Arzt-Patient-Beziehung angelegten strafrechtlichen, zivilrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Fallgestaltungen, die zur Entstehung des Arztrechts geführt haben.3 Der arztorientierte und medizingebundene Patient wird zum Klienten, zum Kunden mit dem Willen zur Selbstbestimmung und dem Streben nach Selbstgenuss.4 Im Zeichen der medizintechnischen Entwicklung hat der Persönlichkeitsschutz stark an Bedeutung gewonnen.5 Seinem Hauptinhalt nach ist das moderne deutsche Arztrecht Patientenschutzrecht von hoher Qualität, die den europäischen Vergleich nicht zu scheuen 1 Amelung, ZStW 104 (1992), 526 ff. und 821 ff.; ders., JR 1999, 45 ff.; ders. / Eymann, JuS 2001, 937; ders., NStZ 2006, 317. 2 Vgl. nur Amelung / Eymann, JuS 2001, S. 937, 942. 3 Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl., Rdn. 2 ff.; Laufs, in: Laufs / Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, § 5, Rdn. 1 ff. m. w. N. 4 Eberbach, MedR 2008, 325 ff.; Darüber prägnant der Medizinsoziologe Baier, in: Becker (Hrsg.), Medizin im Wandel, S. 41 ff. 5 Damm, MedR 1999, 437.

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braucht.6 Insoweit nimmt Deutschland einen Spitzenplatz ein, ungeachtet des Umstandes, dass ein Patientenschutzgesetz bislang nicht realisiert ist. Grund für diesen Befund ist die Verankerung der Rechte – aber auch und gerade der Pflichten – des Patienten im konkreten Behandlungsgeschehen. Autonomie und Selbstbestimmung ziehen der ärztlichen Behandlung Grenzen. Dem Patienten allein obliegt es, eine medizinische Behandlung zu gestatten oder zu verweigern. 2. Regelung der Patientenrechte in der Bundesrepublik Deutschland – Rechtsgrundlagen Die Rechte der Patienten erfahren in der Bundesrepublik Deutschland aktuell auf verschiedenen Gebieten des Verfassungsrechts, Zivilrechts, Sozialversicherungsrechts, Strafrechts sowie des Berufsrechts und in der Rechtsprechung vielfältige und inhaltlich wertvolle Beachtung. Die Patientenrechte sind in der Verfassung verankert. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Art. 2 Abs. 1 GG die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 2 GG das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie Art. 104 Abs. 1 GG das Recht auf Schutz seelischer und körperlicher Unversehrtheit. Die in Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankerte Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist dann betroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.7 Der Anspruch auf Menschenwürde ist Ansatzpunkt für jene oberen Patientenrechte, aus denen sich dann weitere ableiten lassen.8 Das Recht auf Selbstbestimmung, das Ausdruck des Persönlichkeitsrechts ist, erscheint im Ganzen als herausragendes Verfassungsgut. Dabei legt das Grundgesetz ein Wertsystem zu Grunde, das seinen Inhalt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet. Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung ist für alle Bereiche des Rechts maßgebend9 und nimmt damit auch Einzug in das Strafrecht. Aus der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten als zentralem Bezugspunkt für Patientenrechte folgt das Recht des Patienten, über seine Krankheit sowie über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt zu werden. Im Rahmen dieser Aufklärung müssen dem Patienten auch Informationen über verschiedene Behandlungsmethoden und Versorgungsstrukturen gegeben werden, da das Selbstbestimmungsrecht verlangt, dass der Patient sich zwischen verschiedenen möglichen Behandlungsmethoden entscheiden kann.10 Aus der verfassungsHanika, MedR 1999, 149. Herdegen in: Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rdn. 28. 8 Fiebig, Freiheit für Patient und Arzt. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Postulat der Menschenwürde, S. 46. 9 BVerfGE 7, 198; 73, 261, 269; st. Rspr. 10 Welge / Lindemann, Patientenrechte in Europa, in: Kranich / Böcken, Patientenrechte und Patientenunterstützung in Europa, S. 78 ff. 6 7

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rechtlich geschützten Autonomie des Patienten folgen weiter die Pflicht zur Dokumentation der Behandlung und das Recht auf Einsichtnahme in die Krankenunterlagen. Die Gewährleistung von Sicherheit und Qualität der medizinischen Behandlung und Versorgung als zweiter zentraler Bezugspunkt der Patientenrechte folgt aus dem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die freiheitliche Rechtsposition des Patienten, d. h. sein Recht auf gesundheitliche Integrität gemäß Art. 2 Abs. 2 GG muss im Vordergrund aller Gestaltungsoptionen des Gesundheitswesens stehen. Das Grundrecht auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit bildet zunächst ein Abwehrrecht, das dem Schutz der Freiheit dient. Freiheit heißt, sich von anderen unterscheiden zu dürfen. Dies gilt auch für in Kauf genommene Selbstgefährdungen und Selbstschädigungen, z. B. durch Ausübung von Extremsportarten. Diese Freiheit zur Krankheit ist allerdings – wie alle Freiheitsausübungen – in soziale Verantwortlichkeit eingebunden.11 In strafrechtlicher Hinsicht sind dabei vor allem § 203 StGB sowie §§ 223 ff. StGB von Bedeutung. § 203 StGB regelt die ärztliche Schweigepflicht. Sie umfasst alle persönlichen Informationen oder Daten bezüglich Diagnose und Behandlung des Patienten.12 Die §§ 223 ff. StGB schützen die körperliche Unversehrtheit des Patienten. Die Qualität der ärztlichen Versorgung als Ausfluss des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz geschützten Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere auch dadurch sichergestellt, dass jede Ärztin und jeder Arzt Mitglied der Ärztekammer seines Bundeslandes ist, deren vornehmliche Aufgabe darin besteht, für Weiterbildung und Qualitätssicherung zu sorgen. Die Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte von 1997 sieht zur Regelung des Arzt-Patienten-Verhältnisses differenzierte Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln, Aufklärungspflicht, Schweigepflicht, Dokumentationspflicht, ärztliche Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Regelungen zum Honorar und zu Vergütungsabsprachen vor. Bei den Ärztekammern finden sich in Ausprägung der Patientenrechte für bestimmte Fragestellungen insbesondere Ethikkommissionen, welche zur Beratung und Beurteilung ethischer und rechtlicher Aspekte von Forschung am Menschen eingerichtet sind, sowie Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen.13 Gemeinsam ist allen Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen, dass das Verfahren für den Patienten kostenfrei ist. Er kann das Verfahren ohne rechtliche Betreuung auch selbst einleiten und betreiben. Kein Beteiligter muss die Entscheidung der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle akzeptieren, der Rechtsweg wird damit 11 Pitschas, Einführung in die rechtlichen Grundlagen einschließlich der verfassungsrechtlichen Problematik neuer Versorgungs- und Vergütungsstrukturen, Symposium der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht, Berlin am 22. 4. 1998. 12 Amelung / Eymann, JuS 2001, 937, 940. 13 Ausführlich Deutsch / Spickhoff (o. Fn. 3), Rdn. 567 ff.

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nicht ausgeschlossen. Als durchschnittliche Verfahrensdauer werden einhellig etwa 12 bis 15 Monate angegeben. Die Verfahren vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen hemmen die Verjährung während der Verfahrensdauer. Beteiligte an den Schlichtungsverfahren sind i. d. R. Patienten, die durch gesetzliche Vertreter, Erben oder auch Rechtsanwälte vertreten werden können, die in Anspruch genommenen Ärzte oder Krankenhausträger sowie der jeweilige Haftpflichtversicherer.14 Zunehmend finden sich in der Selbstverwaltung Einrichtungen und Institutionen, die sich vertieft dem Patientenschutz widmen, z. B. Ombudsmänner / Ombudsfrauen, Patientenberatungsstellen der Zahnärztekammern etc. Insgesamt hat der Patient bei ärztlicher Pflichtverletzung die Möglichkeit, eine außergerichtliche Einigung herbeizuführen, sich an Ombudsmänner oder -frauen, Patientenfürsprecher in Krankenhäusern (z. B. § 25 Landeskrankenhausgesetz Rheinland-Pfalz), Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen zu wenden oder Klage auf Schadensersatz und / oder Schmerzensgeld beim Zivilgericht zu erheben oder ein Strafverfahren gegen den Arzt einzuleiten. Nicht zuletzt gehen auch die Ergebnisse des internationalen Symposiums „Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regel?“ vom 19. – 24. 9. 2000 in Heidelberg in die gleiche Richtung wie die 72. Gesundheitsministerkonferenz und die Bundesärztekammer, eine Stärkung der Patientenrechte anzustreben.15 Grundsätzlich kam man zu dem Ergebnis, dass das „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“ als geeigneter Ausgangspunkt betrachtet werden kann, die erforderliche weltweite Auseinandersetzung mit jenen Fragen anzuregen und zu fördern, die mit der Anwendung von Biologie und Medizin auf den Menschen verbunden sind. Wegen des grenzüberschreitenden Charakters der Forschung und Anwendung von Biologie und Medizin bedürften nationale Regelungen der Ergänzung durch einvernehmliche internationale Festlegungen. Begrüßt wird, dass die Konvention wichtige Schutzprinzipien zur Forschung mit Menschen enthält. Das Symposium spricht sich im Rahmen der Weiterentwicklung der Konvention für eine Stärkung der Patientenrechte aus. So sollte die Patientenautonomie ausgebaut werden, insbesondere was Vorausverfügungen angeht. Auch das Recht des Patienten auf wirksame ärztliche Behandlung sollte deutlicher formuliert werden. Dem Schutzbedürfnis besonders verletzlicher Personen und Personengruppen in der Forschung soll besondere Beachtung geschenkt werden. Das Symposium fordert international einheitliche Regelungen zu den Voraussetzungen und zur Feststellung der Einwilligungsfähigkeit / -unfähigkeit. Schließlich sollte im Bereich der Forschung dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen verstärkt Rechnung getragen werden. Außerdem werden auch Vorschläge für die Forschung mit menschlichen Embryonen gemacht, worauf im entsprechenden Abschnitt noch näher einzugehen sein wird. 14 Funke, Außergerichtliche Schadensregulierung, in: Kranich / Böcken (o. Fn. 10), S. 89 ff. 15 Taupitz (Hrsg.), Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung, S. 823 ff.

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3. Regelung der Patientenrechte in anderen EU-Staaten Kranich und Böcken16 haben nachgewiesen, dass Patientenrechte auch jetzt schon in fast allen europäischen Ländern existieren. Allerdings sind diese häufig in der Judikatur verborgen und über alle Rechtsbereiche verstreut, somit für Patienten i. d. R. unüberschaubar und schwer zugänglich. Die Gesamtentwicklung im internationalen Raum weist eindeutig den Weg der Abkehr von der mittelbaren Begünstigung des Patienten über Pflichten Dritter hin zu einem Auf- und Ausbau von subjektiven Ansprüchen bis hin zur Verkündung von Chartas der Patientenrechte und zur Kodifikation eigenständiger Patientenrechte.17 a) Internationale Dokumente Formulierte Grundrechte finden sich in der EMRK-Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wonach das Recht auf Leben, das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, der Schutz der persönlichen Freiheit und Sicherheit, der Schutz des Privat- und Familienlebens sowie der Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit patientenrechtliche Anknüpfungspunkte bieten. Gemäß Art. I Abs. 11 der Europäischen Sozialcharta (1961) hat jedermann das Recht, alle Mittel in Anspruch zu nehmen, die es ihm ermöglichen, sich des besten Gesundheitszustandes zu erfreuen, den er erreichen kann. In der Entschließung zu einer europäischen Charta für die Rechte des Kranken (1984)18 führt das Europäische Parlament insbesondere aus, dass das Recht auf eine optimale medizinische Behandlung ein in der gesamten Gemeinschaft anerkanntes Grundrecht ist. Das WHO-Regionalbüro für Europa legte 1994 Prinzipien und Strategien zur Stärkung von Patientenrechten sowie Empfehlungen für eine Patientencharta vor. Sie wurden als Orientierungshilfe unter dem Titel „A Declaration on the Promotion of Patients Rights in Europe“ von 36 Teilnehmerstaaten verabschiedet. Die 5. Konferenz der Gesundheitsminister der im Europarat vertretenen 40 europäischen Staaten befasste sich ebenfalls mit dem Thema Patientenschutz. Es wurde am 8. 11. 1996 in Warschau die Erklärung „Die soziale Herausforderung in der Gesundheitspolitik – Berücksichtigung der Rechte des Patienten bei der Reform der Gesundheitssysteme“ verabschiedet. Nicht zuletzt sieht auch die erst kürzlich beschlossene Charta der Grundrechte der EU in Art. 3 ein Recht auf Unversehrtheit und in Art. 35 ein Recht auf Gesundheitsschutz vor.

16 17 18

Kranich / Böcken (o. Fn. 10), S. 80. Pichler, Internationale Entwicklungen in den Patientenrechten, S. 33. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 20. 2. 1984, C46 / 104.

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4. Strafrecht und Zivilrecht Arzthaftung sollte nach Ansicht des modernen Arztrechts eigentlich kein strafrechtliches Thema sein.19 In den letzten Jahren lag ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt nicht nur in der Forschung, sondern gerade auch bei den Richtern in dem Bemühen, der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass dem Strafrecht auf diesem Gebiet nur eine begrenzte Funktionalität zukommen kann.20 In der Bundesrepublik Deutschland hat die Entwicklung des Schadensrechts durch die Rechtsprechung des 6. Zivilsenats in den letzten Jahren zu einer Reihe wesentlicher Veränderungen geführt.21 Aus der Sicht des Patienten, der glaubt, durch einen ärztlichen Behandlungsfehler geschädigt zu sein, liegt der Ruf nach dem Staatsanwalt auf der Hand. In Unkenntnis der komplizierten Abhängigkeiten von Zivil- und Strafrecht, Gutachter- und auch Schlichtungsstellen wirkt freilich die Strafanzeige oft hilflos. Die Ursache für die verfehlte Hoffnung vieler Patienten, gesund und ohne jede Einschränkung nach ärztlicher Behandlung weiterleben zu können, geht von dem falschen Verständnis aus, dass der Arzt mit dem abgeschlossenen Behandlungsvertrag die vollständige Wiederherstellung des Patienten schulde. Schon wenn die Gesundung aus Gründen, die häufig schicksalhaft sind und beim Patienten liegen, nicht erreicht wird, beginnt sich ein Missmut zu regen, der in der Strafanzeige seinen Gipfel findet. Gleichwohl ist nach vielfach geäußerter Meinung in der Mehrzahl der Fälle der Patient überhaupt nicht an der Bestrafung des Arztes interessiert.22 Die Ursachen dafür, dass es nach Misserfolgen oder schicksalhaften Verläufen nur noch zu Strafanzeigen kommt, sind vielschichtig. Dem Strafrecht kommt freilich in erster Linie die Aufgabe zu, durch die Sanktionierung des bestimmten umschriebenen Verhaltens auf den Einzelnen ebenso wie auf die Allgemeinheit in der Weise einzuwirken, dass künftige Straftaten vermieden werden. Nicht diese Form der General- und Spezialprävention, sondern die Kompensation für den erlittenen Schaden ist dagegen Aufgabe des Zivilrechts. Deshalb wird gelegentlich zu Recht vermutet, dass der eigentliche Grund für die Erstattung von Strafanzeigen trotz anwaltlicher Beratung darin zu sehen ist, dass diejenigen Anwälte, die mit derartigen Fällen nur selten konfrontiert werden, vor der Komplexität der mit Arzthaftungsprozessen verbundenen Probleme kapitulieren. Gern wird der Staatsanwaltschaft, die erst seit jüngster Zeit auch auf Arzthaftungssachen spezialisierte Abteilungen aufgebaut hat, die Ermittlungsarbeit überlassen in der Hoffnung, dass der Fall auf diese Weise gelöst wird. Insbesondere an die Erstellung eines Gutachtens werden oft große Erwartungen geknüpft. Gleichwohl gilt die Feststellung, dass es nicht angestammte Funktion des Strafrechts sein kann, im medizinischen Bereich patientenrechtliche Ansprüche zu sichern.23 19 Zum Schutz der Patienten durch das Strafrecht vgl. Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, S. 139 ff. 20 Orben, Rechtliche Verantwortung für Behandlungsfehler, S. 163 ff. 21 Orben (o. Fn. 20), S. 5 ff. 22 Orben (o. Fn. 20), S. 95.

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Zu Recht weisen Stimmen, insbesondere aus Schweden und Finnland, darauf hin24, dass das Strafrecht wegen seiner Leit- und Verstärkungsfunktion wirklich nur die ultima ratio des Rechtsgüterschutzes sein könne.25 Diese Erkenntnis ist auch die Grundlage für die in den nordischen Ländern zu beobachtende Versicherungslösung, gerade weil die medizinische Tätigkeit in ihrer Bandbreite von der Gesundheitsfürsorge über medizinische Technik mit neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu einem sehr komplizierten Schadensersatzrecht geführt hat. Zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten und der zunehmenden Anerkennung des Patienten auch als Verbraucher spielen gerade die neuen Wege im Bereich der Arzthaftung eine große Rolle. Demgegenüber wirkt das deutsche Arztstrafrecht eher verharrend, da es sich moderneren und den Patienten besser schützenden Entwicklungen entgegenstellt. II. Ziele der Einräumung von Patientenrechten Die Einräumung von Patientenrechten kann im einzelnen folgenden Zielen dienen: Patientenrechte können der Gewährleistung von Individualrechten, insbesondere von materiellen Individualrechten dienen. Dies ist der klassische und in Deutschland bislang vorherrschende Typ von Patientenrechten. Es geht dabei zum einen um die – weit verstandene – Wahrung der Patientenautonomie durch Information, Einwilligung und Wahlrechte, zum anderen um die Stärkung des Integritätsinteresses durch Qualitätssicherung und Schadensersatz. Patientenrechte können weiterhin der Steigerung der Qualität und Effizienz des Gesundheitssystems dienen. Dabei sind zwei Spielarten zu unterscheiden. Bei dieser Konzeption können durch die Einforderung der Beachtung von Sorgfaltsstandards über das Schadensrecht oder die Pflicht zur Information über alternative Behandlungsmethoden Impulse für Qualitätsverbesserungen ausgelöst werden. Auch die Einführung von Beratungsund Beschwerdemöglichkeiten, die Einholung von Zweitvoten usw. können in diesem Sinne genutzt werden. Hinter dieser Konzeption verbirgt sich ein Gedanke, der auch in anderen Bereichen der Rechtsordnung zur Anwendung kommt und z. B. im Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts mit der Formel die „Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts“26 gekennzeichnet wird. Dem Bürger werden in diesem 23 Pichler (o. Fn. 17), S. 558 unter Berufung auf Lahti, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsprobleme im Bereich medizinischer Tätigkeit, in: Eser / Fletscher, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 1420; Orben (o. Fn. 20), S. 79. 24 Lahti, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsprobleme, in: Eser / Fletscher, (o. Fn. 23), S. 123. 25 Eser, ZStW 97 (1985), 1, 45. 26 Dazu ausführlich Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise stellt das Umweltinformationsgesetz dar, das seinerseits auf einer EU-Richtlinie basiert.

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Fall Rechte zur selbständigen Geltendmachung zugewiesen, die zugleich im Interesse des Gesamtsystems die Beachtung von normativen Vorgaben fördern sollen. Damit wird auf die Defizite bzw. begrenzte Wirksamkeit herkömmlicher institutioneller Kontrollmechanismen wie der klassischen Staatsaufsicht reagiert. Das Interesse der Patienten an der Einhaltung von Qualitätsstandards und Effizienz des Gesundheitssystems (das letztlich wegen der Finanzierung des Gesundheitssystems durch die Patienten als Steuer- oder Beitragsschuldner besteht) kann auch durch die Einführung von Standards gefördert werden, deren Beachtung institutionell durch Berichtspflichten, Benchmarking und ähnliche Anreizsysteme gefördert wird. Eine Zwischenform stellt etwa die Einrichtung von Beschwerdestellen dar, denen nicht nur die Aufgabe der individuellen Beratung und ggfs. des Rechtsbeistandes, sondern auch der Qualitätssicherung zukommt. Ein dritter Ansatz für die Gewährung von Patientenrechten findet seine Grundlage in dem Gedanken der Demokratisierung (i.w.S.) des Gesundheitswesens und der Stärkung von Bürgerrechten. Auf diese Weise soll der Bürger in Grundentscheidungen im Bereich des Gesundheitswesens stärker eingebunden werden, wobei nicht immer klar wird, ob es dabei um eine echte institutionelle Legitimation, die Einbeziehung von Betroffenen-Sachverstand, eine besondere Form der Interessenvertretung oder um Kontrollfunktionen gegenüber den beteiligten Trägern des Gesundheitssystems geht. Man spricht in diesem Fall von kollektiven Patientenrechten. Die genannten Zielsetzungen dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Insbesondere die erste und die zweite Konzeption stehen in einer engen Wechselwirkung, da bei ihnen in den meisten Fällen doppelte Effekte ausgelöst werden. Das gilt vor allem für die erste Variante der zweiten Konzeption, die zur Erzielung von Systemeffekten Individualrechte einräumt. III. Patientencharta Erhalten die Patientenrechte, wie schon erwähnt im Zeitalter des Verbraucherschutzes, eine immer größere Bedeutung, so ist doch die gegenwärtige Diskussion über Patientenrechte, die über das bisherige Verständnis hinausgehen, dem Arztrecht und allgemein der Patienten-Arzt-Beziehung neue Facetten mit rechtlicher Relevanz hinzuzufügen sucht, neu: Sind Patientenrechte etwa auch auf der Gemeinwohlebene zu begründen? Beispiel hierfür ist, bezogen auf die vorsorgeorientierten Solidargemeinschaften der GKV, z. B. die Vorhaltung rechtlicher Beratung durch die Krankenkassen. Ist damit allein eine rechtspolitische Frage oder vielmehr gerade die rechtliche Selbstbestimmung des Einzelnen betroffen? Bietet es sich an oder ist es gar geboten, Patientenrechte in Gestalt der Beteiligung an kollektiven Entscheidungsfindungen zu schaffen, und zwar im Rahmen institutionell verfasster Einrichtungen des Gesundheitswesens, etwa der Ethik- und Gutachterkommissionen oder der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen? Diese

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Fragen haben gerade in jüngerer Zeit Beachtung gefunden, und zwar nicht allein auf der Seite derjenigen, denen die Beachtung von Patientenrechten in erster Linie Anliegen sein muss: den Patienten selbst. Immerhin haben neben Vertretern der Ärzteschaft, der Krankenkassen und der Politik auch Patientenvertreter auf dem Ersten Deutschen Patiententag in Leipzig am 10. 3. 2000 der Stärkung von Patientenrechten und der Schaffung unabhängiger Informationssysteme das Wort geredet.27 So konträr die unter den Beteiligten vertretenen Ansichten blieben, bestand immerhin Konsens darüber, dass der Patient im Mittelpunkt des Gesundheitswesens stehen solle. Konkrete konsentierte Zielvorstellungen hat der Patiententag, dessen zukünftige Entwicklung abzuwarten bleibt, indessen nicht hervorgebracht. Blickt man auf die bisherige Entwicklung in Sachen Patientenrechte, bleibt festzustellen, dass der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bereits in seinem Jahresgutachten 1992 festgestellt hat, dass die Rechte des Patienten in Deutschland in vielfacher Hinsicht Beachtung fänden.28 Der Sachverständigenrat hat eine Lösung dahin für notwendig erachtet, dass das geltende Recht in den ärztlichen Alltag konsequent umgesetzt werden möge, vornehmlich durch die Zusammenfassung in Gestalt einer Patientenrechtscharta, die dem Patienten mithin die Kenntnis über Art und Ausmaß seiner Rechte vermitteln möge. Diese Vorgabe lässt sich mit guten Gründen als deklaratorische Patientenrechtscharta bezeichnen.29 Die deutsche Ärzteschaft hat die vom Sachverständigenrat abgegebene Empfehlung umgesetzt. Bereits der Name des von der Bundesärztekammer unter dem 30. 9. 1999 der Öffentlichkeit vorgestellten Entwurfs spricht für sich. In der Präambel der „Charta der Patientenrechte“ ist ausgeführt: „Angesichts der besonderen Schutzbedürftigkeit eines Menschen, der als Patient bei einem Arzt Hilfe sucht, ist es sinnvoll, auf der Grundlage der allgemein anerkannten Menschenrechte Patientenrechte zu formulieren. Ärzte und andere, die mit der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung betraut sind, haben eine gemeinsame Verantwortung, diese Rechte anzuerkennen und zu wahren.“ Wie der Sachverständigenrat zielt daher auch die Ärzteschaft auf ein Verständnis von Patientenrechten im deklaratorischen Sinne. Es gehe nicht um die Begründung neuer, eigenständiger Rechte der Patienten, sondern vielmehr um die Zusammenfassung der bestehenden: Die Rechte des Patienten fänden eine spiegelbildliche Formulierung in den Gesetzen, der Berufsordnung, aber gerade auch im Haftungsrecht und den staatlichen Sozialleistungssystemen. Auch diese hätten die Grundrechte der Patienten zu berücksichtigen. Nicht zuletzt hat sich die Politik geäußert: Auf der Grundlage eines Gutachtens30 der Professoren Robert Francke und Dieter Hart31 hat die 72. GesundheitsDazu Richter, DÄBl. 2000, A-753. Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Jahresgutachten 1992 – Ausbau in Deutschland und Aufbruch nach Europa, Tz. 352. 29 So Hanika, MedR 1999, 149. 30 Dazu Laufs, NJW 2000, 1757, 1759. 27 28

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ministerkonferenz (GMK), auf deren Auftrag das Gutachten beruht, die Deklaration „Patientenrechte in Deutschland heute“ beschlossen.32 Die Deklaration sei ausweislich ihres Vorwortes Richtschnur und Orientierungshilfe über bestehende Rechte und Pflichten und solle zur Stärkung der Positionen der Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen beitragen. Sie schafft namentlich kein neues Recht, sondern gibt einen Überblick über wesentliche bestehende Rechte. Von einigen Randkorrekturen abgesehen, stimmt das Dokument der 72. GMK konzeptionell und inhaltlich mit dem Entwurf von Francke und Hart überein. Hinzuweisen bleibt indessen darauf, dass das Gutachten – über die von der GMK eingenommenen Positionen hinausgehend – in einer Forderung substanziell abweicht: Francke und Hart regen in ihren gutachterlichen Ausführungen zum Fortentwicklungsbedarf33 u. a. die Einrichtung unabhängiger Beratungsstellen einschließlich einer Stiftung Gesundheitstest, die institutionelle Beteiligung von Patienteninteressen, insbesondere im Rahmen der Gutachter- und Schlichtungsstellen, der Ethikkommissionen, im Bereich der Arzneimittelzulassung, der Qualitätssicherung und nicht zuletzt im Rahmen der Verwaltungsstrukturen des Sozialversicherungsrechts an. Fundamental gegenüber dem bisherigen rechtlichen Verständnis weicht die Forderung der Gutachter ab, die ärztliche Aufklärung müsse den allgemeinen Hinweis des Arztes oder des Krankenhausträgers auf einen an anderer Stelle höheren Standard umschließen.34 Über die genannten deklaratorischen Patientenrechte hinaus zielen die Gutachter mithin auf die Begründung neuer und insoweit konstitutiver Patientenrechte ab. Die GMK ist den Gutachtern gerade hier jedoch nicht gefolgt. Die Zielvorstellungen und Zwecke des Beschlusses der GMK finden sich in einer Präambel dargelegt: Das Dokument will Patienten und Versicherte über ihre wichtigsten Rechte und Pflichten informieren, gleichzeitig Ärzten, Zahnärzten, Pflegekräften und Psychotherapeuten sowie Mitarbeitern aus Gesundheitsfachberufen bei der täglichen Arbeit als Orientierungshilfe dienen. Durch die Information über bestehende Patientenrechte soll deren tatsächliche Umsetzung in die Alltagspraxis medizinischer Behandlung gefördert und so die Position des Patienten im Gesundheitswesen gestärkt werden. Die Deklaration der GMK will das kooperative Gespräch ermöglichen und damit zur Entwicklung einer vertrauensvollen, partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung beitragen. Auf die Präambel folgen vier Abschnitte betreffend Patientenrechte auf sorgfältige Information, Patientenrechte in der Behandlung, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und Rechte im Schadensfall. Hier werden im Wesentlichen die Leitlinien der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Arzthaftung in groben Zügen nachgezeichnet. Auf Details verzichten die Verfasser aus Gründen der Übersichtlichkeit. Genau darin liegt aber das eigentliche Problem. Zur Stärkung der Patientenrechte wäre eine ausführlichere DarstelFrancke / Hart, Charta der Patientenrechte. Beschluss der 72. Konferenz der für das Gesundheitswesen zuständigen Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren vom 9. / 10. 6. 1999 in Trier. 33 Francke / Hart (o. Fn. 31), S. 227 ff. 34 Francke / Hart (o. Fn. 31), S. 229. 31 32

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lung zu begrüßen gewesen. Im Abschnitt „Patientenrechte auf sorgfältige Information“ erfolgen zunächst grundsätzliche Ausführungen zu Aufklärung und Einwilligung, dann zum Umfang der Aufklärung, zur Information über medizinische Versuche, zum Zeitpunkt, Verpflichteten, Adressaten, Verzicht auf und Dokumentation der Aufklärung, schließlich zu Information und Beratung durch Krankenkassen und andere Stellen. In Übereinstimmung mit der Position der Rechtsprechung soll sich der Umfang der Aufklärung insbesondere nach der Schwere und Dringlichkeit des Eingriffs richten.35 Das Dokument folgt auch der eher restriktiven Linie der Rechtsprechung zur ärztlichen Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen.36 Während Francke / Hart in diesem Punkt Kritik an der Rechtsprechung üben und eine umfassende Information des Patienten fordern,37 stimmen die Verfasser der vorliegenden Entschließung mit der Judikatur darin überein, dass der Arzt insoweit nur aufzuklären hat, wenn für den konkreten Behandlungsfall mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte Behandlungsmethoden mit unterschiedlichen Risiken und Erfolgschancen zur Verfügung stehen. Der Abschnitt „Patientenrechte in der Behandlung“ ist untergliedert in folgende Abschnitte: Recht auf qualifizierte Behandlung, Recht auf qualifizierte Pflege und Versorgung, Wahlrechte des Patienten, Mitwirkung des Patienten an der Behandlung, Dokumentation der Behandlung, Einsichtsrecht, Vertraulichkeit der Patientendaten und Datenschutz, Übernahme der Behandlungskosten der gesetzlichen Krankenversicherung und Aufklärung über die Kostenübernahme. Im Abschnitt „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ stellt die GMK das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung auch am Ende seines Lebens in den Vordergrund38 und betont den Anspruch auf Schmerz lindernde Behandlung, selbst wenn diese sein Leben verkürzt. Jedem Patienten, der entscheidungsfähig und über seine Situation aufgeklärt ist, spricht sie das Recht zu, den Abbruch oder das Unterlassen weiterer lebensverlängernder Maßnahmen zu verlangen, unabhängig davon, ob der Sterbeprozess bereits eingesetzt hat. Für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit soll er durch eine Patientenverfügung, die vom Arzt für die Erforschung des von ihm zu respektierenden mutmaßlichen Willens heranzuziehen ist, auf lebenserhaltende und -verlängernde Maßnahmen verzichten können. Ein letzter Abschnitt trägt schließlich die Überschrift „Rechte im Schadensfall“ und wird insbesondere zivilrechtlich relevant. Das Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung hat im Februar 2003 eine entsprechende Broschüre „Patientenrechte in Deutschland“ herausgegeben. Das mit einer Patientencharta verfolgte Anliegen, durch beiden Seiten leicht zugängliche Informationen das kooperative Gespräch zu fördern und dazu zur Entwicklung einer vertrauensvollen, partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung beiVgl. etwa BGH NJW 1998, 1784; 1997, 1637; 1991, 2349. BGH NJW 1998, 2734; 1986, 780; weitere Nachweise bei Geiß / Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rdn. C 25 ff. 37 Francke / Hart (o. Fn. 31), S. 125 f. und 228. 38 Vgl. auch die Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung in der überarbeiteten Fassung vom 11. 9. 1998, abgedruckt in: NJW 1998, 3406 ff. 35 36

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zutragen, verdient grundsätzlich Anerkennung. Informierte Patienten können durch eigene, qualifizierte Entscheidungen ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben und die Effektivität sowie Effizienz medizinischer Behandlungen verbessern. Ob eine Patientenrechtsregelung die erhoffte präventive Konflikt vermeidende, Rechtssicherheit vermittelnde Wirkung hat und also die Zahl der Streitfälle verringert, bleibt freilich abzuwarten.39 Der Entwurf einer Patientenrechtscharta von Robert Francke und Dieter Hart ist konsistenter und in vielen Punkten besser formuliert als die Entschließung der GMK, in der sich die Schwierigkeiten einer Konsensfindung zwischen allen wesentlichen am Gesundheitswesen Beteiligten niederschlagen. Die ministerielle Handreichung beschreibt das geltende Recht abgewogen und gemeinverständlich, freilich nur in seinen großen Linien. Rechtspolitische Akzente fehlen nicht ganz, bleiben aber hinter dem vorausgegangenen Gutachten zurück.40 Die Urheber des Dokuments konnten weder Recht setzen noch solches authentisch oder bindend interpretieren. So beschränkten sie sich denn auf die Absicht, zu informieren und dadurch das Arzt-Patienten-Gespräch anzuregen. Die Mitteilungen erweisen sich im Ganzen nicht nur als kursorisch, sondern auch als lückenhaft. In der Praxis gewichtige Aufgaben und oft gestellte Rechtsfragen bleiben völlig ausgespart, so insbesondere solche auf dem Felde der Fortpflanzungsmedizin und der Transplantationsmedizin, oder auch das Recht von Kindern auf altersgemäße Versorgung im Krankheitsfall.41 Mitgetragen wird der Beschluss der GMK von Krankenkassen, Datenschutzbeauftragten, Verbraucher- und Patientenschutzverbänden, der Bundeszahnärztekammer, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat. Die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben mitberaten, sich aber nach der Publikation distanziert.42 Ihre Kritik zusammengefasst richtet sich besonders darauf, dass das Dokument eine Aneinanderreihung verschiedener Regelungen enthalte, mit erheblichen Mängeln und rechtlichen Ungenauigkeiten behaftet, für Laien auch nicht verständlich genug gefasst sei. Besser wäre es gewesen, in einem Dokument nur Grundrechte festzulegen, leistungs- und haftungsrechtliche Aspekte aber in zusätzliche Dokumente aufzunehmen.43 Daraufhin hat die Bundesärztekammer, wie bereits oben erwähnt, am 30. 9. 1999 den Entwurf einer „Charta der Patientenrechte“ verabschiedet und zur Diskussion gestellt. Der Entwurf ist wesentlich kürzer als die beiden anderen Dokumente und konzentriert sich auf eine Präambel und 10 Thesen. Im Anschluss an eine Präambel, die es als notwendig erachtet, auf der Grundlage der allgemein anerkannten Menschenrechte Patientenrechte zu formulieren, folgt zunächst ein Recht auf medizinische Versorgung sowie ein Recht auf Qualität. Anschließend wird das Recht 39 40 41 42 43

Vgl. Katzenmeier, MedR 2000, 24 f. Laufs, NJW 2000, 846. Laufs, NJW 2000, 846, 847. Vgl. Rieser, DÄBl. 1999, A-1818. Vgl. dazu Laufs, NJW 2000, 846, 847.

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auf Selbstbestimmung genannt. Weiterhin habe jeder Mensch das Recht auf vorsorgliche Willensbekundung für den Fall, dass er nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen rechtlich verbindlich zu äußern. Die Bundesärztekammer strebt weiterhin ein Recht auf Aufklärung und Beratung an. Genannt wird außerdem das Recht des Patienten, dass seine Informationen und Daten der Schweigepflicht unterliegen und von Ärzten, Krankenhäusern u. a. medizinischen Einrichtungen, den staatlichen Organen und den Organen der Sozialversicherung vertraulich behandelt werden. Jeder Patient habe das Recht auf freie Arztwahl. Erwähnenswert ist weiterhin das Recht auf Dokumentation sowie auf Einsichtnahme. Abschließend nennt die Charta der Patientenrechte ein Recht auf Schadensersatz. Neben der GMK und der Bundesärztekammer hat sich auch der Gesetzgeber zum Thema Patientenrechte geäußert.44 IV. Regelungsort Die Gewährleistung von Patientenrechten ist aufgrund der Vielgestaltigkeit des Gesundheitswesens, das in das private und öffentliche Krankenversicherungssystem und eine Vielzahl von Trägern von Gesundheitseinrichtungen aufgesplittet ist, und die daran anknüpfende Vielzahl der Gesetze mit der weiteren Folge unterschiedlicher Gesetzgebungszuständigkeiten nicht einheitlich möglich. Vielmehr müssen Regelungen in ganz verschiedenen Gesetzen, die unterschiedlichen Rechtsgebieten angehören (Zivil-, Straf-, Verwaltungsrecht) getroffen werden. Deshalb kommt der Koordinierung der einzelnen Aktivitäten grundsätzlich unabhängiger staatlicher und privater Instanzen auf einer informellen Ebene erhebliche Bedeutung zu. Der Wert von nicht strikt rechtsverbindlichen Deklarationen, die gemeinsame Grundsätze und Ziele formulieren und koordinierend sowie bewußtseinsbildend wirken, sind deshalb gerade aufgrund der föderalen Ordnung des Grundgesetzes und trotz der in Deutschland nach wie herrschenden Skepsis gegenüber soft-law45 nicht zu unterschätzen. V. Zusammenfassung Regelungen über Patientenrechte sind unsystematisch verstreut in vielen Rechtsbereichen zu finden, außerdem kommt eine umfangreiche, schwer überschaubare Rechtsprechung hinzu. Auch der Beschluss der 72. GMK sowie die Charta der Patientenrechte, verfasst von der Bundesärztekammer, konnten kein neues Recht schaffen, sondern nur das bestehende wiedergeben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. 44 Zu nennen ist z. B. das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22. 12. 1999 (BGBl. I S. 2626). 45 Siehe etwa Wimmer, DVBl. 2000, 27 ff., für den offenbar nur rechtsverbindliche Maßnahmen Wert und Wirksamkeit besitzen.

10 Jahre Transplantationsgesetz – Notwendigkeit einer Weiterentwicklung? Von Hans-Ludwig Schreiber

I. Deutschland erhielt als eines der letzten Länder in Europa ein Transplantationsgesetz. Es wurde am 05. 11. 1997 verkündet und trat am 01. 12. 1997 in Kraft, als „Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen“1. Eine lange Phase der Rechtsundeutlichkeit fand damit ein Ende. Der erste Entwurf eines Transplantationsgesetzes war wegen der in den 70er Jahren noch fehlenden Kompetenz des Bundes als Strafgesetz konzipiert gewesen.2 Erst die ausdrückliche Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für die Transplantation auf den Bund durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG durch das Gesetz zur Änderung des GG vom 27. 10. 19943 machte ein besonderes Transplantationsgesetz möglich. Insbesondere der interfraktionelle Entwurf von CDU / CSU, SPD und FDP4 auf der Basis von Vorarbeiten im Bundesgesundheitsministerium wurde maßgeblich.5 II. Vor allem zwei Gesichtspunkte waren es, die das Gesetzgebungsverfahren und die Auseinandersetzungen in ihm bestimmten: Der lebhafte Streit um den Hirntod sowie die Auseinandersetzung um die erweiterte oder enge Zustimmungslösung bzw. die Widerspruchslösung für die Organentnahme.6 Der Streit um den Todeszeitpunkt ergab sich aus dem Bemühen sicherzustellen, dass Organe nur vom wirklich toten Spender im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2 TransBGBl. I, S. 2361. Schreiber, Bundesgesundheitsblatt 2002, 761 ff. 3 BGBl. I, S. 3146. 4 BT-Drs. 13 / 4355. 5 Deutsch, NJW 1998, 777; Nickel / Schmidt-Preisigke / Sengler, Kommentar zum Transplantationsgesetz, 2000, S. 18 ff.; Arntz, Zeitschrift für med. Ethik 2005, 185 ff. 6 Schroth / König / Gutmann / Oduncu, Kommentar zum Transplantationsgesetz, 2005, Einleitung Rn. 6 m. w. N. 1 2

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plantationsgesetz entnommen wurden. Diese Frage ist bis heute aktuell, wenn auch der Hirntod sich inzwischen allgemein und weitgehend durchgesetzt hat7. Mit Recht wird der Tod des Spenders als das zentrale normative Kriterium für die Transplantationsmedizin bezeichnet. Er bestimmt den Zeitpunkt, von dem an Organe entnommen werden dürfen. Lange galt der Tod für das Recht als unproblematisch. So heißt es in der klassischen Definition Savignys im Jahre 1840, der Tod als die Grenze der natürlichen Rechtsfähigkeit sei ein so einfaches Naturereignis, dass derselbe nicht wie die Geburt eine genauere Festlegung seiner Elemente nötig mache. Man ging vom Stillstand des Kreislaufs und der Atmung aus und bezeichnete diesen Zustand als Tod. Gemeint war damit pragmatisch der Zeitpunkt, bis zu dem das menschliche Leben vom Arzt aufrechterhalten bzw. verlängert werden konnte. Herz- und Kreislauftod markierten den Moment, an dem der Arzt seine Tätigkeit aufgeben musste. Dieser sogenannte „klassische“, pragmatisch bestimmte Todesbegriff wurde mit der Weiterentwicklung der Medizin fragwürdig. Der Tod als Herz- und Kreislaufstillstand war nicht mehr das Ende der medizinischen Behandlungsmöglichkeit. Durch Wiederbelebung konnten der Kreislauf und die Atmung wieder in Gang gebracht und damit der Tod überwunden werden, wenn das Gehirn noch funktionsfähig war. Erst wenn das Gehirn als das zentrale Steuerungsinstrument ausfiel, war der Stillstand von Herz und Kreislauf definitiv und das Ende des Menschen endgültig. Dann erst war ein Mensch als tot zu bezeichnen.8 Andererseits ergab sich, dass zur Transplantation geeignete Organe nur zur Verfügung standen, wenn man sie bei Weiterbeatmung des hirntoten Menschen entnehmen konnte.9 Das Harvard-Komitee entwickelte zuerst das Hirntodkonzept, nach dem der Mensch tot sei, wenn sein Gehirn als das zentrale Steuerungsorgan irreversibel ausgefallen sei.10 Freilich ist damit nicht alles Leben im Menschen beendet, der Tod ist ja kein Moment, sondern ein Prozess. Einzelne Organe und Zellen sterben erst später nacheinander ab. Aber mit dem totalen Wirkungsausfall des Gehirns fällt nicht nur ein besonders wichtiges Organ des Menschen aus, sondern der Orga7 Schroth, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 35 mit eingehenden Stellungnahmen zu den Kritikern des Hirntodes (Vor §§ 3, 4 Rn. 7 ff.). Schreiber, Tansit-Europäische Revue, Bd. 22 (2007), 25 ff. 8 Schreiber, DSO, Wege gemeinsam gehen, 3. Jahreskongress vom 31. Mai 2007 bis 1. Juni 2007, S. 44 ff.; Nickel / Schmidt-Preisigke / Sengler (o. Fn. 5) S. 18 ff. 9 Geilen, JZ 1968, 150 ff.; Schreiber, Wann darf ein Organ entnommen werden? in: Hirntod und Organtransplantation, Beiheft zur Theologischen Zeitschrift 195, S. 125 ff.; Schroth, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 3 ff. 10 Ad hoc Comittee of the Harvard Medical School to examine the definition of brain death (1968; Jama 337 – 340; Oduncu, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Einleitung Rn. 12 ff.

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nismus als Einheit ist beendet, mit dem Ende des Gehirns existiert der Mensch als Gesamtheit nicht mehr.11 Mit dem Hirntod hat der Mensch irreversibel die Möglichkeit zur Wahrnehmung, zur Bildung von Bewusstsein und zu irgendwelchen Handlungen verloren. Damit ist er als biologischer Organismus und als physisch-geistige Einheit zu Ende.12 Eine Verpflichtung zu weiterer Therapie besteht nicht mehr, Organe dürfen entnommen werden. Gegen dieses Hirntodkonzept, von dem auch das deutsche Transplantationsgesetz ausgeht, hat sich eine Gruppe von Gegnern aus verschiedenen Disziplinen gewandt.13 Die Gegner des Hirntodes, die teilweise bis heute aktiv sind, sprechen von einer unmenschlichen, verfassungswidrigen Halbierung des Menschen, wenn man das Gehirn als zentrales Organ des Menschen ansehe und das Leben damit auf das Gehirn reduziere. Maßgeblich sei das Leben als körperlicher Vorgang, der beim Hirntod noch vorhanden sei. Hirntod sei ein Durchgangsstadium im Sterbeprozess, dieser gehöre aber noch zum Leben.14 Die ganz überwiegende Meinung in der weltweiten Diskussion und Gesetzgebung geht aber vom Hirntodkonzept aus.15 Verfehlt ist der Essay der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften „Hirntod ist nicht Tod“ vom Februar 2005, der sich gegen den Hirntod wendet.16 Hier werden nur alte, überholte Thesen wiederholt. Andererseits reicht der Ausfall der Funktionen der Großhirnrinde für die Annahme des Todes nicht aus. Der sogenannte Cortex-Tod wird, von wenigen Stimmen, insbesondere in den USA, abgesehen, nicht anerkannt.17 11 Schreiber, Transit 33 (2007), 28; Schreiber, in: Firnkorn (Hrsg.), Hirntod als Todeskriterium (2000), S. 44 ff. 12 Tröndle / Fischer, Kommentar zum StGB, 55. Aufl. 2008, Vor § 211 Rn. 8 ff.; Eser, in: Schönke / Schröder, Kommentar zum StGB, 27. Aufl. 2007; Vor § 211 Rn. 16 ff. m.v.w.N.; Oduncu, Hirntod und Organtransplantation,1998, S. 215 ff.; Schroth, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 21 ff. 13 Höfling / Rixen, in: Höfling (Hrsg.) Kommentar zum Transplantationsgesetz, § 3 Rn. 11 ff.; in der Schmitten, in: Höfling, TPG (a. a. O.), Anhang zu § 3 TPG: Zur Entwicklung der Hirntodkonzeption – eine kritische Analyse aus medizinischer Perspektive, Rn. 1 ff. m.v.w.N.; Tröndle, FS Hirsch, 1999., S. 779 ff. 14 Höfling / Rixen, in: Höfling, TPG (o. Fn. 13), § 3 Rn. 19. 15 Schroth, in Schroth, TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 6; Heun, JZ 1996, 213 ff.; Merkel, Jura 1999, 113 ff. sämtlich m.v.w.N.; siehe auch: Tröndle / Fischer (o. Fn. 12),. Vor § 211 Rn. 6 ff.; Klinge, Todesbegriff, Totenschutz und Verfassung,1996, S. 175; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Deutsches Ärzteblatt 1998, A 1861; Bondolfi / Kostka / Seelmann: Hirntod und Organspende (2003), S. 11 ff.; Schroth, in Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 26.; gegen Höfling / Rixen zutreffend Anderheiden, Der Staat 2000, 509; Schreiber, Regeln für die Organgewinnung und Organvermittlung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 5 (2000) S. 141 ff. 16 Byrne / Coimbra / Spaemann / Wilson, Hirntod ist nicht Tod, 2005, Schriftenreihe der Aktion Leben e.V.; S. 2 ff.

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Zutreffend hat Papst Johannes Paul II am 29. 08. 2000 beim Transplantationskongress in Rom den Hirntod als ein zulässiges Kriterium für die Transplantation bezeichnet. Er hat ausgeführt, der Hirntod sei eine wissenschaftlich zuverlässige Methode zur Identifizierung der biologischen Anzeichen, die den Tod der menschlichen Person eindeutig beweisen.18 Das Transplantationsgesetz geht nach den streitigen Auseinandersetzungen zu seiner Entstehungszeit und später mit Recht vom Hirntod aus. Dies ist im Gesetz jedoch im Kompromisswege ungeschickt formuliert, vielleicht sogar missverständlich ausgedrückt. Das Transplantationsgesetz enthält zwei Regeln zum Tod. Es arbeitet mit unterschiedlichen Todesbegriffen. In § 3 Abs. 1 Nr. 2 TPG verlangt das Gesetz, dass der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaften entsprechen, festgestellt ist. In § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG legt das Gesetz dann fest, dass die Entnahme von Organen unzulässig ist, wenn nicht vor dieser Entnahme bei dem Organspender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaften entsprechen, festgestellt ist. Das ist eine im Wege des Kompromisses im letzten Stadium des Gesetzgebungsverfahrens entstandene eigenartige Technik des Gesetzes. Es will für den Tod auf die Regeln der medizinischen Wissenschaft abstellen (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 TPG). Im Wege doppelter Verneinung wird dann der Hirntod eingeführt19, der geltender Mindeststandard für den Tod sein soll (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG). Es bleibt offen, ob die Medizin hinsichtlich des Todes noch zu anderen Regeln kommen wird. Das Transplantationsgesetz hat in § 16 Abs. 1 Nr. 1 TPG der Bundesärztekammer eine Richtlinienbefugnis zur Feststellung der Regeln zur Feststellung des Todes eingeräumt. Die Bundesärztekammer hat davon Gebrauch gemacht und den Hirntod als wesentliches Kriterium und Verfahrenswege zu seiner Feststellung festgelegt.20 Auch Hirntodkritiker wie in der Schmitten räumen ein, dass der Hirntod untrennbarer Bestandteil des Transplantationsgesetzes geworden ist.21 Der erste Hauptstreitpunkt des Transplantationsgesetzes, der so viel Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen mit sich gebracht hat, dürfte danach erledigt sein. Das künftige Gesetz sollte beim Hirntod bleiben, es gibt keine Gründe zu einem Abgehen davon. 17 Klinge, Todesbegriff, Totenschutz und Verfassung,1996, S. 40 ff. m.v.N.; Schroth, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 26. 18 Johannes Paul II, L’Osservatore Romano vom 15. 9. 2000. 19 So richtig: Deutsch, NJW 1998, 778 ff. 20 Bundesärztekammer, Deutsches Ärzteblatt 1993, C 1975; zu den Richtlinien: Schroth, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor §§ 3, 4 Rn. 31 ff.; Schreiber, Bundesgesundheitsblatt, 2002, 791 ff. 21 In der Schmitten, in: Höfling, TPG (o. Fn. 13), Anhang zu § 3 Rn. 8.

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Das zweite Hauptproblem während des Gesetzgebungsverfahrens war die Einwilligung in die Organentnahme. Hier hat man sich nach vielem Streit für die sogenannte erweiterte Zustimmungslösung entschieden. Die Organentnahme ist nur zulässig, wenn der Organspender in die Entnahme eingewilligt hat (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 TPG). Fehlt eine schriftliche Einwilligung oder ein schriftlicher Widerspruch des möglichen Organspenders, so ist dessen nächster Angehöriger zu befragen. Diese erweiterte Zustimmungslösung hat praktisch gut funktioniert. Jetzt wird wieder die damals unterlegene Widerspruchslösung vom Nationalen Ethikrat in die Diskussion gebracht.22 In Ländern mit Widerspruchslösung liegt die Transplantationsrate deutlich höher, z. B. in Österreich bei 24,4 pro Million Einwohner im Vergleich zu Deutschland mit 12,4. In der öffentlichen Diskussion nach der Empfehlung des Ethikrates regte sich sofort lebhafter Widerspruch gegen die Widerspruchslösung, da Schweigen nicht als Zustimmung angesehen werden könne. Offenbar ist in der deutschen Bevölkerung mit Ablehnung zu rechnen, wenn von einer Zulässigkeit der Organentnahme bei Fehlen eines Widerspruchs ausgegangen werden soll. Auch Lilie hat Bedenken gegen die Widerspruchslösung geäußert und meint, es solle bei der Zustimmungslösung bleiben.23 Die Transplantation könnte Schaden erleiden, wenn eine Widerspruchslösung gegen den Willen eines großen Teils der Bevölkerung eingeführt würde. Es sollte daher bei der geltenden erweiterten Zustimmungslösung bleiben. Es wäre zu überlegen, wie die Spendebereitschaft auf anderen Wegen gesteigert und die Spenderzahl erhöht werden kann. III. Andere Regelungen des Gesetzes erscheinen dagegen problematisch. Vor allem die Gewinnung und Verteilung der Organe ist im gegenwärtigen gesetzlichen System problematisch und verbesserungswürdig. Damit könnte auch die Zahl der gewonnenen Organe gesteigert werden. Dem Transplantationsgesetz liegt ein kompliziertes System der Organgewinnung und -verteilung auf der Basis selbstverwaltungsrechtlicher Verträge zugrunde. Krankenkassen, Krankenhausgesellschaft und Bundesärztekammer beauftragen durch Verträge eine Koordinierungsstelle mit der Organisation der Organentnahme und Organgewinnung sowie eine Vermittlungsstelle mit der Verteilung der gewonnenen Organe auf die wartenden Patienten (§§ 9, 10 sowie §§ 11 und 12 TPG). 22 Nationaler Ethikrat: Die Zahl der Organspenden erhöhen – zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, 2007. 23 Lilie, Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Deutschen Transplantationsgesetzes, Kongressband zum 3. Jahreskongress der Deutschen Stiftung Organtransplantation vom 31. 5. 07. – 1. 6. 07, S. 24 ff.

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Bestimmt wurden durch Verträge die Deutsche Stiftung Organtransplantation in Frankfurt sowie die Stiftung Eurotransplant in Leiden (Holland), die diese Aufgaben jetzt seit 10 Jahren wahrnehmen (§ 11 Abs. 2, § 12 Abs. 4 TPG). Die Festlegung von Richtlinien für die Verteilung der vermittlungspflichtigen Organe nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit ist als Aufgabe der Bundesärztekammer übertragen (§ 12 Abs. 3; § 16 Abs. 1 Nr. 5 TPG). Schon vor Erlass des Transplantationsgesetzes wurde gegen dieses System der „Privatisierung öffentlicher Aufgaben“ und gegen die „Übertragung von Hoheitsgewalt auf Private und Ausländer“ ohne hinreichende Ermächtigung lebhaft Kritik geübt. Grundrechte berührende Regelungen, die das Leben betreffen, seien nicht einfach auf Private zu übertragen und dürften nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur durch Parlamentsgesetz geregelt werden. Sie würden aber durch Richtlinien der Bundesärztekammer, die die Rechtsform einer privaten Vereinigung habe und durch Verträge von Selbstverwaltungsorganen getroffen.24 Das deutsche Transplantationsgesetz sei ein geradezu exemplarisches Defizitmodell, so formulierte es kürzlich in aller Schärfe Höfling in der Juristenzeitung.25 Der Gesetzgeber hätte mindestens über die Art der Auswahlkriterien für die Organe und deren Rangverhältnis untereinander sowie über die wesentlichen Grundsätze zur weiteren Konkretisierung und Operationalisierung dieser Vorgaben selbst und abschließend entscheiden müssen.26 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt, dass alle für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlichen Entscheidungen durch Parlamentsgesetz zu treffen sind.27 Was wesentlich ist, muss im Hinblick auf Regelungsmaterie und Intensität des Eingriffs entschieden werden. Nun ist sicher richtig, dass die Regelungen über die Organverteilung sich als Zuteilung von Lebenschancen auswirken. Bei der Richtlinienbefugnis der Bundesärztekammer handelt es sich aber nicht um eine über die zulässigen Grenzen hinausgehende, normsetzende bzw. normergänzende Verweisung auf die jeweilige Fassung eines berufsständischen Regelwerkes.28 Der Gesetzgeber hat nicht seine Rechtsetzungsgewalt zugunsten einer von ihm nicht beherrschten und beherrschbaren fremden Institution entäußert, sondern es handelt sich um eine im Gesetz (§ 12 Abs. 3 Satz 1 TPG) zwar in allgemeinen, ausfüllungsbedürftigen Formulierungen („insbesondere Erfolgsaussicht und Dring24 König, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), § 11 Rn. 4 ff.; Gutmann, ebenda, § 12 Rn. 10 ff. 25 Höfling, , JZ 2007, 481 ff. 26 Gutmann, in: Schroth u. a.,TPG (o. Fn. 6), § 12 Rn. 21, 23 ff.; Gutmann spricht von Kategorienfehlern. 27 Insbes. BVerfG 49, 89 ff.; näher m.N. aus der Rechtsprechung: Opper, Die gerechte und rechtmäßige Verteilung knapper Organe, 2008, S. 260 ff. 28 Taupitz, NJW 2003, 1145, 1147.

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lichkeit für geeignete Patienten“) festgelegten, das heißt in unbestimmten Rechtsbegriffen enthaltenen, aber zulässigen Regeln vorgenommene normkonkretisierende Verteilungsregel. Er hat damit eine Technik gewählt, die er auch sonst mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts verwendet, den normkonkretisierenden Verweis auf die Regeln von Wissenschaft und Technik.29 Darin wird einer bestimmten, fachnahen Institution die Aufgabe übertragen, Regeln zu geben, die ihrerseits als „Regeln der Technik“ im Sinne der fraglichen Rechtsnorm gelten. Es handelt sich dabei um antizipierte Sachverständigengutachten, die die Regeln der Technik sichtbar machen.30 Es ist richtig, dass darin der Gesetzesbefehl zwar wenig konkret, aber wie Taupitz zutreffend ausführt, ausreichend konkret, nicht aber, wie er meint, vollständig ausgeführt wird. Die Regeln der medizinischen Wissenschaft, nach denen sich z. B. der für die Vermeidung der Fahrlässigkeitshaftung maßgebliche Standard der Medizin bestimmt, können gesetzlich gar nicht konkreter umschrieben werden, ohne dass dies verfassungswidrig wäre. Praktikabilität und Sachnähe erfordern solche Richtlinien einer fachnahen Institution wie der Bundesärztekammer.31 So wird der jeweilige Gesetzeszweck bestmöglich verwirklicht.32 Der Gesetzgeber verwendet hier das Steuerungskonzept der regulierten Selbstregulierung.33 Es handelt sich um eine sachgerechte und für alle Beteiligten hinnehmbare Bewältigung des Mangels an Spenderorganen.34 Dabei ist auch unproblematisch, dass die Bundesärztekammer als der in privatrechtlicher Form gefasste Zusammenschluss landesrechtlicher öffentlich-rechtlicher Körperschaften Richtlinien erlässt, die nicht nur für den Bereich ihres eigenen Verbandes im Rahmen eigener Satzungsgewalt gelten.35 Es steht dem Gesetzgeber frei, selbst Verwaltungsträger des Gesundheitswesens zu bevollmächtigen, im Wege normkonkretisierender Verweisung die Organisation und Durchführung der Vermittlung von Organen durchzuführen.36

29 Taupitz, NJW 2003, 1145, 1149; BVerfG (o. Fn. 27); Marburger, Die Regeln der Technik, 1979, S. 385 ff.; Nickel, Die Entnahme von Organen und Geweben bei Verstorbenen zum Zwecke der Transplantation, 1999,S . 123; Nickel / Schmidt-Preisigke / Sengler, Kommentar zum Transplantationsgesetz, 2001, § 16 Rn. 4; verfehlt: Gutmann, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), § 12 Rn. 26. 30 Taupitz, NJW 2003, 1145, 1148; vgl. auch: Smit / Gerling / de Boer, Dringlichkeit, Erfolgsaussicht, Chancengleichheit, Intensivmed. 2005, S. 489 ff. 31 Nickel (o. Fn. 29), S. 124; Holznagel, DVBl. 1997, 393 ff. 32 BVerfGE 49, 89, 137. 33 Opper (o. Fn. 27), S. 261 ff.; Conrads, in: Dierks u. a., Allokation, S. 39; verfehlt: Gutmann, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6) § 12 Rn. 27. 34 Bundessozialgericht SozR 4 – 2006, § 16 Rn. 2. 35 Kritisch hierzu aber: Taupitz, NJW 2003, 1145 f. 36 Nickel (o. Fn. 29), S. 56; Schreiber, Bundesgesundheitsblatt 2002, 761 ff., 764.

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IV. Ernsthaft geprüft werden sollte bei der anstehenden Novellierung des Transplantationsgesetzes weiter, ob das gegenwärtige System der Organgewinnung als gemeinschaftliche Aufgabe der Transplantationszentren und der anderen Krankenhäuser in regionaler Zusammenarbeit verändert werden muss (§ 11 Abs. 1 TPG). Die Koordinierungsstelle sollte dabei zu einer Organisationszentrale werden, die mehr Einfluss auf Ablauf und Organisation hat. Verfehlt ist zwar die heftige Kritik an der Zentralisierung und Monopolisierung der Organgewinnung bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation im Band „Organmangel“37. Die Umstellung von Gewinnung und Verteilung auf eine zentrumsbezogene und damit regionale Gewinnung und Verteilung der Organe wäre mit dem grundlegenden Prinzip der Chancengleichheit nicht vereinbar und keine mögliche Alternative zum gegenwärtigen Gesetz. Zugelassen werden sollte die gezielte Leichenspende für Verwandte, damit hier nicht wieder auf die Notstandsregeln nach § 34 StGB zurückgegriffen werden muss.38 Eine Verknüpfung von Organspende und Gewinn müsste dabei verhindert werden. Neu zu regeln ist die Lebendspende, die immer mehr an Bedeutung und Umfang gewinnt.39 Die Regelung in § 8 TPG ist zu eng.40 Der Spenderkreis ist auszuweiten. Die Subsidiarität der Lebendspende ist, ohne dass die Leichenspende Schaden nehmen müsste, aufzuheben. Praktisch ist die Subsidiarität schon heute kein Hindernis mehr für die Durchsetzung der Lebendspende.41 Die gegenwärtige Regelung geht an der Realität vorbei, denn die Feststellung der Subsidiarität ist auf den Zeitpunkt der Organentnahme abgestellt, die Planung einer Lebendspende beginnt aber schon zu einem viel früheren Zeitpunkt42. Abzulehnen ist eine Kommerzialisierung der Organspende, wie sie jetzt teilweise wieder verlangt wird43. Das Verbot des Organhandels in §§ 17, 18 TPG sollte aufrechterhalten werden. Auch die Festlegung staatlicher, nicht verhanBreyer u. a., Organmangel. Ist der Tod auf der Warteliste unvermeidbar? 2006, S. 101 ff. Schreiber, 10 Jahre Transplantationsgesetz, 3. Jahreskongress der DSO 2007, S. 45; Lilie (o. Fn. 23), S. 25. 39 Zur Bedeutung und zum Umfang der Lebendspende näher: Gutmann, in: Schroth u. a., TPG (o. Fn. 6), Vor § 8 Rn. 1 ff. m.v.w.N.; Schreiber, Bundesgesundheitsblatt 2002, S. 761 ff. (,S. 763; ders., in: Broelsch (Hrsg.), Organlebendspende, 2005, S. 23 ff.; EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin, Organlebendspende, BT-Drs. 15 / 5050, S. 8 ff. 40 Breyer u. a. (o. Fn. 37), S. 123 ff. 41 Schreiber, Die Notwendigkeit einer Ausweitung der Zulässigkeit von Lebendspenden, in: Europäische Akademie, Anreiz zur Organspende Bd. 36, 2006. 42 So auch: Lilie (o. Fn. 23), S. 25. 43 Breyer u. a. (o. Fn. 37), S. 169 ff. 37 38

10 Jahre Transplantationsgesetz

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delbarer Preise mit einem Ankaufmonopol des öffentlichen Gesundheitssystems44 bleibt den Einwänden gegen die Gefahren der Kommerzialisierung ausgesetzt.

44

Breyer u. a. (o. Fn. 37), S. 232 ff.

Das polnische Sportrecht Von Andrzej J. Szwarc

I. Der Begriff des Sportrechts Mit dem Begriff des „Sportrechts“ im weiteren Sinne (sensu largo) bezeichne ich sowohl gesetzliche Regelungen, die im Sport ihre Anwendung finden und das „Sportrecht“ im engeren Sinne (sensu stricto) bilden, als auch durch sportliche Organisationseinheiten, insbesondere durch Sportverbände und Sportklubs, gebildete Regelungen, die jedoch natürlich keine Rechtsnormen darstellen. In den Rechtsvorschriften, die im Sport anwendbar sind, also im „Sportrecht“ im engeren Sinne (sensu stricto), muss man dagegen zwischen den direkt auf Sportprobleme bezogenen Regelungen und den allgemein geltenden Regelungen, die zwar Sportangelegenheiten normieren, jedoch eine allgemeine Anwendung haben, unterscheiden. II. Der staatliche und rechtliche Eingriff in die Sportangelegenheiten Polen (neben zum Beispiel Frankreich, Belgien oder Griechenland) gehört zu denjenigen Ländern, in denen der staatliche Eingriff in die Sportangelegenheiten erheblich ist. Dies kommt in Polen unter anderem durch Folgendes zum Ausdruck: 1. durch die Hervorhebung „der sportlichen Betätigung und des Sports“ in entsprechenden Rechtsvorschriften als eines der sog. Teile der Regierungsverwaltung; 2. durch das Funktionieren eines zentralen Organs der Regierungsverwaltung für diese Angelegenheiten, d. h. des Ministers für Sport und Touristik, sowie einer diesem Organ zuarbeitenden Behörde, d. h. des „Ministeriums für Sport und Touristik“; 3. durch die Geltung einer Reihe von besonderen Rechtsvorschriften, sogar selbstständigen Rechtsakten, die sich auf den Sport beziehen.

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Andrzej J. Szwarc

III. Der Minister und das Ministerium für Sport und Touristik Dass in Polen ein spezielles zentrales Organ und eine Behörde der Regierungsverwaltung bestehen, die sich unter anderen mit Sportsachen befassen, stellt seit längerer Zeit eine Tradition dar. Die zuvor tätigen Organe und Behörden hatten verschiedene und sich verändernde Bezeichnungen, z. B. der Vorsitzende des Amtes für Körperkultur und Sport oder der Vorsitzende des Amtes für Körperkultur und Touristik. Diese Behörden haben vorher niemals den Rang eines Ministeriums genossen. Natürlich funktionierten sie aufgrund anderer als der heute geltenden Rechtsakte. Unterschiedlich waren auch ihre Position, Kompetenzen und Aufgaben. Heutzutage ist der Minister für Sport und Touristik ein solches Organ, welches durch eine Behörde geleitet wird, die „Ministerium für Sport und Touristik“ (ursprünglich „Ministerium für Sport“) genannt und aufgrund einer Verordnung des Ministerrates vom 23. August 20051 gebildet wurde. Der detaillierte Wirkungsbereich des Ministers für Sport und Touristik wurde in einer Verordnung des Ministerrates vom 25. Juli 20072 bestimmt. Eine Satzung des diesem Amt zuarbeitenden Ministeriums wurde mit der Anordnung Nr. 123 des Vorsitzenden des Ministerrates vom 6. November 2007 erlassen. Der Wirkungsbereich des Ministers für Sport und Touristik umfasst unter anderen folgende Angelegenheiten: die Sportinfrastruktur, die Organisation von EURO 2012, die Schulung des Sportpersonals, der sog. qualifizierte Sport und der Jugendsport, der Allgemeinsport, der Sport für Behinderte, die Entwicklungsstrategien im Sport und Touristik u.ä. In anderen entsprechenden Rechtsakten, auf welche noch eingegangen wird, werden die Aufgaben und Kompetenzen des Ministers präziser bestimmt. IV. Das polnische Sportrecht im engeren Sinne (sensu stricto) 1. Die Verfassung der Republik Polen In dem den höchsten Rang genießenden Rechtsakt in Polen, d. h. in der Verfassung der Republik Polen vom 2. April 19973, bezieht sich nur eine einzige Vorschrift expressis verbis auf die sportliche Betätigung und umfasst mit dem Begriff unter anderen auch den Sport. Diese Regelung stellt Art. 68 Abs. 5 dar, wonach „die öffentliche Gewalt die Entwicklung der Körperkultur, insbesondere im Fall von Kindern und Jugend unterstützt“. Überdies beinhaltet die Verfassung eine Reihe von Vorschriften, die an Sport anknüpfen, obwohl sie keine expressis verbis 1 2 3

Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 165, Pos. 1368. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 135, Pos. 953. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 78, Pos. 483.

Das polnische Sportrecht

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Normierung darstellen. Solche Regelungen bilden vor allem: Art. 12, der unter anderem die Freiheit der Bildung und Tätigkeit der Gewerkschaften und Vereinigungen gewährleistet4, Art. 575 und 586, die die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantieren, Art. 65 Abs. 17, der das Recht auf freie Wahl und Ausübung des Berufes gewährleistet, sowie Art. 688, der in seinen Bestimmungen das Recht auf den Schutz der Gesundheit normiert. 2. Das Gesetz über die Körperkultur Einen der selbstständigen Rechtsakte, die sich explizit auf den Sport beziehen, stellt das Gesetz über die Körperkultur vom 18. Januar 19969 dar. Mit diesem Regelungswerk wurde ein zuvor geltendes Gesetz vom 3. Juli 1984 über die Körperkultur10 ersetzt. Das aktuell geltende Gesetz über die Körperkultur stellt einen relativ umfangreichen Rechtsakt dar, der 67 Artikel beinhaltet, von denen einige beim Inkrafttretens eines anderen Rechtsaktes, des Gesetzes vom 29. Juli 2005 über den qualifizierten Sport11 – worauf noch eingegangen wird – aufgehoben wurden. Das Gesetz über die Körperkultur bestimmt die Wirkungsregeln im Bereich der Körperkultur sowie die Aufgaben der Organe der Regierungsverwaltung, der territorialen Selbstverwaltung, der Vereinigungen der Körperkultur und ihrer Verbände sowie anderer Körperschaften im Bereich der Gewährleistung einer richtigen Verwirklichung der Verfahrensweise bei der Körpererziehung, dem Sporttreiben und der Bewegungserholung, sowie einer Ausübung der Bewegungsrehabilitation. Das Gesetz normiert daher nur einige Aspekte des Sports und auf den Sport beziehen sich nur 4 Art. 12. Die Republik Polen gewährleistet die Freiheit der Bildung und Tätigkeit der Gewerkschaften, der gesellschaftlich-beruflichen Bauerorganisationen, der Vereine, der Bürgerbewegungen, anderer freiwilliger Zusammenschlüsse sowie von Stiftungen. 5 Art. 57. Jedermann wird die Freiheit, friedliche Versammlungen zu veranstalten und daran teilzunehmen, gewährleistet. Eine Einschränkung dieser Freiheit kann vom Gesetz bestimmt werden. 6 Art. 58. 1. Jedermann wird die Vereinigungsfreiheit gewährleistet. 2. Verboten sind Vereine, deren Ziel oder Tätigkeit verfassungs- oder gesetzeswidrig ist. Über die Ablehnung der Eintragung oder ein Tätigkeitsverbot für einen solchen Verein entscheidet das Gericht. 3. Das Gesetz bestimmt, welche Vereine einer gerichtlichen Eintragung bedürfen, das Verfahren der Eintragung sowie Formen der Überwachung solcher Vereine. 7 Art. 65. 1. Jedermann hat das Recht auf freie Wahl und Ausübung des Berufes sowie auf freie Wahl des Arbeitsplatzes. Die Ausnahmen regelt das Gesetz. 8 Art. 68. 1. Jedermann hat das Recht auf Schutz der Gesundheit. 2. Den Staatsangehörigen, unabhängig von deren materieller Lage, sichert die öffentliche Gewalt gleichen Zutritt zur Gesundheitsfürsorge, die aus den öffentlichen Mitteln finanziert wird. Bedingungen und Umfang der Leistungen sichert das Gesetz. ( . . . ). 9 Dz. U. (Gesetzblatt) 2001, Nr. 81, Pos. 889 mit Änderungen. 10 Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 34, Pos. 181 mit Änderungen. 11 Dz. U. (Gesetzblatt) 2005, Nr. 155, Pos. 1298 mit Änderungen.

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einige seiner Bestimmungen. Dies sind insbesondere solche Regelungen, die den Rechtsstatus der Sportklubs, die Gründung und den Rechtsstatus der Sportverbände, darunter auch der sog. polnischen Sportverbände, das Funktionieren des Polnischen Paraolympischen Komitees, das im Bereich des Sports, der medizinischen Fürsorge für Behinderte, ihrer Dopingkontrollen sowie ihrer Unfallfolgenversicherung tätig ist, betreffen. In diesem Gesetz wird auch das Funktionieren entsprechender Organe normiert, die sich mit dem Sport in den Einheiten der territorialen Selbstverwaltung und in der Armee befassen. Ferner gibt es in dem Gesetz Bestimmungen bezüglich der Veranstaltungen der Körpererziehung in Kindergärten, Schulen und in anderen Anstalten dieser Art. Das Gesetz normiert die Möglichkeit des Erwerbs der sog. sportlichen Stipendien und anderer Leistungen, sowie der Auszeichnungen und Preise durch den Sportler. Rechtlich geregelt wurde auch die Problematik der Qualifikationen, die für eine Leitung der Veranstaltungen, unter anderen auch sportlichen Veranstaltungen, unerlässlich sind. Schließlich beinhaltet das Gesetz solche Regelungen, die die Sicherheitsregeln beim Treiben einiger besonders gefährlicher Sportdisziplinen normieren. 3. Das Gesetz über den qualifizierten Sport Einen anderen Rechtsakt, der sich speziell auf den Sport bezieht, stellt das Gesetz vom 18. Januar 1996 über den qualifizierten Sport12 dar. Das Gesetz bestimmt die Regeln der Ausübung einer Tätigkeit im Bereich des qualifizierten Sports, die Regeln der Teilnahme an einem sportlichen Wettbewerb sowie die Aufgaben der Organe der Regierungsverwaltung, der Einheiten der territorialen Selbstverwaltung und anderer Körperschaften im Bereich der Organisation des qualifizierten Sports und des sportlichen Wettbewerbs. Mit dem Begriff eines „qualifizierten Sports“ bezeichnet das Gesetz eine mit der Teilnahme an einem sportlichen Wettbewerb verbundene Aktivität, der in einer bestimmten Sportdisziplin durch den polnischen Sportverband oder durch andere in seiner Vollmacht handelnde Körperschaften organisiert oder durchgeführt wird. Das Gesetz normiert unter anderen das Funktionieren der Sportklubs und Sportverbände im sog. qualifizierten Sport, darunter insbesondere der polnischen Sportverbände, Sportler, Trainer, Schiedsrichter, was durch die Geltung verschiedener Lizenzen bedingt ist, sowie der sog. professionellen Liga und des Polnischen Olympischen Komitees. In dem Gesetz sind auch Bestimmungen enthalten, die für Sportstipendien, Preise, Auszeichnungen und andere Leistungen gelten, sowie Regelungen bezüglich der disziplinarischen Verantwortlichkeit im Sport, der Arbeit des Arbitragegerichtshofes für Sportangelegenheiten (Trybuna Arbitrazowy do Spraw Sportu) beim Polnischen Olympischen Komitee, der Dopingbekämpfung im Sport sowie Vorschriften, die die Kompetenzen des Ministers für Sport und Touristik in Bezug auf die Aufsicht über die polnischen Sportverbände bestimmen. 12

Dz. U. (Gesetzblatt) 2005, Nr. 155, Pos. 1298 mit Änderungen.

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4. Das Gesetz über die Sicherheit von Massenveranstaltungen Ein im Sport sehr bedeutsamer Rechtsakt ist das Gesetz vom 22. August 199713 über die Sicherheit von Massenveranstaltungen, welches zwar in seinem Titel keine Bezeichnung „Sport“ beinhaltet, aber trotzdem die Problematik der Sicherheit auch der Sportveranstaltungen im Wesentlichen normiert. Das Regelungswerk bestimmt die Sicherheitserfordernisse einer sportlichen Massenveranstaltung, die Prozedur der Genehmigungserteilung zur Organisation einer sportlichen Massenveranstaltung, die Grundsätze der Verantwortlichkeit der Organisatoren von Massenveranstaltungen und ihrer Teilnehmer im Falle einer Verletzung der Gesetzesvorschriften, die mit der Organisation von Massenveranstaltungen zusammenhängenden Befugnisse ihrer Organisatoren sowie die Verfahrensweise bei der Sammlung und Verarbeitung von Informationen im Bereich der Sicherheit der sportlichen Massenveranstaltungen. 5. Andere in Sportangelegenheiten anwendbare polnische Rechtsakte Überdies sind natürlich gegebenenfalls auch solche Gesetzesvorschriften im Sport anwendbar, die zwar keineswegs direkt in Verbindung mit dem Sport erlassen wurden, jedoch deswegen zur Anwendung kommen, weil sie im Sport auftretende Rechtsverhältnisse normieren. Nur beispielsweise können hier folgende allgemein geltende Rechtsakte erwähnt werden: das Gesetz vom 7. April 1989 – das Vereinigungsrecht14 (anwendbar, wenn ein Sportklub in der Rechtsform einer Vereinigung funktioniert bzw. in Bezug auf einen Sportverband und das Polnische Olympische Komitee, die in der Rechtsform eines Vereinigungsverbandes funktionieren), das Gesetz vom 23. April 1964 – das Zivilgesetzbuch15 (z. B. auch im Falle, dass die Aktivität eines professionellen Sportlers in einem Sportklub auf einem zivilrechtlichen Vertrag beruht), das Gesetz vom 15. September 2000 – das Handelsgesellschaftengesetzbuch 16 (anwendbar etwa in Bezug auf die Sportklubs, die als Aktiengesellschaften funktionieren), das Gesetz vom 26. Juni 1974 – Arbeitsgesetzbuch17 (u. a. wenn ein professioneller Sportler einen Arbeitsvertrag mit dem Sportklub schließt), das Gesetz vom 2. Juli 2004 über die Gewerbefreiheit 18, das Gesetz vom 26. Juli 1991 über die Einkommensteuer19, das Gesetz vom 15. Februar 1992 über die Körperschaftssteuer20, das Gesetz vom 20. Juni 2007 – das Straßenverkehrsrecht21 sowie viele andere Regelungswerke. 13 14 15 16 17 18 19

Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 106, Pos. 680 mit Änderungen. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 20, Pos. 104 mit Änderungen. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 16, Pos. 83 mit Änderungen. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 94, Pos. 1037 mit Änderungen. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 24, Pos. 141 mit Änderungen. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 173, Pos. 1807 mit Änderungen. Einheitlicher Text Dz. U. (Gesetzblatt) 2000, Nr. 14, Pos. 176.

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Die Geltung solcher Rechtsakte im Sport ist damit verbunden, dass der Sport in Polen – ähnlich wie es in anderen Ländern der Fall ist – natürlich von der Anwendung des allgemein geltenden Rechts nicht ausgeschlossen ist. Auf der Grundlage der oben erwähnten Gesetze, die sich speziell auf den Sport beziehen, des Gesetzes vom 22. August 1997 über die Sicherheit von Massenveranstaltungen sowie aufgrund noch weiterer Gesetzeswerke wurden viele Sportangelegenheiten detailliert noch in Rechtsakten normiert, die ausdrücklich, völlig oder nur teilweise an den Sport anknüpfen. Gemeint sind damit solche Rechtsakte, die den Rang der Verordnungen des Ministerrates oder der Anordnungen des Ministers genießen. In derartigen Rechtsakten werden beispielsweise folgende Angelegenheiten geregelt: die Registrierung der Sportklubs und Sportverbände, Regeln und das Verfahren der Gewährung, der Einstellung und der Entziehung der sportlichen Stipendien, ihre Höhe und Aufnahmezeit, die Qualifikationen, berufliche Grade und Titel im Bereich der sportlichen Betätigung und besondere Regeln ihres Erwerbs, Trainergrade und Lehrerspezialisationen, die Einheiten, die zur Durchführung von diesbezüglichen Speziellkursen berechtigt sind, die Begutachtung der Sportgeräte und Sportausrüstung, die zum Höhlenalpinismus, Segeln, Schiesssport, Tauchen erforderlichen Befugnisse, die Sicherheit der sich im Gebirge aufhaltenden Personen, der Schwimmer, der Wassersporttreibenden, Rechte und Pflichten der Fachrettungsorganisationen, der Rahmen medizinischer Fürsorge für die der Nationalmannschaft zugeordneten Sportler, die Berufung und die Arbeit der Kommission für Antidoping im Sport, die Bestimmung des Verzeichnisses der pharmakologischen Dopingmittel und Dopingmethoden, das Verfahren bei der Durchführung von Antidopingtestuntersuchungen, die zur Durchführung von Antidopinganalysen berechtigten Personen, die Aufzeichnung des Ablaufes einer Sportveranstaltung, die Qualifikationen des während der Sportveranstaltungen anwesenden Ordnungsdienstes, der Umfang der Haftpflichtversicherung, die der Organisator einer Sportveranstaltung zu besorgen hat, die Registrierung und Zurverfügungstellung der mit der Sicherheit der Sportveranstaltungen zusammenhängenden Informationen sowie andere Fragen. 6. Auf den Sport bezogene Akte des internationalen Rechts Erwähnenswert sind weiterhin die durch Polen unterzeichneten oder ratifizierten internationalen Rechtsakte, die mit dem Sport in einem Zusammenhang stehen. Dazu gehören: 1. Vertrag von Nairobi über den Schutz des Olympischen Symbols, angenommen am 26. September 198122, der nach der Ratifizierung am 22. November 199623 in der Republik Polen in Kraft getreten ist; 20 21

Dz. U. (Gesetzblatt) 1993, Nr. 106, Pos. 482 mit Änderungen. Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 98, Pos. 602 mit Änderungen.

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2. Internationale Konvention gegen Apartheid im Sport, angenommen durch die Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen am 10. Dezember 198524, die nach der Ratifizierung am 3. April 198825 in der Republik Polen in Kraft getreten ist; 3. Europäisches Übereinkommen über Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen von Zuschauern bei Sportanlässen, insbesondere bei Fußballspielen, erlassen in Straßburg am 19. August 198526, das nach der Ratifizierung am 1. Juni 199527 in der Republik Polen in Kraft getreten ist; 4. Die Anti-Doping Konvention (ETS Nr. 135) vom 16. November 1989, die nach der Ratifizierung am 1. November 1990 in der Republik Polen in Kraft getreten ist. V. Das Interesse am Sportrecht in Polen Der gegenwärtige Sport, insbesondere seine Massenhaftigkeit, Professionalisierung, Kommerzialisierung und begleitende Pathologien rufen eine Reihe von Rechtsproblemen hervor, die an verschiedene Rechtsgebiete anknüpfen. Einige damit aufgeworfene Fragen bilden ganz neue Problembereiche, andere – auch wenn sie im Sport schon früher auftraten – kommen heutzutage in unverhältnismäßig großen Ausmaß, Intensität und manchmal noch in anderen Erscheinungsformen zum Tragen. Wegen des sehr begrenzten Rahmens dieses Beitrags ist selbst die Erwähnung aller wichtigsten Rechtsprobleme, die im Sport auftauchen, nur in geringem Maße möglich. Im Vordergrund steht hier der bereits erwähnte, in verschiedenen Ländern sehr differenzierte staatliche und rechtliche Eingriff in die Sportangelegenheiten. Erhebliche praktische Rechtsprobleme beziehen sich weiterhin auf den Rechtsstatus der Sportklubs, polnischer und internationaler Sportverbände und Sportföderationen sowie anderer Sportorganisationen. An die Stelle eines zuvor alleinigen Dz. U. (Gesetzblatt) 1997, Nr. 34, Pos. 201. Vgl. die Regierungserklärung vom 12. Dezember 1996 zur Ratifizierung durch die Republik Polen des Vertrages von Nairobi über den Schutz des Olympischen Symbols, angenommen am 26. September 1981 – Dz. U. (Gesetzblatt) 1997, Nr. 34, Pos. 202. 24 Dz. U. (Gesetzblatt) 1988, Nr. 14, Pos. 100. 25 Vgl. die Regierungserklärung vom 30. April 1988 zur Ratifizierung durch die Volksrepublik Polen der internationalen Konvention gegen Apartheid im Sport, angenommen durch die Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1985 – Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 14, Pos. 101. 26 Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 129, Pos. 626. 27 Vgl. die Regierungserklärung vom 31. Mai 1995 zur Ratifizierung durch die Republik Polen des Europäischen Übereinkommens über Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen von Zuschauern bei Sportanlässen, insbesondere bei Fußballspielen, erlassen in Straßburg am 19. August 1985 – Dz. U. (Gesetzblatt) Nr. 129, Pos. 626. 22 23

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Sportlerstatus, in dem der Sportler ein Mitglied eines in der Rechtsform des Vereins funktionierenden Sportklubs war, treten heute unterschiedliche Formen des Sportlerstatus auf, in denen Sportler durch Arbeitsverträge und andere zivilrechtliche Verträge mit Sportklubs gebunden sind. Nicht nur aus diesem Grunde gewinnen die rechtlichen Beziehungen, die die Sportler nicht nur mit den Sportklubs, sondern auch mit den internationalen Föderationen und polnischen Sportverbänden verbinden, heute eine ganz andere Dimension. Die Professionalisierung und Kommerzialisierung im Sport rufen übrigens eine Reihe weiterer Rechtsprobleme hervor, auch solche, die mit dem Sponsoring, der Werbung, der im Sport tätigen Medien sowie mit dem Schutz der persönlichen Güter zusammenhängen. Mit der massenhaften Zuschauerteilnahme an den Sportveranstaltungen sind empörende und mehrfach tragische rowdyhafte Exzesse verbunden. Die Rechtsprobleme knüpfen weiterhin an solche negativen und pathologischen, den Sport begleitenden Ereignisse wie Sportunfälle, Doping, Sportbetrug, Korruption und Ähnliches an. Besondere Probleme stellen sich infolge verschiedener Arten der Verantwortlichkeit im Sport auf, wobei hier die sportliche, disziplinäre, professionelle, arbeits- oder entschädigungsbezogene sowie strafrechtliche Verantwortlichkeit denkbar ist. Weit verbreitet ist im Sport die gütliche Entscheidung der Vermögensstreitigkeiten, deren Häufigkeit im Sport, auch wegen dessen Kommerzialisierung, kontinuierlich steigt. Die bereits genannten sowie auch andere Faktoren führen dazu, dass man seit längerer Zeit eine gewisse Interesse-Explosion am Sportrecht seitens der Juristen bemerkt. Zum Ausdruck kommt sie durch die umfangreiche und ständig wachsende Anzahl der Veröffentlichungen in diesem Bereich, d. h. Monografien, Sammelbänden, Tagungsbänden, Kommentaren und Aufsätzen. In mehreren Verlagen werden diesbezügliche Bücher in gesonderten Reihen veröffentlicht. Ferner sind sportrechtliche Fachzeitschriften, Sammlungen der im Sport geltenden Rechtsvorschriften sowie der Sportregelungen erschienen. An den akademischen juristischen Fakultäten und in anderen Hochschulen ist eine stetig zunehmende Anzahl von Personen tätig, die sich mit dem Sportrecht ausschließlich oder neben anderen traditionellen Rechtsgebieten befassen. Es entstehen sogar Organisationseinheiten in dem Rang eines Lehrstuhls oder Instituts, die sich mit dem Sportrecht beschäftigen. Organisiert werden zahlreiche Kongresse und Konferenzen, die die sportrechtliche Problematik zum Gegenstand haben. Immer mehr Rechtskanzleien leisten ihre Rechtsberatung auf diesem Gebiet, einige spezialisieren sich oder sind sogar nur in diesem Bereich tätig. Das Interesse am Sportrecht ist also auch in Polen erwacht, obwohl dies später als in einigen anderen Ländern geschah. Es bestand in einem sehr geringen Ausmaß bis etwa 1990 und kam damals zum Ausdruck durch eine ziemlich geringfügige Zahl der Publikationen auf dem Gebiet des Sportrechts. Dieses Interesse wurde, zunächst geringfügig und erst später wesentlich, durch die Gründung der Polnischen Vereinigung des Sportrechts in Schwung gebracht. Diese wurde im Jahre 1990 gegründet und hat ihren Sitz an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan. Ein Impuls für ihre

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Gründung war das schon längere Funktionieren eines ähnlichen, äußerst aktiven Vereins in Deutschland: des Konstanzer Arbeitskreises für Sportrecht e.V. – Vereinigung für Deutsches und Internationales Sportrecht. Die Polnische Vereinigung für Sportrecht betätigt sich aktiv – wie auch die oben genannte deutsche Vereinigung – vor allem auf dem Gebiet der Organisation von Konferenzen, die sich mit verschiedenen, mit dem Sportrecht zusammenhängenden Rechtsproblemen befassen und der Veröffentlichung der Sammelbände mit Konferenzmaterialien, die eine Reihe „Sport und Recht“ bilden. Zum derzeitigen Zeitpunkt haben 12 solcher Konferenzen stattgefunden: 1. Juristische Probleme des Transfers im Fußballsport in Polen und in der Bundesrepublik Deutschland (Prawne problemy transferu w pi ce noznej w Polsce i Republice Federalnej Niemiec) Poznan, 13. – 15. September 1990. Diese Konferenz wurde zusammen mit dem bereits erwähnten deutschen Verein: dem Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht e.V. – Vereinigung für Deutsches und Internationales Sportrecht organisiert28; 2. Juristische Probleme des Dopings im Sport (Prawne problemy dopingu w sporcie) Poznan´, 12. – 13. Dezember 199129; 3. Juristische Probleme des Berufssports (Prawne problemy sportu zawodowego), Zajaczkowo / Pniewy, 1. – 3. Oktober 199330; 4. Ordnungsverletzungen im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen (Naruszenia porzadku towarzyszace imprezom sportowym), Zabrze, 15. – 17. April 199431; 5. Versicherungen im Sport (Ubezpieczenia w sporcie), Bydgoszcz, 7. – 9. Oktober 199432; 6. Sport und Medien – Juristische Probleme (Sport i media – problemy prawne), Leszno, 1. – 3. February 199633; 7. Rechtsstatus der polnischen Sportklubs und -verbände (Status prawny polskich klubów i zwiazków sportowych), S´wieradów Zdrój, 16. – 18. January 199834;

28 Szwarc (Hrsg.), Prawne problemy transferu w pi ce noznej w Polsce i Republice Federalnej Niemiec (Juristische Probleme des Transfers im Fußballsport in Polen und in der Bundesrepublik Deutschland), 1991. 29 Szwarc (Hrsg.), Prawne problemy dopingu w sporcie (Juristische Probleme des Dopings im Sport), 1992. 30 Kijowski (Hrsg.), Prawne problemy sportu zawodowego (Juristische Probleme des Berufssports), 1995. 31 Szwarc (Hrsg.), Naruszenia porzadku towarzyszace imprezom sportowym (Ordnungsverletzungen im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen), 1995. 32 Wasiewicz (Hrsg.), Ubezpieczenia w sporcie (Versicherungen im Sport), 1996. 33 Kepin´ski (Hrsg.), Sport i media – problemy prawne (Sport und Medien – Juristische Probleme), 1997.

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8. Rechtsstatus der Sportler (Status prawny sportowców), Poznan, 3.-4. September 199935; 9. Disziplinarverantwortlichkeit im Sport (Odpowiedzialnos´c´ dyscyplinarna w sporcie), Warszawa, 23. – 24. November 200036; 10. Der sog. Bosmanfall aus der polnischen Perspektive (Tzw. sprawa Bosmana z polskiej perspektywy), Warszawa, 15. – 16. November 200137; 11. Europäische Union und Sport sowie die gesellschaftliche Unterstützung des Dialogs im europäischen Berufsfußball (Unia Europejska i sport oraz wspieranie po ecznego dialogu w europejskim pi karstwie zawodowym), Warszawa, 2. April 200438; 12. Korruption im Sport (Korupcja w sporcie), Poznan´, 19. Oktober 200739. Unabhängig davon wurde die Publikationsaktivität in Polen auf dem Gebiet des Sportrechts in Schwung gebracht, auch in der Form anderer Veröffentlichungen, nämlich sowohl von Büchern als auch von Aufsätzen in verschiedenen polnischen juristischen Fachzeitschriften, aber auch im Rahmen eines besonderen Teils „Sportrecht“ in der Zeitschrift „Leistungssport“ („Sport Wyczynowy“). Herausgegeben wurde auch eine Sammlung der Rechtsvorschriften, die im Sport ihre Anwendung finden40. Wesentlich nahm auch die Anzahl von Personen zu, die sich mit dem Sportrecht befassen und in diesem Bereich auch publizieren. In einigen Hochschulen, insbesondere in Sporthochschulen, werden Vorlesungen im Sportrecht gehalten (z. B. in der Sporthochschule in Poznan´), bzw. zwar anders genannte Vorlesungen, in deren Rahmen jedoch die Problematik des Sportrechts miteinbezogen wird. Darüber hinaus funktionieren auch Rechtsanwaltskanzleien, die mindestens teilweise eine Rechtsberatung auf dem Gebiet des Sportrechts leisten.

34 Szwarc (Hrsg.), Status prawny polskich klubów i zwiazków sportowych (Rechtsstatus der polnischen Sportklubs und -verbände), 2000. 35 Kijowski (Hrsg.), Status prawny sportowców (Rechtsstatus der Sportler), 2001. 36 Szwarc (Hrsg.), Odpowiedzialnos´c ´ dyscyplinarna w sporcie (Disziplinarverantwortlichkeit im Sport), 2001. 37 Szwarc (Hrsg.), Tzw. sprawa Bosmana z polskiej perspektywy (Der sog. Bosmanfall aus der polnischen Perspektive), 2006. 38 Szwarc (Hrsg.), Unia Europeska i sport oraz wspieranie spo ecznego dialogu w europejskim pi karstwie zawodowym (Europäische Union und Sport sowie die gesellschaftliche Unterstützung des Dialogs im europäischen Berufsfußball), im Druck. 39 Szwarc (Hrsg.), Korupcja w sporcie (Korruption im Sport), im Druck. 40 Andrzej J. Szwarc (Hrsg.), Prawo sportowe. Akty prawne (Sportrecht. Rechtsakte), 1999.

Das Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen – Die schweizerische Rechtslage zur Transplantationsmedizin Von Brigitte Tag

I. Entstehungsgeschichte Bis zum Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes am 1. Juli 2007 waren die rechtlichen Voraussetzungen für die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen, Geweben und Zellen auf eidgenössischer Stufe nicht spezialgesetzlich geregelt. Sie bestimmten sich vielmehr nach allgemeinen Grundsätzen und Bestimmungen sowie kantonalem Recht. Gemäß der Bundesverfassung a. F. stand dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die Bereiche Fortpflanzungs- und Gentechnologie, Ausübung von Handel und Gewerben (Gewerbepolizei), Privatrecht, Strafrecht sowie Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten zu. Ergänzt wurden die hierauf beruhenden bundesgesetzlichen Regelungen durch zahlreiche kantonale Bestimmungen. Zwanzig Kantone verfügten über Normen im Bereich der Transplantationsmedizin, ohne dass die Spende, Entnahme und Transplantation von Organen und Geweben umfassend geregelt gewesen wären. Die restlichen Kantone hatten keine spezifischen Gesetze verabschiedet. Soweit vorhanden betrafen die kantonalen Bestimmungen den Stellenwert der Selbstbestimmung der Spenderin oder des Spenders bei der postmortalen Organentnahme und den der personellen ärztlichen Voraussetzungen im Rahmen der Todesfeststellung sowie des Transplantationsteams. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen bezüglich einer (erweiterten) Zustimmung bzw. eines Widerspruchs der Spenderin oder des Spenders zu einer postmortalen Organentnahme waren kantonal sehr unterschiedlich und zudem fragmentarisch geregelt. Die Bandbreite der Selbstbestimmungsmodelle reichte von der erweiterten Zustimmungslösung1 bis hin zu der Widerspruchslösung2. Zudem fanden sich kaum Normen, wie Konflikte zwischen dem Willen der spendenden Person und dem ihrer Angehörigen zu entscheiden waren. Dies waren die Kantone Jura, Obwalden, Tessin und Uri, Freiburg und Solothurn. So z. B. die Kantone Bern, Genf, Graubünden, Luzern, Sankt Gallen, Thurgau, Wallis und Zürich. In den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt und Neuenburg galt die Informationslösung. 1 2

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Die Lebendspende war nur in wenigen Kantonen geregelt.3 Der Handel mit menschlichen Organen und Geweben4 bzw. derjenige mit embryonalem und fetalem Material sowie dessen industrielle und gewerbliche Nutzung5 fand selten einen kantonalen Gesetzesrahmen. Zum Teil war festgelegt, dass die Spende von Organen unentgeltlich erfolgen muss,6 bei Lebendspende eine Entschädigung für entstandene Spesen und Erwerbsausfall zulässig sei7 bzw. dass der Staat Informationskampagnen zur Förderung der Organspendebereitschaft unterstützen müsse8. In keinem Kanton waren gesetzliche Bestimmungen über die Zuteilung der verfügbaren Organe erlassen. Einige kantonale Gesundheits- oder Patientengesetze verwiesen entweder allgemein oder in einem spezifischen Kontext auf die mehrfach revidierten privatrechtlichen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Relevant waren die medizinisch-ethischen Richtlinien für die Organtransplantationen, 9 die Transplantation fötaler menschlicher Gewebe10 und die Definition und Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantationen 11. Diesen Richtlinien kam12 eine vereinheitlichende Funktion zu. Durch den Verweis der Disziplinarordnung der Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH), d. h. der Dachorganisation der Schweizer Ärzteschaft, auf die Richtlinien zur Organtransplantation wurden sie Teil des ärztlichen Standesrechtes,13 ihre Missachtung war somit geeignet, standesinterne Sanktionen zu bewirken.14 Darüber hinaus bemisst das Bundesgericht den SAMW-Richtlinien bei der Beurteilung medizinrechtlicher Sachverhalte große Relevanz zu.15 Trotz Aargau, Basel-Landschaft, Neuenburg, Tessin und Wallis. Kanton Genf. 5 Kanton Aarau. 6 Kantone Aargau, Freiburg (Entwurf), Neuenburg, Tessin und Wallis. 7 Kanton Aargau und Tessin. 8 Kantone Jura und Wallis. 9 Organtransplantationen (1981), http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / RL_Transplantation_81c.pdf; Organtransplantationen (1995), http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / RL_ Transplantation_95c.pdf (beide zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2007). 10 Transplantation fötaler menschlicher Gewebe (1998), http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / d_Transpl_foetaler.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2007). 11 Die Definition und die Diagnose des Todes (1969), http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / RL_Def_Tod_69.pdf; Die Definition und die Diagnose des Todes (1981), http: // www. samw.ch / docs / Richtlinien / RL_Def_Tod_69_Rev81c.pdf; Die Definition und die Diagnose des Todes (1983), http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / RL_Def_Tod_69_Rev83c.pdf; Definition und Feststellung des Todes (1996); Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen (2005), http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / d_RL_DefTod.pdf (alle zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2007). 12 Die Bedeutung ist heute durch das Transplantationsgesetz geändert worden, dennoch sind die Richtlinien für die moderne Transplantationsmedizin prägend. 13 Vgl. Art. 18, 43, 47 Standesordnung FMH, http: // www.fmh.ch / de / data / pdf / stao_ 2007_d.pdf (alle zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2007). 14 Rüetschi, SÄZ 85 (2004), 1222 f. 15 Z. B. BGE 123 I 128. 3 4

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dieser vereinheitlichenden Funktion bestand die unabweisbare Notwendigkeit einer umfassenden bundeseinheitlichen Transplantationsgesetzgebung. Die ausgeprägte Heterogenität der vorhandenen kantonalen Regelungen vermochte unter dem Aspekt der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nicht zu befriedigen. Die privaten Verhaltenskodexe der SAMW konnten die fragmentarische Rechtslage nicht in zufrieden stellendem Masse füllen. Im Unterschied z. B. zum ebenfalls kantonal geregelten Strafvollzug und der hiermit verbundenen Strafvollzugsmedizin wurde eine globale rechtliche Lösung auf interkantonaler Ebene, beispielsweise auf dem Wege von Konkordaten, für kaum realisierbar erachtet. Ein Grund war, dass die Transplantationsmedizin ebenso wie die damit verbundenen ethischen und rechtlichen Probleme als vielfältig und überaus heikel eingestuft wurde. Die Einbindung der Schweiz in die europäische Transplantationsmedizin und die effektive Teilhabe erforderte zudem eine klare bundeseinheitliche Regelung, wie sie durch das Transplantationsgesetz geschaffen wurde. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war der Bundesbeschluss vom 22. März 1996 über die Kontrolle von Blut, Blutprodukten und Transplantaten, welcher am 1. August 1996 im Bereich des Infektionsschutzes und des Handels mit Transplantaten in Kraft getreten war. Damit wurde der Schaffung verfassungsmäßiger Kompetenzen für ein bundeseinheitliches Transplantationsgesetz der Weg geebnet. Am 21. August 1996 hatte der Bundesrat vom Entwurf zu einer Verfassungsbestimmung über die Transplantationsmedizin Kenntnis genommen und das Eidgenössische Departement des Inneren ermächtigt, das Vernehmlassungsverfahren durchzuführen.16 Dies war die Grundlage für den Bundesbeschluss „Entwurf betreffend eine Verfassungsbestimmung über die Transplantationsmedizin“. 17 Die Verfassungsbestimmung über die Transplantationsmedizin, neu Art. 119a BV Transplantationsmedizin, wurde von Volk und Ständen am 7. Februar 1999 angenommen.18 Damit bestand die Rechtsgrundlage für eine umfassende Bundesregelung. Das Parlament hat das in der Folge erarbeitete Transplantationsgesetz in der Schlussabstimmung vom 8. Oktober 2004 angenommen, das Bundesgesetz über die Trans16 Botschaft vom 23. April 1997 zu einer Verfassungsbestimmung über die Transplantationsmedizin, BBl 1997 III 653, 696. 17 Vgl. Art. 24decies (neu): 1 Der Bund erlässt Vorschriften auf dem Gebiet der Transplantation von Organen, Geweben und Zellen. Er sorgt dabei für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Gesundheit 2 Er sieht insbesondere die Unentgeltlichkeit der Spende vor und sorgt für eine gerechte Zuteilung von Organen. 18 Art. 119a BV Transplantationsmedizin lautet: 1 Der Bund erlässt Vorschriften auf dem Gebiet der Transplantation von Organen, Geweben und Zellen. Er sorgt dabei für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Gesundheit. 2 Er legt insbesondere Kriterien für eine gerechte Zuteilung von Organen fest. 3 Die Spende von menschlichen Organen, Geweben und Zellen ist unentgeltlich. Der Handel mit menschlichen Organen ist verboten.

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plantation von Organen, Geweben und Zellen ist zusammen mit fünf Ausführungsverordnungen zum 1. Juli 2007 in Kraft getreten.19 Ziel des Gesetzes ist es, den missbräuchlichen Umgang mit Organen, Geweben oder Zellen bei der Anwendung der Transplantationsmedizin beim Menschen, insbesondere den Handel mit diesen Substanzen und Organen, zu verhindern und die Menschenwürde, die Persönlichkeit und die Gesundheit zu schützen, Art. 1 Abs. 3.20 Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes wurden die unterschiedlichen kantonalen Regelungen abgelöst.21 Das Transplantationsgesetz schafft Rechtsklarheit bei der Entnahme und Übertragung von menschlichen Organen, Geweben und Zellen auf einen anderen Menschen. Ergänzt wird es durch verschiedene Verordnungen:22 Die Transplantationsverordnung23 regelt den Umgang mit menschlichen Organen, Geweben oder Zellen, insbesondere die Entnahme bei verstorbenen und bei lebenden Personen, die Rahmenbedingungen der klinischen Versuche, die Aufgaben der Kantone im Bereich der Organisation und Koordination und die Aufgaben im Zusammenhang mit der Führung des Stammzellenregisters. Die Organzuteilungsverordnung24 normiert die Allokation von bestimmten menschlichen Organen. Die Xenontransplantationsverordnung25 bestimmt, unter welchen Voraussetzungen eine Übertragung von tierischen Organen, Geweben und Zellen auf den Menschen im klinischen Versuch oder als Standardbehandlung erfolgen darf. Sie definiert die im Rahmen einer Xenontransplantation zu beachtenden Sorgfaltspflichten, Sicherheitsmaßnahmen und Verhaltensregeln. Die Transplantationsgebührenverordnung26 entfaltet die in der Transplantationsmedizin maßgebenden Gebührenansätze. Die Verordnung des Eidgenössischen Departements des Inneren vom 2. Mai 2007 regelt schließlich die Zuteilung von Organen zur Transplantation.27 Ergänzend sind Richtlinien im Bereich der Transplantationsmedizin zu be19 Bundesgesetz vom 8. Oktober 2004 über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz), SR 810.21, vgl. http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c810_ 21.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 20 Die nachfolgenden Ausführungen beleuchten den Schutzumfang des Gesetzes bezüglich des Umgangs mit Organen, Geweben und Zellen menschlichen Ursprungs. Die Xenontransplantation bleibt einem gesonderten Beitrag vorbehalten. 21 Monnier / Weber, Das Transplantationsgesetz vom 8. Oktober 2004, Therapeutische Umschau, Band. 62, 2005, 433 ff. 22 Mit Ausnahme der EDI-ZuteilungsVO alle vom 16. März 2007. 23 SR 810.211, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / 810_211 / index.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 24 SR 810.212.4, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c810_212_4.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 25 SR 810.213, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c810_213.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 26 SR 810.215.7, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c810_215_7.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 27 SR 810.212.41, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / 8 / 810.212.41.de.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007).

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achten.28 Zu erwähnen sind u. a. die SAMW-Richtlinien zur Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen aus dem Jahre 200529 und die in der Vernehmlassung befindliche Richtlinie über die Lebendspende von soliden Organen.30 Das Transplantationsgesetz ist auf europäischer Ebene eingebettet in das Biomedizinübereinkommen des Europarates und das Zusatzprotokoll bezüglich der Transplantation von Organen und Geweben menschlichen Ursprungs. Die Schweiz hat das Übereinkommen zur Biomedizin am 7. Mai 1999 unterzeichnet, die Ratifizierung wurde vom Nationalrat und vom Ständerat wegen Vorbehalten im Transplantationsbereich sistiert.31 Auch das vom Ministerkomitee am 8. November 2001 verabschiedete, am 1. Mai 2006 in Kraft getretene Zusatzprotokoll wurde von der Schweiz am 11. Juli 2002 unterzeichnet, ist bisher aber ebenfalls nicht ratifiziert. II. Geltungsbereich Das Transplantationsgesetz ist ein umfassendes Regelungswerk. Es betrifft den Umgang mit Organen, Geweben oder Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs sowie daraus hergestellten Produkten (Transplantatprodukte), die zur Transplantation auf den Menschen bestimmt sind, Art. 2 Abs. 1 Transplantationsgesetz. Vom Geltungsbereich ausgenommen sind künstliche oder devitalisierte Organe, Gewebe oder Zellen, Keimzellen, imprägnierte Eizellen und Embryonen im Rahmen der medizinisch unterstützten Fortpflanzung beim Menschen sowie Blut und Blutprodukte. Blut-Stammzellen unterfallen jedoch dem Transplantationsgesetz, Art. 2 Abs. 2 Transplantationsgesetz. Auf Organe, Gewebe oder Zellen zur autogenen Transplantation32 sowie auf Transplantatprodukte zur autogenen Transplantation33 sind die Bestimmungen des Gesetzes nur zum Teil anwendbar, vgl. Art. 2 Abs. 3 Transplantationsgesetz.

28 http: // www.bag.admin.ch / transplantation / 00694 / 01810 / 03872 / index.html?lang=de (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 29 Medizinisch-ethische Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen in der Fassung vom 24. Mai 2005, http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / d_RL_DefTod.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 30 http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / d_RL_Lebend_6_11_07def.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 31 http: // www.bag.admin.ch / transplantation / 00694 / 00727 / 01535 / 01849 / index.html ?lang=de (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 32 Vgl. Art. 2 Abs. 3 i.V. m. Art. 36 (klinische Versuche), 50 – 71 (Vollzug und Strafbestimmungen). 33 Vgl. Art. 2 Abs. 3 i.V. m. Art. 4 (allgemeine Sorgfaltspflicht), 7 Abs. 2 lit. b (Ausnahme vom Handelsverbot), 49 (Transplantatprodukte), 63 – 65 (Kontrolle und Massnahmen).

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1. Legaldefinitionen Zum besseren Verständnis und aus Gründen der Rechtsklarheit hält das Transplantationsgesetz in Art. 3 einige Legaldefinitionen bereit. „Organ, Organteil, Körperteil“ im Sinne des Transplantationsgesetzes sind „alle Teile des Körpers, deren Zellen und Gewebe zusammen eine Einheit mit bestimmter Funktion bilden; den Organen gleichgestellt sind Organteile, die in ihrer Funktion einem Organ gleichkommen, sowie aus verschiedenen Geweben zusammengesetzte Körperteile, die eine bestimmte Funktion haben“, Art. 3 lit a. Das Gesamtorgan steht traditionellerweise für eine aus Zellen und Geweben zusammengesetzte funktionelle Einheit eines Organismus,34 das mit Blutgefäßen durchsetzt ist, die die Stoffwechselprodukte zu- und abführen.35 Als Einheit übernimmt es im Körper eine bestimmte Funktion. Beispiele sind Herz, Niere, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Darm. Dem Organ gleichgestellt sind Organteile, soweit sie funktional dem Organ gleichkommen, wie z. B. Teile der Leber oder ein Lungenflügel. Aber auch aus verschiedenen Geweben zusammengesetzte Körperteile mit einer bestimmten Funktion werden den Organen gleichgestellt, wie z. B. eine Hand.36 Für die Verpflanzung kommen zudem Keimdrüsen in Frage. Zwar ist die Eispende durch das Fortpflanzungsmedizingesetz untersagt, Art. 4 FMedG.37 Das Verbot betrifft seinem Wortlaut nach aber nicht die Übertragung einer Gebärmutter oder die von Eierstöcken.38 Die Samenspende hingegen ist bereits nach den Regelungen des Fortpflanzungsmedizingesetzes grundsätzlich zulässig, vgl. Art. 18 ff., so dass von dieser Seite keine Einwände gegen die Übertragung von Hoden bestehen würden. Gewebe bezeichnet „strukturierte Zellverbände, zusammengesetzt aus gleichen oder verschiedenen Zellen, die im Körper eine gemeinsame Funktion haben“, Art. 3 lit. b Transplantationsgesetz. So z. B. das Epithel, Binde-, Stütz-, Nerven-, Muskelgewebe.39 Neben der Entnahme von isoliertem Gewebe wird auch die von Organ- und Körperteilen ohne spezielle Organ- bzw. Körperfunktion erfasst. Vom Gewebe abzugrenzen sind Zellen, d. h. kleinste lebensfähige Einheiten eines Körpers mit eigenem Stoffwechsel und mit Stoffwechselprodukten. Das Gesetz fasst hierunter „einzelne Zellen, unstrukturierte Zellmassen sowie ZellsuspenRoche, Lexikon Medizin, 5. Aufl. 2003, Stichwort: Organum. Botschaft Transplantationsgesetz Punkt 2.3.3, S. 135. 36 Botschaft Transplantationsgesetz Punkt 2.3.3, S. 135. 37 Bundesgesetz vom 18. Dezember 1998 über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG), SR 810.11, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c810_11. html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 38 Zur ersten Gebärmuttertransplantation vgl. Fageeh et al., Transplantation of the human uterus, International Journal of Gynecology & Obstetrics 2002, vol. 76, 245 ff.; FAZ Nr. 56 v. 7. 3. 2002, S. 44. 39 Roche, Lexikon Medizin, Stichwort: Gewebe. 34 35

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sionen, die ausschließlich aus gleichen Zellen bestehen“, Art. 3 lit. c.40 Zellen werden aus vielfältigen Gründen transplantiert, z. B. um in ihrer natürlichen Funktion Gewebedefekte zu reparieren, oder um mangelnde Stoffwechselprodukte zu produzieren, so z. B. Insulin. Auch die Übertragung von Nervenzellen in das Gehirn von Menschen ist vom Transplantationsgesetz erfasst. Unter den weiten Begriff der Zellen sind grundsätzlich auch Stammzellen zu fassen. Für Blutstammzellen, d. h. die Vorläuferzellen von roten oder weißen Blutkörperchen sowie Blutplättchen (Thrombozyten), ist dies in Art. 2 Abs. 2 lit. b geregelt. Als Stammzelle gilt jede noch nicht ausdifferenzierte Zelle41 eines Embryos, Fötus oder geborenen Menschen, die Teilungs- und Entwicklungsfähigkeit besitzt.42 Pluripotente Stammzellen haben zwar das Potenzial, sich in die verschiedenen Zelltypen des menschlichen Körpers zu entwickeln, ohne Reprogrammierung kann sich aus ihnen aber kein menschliches Individuum bilden. Sie sind nicht totipotent. Pluripotente Stammzellen können gewonnen werden aus adultem Gewebe, aus Nabelschnurblut, aus fetalem und embryonalem Gewebe. Soweit die Stammzellen zur Transplantation auf den Menschen bestimmt sind, unterfallen sie grundsätzlich43 dem Transplantationsgesetz. Sie sind insbesondere in das Stammzellregister einzutragen, Art. 62 Transplantationsgesetz. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich das Transplantationsgesetz auch mit embryonalem und fötalem Gewebe und Zellen befasst, die zur Transplantation auf den Menschen bestimmt sind, Art. 37 ff. Im schweizerischen Recht wird als Fötus die Leibesfrucht in der Fetalperiode bezeichnet, d. h. vom Abschluss der Organentwicklung bis zur Geburt, Art. 2 Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG). Das Transplantationsgesetz schließt damit eine Lücke im derzeitigen strafrechtlichen Schutz. Denn weder die Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch, Art. 118 ff. StGB, noch die der Störung des Totenfriedens, Art. 262 StGB, treffen eine Aussage zum Umgang mit Gewebe embryonalen und fötalen Ursprungs. Auch die Vorschriften des Nebenstrafrechts und die kantonalen Bestattungsregelungen sind bezüglich der (un-)zulässigen Weiterverwendung von toten Embryonen und Föten wenig aussagekräftig. Art. 3 lit. d definiert schließlich den Begriff des etwas unscheinbaren, in der Medizin jedoch sehr bedeutsamen Transplantatproduktes. Dies sind aus „menschBotschaft Transplantationsgesetz Punkt 2.3.3., S. 135. HLI Schweiz, Stammzellen – eine Orientierungshilfe. Politische Situation in der Schweiz, HLI Spezial-Report Nr. 4 / 2002, 1. 42 Vgl. Glossar Bundesamt für Gesundheit „Stammzelle“, http: // www.bag.admin.ch / glossar / index.html?action=id&id=215&lang=de (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 43 Ausnahmen bestehen künftig bezüglich der Gewinnung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken. Hier gilt das Stammzellforschungsgesetz, Art. 1 StFG; SR 810.31, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c810_31.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). Demgegenüber ist die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen zu Transplantationszwecken im Rahmen klinischer Versuche dem Transplantationsgesetz zugewiesen, vgl. Art. 1 Abs. 3 StFG. 40 41

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lichen oder tierischen Organen, Geweben oder Zellen hergestellte Produkte, die oder deren Herstellungsverfahren standardisierbar sind“. Im Unterschied zum nativen Transplantat, das nach der Entnahme regelmäßig nur weniger Schritte für die Aufbereitung und Transplantation bedarf, werden Gewebe oder Zellen zunehmend in standardisierten Verfahren zu Produkten verarbeitet, so z. B. allogene und autogene Hautstücke, autogene Knorpelzellen etc. Transplantatprodukte, die als solche standardisierbar sind, werden vom Hersteller bei der Heilmittelbehörde für eine Zulassung angemeldet und als verwendungsfertige Produkte angeboten. Sie unterliegen daher (auch) dem Heilmittelgesetz. In der Transplantationsmedizin gibt es zudem Produkte, deren Herstellungsverfahren standardisierbar sind, wie z. B. die Herstellung von Produkten aus autogenen Zellen. 2. Beschränkung des Geltungsbereichs, Art. 2 Abs. 2 Transplantationsgesetz Das Transplantationsgesetz gilt für Organe, Gewebe und Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs. In den menschlichen Körper eingefügte, künstliche Produkte, wie z. B. Herzschrittmacher, Endoprothesen oder Bruchnetze, sowie devitalisierte Substanzen sind nur begrenzt erfasst, vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. a, Art. 49. Diese Einschränkung ist vertretbar. Denn die gesetzliche Intention, die Rechtsunsicherheit im Rahmen der Organspende zu beseitigen, und der hiermit einhergehende Mangel an geeigneten Spenderorganen betreffen in erster Linie die unverarbeiteten, nativen Substanzen menschlichen Ursprungs. Der Umgang mit Transplantatprodukten unterfällt primär dem Heilmittelrecht, die Kontrolle dieser Produkte unterliegt der Zuständigkeit des Schweizerischen Heilmittelinstituts Swissmedic. Auch der Umgang mit Blut und Blutprodukten ist nicht dem Anwendungsbereich des Transplantationsgesetzes unterstellt, Art. 2 Abs. 2 lit. b und c. Blut und Blutprodukte zählen zu den Arzneimitteln gemäß dem Heilmittelgesetz, vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG.44 Blutstammzellen dagegen unterfallen explizit dem Transplantationsgesetz, vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b. Die Botschaft begründet diese Aufteilung damit, dass Blutstammzellen nach der Transplantation als Fremdzellen im Körper der Empfänger bleiben und ihrerseits Blutzellen produzieren.45 Blutzellen hingegen sind dem Heilmittelgesetz unterstellt, da sie nur eine gewisse Zeit im Empfängerkörper überleben. Dadurch, dass das Heilmittelgesetz Blut sowie Blutprodukte nicht mit einem Handelsverbot belegt, ergibt sich zu den Blutstammzellen eine deutliche rechtliche und wirtschaftliche Differenzierung. Das Transplantationsgesetz erstreckt sich weiterhin nicht auf Ei- und Samenzellen, imprägnierte Eizellen und Embryonen im Rahmen der medizinisch unter44 Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom 15. Dezember 2000, SR 812.21, http: // www.admin.ch / ch / d / sr / c812_21.html (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 45 Botschaft Transplantationsgesetz Punkt 2.3.2, S. 134.

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stützten Fortpflanzung beim Menschen, Art. 2 Abs. 2 lit. d. Insoweit gilt das Fortpflanzungsmedizingesetz. Art. 32 Abs. 2 FMedG untersagt, menschliches Keimgut oder Erzeugnisse aus Embryonen oder Föten entgeltlich zu veräußern oder zu erwerben. Die Verwendung von überzähligen Embryonen und menschlichen embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken richtet sich nach dem Stammzellforschungsgesetz. Nach Art. 25 Abs. 1 lit. c StFG macht sich strafbar, wer überzählige Embryonen oder embryonale Stammzellen gegen Entgelt erwirbt oder veräußert oder überzählige Embryonen oder embryonale Stammzellen, die gegen Entgelt erworben worden sind, verwendet. Das Stammzellforschungsgesetz kennt aber eine gewichtige Einschränkung. Während es die Gewinnung von embryonalen Stammzellen regelt, ist deren Transplantation im Rahmen des klinischen Versuchs dem Transplantationsgesetz zugewiesen, vgl. Art. 1 Abs. 3 StFG.

III. Rechtliche Grundlagen – Grundzüge der Behandlung von Organen, Gewebe und Zellen im Transplantationsgesetz 1. Unentgeltlichkeit der Spende, Art. 6 Transplantationsgesetz Ein wesentlicher Grundsatz des Transplantationsgesetzes ist die Unentgeltlichkeit der Spende von Organen, Geweben und Zellen, vgl. Art. 6. Das Gesetz entspricht damit den Vorgaben von Art. 21 Zusatzprotokoll zur Biomedizinkonvention. Gemäß Art. 6 ist es verboten, für die Spende von menschlichen Organen, Geweben oder Zellen einen finanziellen Gewinn oder einen anderen Vorteil zu gewähren oder entgegenzunehmen. Der Begriff des Vorteils ist weit und kann unmittelbare, mittelbare, materielle und immaterielle Vorteile erfassen. Nicht als finanzieller Gewinn oder anderer Vorteil gelten der Ersatz von Schäden, welche die spendende Person durch die Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen erleidet sowie eine nachträgliche symbolische Geste der Dankbarkeit. Auch die Überkreuz-Lebendspende nicht regenerierbarer Organe bzw. Organteile, wie der Niere oder von Teilen der Leber, die z. B. in Deutschland46 untersagt ist, ist in der Schweiz zulässig und wird nicht als Vorteil i. S. von Art. 6 gewertet. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Transplantationsgesetz wurde die Frage, ob ein sozialadäquates Dankeschön des Empfängers an den Spender, das zugleich einen vermögenswerten Vorteil darstellt, aus dem Tatbestand ausgenommen werden sollte, ausführlich diskutiert und letztlich bejaht. Nach der Endfassung des Transplantationsgesetzes verletzt eine nachträgliche symbolische Geste der Dankbarkeit nicht das Gebot der Unentgeltlichkeit, Art. 6 Abs. 2 lit c. Als Vorteil gilt zudem nicht der Ersatz für Einkommensausfall des Lebendspenders sowie seiner sonstigen Aufwendungen, der Ersatz des Erwerbsausfalls und des Aufwandes, die der spendenden Person unmittelbar entstehen, Art. 6 Abs. 2 lit a. Damit besteht eine 46 Vgl. § 8 Abs. 1 S. 2 TPG, http: // www.gesetze-im-internet.de / bundesrecht / tpg / gesamt. pdf (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007).

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weitgehende Übereinstimmung mit Art. 21 Zusatzprotokoll zur Biomedizinkonvention, das freilich die sonstigen Aufwendungen durch „berechtigte Ausgaben im Zusammenhang mit der Entnahme und den damit verbundenen medizinischen Untersuchungen“ konkretisiert und anders als die Schweiz den Ersatz nicht auf den unmittelbar der Person entstehenden Aufwand einengt. 2. Handelsverbot mit Organen, Geweben oder Zellen, Art. 7 Transplantationsgesetz Art. 7 Abs. 1 normiert das Handelsverbot, welches sich auf die unter den Geltungsbereich des Transplantationsgesetzes fallenden Substanzen bezieht. Es ist verboten „mit menschlichen Organen, Geweben oder Zellen in der Schweiz oder von der Schweiz aus im Ausland zu handeln, menschliche Organe, Gewebe oder Zellen, die gegen Entgelt oder durch Gewährung von Vorteilen erworben worden sind, zu entnehmen oder zu transplantieren“. Unter Handel wird jede eigennützige, auf Güterumsatz gerichtete Tätigkeit verstanden, selbst wenn es sich um eine gelegentliche, einmalige oder vermittelnde Tätigkeit handelt. Hierzu gehört etwa das Beschaffen oder Vermitteln der „Ware“, deren Übernahme, der Transport sowie die Übergabe an andere Personen mit Einbezug aller Verhandlungen, die dabei zu führen sind.47 Handel treibt, wer Geschäfte dieser Art abschließt oder abzuschließen beabsichtigt und mit diesem Verhalten einen eigenen materiellen Vorteil erstrebt. Das Verbot gilt für den Handel in der Schweiz oder von der Schweiz aus im Ausland. Es gilt nicht für Transplantatprodukte nach Art. 49. Vielmehr sollen diese – ebenso wie Arzneimittel – gehandelt werden dürfen, soweit im Verkaufspreis für die Ausgangssubstanz keine Entschädigung enthalten ist. Die Ausnahme wird damit begründet, dass anderenfalls derartige Transplantatprodukte nicht mehr hergestellt würden.48 Art. 7 Abs. 1 geht über die Mindestvorgaben von Art. 119a Abs. 3 S. 2 BV hinaus, wonach nur der Handel mit Organen, nicht aber der mit menschlichen Geweben und Zellen49 verboten ist. Das Handelsverbot des Transplantationsgesetzes entspricht aber Art. 22 des Zusatzprotokolls zur Biomedizinkonvention, wonach sich das Handelsverbot auf Organe und Gewebe50 und über Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll auch auf Zellen erstreckt.51

Botschaft Transplantationsgesetz, S. 138. Botschaft Transplantationsgesetz, S. 139. 49 Schweizer / Schott, in: Schweizer / Ehrenzeller / Vallender / Mastronardi (Hrsg.): Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung 2002, Art. 119a Rn. 25. 50 Art. 22 Zusatzprotokoll lautet: „Organ and tissue trafficking shall be prohibited“. 51 Art. 2 Abs. 2 Zusatzprotokoll lautet: „The provisions of this Protocol applicable to tissues shall apply also to cells, including haematopoietic stem cells“. 47 48

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IV. Wesentliche Grundsätze der postmortalen Spende, Art. 8 ff. Transplantationsgesetz 1. Erweiterte Zustimmungslösung Zentrale Quelle der dringend benötigten Organe, Gewebe und Zellen ist die postmortale Spende. Die postmortale Entnahme der Körpersubstanzen ist an die Bedingung geknüpft, dass die spendende Person vor ihrem Tod der Entnahme zugestimmt hat, Art. 8 Abs. 1. Liegt keine dementsprechende Willensäußerung vor, so geht das Bestimmungsrecht auf die nächsten Angehörigen über, sog. erweiterte Zustimmungslösung. Sie können unter Beachtung des mutmaßlichen Willens der verstorbenen Person über das „ob“ und „den Umfang“ der Organentnahme entscheiden. Sind keine nächsten Angehörigen vorhanden oder erreichbar, so ist die Entnahme unzulässig. Damit unterstreicht der schweizerische Gesetzgeber, dass das Bestimmungsrecht des Menschen über das Schicksal seines Leichnams oder Teile davon nicht allein auf die Wahl zwischen den üblichen Bestattungsarten beschränkt ist, sondern auch die Spende von Organen, Gewebe und Zellen zu postmortalen Transplantationszwecken erfasst. Die Befugnis zur Spende folgt aus der persönlichen Freiheit52 und der Menschenwürde53. Zwar hat die Rechtsprechung den Inhalt dieser Gewährleistungen nicht vollständig entfaltet, sondern jeweils anhand der zu entscheidenden Fälle bestimmt. In der Rechtspraxis ist jedoch zu Recht anerkannt, dass die persönliche Freiheit über den Tod hinaus dauern kann.54 Art. 119a BV fordert zudem den Schutz der Menschenwürde im Rahmen von Transplantationen. Hieraus erschließt sich, dass nach Ansicht des schweizerischen Gesetzgebers der Todeseintritt zwar das persönlichkeitsrechtliche Band zwischen dem Verstorbenen und seinem leblosen Körper lockert, es aber nicht vollständig zerschneidet.55 Eine Folge ist, dass der Wille der verstorbenen Person die Hinterbliebenen bindet, einerlei, ob sie sich für oder gegen die postmortale Spende von Zellen, Gewebe oder Organe entschieden hatte. Damit wendet sich der Gesetzgeber zugleich gegen die auch in Deutschland immer wieder kontrovers diskutierten Widerspruchslösungen. Zwar hat der Vorstoß des Nationalen Ethikrates, im Rahmen der postmortalen Organ- und Gewebeentnahme die bisherige erweiterte Zustimmungslösung durch eine in Richtung einer Widerspruchslösung gehende Stufenlösung zu ersetzen,56 auch in der Schweiz die Diskussion belebt. Sie führte der Bevölkerung sowie der Politik einmal mehr vor Augen, dass das Organspendeaufkommen zu gering ist und daher geeignete Maß52 Art. 10 Abs. 2 BV: Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. 53 Art. 7 BV: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen. 54 BGE 123 I 118 f. 55 Tag, MedR 1998, 387 ff.; BT-Drs. 13 / 4355, S. 19 zu § 6 TPG-E (D). 56 Nationaler Ethikrat, Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland, Stellungnahme vom 24. 4. 2007, S. 25 ff.

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nahmen ergriffen werden müssen, um mehr Menschenleben zu retten. Es ist in einer gelebten Demokratie von großer Bedeutung, bei Verabschiedung eines Gesetzes, das, wie das Transplantationsgesetz, über Leben und Tod entscheidet, alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren und die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Und es ist keineswegs unschicklich, ungewöhnliche Position zu vertreten, um den vorhandenen Handlungsspielraum auszuloten. Dass sich sowohl in der Schweiz wie in Deutschland der auf dem Solidaritätsprinzip beruhende Vorschlag einer ggf. modifizierten Widerspruchslösung in der Bevölkerung und der Politik nicht durchsetzen konnte, hat viele Gründe. Auf der emotionalen Ebene ist von Bedeutung, dass der Tod mit seinen harschen Konsequenzen tiefe Kerben in das Leben aller Beteiligten schneidet. Vielfach wird es daher als eine Selbstverständlichkeit und Frage des Anstandes empfunden, dass die Leiche als nach und nach zerfallender Rückstand der ehemaligen Person stellvertretend für diese sittlich und schicklich behandelt wird. Eingriffe in den toten Körper sind für viele Menschen nur dann zu tolerieren, wenn sie dem Verstorbenen einen letzten Dienst erweisen. Sei es, um die expliziten Verfügungen von Todes wegen auftragsgemäß zu erfüllen, sei es, um sonst im Sinne des Verstorbenen die letzten Handlungen in Bezug auf den toten Körper vorzunehmen. In der Beachtung des Willens des Verstorbenen wird dem ehemaligen Personsein über den Tod hinaus Raum gewährt. Hierbei finden die früheren Werte des Verstorbenen ebenso Berücksichtigung wie sein kultureller Hintergrund. Von großer Bedeutung sind zudem die Religionszugehörigkeit und die sonstige, das familiäre bzw. soziale Nahfeld prägende Weltanschauung. Die möglicherweise57 fehlende Einsicht in die Notwendigkeit der Organspende darf nicht dazu führen, dass jeder künftig gezwungen wäre, sich entweder aktiv mit der Frage der Organspende auseinander zu setzen oder mangels entgegenstehender Äußerung als Organspender zu fungieren. Denn es gibt ggf. gute Gründe, das Recht auf Nichtwissen bzw. Nichtentscheidung für sich in Anspruch zu nehmen, ohne zugleich mit dem eigenen Körper sozialpflichtig zu werden. Neben diesen primär personenbezogenen Aspekten gewinnt ein weiterer Umstand zunehmend an Bedeutung. Es mag für viele immer noch befremdend klingen, wenn die Leiche als Schatz des 21. Jahrhunderts bezeichnet wird. Und doch offenbart sich hier eine bedeutsame Entwicklung. Sie beruht auf ihrer vielfältigen Nutzung durch Wissenschaft, Forschung und Industrie. Anders als bei Organen, deren Handel fast weltweit unter Strafe gestellt ist, haben aufgearbeitetes Gewebe und Zellen einen Marktpreis.58 Um hier Missbrauch zu verhindern59 und Menschen nicht zu Rohstofflieferanten wider Willen zu degradieren, sind autonomiewahrende, transparente und eindeutige Regelungen unabweisbar. 57 Die Gründe hierfür sind vielfältig, sie zu beleuchten muss Aufgabe einer intensiven Evaluation des Prozesses der Organgewinnung und der Spendebereitschaft sein. 58 Nach den Recherchen der amerikanischen Autorin Annie Cheney in dem Buch „Body Brokers“, 2007, kann mit den verwertbaren Leichenteilen eines ehemals gesunden Menschen bis zu 100.000 Dollar an Veräußerungserlös erzielt werden. 59 Instruktiv Keller, Frische Leichenteile weltweit, DIE ZEIT v. 15. 02. 2007.

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Das Positive an den immer wieder entflammenden Diskussionen über das Verhältnis von Solidarität und Autonomie ist, dass jeder Einzelne aufgerufen wird, sich freiwillig und ohne Zwang mit der überlebenswichtigen Frage der Organspende auseinander zu setzen. Es bleibt zu hoffen, dass als Folgewirkung der Diskussion nicht die Vorbehalte der Bevölkerung gegen die Organentnahme gestärkt wurden, sondern ganz im Gegenteil die Spendenbereitschaft aus freier Überzeugung erhöht wird. Der Kreis der ersatzweise zu befragenden „nächsten Angehörigen“ bestimmt sich nach Art. 8 Abs. 8 sowie Art. 3 der Transplantationsverordnung. Dies sind „Ehefrau oder Ehemann, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner, Lebenspartnerin oder Lebenspartner; Kinder, Eltern und Geschwister; Großeltern und Großkinder; andere Personen, die der verstorbenen Person nahe stehen“. Für den Entscheid zuständig ist die Person, die dem Verstorbenen am nächsten stand. Soweit keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, gilt die in der Transplantationsverordnung festgelegte Reihenfolge. Gibt es mehrere nächste Angehörige, so ist die Entnahme zulässig, wenn alle, die innerhalb angemessener Zeit erreichbar sind, ihr zustimmen und von den nicht erreichbaren Angehörigen kein Widerspruch bekannt wird. Die Wirksamkeit der postmortalen Spendeverfügung setzt zudem die Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit der verfügenden Person voraus. Diese Fähigkeit ist weder von der zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit noch von der strafrechtlichen Schuldfähigkeit abhängig. Sie bestimmt sich vielmehr u. a. danach, ob die spendende Person die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit hat, um die Bedeutung und Tragweite der Spende zu ermessen. Entscheidend ist grundsätzlich die Sachlage im Einzelfall. Das Transplantationsgesetz sieht als Mindestalter der Spendenerklärung jedoch das sechzehnte Lebensjahr vor, Art. 8 Abs. 7. 2. Gesamthirntod Weitere Zulässigkeitsvoraussetzung der postmortalen Entnahme von Organen, Gewebe und Zellen ist der irreversible Ausfall aller Funktionen des Hirns und des Hirnstamms der spendenden Person. Der Gesamthirntod ist in Art. 9 Abs. 1 verankert und wurde bereits seit längerem von der schweizerischen Rechtsprechung als Todeszeitpunkt anerkannt.60 Nach den maßgebenden Grundsätzen und Übereinkünften der medizinischen Wissenschaften ist der Mensch tot, wenn die Funktionen des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind.61 Dieser unumkehrbare Bewusstseinsverlust, the point of no return, auch als unsichtbarer Tod bezeichnet, ist für den Laien häufig erst über Hilfsmittel wie die EEG-Null-Linie erkennbar. Trotz des scheinbar breiten Konsenses ist die DiskusBGE 98 Ia 507; 123 I 112. Ausführlich Guillod, Gutachten zur Frage der Definition des Todes, 1999, http: // www.bag.admin.ch / transplantation / 00694 / 01739 / index.html?lang=de (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 60 61

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sion um die maßgeblichen Todeskriterien nicht abgeschlossen. Die klinischen Zeichen des Gesamthirntodes werden international unterschiedlich gedeutet.62 Dies hat sich sowohl in der Schweiz wie in Deutschland während der Beratung der jeweiligen Transplantationsgesetze gezeigt. Die hiermit verbundene Definitionsmacht spiegelt sich in der Festlegung der Hirntodkriterien wieder. Sie ist in der Schweiz dem Bundesrat zugewiesen, Art. 9 Abs. 2 Transplantationsgesetz. Art. 7 der Transplantationsverordnung legt die Hirntodkriterien aber nicht selbst fest, sondern verweist im Anhang 1 auf die medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW zur Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen in der Fassung vom 24. Mai 2005.63 Die mit dieser Delegation geschaffene Flexibilität ist für die Praxis hilfreich, da die Feststellung, dass es am Hirntod nichts zu rütteln gäbe, nicht in Stein gemeißelt ist, sondern neuen Erkenntnissen offen steht. Dennoch erscheint es unter dem Aspekt des Gesetzesvorbehalts nicht unproblematisch, wenn eine über Leben und Tod entscheidende Frage nicht durch den Gesetzgeber selbst beantwortet wird. Neben der normativen Festlegung, dass der Mensch bei Eintritt des Gesamthirntodes tot ist, berühren die Vorgaben des Transplantationsrechtes64 zur Todesfeststellung jene im sonstigen ärztlichen Alltag. Kantonale Regelungen, wonach sich die Todesfeststellung nach dem Transplantationsgesetz richtet, zeigen die praktische Relevanz dieser Fragestellung.65 Derartige Regelungen sind freilich missverständlich. Sie sollen verdeutlichen, dass es für die Schweiz nur ein einheitliches Gesamthirntodkonzept gibt und dass sich die Todesfeststellung bei postmortaler Organ-, Gewebe- und Zellspende nach dem Transplantationsgesetz richtet. Denn hier gilt es mit Hilfe sorgfältiger technischer Abklärung des Hirntodes und dem Zusammenwirken von mehreren Ärzten sicherzustellen, dass Missbräuche ausgeschlossen sind. Der Tod, wie er außerhalb der Transplantationsmedizin in der Regel durch die Hausärzte festgestellt wird, bestimmt sich jedoch wie bislang nach dem kantonalen Recht.66 V. Lebendspende Unter den in Art. 12 ff. des Transplantationsgesetzes geregelten Bedingungen ist zudem die Lebendspende von Organen, Geweben und Zellen zulässig. Während lebenswichtige Organe selbstverständlich von der Lebendspende ausgenommen 62 Näher Schmiedek / Pohlmann-Eden, Zur Problematik des Hirntodes, in: Bauer (Hrsg.), Medizinische Ethik am Beginn des 21. Jahrhunderts, Theoretische Konzepte, Klinische Probleme, Ärztliches Handeln, 1998, S. 148 ff. 63 http: // www.samw.ch / docs / Richtlinien / d_RL_DefTod.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 64 Art. 9 Transplantationsverordnung i.V. m. SAMW-Richtlinien (Punkt 2. und 3) über die Feststellung des Todes mit Bezug auf Organstransplantationen. 65 Vgl. z. B. Art. 37 Gesundheitsgesetz des Kantons Bern vom 24. Oktober 2006. 66 Kuhn, SÄZ 2007 (88), 57 f.

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wurden, können paarige Organe, wie die Niere oder Lunge, oder Teile unpaariger Organe, Gewebe und Zellen von gesunden Menschen zu Transplantationszwecken gespendet werden. Eine Lebendspende ist freilich nur zulässig, wenn für das Leben oder die Gesundheit der spendenden Person kein ernsthaftes Risiko besteht und der Empfänger mit keiner anderen therapeutischen Methode von vergleichbarem Nutzen behandelt werden kann. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern ist im Rahmen der Lebendspende nicht erforderlich, dass zwischen Spender und Empfänger ein nahes, ggf. familiäres Verhältnis besteht. Damit ist auch die sog. Überkreuz-Lebendspende in der Schweiz zulässig. Um hier die Freiwilligkeit und die Unentgeltlichkeit der Spende sicherzustellen, sind gemäß Art. 10 Transplantationsverordnung sorgfältige Abklärungen zu treffen. Wirksamkeitsvoraussetzung einer Lebendspende ist die freiwillige und schriftliche Spendeverfügung der zur Organspende bereiten und umfassend aufgeklärten Person. Die Details der Aufklärung finden sich in Art. 9 Transplantationsverordnung. Art. 12 Abs. 1 Transplantationsgesetz verlangt zudem die Urteilsfähigkeit und Mündigkeit der spendenden Person. Fehlt eine der Voraussetzungen, wird ungeachtet der Frage, ob die betreffende Person die nötige Einsichtfähigkeit hat, um in die Entnahme einzuwilligen, eine Lebendspende grundsätzlich untersagt. Bei mündigen Personen, d. h. solchen, die das 18. Altersjahr vollendet haben, ist von der Zustimmungsfähigkeit auszugehen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte für psychische Defekte, Bewusstseinsstörungen etc. vorliegen. Ist der potenzielle Spender urteilsunfähig oder unmündig, fehlt ihm mithin die Entscheidungskompetenz, entsteht kein rechtliches Vakuum. Art. 13 sieht bei regenerierbarem Gewebe und Zellen unter engen Voraussetzungen und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität eine Fremdbestimmung unter weitmöglicher Einbeziehung der spendenden Person vor. Die Entnahme dieses Gewebes bzw. dieser Zellen ist nur zulässig, wenn sie für die urteilsunfähige oder unmündige Person nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung mit sich bringt; die Empfängerin oder der Empfänger mit keiner anderen therapeutischen Methode von vergleichbarem Nutzen behandelt werden kann; eine geeignete urteilsfähige und mündige spendende Person nicht zur Verfügung steht; die Empfängerin oder der Empfänger ein Elternteil, ein Kind oder ein Geschwister der spendenden Person ist; die Spende geeignet ist, das Leben der Empfängerin oder des Empfängers zu retten; der gesetzliche Vertreter umfassend informiert worden ist und frei und schriftlich zugestimmt hat; die urteilsfähige, aber unmündige spendende Person umfassend informiert worden ist und frei und schriftlich zugestimmt hat; keine Anzeichen dafür vorhanden sind, dass sich die urteilsunfähige Person einer Entnahme widersetzen würde und eine unabhängige Instanz zugestimmt hat, vgl. Art. 13 Abs. 2. Organe sowie nicht regenerierbares Gewebe und Zellen dürfen aber nicht entnommen werden. In diesen Fällen ist die Lebendspende sowohl beim Minderjährigen als auch beim Volljährigen, aber nicht Urteilsfähigen, unzulässig.

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VI. Allokationsregeln, Art. 16 ff. Transplantationsgesetz Aufgrund der Mangelsituation regelt das Transplantationsgesetz zudem die Allokation von Organteilen, die in ihrer Funktion dem Organ gleichkommen, und von Körperteilen mit eigener Funktion.67 Organ- und Körperteile ohne die vorausgesetzte Funktion, Gewebe und Zellen sind bislang von der Allokation ausgenommen. Der Bundesrat hat jedoch die Kompetenz, insoweit Zuteilungsregeln zu schaffen. Die Botschaft führt als Grund der Differenzierung zwei Punkte an: zum einen den Umstand, dass bei Geweben und Zellen eine Mangelsituation nicht vorliege, zum anderen den medizinischen Faktor, dass aufgrund des Gewebeabgleichs der Empfängerkreis stark reduziert sei.68 Im Bericht der Verwaltung über die Regelung von Geweben und Zellen im Transplantationsgesetz vom 15. August 2003 wird hingegen das Handelsverbot für Gewebe und Zellen unter Hinweis auf den auch hier zum Teil vorliegenden Mangel begründet.69 Hier ergibt sich möglicherweise ein gewisser Widerspruch, der nicht aufgelöst wurde. Denn die Allokationsbestimmungen dienen auch dazu, der Gefahr des unzulässigen Handels entgegenzutreten. Die Organzuteilungsverordnung erfasst Herzen, Lungen, Lebern, Nieren, Bauchspeicheldrüsen, Inseln und Dünndärme. Zudem werden die im Transplantationsgesetz festgelegten Zuteilungskriterien der medizinischen Dringlichkeit und des medizinischen Nutzens, die Wartezeit und die Chancengleichheit definiert. Geregelt werden außerdem das Zuteilungsverfahren, der internationale Organaustausch sowie das Verfahren und die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Warteliste. Im Hinblick auf die Zuteilungskriterien und -prioritäten regelt die Verordnung allerdings nur die allgemeinen Grundsätze, die Präzisierung ist Aufgabe des Eidgenössischen Departements des Inneren.

VII. Entnahme, Lagerung, Ein- und Ausfuhr, Aufbereitung, Art. 24 ff. Transplantationsgesetz Das Transplantationsgesetz sieht eine grundsätzliche Meldepflicht für die Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen und eine Bewilligungspflicht für die Lagerung von Geweben und Zellen sowie die Ein- und Ausfuhr von Organen, die nicht zugeteilt werden können, vor. Dem Bundesrat obliegt es, den Inhalt der Meldepflichten sowie die Einzelheiten der Bewilligung festzulegen. Zudem kann er Vorschriften für die Aufbereitung der Organe, Gewebe und Zellen erlassen. Mit diesen Regelungen intendiert das Transplantationsgesetz einen hohen Schutzstan67 Ausführlich dazu Sitter-Liver, Gerechte Organallokation, 2003, http: // www.bag.admin.ch / transplantation / 00694 / 01739 / index.html ?lang=de (zuletzt aufgerufen am 31. Dezember 2007). 68 Botschaft Transplantationsgesetz, S. 149. 69 Bericht 3.4 zu Art. 6, 7 Entwurf eines Transplantationsgesetzes.

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dard bei der Gewinnung, Lagerung und Ausfuhr von Organen, Geweben und Zellen und trägt zugleich dazu bei, das Organhandelsverbot effektiv zu überwachen.

VIII. Transplantation Das Transplantationsgesetz regelt differenziert die organisatorischen Vorgaben zur Transplantation von Organen einerseits und Geweben und Zellen anderseits. Während Organe nur in Transplantationszentren transplantiert werden dürfen, die dafür über eine Bewilligung verfügen, Art. 27, ist die Transplantation von Geweben und Zellen lediglich meldepflichtig, Art. 29. Die Bewilligungspflicht dient vor allem der Minimierung der gesundheitlichen Risiken für die Organempfänger, der Chancengleichheit der in die jeweiligen Wartelisten der Transplantationszentren für die gleiche Organübertragung aufgenommenen Patienten, der Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf die zur Verfügung stehenden Spenderorgane und der Wahrnehmung aller vorhandenen Möglichkeiten zur Organspende. Die Bestimmungen wirken zugleich der Gefahr des Handels mit Organen, Geweben und Zellen entgegen. IX. Sorgfaltspflichten Die Einhaltung der im Transplantationsgesetz normierten Sorgfaltspflichten gilt für Organe, Gewebe und Zellen gleichermaßen. Eine Differenzierung ist nicht angezeigt. Das Gesetz schreibt die Testpflichten, Kennzeichnungspflichten, Aufzeichnungspflichten und die Rückverfolgbarkeit aller für den Schutz der Gesundheit bedeutsamen Vorgänge vor. Es soll sichergestellt werden, dass die einzelnen Arbeitsschritte vor und nach der Spendeentnahme lückenlos nachvollzogen werden können. Die Spender- und Empfängerdokumentation dient der Sicherstellung der ärztlichen Behandlung, der Risikoerfassung und Rückverfolgbarkeit. Der wertsetzenden Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gerade auch im Transplantationsrecht wird durch eine zeitliche Begrenzung der Aufbewahrungspflichten Rechnung getragen. Die Aufbewahrungsfrist wichtiger Unterlagen beträgt 20 Jahre, Art. 35. Denn sowohl bei Organen, Geweben und Zellen können Risiken impliziert sein, die sich möglicherweise erst langfristig zeigen. Insgesamt ist wesentlich, dass mit dem Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes von allen Transplantationszentren ein Qualitätsmanagementsystem verlangt wird, das mit Hilfe klarer Strukturen die Abläufe optimiert, die vertikale und horizontale Zusammenarbeit verstärkt und die Sicherheit der Mitarbeitenden im Team erhöht. Die Etablierung von Feedbacksystemen soll helfen, Schwachstellen zu erkennen und zu eliminieren. 70 Um das Spendeaufkommen sicherzustellen, bedarf es zudem der guten Organisation und Koordination der in den Spitälern und Transplantations70

23 ff.

Kritisch zur Haftung bei Meldung eines Fehlers Gratwohl / Schanz, SÄZ 2007 (88),

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zentren ablaufenden Transplantationsprozesse. Die Kantone sind dafür verantwortlich, dass in allen Spitälern mit Intensivpflegestation und in den Transplantationszentren die notwendigen Prozesse definiert und mindestens eine Person bestimmt wird, die diese Prozesse leitet und überwacht, vgl. Art. 56. Die Aufgaben dieser Fachperson beinhalten die Spendererkennung, die Betreuung der Angehörigen und die Koordination und Organisation der Organspende in enger Zusammenarbeit mit der Nationalen Zuteilungsstelle und den Transplantationszentren.

X. Klinische Versuche Die klinischen Versuche der Transplantation menschlicher Organe, Gewebe und Zellen unterliegen der Meldepflicht, Art. 36. Der Bundesrat kann aber für bestimmte klinische Versuche eine Bewilligungspflicht einführen. Die Transplantation von embryonalem oder fötalem Gewebe bedarf demgegenüber stets der Bewilligung, Art. 38. Damit sind die Regelungen des Stammzellenforschungsgesetzes und des Transplantationsgesetzes angeglichen. Denn sowohl die Gewinnung embryonaler Stammzellen, die sich nach dem StFG richtet, als auch deren Transplantation im Rahmen des klinischen Versuchs, die dem Transplantationsgesetz zugewiesen ist, vgl. Art. 1 Abs. 3 StFG,71 unterliegen der Bewilligung. Auch wer tierische Organe, Gewebe oder Zellen oder daraus hergestellte Transplantatprodukte auf den Menschen übertragen will, braucht eine Bewilligung des Bundesamtes, vgl. Art. 43 ff. XI. Strafbestimmungen Art. 69 enthält schließlich einen ausführlichen Katalog an Strafbestimmungen. Vierzehn Verstöße gegen das Transplantationsgesetz werden mit Strafe bedroht. Pönalisiert wird u. a. die Verletzung der Unentgeltlichkeit der Spende, des Handelsverbots oder auch die postmortale Entnahme von Organen ohne die erforderliche Zustimmung. Der Katalog gilt ergänzend zum Strafgesetzbuch, denn der Eingangssatz weist darauf hin, dass Art. 69 gilt, soweit keine schwere strafbare Handlung nach dem Strafgesetzbuch vorliegt. Unter Strafe gestellt ist die vorsätzliche Zuwiderhandlung, wobei der Strafrahmen Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bis zu 200.000 Schweizer Franken beträgt. Bei Gewerbsmäßigkeit ist der Strafrahmen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bis zu 500 000 Schweizer Franken. Bei Fahrlässigkeit ist der Strafrahmen Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 100 000 Franken. Art. 70 regelt zudem zehn vorsätzlich bzw. fahrlässig begehbare Übertretungen und sieht als Sanktion Haft oder Buße bis zu 50 000 Franken vor.

71

Botschaft StFG Ziff. 2.1.1, S. 1243, und Ziff. 1.4.3.2, S. 1197 ff.

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XII. Fazit Die Transplantationsmedizin in der Schweiz war früher lückenhaft und uneinheitlich geregelt. Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen zum 1. Juli 2007 hat sich die rechtliche Situation grundlegend gewandelt. Das Gesetzgebungsverfahren nahm etliche Jahre in Anspruch, beteiligte die Fachkreise und die Bevölkerung intensiv und führte zu einem modernen, ausgewogenen und umfassenden Regelungswerk. Das Transplantationsgesetz bietet Rechtssicherheit sowohl im Rahmen der Lebendspende wie der postmortalen Organspende und trägt der persönlichen Selbstbestimmung der spendenden Person in hohem Maße Rechnung. Die postmortale Organspende ist von der erweiterten Zustimmungslösung geprägt. Damit wird sichergestellt, dass die persönlichen Wertehaltungen einer Person auch nach deren Tod beachtet werden und sie nicht postmortal als „Ersatzteillager“ instrumentalisiert wird. Die Lebendspende untersteht der strikten Freiwilligkeit. Die Organentnahme bei Urteilsunfähigen bzw. unmündigen Personen ist unzulässig. Im Unterschied zu anderen Ländern hat die Schweiz bei der Lebendspende davon abgesehen, die Spende auf nahe Angehörige oder sonst besonders nahestehende Personen zu beschränken. Damit sind lebensrettende Spenden und auch die Überkreuz-Lebendspende rechtlich zulässig. Um Missbräuchen und einer unzulässigen Kommerzialisierung des menschlichen Körpers vorzubeugen, sind sowohl die Unentgeltlichkeit der Spende wie auch das Handelsverbot prägende Leitlinien der schweizerischen Transplantationsmedizin.

V. Verfassungsrecht und Strafprozessrecht

Der Schutz des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses durch Verfassung und Gesetz Von Peter Badura

I. Die Grundrechte nach der Privatisierung der Deutschen Bundespost durch die Postreform Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) schützt durch Freiheitsrechte die private und geschäftliche Korrespondenz gegen Beschränkungen und sonstige Eingriffe der öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG). Das öffentliche Interesse und die Erfordernisse der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung treffen auf negatorisch wirkende Grenzen des Verfassungsrechts. Das Post- und Fernmeldegeheimnis gewährleistet außerdem die Vertraulichkeit der Kommunikation – als unmittelbar bindendes Recht – gegenüber der staatlichen Verkehrsanstalt und deren Bediensteten und – als durch Gesetz zu verwirklichende grundrechtliche Schutzpflicht des Staates – gegenüber der Vermittlungsleistung durch private Unternehmen. Die anstalts- oder unternehmensbezogene Schutzwirkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, die als gesetzlich näher bestimmte Nebenpflicht des Anbieters im Rahmen des öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Leistungsverhältnisses begriffen werden kann, hat in Rechtsgestalt und Inhalt im Zuge der Postreformen von 1989 und 1994 eine wesentliche Veränderung erfahren.1 Das Gesetz zur Neustrukturierung des Post- und Fernmeldewesens und der Deutschen Bundespost (Poststrukturgesetz) vom 8. Juni 19892 trennte die unternehmerischen und betrieblichen Aufgaben der drei Teilbereiche der Deutschen Bundespost (Postdienst, Telekom, Postbank) von den politischen und hoheitlichen Aufgaben und gestaltete die Rechtsbeziehungen zu den Kunden in allen Unternehmensbereichen privatrechtlich (Postreform I). Die verfassungsrechtlich vorgegebene organisatorische Einheit der Deutschen Bundespost als Teil der bundeseigenen Verwaltung (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 a. F. GG) blieb erhalten, an der Bindung der leistungsverwaltungsrechtlichen Erbringung der Dienstleistungen an das Grundrecht änderte sich ungeachtet der privatrechtlichen Rechtsform nichts. Das 1 Gramlich, CR 1996, 102; Müller-Dehn, DÖV 1996, 863; Groß, JZ 1999, 326; Hadamek, Art. 10 GG und die Privatisierung der Deutschen Bundespost, 2002; Stern, in: Beck’scher PostG-Kommentar, 2. Aufl. 2004, § 39 Rn 4 ff.; ders., Staatsrecht, Bd. IV / 1, 2006, § 99 V 4. 2 BGBl. I S. 1026.

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Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 30. August 19943 ermöglichte die Ausgliederung der Unternehmen der Bundespost aus der bundeseigenen Verwaltung (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Umwandlung in Aktiengesellschaften (Art. 87 f., 143 b GG) durch das Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation – Postneuordnungsgesetz, PTNeuOG – vom 14. September 19944. Die Dienstleistungen werden nach Maßgabe einer Infrastrukturgewährleistung des Bundes „privatwirtschaftlich“ – also nicht leistungsverwaltungsrechtlich – von den Nachfolgeunternehmen der Bundespost und von privaten Wettbewerbern angeboten (Postreform II). Von den zunächst den Nachfolgeunternehmen befristet verliehenen Monopolrechten (vgl. Art. 143 b Abs. 2 Satz 1 GG) bestand zunächst nur noch die sachlich begrenzte Exklusivlizenz im Briefdienst der Deutschen Post AG, die am 31. Dezember 2007 geendet hat (§ 51 PostG)5. Solange die als Wirtschaftsunternehmen organisierten und geführten Nachfolgeunternehmen Deutsche Post AG und Deutsche Telekom AG im alleinigen oder mehrheitlichen Anteilsbesitz des Bundes waren, blieben sie als öffentliche Unternehmen trotz privatwirtschaftlicher Leistungsdarbietung6 an die verfassungsrechtliche Garantie des Postund Fernmeldegeheimnisses gebunden. Sobald die Nachfolgeunternehmen durch Aufgabe der staatlichen Allein- oder Mehrheitsbeteiligung ihre Eigenschaft als öffentliche Unternehmen verloren haben, sind sie ebenso wenig wie die anderen privaten Anbieter nicht an die Grundrechte gebunden, sodass die Gewährleistung der Vertraulichkeit der durch sie vermittelten Kommunikation wirtschafts- oder datenschutzrechtlich nur durch Gesetz sichergestellt werden kann. Verfassungsrechtlich wird damit die Frage aufgeworfen, ob die Grundrechte des Art. 10 GG oder der informationellen Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dem Gesetzgeber eine für die einschlägigen Rechtsbeziehungen des Privatrechtsverkehrs maßgebliche Schutzpflicht auferlegen. Es handelt sich dabei um das Thema der Gewährleistungsverantwortung des seine bisherige Erfüllungsverantwortung verlassenden Staates im Rahmen des Privatisierungsfolgenrechts.7 Auch jenseits der Universaldienste im Sinne des Gemeinschaftsrechts postuliert die Verfassung die Notwendigkeit, im Bereich des Postwesens und der BGBl. I S. 2245. BGBl. I S. 2325. 5 Scholz / Aulehner, ArchPT 45, 1993, 221; Lerche, FS Kreile, 1994, S. 377; Rottmann, ArchPT 46, 1994, 193; Stern, DVBl. 1997, 309 – BVerwG NVwZ 2007, 1324 (von Universaldienstleistungen trennbare Postdienstleistungen, die nicht unter die Exklusivlizenz fallen). 6 Nach einer verbreiteten Auffassung sind die Nachfolgeunternehmen wegen ihrer „privatwirtschaftlichen“ Dienstleistung ungeachtet der gesellschaftsrechtlichen Beherrschung durch die öffentliche Hand nicht grundrechtsgebunden, sondern grundrechtsberechtigt, jedenfalls soweit sie nicht ausschließliche Rechte wahrnehmen. Dazu Möstl, Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit. Insbesondere die Bindung der Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost an Art. 10 GG nach der Postreform II, 1989, S. 148 ff.; Löwer, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 10 Rn 9. 7 G. Kirchhof, AöR 132 (2007), 215, 241 ff. für die Privatisierung der Organisationsform; Möstl (o. Fn. 6), S. 188 ff. 3 4

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Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu gewährleisten (Art. 87 f. Abs. 1 GG). Diese Infrastrukturgarantie ist außerhalb der „Grundversorgung“ abgestuft, wird aber insgesamt durch Regulierung verwirklicht, erfasst also über die Wettbewerbsaufsicht hinaus die gemeinwohlorientierte Versorgungsaufgabe. Zu den Zielen der Regulierung gehört im Postwesen die Wahrung des Postgeheimnisses (§§ 1, 2 Abs. 2 Nr. 1, 39 ff. PostG) und auf dem Gebiet der Telekommunikation die Wahrung des Fernmeldegeheimnisses (§§ 1, 2 Abs. 2 Nr. 1, 88 ff. TKG). Die durch Gesetz und auf Grund Gesetzes wahrzunehmende Schutzpflicht des Staates für die Grundrechte des Art. 10 GG ist zugleich ein Eingriff in die Vertrags- und Unternehmensfreiheit (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG).8 II. Drittwirkung, grundrechtliche Schutzpflicht Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bindet die vollziehende Gewalt, einschließlich der gemeinwohlorientierte Dienste anbietenden öffentlichen Unternehmen, als unmittelbar geltendes Recht. Die grundrechtliche Schutznorm erzeugt keine selbständigen Rechte und Pflichten in den vertraglichen Rechtsbeziehungen zwischen privaten Anbietern von Diensten des Postwesens oder der Telekommunikation und deren Kunden; sie hat keine unmittelbare Drittwirkung im privatwirtschaftlichen Rechtsverkehr.9 Der Schutz der Vertraulichkeit der privaten und geschäftlichen Korrespondenz im Verhältnis zu dem privatwirtschaftlich handelnden Vermittler der Kommunikation ist somit auf die gesetzlichen Vorschriften des Wirtschaftsrechts (Post- und Telekommunikationsrecht) und des Datenschutzrechts verwiesen. Durch diese Vorschriften erfüllt der Gesetzgeber die ihm verfassungsrechtlich auferlegte grundrechtliche Schutzpflicht (Art. 10 GG; Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Die Verfassungsauslegung, die den Grundrechtsnormen neben ihrer freiheitschützenden Garantie Rechtsfolgen für grundrechtliche Schutzpflichten des Staates entnimmt, die hauptsächlich durch die Gesetzgebung zu erfüllen sind, ist vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie für den Schutz von Leben und Gesundheit, für den Schutz der Persönlichkeit und für das Grundeigentum entwickelt worden.10 8 Oldiges, FS Friauf 1996, S. 281; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. IV ff.; Badura, FS R. Schmidt, 2006, S. 333. 9 BAGE 52, 88 / 97 f. (Mitbestimmung des Betriebsrates bei der Erfassung von Telefondaten des Arbeitnehmers). – Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 10 Rn. 27; Gusy, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 10 Rn. 55. 10 BVerfGE 39, 1, 41 f., 42, und 88, 203, 251 ff. (Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens); BVerfG NJW 1983, 2931 (gesundheitsgefährdende und eigentumsbeeinträchtigende Luftverschmutzung); BVerfGE 66, 39, 61 (Raketenstationierung); 73, 118, 201 (Persönlichkeitsrecht); BVerfG EuGRZ 1987, 353 (Untätigkeit des Gesetzgebers bei AIDS); BVerfGE 77, 170, 214 f. (Lagerung von C-Waffen); 77, 381, 402 f., 405 (nukleares Zwischenlager Gorleben); 79, 174, 202 (Verkehrslärm); 92, 26, 46 (Schutz der Berufsfreiheit deutscher Seeleute); BVerfG NJW 1995, 2343 (Alkoholgrenzwert im Straßenverkehr); BVerfG NJW 1996,

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Sie trifft sich auf der Grundlage der Doktrin von der objektiven Gewährleistungswirkung der Grundrechte mit älteren Auslegungsgedanken der grundrechtlichen Garantie von Rechtsinstituten oder rechtlich zu ordnenden Sozialbereichen, wie Ehe und Familie, dem Eigentum, von Presse und Rundfunk und von der freien Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre. Die Schutz- und Ordnungsfunktion der Grundrechte ist in der Lehre von der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates ausgeformt worden.11 Sie bildet einen speziellen Zweig der verfassungsrechtlichen Dogmatik der Staatsaufgaben. Der Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses in den Beziehungen der kommunikativen Dienstleistungen dient der Sicherung von Persönlichkeitsrechten und der Vertraulichkeit privater und geschäftlicher Korrespondenz, die auf normative Gewährleistung angewiesen ist. Betrachtet man die Grundrechtsnormen als Entscheidungen des Verfassunggebers über die notwendige verfassungsrechtliche Garantie bestimmter Schutzgüter und Freiheiten, folgt daraus der Rechtsgedanke, dass in den Grundrechtsnormen eine objektive Ordnung materieller Verfassungssätze ausgedrückt ist und dass deren normative Sicherung auch das an den Staat gerichtete Gebot einschließt, diese Güter und Freiheiten wirksam in Schutz zu nehmen, auch gegenüber wesentlichen Gefährdungen und Beeinträchtigungen durch Dritte. Über den negatorischen Gehalt der Grundrechte hinaus wird damit ein programmatischer und mandatorischer Gehalt des grundrechtlichen Schutzwesens erschlossen. Die als Schutznorm aufgefasste Grundrechtsvorschrift stellt so eine objektive Regelung von Staatsaufgaben dar, die spezifische Pflichten der staatlichen Organe, zuerst des Gesetzgebers, begründet. Der Staat muss zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, dass ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird („Untermaßverbot“; Canaris, Isensee). Dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt kommt bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, der auch Raum lässt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Die justiziable Rechtsfolge der Verletzung einer 651 (Gesundheitsgefahren durch erhöhte Ozonkonzentrationen); BVerfG JZ 1997, 897 (Elektrosmog), mit Anm. Kremser, ebenda, 898; BVerfG BayVBl. 1998, 274 (Passivrauchen); BVerfG BayVBl. 1999, 145 (Schutz des Waldeigentums vor emittentenfernen Schäden); BVerfG NJW 2002, 1638 (Mobilfunkanlage). 11 Badura, FS Eichenberger, 1982, S. 481; Isensee, Das Recht auf Sicherheit, 1983; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § 11; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Stern, Staatsrecht, Bd. III / 1, 1988, § 69 IV; Klein, NJW 1989, 1633; Pietzcker, FS Dürig, 1990, S. 345; Wahl / Masing, JZ 1990, 553; Hesse, FS Mahrenholz, 1994, S. 541; H. H. Klein, DVBl. 1994, 491; Möstl, DÖV 1998, 1029; Brüning / Helios, JURA 2001, 155; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; Dietlein, Schutzpflichten (o. Fn. 8); Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005; Merten, GS Burmeister, 2005, S. 227; Callies, JZ 2006, 321; ders., FS Starck, 2007, S. 201; Sachs, FS R. Schmidt, 2006, S. 385.

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grundrechtlichen Schutzpflicht setzt den Tatbestand voraus, dass die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrung entweder überhaupt nicht getroffen hat oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzgebot zu erreichen. Die Gestaltungsfreiheit der öffentlichen Gewalt, insbesondere des Gesetzgebers kann sich nur unter ganz besonderen Umständen in der Weise verengen, dass allein durch eine bestimmte Regelung oder Maßnahme der Schutzpflicht genüge getan werden kann. Wenn der Gesetzgeber in Erfüllung seiner Schutzpflicht Regelungen trifft und damit Schutzmaßstäbe setzt, konkretisieren diese den Grundrechtsschutz. Der objektiven Schutzpflicht entspringt nur in Ausnahmefällen ein subjektiver, auf schützendes Handeln des Gesetzgebers gerichteter Anspruch des Einzelnen. Voraussetzung dafür ist eine individualisierte, konkrete und evidente Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht.12 Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, eine daraus unter bestimmten Voraussetzungen hervorgehende Handlungspflicht eines staatlichen Organs und ein unter noch engeren Voraussetzungen ableitbarer Individualanspruch eines Einzelnen auf Schutz durch ein staatliches Organ, insbesondere durch Gesetz, sind zu unterscheiden. Die Formel vom „Untermaßverbot“, die das Bundesverfassungsgericht gelegentlich adoptiert hat, um das Kriterium eines – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessenen und als solchen wirksamen Schutzes, den die Erfüllung der Schutzpflicht erreichen muss, zu charakterisieren 13, kann missverstanden werden, wenn sie in Parallele zu dem ein Element des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bildenden Übermaßverbot gestellt wird.14 Das Grundrecht gibt dem Berechtigten einen Unterlassungsanspruch gegen den Eingriff der öffentlichen Gewalt. Es schützt in dieser originären Funktion als Freiheitsrecht15 vor der rechtlich nicht messbaren und ohne hinreichenden Grund erfolgenden oder übermäßigen Inpflichtnahme, Beschneidung oder sonstigen Beeinträchtigung von Freiheit und Eigentum des Einzelnen für Zwecke des öffentlichen Interesses. Die aus dem objektiven Garantiegehalt des Grundrechts abgeleitete Schutzpflicht, die unter engen Voraussetzungen ein bestimmtes Handeln der öffentlichen Gewalt gebietet, gewährleistet die Verwirklichung, Vervollständigung und Ausgestaltung des grundrechtlichen Rechtsgutes. Dabei geht es nicht um eine der öffentlichen Gewalt entgegentretende Grenzbestimmung, sondern um die rechts- und sozialstaatliche Garantenstellung des Staates. Im Einzelfall, wenn der Schutz gegen eine Störung von Freiheit und Eigentum durch das Verhalten Dritter, etwa im Hinblick auf privatrechtliche Vertragsverhältnisse oder bei der öffentlich-rechtlichen Zulassung von Vorhaben oder Grundstücksnutzungen, geboten ist, kann die Erfüllung der 12 BVerfGE 56, 54, 73 ff.; 77, 170, 214 f.; 77, 381, 405; 79, 174, 202; 88, 203, 254; 92, 26, 46; BVerfG NJW 1995, 2343; BVerfG JZ 1997, 897. 13 BVerfGE 88, 203, 254. 14 Hain, DVBl. 1993, 982; Dietlein, Das Untermaßverbot, ZG 10 (1995), 131; ders., Schutzpflichten (o. Fn. 8), S. II f.; Callies, JZ 2006, 211 ff. 15 BVerfGE 50, 290, 337. – Hesse, FS Mahrenholz, 1994, S. 541, 545 f.

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Schutzpflicht zu einem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegenden Eingriff in Grundrechte des Dritten führen. Die aus der Grundrechtsordnung herzuleitenden Schutzpflichten fordern, rechtliche Regelungen so auszugestalten, dass auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen und der Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter eingedämmt wird. „Ob, warum und mit welchem Inhalt sich eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von der Art und dem Rang des geschützten Rechtsguts, sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab“16. Die politische Entscheidung des Gesetzgebers sieht sich somit im Anwendungsgebiet einer grundrechtlichen Schutzpflicht einer verfassungsrechtlichen Abwägungsdirektive unterworfen, doch wird dem Gesetzgeber damit die Entscheidungsverantwortung im Kernpunkt nicht aus der Hand genommen. Die kategoriale Verschiedenheit des Eingriffs der öffentlichen Gewalt, der die Abwehrfunktion des Grundrechts aktiviert, und der Aufgabe des Staates, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu schützen, die bereichsspezifisch aus der Gewährleistungsfunktion des Grundrechts entspringt, ist ein zentrales Prinzip der freiheitlichen Grundrechtsordnung. Die durch das Post- und Fernmeldegeheimnis begründete Schutzpflicht des Staates gebietet, durch Gesetz Regelungen zu treffen und Vorkehrungen vorzusehen, die einen privaten Anbieter im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation an die wirksame Gewährleistung der Vertraulichkeit der durch ihn vermittelten privaten und geschäftlichen Kommunikation binden. Die Grundrechte des Postund Fernmeldegeheimnisses beziehen sich auf die besondere Gefährdung der Persönlichkeitsrechte und der Vertraulichkeit der Kommunikation, die bei der Vermittlung von Nachrichten und Informationen durch einen Dienstanbieter gegeben ist, sei es – wie ursprünglich vor der Privatisierung der Deutschen Bundespost – durch eine staatliche Verkehrsanstalt, sei es durch private Unternehmen. Privatrechtlich vereinbarte Vertragspflichten genügen zur Sicherung dieses Erfordernisses nicht. Vielmehr sind gesetzliche Rahmenbedingungen und Pflichtbindungen im Verhältnis zwischen dem die Leistung erbringenden Unternehmen und dem Kunden kraft der grundrechtlichen Garantie notwendig, gewissermaßen als verfassungsrechtlich zwingende Privatisierungsfolge.17 „Art. 10 Abs. 1 GG begründet ein Abwehrrecht gegen die Kenntnisnahme des Inhalts und der näheren Umstände der Telekommunikation durch den Staat und einen Auftrag an den Staat, Schutz auch insoweit vorzusehen, als private Dritte sich Zugriff auf die Kommunikation verschaffen. Der Schutzauftrag bezieht sich nach der gemäß Art. 87 f GG erfolgten Liberalisierung des Telekommunikationswesens auch auf die von Privaten betriebenen Kommunikationsanlagen“ 18. Art. 10 entfaltet seinen Schutz nicht nur gegenüber staatlicher Kenntnisnahme von Fernmeldekommunikationen, die die BVerfGE 49, 89, 142. Groß, JZ 1999, 327, 332 ff.; Hadamek (o. Fn. 1), S. 130 ff., 198 ff.; Sievers, Der Schutz der Kommunikation im Internet durch Art. 10 des Grundgesetzes, 2003; Gusy in: von Mangoldt / Klein / Starck (o. Fn. 9), Art. 10 Rn. 61 ff.; Stern, Staatsrecht IV / 1 (o. Fn. 1) S. 220. 18 BVerfGE 106, 28, 37. 16 17

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Kommunikationspartner für sich behalten wollen. Vielmehr erstreckt sich seine Schutzwirkung auch auf Telekommunikationsverkehrsdaten, die Aufschluss über die an der Kommunikation beteiligten Personen und die Umstände der Kommunikation geben, sowie auf den Informations- und Datenverarbeitungsprozess, der sich an die Kenntnisnahme von geschützten Kommunikationsvorgängen anschließt, und den Gebrauch, der von den erlangten Kenntnissen gemacht wird.19 Der Gewährleistungsgehalt des Art. 10 Abs. 1 GG unterscheidet sich allerdings von der Schutzwirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG) durch seinen „formalen Anknüpfungspunkt“. Erfasst sind alle Kommunikationsvorgänge, die sich der Telekommunikationstechnik unter Nutzung einer entsprechenden Anlage und der darauf bezogenen Dienstleistungen eines Dritten bedienen.20 Entsprechendes gilt im Bereich des Postwesens. Die zur Erfüllung des grundrechtlichen Schutzauftrags in den privatrechtlichen Beziehungen des Diensteanbieters und des Kunden normativ festgelegten Pflichten des Anbieters und die ihm auferlegten Schutzvorkehrungen berühren die Unternehmens- und Vertragsfreiheit. Stehen dem Fernmeldegeheimnis gegenläufige Belange des Telekommunikationsunternehmens entgegen, so sind die betroffenen Belange einander im Rahmen einer Abwägung unter Beachtung des Schutzgehalts des Art. 10 Abs. 1 GG zuzuordnen. Es ist insbesondere nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die technische Funktionsfähigkeit der von dem Unternehmen angebotenen Telekommunikationsdienstleistung zumindest unerlässliche oder aus Gründen der Praktikabilität angezeigte Datenerhebungen und -speicherungen rechtfertigt.21 III. Gesetzliche Schutznormen Als Art. 7 des Postneuordnungsgesetzes erging zunächst das Gesetz über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens (PTRegG) vom 14. September 199422, dessen Geltung bis zum 31. Dezember 1997 befristet war (§ 23 PTRegG). Zu den Zielen der mit diesem Gesetz eingeführten Regulierung gehörte die Gewährleistung eines wirksamen Verbraucher- und Datenschutzes (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 PTRegG). Die Bundesregierung wurde durch die umfangreiche Bestimmung des § 10 (Datenschutzverordnungen) PTRegG ermächtigt, für Unternehmen, die der Öffentlichkeit angebotene Telekommunikations- und Informationsdienstleistungen oder Postdienstleistungen erbringen oder an der Erbringung solcher Dienstleistungen mitwirken, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten der am Fern19 20 21 22

BVerfGE 100, 313, 359; BVerfG NJW 2007, 3055. BVerfGE 106, 28, 37. BVerfG NJW 2007, 3055 (Löschung von Verkehrsdaten nach Ende der Verbindung). BGBl. I S. 2325, 2371, ber. BGBl. 1996 I S. 103.

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meldeverkehr oder am Postverkehr Beteiligten zu erlassen, welche die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung dieser Daten regeln. Die Vorschriften hatten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, insbesondere der Beschränkung der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung auf das Erforderliche, sowie dem Grundsatz der Zweckbindung Rechnung zu tragen.23 Auf das PTRegG folgten das Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 25. Juli 199624, an dessen Stelle das Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 22. Juni 200425 getreten ist, und das Postgesetz (PostG) vom 22. Dezember 199726. Im Hinblick auf das Ziel der Regulierung der Telekommunikation und der Frequenzordnung, die Interessen der Nutzer auf dem Gebiet der Telekommunikation und des Funkwesens sowie das Fernmeldegeheimnis zu wahren (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 TKG 1996), regelte das TKG 1996 „Fernmeldegeheimnis, Datenschutz, Sicherung“ in seinem Elften Teil (§§ 85 bis 93).27 Die Neufassung des TKG von 2004 bezeichnet die Wahrung der Nutzer-, insbesondere der Verbraucherinteressen auf dem Gebiet der Telekommunikation und die Wahrung des Fernmeldegeheimnisses als Ziel der Regulierung (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 TKG) und enthält die näheren Bestimmungen über „Fernmeldegeheimnis, Datenschutz, Öffentliche Sicherheit“ in seinem Teil 7 (§§ 88 bis 115 TKG). Das Gesetz unterscheidet den Schutz des Fernmeldegeheimnisses (§§ 88 ff. TKG) von dem Schutz personenbezogener Daten der Teilnehmer und Nutzer von Telekommunikation bei der Erhebung und Verwendung dieser Daten durch Unternehmen und Personen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringen oder an deren Erbringung mitwirken (§§ 91 ff. TKG).28 Dem Fernmeldegeheimnis unterliegen der Inhalt der Telekommunikation 23 Post-KundenschutzVO vom 19. 12. 1995 (BGBl. I S. 2016); Telekommunikationsdienstleistungsunternehmen-Datenschutz-VO vom 12. 7. 1996 (BGBl. I S. 982). 24 BGBl. I S. 1120. 25 BGBl. I S. 1190. Das TKG dient u. a. der Umsetzung der Richtlinie 2002 / 58 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), ABl. Nr. L 201 / 37. 26 BGBl. I S. 3294. 27 Büchner, in: Beck’scher TKG-Kommentar, 1997, S. 918 ff.; Hadamek (o. Fn. 1), S. 232 ff. – Bekanntmachung des Katalogs von Sicherheitsanforderungen gemäß § 87 des Telekommunikationsgesetzes vom 5. September 1997 des Bundesministerium für Post und Telekommunikation (BAnz. vom 7. 11. 1997, Nr. 208 a). 28 Das Gesetz über die Nutzung von Telediensten (Teledienstgesetz – TDG) – Art. 1 des Informations- und Kommunikationsdienstegesetzes vom 22. Juli 1997 (BGBl. I S. 1870) – hatte den Zweck, einheitliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten der elektronischen Informations- und Kommunikationdienste zu schaffen, unterschieden von den dem Landesrecht unterliegenden Mediendiensten (siehe Badura, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (1997), Art. 73 Nr. 7 Rn. 32 ff.). Es wurde ergänzt durch das Gesetz über den Datenschutz bei Telediensten (Teledienstedatenschutzgesetz – TDDSG) – Art. 2 des Informations- und Telekommunikationsdienstegesetzes vom 22. Juli 1997 (BGBl. I S. 1870, 1871). An die Stelle beider Gesetze ist das Telemediengesetz (TMG) – Art. 1 des Gesetzes zur Vereinheitlichung von Vorschriften über bestimmte elektro-

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und ihre näheren Umstände, insbesondere die Tatsache, ob jemand an einem Telekommunikationsvorgang beteiligt ist oder war. Zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses ist jeder Dienstanbieter verpflichtet (§ 88 TKG). In dem komplexer gewordenen Bereich der Telekommunikation, des Rundfunkes und der elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste tritt das engere Anwendungsgebiet der gesetzlichen Ausgestaltung des grundrechtlichen Fernmeldegeheimnisses neben den das Recht der informationellen Selbstbestimmung verwirklichenden Datenschutz.29 Das Recht der Telekommunikation, in dem überkommenen Verständnis als Regelung der fernmeldetechnischen Einrichtungen, Übertragungswege und Betriebshandlungen, bildet das Substrat aller Dienste und Dienstleistungen der elektronischen Information und Kommunikation. Es umfasst weiter die Regelungen über die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation (Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG), wie Telefon-, Telefax-, Telegramm- und Fernschreibdienste. In der einen wie in der anderen Hinsicht handelt es sich um die Materie „Telekommunikation“, über die der Bund die ausschließliche Gesetzgebung hat (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG). Telekommunikationsdienste sind in der Regel gegen Entgelt erbrachte Dienste, die ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze bestehen, einschließlich Übertragungsdienste in Rundfunknetzen (§ 3 Nr. 24, 27, 28 TKG). Der Mittel und Wege der Telekommunikation bedienen sich der Rundfunk und die Telemedien (Telemediendienste), die zur Materie „Recht und Wirtschaft“ gehören und damit Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung sind (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Das Telemediengesetz enthält die wirtschaftsbezogenen Bestimmungen für die Telemedien (Herkunftslandprinzip, Zulassungsfreiheit, Informationspflichten, Verantwortlichkeit, Datenschutz). Die inhaltsbezogenen Anforderungen für Telemedien sind Gegenstand des Rundfunkstaatsvertrages (§§ 2 Abs. 1 Satz 3 und 4, 54 ff. RStV). Für Telemedien, Telekommunikationsdienste und Rundfunk ist der Oberbegriff „elektronische Informations- und Kommunikations- (IuK-) Dienste“ eingeführt worden. Zu den Zielen der Regulierung im Bereich des Postwesens gehört die Wahrung der Interessen der Kunden sowie die Wahrung des Postgeheimnisses (§ 2 Abs. 2 nische Informations- und Kommunikationsdienste (Elektronischer Geschäftsverkehr-Vereinheitlichungsgesetz – ElGVG) vom 26. Februar 2007 (BGBl. I S. 179) – getreten, das in den §§ 11 bis 15 TMG die erforderlichen Datenschutzbestimmungen enthält. Zum Telemediengesetz siehe Hoeren, NJW 2007, 801; Roßnagel, NVwZ 2007, 743. Im Fall der journalistischredaktionellen Zwecke von Telemedien gelten zusätzlich die Vorschriften des § 57 des Rundfunkstaatsvertrages in der Fassung des Neunten Rundfunkänderungsstaatsvertrages vom 21. Juli bis 10. Oktober 2006 (BayGVBl. 2007 S. 132). – Zu den neuerdings geltenden Abgrenzungen der verschiedenen Dienste und Nutzungen der elektronischen Übertragungswege, auch im Hinblick auf die Abgrenzung der Gesetzgebungsrechte des Bundes und der Länder, siehe die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung für das Elektronischer-Geschäftsverkehr-Vereinheitlichungsgesetz, BT-Drucks. 16 / 3078, S. 11, 13 f. 29 Schoch / Trute, VVDStRL 57, 1998, 158, 216; Trute, JZ 1998, 822; Mückl, JZ 2007, 1077.

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Nr. 1 PostG). Dem Postgeheimnis unterliegen die näheren Umstände des Postverkehrs bestimmter natürlicher oder juristischer Personen sowie der Inhalt von Postsendungen. Zur Wahrung des Postgeheimnisses ist verpflichtet, wer geschäftsmäßig Postdienste erbringt oder daran mitwirkt (§ 39 PostG).30 Für den Schutz der personenbezogenen Daten der am Postverkehr Beteiligten durch Vorschriften des Datenschutzrechts sind die §§ 41, 42 PostG und die Postdienste-Datenschutzverordnung (PDSV) vom 2. Juli 200231 maßgebend. Wer unbefugt einen verschlossenen Brief oder ein anderes verschlossenes Schriftstück, die nicht zu seiner Kenntnis bestimmt sind, öffnet oder sich vom Inhalt eines solchen Schriftstücks ohne Öffnung des Verschlusses unter Anwendung technischer Mittel Kenntnis verschafft, begeht eine strafbare Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 202 StGB). Die Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, insbesondere dadurch, dass jemand unbefugt einer anderen Person eine Mitteilung über Tatsachen macht, die dem Post- oder Fernmeldegeheimnis unterliegen und die ihm als Inhaber oder Beschäftigten eines Unternehmens bekannt geworden sind, das geschäftsmäßig Post- oder Telekommunikationsdienste erbringt, ist nach § 206 StGB strafbar. Strafbar macht sich auch, wer unter Verstoß gegen das Abhörverbot und gegen die Geheimhaltungspflicht des Betreibers von Empfangsanlagen eine Nachricht abhört oder den Inhalt einer Nachricht oder die Tatsache ihres Empfangs einem anderen mitteilt (§ 148 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 89 Satz 1 und 2 TKG). Maßnahmen der staatlichen Überwachung des Post- und Telekommunikationsverkehrs zu Zwecken der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr unterliegen dem Gesetzesvorbehalt.32 Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten gehört zum Recht der Gefahrenabwehr, die grundsätzlich eine Materie der Landesgesetzgebung ist. Die Verfolgung von Straftaten ist eine Materie der konkurrierenden Gesetzgebung und durch Bundesgesetz abschließend geregelt.33 Implizit sind die der Garantie des Post- und Fernmeldegeheimnisses Rechnung tragenden Regelungen über die Postbeschlagnahme und die Überwachung der Telekommunikation für Zwecke der Strafverfolgung (§§ 99 ff. StPO) und landesrechtlich vorgesehene Befugnisse der Inspektion und Überwachung des Post- und Telekommunikations30 Entwurf der BReg. für das Postgesetz, BT-Drucks. 13 / 7774, Begründung, S. 29 ff. – Stern, in: Beck’scher PostG-Kommentar (o. Fn. 1) Erläuterungen zu § 39 PostG. – Vor der Postreform von 1994 war das grundrechtliche Postgeheimnis in § 5 PostG 1969, weitergeltend bis zum 31. Dezember 1997, gesetzlich ausgeformt, Müller-Dehn, DÖV 1996, 863. 31 BGBl. I S. 2494. Die PDSV 2002 ist an die Stelle der Postdienstunternehmen-Datenschutzverordnung vom 4. November 1996 (BGBl. I S. 1636) getreten. 32 BVerfGE 85, 386: Die Erfassung von Fernmeldegesprächsdaten mittels Fangschaltungen und Zählervergleichseinrichtungen durch die Deutsche Bundespost greift in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG ein und bedarf einer gesetzlichen Grundlage, dazu Schatzschneider, NJW 1993, 2029; zuvor Amelung / Pauli, MDR 1980, 801. – BVerfGE 110, 33 (Briefund Telefonüberwachung durch das Zollkriminalamt, §§ 39 bis 41 AWG), Anm. Huber, NJW 2005, 2260. 33 BVerfGE 113, 348 für die Überwachung der Telekommunikation.

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verkehrs (z. B. Art. 34 a ff. Bayer. PAG) zu Zwecken der Gefahrenabwehr Schutznormen zur Gewährleistung des Grundrechts. Art. 10 Abs. 2 GG und das auf Grund dieser Vorschrift erlassene Gesetz vom 13. August 1968 zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses verletzen nicht die Europäische Menschenrechtskonvention, insbesondere nicht das Konventionsrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz (Art. 8 EMRK).34 IV. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses stellt eine spezielle Ausprägung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung dar. Es sichert die freie Telekommunikation. Sein Gewährleistungsgehalt hat einen formalen Anknüpfungspunkt. Erfasst sind alle Kommunikationsvorgänge, die sich der Telekommunikationstechnik unter Nutzung einer entsprechenden Anlage und der darauf bezogenen Dienstleistungen eines Dritten bedienen. Die Schutzwirkung erstreckt sich auch auf den Informations- und Datenverarbeitungsprozess, der sich an die Kenntnisnahme von geschützten Kommunikationsvorgängen anschließt, und den Gebrauch, der von den erlangten Kenntnissen gemacht wird. Das Grundrecht schützt die Vertraulichkeit der individuellen Kommunikation, wenn diese wegen der räumlichen Distanz zwischen den Beteiligten auf eine Übermittlung durch andere angewiesen ist und deshalb in besonderer Weise einen Zugriff Dritter – einschließlich staatlicher Stellen – ermöglicht. Das Fernmeldegeheimnis umfasst auch neuartige Übertragungstechniken, seine Reichweite beschränkt sich daher nicht auf die früher von der Deutschen Bundespost angebotenen Fernmeldedienste, sondern erstreckt sich auf jede Übermittlung von Informationen mithilfe der verfügbaren Telekommunikationstechniken. Auf die konkrete Übermittlungsart (Kabel oder Funk, analoge oder digitale Vermittlung) und Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) kommt es nicht an. Als Folge der Digitalisierung hinterlässt vor allem jede Nutzung der Telekommunikation personenbezogene Spuren, die gespeichert und ausgewertet werden können. Auch der Zugriff auf diese Daten fällt in den Schutzbereich des Art. 10 GG. Die Nutzung des Kommunikationsmediums soll in allem vertraulich sein.35 Das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die aus dem Grundrecht der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, 34 EGMR Urt. v. 6. 9. 1978, NJW 1979, 1755, mit Anm. Arndt; Schwan, NJW 1980, 1992. Vgl. auch EGMR Urteil vom 2. 8. 1984 – James Malone, EuGRZ 1985, 17 (Abhörmaßnahmen im Vereinigten Königreich verletzen das Recht auf Privatsphäre). 35 BVerfGE 100, 313, 358 f.; 106, 28, 37; 115, 166, 182 ff.; 115, 329, 347; BVerfG NJW 2007, 351 (IMSI-Catcher). – Gusy, in: von Mangoldt / Klein / Starck (o. Fn. 9), Art. 10 Rn. 41; Stern, Staatsrecht IV / 1 (o. Fn 1), § 99 V 2 und 4.c.

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wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Es sichert den Berechtigten insbesondere Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten.36 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kommt neben Art. 10 GG nicht zur Anwendung; es wird als allgemeine Garantie durch die spezielle Rechtszuweisung verdrängt. Greift Art. 10 GG nicht ein, werden die technischen Kommunikationsdaten durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Damit wird der besonderen Schutzwürdigkeit der Daten im Zusammenhang mit Telekommunikation Rechnung getragen.37 Die Gefährdung der durch Art. 10 GG geschützten Vertraulichkeit der Telekommunikation kann auch durch den Zugriff am Endgerät erfolgen. Das Fernmeldegeheimnis umfasst jedoch nicht den Schutz vor der Nutzung einer Mithöreinrichtung, die ein Gesprächsteilnehmer einem nicht am Gespräch beteiligten Dritten bereitstellt; denn in diesem Fall der Enttäuschung des personengebundenen Vertrauens in den Gesprächspartner realisiert sich die von Art. 10 Abs. 1 GG vorausgesetzte Gefährdungslage nicht. Es greift die Gewährleistung des Rechts am gesprochenen Wort als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein.38 Nach denselben Kriterien werden die nach Abschluss des Übertragungsvorgangs im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Verbindungsdaten nicht durch Art. 10 Abs. 1 GG, sondern durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses endet insoweit in dem Moment, in dem die Nachricht bei dem Empfänger angekommen und der Übertragungsvorgang beendet ist. Die spezifischen Gefahren der räumlich distanzierten Kommunikation bestehen im Herrschaftsbereich des Empfängers, der eigene Schutzvorkehrungen gegen den ungewollten Datenzugriff treffen kann, nicht. Die gespeicherten Inhalte und Verbindungsdaten unterscheiden sich dann nicht mehr von Dateien, die der Nutzer selbst angelegt hat.39 Die Ermittlung der Geräte- und Kartennummern sowie des Standorts von Mobiltelefonen durch den Einsatz eines IMSI-Catchers (IMSI: International Mobile Subscriber Identity) auf Grund der Befugnis zur Erhebung von Daten gemäß § 100 i Abs. 1 StPO fällt nicht in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG und verletzt auch nicht das Recht BVerfGE 64, 1, 43; 115, 320, 341; BGH NJW 1987, 2667; BGH NJW 1988, 1984. BVerfGE 100, 313, 358; BVerfG NJW 2007, 351. Als weitere und speziellere Ausprägung des Grundrechts hat das Bundesverfassungsgericht das „Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ entwickelt (Urteil vom 27. Februar 2008, DÖV 2008, Heft 11, mit Anm. Britz, DÖV 2008, 411) entwickelt. 38 BVerfGE 106, 28, 37 f. – Frage der zivilgerichtlichen Verwertung von Zeugenaussagen über den Inhalt von Telefongesprächen, die von den Zeugen über eine Mithörvorrichtung mit Wissen nur eines der Gesprächspartner mitverfolgt worden waren. 39 BVerfGE 115, 166, 183 ff. – Durchsuchung der Wohnung einer Richterin wegen des Verdachts der Verletzung von Dienstgeheimnissen, um Kommunikationsverbindungsdaten auf dem Personalcomputer und dem Mobiltelefon der Angeschuldigten zu ermitteln, die einen Nachweis für Kontakte mit einem Reporter hätten ergeben können. 36 37

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unbeteiligter Dritter auf informationelle Selbstbestimmung. Nach der Vorschrift des § 100 i Abs. 1 StPO (Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation) dürfen durch technische Mittel zur Vorbereitung einer Maßnahme nach § 100 a StPO (Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation) die Geräte- und Kartennummern sowie zur vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO oder Ergreifung des Täters auf Grund eines Haftbefehls oder Unterbringungsbefehls der Standort eines aktiv geschalteten Mobilfunkgeräts ermittelt werden. Die Datenerhebung nach § 100 i StPO steht nicht im Zusammenhang mit einem Kommunikationsvorgang und betrifft auch keinen Kommunikationsinhalt im Sinne des Art. 10 Abs. 1 GG. Im Falle einer Maßnahme nach § 100 i Abs. 1 Nr. 2 StPO sind den Strafverfolgungsbehörden die Betriebsdaten bereits bekannt. Es wird lediglich der genaue Standort des Mobiltelefons bestimmt. Die Feststellung einer Geräteoder Kartennummer im Sinne des § 100 i Abs. 1 Nr. 1 StPO eines im Bereich einer simulierten Funkzelle befindlichen Mobiltelefons durch den Einsatz eines IMSICatchers ist unabhängig von einem tatsächlich stattfindenden oder zumindest versuchten Kommunikationsvorgang zwischen Menschen. Es fehlt somit an einem menschlich veranlassten Informationsaustausch, der sich auf Kommunikationsinhalte bezieht, und damit an einem in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses fallenden Sachverhalt.40

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BVerfG NJW 2007, 351.

Missbrauch von Verteidigerrechten – eine kritische Würdigung der jüngsten Rechtsprechung* Von Werner Beulke

I. Unsere Strafprozessordnung enthält ein sorgfältig austariertes System von Rechten und Pflichten der am Verfahren Beteiligten im Interesse der Erreichung der allgemein angestrebten Verfahrensziele. Letztere mögen im Einzelfall zwar streitig sein, gleichwohl werden wir wohl wenig Widerspruch erfahren, wenn wir die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, ferner die Gewährung eines rechtstaatlichen Verfahrens und schließlich die Herstellung von Rechtsfrieden zumindest zu den wichtigsten Zielen zählen. Bekanntlich ist damit allerdings noch nicht allzu viel gewonnen, denn ob und wie diese Ziele erreicht werden können, ergibt sich erst bei der Umsetzung des generellen Leitprogramms in einzelne Arbeitsanweisungen, und angesichts des Umstandes, dass die verschiedenen Verfahrensziele zueinander oft in Widerspruch stehen, gibt es nicht selten heftigen Streit darüber, welche konkreten Einzelschritte sachgerecht erscheinen. Vieles hat der Gesetzgeber selbst geregelt, vieles bleibt Rechtsprechung und Lehre vorbehalten, denken wir nur etwa an die bis heute höchst kontrovers diskutierte und in nahezu jedem aktuellen Heft unserer gängigen strafrechtlichen Zeitschriften wieder zu findende Beweisverbotslehre1 oder eben auch an die wirklich nur partiellen Bestimmungen über die Strafverteidigung. Immer wieder müssen Rechtslücken geschlossen werden unter Auswertung dessen, was der Gesetzgeber uns vorgibt, und unter Ausrichtung am Gesamtmotto, die Ziele des Strafverfahrens möglichst weitgehend zu verwirklichen. Der Jubilar Knut Amelung gehört zu den profiliertesten Mitstreitern im Rahmen all dieser Grundsatzdiskussionen. Zu den „Dauerbrennern“ kann auch die Frage gezählt werden, ob es ein Grundprinzip gibt, dass keines der gewährten Rechte missbraucht werden darf, oder ob der Gesetzgeber gerade diese Grenzen selbst setzen muss. Dass Rechte auch missbraucht werden können, weiß jeder, der sich etwas in der Verfahrensrechtswirklich* Ich danke meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Dr. Felix Ruhmannseder für seine Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. 1 Statt aller Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, 1990; ders., FS Roxin, 2001, S. 1259; Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 457 ff.; Jahn, Gutachten zum 67. Deutschen Juristentag 2008.

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keit auskennt, und ist natürlich auch den Vätern der StPO nicht verborgen geblieben. Die Möglichkeit des Missbrauchs eines Rechtes ist von vornherein einkalkuliert und eine Missbrauchsabwehr eingeplant. So werden etwa Missbräuche seitens der Richter durch Rechtsmittelmöglichkeiten vermieden. Beweisanträge von Staatsanwaltschaft und Verteidigung können unter den Voraussetzungen der §§ 244 ff. StPO abgelehnt werden – dort gibt es sogar ausdrückliche Missbrauchsklauseln in Form des Ablehnungsrechts im Fall der Prozessverschleppung. Lange Zeit hat man geglaubt, mit diesen „gesetzlichen Missbrauchsklauseln“ leben zu können, ohne daraus ein „übergesetzliches“ Missbrauchsverbot abzuleiten. Die Erfahrungen der Praxis zeigen aber, dass der Gesetzgeber gar nicht findig genug sein kann, alle denkbaren Missbräuche zu erkennen und in sein prozessuales Szenario einzubauen – als Beispiel diene der in diesem Zusammenhang immer wieder genannte Fall der Stellung von mehreren hundert, ja über 1000 Beweisanträgen, der vielerorts geradezu als Paradefall missbräuchlicher Handhabung von Beschuldigtenrechten gilt. Sozusagen aus der Praxis heraus – aus den Mühen der Richter im Gerichtssaal – ist der Gedanke geboren worden, dass es zusätzlich zu den ausdrücklichen „Abwehrmaßnahmen“ auch noch ein allgemeines Missbrauchsverbot als ungeschriebene Schranke eines jeden Rechts geben müsse. Diese nicht neue Diskussion füllt bekanntlich bereits Bibliotheken. Bevor wir auf den gegenwärtigen Stand der Kontroverse näher eingehen, sollten wir zunächst nochmals die wichtigsten Verfahrensnormen Revue passieren lassen, in denen der Gesetzgeber selbst ein Missbrauchsverbot direkt oder zumindest mittelbar artikuliert hat. Ausdrücklich an missbräuchliches Verhalten knüpfen etwa die folgenden Vorschriften an:  § 138a Abs. 1 Nr. 2 StPO (Missbrauch des Verteidigerrechts),  § 241 Abs. 1 StPO (Missbrauch des Fragerechts),  § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO (Richterablehnung zur offensichtlichen Verfahrensverzögerung),  § 231a Abs. 1 S. 1 StPO (vorsätzlich herbeigeführte Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten),  § 241 Abs. 2 StPO (Missbrauch des Fragerechts),  § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO (Prozessverschleppung); für präsente Beweismittel: § 245 Abs. 2 S. 3 Var. 5 StPO,  § 257 Abs. 3 StPO (Vorwegnahme des Schlussvortrags),  § 257a S. 1 StPO (Schriftliche Anträge und Anregungen zu Verfahrensfragen),  § 266 Abs. 3 S. 1 StPO (Verhandlungsunterbrechung bei Nachtragsanklage).

Umstritten ist also, ob es neben diesen gesetzlichen Missbrauchstatbeständen im Strafprozessrecht auch ein ungeschriebenes allgemeines Missbrauchsverbot gibt und falls ja, was dessen Voraussetzungen und Rechtsfolgen2 sind. Während sich

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zahlreiche und gewichtige Stimmen in der Literatur gegen die Existenz eines allgemeinen Missbrauchsverbots wenden, wird ein solches von der Rechtsprechung3 und einem großen Teil der Lehre4 anerkannt. Die Gegner5 eines allgemeinen Missbrauchsverbots verweisen darauf, dass jedes Recht die Missbrauchsmöglichkeit sozusagen von Geburt an in sich trage, man denke nur an das Recht, Revision einzulegen, um das Verfahren hinauszuzögern, um länger in einer Untersuchungshaftanstalt zu bleiben, die man der normalen Vollzugsanstalt wegen ihres größeren Komforts vorzieht. Es sei Sache des Gesetzgebers, die Grenzen des Rechts genau zu definieren. Alles, was nicht ausdrücklich verboten sei, sei erlaubt. Demgegenüber nimmt die herrschende Ansicht einen Missbrauch prozessualer Rechte an, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die StPO eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange benutzt, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Ziele zu verfolgen6. Eine Prozesshandlung, die ein rechtlich missbilligtes Ziel verfolgt, ohne dass ihr ein konkretes gesetzliches Verbot entgegensteht, ist jedoch nicht unwirksam, sondern nur unzulässig.7 Speziell auf den Strafverteidiger bezogen werden als typische Erscheinungsformen für denkbare Missbräuche vor allem diskutiert:8

2 Näher hierzu insbesondere Kudlich, Strafprozess und allgemeines Missbrauchsverbot, 1998, S. 189 ff., 248 ff.; ders., NStZ 1998, 588 ff.; ders., HRRS 2005, 10, 12 ff. 3 BGHSt 38, 111, 112 f.; BGH NStZ 2007, 49; KG JR 1971, 338; OLG Hamburg NStZ 1998, 586, 587 m. Anm. Kudlich; LG Hamburg StraFo 2004, 170 mit abl. Anm. Durth / Meyer-Lohkamp; BayObLG NStZ 2004, 647. Vgl. auch BGH StV 2001, 100, 101 (4. Strafsenat); StV 2001, 101 (2. Strafsenat). 4 So etwa Basdorf, in: Jahn / Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft – getrennte Welten?, 2008, S. 53; Beulke (o. Fn. 1), Rn. 126a; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, 2004, S. 68 ff., 124 ff.; Niemöller, StV 1996, 501; Fischer, NStZ 1997, 212, 216 f.; Kudlich, NStZ 1998, 588; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Vierter Band, 25. Aufl. 2001, Vor § 226 Rn. 49; MeyerGoßner, StPO, 50. Aufl. 2007, Einl. Rn. 111; Roxin, FS Hanack, 1999, S. 1, 12, 20; Satzger / Hanft, NStZ 2007, 185; Senge, NStZ 2002, 225, 226. 5 Danckert / Berthau, FS Hanack, 1999, S. 27, 36 ff.; Eschenhagen, Der Missbrauch des Beweisantragsrechts, 2001, S. 183, 190; Grüner, Über den Missbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozess, 2000, S. 113 ff.; Ignor, GS Schlüchter, 2002, S. 39, 45; Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime, 1998, S. 265 ff.; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Erster Band, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. H Rn. 42; ders., StV 1996, 684, 686; ders., NJW 1998, 3027; Rieß, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Erster Band, 25. Aufl. 1998, Einl. Abschn. J Rn. 37; Weßlau, FS Lüderssen, 2002, S. 787, 790 ff.; Wohlers, in: Systematischer Kommentar zur StPO, Vor § 137 Rn. 63. 6 So z. B. BGHSt 51, 89, 93 = BGH NStZ 2007, 49, 50 m. w. N. 7 Meyer-Goßner (o. Fn. 4), Einl. Rn. 111. 8 Ausführliche Kategorisierung der Verhaltensweisen bei Jahn (o. Fn. 5), S. 40 ff.; eingehend zur Reaktion auf die exzessive Inanspruchnahme von Verteidigungsrechten Malmendier, NJW 1997, 227; Senge, NStZ 2002, 225, 229 ff.; Wohlers, in: Jahn / Nack (o. Fn. 4), S. 42, 48 ff.

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 Extensives Stellen von Befangenheitsanträgen,  Extensives Gebrauchmachen von Antragsbegründungs- und Fragerechten,  Extensive Nutzung des Zwischenrechtsbehelfs des § 238 Abs. 2 StPO,  Extensives Stellen von Aussetzungsanträgen,  Extensives Stellen von Beweisanträgen, und zwar inhaltlich (Beweisanträge „ins Blaue“ hinein oder solche, die nicht der Sachaufklärung dienen), zeitlich (Beweisanträge in einem – mitunter sehr – späten Stadium der Hauptverhandlung) sowie sachlich (z. B. Beweisanträge, die von der erwünschten Einstellung des Verfahrens abhängig gemacht werden).

Im Rahmen der grundsätzlichen Erwägungen bedarf aus meiner Sicht noch eine Diskussion der Erwähnung, die vielleicht früher vielen etwas akademisch schien, deren Relevanz aber gerade jetzt, wo die Rechtsprechung dazu ansetzt, ihr Missbrauchskonzept tatendurstig umzusetzen, besonders offensichtlich wird. Mir scheint, dass insbesondere die Verteidigerschaft das Argumentationspotential, das zu ihren Gunsten hier schlummert, insoweit noch gar nicht erkannt hat. Speziell bzgl. der Grenzen der Rechtsmacht des Verteidigers besteht nämlich folgende von der Allgemeindebatte losgelöste Kontroverse zwischen Roxin und mir. In Auseinandersetzung mit meiner eingeschränkten Organtheorie hat Roxin9 dargelegt, das von mir Gesagte sei bzgl. der daraus abgeleiteten Unabhängigkeit des Verteidigers vom Mandanten zwar schlüssig, nicht jedoch bzgl. der besonderen Inpflichtnahme des Verteidigers, denn die damit angesprochenen Schranken seiner Rechtsmacht i.S. des Verbots, die Verfahrensziele nicht zu sabotieren, ergebe sich bereits aus dem alle Verfahrensbeteiligte treffenden allgemeinen Missbrauchsverbot. Dem habe ich entgegen gehalten10 – und meine, dass das bis heute gilt – dass sich der Verteidiger auf das allgemeine Missbrauchsverbot gerade nicht einlassen, sondern auf einem speziellen Missbrauchsverbot bestehen sollte. Das nicht etwa – wie das im Schrifttum vielleicht missverstanden wurde – weil der Verteidiger generell weniger Rechte hat als der Angeklagte selbst, sondern weil er im Interesse einer effektiven Gegenwehr in Teilbereichen auch wiederum gerade mehr darf als ein Beschuldigter. Die (eingeschränkte) Organstellung ist also aus meiner Sicht insoweit auch die Basis für zusätzliche Kompetenzen des Strafverteidigers (z. B. beim Rederecht, Beweisantragsrecht) und nicht nur für seine besondere Inpflichtnahme (z. B. bei der Wahrheitspflicht). II. Die eigene Positionsbestimmung im Streit um die aus dem Missbrauchsverbot konkret ableitbaren Grenzen ist nur möglich vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung. Letztere hat in jüngster Zeit gerade auf diesem Feld ungeahnte 9 10

Roxin, FS Hanack, 1999, S. 1, 13 ff. Beulke, FS Roxin, 2001, S. 1173, 1184.

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Aktivitäten entwickelt. Hohe Bundesrichter haben bereits zu Protokoll gegeben, dass angesichts des Fehlens einschränkender gesetzlicher Regelungen nunmehr die Rechtsprechung gefragt sei.11 In der Gesamtschau dürfte erkennbar werden, wo nach Ansicht der Strafverfolgungsorgane derzeit der Schuh besonders drückt und vor allem, wohin die Reise in aller nächster Zukunft voraussichtlich gehen wird. Selbstverständlich können hier nicht alle denkbaren Fallgruppen aufgearbeitet werden, weshalb nur einige „Highlights“ angesprochen werden sollen. 1. Das Beweisantragsrecht a) Allgemeines Begonnen sei mit dem Bereich, in dem das Missbrauchsverbot seitens der Rechtsprechung bisher am weitesten entwickelt worden ist, nämlich dem Beweisantragsrecht. In der Praxis taucht das Problem eines Missbrauchs in den unterschiedlichsten Formen auf, so insbesondere bei:  dem Stellen von Beweisanträgen zur Herbeiführung eines Revisionsgrundes,  dem Inaussichtstellen von Beweisanträgen mit dem Ziel, dadurch die Einstellung des Verfahrens zu erreichen,  der Benennung eines Richters als Zeugen, um ihn nach § 22 Nr. 5 StPO auszuschließen und damit den Prozess zum Platzen zu bringen,  dem Stellen von Beweisanträgen in Prozessverschleppungsabsicht.

Im Beweisantragsrecht ist heute unstreitig, dass im Grundsatz lediglich die gesetzlichen Ablehnungsgründe die Zurückweisung eines Antrags rechtfertigen können. Nicht ausreichend ist daher die Ablehnung unter Berufung allein auf rechtsmissbräuchliches Verhalten – wie etwa der Gedanke des venire contra factum proprium.12 Wie ganz generell bei allen Rechten, so wird aber auch speziell beim Beweisantragsrecht in Erwägung gezogen, ob neben dem im Gesetz ausdrücklich genannten Fall der Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppungsabsicht (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO) Beweisanträge wegen Missbrauchs für verfahrensfremde Zwecke in Ausnahmefällen doch unzulässig sein können. Ein „verfahrensfremder Zweck“ sei anzunehmen, wenn der Antragsteller nicht ernstlich die Aufklärung eines entscheidungsrelevanten Sachverhaltes begehre, sondern insbesondere darauf abziele, andere Verfahrensbeteiligte bloßzustellen, oder wenn er lediglich Sensationserregung und politische Propaganda betreiben wolle.13 Basdorf (o. Fn. 4), S. 56. BGHSt 29, 149, 151. 13 Vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. 2006, Rn. 173; Pfordte / Degenhard, Der Anwalt im Strafrecht, 2005, § 19 Rn. 24. Ausführlich zu diesem Problemkreis Fahl (o. Fn. 4), S. 512 ff. 11 12

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b) Der Missbrauch des Beweisantragsrechts durch den Angeklagten aa) Die Grundsatzentscheidung BGHSt 38, 111 Seitens des BGH stellt die grundlegende Entscheidung zum Missbrauch des Beweisantragsrechts das Urteil des 4. Strafsenats vom 7. 11. 1991 – 4 StR 252 / 91, BGHSt 38, 111 dar. Der Leitsatz lautet: „Macht der Angeklagte zwecks Verhinderung des ordnungsgemäßen Abschlusses der Hauptverhandlung in exzessiver Weise von seinem Recht, Beweisanträge zu stellen, Gebrauch, kann das Gericht anordnen, dass er in Zukunft Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger stellen darf.“

Mit dieser Begrenzung von Beschuldigtenrechten ist der BGH erstmals dem exzessiven Einsatz des Beweisantragsrechts durch einen Angeklagten entgegen getreten.14 Im zugrunde liegenden Verfahren hatte der Angeklagte in den ersten elf Monaten der Hauptverhandlung ca. 300 Beweisanträge gestellt, diese jedoch nach Ablegung eines Geständnisses wieder zurückgenommen. Nach Widerruf des Geständnisses am 78. Verhandlungstag deckte er die erkennende Strafkammer mit einer Fülle von Beweisanträgen ein; das Gericht war mehr als ein halbes Jahr an ca. 30 Sitzungstagen nahezu ausschließlich mit der Entgegennahme und Bescheidung von durch den Angeklagten gestellten Beweisanträgen beschäftigt. Zudem hatte der Angeklagte angekündigt, 200 vorbereitete Beweisanträge stellen zu wollen. Darüber hinaus schloss er sich 8.500 (!) Beweisanträgen eines Mitangeklagten an (ohne diese im Einzelnen zu kennen), die Letzterer eingereicht, aber noch nicht gestellt hatte. Das Gericht kam nach einer Überprüfung der ersten 106 gestellten Beweisanträge zu der Überzeugung, dass der Angeklagte mit seinen Anträgen keine Sachaufklärung erstrebe, sondern nur eine Verfahrensverzögerung und eine Zusage des Gerichts für eine von ihm als akzeptabel angesehene Strafe. Dem Angeklagten wurde daraufhin das Recht zur eigenen Antragstellung untersagt und aufgegeben, Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger zu stellen. Die Bedeutung dieser Entscheidung kann gar nicht überschätzt werden. Hier hat sich der BGH mit einer vorher vermiedenen Klarheit dazu bekannt, dass einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten, das die rechtsstaatlich geforderte effektive Förderung eines Strafverfahrens nachhaltig in Frage stellt, allein auf der Grundlage eines allgemeinen Missbrauchverbots ohne spezielle Eingriffsnorm in der Strafprozessordnung jedenfalls dann durch Einschränkungen begegnet werden kann, wenn diese ihrerseits nicht das Recht des Angeklagten, sich umfassend zu verteidigen, in Frage stellen. Da dem Verteidiger selbst das Recht zur Beweisantragstellung nicht beschnitten worden war, war diese Voraussetzung nach Ansicht des BGH erfüllt. 14 Bei fortgesetzt erheblichem Missbrauch des Fragerechts anerkannte der BGH bereits zuvor grundsätzlich die Befugnis des Tatrichters, das Stellen weiterer unsachlicher Fragen durch Entzug des Fragerechts für bestimmte Abschnitte der Beweisaufnahme zu untersagen, vgl. etwa BGH bei Dallinger, MDR 1973, 371.

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Die eigene Stellungnahme zu dieser Grundsatzentscheidung fällt allerdings negativ aus.15 Zwar verdient sie bezüglich des Zurückweisens der 8.500 Beweisanträge Zustimmung. Zu Recht ist diesbezüglich das allgemeine Missbrauchsverbot bemüht worden. Abzulehnen ist sie aber insoweit, als sie den Verteidiger als „Filterstation“ für Aktivitäten des Beschuldigten missbraucht. Niemand kann vom Verteidiger verlangen, dass er als Zensor seines Mandanten fungiert. Die Aufgabe der Missbrauchsabwehr muss das Gericht dann doch selbst übernehmen. Das Gericht hätte unter Hinweis auf das allgemeine Verbot des Missbrauchs gewährter Rechte die Beweisanträge des Beschuldigten ohne inhaltliche Prüfung ablehnen können. Es wäre dann abzuwarten gewesen, ob der Verteidiger für seinen Mandanten eingesprungen wäre und die Beweisanträge als eigene gestellt hätte. Dann hätte insoweit eine weitere Missbrauchsprüfung einsetzen müssen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass nicht der Verteidiger die mehreren tausend Beweisanträge gestellt hat, sondern der Angeklagte. Für einen erfahrenen Verteidiger dürfte eine solche Verteidigungsstrategie eher einen Kunstfehler als eine wirksame Unterstützung des Angeklagten beinhalten. bb) BayObLG NStZ 2004, 647 Das Recht des Angeklagten, selbstständig neben seinem Verteidiger Gegenstand und Umfang der Beweisaufnahme durch Beweisanträge mitzubestimmen, ist also unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens16. Vor diesem Hintergrund kann der Tatrichter auch nach einer Entscheidung des BayObLG17 nur in ganz extremen Ausnahmefällen als letztes Mittel zur Verhinderung eines Rechtsmissbrauchs dem Angeklagten auferlegen, Beweisanträge künftig nur noch durch seinen Verteidiger stellen zu lassen. Aus der Begründung eines solchen Gerichtsbeschlusses muss sich ergeben, warum nach Ansicht des Tatrichters der Angeklagte sein Beweisantragsrecht bis zu diesem Zeitpunkt rechtsmissbräuchlich eingesetzt hat oder ob und warum ein solches Handeln zu erwarten war. Fehlen weitere Anhaltspunkte aufgrund des bisherigen Prozessverhaltens, ist jedenfalls die Ankündigung, „50 bis 60 (weitere) Beweisanträge“ zu stellen, für sich genommen nicht geeignet, ausschließlich deshalb eine alleinige Missbrauchsabsicht beim Angeklagten zu unterstellen. Diese restriktive Handhabung der vom BGH zugelassenen Missbrauchsabwehr erscheint begrüßenswert. Die Entscheidung verdeutlicht sehr plastisch die Gefahren des neuen Vorgehens. Viele Richter hätten sicherlich weniger Geduld an den Tag gelegt als das Bayerische Oberste Landesgericht und die Grenze des Tolerablen schon bei 50 bis 60 Beweisanträgen als überschritten angesehen. Es geht aber nicht um Verhinderung unerwünschter Verfahrensverzögerungen, sondern 15 16 17

Siehe bereits Beulke (o. Fn. 1), Rn. 150. Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg (o. Fn. 4), § 244 Rn. 93 m. w. N. BayObLG NStZ 2004, 647.

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einzig und allein um Vermeidung von Verteidigungsstrategien, die eine Urteilsfällung de facto nahezu unmöglich machen. c) Der Missbrauch des Beweisantragsrechts durch den Strafverteidiger aa) Exzessiver Gebrauch des Beweisantragsrechts (1) Urteil des LG Wiesbaden NJW 1995, 409 Einem angeblich exzessiven Gebrauch von Verteidigungsrechten, insbesondere des Beweisantragsrechts, sah sich das LG Wiesbaden ausgesetzt.18 In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft die bereits mehrfach einschlägig vorbestrafte Angeklagte wegen des Vorwurfs des Hausfriedensbruchs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte beim AG Wiesbaden angeklagt. Der Grund dieser Anklage lag darin, dass sich die Angeklagte anlässlich der Räumung eines von ihr besetzten, im Eigentum der Stadt Wiesbaden stehenden, unbewohnten Gebäudes mit Hilfe gezielter Fußtritte gegen einen Polizeibeamten ihrer Festnahme entziehen wollte. Aufgrund ihres Geständnisses wurde die Angeklagte im erstinstanzlichen Verfahren, welches fünf Verhandlungstage beansprucht hatte, wegen Hausfriedensbruchs zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Aus Mangel an Beweisen wurde sie im Übrigen freigesprochen. Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung beim LG Wiesbaden ein. Dieses kam aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu der Überzeugung, dass die Angeklagte auch den ihr vorgeworfenen Widerstand gegenüber dem sie festnehmenden Polizeibeamten begangen hatte; gleichwohl wurde die Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen. Zur Begründung führte die Strafkammer an, dass sie sich an einer (weitergehenden) Verurteilung „aus prozessualen Gründen gehindert“ sehe, weil die Verteidigung sich „von vornherein in die Richtung der sich in bestimmten Kreisen herausbildenden Konfliktverteidigung“ bewegt habe, was einen „Kampf gegen die Rechtsordnung mit den Mitteln des Strafprozessrechts“ darstelle, dem das Gericht „machtlos ausgeliefert“ sei. Das Vorliegen einer Konfliktverteidigung folgerte das LG Wiesbaden im konkreten Fall einerseits aus dem von der Verteidigung gegen die Vorsitzende gestellten Befangenheitsantrag wegen Verlesung des Vorstrafenregisters eines Zeugen, andererseits aus einer „Unzahl von Beweisanträgen“19, mit denen der Abschluss des Verfahrens nach drei Verhandlungstagen in der Berufungsinstanz verhindert werden sollte. Darüber hinaus hätte es die Verteidigung in der Hand gehabt, das Verfahren immer wieder durch neue Beweisanträge hinauszuzögern. In seiner Machtlosigkeit gegenüber einer derartigen Verteidigungsstrategie sah das Gericht seine Würde in elementarer Weise sowie die Effektivität der LG Wiesbaden NJW 1995, 409. Die genaue Anzahl der gestellten Beweisanträge wird aus den Gründen der Entscheidung nicht ersichtlich. 18 19

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Rechtsprechung tangiert. Die Strafkammer befürchtete eine Verschwendung von Rechtsgewährungskapazitäten, wodurch andere wichtige Strafverfahren unerledigt blieben. Das Gericht hielt es daher bei der derzeit geltenden Rechtslage zur Aufrechterhaltung der Strafrechtspflege für geboten, die Nichtverurteilung der Angeklagten hinzunehmen, um es in die Lage zu versetzen, andere Strafverfahren durchführen zu können. Diese Entscheidung bedarf angesichts der Absurdität, die ihr auf der Stirn geschrieben steht, nahezu keiner Kommentierung. Hier ist ein Gericht an der ihm gestellten Aufgabe gescheitert und hat einen Offenbarungseid geleistet. Mit Missbrauchsabwehr im Rahmen des Beweisantragsrechts hat das nichts zu tun. Auf den verfehlten Begriff der Konfliktverteidigung werde ich noch zurückkommen. (2) Beschluss des BGH vom 14. 6. 2005 – 5 StR 129 / 05, NStZ 2005, 648 Dem Beschluss des BGH liegt das Verfahren einer Schwurgerichtskammer des LG Hamburg zugrunde, das sich gegen drei Angeklagte richtete und mit 291 Verhandlungstagen über dreieinhalb Jahre dauerte. Der BGH wertete das Prozessverhalten eines der Verteidiger als rechtsmissbräuchlich, was sich daran zeigte, dass Letzterer zahlreiche sachlich unberechtigte Beweisanträge (zudem in sukzessiver Form) stellte, ohne dass für diese Vorgehensweise ein nachvollziehbar berechtigtes Interesse zu erkennen war. Der Verteidiger reagierte auf die Ablehnung solcher Anträge mit Erhebung umfangreicher zeitaufwendiger Gegenvorstellungen, mit unzulässigen Ablehnungsgesuchen und Unterbrechungsanträgen. Nachdem der Verteidiger bereits über 320 Beweisanträge gestellt hatte, welche überwiegend wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt wurden, kündigte er an, „dass er noch eine Vielzahl von Anträgen zu stellen beabsichtige, die zwar noch nicht ausformuliert seien, die er jedoch im Kopf habe, es könnten zwischen 30 und 200 Anträge sein.“ Daraufhin beschloss das LG Hamburg, nach einer bestimmten Frist Beweisanträge nicht mehr entgegen zu nehmen.20 Als Begründung wurde insbesondere angeführt, dass das Verteidigungsverhalten einen Missbrauch des Beweisantragsrechtes aufzeige; die Aufklärungspflicht bleibe von der gewählten Vorgehensweise des Gerichts unberührt. Nach Ablauf der Frist gleichwohl gestellte Anträge der Verteidigung beschied das LG Hamburg wie Hilfsbeweisanträge in den Urteilsgründen. Sämtliche Anträge wurden wegen Prozessverschleppungsabsicht abgelehnt, zahlreiche auch wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen. Der BGH billigte im Ergebnis die dargestellte Vorgehensweise. Nach monate-, gar jahrelanger Verfahrensdauer insbesondere in Haftsachen müsse nach einer verfahrensrechtlich vertretbaren Möglichkeit gesucht werden, die Hauptverhandlung zu einem Abschluss zu bringen, allerdings unter fortdauernder Wahrung unverzichtbarer Verteidigungsinteressen. Dies erforderten die mit zunehmender Verfah20

LG Hamburg StraFo 2004, 170 mit abl. Anm. Durth / Meyer-Lohkamp.

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rensdauer immer gewichtiger werdenden Gebote der Beschleunigung des Verfahrens (Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 EMRK, Art. 2 Abs. 2 GG) und der Gewährleistung einer dem Gleichheitsgedanken verpflichteten funktionsfähigen Strafrechtspflege vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen der Strafjustiz. In Fällen des extremen Missbrauchs des Beweisantragsrechtes und dadurch bedingter Verfahrensverzögerung sei es daher erwägenswert, zur Verhinderung weiterer Verfahrensverzögerungen den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen und nach deren Ablauf gestellte Anträge grundsätzlich nicht mehr durch gesonderten Gerichtsbeschluss in der Hauptverhandlung, sondern erst in den Gründen zu bescheiden. Diese Lösung des Missbrauchsproblems leuchtet mir schon deshalb nicht ein, weil ein Rückgriff auf ungeschriebene allgemeine Regeln gar nicht erforderlich ist. Wir haben es hier geradezu mit einem Musterfall dessen zu tun, was die Gegner des allgemeinen Missbrauchsverbots meinen, wenn sie vor einem Missbrauch des allgemeinen Missbrauchsprinzips warnen. Die Lösung des BGH entspringt mehr dem Bauchgefühl der Richter als präziser juristischer Argumentation. Gerade bzgl. der Präklusionsproblematik hat der Gesetzgeber selbst bereits die Weichen gestellt und dem Verzögerungsargument eine deutliche Absage erteilt. Die Rechtsprechung missachtet den eindeutigen Wortlaut des § 244 Abs. 6 StPO, der für die Ablehnung eines Beweisantrags einen Gerichtsbeschluss verlangt und sie verstößt gegen § 246 StPO, der eine Präklusion im Strafprozess ausdrücklich verbietet. bb) Beweisantrag auf Vernehmung eines erkennenden Richters als Zeuge (1) Allgemeines Immer wieder werden Beweisanträge auf Vernehmung eines erkennenden Richters als Zeuge gestellt, insbesondere wenn dieser als beauftragter Richter Untersuchungshandlungen vorgenommen hat oder sonst Sachdienliches bekunden kann.21 In diesen Fällen wird zur Verhinderung einer Prozesssabotage in der Praxis folgendermaßen vorgegangen: Das als Zeuge benannte Mitglied des erkennenden Gerichts versichert in einer dienstlichen Erklärung, dass es zur Beweisbehauptung nichts zu sagen wisse oder dass es sich nur zu Vorgängen äußern könne, die es im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit in der verhandelten Sache wahrgenommen habe.22 Diese Erklärung kann dann ein ausreichendes Indiz für die Annahme sein, dem Richter solle nur deshalb die Zeugenrolle zugeschoben werden, um ihn auszuschalten (vgl. § 22 Nr. 5 StPO) und um das Gericht an der Fortführung des Verfahrens zu hindern. Zieht das Gericht (unter Mitwirkung des Benannten!) diese Folgerung, ist der trotz der dienstlichen Erklärung des Richters aufrechterhaltene Beweisantrag als unzulässig abzulehnen, weil er nur auf einen missbilligenswerten Zweck gerichtet ist.23 21 22 23

Näher hierzu Michel, MDR 1992, 1026; Rissing-van Saan, MDR 1993, 310. Vgl. BGHSt 44, 4 m. w. N.; Pfordte / Degenhard (o. Fn. 13), § 19 Rn. 24. BGHSt 7, 330, 331; 11, 206; 39, 239; BGH StV 1991, 99.

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Diese Lösung halte ich für tolerabel. Das Gericht muss die Möglichkeit haben, die Hauptverhandlung zu Ende zu bringen. Ein Hinauskatapultieren des Richters via Zeugenvernehmung, mit der Folge, dass damit im Regelfall der Prozess (mangels Existenz eines Ergänzungsrichters) platzt, darf wirklich nur dem Fall vorbehalten bleiben, dass der Richter etwas Sachdienliches zum Verfahren oder zur Schuldfrage beizutragen hat. Die einschlägige Missbrauchsrechtsprechung lässt der Verteidigung einen ausreichenden Spielraum. Das Vertrauen in die Ehrlichkeit der Richter erscheint mir angemessen. Im Gegenzug sollten wir aber eine ähnlich honorige Einstellung auch unseren Strafverteidigern entgegenbringen. Es spricht nicht für die Objektivität der Richterschaft, wenn sie das Füllhorn des Vertrauens nur auf die staatlichen Strafverfolgungsorgane ausschüttet. (2) BGH, Urteil vom 16. 7. 2003 – 2 StR 68 / 03, StV 2004, 355 Die vorstehenden Grundsätze hat der BGH durch Urteil vom 16. 7. 2003 bestätigt und sich zu der Frage geäußert, wann Indizien für einen „prozessfremden“ Einsatz des Beweisantragsrechtes sprechen. Im zugrunde liegenden Fall wurde ein Beweisantrag auf Zeugenvernehmung der richterlichen Beisitzer gestellt, die zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme in einer Parallelsache aussagen sollten. Die beiden betroffenen Richter erklärten in dienstlichen Äußerungen, welche in der Hauptverhandlung verlesen wurden, dass sie die im Beweisantrag aufgestellten Behauptungen nicht bestätigen könnten. Gleichwohl hielt die Verteidigung ihren Beweisantrag aufrecht, woraufhin eine Ablehnung als unzulässig erfolgte. Zur Begründung führte der Tatrichter insbesondere aus, dass der Antrag lediglich den Zweck verfolge, die als Zeugen benannten erkennenden Richter auszuschalten und das Gericht an der Ausübung seines Amtes zu hindern. Der 2. Strafsenat des BGH billigte diese Entscheidung. Beweisanträge, mit denen prozessfremde Ziele verfolgt würden, seien nach § 244 Abs. 3 S. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen. Ein „prozessfremdes Ziel“ in dem so verstandenen Sinne werde auch verfolgt, sofern ein erkennender Richter durch Benennung als Zeuge ausgeschaltet werden solle, obwohl in Wirklichkeit keine Sachaufklärung erstrebt werde. Das Beharren auf der beantragten Zeugenvernehmung, obwohl der als Zeuge benannte Richter bereits dienstlich erklärt habe, dass er die Beweisbehauptung nicht bestätigen könne, sei ein deutliches Indiz für das Verfolgen eines sachfremden Zweckes. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, ob der Richter die Behauptung nicht bestätigen könne, weil er sich nicht mehr erinnere, oder weil er das Gegenteil der Behauptung in Erinnerung habe. Auch diese Entscheidung erscheint mir entsprechend der obigen Stellungnahme zum Ablehnungsrecht eines Beweisantrages, der erkennbar zum Ziel hat, den Richter aus dem Verfahren „herauszukatapultieren“, sachgerecht.

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cc) Beweisantrag zum Zwecke der Prozessverschleppung, BGH NStZ 2007, 659 Unser besonderes Interesse verdient die neue Rechtsentwicklung im Bereich der Prozessverschleppung. Hier prallen im Moment die Ansichten zwischen Rechtsprechung einerseits und der Anwaltschaft andererseits besonders heftig aufeinander. Ein Beweisantrag kann nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO abgelehnt werden, wenn er „zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist“. Hinter der Regelung steht der Gedanke, dass das Gericht nicht verpflichtet sein kann, Beweise zu erheben, die weder dazu bestimmt sind noch dazu dienen können, die Erkenntnisgrundlage der gerichtlichen Entscheidung zu erweitern.24 An den Ablehnungsgrund stellt die Rechtsprechung und Strafprozessdogmatik strenge Anforderungen, um sicherzustellen, dass „nicht durch den unterstellten Schein der Verschleppung die ernstlich gemeinte Verteidigung zu Schaden komme“25. Danach darf ein Beweisantrag wegen Prozessverschleppung nur abgelehnt werden, wenn die begehrte Beweiserhebung  den Abschluss des Verfahrens wesentlich26 oder erheblich27 hinauszögern kann,  nach Überzeugung des Gerichts nichts Sachdienliches zu erbringen vermag und  der Antragsteller sich dessen bewusst ist und mit seinem Verlangen ausschließlich eine Verzögerung des Verfahrens bezweckt28.

Insbesondere aufgrund der Schwierigkeit, die Beweggründe des Antragstellers zweifelsfrei nachzuweisen, wird dem Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung für die gerichtliche Praxis bislang überwiegend nur eine geringe Bedeutung beigemessen.29 Der 1. Strafsenat des BGH hat es daher kürzlich in einem obiter dictum für angezeigt gehalten30, „das objektive Kriterium, dass die Verfahrensverzögerung zusätzlich wesentlich sein muss, deutlich restriktiver auszulegen wenn nicht gar aufzugeben.“ Darüber hinaus soll ein Vorsitzender nach Abschluss der vom Gericht nach dem Maßstab der Aufklärungspflicht für geboten gehaltenen Beweiserhebungen die übrigen Verfahrensbeteiligten unter Fristsetzung auffordern dürfen, etwaige Beweisanträge zu stellen. Versäume der Antragsteller die gesetzte 24 Herdegen, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2003, § 244 Rn. 86. 25 RGSt 7, 550, 551; BGHSt 21, 118, 123. 26 BGH NStZ 1982, 391, 392; OLG Köln NStZ 1983, 90; Beulke (o. Fn. 1), Rn. 439 ff. 27 BGH NStZ 1984, 366; StV 1990, 393; a. A. Herdegen, in: KK-StPO (o. Fn. 24), § 244 Rn. 87; Schrader, NStZ 1991, 224, 226: jede Verzögerung des Verfahrensabschlusses reicht aus. 28 Die hierfür maßgeblichen Gründe hat das Gericht in dem ablehnenden Beschluss darzulegen, vgl. nur BGHSt 29, 149, 151. 29 Vgl. nur Herdegen, in: KK-StPO (o. Fn. 24), § 244 Rn. 83. 30 BGH NStZ 2007, 659; hierzu Beulke / Ruhmannseder, NStZ 2008, 300.

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Frist, so habe er die Gründe hierfür gegenüber dem Gericht substantiiert darzulegen. Bestehe nach Überzeugung des Gerichts kein nachvollziehbarer Anlass für die verfristete Antragstellung, so könne es – falls nicht die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO gleichwohl zur Beweiserhebung dränge – grundsätzlich davon ausgehen, dass der Antrag nichts anderes als die Verzögerung des Verfahrens bezwecke.31 Diese Lösung verdient keine Zustimmung. Im Interesse einer effektiven Gegenwehr gegen die mit dem Strafverfahren verbundenen Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre des Bürgers ist an dem Erfordernis einer „wesentlichen“ Verzögerung weiterhin festzuhalten.32 Hinsichtlich der Frage, wann eine solche Form der Verzögerung vorliegt, hat sich die Praxis bislang zu Recht an den §§ 228, 229 StPO orientiert. Auch wenn keine allgemeingültige Regel für die Unterscheidung zwischen „wesentlicher“ und „unwesentlicher“ Verfahrensverzögerung existiert, schafft diese Vorgehensweise nämlich Rechtsicherheit, da sie sich an feste Fristen anlehnt. Darüber hinaus berücksichtigt sie die Wertung des Gesetzgebers, dass bei Einhaltung der in § 229 StPO genannten Fristen noch die Einheitlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung gewahrt ist.33 An diesen Maßstäben ist daher auch weiterhin im Grundsatz festzuhalten; die durch das 1. JuMoG vom 24. 8. 200434 vorgenommene Verlängerung der regelmäßigen Unterbrechungsfrist auf drei Wochen hat hieran nichts geändert.35 Nach einhelliger Ansicht stellt allein die späte Antragstellung kein tragfähiges Indiz für die Verschleppungsabsicht des Antragstellers dar.36 Dies ergibt sich aus § 246 Abs. 1 StPO und gilt selbst dann, wenn der Antrag aus grober Nachlässigkeit zu spät vorgebracht wurde, da weder der Verteidiger noch der Angeklagte verpflichtet sind, ihre Beweisanträge zu dem seitens des Gerichts für angemessen gehaltenen Zeitpunkt zu stellen. Es ist vielmehr die Aufgabe des Gerichts, Beweisanträge bis zum Beginn der Urteilsverkündung entgegen zu nehmen.37 Zwar kann eine sehr späte Antragstellung in Verbindung mit sonst unschlüssigem Prozessverhalten indizielle Bedeutung erlangen.38 Zur Darlegung der Verspätungsgründe ist der Antragsteller jedoch nicht verpflichtet.39 Die vom 1. Strafsenat aktuell vor31 Vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 19. 6. 2007 – 1 StR 149 / 07, JA 2008, 75. NStZ 2007, 716 mit Bespr. von Heintschel-Heinegg. 32 Näher hierzu Beulke / Ruhmannseder, NStZ 2008, 300. 33 Hirsch, Der zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellte Beweisantrag und seine strafprozessuale Behandlung, 1996, S. 50 f. 34 BGBl. 2004 I S. 2198, 2202. 35 Beulke / Ruhmannseder, NStZ 2008, 300; vgl. hierzu auch Hamm / Hassemer / Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 247. 36 Hamm / Hassemer / Pauly (o. Fn. 35), Rn. 251 m. w. N. 37 BGH NStZ 1982, 41; 291, 292; 391. 38 BGH NStZ 1986, 519, 520. 39 BGH NStZ 1986, 371; Meyer-Goßner (o. Fn. 4), § 244 Rn. 68.

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geschlagene Fristsetzung läuft in Wirklichkeit auf eine verkappte Präklusion des Beweisantragsrechts hinaus, die dem geltenden Strafverfahrensrecht bisher aus wohl erwogenen Gründen fremd ist. Entsprechende Änderungsvorschläge des § 246 StPO40 vermochten sich bis heute nicht durchzusetzen und sollten nunmehr nicht am Gesetzgeber vorbei im Wege richterlicher Rechtsfortbildung umgesetzt werden. Es besteht de lege lata für den Antragsteller keine Pflicht, die Gründe für ein (sehr) spätes Beweisbegehren und damit ggf. seine Verteidigungsstrategie zu offenbaren, weshalb auch keine nachteiligen Schlüsse aus einer „unplausiblen“ oder gar fehlenden Begründung gezogen werden dürfen.41 dd) Beweisantrag zur Provokation von Verfahrensfehlern Ein Beweisantrag wird u. U. nur deshalb gestellt, um dadurch einen Verfahrensfehler des Gerichts bei der Ablehnung des Antrags herbeizuführen, der eine Revision ermöglichen kann. Die Behandlung dieser Fälle ist umstritten. Im Schrifttum wird sogar eine Strafbarkeit des Verteidigers wegen Strafvereitelung in Betracht gezogen, sofern der Beweisantrag nicht wenigstens auch der Ermittlung der Wahrheit im weiteren Sinne dienen soll.42 Überwiegend wird eine entsprechende Vorgehensweise hingegen für prozessual zulässig gehalten.43 Die letztere Position erscheint auch mir nach wie vor zutreffend. Da niemand vorher wissen kann, welche Beweisaufnahme konkret den Wahrheitsfindungsprozess vorantreiben wird, darf sich auch niemand zum Oberzensor aufschwingen und sozusagen die „guten“ Beweisanträge des Verteidigers „ins Töpfchen“ und die „schlechten“ „ins Kröpfchen“ sortieren. d) Erstes Zwischenfazit Das Recht zur Stellung eines Beweisantrages wird als unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlichen Verfahrens in der Strafprozessordnung als selbstverständlich vorausgesetzt, vgl. §§ 219, 222, 245 StPO. Das Beweisantragsrecht als „autonomes Recht“44 soll insbesondere den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verwirklichen sowie dessen Subjektstellung im Strafverfahren gewährleisten.45 Es muss daher sichergestellt werden, dass der Verteidi40 Vgl. BMJ StV 1982, 325, 331 ff.; siehe auch Basdorf, StV 1995, 310, 314 f.; Niemöller, StV 1996, 501, 506; ders., NStZ 2008, 181. 41 Beulke / Ruhmannseder, NStZ 2008, 300; siehe auch Scheffler, in: Heghmanns / Scheffler, Handbuch zum strafverfahren, 2008, VII. Rn. 80. 42 Kappelmann, Die Strafbarkeit des Strafverteidigers, 2006, S. 107, wenngleich mit sehr knapper Begründung. 43 So etwa Arzt / Weber, Strafrecht BT, LH 4, 1980, Rn. 258; Cramer / Cramer, Anwaltshandbuch Strafrecht, 2002, A Rn. 37; Krekeler, NStZ 1989, 146, 152. 44 Herdegen, in: KK-StPO (o. Fn. 24), § 244 Rn 42.

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ger das Beweisantragsrecht ausüben kann, um für den Angeklagten eine gerechte Entscheidung herbeizuführen, selbst wenn dies im Einzelfall aus Sicht des Gerichts zu einem zeitraubenden Verfahren führt.46 Den Tendenzen der Rechtsprechung, das Beweisantragsrecht auszuhöhlen, muss mit Skepsis begegnet werden. Der Verteidiger darf keinesfalls als Filter für Beschuldigtenanträge missbraucht werden. Eine solche Zensortätigkeit gehört nicht zu seinen Aufgaben. Eigene Beweisanträge des Strafverteidigers sind angesichts des Umstandes, dass das Beweisantragsrecht nahezu die einzige effektive Waffe darstellt, die ihm im Rahmen der Hauptverhandlung für die Abwehr des Anklagevorwurfs zur Verfügung steht, so großzügig wie nur irgend möglich zu tolerieren. Die einschränkende neuere Rechtsprechung zur Verschleppungsabsicht verdient keine Zustimmung. Offensichtlich werden die Strafgerichte im zunehmenden Maße gegenüber Verteidigeraktivitäten empfindlich. Es kann aber keine Rede davon sein, dass die Strafprozesse in Deutschland in ihrer Gesamtheit inzwischen nicht mehr zu bewältigen seien, weil das Beweisantragsrecht zu exzessiv gehandhabt werde. Hier zeigt sich m. E., wie wichtig es ist, den Strafverteidiger privilegierend zu behandeln. Die Grenzen seines Rechts zur Stellung von Beweisanträgen ergeben sich ganz von allein aus seiner Professionalität. Welcher Verteidiger wird ernsthaft mehrere tausend Beweisanträge stellen? Nur wenn ein derartiger „Supergau“ eintreten sollte, dürfen m. E. die besonderen Missbrauchsgrenzen auch für Verteidigerverhalten zur Anwendung kommen. Dann dürfte das Gericht den 1000. etc. Beweisantrag (m. E. auch bereits einen früheren) wegen Missbrauchs zurückweisen. Hingegen ist der Umstand, dass der Verteidiger nicht so stromlinienförmig verhandelt, wie es Gericht und Staatsanwaltschaft wünschen, noch kein Grund, die „Notbremse“ der Missbrauchsklausel zu ziehen. 2. Revisionsrecht a) Die unwahre Protokollrüge, BGHSt 51, 88 Die weiteren Problemfelder sollen nicht ganz so intensiv dargestellt werden, wie das des Beweisantragsrechts. Wegen seiner gesteigerten Aktualität möchte ich als zweiten Bereich das Revisionsrecht herausgreifen, und zwar hier zunächst die die Verteidigerschaft in besonderem Maße betreffende Entscheidung zur sog. unwahren Protokollrüge. Nach BGHSt 51, 88 soll es unzulässig sein, dass der Verteidiger unter Hinweis auf das Protokoll einen Verfahrensfehler rügt, von dem er weiß, dass er in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat. Zur Begründung wird zentral auf das allgemeine Missbrauchsverbot verwiesen. 45 Ausführlich hierzu Spiekermann, Der Missbrauch des Beweisantragsrechts, 2000, S. 73 ff. 46 Vgl. OLG Nürnberg StV 1995, 287 m. Anm. Barton.

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Im zugrunde liegenden Fall wurde unter Verweis auf das entsprechende Hauptverhandlungsprotokoll im Rahmen der Revision gerügt, dass der Angeklagte nicht verteidigt gewesen sei. Diese Behauptung eines Verfahrensfehlers sei, wenn nicht schon von Anfang an „bewusst wahrheitswidrig aufgestellt, so jedenfalls seit der Kenntnis vom Inhalt der dazu abgegebenen dienstlichen Erklärung wider besseres Wissen aufrechterhalten und dem Revisionsgericht zur Entscheidung unterbreitet worden.“ Die Weiterverfolgung der Rüge unter Berufung auf das als unrichtig erkannte Protokoll sei rechtsmissbräuchlich; damit sei die Rüge unzulässig geworden. Vom Sachverhalt her ist diese Entscheidung ein extremer Ausnahmefall, weil mehrere Richter den Vernehmungsverlauf minutiös für ihre eigenen Unterlagen dokumentiert hatten und die Staatsanwaltschaft für den fraglichen Verhandlungstag sogar ein Wortprotokoll hatte anfertigen lassen. Auch auf Notizen der Protokollführerin konnte zurückgegriffen werden. Das Rechtsgefühl mag für die Richtigkeit dieser Entscheidung sprechen. Andererseits stimmt es nachdenklich, wenn den Gegnern des Missbrauchsverbots, die ihrer Furcht Ausdruck verleihen, es könne von den Gerichten Missbrauch mit dem allgemeinen Missbrauchsverbot betrieben werden, entgegengehalten wird, dieses Argument sei „dogmatisch wenig gewichtig“. Man mag die Furcht vor dem Missbrauch der Missbrauchsabwehr im Interesse der Effektivität der Rechtspflege letztlich nicht für durchschlagend halten – ich selbst gehöre angesichts meiner Zustimmung zum allgemeinen Missbrauchsverbot sogar zu denjenigen, die das tun – „dogmatisch ohnehin wenig gewichtig“ ist das Argument aber keineswegs. Die Furcht vor Missbrauch der den Strafverfolgungsorganen eingeräumten Befugnisse ist eines der Grundprinzipien unseres Strafprozesses und Quelle vieler Einzelregelungen, angefangen vom A wie Anklagegrundsatz bis zum Z wie Zeugenschutz bei nahen Angehörigen. Ich würde die Missbrauchsfurcht nicht nur für „gewichtig“, sondern geradezu für ein tragendes Element eines jeden rechtsstaatlichen Strafverfahrens halten. Jahrhunderte des Kampfes freier Bürger gegen den Obrigkeitsstaat verbergen sich hinter dieser Devise. Es schmerzt mich, wenn den Gegnern des allgemeinen Missbrauchsverbots – also auch meinen Gegnern – fast schon Kleingeistigkeit, zumindest jedenfalls ein störrisches Beharren auf leichtgewichtigen Argumente vorgeworfen wird. Zwar weist der BGH zutreffend darauf hin, dass sich extreme Befürchtungen über den Missbrauch der Missbrauchsabwehr in den vergangenen 15 Jahren nach Erlass der Leitentscheidung BGHSt 38, 111 weitgehend nicht realisiert haben, deshalb jedoch die Augen vor solchen Gefahren, die trotz der bisherigen Praxis in Zukunft natürlich drohen, zu schließen, erscheint mir wenig weise. Selbstverständlich kann man bzgl. der Zulässigkeit einer bewusst unwahren Protokollrüge verschiedener Ansicht sein, ein ganz eindeutiger Rechtsmissbrauch kann in einem solchen Vorgehen eines Verteidigers m. E. aber schon deshalb nicht liegen, weil in vielen angesehenen Verteidigerhandbüchern, Lehrbüchern und Kommentaren gerade dieses Verhalten für zulässig gehalten wird. Dass das Protokoll Wahrheit schaffe, die nur durch Berichtigung des Protokolls zerstört werden könne, ist eine Ansicht, die nichts zu tun hat mit Rechtsmissbrauch und böser Kumpanei mit dubio-

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sen Beschuldigten. Ich halte sie bis heute für richtig. Unter Missbrauch verstehe ich hingegen ein Verhalten, das nach Ansicht nahezu aller am rechtlichen und wissenschaftlichen Diskurs Beteiligten die Grenzen des Tolerierbaren überschreitet. Hiervon sind wir bei der unwahren Protokollrüge meilenweit entfernt. Nach wie vor bleibe ich also bei meiner Ansicht, dass § 274 StPO den Missbrauch von Verfahrensrügen „institutionell eingeplant“ habe.47 Nur den zweifelnden oder mit einem schlechten Gedächtnis behafteten Verteidiger die Rüge vortragen zu lassen, nicht jedoch den bewusst vorsätzlich handelnden, wie das leider auch Fahl48 befürwortet, erscheint schon deshalb als keine angemessene Lösung, weil sie lediglich den Verteidigerwechsel erzwingen würde. Der BGH irrt, wenn er meint, dieses Problem sei zu lösen, indem der neue Verteidiger sich bei dem alten Verteidiger erkundigen müsse. Letzterer ist jedoch nicht verpflichtet, dem neuen Verteidiger Auskunft zu geben. Mir erscheint es auch nach Lektüre der Entscheidung und Abwägung von pro und contra nicht überzeugend, dass der BGH die Erinnerungsfähigkeit von Richtern und Staatsanwälten höher einstuft als die anderer Verfahrensbeteiligter. Notizen der Strafverfolgungsorgane können jetzt de facto das offizielle Hauptverhandlungsprotokoll widerlegen. Auch wenn es nur wenige Fälle sein mögen, so wird doch eine neue Tür aufgestoßen, wenn all das als feststehend betrachtet wird, was nach Ansicht eines Gerichts auch dem Verteidiger „schlechterdings nicht verborgen geblieben sein kann“49. Damit werden Macht und Gegenmacht im Strafverfahren in problematischer Weise austariert. Selbst wenn der Revisionsverteidiger zunächst noch gutgläubig gewesen sei, könne die spätere Aufklärung durch Staatsanwaltschaft oder Gericht, also durch diejenigen, deren Verhalten im Wege des Rechtsmittels gerade „kontrolliert“ werden soll, seine Bösgläubigkeit herbeiführen. Hinter der neuen Position verbirgt sich ein Vertrauensvorschuss für die staatlichen Strafverfolgungsorgane, der heute noch gerechtfertigt erscheinen mag, der aber als Leitmotiv eines zukünftigen Verfahrensrechts in einer wachen Anwaltschaft, der wiederum seitens der Richterschaft tief sitzendes Misstrauen entgegengebracht wird, zu Recht auf Kritik stößt. b) Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls, BGHSt 51, 298 Auch der Entscheidung des BGH zur Protokollberichtigung (BGHSt 51, 298) bringe ich wenig Sympathie entgegen. Nach Ansicht des Großen Senats darf das Hauptverhandlungsprotokoll nach Revisionseinlegung des Revisionsführers berichtigt werden, selbst wenn dadurch dem Revisionsvorbringen der Boden entzogen werden sollte. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass dem Missbrauch rein formaler Möglichkeiten entgegen zu wirken sei. Aufgrund des geänderten Verteidigerverhaltens sei heute nicht mehr damit zu rechnen, dass die Verteidiger von sich aus unzulässige Protokollrügen unterließen. 47 48 49

Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 237. Fahl (o. Fn. 4), S. 689. BGHSt 51, 88, 97.

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Ich habe meine gegenteilige Stellungnahme an anderer Stelle ausführlich begründet50 und möchte das hier nicht wiederholen, sondern mich auf einige Randbemerkungen zum angeblich derart veränderten Anwaltsverhalten beschränken. Ich glaube nicht, dass sich Strafverteidiger früher im Rahmen der Revisionseinlegungen anders verhalten haben als heute. Gewandelt hat sich eher die literarische Aufarbeitung und damit die Sichtbarkeit des Problems. Während früher wenige bekannte Strafverteidiger den Ton angaben, existiert heute der Fachanwalt für Strafrecht, der auf eine Fülle einschlägiger Anleitungsbücher zurückgreifen kann. Das Problem der unwahren Protokollrüge hat dadurch einen nie erahnten literarischen Aufschwung erfahren. Geändert hat sich ferner vor allem die Sicht der BGHRichter, die im Beschluss des Großen Senats sehr klar zutage tritt: Während man früher bereit war, formale Kriterien zu akzeptieren, da Verfahrensnormen im Interesse eines rechtsstaatlichen Strafprozesses ihren eigenen Stellenwert haben, will man heute der „Wahrheit“ zum Erfolg verhelfen. Man möchte dem Opfer Gerechtigkeit widerfahren lassen und jeder Formalismus wird dabei als störend empfunden. Strafverteidiger sehen das zumeist anders. Sie teilen nicht die Zuversicht der Richter, dass ein kluger, besonnener, ehrlicher, allen Verfahrensbeteiligten verpflichteter Richter mit Sicherheit auch ein „richtiges“ Urteil fällen werde. Zu oft haben Strafverteidiger Verfahrensabschlüsse erlebt, die aus ihrer Sicht nicht „gerecht“ erschienen. Es ist diese unterschiedliche Blickrichtung, die Strafverteidiger auf den in unterschiedlichsten Bereichen zu beobachtenden neuen „Gerechtigkeitsglauben“ unserer Strafrichter so skeptisch reagieren lässt. 3. Konfliktverteidigung a) „Konfliktverteidigung“ versus „Prozesssabotage“ Im Zusammenhang mit der Diskussion um den Missbrauch von prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten muss – wie bereits oben angekündigt – nochmals auf den Begriff der sog. „Konfliktverteidigung“51 zurückgekommen werden. Viele halten sie geradezu für den Paradefall missbräuchlichen Verteidigerverhaltens. Konfliktverteidigung soll unzulässig sein. Auf das berühmte Urteil des LG Wiesbaden bin ich bereits im Rahmen der Beweisantragsproblematik eingegangen [1. c) aa) (1)]. Hierbei handelt es sich jedoch um einen besonders problematischen Begriff, denn Konflikt gehört zum Wesen der Strafverteidigung. Strafverfolgungsorgane missbrauchen ihrerseits nun wiederum diesen Begriff und setzen ihn als Waffe ein, wenn sie aufgrund der aktiven Gegenwehr des Strafverteidigers mit dem Verfahrensverlauf unzufrieden sind. Verteidigung ist „Kampf und kein gesetzlich aufoktroyierter Kuschelkurs“52. Wer einem umfassenden Verbot der KonfliktverteidiBeulke, FS Böttcher, 2007, S. 17; Krit. auch Schünemann, GA 2008, 314, 318 ff. Im früheren Schrifttum ist die Problematik auch unter der Bezeichnung „dysfunktionales Verhalten“ behandelt worden, vgl. Rüping / Dornseifer, JZ 1977, 417 ff. 52 Hamm, NJW 1997, 1288. 50 51

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gung das Wort redete, riefe die Geister, die er später, in noch stürmerischen Tagen, nun wirklich nicht wieder los würde.53 Ein generelles Verbot einer Konfliktverteidigung sollte es also nicht geben. Andererseits kann der Verteidiger nach herrschender und zutreffender Ansicht auch nicht schrankenlos agieren. Zwar darf ihm nicht verboten werden, seine Befugnisse einzusetzen, um einen „Konflikt“ mit dem Gericht herbeizuführen, wohl aber ist es ihm nicht gestattet, das Verfahren endgültig zu sabotieren. Zwischen noch erlaubter Konfliktverteidigung und schon verbotener Verfahrensobstruktion liegt m. E. ein fundamentaler Unterschied. Nur Letztere stellt einen Missbrauch der dem Verteidiger eingeräumten Befugnisse dar. Man kann diese Lösung als Frucht der „eingeschränkten Organtheorie“ klassifizieren54, man kann sie aber – sofern man jede organschaftliche Anlehnung schon im Ansatz für verfehlt hält – ebenso gut auf das Rechtsstaatsprinzip stützen. Ich halte also den Begriff der (verbotenen) „Prozesssabotage“ für besonders plastisch und deshalb für besonders geeignet. b) Fälle aus der jüngsten BGH-Rechtsprechung aa) BGH NStZ 2006, 510 – Fall Zündel Bei der Suche nach Anschauungsmaterial für das, was die jüngste Rechtsprechung speziell des BGH unter missbräuchlicher (Konflikt?-)Verteidigung verstehen könnte, sei kurz auf zwei Entscheidungen verwiesen. Besonders drastisch stellt sich der Fall Zündel dar. Dort zielte das Verhalten der Verteidigerin darauf, die Fortsetzung des Verfahrens (u. a. wegen des Verdachts der Volksverhetzung) unter Verwendung prozessfremder Mittel zu verzögern oder zu verhindern. Es ging um das Leugnen des Holocaust in einer nach Entzug des Rederechts (vgl. § 257a StPO) an das Saalpublikum gerichteten Erklärung in einer Art „Parallelverhandlung“ sowie „Belehrung“ der Laienrichter, sie würden sich wegen Ausübung ihres Richteramtes der „Volksverleumdung“ und der „Feindbegünstigung“ schuldig machen und seien daher nach den Gesetzen des fortbestehenden Dritten Reichs mit dem Tode zu bestrafen. Mir scheint, dass der BGH hier zu Recht die Grenze zur Missbräuchlichkeit als überschritten erachtet hat. Ein solches Verteidigerverhalten unterfällt der Kategorie der Prozesssabotage und kann deshalb nicht geduldet werden. bb) BGH NStZ 2005, 341 Als grenzwertig empfindet hingegen selbst der BGH die Konstellation, die seiner Entscheidung vom 25. 1. 200555 zugrunde lag. In dem Verfahren wegen schwe53 54

Zu Einzelheiten Beulke, FS Roxin, 2001, S. 1190. Beulke (o. Fn. 47), S. 147 ff.

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rer räuberischer Erpressung hatte sich der Angeklagte über den Verteidiger dahin eingelassen, die – bei ihm sichergestellte – Beute aus der Tat sei ihm von dem wahren Täter zugeworfen worden, als er, zufällig mit einer durchgeladenen Pistole bewaffnet, in einem Waldstück nahe der Straße seine Notdurft verrichtet habe. Der Tatrichter wertete diese Einlassung als „völlig lebensfremd und schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“, was zahlreiche Beweisanträge und – im anschließenden Revisionsverfahren – zahlreiche Verfahrens- und Sachrügen auslöste und auf diese Weise zu einer „unnötigen Aufblähung des Verfahrens“ führte. Der BGH verdient Lob, dass er das Verhalten des Anwalts nicht für rechtswidrig gehalten, vielmehr ausdrücklich hervorgehoben hat, der Verteidiger habe sich formal korrekt und vom Standesrecht gedeckt verhalten. Andererseits bringt der BGH doch seine Verwunderung zum Ausdruck, dass der Verteidiger in dieser Situation mit dieser Zähigkeit agiert, nahezu bis an den Rand eines möglichen Scheiterns des Prozesses. Ein gewisses Verständnis kann ich für das Befremden des BGH durchaus aufbringen – jedoch glaube auch ich nicht, dass hier bereits die Missbrauchsgrenze überschritten ist. Nicht alles, wovon Dahs und andere honorige Strafverteidiger in ihren Handbüchern abraten, ist mit Prozesssabotage gleichzusetzen. Junge, kämpferische Strafverteidiger haben heute ein anderes Selbstverständnis als wir Altvorderen, aber auch sie bewegen sich in der Bandbreite dessen, was wir zu tolerieren haben. Das Verbot der Prozesssabotage soll Exzesse verhindern, nicht aber den „artigen“ Verteidiger garantieren. Das Leitbild eines Verteidigers, dem die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gleichrangig am Herzen liegt wie das Wohl seines Mandanten, akzeptieren wir heute schon deshalb nicht mehr, weil auch die „Gegenseite“, die Staatsanwaltschaft, inzwischen in einer neuen „Gewichtsklasse“ kämpft. Oder wäre es vor 30 Jahren denkbar gewesen, dass die Staatsanwaltschaft gegen einen noch ahnungslosen Beschuldigten vorgeht, indem sie um 7 Uhr morgens Funk und Fernsehen vor das Privathaus des Betroffenen lädt, damit die gesamte Nation Zeuge des Triumphs der das Verfahren betreibenden Staatsanwältin werden und genüsslich mitverfolgen kann, wie diese tapfere Frau auch die Großen der Nation zur Strecke bringt? Souveränität, Objektivität, Persönlichkeitsschutz, Unschuldsvermutung, all das scheinen für manche Staatsanwälte verblassende Schlagworte zu sein, die vielleicht in klugen Strafprozessrechtsbüchern ausgebreitet werden dürfen, die aber in der Alltagspraxis nichts zu suchen haben56. Wer von Missbräuchen spricht, dürfte auch nicht übersehen, welch problematischen Druck manch „absprachefreudige“ Richter heute auf Angeklagte ausüben, um zum konsensualen Abschluss des Verfahrens zu gelangen. Wenige Exzesse berechtigen uns aber nicht, den Stab über ganze Berufsgruppen zu brechen. Das gilt für Staatsanwälte und Gerichte ebenso wie für Strafverteidiger. BGH NStZ 2005, 341. Siehe auch zutreffende Kritik bei Schünemann, GA 2008, 314; anders die positive Würdigung durch Frank / Titz, ZRP 2008, 127. 55 56

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III. Zusammenfassend ist also festzustellen, dass die Missbrauchsdiskussion noch immer voll im Gange ist. Nach wie vor gibt es viele, die jenseits der von der Strafprozessordnung ausdrücklich anerkannten Missbrauchsgrenzen (z. B. Verschleppungsabsicht i.S.v. § 244 Abs. 3 StPO) kein allgemeines (ungeschriebenes) Verbot der missbräuchlichen Handhabung gewährter prozessualer Rechte anerkennen wollen. In der jüngsten Vergangenheit ist dieser Kreis der „Totalverweigerer“ aber zur Minderheitsfraktion mutiert. Im Gegensatz zu früher scheint die Mehrheit ein ungeschriebenes Missbrauchsverbot dahingehend zu befürworten, „dass es einem Verfahrensbeteiligten verboten ist, die ihm durch die StPO eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange zu benutzen, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Ziele zu verfolgen“. Dieses allgemeine Missbrauchsverbot wendet der BGH und mit ihm Teile des Schrifttums auch auf den Strafverteidiger an. Dem möchte ich die zurückhaltendere Position der „eingeschränkten Organtheorie“ entgegenhalten. Bei Anerkennung eines allgemeinen Missbrauchsverbots für alle übrigen Verfahrensbeteiligten bringt sie zum Ausdruck, dass dem Strafverteidiger im Interesse der Herstellung von Waffengleichheit zwischen Ankläger und Beschuldigtem eher mehr erlaubt ist als seinem Mandanten. Er soll dem Grundsatz nach den staatlichen Strafanspruch mit allen ihm zur Verfügung stehenden, rechtlich nicht ausdrücklich verbotenen Mitteln in Frage stellen. Auch für ihn gilt aber eine Missbrauchsgrenze dahingehend, dass es ihm verboten ist, die Effektivität der Strafrechtspflege in ihrem Kernbereich zu torpedieren. Dies kann auch mit dem Verbot der Prozesssabotage umschrieben werden. Die in der jüngsten Rechtsprechung gegenüber dem Verteidiger an den Tag gelegten restriktiven Tendenzen respektieren diesen Kernbereichsgedanken nicht im ausreichenden Maße. Die Daumenschrauben für den Strafverteidiger werden ohne erkennbare absolute Notwendigkeit enger gezogen, insbesondere – durch Erleichterung der Feststellung von Verschleppungsabsicht bei der Ablehnung von Beweisanträgen, – durch das an den Verteidiger ergangene Verbot, einen Verfahrensfehler zu rügen, der sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergibt, der aber nach Kenntnis des Strafverteidigers nicht stattgefunden hat (Verbot der unwahren Protokollrüge), – durch die vom Großen Senat geschaffene Möglichkeit, das Hauptverhandlungsprotokoll auch dann noch zu berichtigen, wenn dadurch dem Revisionsbegehren die Begründung entzogen wird, – durch Geißelung sog. „Konfliktverteidigung“.

Im angeblichen Interesse der Gerechtigkeit werden durch verstärkte Missbrauchsabwehr Schutzmechanismen preisgegeben, die entweder von der Strafprozessordnung ausdrücklich in das Programm eingebaut oder die in jahrzehntelanger

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Rechtsprechung im Interesse der Gewährleistung eines fairen Verfahrens zugunsten des Beschuldigten und überhaupt zur Begründung seiner Subjektstellung entwickelt worden sind. Man wird sich der Forderung nach Anerkennung von Missbrauchsschranken zwar nicht generell entziehen können, sollte aber Kritik äußern gegenüber einzelnen konkreten Schritten, die gerade der BGH in jüngster Zeit gegangen ist. Die in vielen Sparten immer wieder beschworene Gefahr eines Dammbruches – hier scheint sie mir durchaus aktuell. Manches wird vom BGH bisher auch nur als obiter dictum angedeutet. Sollte Widerspruch ausbleiben, wird der Zug in Richtung einer stetigen Begrenzung der Beschuldigten- und Verteidigermacht an Fahrt gewinnen. Eine solche streitbare Diskussion zu führen, ist ganz im Sinne des Jubilars Knut Amelung, dem ich schon seit Assistentenzeiten eng und freundschaftlich verbunden bin und dem ich weiterhin ungebrochene Schaffenskraft wünsche.

Die neuen Regelungen zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Informationseingriffe und ihre Konsequenzen für die prozessuale Geltendmachung von Verwertungsverboten Von Martin Böse

I. Einleitung Dass der Einzelne auch gegenüber strafprozessualen Ermittlungseingriffen einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) hat, kann seit der grundlegenden Untersuchung des Jubilars als geklärt angesehen werden.1 Seine Deutung von Grundrechten als „Informationsbeherrschungsrechten“2 zeitigte weitere Auswirkungen auf den Rechtsschutz im Strafverfahren, soweit dieser gegen die (drohende) Verwertung rechtswidrig erhobener Informationen gerichtet ist, und hat den Jubilar zu vorsichtigen rechtspolitischen Folgerungen veranlasst.3 Die neuen gesetzlichen Regelungen zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Ermittlungseingriffe geben Anlass, diese Überlegungen aufzugreifen und die Konsequenzen der Neuregelung für den Rechtsschutz gegen die Verwertung rechtswidrig erlangter Informationen zu untersuchen. Ausgangspunkt ist dabei zunächst eine Bestandsaufnahme zur grundrechtlichen Relevanz der Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten im Strafverfahren und den insoweit nach dem bisherigen Recht bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten (II.). Auf dieser Grundlage sollen das für den großen Lauschangriff eingeführte Verfahren der gerichtlichen Vorabentscheidung zur Verwertung möglicherweise rechtswidrig erlangter Erkenntnisse (III.), der Rechtsschutz gegen verdeckte Ermittlungseingriffe (IV.) und die jeweiligen Konsequenzen für die Verwertung der erlangten Information im Strafverfahren erörtert werden.

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Amelung, Rechtssschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1976. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafverfahren, 1990, passim. Amelung (o. Fn. 2), S. 82 f.; ders., FS BGH, Bd. 4, 2000, S. 911, 916 f., 931 f.

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II. Strafprozessuale Informationseingriffe und Rechtsschutz 1. Grundrechtsdimensionen der Informationserhebung und -verarbeitung im Strafverfahren Die Erhebung und Verarbeitung von Informationen im Rahmen eines Strafverfahrens stößt insbesondere dort auf verfassungsrechtliche Grenzen, wo Grundrechte den Einzelnen vor der staatlichen Ausforschung seiner Privatsphäre schützen. So begründen das Fernmelde-, Post- und Briefgeheimnis (Art. 10 GG), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), insbesondere in seiner Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht und (neuerdings) als Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme4 informationelle Abwehransprüche gegen den Staat und können daher als „Informationsbeherrschungsrechte“ oder informationelle Abwehrrechte bezeichnet werden.5 Diese Grundrechte schützen den Betroffenen nicht nur vor der Erhebung personenbezogener Daten (z. B. durch eine Durchsuchung), sondern auch vor der anschließenden Verarbeitung (Speicherung, Übermittlung) und Nutzung, sei es als Spurenansatz (d. h. als Grundlage für weitere Ermittlungen), sei es zu Beweiszwecken. Die Eingriffsqualität der einzelnen Phasen der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten hat das BVerfG nicht nur für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung6, sondern auch für das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)7 und für das Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG)8 ausdrücklich anerkannt. Aus diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben sich für die Diskussion um Beweisverwertungsverbote im Strafverfahren nicht unerhebliche Konsequenzen: Nicht das strafprozessuale Verwertungsverbot ist zu begründen, sondern der in der Verwertung liegende Grundrechtseingriff bedarf einer gesetzlichen Grundlage (einer Verwertungsbefugnis) und der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.9 Das informationelle Abwehrgrundrecht begründet also einen Anspruch auf Unterlassung staatlicher Informationseingriffe in Gestalt der Erhebung, Speicherung und Nutzung der erlangten Informationen.10 4 BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008 – 1 BvR 370 / 07 und 1 BvR 595 / 07 Rn. 166 ff. (zur „onlineDurchsuchung“). 5 Amelung (o. Fn. 2), S. 33 f., 35 f., 37 f. 6 S. insoweit BVerfGE 65, 1, 43. Die Eingriffsqualität der weiteren Verwendung der Information wird auch vom Gesetzgeber ausdrücklich anerkannt, s. BT-Drucks. 16 / 5846, S. 23. 7 BVerfGE 100, 313, 359, 366 f.; 110, 33, 68 f.; 113, 348, 384; s. auch bereits BVerfGE 85, 386, 398. 8 BVerfGE 109, 279, 375; s. auch LVerfG Mecklenburg Vorpommern LKV 2000, 345, 347. 9 S. zur internationalen Rechtshilfe bereits Scheller, Ermächtigungsgrundlagen für die internationale Rechts- und Amtshilfe zur Verbrechensbekämpfung, 1997, S. 275 f.

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Angesichts des weiten Schutzbereichs des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung dürfen an die gesetzlichen Grundlagen der Datenverarbeitung im Strafverfahren allerdings keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, so dass bereits allgemeine Ermächtigungen zur Verarbeitung und Nutzung (s. § 483 Abs. 1 StPO) dem Gesetzesvorbehalt genügen.11 Anders verhält es sich hingegen bei qualifizierten Ermittlungseingriffen, denn insoweit bedürfen Informationseingriffe in die verfassungsrechtlich besonders geschützte Geheimsphäre des Betroffenen einer gesonderten Ermächtigung durch den Gesetzgeber, in der dieser die Voraussetzungen und Grenzen für den Eingriff in das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) oder das Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG) festlegt und das eingeschränkte Grundrecht zitiert (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG)12. Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Ausgangsposition überrascht eine neuere Kammerentscheidung des BVerfG zu Art. 10 GG, in der die Verwendung von Informationen aus einer rechtmäßigen Telekommunikationsüberwachung als Spurenansatz zur Verfolgung von Taten, die nicht im Katalog des § 100a Abs. 2 StPO (§ 100a S. 1 StPO a.F.) enthalten sind, verfassungsrechtlich nicht beanstandet wird.13 Zur Begründung verweist die Kammer auf die vorherrschende Ansicht in der Rechtsprechung14 und im strafprozessualen Schrifttum15, die unter Verweis auf den Wortlaut des § 100b Abs. 5 StPO a.F. (s. nunmehr § 477 Abs. 2 S. 2 StPO) lediglich eine Verwendung zu Beweiszwecken für unzulässig hält. Damit verkennt die Kammer – ebenso wie die h. M. –, dass die Verwendung als selbständiger Grundrechtseingriff einer gesetzlichen Grundlage bedarf.16 Indem sie den Gesetzesvorbehalt nicht einmal problematisiert, blendet die Kammer das eigentliche verfassungsrechtliche Problem aus. 10 S. zur Begründung von Verwertungsverboten über einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch: Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote, 1992, S. 223 ff.; zustimmend Amelung, StV 2001, 131, 133 (in Fn. 13). Eines Rückgriffs auf einen Folgenbeseitigungsanspruch – so Amelung (o. Fn. 2), S. 38 ff. – bedarf es daher auch nicht mehr im Hinblick auf die Löschung rechtswidrig erhobener Daten, denn die Löschungspflicht ist Bestandteil dieses Anspruchs auf Unterlassung (der weiteren Aufbewahrung der Information). 11 In Betracht kommt ferner eine ergänzende Anwendung der Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder, s. die aus dem Gesetzgebungsverfahren zum Justizmitteilungsgesetz, BT-Drucks. 14 / 1484, S. 26; BT-Drucks. 14 / 2595, S. 29; s. ferner Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung, 2005, S. 286 ff.; Matheis, Strafverfahrensänderungsgesetz 1999, 2007, S. 154. 12 S. zum Zitiergebot zuletzt BVerfG (o. Fn. 4) Rn. 300 ff. 13 BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) NJW 2005, 2766. 14 BGHSt 27, 355, 358; NStZ 1998, 426, 427. 15 Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 100a Rn. 19; Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 2, 25. Aufl. 2004, § 100a Rn. 93. 16 S. in diesem Sinne auch BFH NJW 2001, 2118, 2119; FG Baden-Württemberg EFG 1990, 507, 509 f.; 2002, 1148, 1149 (zur Verwendung von Erkenntnissen aus einer strafprozessualen Überwachung des Fernmeldeverkehrs im Besteuerungsverfahren).

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Richtigerweise ist danach zu differenzieren, ob die Information zu dem ursprünglichen Zweck (d. h. dem Erhebungszweck) oder zu einem anderen Zweck verarbeitet und genutzt werden soll. Soweit innerhalb derselben prozessualen Tat sowohl Katalog- als auch Nichtkatalogtaten verfolgt werden, ist der Entscheidung zuzustimmen, denn diese Verwendung zum Erhebungszweck – ob zu Beweiszwecken oder als Spurenansatz – ist von der gesetzlichen Ermächtigung zur Informationserhebung gedeckt.17 Die Verwendung zur Verfolgung anderer prozessualer Taten stellt jedoch eine Zweckentfremdung dar18, die in Bezug auf Nichtkatalogtaten in Ermangelung einer gesetzlichen Grundlage (s. § 477 Abs. 2 S. 2 StPO; vgl. § 100b Abs. 5 StPO a.F.) unzulässig ist.19 Für die Verarbeitung und Nutzung rechtswidrig erhobener Daten ergibt sich hingegen folgendes Bild: Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die rechtmäßige Erhebung nicht beachtet werden, kann die anschließende Verwendung, die den Erhebungseingriff perpetuiert, ebenso wenig auf die Rechtsgrundlage für die Erhebung gestützt werden wie die Ermittlungsmaßnahme selbst. Eine Verwendung kommt in diesem Fall allerdings unter den Voraussetzungen des § 477 Abs. 2 S. 2 StPO in Betracht.20 Eine Verwendung zur Verfolgung einer schweren Straftat i. S. d. § 100a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 StPO ist daher zulässig, auch wenn die Information rechtswidrig erhoben worden ist.21

17 S. zur entsprechenden Auslegung der Erhebungsbefugnis: BVerfGE 110, 33, 69 (zu § 39 Abs. 1 AWG a.F.); Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts, 1995, S. 113, 146 f. Dies entspricht im Ergebnis der h. M., s. nur Schäfer, in: Löwe-Rosenberg (o. Fn. 15), § 100a Rn. 90; s. auch BT-Drucks. 16 / 5846, S. 66. 18 Vgl. insoweit zu Art. 13 GG: BVerfGE 109, 279, 376; s. dagegen Allgayer, NStZ 2006, 603, 606. 19 Vgl. auch die entsprechende Kritik an der Beschränkung des § 161 Abs. 2 StPO auf die Verwendung zu Beweiszwecken: Wohlers, in: Systematischer Kommentar zur StPO (Stand: 55. Lieferung – Dezember 2007), § 161 Rn. 54; s. dagegen BT-Drucks. 16 / 5846, S. 64, unter Hinweis auf BVerfG NJW 2005, 2766. 20 Dabei ist einzuräumen, dass diese Regelung ihrem Wortlaut nach nur die Verwendung „zu Beweiszwecken in anderen Strafverfahren“ umfasst. Diese Formulierung ist darauf zurückzuführen, dass der Gesetzgeber den Eingriffscharakter der Informationsverarbeitung und -nutzung unter dem Eindruck von BVerfG NJW 2005, 2766 weitgehend verkannt hat (s. BT-Drucks. 16 / 5846, S. 64, 66). Die Ermächtigung ist daher – entsprechend dem gesetzgeberischen Willen – so auszulegen, dass sie auch andere Verarbeitungseingriffe abdeckt, die in ihrer Eingriffsintensität hinter den ausdrücklich erfassten Maßnahmen zurückbleiben und mit diesen in engem Zusammenhang stehen (vgl. auch o. zur Auslegung der Erhebungsnorm). Die Ermächtigung zur Verwendung zu Beweiszwecken schließt danach auch die Verwendung als Spurenansatz ein; das Gleiche gilt für die Verwendung der Information in demselben Strafverfahren. 21 I.E. ebenso Amelung (o. Fn. 2), S. 40 f.; ders., FS Roxin, 2001, S. 1259, 1268 f., der im Hinblick darauf, dass die materiellen Voraussetzungen der Erhebungsnorm vorliegen, das informationelle Erfolgsunrecht verneint.

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2. Grundrechtsberechtigung und Beschuldigtenstatus Der Inhaber des durch den staatlichen Informationseingriff verletzten Grundrechts ist nicht notwendigerweise der Angeklagte, der in der Hauptverhandlung Einwände gegen die Verwertung des auf diese Weise erlangten Beweismittels erhebt. Berechtigt zur gerichtlichen Geltendmachung ist grundsätzlich nur der Inhaber des (möglicherweise) verletzten Rechts, d. h. der Angeklagte kann ein strafprozessuales Verwertungsverbot nur unter der Voraussetzung geltend machen, dass das in Rede stehende Grundrecht für ihn einen informationellen Abwehranspruch begründet. Gerade dieser Umstand hat der Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten den Einwand eingetragen22, die Begründung von Verwertungsverboten über informationelle Abwehrrechte versage in dem Moment, in dem der Beschuldigte – wie z. B. beim Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO – nicht zugleich Inhaber des betroffenen Informationsbeherrschungsrechts sei.23 Zunächst ist festzuhalten, dass es für die Berechtigung zur Geltendmachung eines strafprozessualen Verwertungsverbotes ausreichend ist, dass – neben anderen – auch der Beschuldigte in seinem Grundrecht betroffen ist. Dies gilt unabhängig davon, ob die anderen Betroffenen dem Eingriff in ihre Grundrechtsposition zugestimmt haben oder nicht. So greift eine Fangschaltung auch bei Zustimmung des Anschlussinhabers in das Fernmeldegeheimnis des Anrufers ein und ist daher nur nach Maßgabe einer gesetzlichen Grundlage zulässig.24 Ähnlich verhält es sich bei dem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO, welches freilich die Besonderheit aufweist, dass es dem Zeugen die Entscheidung über die Geltendmachung dieses Rechtes belässt. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wäre es gleichwohl verkürzt, den grundrechtlichen Schutz auf die Person des Zeugen zu begrenzen, beruht doch das Zeugnisverweigerungsrecht auf dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der persönlichen Beziehung zwischen dem Zeugen und dem Beschuldigten (Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), der auch den Schutz vor staatlicher Ausforschung über das wechselseitig Anvertraute umfasst. Im Unterschied zu den beruflichen Schweigepflichten (§ 53 StPO, § 203 StGB) beruht die Erwartung der Verschwiegenheit des Ehegatten, Lebenspartners, Angehörigen etc. – wie die gesamte Vertrauensbeziehung – auf einer persönlichen Verbundenheit des Zeugen gegenüber dem Beschuldigten (und umgekehrt), die rechtlich nicht eingefordert werden kann, die aber vom Staat inso22 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den gegen eine informationsrechtliche Konzeption der strafprozessualen Verwertungsverbote vorgebrachten Einwänden kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht erfolgen, zumal der Jubilar zu dieser Kritik bereits mehrfach ausführlich Stellung genommen hat, s. Amelung, FS Bemmann, 1997, S. 505 ff.; ders., FS Roxin, 2001, S. 1259 ff.; ders., GS Schlüchter, 2002, S. 417 ff. 23 S. zuletzt Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 102 f. m. w. N. 24 BVerfGE 85, 386, 398; s. bereits Amelung, StV 1985, 257, 260.

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weit zu respektieren ist, als dieser den Zeugen nicht zwingen darf, die ihm vom Beschuldigten anvertrauten Informationen zu offenbaren. Ungeachtet der Berechtigung des Zeugen zur Aussage hat der Beschuldigte aufgrund der verfassungsrechtlich besonders geschützten Beziehung zu dem Zeugen ein eigenes Recht darauf, dass die Ermittlungsbehörden diesen nicht zu einer Aussage zwingen.25 Dieses Recht setzt sich in einem grundrechtlichen Abwehr- bzw. Unterlassungsanspruch gegen die Verwendung einer auf diese Weise erhobenen Information fort. 3. Konsequenzen für den Rechtsschutz Sind nicht nur die Erhebung, sondern auch die anschließende Speicherung und Nutzung als Grundrechtseingriff zu qualifizieren, so besteht auch insoweit ein Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Nach Abschluss des Erhebungseingriffs sind daher zwei mögliche Rechtsschutzbegehren zu unterscheiden: Soweit der Betroffene sich gegen den Erhebungseingriff wendet und um die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ermittlungsmaßnahme ersucht, ist ein Rechtsschutzbedürfnis nur gegeben, sofern der Betroffene ein besonderes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des (insoweit) erledigten Eingriffs hat.26 Soweit dieser Eingriff durch Speicherung und Nutzung der erhobenen Information fortgesetzt wird, ist hingegen keine Erledigung eingetreten, so dass der Rechtsschutz gegen diese Informationseingriffe auch nicht von einem qualifizierten Feststellungsinteresse abhängig gemacht werden kann.27 Dies bedeutet nicht, dass über die Rechtmäßigkeit dieser Informationseingriffe in einem selbständigen Gerichtsverfahren entschieden werden müsste, sondern Rechtsschutz kann auch im Rahmen des Hauptverfahrens gewährt werden, indem das Gericht in dem Urteil zugleich über die Rechtmäßigkeit der Verwendung der zur Durchführung dieses Verfahrens erhobenen Informationen entscheidet; dies entspricht dem allgemeinen Gedanken der Verfahrens- bzw. Rechtsschutzkonzentration (s. § 305 S. 1 StPO; s. auch § 44a VwGO).28 Allerdings ist der Rechtsschutz über das Hauptsacheverfahren unter Umständen lückenhaft. So ist es zwar ausreichend, wenn das Gericht in dem verfahrensabschließenden Urteil über die Verwertung einer erhobenen Information als Beweismittel entscheidet.29 Soweit die Information während des gesamten Verfahrens gespeichert, unter Umständen übermittelt und für das Verfahren – z. B. als Spurenansatz und zur Begründung weiterer Ermittlungseingriffe – genutzt wird, kann die 25 So ist anerkannt, dass nicht nur der Adressat einer Ausweisung, sondern auch dessen Ehegatte die Verletzung eigener Rechte (Art. 6 GG) gerichtlich geltend machen kann, s. BVerfGE 76, 1, 44 f.; BVerwGE 42, 141, 142; 55, 8, 12; NVwZ 1997, 1116, 1118. 26 S. insoweit BVerfGE 96, 27, 40; 115, 166, 181. 27 Amelung, StV 2001, 131, 132. 28 Amelung, FS BGH, Bd. 4, 2000, S. 911, 915. 29 Amelung, StV 2001, 131, 133.

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gerichtliche Entscheidung diese Eingriffe jedoch nicht mehr verhindern bzw. unterbinden. Effektiver Rechtsschutz gegen die Verwendung von Informationen aus qualifizierten Ermittlungseingriffen setzt in diesem Fall voraus, dass der Beschuldigte bereits vor der verfahrensabschließenden Entscheidung gegen die Speicherung und Nutzung der erhobenen Information gerichtlich vorgehen kann.30 Soweit die Information gegenständlich verkörpert ist, entspricht dies dem geltenden Recht, da der Betroffene über einen Antrag nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO erreichen kann, dass ihm die beschlagnahmte Sache zurückgegeben wird und damit dem erkennenden Gericht nicht mehr als Beweismittel zur Verfügung steht.31 Über eine – im Grundsatz auch von der herrschenden Auffassung anerkannte32 – analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO auf andere Ermittlungsmaßnahmen besteht aber auch die Möglichkeit, die Löschung rechtswidrig erhobener Informationen durchzusetzen.33 Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gerät damit in ein Spannungsverhältnis zu dem Gedanken der Verfahrenskonzentration, denn soweit der Betroffene im Ermittlungsverfahren erfolgreich gegen die staatlichen Informationseingriffe vorgeht, wird die Verwertung der Information als Beweismittel in der Hauptverhandlung gegenstandslos, soweit die beschlagnahmte Sache zurückzugeben oder die erlangte Information zu löschen ist.34 Bleibt dem gerichtlichen Antrag dagegen der Erfolg versagt, so ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass das erkennende Gericht die Verwertung im Hauptverfahren für zulässig hält. Wie sich aus § 336 S. 1 StPO ergibt, erstreckt sich die revisionsgerichtliche Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auch auf gerichtliche Entscheidungen, die diesem vorausgehen, d. h. gerichtliche Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Ermittlungseingriffen sind für das Revisionsgericht nicht bindend; dies muss konsequenterweise auch für das erkennende Gericht gelten, dessen Urteil Gegenstand der revisionsgerichtlichen Überprüfung ist.35 Darauf, dass eine Abstimmung zwischen dem 30 Amelung, StV 2001, 131, 133; Mittag, Außerprozessuale Wirkungen strafprozessualer Grundrechtseingriffe, Dissertation Dresden 2008 (Manuskript), S. 202 f.; s. auch Fezer, FS Rieß, 2002, S. 93, 106. 31 Amelung, FS BGH, Bd. 4, 2000, S. 911, 916. 32 S. nur BGHSt 44, 265, 267 ff.; Meyer-Goßner (o. Fn. 15), § 98 Rn. 23. 33 Amelung, StV 2001, 131, 133; Mittag (o. Fn. 30), S. 203. 34 Amelung, FS BGH, Bd. 4, 2000, S. 911, 916 („faktische Beweisverwertungsverbote“). 35 Amelung, FS BGH, Bd. 4, 2000, S. 911, 916; Fezer, FS Rieß, 2002, S. 93, 106; s. dagegen Schlothauer, StV 2003, 208, 210: Da die revisionsgerichtliche Prüfung auf Rechtsfehler beschränkt sei, könne § 336 S. 1 StPO auch nur insoweit eine Bindungswirkung ausschließen, d. h. in Bezug auf die Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen der Ermittlungsmaßnahme sei die gerichtliche Entscheidung im Ermittlungsverfahren verbindlich. Dieser Argumentation ist jedoch entgegenzuhalten, dass § 336 S. 1 StPO den allgemeinen Grundsatz zum Ausdruck bringt, dass sich die revisionsgerichtliche Überprüfung auch auf rechtsfehlerhafte Vorentscheidungen erstreckt, soweit das Urteil auf ihnen beruht, und daher nur klarstellende Funktion hat (Frisch, in: SK-StPO [o. Fn. 19], § 336 Rn. 2; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 5, 25. Aufl. 2003, § 336 Rn. 1). Der Regelung können daher keine weitergehenden Aus-

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selbständigen Rechtsschutz gegen strafprozessuale Ermittlungseingriffe und dem Hauptverfahren dringend notwendig ist, um eine mehrfache Befassung der Gerichte und widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden, hat der Jubilar wiederholt hingewiesen.36 Ob die neuen Regelungen zum Rechtsschutz gegen verdeckte Ermittlungseingriffen insoweit Abhilfe schaffen, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden. III. Präventiver Rechtsschutz gegen die Verwertung (§ 100c Abs. 7 StPO) Im Rahmen der Neuregelung der akustischen Wohnraumüberwachung (§§ 100c, 100d StPO) hat der Gesetzgeber ein Verfahren der gerichtlichen Überprüfung vorgesehen, das der Verarbeitung und Nutzung möglicherweise rechtswidrig erhobener Informationen vorgeschaltet wird (§ 100c Abs. 7 StPO). 1. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Das BVerfG entnimmt dem Menschenwürdegehalt des Wohnungsgrundrechts (Art. 13 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung, der einer Abwägung mit dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse nicht zugänglich ist.37 Eine akustische Überwachung des Wohnraums ist daher unzulässig, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dieser Kernbereich durch die Überwachung verletzt würde (s. § 100c Abs. 4 S. 1 StPO).38 Wird dieses Verbot verletzt oder greift eine Maßnahme unerwartet in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, so ist die Überwachung sofort abzubrechen (§ 100c Abs. 5 S. 1 StPO).39 Das BVerfG hat dem Gesetzgeber für diesen Fall aufgegeben, durch Löschungspflichten sowie Weitergabe- und Verwertungsverbote dafür Sorge zu tragen, dass die Folgen der Grundrechtsverletzung beseitigt werden.40 Der Gesetzgeber ist dieser Aufforderung durch Begründung einer Löschungspflicht (§ 100c sagen zum Prüfungsumfang des erkennenden Gerichts entnommen werden, sondern dieses hat – dem allgemeinen Grundsatz folgend – in vollem Umfang und unabhängig von den Grenzen der revisionsgerichtlichen Überprüfung die Rechtmäßigkeit des Urteils zu gewährleisten; s. ferner für eine Bindungswirkung der Beschwerdeentscheidung: Bohnert, Beschränkungen der strafprozessualen Revision durch Zwischenentscheidungen, 1983, S. 143. 36 Amelung (o. Fn. 2), S. 82 f.; ders., FS BGH, Bd. 4, 2000, S. 911, 916 f., 932; ders., StV 2001, 131, 133. 37 BVerfGE 109, 279, 313, 318; s. auch BVerfGE 113, 348, 390; BVerfG (o. Fn. 4), Rn. 270 ff. 38 BVerfGE 109, 279, 318; s. auch BVerfGE 113, 348, 391; BVerfG (o. Fn. 4), Rn. 281. 39 BVerfGE 109, 279, 328. 40 BVerfGE 109, 279, 324, 328; s. auch BVerfGE 113, 348, 392; BVerfG (o. Fn. 4), Rn. 283.

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Abs. 5 S. 2 StPO) und eines umfassenden41 Verwertungsverbotes (§ 100c Abs. 5 S. 3 StPO) nachgekommen. Diese einfach-gesetzlichen Regelungen konkretisieren den allgemeinen informationellen Abwehranspruch auf Unterlassung der weiteren Speicherung und Nutzung der rechtswidrig erhobenen Information. 2. Gerichtliche Entscheidung über die Verwertbarkeit Nach Ansicht des BVerfG ergeben sich aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben auch Anforderungen an das Verfahren. Danach darf die Beurteilung der Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse nicht allein den Strafverfolgungsbehörden überlassen werden, sondern es muss eine unabhängige Stelle, die auch die Interessen der Betroffenen wahrnimmt, über die Verwertung entscheiden.42 Der Gesetzgeber hat diese Vorgaben in § 100c Abs. 7 StPO umgesetzt. Danach hat die Staatsanwaltschaft unverzüglich eine Entscheidung des anordnenden Gerichts über die Verwertbarkeit der erlangten Erkenntnisse herbeizuführen, wenn ein Verwertungsverbot wegen eines Eingriffs in den absolut geschützten Kernbereich in Betracht kommt (§ 100c Abs. 7 S. 1 StPO). Die richterliche Kontrolle soll also verhindern, dass die Verletzung des Kernbereichs durch eine Verwertung weiter vertieft wird, und erfüllt als Instrument des vorbeugenden Rechtsschutzes43 die gleiche Funktion wie der Richtervorbehalt bei qualifizierten Ermittlungseingriffen. Zwar ist die Anordnung der akustischen Wohnraumüberwachung der Staatsschutzkammer vorbehalten (§ 100d Abs. 1 S. 1 StPO i.V.m. § 74a Abs. 4 GVG). Die gerichtliche Prüfung bei der Anordnung einer Überwachungsmaßnahme kann unerwartete Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich jedoch nicht verhindern, so dass es insoweit einer ergänzenden verfahrensrechtlichen Sicherung bedarf.44 Die Vertiefung des Erhebungseingriffs durch eine anderweitige Verwendung wird daher davon abhängig gemacht, dass ein Gericht die Rechtmäßigkeit der Überwachung festgestellt hat (§ 100c Abs. 7 S. 1 StPO).45 S. insoweit BVerfGE 109, 279, 331. BVerfGE 109, 279, 333 f. 43 S. die Begründung des Gesetzesentwurfes, BT-Drucks. 15 / 4533, S. 16. 44 § 100c Abs. 7 StPO gilt daher nicht bei Verstößen gegen das entsprechende Erhebungsverbot (§ 100c Abs. 4 StPO), s. Wolter, in: SK-StPO (o. Fn. 19), § 100c Rn. 88. Eine ähnliche Funktion hat das Erfordernis einer richterlichen Entscheidung bei einer Überwachungsmaßnahme, die ausschließlich dem Personenschutz dient und deshalb auch ohne richterliche Anordnung durchgeführt werden kann (Art. 13 Abs. 5 S. 1 GG). Indem die Rechtmäßigkeit der Überwachungsmaßnahme nachträglich gerichtlich überprüft wird (Art. 13 Abs. 5 S. 2 GG i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO), wird die fehlende gerichtliche Kontrolle bei der Anordnung kompensiert und gewährleistet, dass die formellen und materiellen Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 3 und Abs. 4 GG nicht umgangen werden, s. den Bericht des Rechtsausschusses zur Änderung des Art. 13 GG: BT-Drucks. 13 / 9660, S. 4 f. Das Verfahren dient also der „Effizienz der richterlichen Kontrolle“, s. Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 13 Rn. 93. 41 42

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3. Bindungswirkung der gerichtlichen Entscheidung Soweit das Gericht die Verwertbarkeit der im Verlauf einer Wohnraumüberwachung erlangten Informationen verneint, ist diese Entscheidung für das weitere Verfahren bindend (§ 100c Abs. 7 S. 2 StPO). Die Informationen sind also zu löschen (§ 100c Abs. 5 S. 2 StPO) und dürfen, auch soweit die von ihnen erlangte Kenntnis von dem Löschungsvorgang unberührt bleibt, nicht für das weitere Verfahren verwendet werden, sei es zu Beweiszwecken, sei es als Spurenansatz und Ausgangspunkt weiterer Ermittlungseingriffe.46 Nach Ansicht des Gesetzgebers ist ein effektiver Rechtsschutz nur bei einer solchen Bindungswirkung gewährleistet, denn anderenfalls bestünde die Gefahr, dass das erkennende Gericht die dem Verwertungsverbot unterliegenden Beweismittel „faktisch“ als Grundlage für eine Verurteilung heranzieht.47 Diese Begründung vermag jedoch, soweit sie auf die Verwertung der erlangten Informationen als Beweismittel abstellt, schon deshalb nicht zu überzeugen, weil dem Beschuldigten auch mit der Entscheidung des erkennenden Gerichts (inzident) Rechtsschutz gegen den in der Verwertung liegenden Informationseingriff gewährt wird.48 Dem Gesetzgeber geht es vielmehr darum, die gerichtliche Feststellung der Unverwertbarkeit nicht durch eine nachträgliche Entscheidung des erkennenden Gerichts zu entwerten. Auf der Grundlage der obigen Ausführungen ist diese Gefahr indessen wegen der ohnehin bestehenden Verbindlichkeit der gerichtlichen Entscheidung für die Strafverfolgungsbehörden relativ gering, da die Staatsanwaltschaft zur Löschung der erlangten Informationen verpflichtet ist (§ 100c Abs. 5 S. 2 StPO) und diese nicht mehr verwenden darf – auch nicht, um eine andere gerichtliche Entscheidung über die Verwertbarkeit herbeizuführen.49 Die ausdrücklich angeordnete Bindungswirkung beugt allerdings einer Missachtung der gerichtlichen Entscheidung vor und begegnet zugleich der Gefahr widersprüchlicher Entscheidun45 Im Unterschied zum herkömmlichen Richtervorbehalt setzt eine gerichtliche Entscheidung nach § 100c Abs. 7 S. 1 StPO allerdings voraus, dass die Staatsanwaltschaft die gerichtliche Überprüfung veranlasst. Um die Überprüfung nicht von der Mitwirkung des zu Kontrollierenden abhängig zu machen, wurde vorgeschlagen, die gesamte von der Überwachung angefertigte Tonbandaufnahme der gerichtlichen Kontrolle zuzuführen (B. Hirsch, in: Roggan [Hrsg.], Lauschen im Rechtsstaat, 2004, S. 87, 94). Das BVerfG hat die neue gesetzliche Regelung indes nicht beanstandet (BVerfG NJW 2007, 2753, 2757). Den angeführten Bedenken sollte aber jedenfalls dadurch Rechnung getragen werden, dass man an die Verletzung der Antragspflicht eine prozessuale Sanktion knüpft, sei es in Form eines Verwertungsverbotes (so Wolter, in: SK-StPO (o. Fn. 19), § 100c Rn. 77), sei es in Form einer Beweislastumkehr für die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung (s. dazu allgemein Amelung / Mittag, NStZ 2005, 614, 616 f.). 46 S. zu den entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorgaben: BVerfGE 109, 279, 332. 47 BT-Drucks. 15 / 4533, S. 16. 48 S.o. unter II.3. 49 S. allgemein Fezer, FS Rieß, 2002, S. 93, 106; s. dagegen zu § 100d Abs. 3 S. 5 StPO a.F.: Nack, in: Karlsruher Kommentar StPO, 5. Aufl. 2003, § 100d Rn. 32.

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gen und den damit verbundenen Folgen für die Akzeptanz der Verfahrenserledigung.50 IV. Nachträglicher Rechtsschutz gegen die Informationserhebung (§ 101 Abs. 7 StPO) 1. Rechtsschutz gegen verdeckte Ermittlungsmaßnahmen Mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen 51 hat der Gesetzgeber anknüpfend an frühere Reformvorschläge52 einen neuen gesetzlichen Rahmen für den gerichtlichen Rechtsschutz geschaffen. Diese Bestimmungen gelten nach § 101 Abs. 1 StPO allerdings nur für verdeckte Ermittlungsmaßnahmen53, d. h. für die Rasterfahndung (§ 98a StPO), Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (§§ 99, 100a, 100g StPO), die akustische Wohnraumüberwachung (§ 100c StPO) und andere technische Maßnahmen zur akustischen, optischen und sonstigen Überwachung (§§ 100f, 100h, 100i StPO) sowie für die Schleppnetzfahndung (§ 163d StPO), die Aussschreibung zur Beobachtung (§ 163e StPO) und die längerfristige Observation (§ 163f StPO). Das neue Rechtsschutzregime zeichnet sich gegenüber der bisherigen Regelung dadurch aus, dass der Antrag auf gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme innerhalb von zwei Wochen zu stellen ist (§ 101 Abs. 7 S. 2 StPO), dementsprechend ist gegen die gerichtliche Entscheidung auch nur54 die 50 Vgl. auch Amelung (o. Fn. 1), S. 68. Im Hinblick auf diese Effizienzgesichtspunkte stellt sich allerdings die Frage, ob eine Bindungswirkung auch für den Fall vorgesehen werden sollte, dass das überprüfende Gericht die Verwertung für zulässig hält (s. den Vorschlag der CDU / CSU-Fraktion, Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 15 / 5486, S. 16). Eine solche Regelung berücksichtigt indessen nicht, dass der präventive Rechtsschutz aufgrund der einseitigen Instruktion des Richters und der fehlenden Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) den Anforderungen der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht in vollem Umfang zu entsprechen vermag (Gusy, GA 2003, 672, 678; s. auch BVerfGE 107, 395, 406). Der Vorschlag wurde daher zu Recht abgelehnt (s. BT-Drucks. 16 / 5846, S. 23). 51 Gesetz vom 21. 12. 2007, BGBl. I S. 3198. 52 S. dazu Rieß, ZRP 1981, 101 ff.; s. auch bereits Amelung (o. Fn. 1), S. 65 ff. 53 Diese Einschränkung beruht auf der Erwägung, dass (nur) bei diesen schwerwiegenden Grundrechtseingriffen auf den Nachweis eines Rechtsschutzbedürfnisses verzichtet werden kann, und ist damit Ausdruck einer Konzeption, welche die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des – für sich genommen – erledigten Erhebungseingriffs in den Vordergrund stellt, s. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62. 54 Soweit sich in der Gesetzesbegründung die Aussage findet, mit der Neuregelung sollten die bereits anerkannten Rechtsbehelfe nicht verdrängt werden (s. BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62), sollte dies nicht dahingehend verstanden werden, dass diese Rechtsbehelfe auch noch nach Ablauf der in § 101 Abs. 7 S. 2 StPO vorgesehenen Frist zulässig sind, denn dies wider-

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(befristete) sofortige Beschwerde statthaft (§ 101 Abs. 7 S. 3 StPO).55 Durch die Befristung wird der Pflicht zur Löschung der nicht mehr benötigten Daten (§ 101 Abs. 8 S. 1 StPO) Rechnung getragen, die nicht erfüllt werden kann, solange die Daten möglicherweise noch für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Erhebungsmaßnahme benötigt werden.56 Über den Antrag entscheidet grundsätzlich das für die Anordnung der Maßnahme zuständige Gericht bzw. bei der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft das Gericht an deren Sitz (§ 101 Abs. 7 S. 1 und 2 StPO). Um widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden, hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass die Zuständigkeit – auch für Anträge unbeteiligter Dritter57 – nach Anklageerhebung auf das mit der Sache befasste Gericht übergeht, das in der das Verfahren abschließenden Entscheidung über den Antrag entscheidet (§ 101 Abs. 7 S. 4 StPO).58 Gegen die Bescheidung des Antrages in der verfahrensabschließenden Entscheidung ist nicht die sofortige Beschwerde statthaft, sondern das Rechtsmittel der Berufung bzw. Revision.59 Dies hat zur Konsequenz, dass auch am Hauptverfahren nicht beteiligte Dritte das erstinstanzliche Urteil mit der Berufung oder der Revision angreifen können, soweit sie einen Antrag nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO gestellt haben und durch die daraufhin ergangene Entscheidung beschwert sind. 2. Bindungswirkung der gerichtlichen Entscheidung Im Gesetzgebungsverfahren wurde es ausdrücklich abgelehnt, die gerichtliche Entscheidung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO in Anlehnung an die entsprechende Regelung in § 100c Abs. 7 S. 2 StPO mit einer Bindungswirkung für das erkennende Gericht auszustatten.60 Dies lässt jedoch die Möglichkeit unberührt, eine solche Bindungswirkung anderweitig zu begründen. spräche der ratio der Befristung (vgl. auch die Kritik von Glaser / Gedeon, GA 2007, 415, 433 f.). Dem Anliegen des Gesetzgebers, die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten über die Befristung hinaus nicht zu verkürzen (s. BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62), kann dadurch Rechnung getragen werden, dass gegebenenfalls bereits vor der Benachrichtigung nach § 101 Abs. 4 StPO gerichtlicher Rechtsschutz nach Maßgabe des § 101 Abs. 7 StPO gewährt wird. Ein Bedürfnis für eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO besteht damit bei den von § 101 StPO erfassten Eingriffen nicht mehr; auf diese Weise wird vermieden, dass die Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit der bestehenden Regelungen weiter erhöht wird (vgl. auch Glaser / Gedeon, GA 2007, 415, 434). 55 S. bereits für eine Befristung: Amelung (o. Fn. 1), S. 68; ders. (Fn. 2), S. 82. 56 S. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62 f.; s. insoweit auch BVerfGE 100, 313, 364 f., 400; 109, 279, 380. 57 S. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 63. 58 S. insoweit bereits § 100d Abs. 10 S. 3 StPO a.F. und dazu BT-Drucks. 15 / 4533, S. 19; Mittag (o. Fn. 30), S. 196. 59 S. die Begründung zur Vorgängerregelung in § 100d Abs. 10 S. 3 StPO a.F., BT-Drucks. 15 / 4533, S. 19. 60 S. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62.

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Ausgangspunkt für eine innerprozessuale Bindungswirkung könnte § 336 S. 2 StPO sein. Danach unterliegen Entscheidungen, die ausdrücklich für unanfechtbar erklärt werden oder mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sind, nicht der Beurteilung durch das Revisionsgericht. Auf die Rechtswidrigkeit dieser gerichtlichen Vorentscheidung kann die Revision also nicht gestützt werden.61 § 336 S. 2 StPO soll gewährleisten, dass bereits in einem frühen Verfahrensstadium Klarheit über den Bestand einer gerichtlichen Entscheidung geschaffen wird und diese als Grundlage für das weitere Verfahren nicht mehr im Wege der Revision angefochten werden kann.62 Auf der Grundlage der bisher bestehenden Regelungen zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe konnte dies nicht gelingen, da die gerichtliche Entscheidung (analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO) aufgrund der fehlenden Befristung des Rechtsmittels der Beschwerde (§ 304 StPO) nicht in formelle Rechtskraft erwachsen konnte; dementsprechend erstreckte sich die revisionsgerichtliche Überprüfung auch auf die Rechtmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen im Ermittlungsverfahren, soweit das angefochtene Urteil auf ihnen beruhte (§ 336 S. 1 StPO).63 Nach der neuen Regelung ist die gerichtliche Entscheidung nunmehr mit dem befristeten Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde angreifbar (§ 101 Abs. 7 S. 3 StPO) und daher von der revisionsgerichtlichen Überprüfung ausgenommen (§ 336 S. 2 Alt. 2 StPO). Diese Beschränkung beruht auf dem Grundsatz der Alternativität der Rechtsmittel, wonach dem Angeklagten bzw. Beschuldigten gegen eine gerichtliche Entscheidung die Rechtsmittel der (sofortigen) Beschwerde und der Revision alternativ, aber nicht kumulativ eröffnet werden müssten.64 Da der Beschuldigte gegen die Vorentscheidung sofortige Beschwerde einlegen kann (s. § 101 Abs. 7 S. 3 StPO)65, werden seine Rechtsschutzmöglichkeiten durch die Regelung nach § 336 S. 2 StPO nicht unangemessen verkürzt.66 Macht er von diesem Rechtsmittel keinen Gebrauch, so ist die Frage der Rechtmäßigkeit des Erhebungseingriffs damit für das Revisionsgericht verbindlich (i.w.S. „rechtskräftig“67) entschieden.68 Rieß, NStZ 1981, 447, 448. S. die Begründung des Gesetzesentwurfs, BT-Drucks. 8 / 976, S. 59; Frisch, in: SKStPO (o. Fn. 19), § 336 Rn. 14; Hanack, in: Löwe-Rosenberg (o. Fn. 35), § 336 Rn. 11. 63 S.o. die Nachweise in Fn. 35; s. auch zur Rechtslage vor Einführung des § 336 S. 2 StPO: Dünnebier, FS Dreher, 1977, S. 669, 673; W. Schmid, Die „Verwirkung“ von Verfahrensrügen im Strafprozess, 1967, S. 172 f. 64 S. RGSt 2, 19, 20; Dünnebier, FS Dreher, 1977, S. 669, 672; Maiwald, in: AK-StPO, Bd. 3, 1996, § 336 Rn. 5; Nelles, NStZ 1982, 96, 98; kritisch insoweit Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses, 1999, S. 46 ff. 65 Dies gilt auch für Entscheidungen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof oder bei einem Oberlandesgericht, s. § 304 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und Abs. 5 StPO und dazu BTDrucks. 16 / 5846, S. 63, 66. 66 Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. (1983), Rn. 724.1. 67 Vgl. BGHSt 4, 208; BGH NJW 1962, 260, 261; Dünnebier, FS Dreher, 1977, S. 669, 672 f.; Nelles, NStZ 1982, 96, 98; präziser Weidemann (o. Fn. 64), S. 86 ff., 88 f., der formelle 61 62

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Die Annahme einer innerprozessualen Bindung des Revisionsgerichts an die gerichtliche Entscheidung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO – die sich konsequenterweise auch auf das erkennende Gericht erstrecken muss69 – widerspricht allerdings dem erklärten Willen des Gesetzgebers, der eine solche Bindungswirkung mit dem Argument abgelehnt hatte, dass der Gegenstand der beiden Prüfungen (Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit des Erhebungseingriffs einerseits, Verwertbarkeit der erhobenen Information zu Beweiszwecken andererseits) nicht identisch sei und es insbesondere dem erkennenden Gericht obliege, bei der Entscheidung über die Verwertung eines Beweismittels auch nachträglich eintretende Umstände zu berücksichtigen.70 Allerdings erkennt auch der Gesetzgeber ausdrücklich an, dass die Entscheidung über die Verwertung maßgeblich von der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Erhebung des jeweiligen Beweismittels mitbestimmt wird.71 Dies muss erst recht gelten, wenn man in dem Rechtsschutz nach § 101 Abs. 7 StPO auch ein Instrument sieht, um gegen die Speicherung und weitere Nutzung der erhobenen Information vorzugehen72, denn dieses Rechtsschutzbegehren umfasst auch die Verwendung zu Beweiszwecken im Hauptverfahren. Dass bei verdeckten Ermittlungseingriffen ein Bedürfnis für eine derartige Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten besteht, belegt die positiv-rechtlich normierte Löschungspflicht in Bezug auf Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, die durch eine Überwachung der Telekommunikation erlangt worden sind (§ 100a Abs. 4 S. 3 StPO); eine Löschungspflicht ist außerdem ausdrücklich vorgesehen, soweit durch eine Ermittlungsmaßnahme rechtswidrig die durch Zeugnisverweigerungsrechte für Geistliche, Verteidiger und Abgeordnete besonders geschützten Geheimsphären verletzt worden sind (§ 160a Abs. 1 S. 3 StPO).73

Rechtskraft (Unanfechtbarkeit), materielle Rechtskraft (Sperrwirkung der Entscheidung über den Prozessgegenstand) und innerprozessuale Bindungswirkung von Vorentscheidungen unterscheidet. 68 S. statt vieler Temming, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl. 2001, § 336 Rn. 6. 69 Vgl. Schlothauer, StV 2003, 208, 210; s. auch zur Begründung einer Bindungswirkung aus der ratio der gerichtlichen Vorabentscheidung: Bohnert (o. Fn. 35), S. 143 f. 70 S. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62; s. auch zu § 100d Abs. 3 S. 5 StPO a.F.: Nack, in: KK-StPO (o. Fn. 49), § 100d Rn. 32; s. ferner Bohnert (o. Fn. 35), S. 145. 71 S. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62. 72 S.o. unter II.3. (zu § 98 Abs. 2 S. 2 StPO). 73 Andererseits ist jedoch nicht zu verkennen, dass vergleichbare Regelungen im Zusammenhang mit anderen strafprozessualen Ermittlungseingriffen fehlen. Dies deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Löschung rechtswidrig erhobener Daten nur bei besonders schwerwiegenden Informationseingriffen als geboten ansieht, d. h. bei anderen Ermittlungsmaßnahmen die Aufbewahrung und Verwertung auch rechtswidrig erhobener Informationen nach Maßgabe der von der h. M. vertretenen „Abwägungslehre“ für zulässig hält, s. auch § 160a Abs. 2 S. 1 StPO und BT-Drucks. 16 / 5846, S. 36 (zur entsprechenden Regelung in § 53b Abs. 2 StPO-E).

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Für eine Bindung des Revisionsgerichts an die gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme spricht schließlich, dass das Revisionsgericht zu einer zeitnahen und umfassenden Rechtmäßigkeitsprüfung nicht in der Lage ist, das Verfahren nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO also größere Gewähr für die Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung bietet.74 Dementsprechend wurde im Schrifttum bereits auf der Grundlage des alten Rechts eine Bindungswirkung der gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Ermittlungseingriffs gefordert.75 Soweit im Gesetzgebungsverfahren die Befürchtung geäußert wurde, infolge der Bindungswirkung könnten die mit der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit von Ermittlungseingriffen verbundenen, häufig schwierigen Rechtsfragen nicht mehr einer höchstrichterlichen Klärung zugeführt werden76, ist diese Sorge in doppelter Hinsicht unbegründet. Zum Einen bleibt die Zuständigkeit der Revisionsgerichte erhalten, soweit die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Ermittlungseingriffs nach Anklageerhebung (und Benachrichtigung des Angeklagten) auf das erkennende Gericht übergeht (§ 101 Abs. 7 S. 4 StPO). Zum Anderen können derartige Rechtsfragen auch im Wege der sofortigen Beschwerde gegen eine Entscheidung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof oder bei einem Oberlandesgericht einer höchstrichterlichen Klärung zugeführt werden (§ 304 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und Abs. 5 StPO i.V.m. § 135 Abs. 2 GVG). Nach alledem ist daher von einer Bindungswirkung an die gerichtliche Entscheidung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO auszugehen. Diese Bindungswirkung besteht auch dann, wenn mit der Revision die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht wird. Soweit für derartige Konstellationen eine einschränkende Auslegung des § 336 S. 2 StPO gefordert wird, um zu vermeiden, dass das BVerfG zu früh – d. h. ohne revisionsgerichtliche Prüfung – befasst wird77, ist dem entgegen zu halten, dass eine fachgerichtliche Überprüfung durch das Beschwerdegericht ermöglicht wird und der Betroffene aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) gehalten ist, von diesem Rechtsmittel Gebrauch zu machen78. Mit einer Anwendung des § 336 S. 2 StPO wird die gerichtliche Entscheidung – anders als in den Fällen des § 336 S. 2 Alt. 1 StPO (Unanfechtbarkeit)79 – also nicht der Überprüfung durch ein Rechtsmittelge74 S. bereits zum Verhältnis der revisionsgerichtlichen Überprüfung zum Beschwerdeverfahren nach §§ 304 ff. StPO: Landau / Sander, StraFo 1998, 397, 400; s. ferner Bohnert (o. Fn. 35), S. 143. 75 Bohnert (o. Fn. 35), S. 146, 148; Schlothauer, StV 2003, 208, 210 (s. insoweit auch o. in Fn. 35). 76 S. die Begründung des Regierungsentwurfes, BT-Drucks. 16 / 5846, S. 62. 77 Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 662; s. auch Mutzbauer, in: Kleinknecht Müller Reitberger, StPO (Stand: 47. Ergänzungslieferung – 2007), § 336 Rn. 15; Frisch, in: SK-StPO (o. Fn. 19), § 336 Rn. 15. 78 S. zu Ermittlungsmaßnahmen und dem Rechtbehelfen nach § 98 Abs. 2 S. 2 (analog) und § 304 StPO: BVerfG NStZ-RR 2002, 144 f. 79 S. insoweit die berechtigte Kritik von Schlüchter (o. Fn. 66), 724.2.; F.C. Schroeder, NJW 1979, 1527; s. insoweit auch BGHSt 46, 238, 246 (zur Nichtanwendung des § 336 S. 2

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richt entzogen.80 Es widerspräche dem Vorrang der sofortigen Beschwerde und der Alternativität der Rechtsmittel, wollte man ergänzend eine Überprüfung durch das Revisionsgericht zulassen, zumal eine solche Durchbrechung des § 336 S. 2 StPO nicht auf Ausnahmefälle beschränkt bliebe.81 3. Bindung an die Entscheidung des Beschwerdegerichts Schließt § 336 S. 2 Alt. 2 StPO die revisionsgerichtliche Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO aus, weil gegen diese die sofortige Beschwerde statthaft ist (§ 101 Abs. 7 S. 3 StPO), so erscheint es nahe liegend, auch die Entscheidung des Beschwerdegerichts als irrevisibel anzusehen, da diese keiner weiteren Anfechtung unterliegt (§ 310 Abs. 2 StPO) und damit vom Gesetzgeber ausdrücklich für unanfechtbar erklärt wird (§ 336 S. 2 Alt. 1 StPO). Gegen diese Auslegung lässt sich einwenden, dass die Unanfechtbarkeit nach § 310 Abs. 2 StPO nur die weitere Beschwerde ausschließt, aber nicht geeignet ist, eine Bindungswirkung nach § 336 S. 2 Alt. 1 StPO zu begründen; anderenfalls müssten auch Entscheidungen über die einfache Beschwerde, auf die § 310 Abs. 2 StPO ebenfalls Anwendung findet, für das Revisionsgericht Verbindlichkeit beanspruchen.82 Diesem Einwand ist einzuräumen, dass der Ausschluss der Beschwerdemöglichkeit keinen hinreichenden Grund für die „Unanfechtbarkeit“ i. S. d. § 336 S. 2 Alt. 1 StPO darstellt (vgl. § 305 S. 1 StPO), sondern die Unanfechtbarkeit i. S. d. § 336 S. 2 Alt. 1 StPO ihrem Sinn und Zweck nach (auch) auf den Ausschluss der revisionsgerichtlichen Überprüfung gerichtet sein muss.83 Insoweit ist jedoch zu differenzieren: Während sich der Zweck des § 310 Abs. 2 StPO bei der einfachen Beschwerde darin erschöpft, die weitere Beschwerde auf die in § 310 Abs. 1 StPO genannten Fälle zu begrenzen, ist ihr Ausschluss bei der sofortigen Beschwerde zumindest auch auf das Bestreben zurückzuführen, eine schnelle und endgültige Entscheidung über den Beschwerdegegenstand herbeizuführen. So wäre StPO bei einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Nach dem Kontext bzw. der Formulierung dürften sich auch die Stellungnahmen von Frisch und Mutzbauer (o. Fn. 77) auf § 336 S. 2 Alt. 1 StPO beziehen. 80 In der Gesetzesbegründung zu § 336 S. 2 StPO wird eine Ausnahme dementsprechend (nur) für die Fälle erwogen, in denen dem Angeklagten kein anderes Rechtsmittel zur Geltendmachung einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zur Verfügung steht, s. BTDrucks. 8 / 976, S. 59. 81 Selbst wenn man der Auffassung folgen wollte, dass auch in den Fällen des § 336 S. 2 Alt. 2 StPO eine revisionsgerichtliche Überprüfung geboten ist, wenn der Angeklagte seinem gesetzlichen Richter willkürlich (!) entzogen worden ist (vgl. BGHSt 46, 238, 246 m. w. N.), ist eine solche Einschränkung jedenfalls aus diesem Grund nicht auf die Überprüfung der Grundrechtskonformität strafprozessualer Informationseingriffe übertragbar. 82 Weidemann (o. Fn. 64), S. 82. 83 Weidemann (o. Fn. 64), S. 66, 99.

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es widersinnig, die gerichtliche Entscheidung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO aus den oben genannten Gründen der revisionsgerichtlichen Überprüfung zu entziehen, die Entscheidung des Beschwerdegerichts hingegen einer solchen Prüfung zugänglich zu machen.84 Soweit die Beschwerde verworfen wird, ist dieses Ergebnis allgemein anerkannt, wenngleich die Bindungswirkung auf die angefochtene Entscheidung (§ 336 S. 2 Alt. 2 StPO) und nicht auf die Entscheidung des Beschwerdegerichts gestützt wird (§ 336 S. 2 Alt. 1 StPO).85 Etwas problematischer erscheint die Konstellation, in der die Entscheidung des Beschwerdegerichts den Rechtsmittelgegner beschwert und diesem über § 336 S. 2 Alt. 1 StPO die Möglichkeit genommen wird, diese Entscheidung mit der Revision anzugreifen.86 Stellt beispielsweise das Gericht die Rechtswidrigkeit der Ermittlungsmaßnahme fest, so kann das Beschwerdegericht auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin die Rechtmäßigkeit des angeordneten Erhebungseingriffs (und der weiteren Verwendung der erhobenen Daten) feststellen. Dass der Beschuldigte bzw. Angeklagte die letztgenannte Entscheidung nicht im Wege der Revision überprüfen lassen kann, ist jedoch keine unangemessene Verkürzung seiner Rechtsschutzmöglichkeiten gegen den strafprozessualen Informationseingriff, sondern notwendige Konsequenz eines begrenzten Instanzenzuges, der auch der Staatsanwaltschaft offen steht.87 4. Bindung an die gerichtliche Anordnung des Ermittlungseingriffs Schließlich stellt sich noch die Frage nach der Bindungswirkung der gerichtlichen Anordnung88, wenn der Betroffene keinen Antrag gestellt hat, die Anordnung und die Art und Weise des Vollzuges auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (§ 101 Abs. 7 S. 2 StPO). Anders als bei der auf einen solchen Antrag hin ergehenden gerichtlichen Entscheidung oder der Entscheidung des Beschwerdegerichts kann eine Bindungswir84 Vgl. auch Weidemann (o. Fn. 64), S. 82 f., der im Ergebnis allerdings eine Anwendung des § 336 S. 2 Alt. 1 StPO verneint (a. a. O., S. 84). 85 BGHSt 39, 110, 111; Dünnebier, FS Dreher 1977, S. 673; Frisch, in: SK-StPO (o. Fn. 19) § 336 Rn. 16; Hanack, in: Löwe-Rosenberg (o. Fn. 35), § 336 Rn. 13; Weidemann (o. Fn. 64), S. 81. 86 S. die entsprechenden Bedenken von Weidemann (o. Fn. 64), S. 83 f. 87 Darin liegt zugleich der grundlegende Unterschied zur Verkürzung des Rechtsschutzes bei gerichtlichen Entscheidungen, die weder im Wege der Beschwerde noch durch die Revision angegriffen werden können; die darauf bezogene Kritik (s. o. Fn. 79) ist daher auf die Entscheidung des Beschwerdegerichts nicht übertragbar. 88 Die Anordnung durch die Staatsanwaltschaft bleibt zunächst außer Betracht, da sie zumeist nur provisorischer Natur ist und innerhalb von drei Tagen außer Kraft tritt, sofern sie nicht durch das Gericht bestätigt wird, s. §§ 98b Abs. 1 S. 1 – 3, 100 Abs. 1 und 2, 100b Abs. 1 S. 1 – 3 (auch i.V.m. §§ 100f Abs. 4, 100h Abs. 2 S. 1, 100i Abs. 3 S. 1), 110 Abs. 2 S. 1 – 4 (s. aber § 100 Abs. 1 S. 1), 163d Abs. 2 S. 1 – 3, 163e Abs. 4 S. 1 – 3, 163f Abs. 3 S. 1 – 2 StPO.

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kung der gerichtlichen Anordnung eines verdeckten Ermittlungseingriffs nicht auf § 336 S. 2 StPO gestützt werden. Gleichwohl entfaltet die gerichtliche Anordnung (besser: Gestattung) des Grundrechtseingriffs im Ermittlungsverfahrens insofern eine Bindungswirkung, als sie den Beamten davon entlastet, die Rechtmäßigkeit des angeordneten Eingriffs vor der Vollstreckung selbst zu überprüfen. Grundlage der Vollstreckung durch die Verfolgungsbehörden ist nicht die gesetzliche Eingriffsermächtigung, sondern die richterliche Anordnung89, d. h. die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung ist nicht von der Rechtmäßigkeit der richterlichen Anordnung abhängig.90 Die richterliche Anordnung weist damit als Vollstreckungsgrundlage Parallelen zum Verwaltungsakt auf. Zwar wird der Betroffene im Strafverfahren – anders als im Verwaltungsverfahren – nicht vor Erlass der Maßnahme angehört und diese wird ihm auch nicht vor der Vollstreckung bekannt gegeben, aber die Neutralität und besondere Kompetenz des Richters begründen ein gesteigertes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des angeordneten Ermittlungseingriffs, das es rechtfertigt, die richterliche Anordnung als selbständigen Zwischenakt und hinreichende Vollstreckungsgrundlage anzusehen.91 Nun vermag die Eignung der richterlichen Anordnung als Vollstreckungsgrundlage noch keine Bindungswirkung für andere Gerichte zu begründen; dafür wäre vielmehr darzulegen, dass die richterliche Anordnung nicht nur als Vollstreckungsgrundlage, sondern auch in Bezug auf die Funktion, ein Rechtsverhältnis im Einzelfall auf Dauer zu regeln, dem Verwaltungsakt vergleichbar ist, so dass ihr auch Bestandskraft zuzuerkennen ist, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.92 Eine solche Wirkung richterlicher Anordnungen war nach der bisherigen Rechtslage ausgeschlossen, da Rechtsbehelfe gegen die richterliche Anordnung nicht fristgebunden waren (s. § 98 Abs. 2 S. 2 StPO: „jederzeit“). Der Antrag auf gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines heimlichen Ermittlungseingriffs ist nunmehr befristet (§ 101 Abs. 7 S. 2 StPO), weil der Gesetzgeber mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Löschungsfristen eine zügige Klärung der Rechtmäßigkeit herbeiführen wollte.93 Nach den vorstehenden Ausführungen besteht ein solches Interesse auch in Bezug auf die informationellen Grundlagen des Hauptverfahrens.94 Die ratio der Befristung gebietet es, dass eine solche Klärung auch dann eintritt, wenn der Betroffene von dem ihm zur Verfügung gestellten Rechtbehelf keinen Gebrauch macht.95 Gusy, StV 2002, 153, 156. Mittag (o. Fn. 30), S. 65 m. w. N., mit ergänzendem Hinweis auf § 307 Abs. 1 StPO (Vollziehbarkeit der Entscheidung trotz ungeklärter Rechtmäßigkeit). 91 Amelung, FS Badura, 2004, S. 15, 16; Mittag (o. Fn. 30), S. 64 f. 92 S. zu dieser Funktion des Verwaltungsaktes: BVerfGE 60, 253, 269 f.; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185, 188; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 11 Rn. 2; Merten, NJW 1983, 1993, 1994; Ruffert, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 20 Rn. 8. 93 S.o. unter 1. 94 S.o. unter 2. 89 90

Rechtsschutz gegen strafprozessuale Informationseingriffe

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Gegen eine solche Sichtweise könnten allerdings die oben angeführten Defizite bei der Beteiligung des Betroffenen sprechen. Gegenüber diesem Einwand ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Ermittlungseingriff dem Betroffenen vor Eintritt der Bestandskraft bekannt gegeben wird und er dadurch Gelegenheit erhält, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör wahrzunehmen und seine Interessen durch Einlegung des vorgesehenen Rechtsbehelfs zu wahren (§ 101 Abs. 4 S. 1 und 2 StPO). Zugleich besteht durch das Erfordernis einer richterlichen Anordnung ein gesteigertes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der richterlichen Anordnung.96 Indem man den Betroffenen im Hauptverfahren und im Revisionsverfahren nicht mehr mit dem Einwand hört, die Erkenntnisse aus einem heimlichen Ermittlungseingriff seien rechtswidrig erhoben worden und daher unverwertbar, werden seine Rechtsschutzmöglichkeiten nicht unangemessen verkürzt, sondern er wird insoweit auf das Verfahren nach § 101 Abs. 7 StPO verwiesen. Macht er von dieser Möglichkeit – trotz entsprechender Belehrung (§ 101 Abs. 4 S. 2 StPO) – keinen Gebrauch, so ist er mit einem entsprechenden Vorbringen im Revisionsverfahren präkludiert.97 Erkennt man die Parallele zwischen Verwaltungsakt und richterlicher Anordnung an, so sind diese Auswirkungen der Bestandskraft auf die Begründung unselbständiger Verwertungsverbote nur konsequent. So ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes anerkannt, dass Erkenntnisse aus einer rechtswidrigen Ermittlungsmaßnahme im Besteuerungsverfahren nur dann nicht verwertet werden dürfen, wenn der Steuerpflichtige gegen die betreffende Prüfungsmaßnahme vorgegangen ist und deren Rechtswidrigkeit gerichtlich festgestellt worden ist.98 Die Bindungswirkung, die sich aus der Bestandskraft der richterlichen Anordnung ergibt, erfasst allerdings nur die Anordnung selbst. Soweit die richterliche Anordnung die Modalitäten der Vollstreckung des Grundrechtseingriffs nicht festlegt, liegt die Art und Weise des Vollzuges in der Verantwortung der Strafverfolgungsbehörden.99 Ungeachtet des auch insoweit bestehenden Interesses an einer frühzeitigen Klärung der Rechtmäßigkeit scheidet eine Bindungswirkung in Bezug auf Maßnahmen der Verfolgungsbehörden aus, denn deren Handeln vermag ein gesteigertes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit als Grundlage der Bestandskraft nicht zu begründen. Die gegenüber dem Verwaltungsakt bestehenden Defizite in Bezug Vgl. auch Amelung (o. Fn. 1), S. 68. S. aber zu möglichen Ausnahmen bei grob fehlerhafter Instruktion durch die Strafverfolgungsbehörden: Amelung, FS Badura, 2004, S. 3, 16; Mittag (o. Fn. 30), S. 67. 97 Vgl. insoweit auch die h. M. zu § 238 Abs. 2 StPO: BGHSt 1, 322, 325; NStZ 2007, 230, 231. 98 BFHE 139, 221, 222 f.; 136, 192, 193; 147, 14, 17; 160, 391, 393; BFH / NV 1995, 621, 622; s. auch zum EG-Bußgeldverfahren: EuG, Verb. Rs. T-305 / 94 u. a., LVM, Slg. 1999, II-931 Rn. 409 f.; Lubig, Beweisverwertungsverbote im Kartellverfahrensrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 55 m. w. N. 99 S. auch zum EG-Bußgeldverfahren: EuG, Rs. T-9 / 97, Elf Atochem, Slg. 1997, II-909 Rn. 25. 95 96

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auf Anhörung und Bekanntgabe können anders als bei der richterlichen Anordnung nicht auf andere Weise kompensiert werden. Das Handeln der Staatsanwaltschaft und der Polizei erschöpft sich daher im Gesetzesvollzug und weist anders als die richterliche Anordnung keinen Regelungscharakter auf.100 V. Fazit In den neuen Regelungen zum Rechtsschutz gegen heimliche Ermittlungseingriffe sind weitreichende Konsequenzen für den Informationstransfer vom Ermittlungsverfahren in das Hauptverfahren und für den Umfang der revisionsgerichtlichen Prüfung angelegt. Wenngleich sich die praktischen Auswirkungen möglicherweise zunächst in Grenzen halten werden, wenn die Betroffenen – der bisherigen Praxis entsprechend – erst spät, d. h. nach Anklageerhebung, informiert werden und das erkennende Gericht demzufolge inzident über die Rechtmäßigkeit des Ermittlungseingriffs entscheidet (§ 101 Abs. 7 S. 4 StPO), hat der Gesetzgeber den selbständigen Eingriffsgehalt der Speicherung und Verwendung durch ein Äquivalent zum Richtervorbehalt (§ 100c Abs. 7 StPO) grundsätzlich anerkannt und den Rechtsschutz gegen strafprozessuale Informationseingriffe außerhalb des Hauptverfahrens gestärkt. Ob sich die nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO möglichen Vorentscheidungen einem Vorschlag des Jubilars entsprechend zu einem Verfahren entwickeln werden, in dem ein Gericht vor der Eröffnung des Hauptverfahrens über die Zulassung sämtlicher im Ermittlungsverfahren erlangter Beweismittel entscheidet101, bleibt abzuwarten.

Amelung, FS Badura, 2004, S. 3, 11 ff.; Mittag (o. Fn. 30), S. 43 ff. S. dazu Amelung (o. Fn. 2), S. 83; s. auch die Regelung in Art. 25 Abs. 3 des ersten Entwurfs eines Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen der EG, die sich allerdings als Abweichung von den Verfahrensordnungen der meisten Mitgliedstaaten nicht durchsetzen konnte, s. Delmas-Marty / Vervaele, The Implementation of the Corpus Juris in the Member States, 2000, Vol. I, S. 344; s. auch die einzelnen Landesberichte (Vol. II und III), S. 55 (Österreich), 245 (Dänemark), 280 (Finnland), 333 (Frankreich), 391 (Deutschland), 482 f. (Irland), 674 (Niederlande); im Vereinigten Königreich ist ein pre-trial hearing über die Zulässigkeit von Beweismaterial allerdings im Criminal Procedure and Investigations Act (ss. 39 – 40) vorgesehen, s. dazu Blackstone‘s Criminal Practice, 2007, D 13.17; s. auch Spencer / Brown / Bell, in: Delmas-Marty / Vervaele, a. a. O., Vol. III, S. 857, 917. 100 101

Histrionische Zeugen und Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 359 Nr. 5 StPO Von Ulrich Eisenberg

Der Jubilar hat in seinem œuvre ebenso konstant wie grundlegend Belange des Rechtsschutzes zumal für Individualrechtsgüter und auch nachträglicher Art thematisiert und definiert1, und an seinem Lehrstuhl ist in jüngerer Zeit eine Abhandlung zu dem in besonderer Weise dem Rechtsschutz dienenden Wiederaufnahmeverfahren entstanden2. Bemühungen um Überwindung der Unrechtsfolgen (nicht nur von etwaigen Manipulationen oder Übergriffen, sondern auch) von solchen Fehlern der Strafverfolgungsbehörden, die auf Irreleitung beruhen3, sind im Nachhinein weithin vergeblich4, und demgemäß ist insoweit bleibende Unrechtsprechung zu gewärtigen. Hierzu versucht der folgende Beitrag hinsichtlich Fragen der Beweiswürdigung betreffend die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen bzw. der Glaubwürdigkeit von Zeugen eine (allerdings nur punktuelle) Veranschaulichung5. 1 Vgl. nur Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1976 bis hin zu ders., Der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe und die neuere Rechtsprechung zur Ausweitung des Eingriffsbegriffs bei staatlichen Ermittlungsmaßnahmen, StV 2001, 131 ff., worin der Jubilar auch schon zur Frage der Löschung (von im Zuge staatlicher Ermittlungsmaßnahmen) rechtswidrig erhobener Daten Stellung genommen hat, StV 2001, 133. 2 Vgl. Böse, JR 2005, 12 ff. 3 Eine solche kann allerdings z. B. auch vom Angeklagten selbst ausgegangen sein (vgl. auch Fn. 21 sowie zu BGH NStZ 2007, 522 Anm. Verf. / Schmitz, NStZ 2008, 94, 96). 4 Dies bedeutet auch, dass eine (etwa materiell berechtigte) Rehabilitierung versagt bleibt (vgl. dazu Ziemann, Zum Rehabilitationsgedanken im Wiederaufnahmerecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M. [Hrsg.]: Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 661 ff.). 5 Einbezogen werden unter II. 3., wenngleich auch insoweit aus Raumgründen nur gedrängt, die rechtstatsächlich aufgebauten Hürden zum Durchlaufen des gesetzlich vorgesehenen Aditions- bzw. Probationsverfahrens. Hierzu gehört z. B. auch die vor dem Gesetz (§ 372 S. 1 StPO) schwerlich stabil begründbare Versagung einer Beschwerdeinstanz gegen den Zurückweisungsbeschluss eines Antrags auf Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit (vgl. zu einem Wiederaufnahmeverfahren betreffend [Nicht-]Glaubhaftigkeit bzw. [Nicht-]Glaubwürdigkeit hinsichtlich der wesentlich belastenden Aussage bzw. Persönlichkeit einer [„Opfer“-]Zeugin etwa OLG Frankfurt NStZ-RR 2007, 148 f. in entsprechender

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I. Zum Begriff der histrionischen Persönlichkeit (ICD 10 F60.4, DSM-IV 301.50)6 1. Allgemeines Für Vernehmung und Aussagewürdigung in der Strafrechtspraxis ist anerkannt, dass allgemeine Erscheinungen etwa i. S. von Unsicherheit oder Anspannung, die im Zusammenhang mit Lügen auftreten können (z. B. Schwitzen, Farbwechsel im Gesicht, erhöhter Puls), prinzipiell mehrdeutig sein können. Daher ist unbestritten, dass bei der Interpretation solcher Anzeichen etwa als sogen. „Lügensymptome“ größte Vorsicht geboten ist, zumal damit ggfs. der eingehenden Würdigung einer Aussage in ihrem Gesamtzusammenhang in unzulässiger Weise vorgegriffen würde. Zudem ist einsichtig, dass solche, als außerlinguistisch oder nonverbal bezeichnete Verhaltensweisen unter Umständen nicht mit dem Wahrheitsgehalt der von ihnen begleiteten Aussage in Zusammenhang stehen, sondern mit Persönlichkeits- und Situationsvariablen. So können etwa „Ungeschicklichkeit“ und speziell die Vermeidung des Blickkontaktes (etwa bei eher introvertierten und besonders bei selbstunsicheren Persönlichkeiten) ein Anzeichen für die Wahrheit der Aussage, ansonsten jedoch ggf. ein Anzeichen für Verbergen einer Lüge sein. Andererseits können sicheres Auftreten und spontan wirkende Aussage bei histrionischen (i. S. von pseudologischen, geltungsbedürftigen oder hysterischen) Persönlichkeiten ein Anzeichen für Unwahrheit, ansonsten jedoch ein solches von Ehrlichkeit sein. Etwaige strafverfahrensrechtliche Erfolge histrionischer Persönlichkeiten mit falschen Angaben liegen in der sie kennzeichnenden Überzeugungskraft „im Ausdruck“7 begründet, und zwar im Allgemeinen bei vergleichsweise hoher sozialer Intelligenz, formaler Sprachbegabung und Gewandtheit in Umgang und Formulierungsweise; nur ein Teilelement ist dabei der bewusste Einsatz von Emotionsschilderungen8. Indes zeigt sich innerhalb einschlägiger psychiatrisch-psychologischer Beurteilung mitnichten eine homogene Befundlage, sondern vielmehr eine Bandbreite unterschiedlicher Ausprägungen. Dabei setzt das sachverständige Erkennen nicht nur hinreichende Geeignetheit des Sachverständigen voraus, sondern es hängt – wegen interaktionistischer Zusammenhänge zumindest der Exploration, teilweise Anwendung des § 28 Abs. 2 S. 2 StPO, obgleich die beiden Prüfungsstufen von dem etwa anzuordnenden neuerlichen Erkenntnisverfahren getrennt sind und andererseits die Verhinderung von Verfahrensverzögerungen als Grundlage des § 305 StPO in den hier in Rede stehenden Verfahren weniger Gewicht hat). 6 International Classification of Diseases (Vereinte Nationen) bzw. Diagnostical and Statistical Manual (US-amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie). 7 Vgl. Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 9. Aufl. 1950, S. 102 ff. 8 Vgl. zu empirischen Befunden etwa Panhey u. a., Polizei & Wissenschaft 2003, 37 ff.; 2006, 4 ff. (jeweils mit weiteren Nachweisen), denen zufolge diese Fehlerquelle andere geläufige Fehlerquellen (wie z. B. Sympathie der aussagenden Person oder Interessantheit der Aussage) übertrifft.

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auch der Durchführung bestimmter Testverfahren – auch von außerhalb der diagnostischen Kriterien liegenden Umständen ab (z. B. Attraktivität, Geschicklichkeit, Art des Sexuallebens etc. des Zeugen). Demzufolge finden, insoweit nicht anders als es im Allgemeinen bezüglich Anzeigeerstattung und Strafverfolgung tatsächlicher Deliktsbegehung der Fall ist, Selektionen statt, denen zufolge ein Hellfeld (diagnostisch bejahter) und ein Dunkelfeld (nicht diagnostizierter, aber mutmaßlicher) histrionischer Persönlichkeiten zu unterscheiden ist. Für den Zusammenhang mit einem Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten wäre die Einbeziehung mutmaßlicher, d. h. seither nicht bejahter Fälle zentral, wenngleich anerkannt ist, dass auch histrionische Zeugen im Einzelfall und zu bestimmten Beweisfragen wahrheitsgemäße Aussagen machen können.9 Indes wird ein einschlägiger Befund bei sämtlichen Kriterien der Aussagediagnostik zu berücksichtigen sein. a) In den in der forensischen Praxis auch hierzulande verbreitet verwandten Umschreibungen histrionischer Persönlichkeiten der ICD (bzw. des DSM-IV) sind mehrere sog. Merkmale unterschieden, von denen zumindest mehr als die Hälfte gegeben sein müssten, um das Vorliegen zu bejahen: Indes sind die Merkmale wenig prägnant und zur Abgrenzung von normalpsychologisch verbreiteten Erscheinungsformen nicht ohne weiteres geeignet. Die Auflistung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Fühlt sich unwohl in Situationen, in denen er / sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, kann etwas Dramatisches tun (etwa Geschichten erfinden, eine Szene machen), um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. – Die Interaktion mit anderen ist oft durch ein unangemessen verführerisches oder provokantes Verhalten charakterisiert, verbunden mit der Fähigkeit, neue Bekannte anfangs durch Enthusiasmus, scheinbare Offenheit oder Kokettheit zu bezaubern. – Zeigt rasch wechselnden und oberflächlichen Gefühlsausdruck. – Setzt durchweg die körperliche Erscheinung ein, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ist darum bemüht, andere durch das Auftreten zu beeindrucken. – Hat einen übertrieben impressionistischen, wenig detaillierten Sprachstil, deutliche Standpunkte werden in dramatischer Weise ausgedrückt. – Zeigt Selbstdramatisierung, Theatralik und übertriebenen Gefühlsausdruck. – Ist suggestibel, d. h. leicht beeinflussbar durch andere Personen oder Umstände, kann sehr vertrauensselig wirken, insbesondere gegenüber wichtigen Autoritätspersonen. – Fasst zwischenmenschliche Beziehungen deutlich persönlicher auf, als sie es in Wirklichkeit sind. b) In der klassischen psychiatrisch-psychologischen Diagnostik wird speziell bei Vorliegen pseudologischer Elemente u. a. von erheblicher Skrupellosigkeit gegenüber dem (mutmaßlichen) Opfer sowie Raffinesse und Manipulations- bzw. Täuschungsvermögen berichtet,10 und zwar auch gegenüber erfahrenen Amtsträgern, 9 Vgl. etwa BGH NStZ 2001, 161, 162, mit allerdings verkürzter Würdigung; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 1879.

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sodass es in der Regel gelingen würde, eine eindeutige Ermittlung des Geschehens (z. B. Prozessbetrug, Vortäuschung von Straftaten, falsche Anschuldigung) zu verhindern. Die Schwierigkeit der Ermittlung besteht hiernach darin, dass die jeweilige Aussage der Beeinflussbarkeit der Umgebung angepasst wird, indem gleichsam instinktiv die kognitive und emotionale Ansprechbarkeit der Vernehmungsperson erkannt wird und die Aussageinhalte darauf abgestellt werden. Ähnlich wie bei Abläufen i. S. des „Self-Monitoring“ achten die in Rede stehenden Persönlichkeiten in sozialen Interaktionen intensiv auf das Ausdrucksverhalten anderer Personen und verwenden diese Signale als Orientierung für die Steuerung der Selbstdarstellung, und nicht minder ausgeprägt neigen sie dazu, ihre wahren Absichten zu verbergen, um dadurch möglichst effektiv manipulieren zu können. Zudem verstehen sie es, etwa auftauchende Einwände, Zweifel oder Bedenken durch spontane Erwiderungen gleichsam im Keim zu ersticken.11 Zugleich besagt die psychiatrisch-psychologische Darstellung, dass zumal hysterische Persönlichkeiten sich in ihren als vorhanden empfundenen Entwicklungsmöglichkeiten beeinträchtigt fühlen und stets versuchen, ihre Ansprüche an Bezugspersonen und Gesellschaft „mit allen Mitteln“12 durchzusetzen. Techniken sind Phantasien und theatralische Szenen, wodurch ein ansonsten nicht erfüllbarer Anspruch ausgeglichen und zumindest Anteilnahme, Aufmerksamkeit und Bewunderung erzielt wird. In einer empirischen Untersuchung13 über die Beziehung zwischen Persönlichkeitsstörungsstilen und deren interpersonale Auswirkung bei Patienten und Erstinterviewern wurden 92 Klienten mit Persönlichkeitsstörungen von 29 professionellen Klinikern in Form eines Aufnahmeprozedere in eine Klinik interviewt. Mit Hilfe eines Instruments (The Impact Message Inventory – Octant Version / MMPI) für die Messung interner Reaktionen und Vorstellungen von Personen auf das Verhalten anderer zeigte sich u. a., dass die meisten Persönlichkeitsstörungsstile beiderseits mit Feindseligkeit assoziiert wurden. Hingegen standen narzisstische und histrionische Persönlichkeitsstörungsstile eher mit warmen und freundlichen Reaktionen in Beziehung. c) Beweistechnisch setzt ein gutachterliches Durchschauen bzw. ein Erkennen strafjustiziell Amtierender voraus, dass – bezogen auf besonders ausgeprägte Formen – die „pathologische Induktion“, der vielfach selbst lebens- und praxiserfahrene, kritische Vernehmungspersonen erliegen und willfährig folgen, unterbrochen wird. Dies fällt indes umso schwerer, als ggf. statt einer gewissen Hektik eine gleichsam „hysterische Ruhe“ oder die Rolle einer „still duldenden“ Person hervor10 Vgl. etwa Huber, Psychiatrie, 7. Aufl. 2005, S. 438 ff., 440: „verstehen es, ihre Umwelt“ (einschließlich z. B. Ärzten) „für sich einzunehmen“. 11 Vgl. dazu schon Birnbaum, Die psychopathischen Verbrecher, 2. Aufl. 1926, S. 102. 12 Rasch / Konrad, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2004, S. 282. 13 Wagner, u. a., Personality Disorder Styles and Reciprocal interpersonal Impacts during outpatient intake Interviews, in: Psychotherapy Research 9 (2), 1999, S. 216 ff.

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tritt, die Begutachtende wie strafjustiziell Amtierende zur Beurteilung als „sachlich“ bzw. „von beeindruckender Sachlichkeit“ verleiten können, ohne zu erkennen, in welchem Ausmaß sie manipuliert und, zumal bei hysterischen Persönlichkeiten, kommandiert werden14. Zudem können sich besondere Einflussmöglichkeiten histrionischer Persönlichkeiten auch bei Gruppenaussagen ergeben, d. h. bei einer mehr oder weniger übereinstimmenden Einheit von Aussagen solcher Personen, die untereinander in Verbindung stehen und bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie (z. B. auf Grund von Voreingenommenheit oder aber Absprache) ein gemeinsames Ziel anstreben oder aber in einheitlicher Weise i. S. eines bestimmten Aussageinhalts beeinflusst wurden. Dies kann z. B. durch Suggestion oder Intrige oder, vor allem bei unklarer Erinnerung, auch schon durch ein Gespräch etwa während der Wartezeit auf die Vernehmung im Gerichtsflur geschehen. 2. Zur Kasuistik a) Bejahend diagnostizierter Fall In einem Strafverfahren vor dem LG Kiel15 wegen des Tatvorwurfs der Vergewaltigung wurde im Auftrag des Gerichts die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Person einer Zeugin im Alter von Mitte 40 aussagepsychologisch untersucht. Nach einem zuvor erstellten Entlassungsbericht einer medizinisch-psychosomatischen Klinik, die die Zeugin nach dem mutmaßlichen Tatgeschehen aufgesucht hatte, wurden u. a. eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1), eine Essstörung (ICD-10: F 50.9) sowie eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen sowie zwanghaften Zügen (ICD-10: F 60.9) diagnostiziert; von der Patientin seien starke Ängste und Schlafstörungen berichtet worden. Weiterhin hieß es in dem Bericht, die Patientin „stille ihr Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit lediglich in sexuellen Kontakten.“ Sie sei sehr stolz auf ihren für Frauen außergewöhnlichen Beruf als LKW-Fahrerin. Sie habe sich „glücklich und zufrieden gefühlt“, bis sie vor zwei Jahren „von ihrem damaligen Freund brutal vergewaltigt“ worden sei und dabei „fast umgekommen“ wäre. Im Verlaufe der Exploration durch den Sachverständigen habe sich das Aussageverhalten der Zeugin verändert, sie habe schneller, teilweise auch lauter 14 So ist z. B. aus einem Sorgerechtsverfahren (unter Instrumentalisierung auch der Strafjustiz zwecks Ablenkung von den kindesbezogenen Befundtatsachen) die Würdigung des betroffenen Kindes hinsichtlich der Amtierenden als „Lügendiener“ aus der Zeit unmittelbar nach Bekanntwerden einer einstweiligen Anordnung überliefert. Diese Würdigung bestätigte sich auch noch nach 1 – 11/2jähriger Trennung von der Bezugsperson in der endgültigen Entscheidung u. a. insofern, als betreffs Zeichnungen des Kindes, die es zur Vorlage bei Gericht von seinem Aufenthaltsort hinausbefördert hatte, das Gericht wahrheitswidrig formulierte, die Zeichnungen seien in Gegenwart der Bezugsperson entstanden. 15 5 Ns 95 / 04 – 559 Js 25839 / 01. Die knappe Darstellung bezieht sich auf das umfängliche erstattete Gutachten.

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gesprochen, ihre Stimmlage sei höher und sodann zunehmend schriller geworden. Bei der Schilderung der Ereignisse des mutmaßlichen Tatgeschehens sei gelegentlich der Eindruck einer sich überschlagenden Stimme entstanden. Diese Veränderungen in der Stimme seien einhergegangen mit einem ebenfalls zunehmend expressionistisch-manierierten Sprachstil, z. B. sei bei mehrsilbigen Worten jede einzelne Silbe auffällig deutlich betont worden. Die Bewertung von Sachverhalten sei akzentuiert gewesen, z. B. entweder „super“, „toll“, „fantastisch“ oder „furchtbar“, „schlimm,“ Zwischentöne seien deutlich weniger erkennbar gewesen. Bei der Schilderung des Tatvorwurfs habe die Zeugin starke Emotionen bis hin zum Weinen gezeigt. Vor dem mutmaßlichen Tatgeschehen sei sie rundum glücklich und zufrieden gewesen und habe einen Beruf gehabt, den sie „wahnsinnig geliebt“ habe. „Also ich war super glücklich, ganz fantastisch. . . . es war ein fantastisches Leben, was ich genießen durfte,“ und an dem nächsten Termin, „ich hatte ein super schönes, fantastisches, hochinteressantes Leben und ich war super glücklich, super zufrieden und meine ganze Welt war in bester Ordnung, bis zu dem Tag“. Sie habe sich dann gesagt: „Das darfst du gar keinem erzählen. Das darfst du niemandem erzählen, was da passiert ist.“ Es habe jedoch nicht geklappt. Es sei „so abartig brutalst“ gewesen, dass ihr „der Körper die rote Karte gezeigt“ habe. – In Widerspruch hierzu, so ist verlässlich belegt, hat die Zeugin jedoch bereits in den ersten Tagen nach dem mutmaßlichen Tatgeschehen und auch in den darauf folgenden Wochen mit einer größeren Zahl von Personen darüber gesprochen. Zu hausärztlichen Aussagen bezüglich SM-Praktiken im Hinblick auf blaue Flecken am Rücken der Zeugin bzw. dass sie sich gerne fesseln und würgen lasse habe sie gesagt: „Ich bin erschüttert, gelinde gesagt entsetzt.“ Diese Flecken seien durch Massagen mit einem Holzstäbchen entstanden. Sie habe niemals SM Praktiken angewandt. Sie wisse gar nicht was das überhaupt sei. Dies sei alles völlig frei erfunden. Gegenüber den durchzuführenden psychologischen Testverfahren habe die Zeugin zunächst eine Weigerungshaltung eingenommen. In denjenigen Tests, die zusammen die verbale Intelligenz erfassen, habe die Zeugin einen IQ von 108 erreicht, ein Wert, der im Grenzbereich zur Überdurchschnittlichkeit liegt. Bei dieser Einstufung müsse allerdings berücksichtigt werden, dass der Verbal-IQ unter Einbeziehung des sehr schwachen Ergebnisses im Untertest Rechnerisches Denken ermittelt wird. Ohne diesen (möglicherweise durch eine bisher nicht erkannte Teilleistungsschwäche bedingten) niedrigen Wert hätte sich eine eindeutig überdurchschnittliche verbale Intelligenz ergeben. Bei dem FPI-R habe die Zeugin einen sehr niedrigen Wert auf der Skala Offenheit (Stanine 2) erhalten – es handelt sich um eine Kontrollskala, mit der geprüft werden soll, ob eine Tendenz vorliegt, einen guten Eindruck von sich zu erzeugen und zur Erreichung dieses Ziels auch „geschönte“ Antworten zu geben. Die Zeugin habe nur eine einzige der diesbezüglichen Fragen im Sinne einer Offenheit, dem Zugeben kleinerer Schwächen, beantwortet. Insofern handle es sich hier um einen Extremwert.

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b) Nicht diagnostizierter mutmaßlicher Fall In einem Verfahren vor dem LG Wuppertal,16 dessen Verurteilung des Angeklagten am 09. 04. 2001 wegen Vergewaltigung die vorausgegangene Verurteilung durch das AG Solingen vom 05. 09. 200017 bestätigte und seinerseits vom OLG Düsseldorf18 durch Beschluss vom 24. 06. 2002 im Wesentlichen bestätigt wurde, ergaben sich nach einem der beiden von der Strafjustiz in Auftrag gegebenen aussagepsychologischen Gutachten, das die Glaubhaftigkeit der einzigen belastenden Zeugenaussage des mutmaßlichen Opfers verneinte, Anhaltspunkte i. S. der eingangs (vgl. oben 1.) wiedergegebenen Prüfkriterien. Indes war zum einen der Gutachtenauftrag eng auf die aussagepsychologische Würdigung gerichtet, was möglicherweise erklären könnte, warum der Sachverständige von einer typologischen Zuordnung abgesehen hat. Zum anderen kam das andere der beiden Gutachten zu dem Ergebnis einer grundsätzlichen Glaubhaftigkeit der Aussage und verhielt sich an keiner Stelle zu den genannten Prüfkriterien. Dieses Unterlassen blieb schon im Hinblick auf zahlreiche Widersprüche hinsichtlich des sog. Kerngeschehens der Tatvorwürfe unverständlich, die sich nicht etwa mit intellektuellen Defiziten erklären ließen, denn die Zeugin hatte als Schulabschluss Mittlere Reife und absolvierte sodann eine Ausbildung als pharmazeutisch- kaufmännische Assistentin. Nach den gerichtlichen Feststellungen seien die Taten in der gemeinsamen Wohnung begangen worden, aus der die inzwischen 17 Jahre alte Tochter, nach Beurteilung des zunächst beauftragen Sachverständigen „ein gepflegtes, hübsches Mädchen“, ausziehen wollte, um gegen den Willen der Eltern mit ihrer Freundin zusammen leben zu können. Zu Beginn der amtlichen Befassung hingegen äußerte der Sachbearbeiter des Jugendamts gegenüber der Mutter der Zeugin und Ehefrau des Angeklagten, sie könne davon nichts bemerkt haben, denn nach Aussagen der Zeugin ihr gegenüber sei es „im Auto passiert“ – dem eklatanten Widerspruch wurde von den Gerichten nicht nachgegangen. Tage später habe sie dann gegenüber der genannten Freundin auf deren Frage, wie oft es zum GV kam, geantwortet, dass „es viermal war.“ In ihren Aussagen vor den Gerichten hat die Zeugin jedoch zwei Vorfälle mit GV angegeben. Hinsichtlich des Merkmals ggf. suggestiver Beeinflussungsfähigkeit fiel auf, dass eine Ärztin, die von der Zeugin um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gebeten wurde und der sie nach deren Aussage „stockend berichtet“ habe, vom Vater „sexuell missbraucht worden zu sein,“ als Diagnose „Psychische Konfliktsituation nach sexuellem Missbrauch durch den Vater“ bescheinigte. Die Gerichte haben diesen Umstand nicht erörtert, jedoch hat das LG Wuppertal selbst einschlägig relevante Beispiele geliefert: Zum einen, indem es die Äußerung der Zeugin, 16 23 Ns 312(6) Js 1698 / 97 – 83 III. Die knappe Darstellung bezieht sich auf die umfängliche Auswertung von Verf., JR 2004, 358 ff. 17 22 Ls 312 (6) Js 1698 / 97. 18 2 a Ss 274 / 01 – 6 / 02 III.

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sie habe durch das Verfahren „nur Nachteile“ gehabt, schlicht übernahm, obgleich die Zeugin ihr eingangs erwähntes Ziel durchgesetzt hat, zum anderen, indem es – wie schon das AG Solingen – im Urteil Wendungen zugunsten der Zeugin verfasste, die von Einseitigkeit auf der Grundlage von Anteilnahme bis Sympathie gekennzeichnet waren, gleichzeitig aber die Mutter der Zeugin und Ehefrau des Angeklagten mit unsachlichen, durch Tatsachen nicht belegbaren Schlussfolgerungen und Wertungen herabsetzte. Bezüglich des sog. Merkmals der Theatralik ist zu erwähnen, dass die Zeugin anlässlich der von den Gerichten unterstellten Erstbekundung ihrer Freundin gegenüber geäußert habe, „. . . das platzte, platzte irgendwie einfach aus mir heraus,“ dann habe sie angefangen zu weinen, „sie musste auf Toilette und sich übergeben. Sie sagte, sie würde sich so ekeln und es wäre ihr alles so peinlich.“ Bezüglich des späteren Erscheinens bei der Polizei berichteten die Bediensteten, dass „sie immer wieder weinte“, und „völlig hilflos und resignierend“ wirkte, die Zeugin „fiel nun sichtlich zusammen . . . sprach mit sehr leiser Stimme, so dass . . . das Gesagte teilweise schwer verständlich war.“ Auch könnte insofern die Äußerung der Zeugin vor der Polizei als bedeutsam erscheinen, „dass es in ihrem Kopf wie auf einer Autobahn zugehen würde und sie nicht mehr wissen würde, was sie tun sollte.“ Für die Untersuchung bei dem erstbeauftragten Sachverständigen einige Wochen später wird von diesem berichtet: Sie „spricht mit tränenerstickter Stimme,“ und habe sich „bei jeder Gelegenheit aufs Weinen verlegt;“ bezüglich der Untersuchung bei dem zweitbeauftragten Sachverständigen etwa 14 Monate später ist bezüglich des zeitlich ersten Tatvorwurfs berichtet: „fast völliges Versagen der Stimme.“ Aus der Hauptverhandlung vor dem LG Wuppertal wird in dessen Urteil von zwei verbalen Angriffen der Zeugin gegen ihre Eltern – einmal gegen die Mutter, einmal gegen den Vater – berichtet, wobei die Interpretation als „spontane Gefühlsausbrüche“ zumindest verkürzt und einseitig blieb. Über das Verhalten des beschuldigten Vaters formulierte die Zeugin nach den gerichtlichen Feststellungen: er „sprang plötzlich wie vom Blitz getroffen auf und verließ eilend das Zimmer“ bzw., an anderer Stelle, „. . . und rannte aus dem Zimmer.“ Hinsichtlich Planungs- und Kontrollfähigkeit der Zeugin außerhalb des Strafverfahrens steht fest, dass sie bereits vor Erhebung der Tatvorwürfe zwecks Durchsetzung finanzieller Interessen ihren Eltern zu deren Schaden falsche Tatsachen vorspiegelte und dies über mehrere Wochen erfolgreich durchhielt. Im ersterstatteten Gutachten ist bezüglich eines Testverfahrens, also eines Untersuchungsschrittes, bei dem Zeugen nicht mehr über die Kontrolle verfügen, festgehalten: „Eine derartig starke Verweigerung ist uns bisher noch nie vorgekommen.“

II. Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 359 Nr. 5 StPO Für ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten eines aufgrund einschlägiger Falschaussagen zu Unrecht Verurteilten können derartige Entwicklungen bzw. Ver-

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änderungen in der Beurteilung von Aussage oder Person eines histrionischen Zeugen jedoch nur unter engen Voraussetzungen bedeutsam sein: Zum einen müsste es sich um eine neue Tatsache oder um ein neues Beweismittel handeln, zum anderen müsste das Vorbringen bezogen auf den gesetzlichen Wiederaufnahmegrund geeignet sein (§ 359 Nr. 5 StPO). 1. Neue Tatsachen oder neue Beweismittel a) Der Begriff Tatsache wird nach allgemeiner Auffassung im Einklang mit dem materiellen Strafrecht definiert als dem Beweis zugängliche vergangene oder gegenwärtige Vorgänge oder Zustände. Im Wiederaufnahmeverfahren umfasst er im Urteil festgestellte oder aber diesem zugrunde liegende Tatsachen. Dabei können Tatsachen sich auch nur gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage bzw. die Glaubwürdigkeit der Person des Zeugen richten, und zwar unabhängig von einer rechtskräftigen Verurteilung des Zeugen wegen eines Falschaussagedelikts (§ 364 S. 2 StPO); entsprechendes gilt für das Verhältnis der Nr. 5 zu Nr. 2 des § 359 StPO – der erstgenannte Grund wird nicht etwa durch den zweitgenannten verdrängt.19 Insoweit erscheint die Forderung verfehlt, die vorgebrachten Tatsachen müssten sich auf den Nachweis der Falschaussage hinsichtlich des konkreten Verfahrensgegenstandes beziehen,20 vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit eines Vorbringens auch aus sonstigen für das konkrete Verfahren nur mittelbar relevanten Tatsachen ergeben. – Beweismittel sind die förmlichen des Gesetzes, also in der hier erörterten Konstellation in erster Linie Zeugen – einschließlich des mutmaßlich histrionischen Zeugen – und Sachverständige. Wenngleich auch Aussagen des Verurteilten einschlägig als Beweismittel anerkannt sind,21 wird dies in dem hier behandelten Zusammenhang allenfalls ausnahmsweise relevant sein. b) Tatsachen oder22 Beweismittel sind neu, wenn sie von dem seinerzeit erkennenden Gericht nicht oder nur in geringerem Gewicht, als es dem Wiederaufnah19 OLG Düsseldorf GA 1980, 396 f.; OLG Rostock OLGSt StPO § 368 Nr. 1; Schmidt, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 359 Rn. 3. 20 Vgl. BVerfG StV 2003, 226 (ohne Angaben zum Sachverhalt), wonach die Bekundungen neuer Zeugen, dass die Angaben der mutmaßlich Geschädigten gegenüber ihrer Mutter bzgl. eines angeblichen, vom Verurteilten begangenen Missbrauchs unwahr seien, dann nicht für eine Wiederaufnahme ausreichten, wenn dieser Vorgang nicht Gegenstand der Verurteilung war. 21 Vgl. näher Peters, Anm. zu KG JR 1976, 77; Fezer, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 1995, 20 / 68, sofern er ursprünglich geschwiegen hatte (bereits eine Tatsache hingegen die Behauptung des Widerrufs eines Geständnisses); a. A. Marxen / Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Aufl. 2006, Rn. 131; s. im Übrigen Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 675; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, Einl Rn. 49, § 359 Rn. 26; Pfeiffer, in: KK-StPO (o. Fn. 19), Einl. Rn. 94.; Schmidt, in: KK-StPO (o. Fn. 19), § 359 Rn. 3; zur Einheit von Beweismittel und Person Gössel, in: Löwe / Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1997, § 359 Rn. 84.

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mevorbringen entspricht, berücksichtigt wurden.23 Wenngleich sich die Berücksichtigung i. d. R. aus schriftlichen Unterlagen ergeben wird, kann im Einzelfall, auch ohne dass es dergestalt ersichtlich wäre, eine Berücksichtigung stattgefunden haben24 bzw. sich, ohne ausdrücklich erwähnt zu sein, aus dem Zusammenhang der Entscheidungsgründe ergeben. Eine Tatsache ist indes dann nicht neu, wenn sie das unmittelbare Gegenteil einer ausdrücklich festgestellten – und also vom Gericht berücksichtigten – Tatsache ist.25 Anders verhält es sich bei einer solchen Tatsache, die erst gemäß einer aus ihr hergeleiteten Schlussfolgerung zum Gegenteil der festgestellten Tatsache wird.26 Ein Zeuge ist auch dann ein neues Beweismittel, wenn er zwar gehört wurde, nicht jedoch zu dem nunmehr vorgebrachten Beweisthema.27 In dieser Konstellation werden i. d. R. schon die vorgebrachten Tatsachen neu sein. Wenn z. B. die erste oder einzige Verdachtsquelle zur Aufdeckung einer falschen, jedoch scheinbar wahren Tatsachenangabe sich nur über die Persönlichkeit des Zeugen erschließt, kann das betr. §§ 359 Nr. 5, 364 S. 2 StPO relevant sein, soweit die neuen Tatsachen oder Beweismittel sich gegen die allgemeine Glaubwürdigkeit wenden.28 Bedeutsam sind im Übrigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, ob ein anderer Sachverständiger schon deshalb ein neues Beweismittel ist, weil er bisher nicht gehört worden ist29, oder aber (nur) dann, wenn er über überlegene Forschungsmittel verfügt bzw. die Sachkunde des früheren Sachverständigen unzureichend war, wenn dessen Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen ist bzw. wenn es widersprüchlich ist oder wenn nunmehr entscheidungsrelevante neue Anknüpfungstatsachen festgestellt werden.30 Die Frage

22 Sind die Tatsachen bereits bekannt, müssen die Beweismittel neu sein, sind die Tatsachen hingegen neu, können die Beweismittel bereits verwandt worden sein. 23 BVerfG StV 2003, 225. 24 Ein etwaiger Verstoß gegen § 261 StPO ist insoweit ohne Bedeutung, vgl. OLG Hamm GA 1957, 90; Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 94; Krehl, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl. 2001, § 359 Rn. 18. 25 BGH NStZ 2000, 218; OLG Karlsruhe NJW 1958, 1247; a. A. OLG Frankfurt NJW 1978, 841. 26 Vgl. z. B. Peters, Fehlerquellen im Strafprozess Bd. 3, 1974, S. 79; Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), a. a. O. § 359 Rn. 101 f. 27 Vgl. Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 110, Meyer-Goßner (o. Fn. 21), § 359 Rn. 33; s. aber auch Krehl, in: HK-StPO (o. Fn. 24), § 359 Rn. 19, Eschelbach, in: Kleinknecht-Müller-Reitberger, StPO, § 359 Rn. 172. 28 Vgl. auch OLG Düsseldorf VRS 96, 441 (konkret, aber schon die Voraussetzungen dafür verneinend). 29 Vgl. nur Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 119; Krehl, in: HK-StPO (o. Fn. 24), § 359 Rn. 174.

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lässt sich je nach dem Verständnis von der Funktion des Sachverständigen unterschiedlich beantworten, wobei nach der erstgenannten Auffassung die nähere Prüfung teilweise im Rahmen der Geeignetheit (vgl. unten 2.) stattfindet. Im Ergebnis genügt es nicht, wenn der im Wiederaufnahmeverfahren benannte Sachverständige lediglich aufgrund der gleichen Anknüpfungstatsachen zu anderen Schlussfolgerungen kommt. Werden hingegen neue Tatsachen festgestellt, die dem vormaligen Gutachten die Beurteilungsgrundlage zu entziehen vermögen, so ist es unschädlich, wenn auch andere Schlussfolgerungen aus den bereits im Erkenntnisverfahren bekannten Tatsachen gezogen werden.31 Soll der bisherige Sachverständige zu dem Vorbringen gehört werden, er sei inzwischen zu anderen Ergebnissen gekommen, so ist die Tatsache neu. Werden neue Umstände vorgebracht, die nach der Untersuchung durch einen diesbezüglich fachspezialisierten Sachverständigen verlangen32, so liegen schon neue Tatsachen vor; das Gleiche gilt, wenn beanstandet wird, das seinerzeitige Gutachten beruhe im Vergleich zu dem nunmehr beantragten Sachverständigen-Gutachten auf unzureichenden oder gar unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen.33 2. Geeignetheit a) Die konkrete Geeignetheitsprüfung ist nur insoweit gestattet, als sie nicht eine förmliche Beweisaufnahme voraussetzt.34 Stützt sich, wie in der Praxis nicht selten, die Verurteilung wesentlich auf Hilfstatsachen, so hängt die Beurteilung der konkreten Geeignetheit davon ab, inwieweit das neue Vorbringen, sofern es zumindest einzelne der Hilfstatsachen in Frage stellt, auch hinsichtlich der übrigen gegenüber der Verurteilung schlüssig ist35. Hinsichtlich des Umfangs bzw. der Zielrichtung der Geeignetheitsuntersuchung prüft die Judikatur jedoch überwiegend bereits auf der Zulässigkeitsstufe neue Beweismittel bezüglich ihres Beweiswerts, soweit sie dies als ohne förmliche Beweisaufnahme möglich erachtet,36 und zwar ggf. ohne Anwendung der Abs. 3 – 5 des § 244 StPO37. Allerdings soll 30 So die h. M. in der Judikatur, vgl. zu Nachw. nur Schmidt, in: KK-StPO (o. Fn. 19), § 359 Rn. 26, Meyer-Goßner (o. Fn. 21), § 359 Rn. 35. 31 Vgl. OLG Frankfurt StraFo 2006, 114 mit Anm. Wolf. 32 Vgl. OLG Düsseldorf MDR 1973, 952 f. 33 Vgl. OLG Karlsruhe MDR 1972, 800. 34 Vgl. BGHSt 17, 304; OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 272 f. (betreffend die Verneinung der Glaubhaftigkeit der Aussage „von vornherein“); OLG Jena NStZ-RR 2005, 379. 35 Vgl. OLG Hamburg StV 2003, 230; vormals OLG Frankfurt MDR 1975, 511 mit Bspr. Schöneborn MDR 1975, 441, 444. 36 Vgl. etwa BGHSt 17, 304; BGH JR 1977, 218; OLG Jena NStZ-RR 2005, 379; a. A. noch OLG Köln NJW 1963, 968; einschränkend OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 272. 37 Weithin wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Grundsätze des § 244 Abs. 3 StPO nicht maßgebend seien (vgl. etwa OLG Jena NStZ-RR 2005, 379 [konkret aber betreffend die Divergenz hinsichtlich der Tatzeit Erheblichkeit bejahend, im Übrigen unter Hinweis darauf,

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nach der vom BVerfG gebilligten38 fachgerichtlichen Judikatur eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung auch darüber hinaus gestattet sein, soweit nicht solche Entscheidungen vorweggenommen werden, die nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind.39 Hingegen läuft insbesondere die Argumentation der überwiegenden Judikatur dem elementaren beweisrechtlichen Grundsatz zuwider, demzufolge eine Würdigung von Beweisen erst nach deren Erhebung möglich ist. Also stellt sich die Vorwegnahme der Beweiswürdigung, abgesehen von (fest zu umgrenzender) Voraussetzungen verfahrensinterner Widersprüchlichkeit, als unzulässig dar. b) Die Prüfung der Geeignetheit bestimmt sich daher zunächst nach dem Inhalt der Abs. 3 – 5 des § 244 StPO, die für das seinerzeitige ebenso wie für das angestrebte Erkenntnisverfahren verbindlich sind.40 Ist nahe liegend, dass die Beweiserhebung in einem neuerlichen Erkenntnisverfahren aus einem der in diesen Vorschriften genannten Gründe abgelehnt würde, so fehlt es an der Geeignetheit. Indes ist im Rahmen der Wiederaufnahmeprüfung eine enge Auslegung der Vorschriften dergestalt vonnöten, wie sie im Erkenntnisverfahren anerkannt ist. Hinsichtlich § 244 Abs. 3 S. 2 Alt. 4 StPO fehlt es hiernach an der Geeignetheit nur dann, wenn eindeutig ist, dass das Beweismittel zur Sachaufklärung nichts beitragen könnte. Dies ist z. B. nicht ohne weiteres der Fall, wenn die Aussage eines Zeugen nach einem vergleichsweise langen Zeitraum über Wahrnehmungen während eines vormaligen Geschehens beantragt wird.41 – Das Vorbringen, ein Zeuge werde nunmehr anders aussagen als im seinerzeitigen Erkenntnisverfahren, bedingt als eine Voraussetzung für den Erfolg einer Geeignetheitsprüfung eine Erklärung dazu, worauf der Wandel im Inhalt der Aussage zurückzuführen ist.42 Dies könnte im vorliegenden Zusammenhang etwa bei „Abspringen“ eines Zeugen aus einer Gruppenaussage der Fall sein. Indes dürfen die Anforderungen nicht über das hinausgehen, was der Verurteilte vermöge seines Wissens darlegen kann, denn er ist insoweit auf die Mitwirkung dass – entgegen Nr. 18 RiStBV – „fehlerhaft keine Wahllichtbildvorlage“ geschah]; OLG Schleswig SchlHA 2005, 264). 38 BVerfG NStZ 95, 43; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 04. 02. 2002 – 2 BvR 1240 / 01 –; vgl. aber auch BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 20. 02. 2002 – 2 BvR 1743 / 01 –. 39 BVerfG (Kammer) NStZ 1995, 43 sowie HRRS 2007 Nr. 568 Rn. 40, 57; OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 273; Rostock OLGSt StPO § 368 Nr. 1. 40 Ob dies methodisch in entsprechender Anwendung (dafür Peters, Fehlerquellen Bd. 3 (o. Fn. 26), S. 136; Gössel, in: Löwe / Rosenberg [o. Fn. 21], § 359 Rn. 169 ff.) oder eher gewissermaßen im Vorgriff auf das angestrebte Verfahren zu geschehen hat (vgl. Schmidt, in: KK-StPO [o. Fn. 19], § 168 Rn. 10; Marxen / Tiemann [o. Fn. 21], Rn. 231 ff.), ist im Regelfall nicht ausschlaggebend. 41 Vgl. dazu Eisenberg (o. Fn. 9), Rn. 217, 1374 ff., 1394, 1411 ff. 42 Vgl. BGH JR 1977, 218; OLG Düsseldorf GA 1980, 395; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 180; vgl. auch BVerfG NJW 1994, 510.

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des Zeugen angewiesen.43 Dies gilt insoweit unabhängig von der Deliktsart und der Ausgestaltung des Täter-Opfer-Verhältnisses44. Betreffend § 244 Abs. 4 StPO ist Geeignetheit zu bejahen bei Vorbringen in der Zwischenzeit erweiterter wissenschaftlicher Erkenntnisse,45 zudem aber auch schon bei Vorbringen größeren Erfahrungswissens46 bzw. größerer Sachkunde47 des neuen Sachverständigen (vgl. auch oben 1. b).48 3. Prüfungsperspektive und -erwartung a) Bei Prüfung der Voraussetzungen nach § 359 Nr. 5 StPO lässt sich im Zulässigkeits- wie im Begründetheitsverfahren der Ablauf der seinerzeitigen Hauptverhandlung schon im Allgemeinen retrospektiv ebenso wenig erfassen, wie es prospektiv hinsichtlich einer etwaigen neuerlichen Hauptverhandlung der Fall ist. Ein derartiges Sich-Hineinversetzen in das seinerzeit zuständige erkennende Gericht, wie es – systematisch stimmig in Abgrenzung von der Berufung und der Revision – überwiegend verlangt wird, ist verfahrensrechtlich auch nur einigermaßen verlässlich nicht möglich;49 vielmehr birgt es rollenpsychologisch – außerhalb des Gesetzes – eine Tendenz des Beharrens in sich und könnte insofern geradezu als rechtspolitische Fessel interpretiert werden50. Zum einen müssen sich seinerzeit vorhandene oder zukünftig etwa entstehende Eindrücke und Einflüsse nicht aus den Akten ergeben51. Zum anderen klafft regel43 Vgl. OLG Schleswig StraFo 2003, 385; OLG Rostock OLGSt StPO § 368 Nr. 1. Daher bleibt die Darlegungslast ggfs. erheblich hinter (mitunter geforderten) „einleuchtenden Ausführungen“ über die Motive bzgl. eines widerrufenen Geständnisses zurück (vgl. OLG Rostock OLGSt StPO § 368 Nr. 1). So hat das OLG Koblenz (v. 25. 4. 2005 – 1 Ws 231 / 05 –) es als „fehlerhaft“ bezeichnet, die entlastende Aussage eines Angehörigen mit der Erwägung für falsch zu erachten, er habe „nicht nachvollziehbar“ zu erklären vermocht, weshalb er nicht bereits früher Angaben gemacht hat. 44 Vgl. aber betreffend eine Verurteilung wegen Vergewaltigung OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 179 f., das einerseits vom Antragsteller die „Anführung eines einleuchtenden Motivs“ für die behauptete Falschaussage verlangt, andererseits aber die Geeignetheit einer späteren schriftlichen Erklärung der vormaligen Belastungszeugin – sie verließ Deutschland sodann mit unbekanntem Ziel – gegenüber ihrer Rechtsanwältin ebenso wie einer Vernehmung dieser Rechtsanwältin („nur mittelbares Beweismittel“) in Frage stellt. 45 OLG Hamm StraFo 2002, 168. 46 Vgl. OLG Hamm JR 2000, 382 mit Anm. Gössel. 47 Peters, Strafprozess (o. Fn. 21), S. 675; Marxen / Tiemann (o. Fn. 21) Rn. 236; anders Meyer-Goßner (o. Fn. 21), § 359 Rn. 35, Schmidt, in: KK-StPO (o. Fn. 19), § 359 Rn. 26. 48 Vgl. ergänzend Eisenberg (o. Fn. 9), Rn. 1534, 1535. 49 Vgl. nur Peters, Strafprozess (o. Fn. 21), S. 675; Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 157 ff.; Eschelbach, in: KMR (o. Fn. 27), Vor § 359 Rn. 11: nachträgliche Prophezeiung. 50 Zur Würdigung aus der Sicht Verurteilter vgl. anhand konkreter Verfahrensabläufe Peters, Justiz als Schicksal, 1979.

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mäßig eine mehr oder weniger ausgedehnte Kluft zwischen tatsächlicher und schriftlich niedergelegter Begründung,52 so dass aus dieser schwerlich auf Aspekte der Überzeugung einschließlich der bei jeder Überzeugungsbildung auch vorhandenen intuitiven Elemente, die keinesfalls vollständig dokumentiert werden können,53 geschlossen werden kann. Daher kann es der gesetzlichen Vorgabe der Untersuchung der materiellen Wahrheit allein gerecht werden, wenn das mit der Prüfung befasste Gericht von seiner Sicht ausgeht.54 Davon unberührt bleibt, wenn es Erwägungen über den mutmaßlichen Standpunkt sowohl des seinerzeit zuständig gewesenen erkennenden Gerichts als auch denjenigen des möglicherweise zukünftig zuständigen anstellt und in seine Entscheidung einbezieht. b) Für die Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen der Geeignetheit (§ 368 Abs. 1 StPO) bzw. der genügenden Bestätigung (§ 370 Abs. 1 StPO) gibt das Gesetz einen bestimmten Maßstab oder gar einen Grad an Erwartung bzw. Wahrscheinlichkeit55 dieses oder jenes Verfahrensausgangs nicht vor (vgl. auch Umkehrschluss aus § 360 StPO). Bei dem Zulässigkeitsverfahren handelt es sich, wie aus §§ 368 Abs. 1, 370 Abs. 1 StPO folgt, um eine Schlüssigkeitsprüfung, bei der also die Richtigkeit des Beweisvorbringens unterstellt wird.56 Andernfalls wäre eine Geeignetheitsprüfung, die gewissermaßen eine Gegenüberstellung der Behauptungen mit den Ergebnissen der Beweisaufnahme in der seinerzeitigen Hauptverhandlung voraussetzt, auf dieser Verfahrensstufe nicht möglich. Hinreichend für die Zulassung des Antrags in vollem Umfang ist, dass der geltend gemachte Grund bzw. einer der Gründe die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.57 51 Vgl., wenngleich in anderem Zusammenhang, auch BVerfG, Beschl. v. 14. 6. 2007 – 2 BvR 1447 / 05, 136 / 05 –, wonach sich das Wissen des Tatgerichts unter dem Eindruck der Hauptverhandlung einem Dritten, der die Verhandlung nicht selbst unmittelbar erlebt hat, nur unzureichend vermitteln lässt. 52 Vgl. zu Nachw. Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 40 Rn. 5 – 7; ergänzend ders., FS Jung, 2007, S. 127 ff. 53 Vgl. Frister / Deiters, in: Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, § 370 Rn. 12. 54 Ebenso schon Peters, Strafprozess (o. Fn. 21), S. 675 f.; Hanack, JZ 1974, 19 f.; Schünemann, ZStW 84 (1972), 902 ff.; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1984, S. 325; Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 162. Vgl. aus der Rspr. auch OLG Stuttgart StV 1990, 539 f.; a. A. die ganz überwiegende Rspr., vgl. BGHSt 17, 304; 19, 366; NStZ 2000, 218, deren Auffassung zudem entgegensteht, dass – begründet mit dem Beratungsgeheimnis – die seinerzeit tätig gewesenen Richter nicht gehört werden dürfen (BGHSt 19, 366). 55 Vgl. aber etwa OLG Karlsruhe Die Justiz 1979, 237; OLG Hamm JMBl. NRW 1990, 140. 56 Vgl. schon RGSt 57, 318; OLG Bremen NJW 1957, 1731; Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Bd. II, § 368 Anm. 1; Strate, GS Karlheinz Meyer, 1990, S. 469 ff. Vgl. auch BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats) NJW 1995, 2025 dazu, dass den Schuldspruch wesentlich tragende Tatsachen der Feststellung in der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben müssen.

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Gegenstand der Begründetheitsprüfung ist die Würdigung der nach § 369 StPO vorgenommenen Beweisaufnahme, und zwar betreffend die Beweiskraft ebenso wie der etwaigen Erschütterung der Feststellungen im rechtskräftigen Urteil.58 Beruht der Schuldspruch auf mehreren gleichgewichteten Beweisanzeichen und wird (auch nur) eines davon erschüttert, so wird Begründetheit zu bejahen sein.59 – Eine Abstufung i. S. hinreichender Wahrscheinlichkeit ist – entgegen verbreiteter Judikatur60 – von Gesetzes wegen nicht vorgegeben; werden hingegen neue Tatsachen festgestellt, die dem vormaligen Gutachten die Beurteilungsgrundlage zu entziehen vermögen, so ist es unschädlich, wenn auch andere Schlussfolgerungen aus den bereits im Erkenntnisverfahren bekannten Tatsachen gezogen werden61. Andererseits bleibt das Kriterium der bloßen Möglichkeit der Richtigkeit des Wiederaufnahmevorbringens62 sprachlich hinter den gesetzlichen Fassungen zurück;63 es genügen „ernste Gründe“64 für die Beseitigung des rechtskräftigen Urteils bzw. „ernsthafte Zweifel“65 an dessen Vereinbarkeit mit der materiellen Wahrheit.

BGH NJW 1966, 2177; OLG Jena NStZ-RR 2005, 379. Vgl. nur Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 18 ff. 59 Vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8. 10. 2004 – 3 Ws 100 / 04 –: „da davon auszugehen ist“, dass das Tatgericht ohne dieses Indiz nicht verurteilt hätte. 60 BVerfG NStZ 1990, 499; BGHSt 42, 323; OLG Stuttgart StV 1990, 539; OLG Karlsruhe GA 1974, 250; Die Justiz 1984, 308; OLG Frankfurt StV 1996, 139. Vgl. aber auch BVerfG HRRS 2007 Nr. 568 Rn. 38, 56: Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG wegen wesentlicher Verschlechterung effektiven Rechtsschutzes. – Speziell bezüglich § 359 Nr. 5 StPO wurde in Anlehnung an § 170 Abs. 1 StPO auch darauf abgehoben, ob die Urteilsfeststellungen so erschüttert seien, dass genügender Anlass zur Erneuerung der Hauptverhandlung bestehe (vgl. Meyer-Goßner [o. Fn. 21], § 370 Rn. 4 m. w. N.). Das bedeutet in der praktischen Auswirkung „im Zweifel für die Rechtskraft“, was gleichsinnig wäre mit „in dubio contra reum“. 61 Vgl. betreffend die Divergenz hinsichtlich der Tatzeit etwa OLG Koblenz, Beschl. v. 25. 4. 2005 – 1 Ws 231 / 05 –. 62 Vgl. dazu Schünemann, ZStW 84 (1972), 870; Frister / Deiters, in: SK-StPO (o. Fn. 53), § 370 Rn. 13; zum Ganzen Wasserburg (o. Fn. 54), S. 189; vgl. zur konkreten Möglichkeit Wasserburg / Eschelbach, GA 2003, 335, 350. 63 Dies lässt sich auch nicht etwa unter Zuhilfenahme des Grundsatzes in dubio pro reo vertreten, da dieser erst zur Anwendung gelangen darf, wenn die tatsächlichen Feststellungen getroffen und gewürdigt worden sind. Dem steht nicht entgegen, dass sich dieser Grundsatz dann auf die Prüfung im Wiederaufnahmeverfahren auswirkt, wenn seine Anwendung in einer etwaigen neuerlichen Hauptverhandlung ausnahmsweise verlässlich prognostiziert werden kann (OLG Karlsruhe Die Justiz 1984, 308; Wasserburg [o. Fn. 54], S. 196; Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 1122; Gössel, in: Löwe / Rosenberg [o. Fn. 21], § 370 Rn. 23; ähnlich Marxen / Tiemann [o. Fn. 21], Rn. 222). 64 Vgl. OLG Stuttgart StV 1990, 539 f.; Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 153 . 65 Vgl. OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454; s. vormals schon Hanack a. a. O. S. 403. 57 58

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III. (Vorläufiges) Fazit Das dauerhaft selbstbezogene Verhalten histrionischer Persönlichkeiten führt mitunter nach gewissen Zeiträumen zu Vorbehalten bis hin zu Ablehnung durch Dritte,66 zumal wenn sich Zweifel an dem Wahrheitsgehalt früherer Äußerungen einstellen. Andererseits wird berichtet, dass oftmals zumindest bestimmte Umgebungspersonen oder, wenngleich insoweit ggf. dienstliche Schutzfunktionen bedeutsam sein mögen, auch seinerzeit Amtierende dauerhaft keinerlei Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage histrionischer Zeugen hegen.67 Insofern sind die Chancen auf Entdeckung der Zusammenhänge eines Fehlurteils aufgrund von Falschaussagen eines histrionischen Zeugen im Allgemeinen äußerst gering. Etwas günstiger könnte es sich bei beeinflussten Gruppenaussagen im Falle des „Abspringens“ eines (oder mehrerer) der Zeugen verhalten, weil insoweit, sofern nur eine der Einzelaussagen falsch ist, es zusätzlicher Beweise bedarf, wenn angenommen werden soll, dass die anderen Einzelaussagen dennoch wahr sind.68 – Andererseits könnte ein Nachweis der kennzeichnenden – normalpsychologisch nicht erklärbaren – Überzeugungskraft gemäß Selbstsicherheit und Unbefangenheit im Auftreten (ggf. unter Beschreibung spezifischster Details69) zumindest zu Zweifeln an der allgemeinen Glaubwürdigkeit der Person eines histrionischen Zeugen führen.70 Der Frage, ob ein neues Beweismittel oder eine neue Tatsache vorliegt, kann im Einzelfall Bedeutung zukommen, wenn die Aussage zu dem seinerzeitigen Beweisthema in unqualifizierter Weise gewürdigt wurde. Auch (und besonders) betreffend histrionische Zeugen ist dies etwa dann der Fall, wenn Wendungen wie „überzeugender Eindruck“, „Sachlichkeit“ bzw. „Sicherheit“ des Zeugen71 an Stelle tatsachenbegründeter Erörterung verwandt werden. Indes ist ansonsten davon auszugehen, dass histrionische Persönlichkeiten gemäß ihren Fähigkeiten (vgl. oben I. 1.) eher selten Tatsachen zulassen werden, die eine Wiederaufnahme rechtfertigen. Soweit im Einzelnen ein weiterer Sachverständiger auch dann als neu zu beurteilen ist, wenn er sich auf eine größere72 oder gar auf eine überlegene73 Sach66 Vgl. dazu Tölle / Windgassen, Psychiatrie, einschließlich Psychotherapie, 14. Aufl. 2006, S. 121. 67 Vgl. etwa Birnbaum (o. Fn. 11), S. 102 f. 68 Vgl. zur Tragweite etwa schon Peters, Strafprozess (o. Fn. 21), S. 408; s. auch KG JR 1984, 393 mit nur teilweise zust. Anm. Peters. 69 Vgl. schon Leferenz, Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit, in: Göppinger / Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie, 1972, Bd. II, S. 1334. 70 S. aber auch betreffend „hysterische Neurose“ BGH StV 1996, 368. 71 Zu empirischen Einwänden vgl. Eisenberg (o. Fn. 9), Rn. 1406 ff. 72 Peters, Fehlerquellen Bd. 3 (o. Fn. 26), S. 97 f.; Wasserburg (o. Fn. 54), S. 312; a. A. OLG Düsseldorf NStE Nr. 11 zu § 359 StPO; Gössel, in: Löwe / Rosenberg (o. Fn. 21), § 359 Rn. 172 f., Meyer-Goßner (o. Fn. 21), § 359 Rn. 35. Eine Verengung auf „Überlegenheit“ wird deshalb der Pflicht zur Aufklärung der materiellen Wahrheit nicht gerecht, weil eine

Histrionische Zeugen und Wiederaufnahme des Verfahrens

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kunde berufen kann, so dass sein Gutachten ein für das rechtskräftige Urteil tragendes Gutachten zu erschüttern vermag, wird speziell betreffend Überzeugungstechniken histrionischer Zeugen die Frage wesentlich sein, ob der seinerzeit eingesetzte Sachverständige mögliche Fehlerquellen in methodisch geeigneter Weise ausgeschlossen hat. Hinsichtlich der Frage nach der Prüfungsperspektive ist zu berücksichtigen, dass die Überzeugungskraft im Ausdruck als zentrales Wesensmerkmal histrionischer Zeugen (vgl. oben I. 1.) nicht – oder zumindest nicht in geeigneter Weise – dokumentierungsfähig ist. Insoweit müsste das Bemühen um ein Sich-Hineinversetzen unvermeidbar scheitern.

solche Wertung zwar z. B. im Bereich exakter Naturwissenschaften unzweifelhaft abgegeben werden, in verschiedenen, forensisch nicht selten relevanten Fachgebieten hingegen verlässlich kaum vorgenommen werden kann. 73 OLG Düsseldorf NStZ 1987, 245; einschränkend BGHSt 39, 84.

Erkennungsdienstliche Maßnahmen – Überlegungen zu einer Reform der §§ 81b 2. Alt., 81g StPO Von Helmut Frister

I. Einführung Knut Amelung schaut gern über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaus und richtet seinen Blick dabei häufig auf das öffentliche Recht. Dies hat mich auf den Gedanken gebracht, ihm zu Ehren ein Thema zu behandeln, dass nach traditioneller Auffassung zumindest zum Teil materiell polizeirechtlicher Natur ist und deshalb in der Strafrechtswissenschaft zwar des Öfteren punktuell, aber selten im systematischen Zusammenhang behandelt wird. Gegenstand der folgenden Überlegungen sind sowohl die traditionellen erkennungsdienstlichen Maßnahmen im Sinne des § 81b 2. Alt. StPO als auch ihr modernes „molekurgenetisches Gegenstück“1, die Erstellung von DNA-Identifizierungsmustern zur Verwendung in künftigen Strafverfahren nach § 81g StPO. Beide Eingriffe dienen in prinzipiell gleicher Weise der Identifizierung des Betroffenen in künftigen Strafverfahren und tragen in ganz erheblichem Umfang zum Erfolg polizeilicher Ermittlungen bei2. Von den traditionellen erkennungsdienstlichen Maßnahmen gilt dies in besonderem Maße für die Fingerabdrücke. Sie werden beim Bundeskriminalamt in einem automatisierten Fingerabdruckidentifizierungssystem (AFIS) zentral gespeichert. Derzeit sind dort die Fingerabdrücke von etwa 3.270.000 Personen erfasst. Der Zugriff auf AFIS dauert nur wenige Minuten und ist seit 2006 über einen mobilen Einzelfingerscanner sogar vom Streifenwagen aus möglich. Es gibt im Durchschnitt 30.000 Anfragen pro Monat. Die Trefferquote ist hoch. Im Jahr 2006 lag sie bei etwa 45%, d. h. in etwa 162.000 Fällen konnten die eingescannten Fingerabdrücke bestimmten Personen zugeordnet werden. Nach § 81b 2. Alt. StPO hergestellte Lichtbilder erlangen aufgrund fortschreitender Technik ebenfalls immer größere Bedeutung. Seit Mitte 2003 werden Lichtbilder bundesweit nur noch digital aufgenommen und beim Bundeskriminalamt gespeichert. Die Zentrale LichtKühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 491; Rogall, in: SK-StPO, § 81b Rn. 10. Die folgenden Zahlen entstammen sämtlich der homepage des Bundeskriminalamts (http: //www.bka.de). 1 2

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bildsammlung (ZLS) des Bundeskriminalamts verfügt bereits über digital gespeicherte Bilder von 1.700.000 Personen. Die seit 1998 aufgebaute DNA-Analyse-Datei des Bundeskriminalamts ist zwar noch deutlich kleiner, umfasste aber zum 31. 12. 2007 immerhin auch schon die DNA-Identifizierungsmuster von 524.782 Personen. Hinzu kamen 123.862 sogenannte Spurendatensätze, d. h. DNA-Identifizierungsmuster, die eine noch unbekannte Person am Tatort zurückgelassen hat. Der Umfang der Datei wächst schnell. Jeden Monat werden mehr als 9.000 neue Datensätze erfasst. Dem stehen in der gesamten Zeit seit 1998 nur etwa 59.000 gelöschte Datensätze gegenüber. Dementsprechend hat sich die Zahl der erfassten Datensätze allein im Jahr 2007 um mehr als 106.000 erhöht. Von der Errichtung der Datei bis zum 31. 12. 2007 konnte in 47.370 Fällen eine eingegebene Spur dem DNA-Identifizierungsmuster einer der in der Datei gespeicherten Personen zugeordnet werden. In 15.269 Fällen konnte immerhin eine Übereinstimmung mit einem Spurendatensatz festgestellt und damit ein Zusammenhang zwischen verschiedenen Taten hergestellt werden. Die Trefferquote ist zwar noch deutlich niedriger als bei den Fingerabdrücken, lag aber Ende 2006 immerhin auch schon bei 27,8 %. Die rechtliche Diskussion der genannten Maßnahmen war in den letzten Jahren von der Frage geprägt, ob und inwieweit DNA-Identifizierungsmuster dem herkömmlichen Fingerabdruck vergleichbar sind. Während sie anfangs zumeist als schwerwiegenderer Eingriff bewertet und deshalb im Gesetz vergleichsweise restriktiv geregelt wurden, gewann in der Folgezeit die Auffassung an Boden, dass die Intensität des Eingriffs nicht über einen herkömmlichen Fingerabdruck hinausgehe3. In der Tat lassen sich aus den beim Bundeskriminalamt gespeicherten Identifizierungsmustern jedenfalls nach derzeitigem Erkenntnisstand4 keine Rückschlüsse auf persönlichkeitsrelevante Merkmale wie Erbanlagen, Charaktereigenschaften oder Krankheiten ziehen. Zwar können solche persönlichkeitsrelevanten Merkmale mittels einer DNA-Analyse ermittelt werden, jedoch wären dafür neben der Erstellung des Identifizierungsmusters zusätzliche genetische Tests erforderlich, die das Gesetz explizit verbietet. Die Intensität des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht geht deshalb bei der DNA-Identifizierung lediglich insofern über den herkömmlichen Fingerabdruck hinaus, als ein Missbrauch des Verfahrens naturwissenschaftlich möglich ist. Diese Missbrauchsgefahr erscheint derzeit so abstrakt, dass sie eine unterschiedliche Behandlung von DNA-Identifizierungsmustern und Fingerabdrücken schwerlich rechtfertigen kann. Daher ist die in der rechtspolitischen Diskussion u. a. von 3 Vgl. zum Verlauf der Diskussion Rogall, in: SK-StPO (o. Fn. 1), § 81 f Rn. 3 ff. und § 81g Rn. 7 ff. jeweils mwN. 4 Die Möglichkeit, in Zukunft aus dem Identifizierungsmuster Rückschlüsse auf Persönlichkeitsmerkmale ziehen zu können, ist nach Ansicht einiger Wissenschaftler nicht ganz auszuschließen; vgl. etwa Spencer, Genetic Testimony. A Guide to Forensic DNA-Profiling, 2004, S. 30.

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der Länderjustizministerkonferenz 5 erhobene und vom Bundesrat auch bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse vom 12. August 2005 aufrecht erhaltene6 Forderung nach einer weitgehenden Vereinheitlichung der Regelungen von DNA-Analyse und (sonstiger) erkennungsdienstlicher Behandlung durchaus berechtigt. Verfehlt ist es jedoch, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Regelung der DNA-Analyse notwendigerweise derjenigen für die erkennungsdienstliche Behandlung angeglichen werden müsse. Vielmehr sollte die Entwicklung neuer Identifizierungsmethoden zum Anlass genommen werden, die Voraussetzungen von Grundrechtseingriffen, die eine Identifizierung in künftigen Strafverfahren ermöglichen sollen, insgesamt neu zu durchdenken. Hierzu wollen die folgenden Zeilen einen Beitrag leisten. Sie schöpfen die Thematik allerdings keineswegs aus, sondern erörtern in erster Linie die Grundfrage, ob und in welcher Weise derartige Eingriffe mit einem Strafverfahren gegen den Betroffenen zu verknüpfen sind. II. Die derzeitige gesetzliche Regelung Da eine Totalerfassung der Fingerabdrücke oder DNA-Muster sämtlicher in Deutschland lebenden Personen jedenfalls derzeit aus rechtlichen und politischen Gründen noch nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird, kann sich die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen, die eine Identifizierung in künftigen Strafverfahren ermöglichen sollen, nur aus einer im Vergleich zum „Normalbürger“ erhöhten Wahrscheinlichkeit dafür ergeben, dass in künftigen Strafverfahren eine Identifizierung des Betroffenen erforderlich werden könnte. Als Grundlage für die Annahme einer solch erhöhten Wahrscheinlichkeit dient sowohl bei den traditionellen erkennungsdienstlichen Maßnahmen als auch bei den DNA-Identifizierungsmustern ein Strafverfahren gegen den Betroffenen. Jedoch knüpfen die jeweiligen gesetzlichen Regelungen in unterschiedlicher Weise an dieses Strafverfahren an. 1. Traditionelle erkennungsdienstliche Maßnahmen Obwohl eine rechtskräftige Verurteilung für die Notwendigkeit einer Identifizierung in künftigen Strafverfahren der Natur der Sache nach eine größere Indizfunktion hat als ein noch laufendes und deshalb in seinem Ausgang ungewisses Verfahren, knüpft § 81b 2. Alt. StPO die Maßnahmen zum Zwecke des Erkennungsdienstes ausschließlich an den Status des Beschuldigten an. Da der rechtskräftig Verurteilte nach strafprozessualer Terminologie kein Beschuldigter mehr ist, dürfen 5 Vgl. den Beschluss unter Top II 1 Nr. 2 der 76. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 29. u. 30. Juni 2005; abrufbar unter http: //cdl.niedersachsen.de/blob/ images/C42997734_L20.pdf. 6 Vgl. die in der 813. Sitzung vom 8. Juli 2005 (Plenarprotokoll 284 B) verabschiedete Entschließung zu diesem Gesetz (BR-Drucksache 521 / 1 / 05).

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gegen ihn erkennungsdienstliche Maßnahmen gemäß § 81b 2. Alt. StPO nicht mehr angeordnet werden. Die Strafverfolgungsbehörden müssen damit eine auf diese Vorschrift gestützte Anordnung stets vor dem Abschluss des Verfahrens und damit vor der Widerlegung der für den Angeklagten streitenden Unschuldsvermutung treffen. An dieser Notwendigkeit ändert auch der Umstand nichts, dass die Verwaltungsgerichte, die aufgrund der die Praxis noch immer dominierenden präventivpolizeilichen Einordnung über die erkennungsdienstlichen Maßnahmen in erster Linie judizieren7, der Anknüpfung an den Beschuldigtenstatus nur entnehmen wollen, dass „die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht an beliebige Tatsachen anknüpfen und zu einem beliebigen Zeitpunkt ergehen kann, sondern dass sie aus einem konkret gegen den Betroffenen als Beschuldigten geführten Strafverfahren hervorgehen und jedenfalls auch aus den Ergebnissen dieses Verfahrens die gesetzlich geforderte Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung herleiten muss“8. Denn daraus leiten sie zwar ab, dass ein späterer Wegfall der Beschuldigteneigenschaft infolge der Beendigung des Strafverfahrens die Rechtmäßigkeit der angeordneten Maßnahmen unberührt lasse9. Die Notwendigkeit des Beschuldigtenstatus im Zeitpunkt der Anordnung selbst wird aber nicht in Frage gestellt10. Eine Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen gegen einen bereits Verurteilten kommt deshalb nach geltendem Recht nur aufgrund landesrechtlicher Vorschriften in Betracht. Alle Polizeigesetze der Länder enthalten Regelungen, nach denen erkennungsdienstliche Maßnahmen auch zur Aufklärung künftiger Straftaten zulässig sind11. Zwar wird dieser Zweck in den meisten Polizeigesetzen mit dem Begriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und in einigen auch mit dem der „Verhütung von Straftaten“ umschrieben, jedoch ändert dies nichts daran, dass er in der Sache mit dem des § 81b 2. Alt. StPO identisch ist. Auch die erkennungsdienstliche Behandlung nach Landesrecht dient dem Ziel, den Betroffenen in etwaigen künftigen Strafverfahren identifizieren zu können12. Voraussetzung für die Anordnung ist nach den betreffenden Vorschriften zumeist der einfache Verdacht, dass der Betroffene eine mit Strafe bedrohte Tat begangen hat, sowie die Gefahr, dass er erneut eine solche Tat begehen wird. Deutlich restriktiver ist lediglich die Regelung in Schleswig-Holstein. Dort wird der dringende Verdacht eines Verbrechens oder eines organisiert begangenen Vergehens verlangt (vgl. § 183 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 179 Abs. 2 LVwG SH). Vgl. zur Fragwürdigkeit der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit unter III. 4. BVerwG NJW 2006, 1225, 1226 mwN. 9 BVerwG NJW 2006, 1225, 1226 mwN. 10 Weitergehend Senge, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 81b Rn 7; Fugmann, NJW 1981, 2227 ff. 11 Vgl. die Nachweise bei Rachor, in: Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, Kap. F Rn. 460 ff. 12 Rachor, in: HdB PolR (o. Fn. 11), Kap. F Rn. 461; Baumanns, Die Polizei 2008, 79, 83 f. 7 8

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Unabhängig von der genauen Ausgestaltung der Vorschriften ist problematisch, ob und inwieweit die Länder die Kompetenz zum Erlass derartiger Regelungen haben. Wie das Bundesverfassungsgericht für die DNA-Identifizierungsmuster ausdrücklich entschieden13 und das Bundesverwaltungsgericht inzwischen auch für die traditionelle erkennungsdienstliche Behandlung explizit anerkannt hat14, ist die Vorsorge für künftige Strafverfolgung von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Strafrecht bzw. das gerichtliche Verfahren nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG mit umfasst. Deshalb bleibt für die genannten landesgesetzlichen Vorschriften nur insoweit Raum, als die Regelung des § 81b 2. Alt. StPO nicht als abschließend zu verstehen ist. Dies beurteilt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts danach, ob durch die in Frage stehende bundesrechtliche Regelung der betreffende Sachbereich umfassend und lückenlos geregelt ist oder jedenfalls nach dem aus Gesetzgebungsgeschichte und Materialien ablesbaren Willen des Gesetzgebers abschließend geregelt werden sollte15. In Anwendung dieses Kriteriums wird im Polizeirecht der abschließende Charakter des § 81b 2. Alt. StPO mit der Begründung verneint, dass die Vorschrift den Bereich des allgemeinen Erkennungsdiensts nur während eines laufenden Strafverfahrens und deshalb nur rudimentär regele16. Jedoch stellt sich die Frage, ob es sich dabei nicht um eine bewusste Beschränkung handelt, die nicht durch landesrechtliche Regelungen konterkariert werden darf. Wenn – wie dies die Verwaltungsgerichte in ständiger Rechtsprechung annehmen17 – die in § 81b 2. Alt. StPO erfolgte Anknüpfung an den Beschuldigtenstatus gewährleisten soll, dass die Notwendigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung zumindest auch aus den Ergebnissen eines gegen den Betroffenen als Beschuldigten geführten Strafverfahren hergeleitet wird, dann ist es mit dem Sinn und Zweck der bundesrechtlichen Regelung nicht zu vereinbaren, dass der Landesgesetzgeber die gleichen erkennungsdienstliche Maßnahmen auch ohne ein solches Strafverfahren zulässt. Deshalb sprechen im Ergebnis die besseren Gründe dafür, die Regelung des § 81b 2. Alt. StPO als abschließend anzusehen. Folgt man dem, so können erkennungsdienstliche Maßnahmen gegen einen bereits Verurteilten nach geltendem Recht auch aufgrund landesrechtlicher Regelungen nicht angeordnet werden. 2. DNA-Identifizierungsmuster Die DNA-Analyse zur Identifizierung des Betroffenen in etwaigen künftigen Strafverfahren knüpft in § 81g Abs. 1 StPO ebenfalls an den Status des BeschulBVerfG NJW 2001, 879 f.; vgl auch BVerfG NJW 2005, 2603, 2605 f. BVerwG NJW 2006, 1225, 1226. 15 BVerfGE 98, 265, 300; 109, 190, 229; 113, 348, 371. 16 Rachor, in: HdB PolR (o. Fn. 11), Kap. F Rn. 473; Baumanns, Die Polizei 2008, 79, 84 mwN. 17 BVerwG NJW 2006, 1225, 1226 mwN. 13 14

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digten an. Jedoch lässt die durch das Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse vom 12. August 2005 aus dem bis dahin geltenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in die Strafprozessordnung integrierte Regelung des § 81g Abs. 4 StPO – anders als die Regelung des § 81b 2. Alt. StPO – die betreffenden Maßnahmen ausdrücklich auch gegen den rechtskräftig Verurteilten zu, so dass sich das bei den erkennungsdienstlichen Maßnahmen bestehende Problem, dass die Strafverfolgungsbehörden gezwungen sind, die Anordnung stets vor dem Abschluss des Verfahrens und damit vor der Widerlegung der für den Angeklagten streitenden Unschuldsvermutung zu treffen bzw. zu beantragen, bei der DNA-Analyse so nicht stellt. Jedoch gibt es auch hier insofern eine vergleichbare Friktion, als die DNA-Analyse während des Strafverfahrens unter sehr viel weniger strengen Voraussetzungen zulässig ist als nach dessen Abschluss. Während die Anordnung in einem laufenden Strafverfahren nach § 81g Abs. 1 StPO bereits bei einem einfachen Tatverdacht zulässig ist, darf sie nach dessen Abschluss gemäß § 81g Abs. 4 StPO nur noch erfolgen, wenn der Betroffene entweder verurteilt oder nur wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit, wegen auf Geisteskrankheit beruhender Verhandlungsunfähigkeit oder fehlender oder nicht auszuschließender Verantwortlichkeit im Sinne des § 3 JGG nicht verurteilt worden ist. Voraussetzung für eine Anordnung nach Abschluss des Strafverfahrens ist damit in allen Fällen die Überzeugung des Gerichts von der Täterschaft des Angeklagten. Hat das Gericht den Angeklagten freigesprochen, weil es letzte Zweifel an seiner Täterschaft nicht überwinden konnte, so ist die Anordnung einer DNA-Analyse ungeachtet des in einem solchen Fall nach wie vor bestehenden Tatverdachts nicht mehr möglich. Zeichnet sich ein solcher Freispruch ab, sind die Strafverfolgungsbehörden damit auch bei der DNA-Analyse gezwungen, vor Abschluss des Strafverfahrens tätig zu werden, um die Identifizierung in etwaigen künftigen Strafverfahren zu ermöglichen. Ein genereller Rückgriff auf landesrechtliche Regelungen scheidet bei der DNAAnalyse schon deshalb aus, weil die meisten Polizeigesetze keine Ermächtigung enthalten, zur Aufklärung etwaiger künftiger Straftaten ein DNA-Identifizierungsmuster zu erstellen. Lediglich das Hessische Gesetz über Sicherheit und Ordnung sieht in seinem § 19 Abs. 3 eine DNA-Analyse zur „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ vor18. Jedoch ist diese Regelung auf Strafunmündige beschränkt und darüber hinaus wegen des abschließenden Charakters des § 81g StPO von der Gesetzgebungskompetenz des Landes nicht gedeckt. In Anbetracht der Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber in § 81g Abs. 4 StPO die fehlende Verantwortlichkeit nach § 3 JGG explizit berücksichtigt hat, kann man das Schweigen des Gesetzes zur Strafunmündigkeit nach §§ 19 StGB, 1 Abs. 2 JGG nur als bewusste Entschei18 Im Übrigen sehen Polizeigesetze der Länder die Erstellung von DNA-Identifizierungsmustern lediglich zur Feststellung der Identität einer hilflosen Person oder einer Leiche vor (§ 15a NdsSOG, § 21a ASOG Bln, § 7 Abs. 5 HmbDatenVPolG, § 11a POG RP, § 10a SPolG, § 183a LVwG SH).

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dung gegen eine DNA-Analyse zur Aufklärung etwaiger künftiger Straftaten noch Strafunmündiger interpretieren. Der abschließende Charakter der bundesgesetzlichen Regelung wird hier – anders als bei den traditionellen erkennungsdienstlichen Maßnahmen – auch in der polizeirechtlichen Literatur anerkannt19. III. Reformüberlegungen 1. Verlagerung der Entscheidung an das Ende des Verfahrens Der Gedanke, die Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren mit einem bereits eingeleiteten Strafverfahren gegen den Betroffenen zu verknüpfen, leuchtet im Grundsatz ohne weiteres ein. Ohne den bereits vorliegenden Verdacht einer strafbaren Handlung gibt es – jedenfalls wenn man von dem möglicherweise gesondert zu beurteilenden Fall eines noch nicht strafmündigen Wiederholungstäters absieht20 – kaum eine tragfähige Grundlage für die Prognose, bei dem Betroffenen bestehe in höherem Maß als bei anderen Personen die Wahrscheinlichkeit, dass er strafbare Handlungen bereits begangen hat bzw. sie in Zukunft begehen wird. Die gegenwärtige gesetzliche Regelung der Grundrechtseingriffe zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren ist daher nicht deshalb fragwürdig, weil sie diese Maßnahmen an ein bereits eingeleitetes Strafverfahren knüpft, sondern weil in ihr der dieser Verknüpfung zugrunde liegende Gedanke nicht konsequent zu Ende gedacht ist. Für die Wahrscheinlichkeit weiterer strafbarer Handlungen ist nicht die bloße Existenz eines gegen den Betroffenen geführten Strafverfahrens, sondern der in diesem Verfahren festgestellte Sachverhalt maßgeblich. Dieser steht aber erst mit dem Abschluss des Verfahrens zur Verfügung. Während eines laufenden Verfahrens gibt es nur vorläufige Feststellungen, die sich im weiteren Verlauf immer noch als unzutreffend erweisen können. Insofern ist die durch den Beschuldigtenbegriff vorgenommene Verknüpfung der in Frage stehenden Grundrechtseingriffe mit einem noch laufenden Strafverfahren halbherzig. Da die Frage, ob und inwieweit für eine Identifizierung des Beschuldigten in etwaigen künftigen Strafverfahren Sorge zu tragen ist, für das aktuelle Verfahren keiner Entscheidung bedarf, wäre es konsequent, über sie nicht auf der zweifelhaften Grundlage eines nur vorläufigen Sachverhalts, sondern aufgrund der endgültigen Feststellungen und damit bei Abschluss des Verfahrens zu befinden.

Rachor, in: HdB PolR (o. Fn. 11), Kap. F Rn. 472. Ob insoweit eine Sonderregelung zweckmäßig wäre, soll hier nicht abschließend beurteilt werden. Dagegen spricht jedoch die Überlegung, dass bei einer solchen Sonderregelung die Wiederholungsgefahr allein aus polizeilichen Ermittlungsergebnissen abgeleitet werden müsste, für deren Zustandekommen es im Grunde nicht einmal einen gesetzlichen Ermittlungsauftrag gibt. 19 20

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Dem steht nicht entgegen, dass strafprozessuale Maßnahmen ansonsten stets aufgrund nur vorläufiger Feststellungen getroffen werden. Denn zwischen den Maßnahmen zur Identifizierung des Betroffenen in zukünftigen Strafverfahren und den übrigen strafprozessualen Grundrechtseingriffen bestehen insoweit grundlegende Unterschiede. Weil letztere entweder der Durchführung des laufenden Verfahrens, der Sicherung der späteren Vollstreckung oder der vorläufigen Gefahrenabwehr dienen, sind sie in ihrer Wirkung auf die Dauer des laufenden Verfahrens beschränkt und müssen der Natur der Sache nach während dieses Verfahrens getroffen werden. Die Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren wirken dagegen über die Dauer des laufenden Verfahrens hinaus und erfüllen ihren Zweck grundsätzlich auch dann, wenn sie erst bei Abschluss dieses Verfahrens angeordnet werden. Der Beschuldigte kann dann zwar während des laufenden Verfahrens noch nicht als möglicher Täter einer anderen Straftat identifiziert werden. Jedoch hindert diese seine spätere Bestrafung grundsätzlich nicht, sondern verzögert allenfalls die Ahndung einer schon vor Abschluss dieses Verfahrens begangenen anderen Tat. Auch der Umstand, dass eine solche mögliche Verzögerung im Einzelfall zum Eintritt der Verjährung führen kann, ist kein hinreichender Grund, die den Abschluss des laufenden Verfahrens überdauernde Entscheidung über Maßnahmen zur Identifizierung des Betroffenen in zukünftigen Strafverfahren generell aufgrund nur vorläufiger Feststellungen zu treffen. Man könnte allenfalls daran denken, in Ausnahmefällen vor der Abschlussentscheidung eine vorläufige Anordnung derartiger Maßnahmen zu ermöglichen, aufgrund derer die erkennungsdienstlichen Unterlagen bzw. DNA-Identifizierungsmuster nur bis zu der am Ende des Verfahrens zu treffenden endgültigen Entscheidung genutzt und gespeichert werden dürften. Bei der Beschreibung dieser Ausnahmefälle könnte man sich an den Voraussetzungen der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr orientieren. Eine vorläufige Anordnung von die Identifizierung in anderen Strafverfahren sichernden Maßnahmen wäre danach ausnahmsweise dann zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des § 112 a Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO erfüllt sind und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass der Beschuldigte weitere erhebliche Straftaten gleicher Art entweder bereits begangen hat oder noch vor rechtskräftiger Verurteilung begehen wird. 2. Anordnung aufgrund eines verbleibenden Tatverdachts? Mit der Feststellung, dass über die Anordnung sowohl einer DNA-Analyse als auch (sonstiger) erkennungsdienstlicher Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren grundsätzlich erst bei Abschluss des Verfahrens befunden werden sollte, ist noch nichts darüber ausgesagt, wie die im Verfahren getroffenen Feststellungen beschaffen sein müssen, um eine solche Anordnung zu rechtfertigen. Insbesondere ergibt sich aus der geforderten Verlagerung der Entscheidung an das Ende des Verfahrens nicht, dass eine derartige Anordnung nur nach einer

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rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten möglich sein dürfte. Denn diese Verlagerung rechtfertigt sich aus der Überlegung, die Entscheidung über die betreffenden Eingriffe auf der relativ besten Tatsachengrundlage zu treffen. Ob nur eine auf dieser Grundlage gebildete gerichtliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten oder auch ein auf dieser Grundlage verbleibender Tatverdacht als Anknüpfungspunkt für die Anordnung ausreichen soll, ist gesondert zu entscheiden. Insoweit stellt sich zunächst die Frage, ob die Anordnung einer DNA-Analyse oder (sonstiger) erkennungsdienstlicher Maßnahmen aufgrund eines nach Abschluss des Strafverfahrens verbleibenden Tatverdachts mit der in Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährleisteten und darüber hinaus als Verfassungsgrundsatz anerkannten Unschuldsvermutung21 zu vereinbaren ist. Versteht man die Unschuldsvermutung als generelles Verbot, den Verdacht einer nicht rechtskräftig festgestellten Straftat zum Nachteil des Betroffenen zu verwerten22, so ist diese Frage zu verneinen. Bei einem solchen Verständnis der Unschuldsvermutung lässt sich die Anordnung der betreffenden Maßnahmen aufgrund eines verbleibenden Tatverdachts auch nicht damit rechtfertigen, dass – um eine rechtskräftige Schuldfeststellung überhaupt zu ermöglichen – eine Verwertung des Tatverdachts zur Durchführung des Strafverfahrens selbst stets zulässig sein muss23. Denn diese immanente Ausnahme vom generellen Verbot der Verwertung eines bloßen Tatverdachts würde für Eingriffe, die nicht der Schuldfeststellung im laufenden, sondern lediglich der Identifizierung des Betroffenen in etwaigen künftigen Strafverfahren dienen, gerade keine Geltung beanspruchen. Jedoch kann die Unschuldsvermutung nicht im Sinne eines solch umfassenden Verwertungsverbots verstanden werden, weil ansonsten z. B. auch allgemein als zulässig erachtete Eingriffe zur Gefahrenabwehr oder die Gewährung von Schadensersatz aufgrund einer noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Straftat als Verletzung der Unschuldsvermutung angesehen werden müssten24. Verboten ist durch die Unschuldsvermutung lediglich eine strafähnliche Verwertung des Tatverdachts, d. h. die Legitimation eines Grundrechtseingriffs mit der Erwägung, der Eingriff sei dem Betroffenen deshalb zumutbar, weil er (möglicherweise) eine Straftat begangen habe25. Bei der zur materiellen Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs vor21 Vgl. zu dieser insbesondere Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldvermutung, 1998, passim, der neben einer tiefgründigen dogmatischen Analyse auch eine erschöpfende historische und rechtsvergleichende Darstellung bietet. 22 So etwa konsequent Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, Diss. Bonn 1979, S. 173 ff.; weitere Nachweise bei Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldvermutung, 1988, S. 87 ff., und bei Stuckenberg (o. Fn. 21), S. 483 ff. 23 Vgl. zu dieser in jedem Fall notwendigen Einschränkung des Verwertungsverbots etwa Köster (o. Fn. 22), S. 178; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaftrechts, 1986, S. 51 ff.; Gropp, JZ 1991, 804, 807, 813. 24 Vgl. dazu näher Frister (o. Fn. 22), S. 87 ff., sowie eingehend Stuckenberg (o. Fn. 21), S. 483 ff. 25 Frister (o. Fn. 22), S. 92 ff.; im Ergebnis übereinstimmend Stuckenberg (o. Fn. 21), S. 540.

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zunehmenden Abwägung zwischen den mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen Interessen einerseits und den durch den Eingriff beeinträchtigten Rechten des Betroffenen andererseits darf der Verdacht einer nicht rechtskräftig festgestellten Straftat deshalb nicht dazu herangezogen werden, um die Rechte des Betroffenen geringer zu gewichten. Er kann aber durchaus das öffentliche Interesse an der Vornahme des in Frage stehenden Eingriffs begründen bzw. erhöhen und dadurch den Eingriff im Ergebnis rechtfertigen. Die Anordnung einer DNA-Analyse oder (sonstiger) erkennungsdienstlicher Maßnahmen aufgrund eines nach Abschluss des Strafverfahrens verbleibenden Tatverdachts verletzte damit nur dann die Unschuldsvermutung, wenn die Anknüpfung dieser Maßnahmen an ein bereits eingeleitetes Strafverfahren allein mit der Erwägung zu erklären wäre, eine solch vorsorgliche Registrierung dürfe lediglich (möglichen) Straftätern zugemutet werden. Jedoch rechtfertigt sich diese Anknüpfung – wie dargelegt – daraus, dass eine aufgedeckte Straftat erfahrungsgemäß noch am ehesten die Einschätzung erlaubt, der Betroffene habe möglicherweise weitere noch unbekannte strafbare Handlungen begangen bzw. werde in Zukunft solche Handlungen begehen. Bei einem bloßen Tatverdacht ist diese Indizwirkung zwar geringer als bei einer nachgewiesenen Tat. Aber dies ändert nichts daran, dass auch schon ein verbleibender Tatverdacht das Interesse an einer Identifizierung des Betroffenen in künftigen Strafverfahren erhöht. Die Anordnung einer DNA-Analyse oder (sonstiger) erkennungsdienstlicher Maßnahmen aufgrund eines solchen Verdachts ist deshalb im Ergebnis nicht als Verletzung der Unschuldsvermutung zu bewerten26. Damit obliegt es der rechtspolitischen Wertung des Gesetzgebers, zu entscheiden, ob und inwieweit bereits ein verbleibender Tatverdacht als Anknüpfungspunkt für Grundrechtseingriffe zur Identifizierung des Betroffenen in etwaigen künftigen Strafverfahren ausreichen soll. Die rechtlich durchaus mögliche Radikallösung, derartige Eingriffe nur noch nach einer rechtskräftigen Verurteilung vorzusehen, ist in Anbetracht der eingangs skizzierten großen Bedeutung der in Frage stehende Maßnahmen für die polizeiliche Ermittlungsarbeit jedenfalls für schwerwiegende Straftaten nicht zu empfehlen. Um die Aufklärung solcher Taten nicht zu gefährden, sollte die Sicherung der Identifizierung des Betroffenen in künftigen Verfahren insoweit auch weiterhin bei einem bloßen Verdacht möglich sein. Bei weniger schwerwiegenden Straftaten erscheint es jedoch kriminalpolitisch vertretbar, den Interessen des Verdächtigten den Vorrang einzuräumen. Zur Differenzierung bietet sich der vom Gesetz bei der DNA-Analyse (vgl. § 81g Abs. 1 StPO) bereits verwendete Begriff der „Straftat von erheblicher Bedeutung“ an. Soweit man bei Straftaten ohne eine solche Bedeutung überhaupt die Möglichkeit von Eingriffen 26 Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht die weitere Speicherung und Verwendung im Strafverfahren gewonnener Daten zur Verfolgung künftiger Straftaten aufgrund eines nach einem rechtskräftigen Freispruch verbleibenden Tatverdachts zu Recht nicht als Verletzung der Unschuldsvermutung angesehen (BVerfG NJW 2002, 3231).

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zur Sicherung der Identifizierung in künftigen Verfahren vorsehen will27, sollten diese zumindest eine rechtskräftige Verurteilung voraussetzen. 3. Anordnungskompetenz Bei einer Verlagerung der Entscheidung über die in Frage stehenden Eingriffe an das Ende des Verfahrens liegt es nahe, deren Anordnung mit der Abschlussentscheidung zu verknüpfen. Soweit ein Verfahren bis zur Anklageerhebung gediehen ist, hätte das erkennende Gericht damit nicht nur – wie im geltenden Recht – über eine DNA-Analyse, sondern auch über sonstige erkennungsdienstliche Maßnahmen zur Identifizierung des Angeschuldigten bzw. Angeklagten in etwaigen künftigen Strafverfahren stets selbst zu entscheiden. Dies mag auf den ersten Blick aufwendig erscheinen, rechtfertigt sich jedoch bei näherer Überlegung selbst unter prozessökonomischen Aspekten aus dem Gedanken, dass das Gericht die für eine derartige Anordnung notwendige Würdigung der im Verfahren festgestellten Tatsachen im Rahmen seiner Abschlussentscheidung ohnehin vorzunehmen hat. Vor allem aber passt die im geltenden Recht für die erkennungsdienstlichen Maßnahmen vorgesehene Anordnungskompetenz der Polizei nicht zu der Anknüpfung der in Frage stehenden Maßnahmen an ein bereits eingeleitetes Strafverfahren, weil die Bewertung der Ergebnisse dieses Verfahrens nicht die Sache der Polizei, sondern dem Gericht vorbehalten ist. Ein ernst zu nehmender Einwand gegen die Notwendigkeit einer Anordnung durch das erkennende Gericht könnte sich allerdings noch daraus ergeben, dass ein Freispruch den Angeklagten in den Augen der Öffentlichkeit kaum noch rehabilitiert, wenn das erkennende Gericht selbst in dem freisprechenden Urteil zugleich anordnet, dass er aufgrund eines verbliebenen Tatverdachts zur Sicherung seiner Identifizierung in etwaigen künftigen Strafverfahren erkennungsdienstlich zu behandeln sei. Eine derartige Verfahrensgestaltung wäre in der Tat problematisch, weil sie darauf hinausliefe, den in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrittweise abgeschafften Freispruch mangels Beweises28 in anderer Form wiederaufleben zu lassen. Jedoch zwingt diese Überlegung nicht dazu, die Anordnungskompetenz im Ergebnis doch auf eine andere Institution zu übertragen. Vielmehr kann und sollte dem dargelegten Einwand dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht über Maßnahmen zur Sicherung einer Identifizierung des Angeklagten nicht im Urteil selbst, sondern in einem separaten Beschluss entscheidet, der nicht in öffentlicher Hauptverhandlung zu verkünden, sondern den Verfahrensbeteiligten schriftlich zuzustellen ist29. 27 Das geltende Recht differenziert insoweit bekanntlich zwischen der DNA-Analyse und einer (sonstigen) erkennungsdienstlichen Behandlung. Während für letztere gemäß § 81 b 2. Alt. StPO jede Straftat ausreicht, ist für erstere nach § 81g Abs. 1 StPO im Regelfall eine Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich. 28 Vgl. die Darstellung bei Hilger, in: Löwe / Rosenberg, StPO, Bd. 6, 25. Aufl. 2001, Vor § 467 mN.

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Soweit ein Strafverfahren nicht zu einer Anklageerhebung führt, sondern im Ermittlungsverfahren eingestellt wird, obliegt die Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft. Sie ist als Herrin des Ermittlungsverfahrens für die Bewertung von dessen Ergebnissen auch dann in erster Linie zuständig, wenn die Einstellung – wie regelmäßig in den Fällen der §§ 153, 153a StPO – der Zustimmung des Gerichts bedarf. Dementsprechend sollte bei einer Einstellung im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft darüber entscheiden, ob aufgrund der Ergebnisse des Verfahrens für die Identifizierung in künftigen Strafverfahren die Erstellung eines DNA-Identifizierungsmusters oder eine (sonstige) erkennungsdienstliche Behandlung angezeigt ist. Die im geltenden Recht für die DNA-Analyse vorgesehene präventive Kontrolle durch den Richter (§ 81g Abs. 3 S. 1 StPO) erscheint im Hinblick auf die Funktion des strafprozessualen Richtervorbehalts, im Wege präventiven Rechtsschutzes die bei strafprozessualen Zwangsmaßnahmen typischerweise fehlende Anhörungsmöglichkeit zu kompensieren30, insofern entbehrlich, als bei den Grundrechtseingriffen zur Identifizierung des Betroffenen in künftigen Strafverfahren eine vorherige Anhörung stets möglich ist. 4. Rechtsschutz Der Rechtsschutz sollte in Zukunft einheitlich von den Strafgerichten im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit gewährleistet werden. Die derzeitige Praxis, dass zwar über die Rechtmäßigkeit der DNA-Analyse gemäß § 81 g Abs. 3 S. 1 u. 2 StPO die Strafgerichte, über die der erkennungsdienstlichen Behandlung aber die Verwaltungsgerichte entscheiden, ist schon mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren31. Wie das Bundesverwaltungsgericht explizit anerkannt hat32, dient auch der Erkennungsdienst der Vorsorge für künftige Strafverfolgung und ist deshalb nicht polizeirechtlicher, sondern strafrechtlicher Natur33. Damit ist aber die Entscheidung über die erkennungsdienstliche Behandlung eine Strafsache, die gemäß § 13 GVG den ordentlichen Gerichten zugewiesen ist. Die noch immer gegenteilige Praxis der Verwaltungsgerichte34 nimmt nicht zur Kenntnis, dass das Bundesverwaltungsgericht selbst die Frage des richtigen Rechtswegs in seiner jüngsten Entscheidung ausdrücklich offen gelassen und seine Zuständigkeit in dem zu entscheidenden Fall allein damit begründet hat, dass es als Rechtsmittelgericht gemäß 29 Eine entsprechende Lösung sah das Strafprozeßänderungsgesetz 1964 für die damals noch von einem verbleibenden Tatverdacht abhängige Auslagenentscheidung vor; vgl. dazu Hilger, in: LR-StPO (o. Fn. 28), Vor § 467 mN. 30 Vgl. zu dieser Funktion Frister, in: HdB PolR (o. Fn. 11), Kap. G Rn. 122 mwN. 31 Vgl. dazu eingehend Baumanns, Die Polizei 2008, 79 ff. 32 BVerwG NJW 2006, 1225, 1226. 33 Vgl. dazu näher Frister, in: HdB PolR (o. Fn. 11), Kap. G Rn. 261 mwN. 34 Vgl. etwa OVG Lüneburg BeckRS 2006, 26452; 2007, 27486; VG Aachen BeckRS 2007, 27217; VG Braunschweig NVwZ-RR 2008, 30; VG Freiburg BeckRS 2006, 25011; VG Hamburg BeckRS 2007, 23353; VG Köln BeckRS 2007, 27422, 27423 u. 28094.

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§ 17a Abs. 5 GVG über die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs nicht mehr zu entscheiden habe35. Für die nach der hier vorgeschlagenen Konzeption erst bei Abschluss des Strafverfahrens zu treffende gerichtliche Entscheidung über Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren sollte eine selbständige Anfechtung mit der sofortigen Beschwerde vorgesehen werden. Diese ließe sich wie die Kostenbeschwerde nach § 464 Abs. 3 StPO ausgestalten, so dass bei gleichzeitiger Anfechtung des Urteils das Berufungs- bzw. Revisionsgericht auch für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde zuständig wäre. Soweit die betreffenden Maßnahmen von der Staatsanwaltschaft bei Einstellung eines Ermittlungsverfahrens angeordnet würden, könnte nach den von den Strafgerichten auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten allgemeinen Grundsätzen über den Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe36 in analoger Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO eine Entscheidung des zuständigen Ermittlungsrichters herbeigeführt werden. Diese Rechtsschutzmöglichkeit erscheint unter prozessökonomischen Aspekten37 auch sachgerecht. Ein Bedürfnis nach einer gesonderten Regelung bestünde allenfalls insofern, als auch für den Rechtsschutz gegen die staatsanwaltschaftliche Anordnung von Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren eine Befristung zu erwägen wäre. IV. Fazit Als wichtigstes Ergebnis der vorstehenden Überlegungen ist festzuhalten, dass die Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren zwar einerseits strafprozessualer Natur sind, sich aber andererseits von den übrigen strafprozessualen Maßnahmen insofern grundlegend unterscheiden, als sie in ihrer Wirkung über das laufende Verfahren hinausreichen und ihren Zweck auch dann erfüllen, wenn sie erst bei Abschluss dieses Verfahrens angeordnet werden. Die derzeitige gesetzliche Regelung, nach der auch über diese besondere Form strafprozessualer Maßnahmen schon während des noch laufenden Strafverfahrens aufgrund nur vorläufiger Feststellungen zu entscheiden ist, leidet insofern an einem grundlegenden Konstruktionsfehler. Ihr richtiger Gedanke, die Prognose einer erhöhten Wahrscheinlichkeit noch unbekannter Straftaten an eine (möglicherweise) bereits beganBVerwG NJW 2006, 1225 f. Vgl. für eine zusammenfassende Darstellung dieser Grundsätze Frister, in: HdB PolR (o. Fn. 11), Kap. K Rn. 204 ff. mwN. 37 Systematisch könnte man zwar auch daran denken, entsprechend der für die Anfechtung der Einstellungsentscheidungen selbst geltenden Regelung gegen die mit der Einstellung verbundene Anordnung von Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren die Beschwerde an den Generalstaatsanwalt und die anschließende Entscheidung durch das Oberlandesgericht vorzusehen. Jedoch würde ein solches Verfahren zu einer erheblichen Belastung der Oberlandesgerichte führen. 35 36

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gene Straftat zu knüpfen, sollte konsequent zu Ende gedacht und eine Regelung geschaffen werden, nach der die Entscheidung über Maßnahmen zur Identifizierung in künftigen Strafverfahren grundsätzlich erst am Ende eines laufenden Verfahrens von der Instanz getroffen werden, die für die abschließende Bewertung der Ergebnisse des Verfahrens zuständig ist.

Alle lieben Whistleblowing Von Roland Hefendehl

I. Annäherung* Alle lieben Whistleblowing: Von den Linken bis zur CDU, von der Wissenschaft bis zur Praxis, von den USA bis zu Deutschland. Whistleblower werden vom Time Magazin zur Person of the Year gekürt, ohne effiziente Whistleblowing-Systeme sieht man die Wirtschaft dem Untergang geweiht, weil man Wirtschaftsdelinquenz und Korruption ansonsten nicht Paroli bieten könne. Ohne Whistleblowing wäre der Enron-Skandal nicht aufgedeckt worden, hätte man nie eine Chance gehabt, den Siemens-Sumpf trocken zu legen. Und so macht man sich denn auf die Suche nach der optimalen Methode, unterscheidet interne und externe Modelle und feilt an deren Perfektionierung, so jüngst bei einer Bundestagsanhörung zum Whistleblowing, bei der der Wald wegen vieler Details endgültig aus den Augen verloren war. Whistleblowing scheint dabei als Human Intelligence der kongeniale Partner der technologischen Überwachung und Kontrolle zu sein – ein unschlagbares Duo gleichsam. Die Reinigung des Unternehmens von innen heraus, in die sich das Whistleblowing nahtlos einfügt,1 liegt dabei im gegenwärtigen Trend. Die Trias Corporate Governance, Compliance und Business Ethics beherrscht derzeit ebenso die Diskussion wie das sog. Private Law Enforcement.2 Unter Corporate Governance wird dabei die Lehre von der Leitung und Überwachung von Organisationen verstanden,3 Compliance und Business Ethics sollen als „Säulen“ einer good Corporate Governance fungieren,4 den Gedanken der Selbstregulation verkörpern sowie * Für wertvolle Recherchen danke ich Dr. Jens Puschke und Moritz Feldmann herzlich. 1 Berndt / Hoppler, BB 2005, 2623, 2627 f. 2 Hierzu Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 839 ff. m. w. N. 3 Peltzer / v. Werder, AG 2001, 1; v. Werder, in: Deutscher Corporate Governance Kodex, Kommentar, 2. Aufl. 2005, Vorbem. Rn. 1. 4 Schneider, ZIP 2003, 645, 647; Wieland, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Wertemanagement, 2004, S. 13, 19, 25 f.; Fürst / Wieland, in: Handbuch (a. a. O.), S. 595, 599 f.; vgl. auch Vogel, in: FS Jakobs, 2007, S. 731, 736 sowie McBarnet, British Journal of Criminology 46 (2006), 1091, 1104 ff., die in einer „ethical compliance“ die (einzige) Chance sieht, einer Praxis entgegenzuwirken, in der zwar den Buchstaben des Gesetzes gerade noch Genüge geleistet wird, Sinn und Zweck der Regelungen aber umgangen und unterminiert werden; zur Unterschei-

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die Grenzen der Außensteuerung berücksichtigen.5 Und schließlich haben die Privaten Aufgabe und Ehre zugleich, in die Strafverfolgung einbezogen zu werden. Wer in diesem Zusammenhang von einer Denunziation oder einem Verpetzen zu sprechen wagt,6 wird mitleidig belächelt oder empört in seine Schranken verwiesen. Wer es wage, gegen vielfach dramatische Missstände seine Stimme zu erheben, verdiene einen Orden und gehöre nicht in die Ecke gestellt. Extrempositionen bedürfen – wie so häufig – der Verfeinerung, wollen sie nicht zu einer fast beliebigen Leerformel verkommen: Die Stasi war auch in hohem Maße effizient, gilt aber heute gemeinhin nicht als Vorzeigemodell, und der bloße Hinweis darauf, dass ein Verpetzen ein ungehöriges Verhalten sei, ist gleichfalls nicht mehr als ein dumpfes Gefühl. Im Folgenden möchte ich diesen Weg der Differenzierung einschlagen, und zwar in der folgenden Weise: Zunächst stelle ich das Phänomen des Whistleblowing in seinen unterschiedlichen derzeit praktizierten Spielarten vor (II.). In einem zweiten Schritt werden Thesen und Gegenthesen zum Whistleblowing benannt (III.) und mit den jeweiligen empirischen Erkenntnissen kontrastiert (IV.). In einem weiteren Schritt kommen die bereits existierenden bzw. derzeit aktuell in Planung befindlichen normativen Rahmenbedingungen für das Whistleblowing zur Sprache (V.). Damit sind die Grundlagen für ein Gesellschafts- und Unternehmensmodell gelegt, in dem der Denunziant seinen Platz hat oder nicht (VI.). Gewidmet ist dieser Beitrag Knut Amelung in Verehrung. Seine Arbeiten, in denen er immer wieder andere Wissenschaften so wissend und erhellend zur Problemlösung in Ansatz bringt, sind für mich stets Vorbild und Genuss zugleich. II. Begriff und Phänomene des Whistleblowing Nähern wir uns in einem ersten Schritt dem Begriff und Phänomen des Whistleblowing: 1. Beim Whistleblower handelt es sich um eine Person einer körperschaftlichen Organisation im weitesten Sinne, d. h. eines privatwirtschaftlichen Unternehmens oder einer staatlichen Einrichtung, die über gesetzwidrige oder unethische Praktiken der Organisation an eine dritte Institution berichtet, die dagegen Maßnahmen dung von Compliance- und Integritätsansatz Paine, Harvard Business Review Nr. 2 (1994), 106. 5 Hierzu Bussmann, MschrKrim 86 (2003), 89, 93 f., der insbesondere die strukturellen Systemunterschiede zwischen Wirtschaft und Strafrecht betont. Der Gedanke der Selbstregulation erscheint insbesondere auf streng systemtheoretischer Grundlage als zwingende Konsequenz, da hiernach eine Fremdsteuerung von autopoietischen Systemen aufgrund jeweils verschiedener „Codes“ nicht möglich ist; vgl. hierzu Boers / Theile / Karliczek, Ritsumeikan Law Review 21 (2004), 109, 114, 122. 6 So Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 841 Fn. 145.

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ergreifen kann.7 Die Person muss Insider sein bzw. zumindest einmal gewesen sein.8 Denn ansonsten könnte sie nicht über solche Informationen verfügen, an die Außenstehende – wie die Staatsanwaltschaft – regelmäßig nicht herankommen. Alle jüngst wieder geballt zutage tretenden Versuche, über heimliche Maßnahmen incl. der Spionage an Informationen zu gelangen, haben diametral andere tatsächliche und auch normative Bedingungen des Funktionierens und der Zulässigkeit. Sie bleiben vorliegend außer Betracht. Eine Zwitter- oder Sonderstellung nehmen diejenigen Personen ein, die sich als Teil der Institution gerieren, tatsächlich aber andere Ziele verfolgen: Auf diese Weise funktionierte ein Teil der Stasi, auf diese Weise agieren verdeckte Ermittler. Eine solche Person wählt andere Wege der Informationsweiterleitung, erlangt sie aber auf ähnliche Weise wie der Whistleblower. In einem ersten vorläufigen Schritt soll bei den Informationen nicht danach ausgesiebt werden, ob es sich um aufgedeckte Verhaltensweisen des oberen Managements9 bzw. technisch gesehen um strafrechtlich relevantes Vorgehen handelt. Denn hierbei geht es um Versuche, das Instrument des Whistleblowing wieder zu zähmen, die erst nach einer Analyse des Instituts an sich Berücksichtigung finden sollen.10 2. a) Von großer praktischer und theoretischer Bedeutung erscheint hingegen die Unterscheidung von internem und externem Whistleblowing.11 Wenn der Mitarbeiter seine Informationen gegenüber einer unternehmensexternen Stelle (meist einer Behörde, aber auch den Medien gegenüber) offenbart, spricht man von externem Whistleblowing, anderenfalls von internem Whistleblowing.12 Das Business Keeper Monitoring System13 sowie die Einrichtung eines Ombudsmannes14 nehmen innerhalb dieser Systeme eine Sonderstellung ein: Hier können die Nutzer anonym bzw. 7 Diese allgemeine Definition des Whistleblowing (wörtlich: „Pfeifenblasen, pfeifen“ bzw. „verpfeifen“) geht zurück auf Near / Miceli, Journal of Business Ethics 4 (1985), 1, 4; s. auch Schmidt, International Review of Law and Economics 25 (2005), 143, 148; Rothschild, in: Bryant (Hrsg.), Encyclopedia of Criminology and Deviant Behavior, 2001, S. 421; Granville King III, Journal of Business Ethics 20 (1999), 315. 8 Near / Miceli, Journal of Business Ethics 4 (1985), 1, 4. 9 Vgl. zu einer solchen Beschränkung v. Zimmermann, RDV 2006, 242, 243. Eine derartige Einschränkung widerspricht wohl der Zielsetzung des Whistleblowing-Konzepts, wonach über die Aufbrechung interner Kontrollstrukturen allgemein institutionelle Delinquenz aufgedeckt werden soll. 10 Kritisch hinsichtlich derartig einschränkender Definitionen auch Berndt / Hoppler, BB 2005, 2623, 2624; zur regelmäßig eingeräumten Anonymität des Whistleblowers vgl. u. IV. 6. und VI. 2. 11 Weber-Rey, AG 2006, 406, 407. 12 Vgl. Graser, Whistleblowing: Arbeitnehmeranzeigen im US-amerikanischen und deutschen Recht, 2000, S. 4; Weber-Rey, AG 2006, 406, 407. 13 Hierzu s. http: //www.business-keeper.com [27. 8. 2008] sowie ausführlich u. IV. 1. 14 Z. B. Deutsche Bahn AG; REWE Group; Volkswagen AG; Siemens AG.

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ohne eine direkte Konfrontation mit den Vorgesetzten innerhalb ihres Unternehmens auf Missstände hinweisen. b) Diese unterschiedlichen Spielarten sind jeweils unterschiedlichen Interessen der Beteiligten geschuldet: Während dem Unternehmen daran gelegen ist, möglichst im Stillen an die Information zu gelangen, um negative Publicity zu vermeiden,15 werden die Whistleblower bestrebt sein, durch ihre Maßnahmen keine Nachteile zu erleiden. Aber bereits das sind Mutmaßungen, die eine empirische Bestätigung fordern. Überdies wird die entscheidende Frage diejenige sein, welche Bedingungen positiv erfüllt sein müssen, damit Whistleblower tätig werden. 3. Wann immer Whistleblowing auf der Tagesordnung steht, stets darf der Hinweis auf spektakuläre Fälle nicht fehlen, die nur durch den Einsatz von Whistleblowern aufgedeckt worden seien. Hierzu werden die Bilanzfälschungen bei Enron und WorldCom bzw. die Schmiergeldzahlungen bei Siemens und EADS gerechnet, ferner der Fall des Mitarbeiters einer liechtensteinischen Bank, der Kundendaten mit belastendem Material zu Steuerhinterziehungen an den BND weiterleitete. 16 a) Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf einige dieser prominenten Fälle: aa) Sherron Watkins war bei Enron bis zur Vizepräsidentin des „Corporate Development“ aufgestiegen. Im August 2001 schrieb sie eine anonyme Mail an den damaligen Vorstandsvorsitzenden von Enron, Kenneth Lay, in der sie den Verdacht von Unregelmäßigkeiten in der Buchführung des Konzerns äußerte und zugleich sogar vor möglichen Whistleblowern warnte.17 Nachdem sie ihre Identität preisgegeben hatte, traf sie sich mit Kenneth Lay und wiederholte ihren Verdacht. bb) Cynthia Cooper war bei dem US-amerikanischen Telefonunternehmen WorldCom als Vizepräsidentin der internen Buchprüfungsabteilung beschäftigt. Nachdem sie bzw. Mitarbeiter ihres Teams Hinweise auf die Bilanzfälschungen des Unternehmens18 gefunden hatten, führte sie mit ihrem Team zunächst im Stillen eine genaue Untersuchung durch und präsentierte die Ergebnisse 2002 dem internen „Audit Committee“, bestehend aus Mitgliedern des Vorstands. Öffentlich wurden diese Fälschungen wiederum erst im Laufe der Untersuchung durch den Kongress. cc) Ein prominentes Beispiel für externes Whistleblowing in den USA ist Jeffrey Wigand. Nachdem er von 1988 bis 1993 als Vizepräsident für Forschung und Entwicklung beim US-amerikanischen Zigarettenproduzenten Brown & Williamson Tobacco Corporation

15 Vgl. auch Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 26 Rn. 8; am Beispiel der Korruption Maschmann, in: Dölling (Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, 3. Kap. Rn. 128. 16 Wobei sich die Frage stellt, ob dieses Verhalten noch unter das „klassische“ Whistleblowing fällt, da hier der „Hinweis“ selbst mit einem delinquenten Verhalten einhergeht; zur strafrechtlichen Bewertung dieses Verhaltens s. Sieber, NJW 2008, 881; Trüg / Habetha, NJW 2008, 887. 17 Originaltext abrufbar unter http: //www.itmweb.com/f012002.htm [27. 8. 2008]. 18 Vgl. auch die Nachweise zum WorldCom-Sachverhalt bei Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816 Fn. 1; Brickey, Washington University Law Quarterly 81 (2003), 357, 364 f.; Moberly, Brigham Young University Law Review 2006, 1107, 1117 f.

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gearbeitet hatte, wandte er sich 1995 direkt an einen Fernsehsender und berichtete über die Beimischung bestimmter Inhaltsstoffe im Zigarettentabak, die allein darauf abzielten, die Suchtwirkung des Nikotins zu steigern.19 Dies führte zu einem historischen Prozess von 40 US-amerikanischen Bundesstaaten gegen die Tabakindustrie, der mit einem Vergleich und einer Zahlung von 368 Millionen US-Dollar durch die Tabakindustrie endete. dd) Auch die Ermittlungen im Schmiergeldskandal bei Siemens sind angeblich durch einen anonymen Hinweis aus dem Unternehmen an die Münchener Staatsanwaltschaft im September 2005 ins Rollen gebracht worden.20 Die Identität des Mitarbeiters wird bis heute geheim gehalten, eine Staatsanwältin hat als Zeugin über den Hinweis vor Gericht ausgesagt.21 Anscheinend stammt der Hinweis von Mitarbeitern aus der Buchhaltung, denen Unregelmäßigkeiten bei internen Revisionen aufgefallen waren und die ohne Erfolg intern darauf aufmerksam gemacht hatten.22

b) Das sind in der Tat beeindruckende Fälle, die scheinbar nur einen Schluss zulassen: Das Whistleblowing muss her, und zwar auch in Deutschland. Doch schauen wir uns das Thema näher und weiter an. III. Thesen und Gegenthesen zum Whistleblowing 1. Das effizienztheoretische Basismodell a) aa) Die Argumentation der Protagonisten des Whistleblowing ist denkbar einfach: Die Wirtschaftsdelikte seien Kontrolldelikte mit einem hohen Dunkelfeld. Polizei und Staatsanwaltschaft würden vor der Aufgabe kapitulieren, weiteres Licht in die Wirtschaftsdelinquenz zu bringen. Also seien die Unternehmen selbst bzw. deren Unternehmensangehörige gefordert. Sie verfügten über die vergleichsweise besten Möglichkeiten, hausgemachte Delinquenz zu entdecken und demzufolge auch zur Sprache zu bringen. Hierfür seien Anreize zu schaffen, etwa in Gestalt von Whistleblowing-Systemen. Der Effekt liege in einer gewinnbringenden Synthese von Prävention und Repression und lasse die überholte Dichotomie deutscher Strafrechtswissenschaft von Prävention und Repression hinter sich.23 S. http: //www.jeffreywigand.com/bio.php [27. 8. 2008]. http: //www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/561/170066 [27. 8. 2008]; ferner http: //www.heise.de/newsticker/Siemens-Schmiergeldprozess-Zeuge-bestaetigt-Zahlungen–/meldung /108599/from/rss09 [27. 8. 2008]. 21 S. http: //www.fuldaerzeitung.de/603409 [27. 8. 2008]. 22 http: //www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/561/170066 [27. 8. 2008]; zum Fall Franz Steinkühler vgl. http: //www.whistleblowerinfo.de/4000_beispiele.htm [27. 8. 2008]; zum Fall Paul van Buitenen http: //www.focus.de/politik/ausland/eu-angst-und-arroganz_aid _173673. html [27. 8. 2008]. Im Falle der Weitergabe von Bankkundendaten an den BND kopierte Heinrich Kieber, Mitarbeiter der liechtensteinischen LGT Bank, auf illegalem Wege umfangreiches Datenmaterial der LGT auf eine CD-ROM; vgl. Kölbel, NStZ 2008, 241, 242; Trüg / Habetha, NJW 2008, 887, 887. 23 Bussmann / Matschke, wistra 2008, 88, 94 f. 19 20

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bb) So hat der Sarbanes-Oxley-Act (SOA) aus dem Jahre 200224 in Sec. 301 alle an US-Börsen gelistete Unternehmen verpflichtet, ein „Audit Committee“ einzurichten, das u. a. ein System zu entwickeln hat, nach dem Arbeitnehmer anonym Hinweise bezüglich fragwürdiger Angelegenheiten der Rechnungslegung abgeben können. Unternehmen, die diese Anforderungen nicht erfüllen, sind erheblichen Sanktionen durch die Börsenaufsicht SEC25 ausgesetzt. Ferner besteht die Möglichkeit der Strafmilderung, wenn aus einem Unternehmen heraus eine Straftat begangen wird, sofern das Unternehmen über einen Corporate Governance Codex verfügt, der unter anderem ein internes und anonymes bzw. vertrauliches Hinweissystem für tatsächliches oder mögliches kriminelles Verhalten beinhaltet.26 b) aa) Tatsächlich hat die USA bei der Verbreitung von Whistleblowing-Systemen eine beachtliche Quote erreicht. Sie liegt bei börsennotierten US-Unternehmen bei 94% im Jahre 2005, immerhin noch 70% der in den USA gelisteteten ausländischen Unternehmen verfügen über ein Whistleblowing-System.27 Bussmann / Matschke, die diese Zahlen präsentieren, erweisen sich dabei als glühende Verfechter dieses effizienztheoretischen Basismodells. Es zeige sich, wie sehr deutsche Unternehmen im Bereich der Kriminalprävention hinterherhinken würden. Der US-Gesetzgeber hingegen verfolge seit Jahrzehnten eine konsequente Politik der Zero Tolerance gegenüber Wirtschaftskriminalität. Dabei verfahre er nicht durchweg punitiv, sondern verlange die Einführung zahlreicher kontrollierender und präventiver Maßnahmen – wie eben das Whistleblowing –, um das Risiko derartiger Delikte zu minimieren.28 bb) Nach Bussmann / Werle sind im Bereich der Wirtschaftskriminalität lediglich 5% aller aufgedeckten Fälle auf staatliche Strafverfolgung, 47% hingegen auf interne Hinweise zurückzuführen. 4% davon folgten aus institutionalisierten Whistleblowing-Systemen.29 Unternehmen mit Whistleblowing-Systemen weisen im Allgemeinen eine höhere Aufdeckungsrate als Unternehmen ohne ein explizites Whistleblowing-System auf, wobei allerdings offenbleibt, ob dies auf der ten24 Originaltext des Gesetzes abrufbar unter http: //www.law.uc.edu/CCL/SOact/soact.pdf [27. 8. 2008]. Der SOA diente als Ergänzungsgesetz des United States Code (U.S.C.), gemäß sec. 806 SOA wurde ein entsprechender § 1514A in title 18 U.S.C. eingeführt. Der U.S.C. ist abrufbar etwa unter http: //www4.law.cornell.edu/uscode/ [27. 8. 2008]. 25 United States Securities and Exchange Commission, Kontrollbehörde für den US-amerikanischen Wertpapierhandel mit umfangreichen legislativen, exekutiven und judikativen Befugnissen, s. http: //www.sec.gov/ [27. 8. 2008]. 26 Federal Sentencing Guidelines § 8 B 2.1. (a), (b) (5) (C) i.V.m. § 8 C 2.5. (f) (1), abrufbar unter http: //www.ussc.gov/guidelin.htm [30. 6. 2008]. Ebenso kann bei einer Strafaussetzung zur Bewährung einem Unternehmen die Auflage erteilt werden, ein entsprechendes System zu entwickeln und dem Gericht vorzulegen – Federal Sentencing Guidelines § 8 B 2.1. (a), (b) (5) (C) i.V.m. § 8 D 1.4. (c) (1); zur amerikanischen Rechtslage vgl. auch Mahnhold, NZA 2008, 737, 740 ff. 27 Vgl. Bussmann / Matschke, wistra 2008, 88, 94. 28 Bussmann / Matschke, wistra 2008, 88, 95. 29 Bussmann / Werle, British Journal of Criminology 46 (2006), 1128, 1134 f.

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denziell höheren Sensibilität dieser Unternehmen oder tatsächlich auf dem jeweiligen Whistleblowing-System beruht. Mit der Einrichtung besonderer Whistleblowing-Systeme korreliert ein Rückgang an sonstigen internen und externen Hinweisen. cc) Weitere US-amerikanische Untersuchungen sind der Frage nachgegangen, wie viel Prozent der Angestellten an ihrem Arbeitsplatz sie beeinträchtigendes Fehlverhalten beobachtet haben. Dies war bei immerhin 37% der Fall, wobei sich jedoch in weiteren Studien starke Abweichungen von 7% bis hin zu 82 % je nach konkretem Tätigkeitsfeld innerhalb des Unternehmens ergaben. Die Mehrzahl derjenigen, die ein Fehlverhalten entdeckten, blieb dabei still.30 2. Gegenthesen zum Whistleblowing Diesem von mir so bezeichneten effizienztheoretischen Basismodell möchte ich einige Gegenthesen entgegensetzen und meinen Argwohn in einem ersten Schritt wie folgt begründen: a) Kosten-Nutzen-Kalküle haben mit einer unsteten Variable zu kämpfen, nämlich dem Menschen. Aus diesem Grund haben sich die Wissenschaftszweige der Kognitionspsychologie31 bzw. der Behavorial Law and Economics32 entwickelt. Sie entzaubern diejenigen Ansätze in einem erheblichen Umfang, die über eine Erhöhung der Kosten bzw. verbesserte Angebote menschliches Verhalten zu konditionieren versuchen. Dies ist auch der Grund dafür, dass das Strafrecht als Mittel der Verhaltenssteuerung weitgehend versagt.33 b) Weitere Bedenken kommen hinzu: Welches Whistleblowing-System auch immer eingesetzt wird, stets setzt es darauf, Nachteile vom Whistleblower abzuwenden, indem ihm etwa Anonymität zugesichert wird. Die entscheidende Frage ist damit aber noch nicht beantwortet, diejenige nämlich, warum man sich zu einer Aufdeckung von Missständen bzw. delinquentem Verhalten entschließt. Hier besteht eine Forschungslücke, die ich im Folgenden durch einen Vergleich zur Denunziationsforschung bzw. zum Anzeigeverhalten bei solchen Delikten, die überindividuelle, also nicht unmittelbar den Anzeigenden betreffende Rechtsgüter schützen, schließen möchte. c) Schließlich sind Maßnahmen der Corporate Governance immer daraufhin zu untersuchen, wer hiervon unmittelbar betroffen ist. Die Erkenntnisse etwa im Falle Siemens lassen befürchten, dass das Pflichtenheft gleichsam „nach unten“ durchRothschild, in: Bryant (o. Fn. 7), S. 421. Hierzu grundlegend Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, 1978; Tversky / Kahnemann, Cognitive Psychology, 1973, S. 5; Überblick bei Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218. 32 Hierzu Eidenmüller, JZ 2005, 216; Engel (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007; Sunstein (Hrsg.), Behavioral law and economics, 2000. 33 Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 826 ff. 30 31

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gesteckt wird, auf eine Ebene der Organisation also, bei der überhaupt keine für das Unternehmen in erheblichem Umfange maßgeblichen Erkenntnisse auf legalem Wege erlangt werden können. d) Zugespitzt lauten meine Gegenthesen wie folgt: (1) Das Protegieren von Whistleblowing-Systemen kann die erhofften Ziele nicht oder lediglich sehr eingeschränkt erreichen, weil sich die Gründe für das Whistleblowing nicht über Rational choice bestimmen lassen. (2) Die Gründe für ein Whistleblowing sind eher kulturell bzw. (sozial-)psychologisch, möglicherweise auch organisationssoziologisch begründet. Die derzeit explizit werdenden Umstände einer umfassenden Überwachung innerhalb eines Unternehmens sind einerseits konsequent in dem Sinne, dass der Hinweis auf Corporate Governance und Business Ethics effizienztheoretisch aus der Perspektive der Unternehmensleitung nicht ausreicht, andererseits konterkarieren sie die Idee einer gemeinsamen Verantwortung für das Unternehmen. (3) Das Gros prominenter Whistleblowing-Fälle, die gerne als Beweis für die Unabdingbarkeit dieses Instituts genannt werden, waren solche, die nicht entscheidend von Whistleblowing-Systemen befördert wurden. (4) Wie bei den meisten Corporate Governance-Maßnahmen handelt es sich auch bei Whistleblowing nur scheinbar um eine Methode, die zumindest auch gegen die Unternehmensleitung gerichtet ist. IV. Überprüfung der Thesen und Gegenthesen Dass das Dunkelfeld bei der Wirtschaftsdelinquenz mutmaßlich erheblich ist, soll hier durchaus konzediert werden.34 Das für die Wirtschaftsdelinquenz maßgebliche und prägende Konzept der Corporate Crimes rückt das körperschaftliche, regelmäßig hierarchische Organisationsgepräge sowie die Unternehmenskultur in den Vordergrund.35 Das Unternehmen geriert sich als autopoietisches System, das allenfalls zur Selbstregulierung fähig und der Einflussnahme von außen zu wehren in der Lage ist. – Bedeutet dies also tatsächlich die große Stunde des Whistleblowing?36

Vgl. hierzu Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 819 f. Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 819. 36 Dieners, in: Dölling (o. Fn. 15), 4. Kap. Rn. 93; Bannenberg, Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle, 2002, S. 375 ff.; Ledergerber, Whistleblowing unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung, 2005, S. 13 ff. 34 35

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1. Fakten aus der Backes / Lindemann-Studie Wenden wir uns in einem ersten Schritt den aufschlussreichen empirischen Erkenntnissen zu, die zum Whistleblowing in Deutschland existieren. a) aa) (1) Durch den Einsatz des „Business Keeper Monitoring Systems“ (BKMS), entwickelt von der privaten Business Keeper AG im Jahre 2001, kann der Hinweisgeber unter technisch abgesicherter Geheimhaltung seiner Identität Angaben zu Sachverhalten machen, die seiner Meinung nach jeweils bestimmten Regelverstößen zuzuordnen sind.37 (2) Das LKA Niedersachsen verwendet das BKMS seit Oktober 2003 und hat es speziell auf die Anzeige von Wirtschaftsstraftaten ausgerichtet.38 So können beispielsweise Hinweise zu den Bereichen der fehlerhaften Buchführung oder der Korruption gegeben werden. Die Anzeige erfolgt ausschließlich anonym, die – freiwillige – Angabe persönlicher Daten ist nicht vorgesehen. Offensichtlich bestehen Pläne, das System auch in anderen Bundesländern zu einem staatlich geförderten anonymen Anzeigensystem auszubauen.39 Jüngsten Berichten zufolge sollen auf Wunsch des Bundesfinanzministeriums sogar Delikte der Steuerhinterziehung angezeigt werden können.40 (3) Backes und Lindemann haben den Einsatz des BKMS durch das LKA Niedersachsen im Zeitraum von Oktober 2003 bis Dezember 2004 empirisch untersucht.41 Dabei kommen sie sowohl aus quantitativer als auch aus qualitativer Sicht zu ernüchternden Ergebnissen: Von insgesamt 553 auf den Untersuchungszeitraum entfallenen Meldungen konnten 202 durch das LKA Niedersachsen ohne weiteres „abgelegt“ werden, da sich darunter keine relevanten Strafanzeigen, sondern UlkAnfragen, Gedichte etc. befanden.42 Von den verbleibenden 351 Fällen standen 143 nicht zur Auswertung zur Verfügung, weil etwa die Akteneinsicht verweigert wurde. Die verbleibenden 208 Hinweise führten aufgrund von Mehrfachnennungen zu letztlich 185 Ermittlungsverfahren.43 Hierbei kam es in einem Fall zu einer Ver37 Vgl. http: //www.business-keeper.com/ger_DE/100/grundprinzip.html [27. 8. 2008] sowie Lindemann, ZRP 2006, 127; derzeit verwenden fünf Organisationen das BKMS: das LKA Niedersachsen, die kenianische Antikorruptionsbehörde, die Deutsche Telekom AG, die Kaufmännische Krankenkasse KKH und die AOK Bayern zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns; s. http: //www.business-keeper.com/ger_DE/100/einsatzbereiche. html [27. 8. 2008]. 38 Zugänglich über http: //www.lka.niedersachsen.de [27. 8. 2008] oder – wie erwähnt – über http: //www.business-keeper.com/ger_DE/100/einsatzbereiche.html [27. 8. 2008]. 39 Backes / Lindemann, Staatlich organisierte Anonymität als Ermittlungsmethode bei Korruptions- und Wirtschaftsdelikten, 2006, S. V. 40 Frankfurter Rundschau vom 23. 6. 2008, S. 13; Süddeutsche Zeitung vom 23. 6. 2008, S. 19. 41 Backes / Lindemann (o. Fn. 39); s. auch Backes, StV 2006, 712 ff.; Lindemann, ZRP 2006, 127 ff. 42 Vgl. etwa Fall 250 (Backes / Lindemann [o. Fn. 39], S. 43 f.). 43 Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 19.

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urteilung wegen Verbreitung pornographischer Schriften und Verstoßes gegen das Urheberrechtsgesetz, zweimal erging ein Strafbefehl wegen Betruges, einmal wegen Untreue. Elf Verfahren wurden aus Opportunitätsgründen eingestellt, in zwei Verfahren war der Ausgang bei Abschluss der Studie noch offen. In über 90% der Fälle wurde das Verfahren somit aus tatsächlichen bzw. rechtlichen Gründen gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt oder es ergaben sich keine zureichenden Anhaltspunkte, § 152 Abs. 2 StPO.44 (4) Ein nennenswerter kriminalistischer Ertrag in Gestalt von Verfahren, die mit einer Unrechtssanktion (etwa auch § 153a StPO) endeten, lässt sich somit nicht ausmachen. Das anonyme Anzeigensystem BKMS führte kaum zur Aufdeckung echter (Wirtschafts-)Kriminalität. (5) Für den Bereich der angezeigten (vermeintlichen) Korruptionsdelikte stellten Backes / Lindemann hinsichtlich der Person des anonymen Anzeigenerstatters fest, dass in keinem der angezeigten Fälle ein „Insider“ als unmittelbarer Zeuge korruptiver Vorgänge konkrete, tatsachenbasierte Vorwürfe erhob und bei einer offenen Anzeige offensichtlich oder möglicherweise Repressalien zu fürchten gehabt hätte. Es handelte sich vielmehr um externe Personen, die lediglich Vermutungen über die Rechtmäßigkeit ihnen in den Einzelheiten nicht bekannter Entscheidungen angestellt hatten.45 Das anvisierte Ziel, durch Zusicherung von Anonymität die insbesondere für Korruption, aber auch für die Wirtschaftskriminalität ausgemachte Mauer des Schweigens zu durchbrechen und sonst nicht zugängliche Informationen zu erhalten, wird somit verfehlt.46 bb) Diesem im Hinblick auf die propagierten Ziele äußerst dürftigen Ergebnis standen im Untersuchungszeitraum von Backes / Lindemann mit insgesamt 48 Durchsuchungen und acht Finanzermittlungsmaßnahmen wie dem Abfragen von Kontenbewegungen teils erhebliche, grundrechtsinvasive Ermittlungsmaßnahmen gegenüber.47 b) Diese frustrierende Studie ist insbesondere von den Protagonisten des Whistleblowing-Systems vehementer Kritik ausgesetzt. So wird die Repräsentativität der Studie in Frage gestellt,48 garniert mit vagen Integritätsvorwürfen, die aus der Wis44 Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 97; Backes, StV 2006, 712, 713; Lindemann, ZRP 2006, 127, 128. 45 Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 100 ff. mit zahlreichen Beispielen; Backes, StV 2006, 712, 713 f. 46 Eine „deutliche Aufhellung des Dunkelfeldes“ durch das BKMS trotz dieser Ergebnisse verspricht sich Altenburg, Bucerius Law Journal 2008, 3, 8 a.E. 47 Lindemann, ZRP 2006, 127, 128. 48 S. Antwort des Innenministers Uwe Schünemann auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lennartz und Briese (Grüne) vom 24. 3. 2006, abrufbar unter http: //www.oberlandesgericht-braunschweig.niedersachsen.de/cda/pages/printpage.jsp?C=18586276&N=13619 &L=20&D=0&I=522 [27. 8. 2008]; s. Pressemittelung vom 8. 3. 2006 und Pressekommentar vom 10. 3. 2006, abrufbar unter http: //www.business-keeper.com/ger_DE/300/pressemitteilungen.html #ZSSPOB [27. 8. 2008].

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senschaft kämen. Sie sind aber weder nachgewiesen noch konnten sie von uns ausfindig gemacht werden. Mehr als 140 Meldungen bei einer Gesamtanzahl von 553 Meldungen seien in dem Untersuchungszeitraum von 14 Monaten nicht einbezogen worden. Gerade aus dem Umstand, dass die nicht einbezogenen Fälle aufgrund von noch laufenden Ermittlungen nicht berücksichtigungsfähig gewesen sein sollen, zeige sich ihre besondere strafrechtliche Relevanz und Erfolgsgeeignetheit. c) Diese Methodenkritik ist weitgehend zurückzuweisen: aa) Bei der sozialwissenschaftlichen Beurteilung der Qualität von Dokumenten49 ist die Repräsentativität grundsätzlich dann von Bedeutung, wenn über die analysierten Dokumente hinaus Aussagen bezüglich weiterer Materialien formuliert werden sollen. Von Repräsentativität wird in den Fällen ausgegangen, in denen eine ausreichende Anzahl von Akten in Bezug auf die Gesamtmenge untersucht wurde und diese Akten typisch sind, mithin sich hierin Informationen befinden, die üblicherweise in solchen Akten enthalten sind.50 Aussagen über die Repräsentativität sind bei einer sog. Vollerhebung somit nicht vonnöten. bb) (1) Einer Vollerhebung in Bezug auf die Analyse der Akten der Staatsanwaltschaften standen in der Studie von Backes / Lindemann Einschränkungen entgegen, die dazu führten, dass insgesamt 143 Meldungen bzw. der weitere Umgang mit diesen Meldungen nicht ausgewertet werden konnten. Entgegen der Kritik handelt es sich bei diesen Meldungen allerdings nicht ausschließlich um solche, bei denen die Einsicht in die Verfahrensakten verwehrt wurde, weil Ermittlungen noch andauerten. Dies war nur bei 24 Meldungen der Fall. Bei 38 Meldungen lag der Grund für die Nichteinbeziehung darin, dass Ergebnisse von Nachforschungen der Polizei oder Staatsanwaltschaft bis zum Abschluss der Erhebungsphase noch nicht vorlagen. Bei 19 Meldungen wurde mit Hinweis auf das Steuergeheimnis und bei drei wegen behördeninterner Ermittlungen die Einsicht verwehrt. Weitere 59 Mitteilungen gingen aus anderen Gründen nicht in die Auswertung mit ein, wie denjenigen der mangelnden Relevanz für Korruptionsfälle bzw. der Nichtnachvollziehbarkeit des weiteren Verfahrenganges.51 (2) Weisen die nicht berücksichtigten Akten nun durchschnittlich andere untersuchungsrelevante Merkmalsausprägungen auf als die analysierten, was für die Frage der Repräsentativität bedeutsam wäre? Die vorgebrachten Argumente, eine Verweigerung der Einsicht wegen laufender Ermittlungen deute auf eine längere Ermittlungsdauer und daher auf höhere Erfolgschancen im Verfahren hin, überzeugen nur teilweise. Richtig ist insoweit, dass die Nichteinbeziehbarkeit auf spezi49 In Bezug auf die Erfolgsbewertung liegt der Schwerpunkt der Untersuchung von Backes / Lindemann auf der Dokumentenanalyse, da sich eine Beurteilung der Relevanz der eingegangenen Mitteilungen nur durch eine Auswertung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten erzielen lässt; vgl. Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 16. 50 Vgl. – unter Bezugnahme auf Scott, A Matter of Record – Documentary Sources in Social Research, 1990, S. 6 – Flick, Qualitative Sozialforschung, 2007, S. 325. 51 Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 19.

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fischen Merkmalsausprägungen beruht. Eine besondere untersuchungsbezogene Relevanz dieses Unterschiedes ist jedoch für den größten Teil (59 Mitteilungen, weil nicht den Untersuchungsgegenstand betreffend oder Verfahrensverlauf nicht nachvollziehbar) nicht unmittelbar erkennbar. Entsprechendes gilt auch für die Sperren wegen behördeninterner Ermittlungsvorgänge und aufgrund des Steuergeheimnisses. Diese Gründe lassen Schlussfolgerungen auf die Erfolgsaussichten der nicht einbezogenen Verfahren nur eingeschränkt oder spekulativ zu. Das Nichtvorliegen einer polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Antwort zum Zeitpunkt des Abschlusses der Untersuchungen kann ebenfalls auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden. Eine ist freilich eine hohe Ermittlungsdauer aufgrund der in den Mitteilungen enthaltenen oder in der Folgezeit erlangten Informationen. Ebenso kommen aber organisatorische Ursachen in Betracht, die zu einer überlangen Verfahrensdauer führten. Gleiches gilt grundsätzlich auch für die Verweigerung der Einsicht mit der Begründung noch laufender Ermittlungen. Jedoch kann durchaus davon ausgegangen werden, dass in einem bestimmten Anteil dieser 24 Verfahren Hinweise besondere Aufmerksamkeit der Ermittlungsbehörden erregten, die zu intensiveren und daher auch länger andauernden Verfahren geführt haben. Auch für diese Fälle sind unmittelbare Rückschlüsse auf relevante oder gar im Ergebnis für eine Anklage gem. § 170 Abs. 1 StPO ausreichende Hinweise unzulässig. Schließlich ging es nach Auskünften des LKA Niedersachsen nur in drei der Verfahren, in denen wegen noch laufender Ermittlungen die Einsicht verweigert wurde, um untersuchungsrelevante Korruptionsdelikte.52 cc) Festzuhalten bleibt somit, dass sich Einschränkungen für die Aussagekraft der Studie durch die nicht einbezogenen 143 Mitteilungen ergeben, diese allerdings nicht auf gravierenden Mängeln der Untersuchung beruhen und allenfalls um den Preis einer zeitlich nicht unbeachtlichen Verzögerung hätten vermindert werden können.53 Zudem ergibt sich eine etwaige eingeschränkte Repräsentativität nicht aus der Gesamtzahl der 143 Mitteilungen, sondern aus einer wesentlich kleineren Anzahl nicht einbezogener Akten, deren untersuchungsrelevante Merkmalsausprägungen von den untersuchten Akten abweichen können. Hierauf wurde aber in der Studie explizit hingewiesen.54 Der Gewichtung in der Evaluation wird des Weiteren eine verengende Bezugnahme auf quantitative Aussagen nicht gerecht. Die Darstellung zeichnet sich durch ausführliche Schilderungen und Bewertungen einzelner Fälle aus und besitzt somit erhebliche qualitative Elemente. Lindemann, ZRP 2006, 127, 128. Dies wäre dadurch möglich gewesen, dass die Erhebung der Meldungen noch deutlicher (in der Studie betrug die Nachauswertungszeit ein Jahr) vor dem Ende der Auswertung der Akten abgeschlossen worden wäre. Insoweit hätte sich der Anteil der nichtauswertbaren Akten, bei denen die Ermittlungen aus zeitlichen Gründen noch nicht abgeschlossen waren, möglicherweise reduzieren lassen. Jedoch erscheint eine mehr als einjährige Frist auch aus Aktualitätsgründen bei einer Pilotevaluation unangemessen. 54 Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 17 Fn. 39; s. auch Lindemann, ZRP 2006, 127, 128. 52 53

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Die Einschränkungen betreffen zudem nur Aussagen bzw. Schlussfolgerungen, die sich auf die Gesamtzahl der untersuchten Fälle beziehen. Beispielsweise spielen die vorgenannten Faktoren bei Aussagen darüber, dass in einer bestimmten Anzahl der Fälle trotz fehlendem Anfangsverdacht ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, von Ermittlungen Betroffene hierüber nach Abschluss dieser Ermittlungen nicht informiert wurden oder eine Strafverfolgung wegen falscher Verdächtigung wegen der zugesicherten Anonymität gegenüber den Anzeigenden nicht stattfinden kann,55 keine entscheidende Rolle. d) Die Untersuchung von Backes und Lindemann ist somit methodisch weitgehend unangreifbar und stellt ein Armutszeugnis für das untersuchte Whistleblowing-System dar. 2. Weitere Evaluation des BKMS-Systems Vermutlich aus diesem Grund wurde die Kriminologische Forschungsstelle des LKA Niedersachsen vom Landtag beauftragt, das BKMS-System erneut zu evaluieren. Der Zeitraum, für den die Mitteilungen untersucht wurden, erstreckt sich vom 30. 10. 2003 bis zum 31. 12. 2005 und betrifft 846 Hinweise. Somit wurde der Untersuchungszeitraum der Backes / Lindemann-Studie um ein Jahr erweitert. Die Evaluation begann im Januar 2007 und sollte bis Ende 2007 abgeschlossen werden. Nach Auskünften des LKA Niedersachsen sind die endgültigen Ergebnisse der Studie indes noch nicht öffentlich zugänglich, da eine Nachfrage des Landtages bisher nicht erfolgt sei und die Zeit zur Konsolidierung der Daten genutzt würde. Zur Verfügung stehen daher lediglich Daten, die aufgrund einer kleinen Anfrage am 17. 9. 2007 vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport im Namen der Landesregierung bekannt gegeben wurden.56 Diese Daten beziehen sich auf 502 der 846 Hinweise und berücksichtigen Auswertungsergebnisse, die bis zum 10. 8. 2007 erzielt wurden.57 Den genannten Daten zufolge führten acht der Mitteilungen zu Anklagen, wovon fünf mit einer Verurteilung endeten. Weitere 13 Hinweise führten zum Erlass eines Strafbefehls.58 Es wurden zudem in 40 der bereits evaluierten Verfahren Finanzermittlungen vorgenommen und „25 Verfahren festgestellt, bei denen im Rahmen der Ermittlungsführung mindestens eine Durchsuchung durchgeführt wurde, deren Ergebnisse nicht zu einer Anklage bzw. Verurteilung geführt haben.“59 Mögen die vorläufigen Ergebnisse der LKA-internen Studie auch bzgl. der Anklage- und Strafbefehlsquote auf eine höhere Effektivität des BKMS-Systems hin55 56 57 58 59

Vgl. Zusammenfassung Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 105. Niedersächsischer Landtag Drucksache 15 / 4073. Niedersächsischer Landtag Drucksache 15 / 4073, S. 4. Niedersächsischer Landtag Drucksache 15 / 4073, S. 5. Niedersächsischer Landtag Drucksache 15 / 4073, S. 6.

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weisen, als sie von Backes / Lindemann festgestellt wurde, so ist die Bewertung dennoch nicht zu revidieren. Auch unter Zugrundelegung dieser Ergebnisse führten lediglich 3,6% aller untersuchten Hinweise zu einer Verurteilung oder einem Strafbefehl. Dem steht die wesentlich höhere Quote von durchgeführten Finanzermittlungen und von – in Bezug auf die Etablierung eines hinreichenden Tatverdachts – erfolglosen Durchsuchungen gegenüber. 3. Erkenntnisse aus dem Anzeigeverhalten Die Anzeigeerstattung gilt für viele Straftaten als erster, hoch selektiver und entscheidender Moment im Prozess der Kriminalisierung60 – und ist demzufolge intensiv kriminologisch untersucht worden. An dieser Stelle wollen wir die Fragestellung weiter fokussieren. Denn erstens geht es ja gerade nicht um die typische Strafanzeige des unmittelbar Betroffenen, und zweitens spielt der Aspekt der Anonymität beim Whistleblowing eine entscheidende Rolle. a) Der letztere Aspekt macht die Erkenntnisse aus der Möglichkeit anonymer Online-Anzeigen für unseren Untersuchungsgegenstand besonders interessant. Hier hat sich ein deutlich erhöhtes Risiko von Falschanzeigen herausgestellt, sei es bewusster oder unbewusster.61 Einen Grund hierfür sieht Puschke insbesondere in der Distanz zwischen Anzeigenerstatter und Strafverfolgungsorganen, die im Falle einer persönlichen Anzeige vorhandene psychologische Hemmnisse zumindest abschwäche.62 Vielfach sucht der Anzeigende auch deshalb die Anonymität, weil er für die Richtigkeit seiner Darstellung gerade nicht persönlich einstehen will.63 b) Über diese Sonderkonstellation der anonymen Anzeige hinausgehend vermag die empirische Forschung zum Anzeigeverhalten möglicherweise weitere Erkenntnisse zu den Motiven für ein funktionierendes Whistleblowing zu liefern. Denn in diesem Kontext werden die Gründe einer Anzeige ebenso wie diejenigen einer Nichtanzeige untersucht. Das Besondere, freilich nicht Überraschende der bisherigen Untersuchungen liegt darin, dass ganz überwiegend solche Straftatbestände im Fokus stehen, die individuelle Rechtsgüter schützen, also etwa das Eigentum oder die Gesundheit. aa) Bei Eigentumsdelikten werden als die wichtigsten Gründe der Anzeige genannt, das gestohlene Gut wiederzuerlangen oder zumindest über eine Versicherungssumme entschädigt zu werden.64 Bei Gewaltstraftaten spielt das Interesse an Koch, NJW 2005, 943. Puschke, MschrKrim 88 (2005), 380, 388; ebenfalls auf die sinkende Richtigkeitsquote bei anonymen Anzeigen hinweisend Pohl, Informationsbeschaffung beim Mitbürger, 2002, S. 140 f. 62 Puschke, MschrKrim 88 (2005), 380, 388. 63 Backes, StV 2006, 712, 714; vgl. aus historischer Sicht auch Koch, Denunciatio, Zur Geschichte eines strafprozessualen Rechtsinstituts, 2006, S. 93 ff., 129. 64 Schwind, Kriminologie, 18. Aufl. 2008, § 20 Rn. 8 ff. 60 61

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einer Bestrafung des Täters eine bedeutsame Rolle, wobei auch hier – zumindest bei nicht gravierenden Delikten – der Kompensationsgedanke sein Anwendungsfeld hat.65 bb) Diese Gründe können in aller Regel bei kollektive Rechtsgüter schützenden Straftatbeständen nicht in Ansatz gebracht werden. Auch bei diesen ist zwar richtigerweise der Bezug zur Gesellschaft und damit zu ihren Gesellschaftsmitgliedern zu verlangen,66 dieser ist aber mediatisiert. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Das bei den Bestechungsdelikten geschützte Vertrauen in die Unbestechlichkeit des Beamtenapparates dient natürlich den Gesellschaftsmitgliedern,67 eine Bestechung etwa würde aber nicht wie bei einem Diebstahl als unmittelbar kalkulierbarer Schaden in Ansatz gebracht werden können. Auch bei einer Steuerhinterziehung etwa ließe sich ein Schaden nur mittelbar dergestalt konstruieren, dass die Solidargemeinschaft den Nichtbeitrag des Delinquenten aufzufangen hat. Diese Verletzungen des Fairnessgrundsatzes und damit Ärger bzw. Neid erscheinen daher am ehesten bei Delikten mit kollektiven Rechtsgütern als der Grund für eine Anzeige. Dies mag auch der Anlass für das Forcieren des treffend so bezeichneten Petz-Portals gewesen sein.68 Wie man aber gemeinhin Kenntnis von steuerstrafrechtlich relevanten Sachverhalten des Nachbarn erhalten soll, bleibt das Geheimnis des Bundesfinanzministeriums. 4. Erkenntnisse aus der Denunziationsforschung Der Begriff der Denunziation im Zusammenhang mit dem Whistleblowing mag auf den ersten Blick erschrecken oder entrüsten.69 Historisch war mit dem Begriff „denunciatio“ allerdings keine negative Wirkung verbunden.70 Und ferner wähle ich die Begriffe Denunziation oder Stasi-Methode deshalb bewusst, weil sich in den letzten Jahren in meinen Augen auch eine bemerkenswerte terminologische Wandlung vollzogen hat: Was man früher mit Abscheu der Stasi zugeschoben hat, wird heute im modernen Gewand als zeitgemäßer, effizienter Ermittlungsansatz verkauft. Konzentrieren wir uns hier aber auf die Motive einer Denunziation: a) Drei Erscheinungsformen lassen sich unterscheiden: Vielleicht überraschend dominieren die Anzeigen aus privaten Motiven, gefolgt von Anzeigen durch Funktionäre des Systems aus Pflichtbewusstsein heraus. Selten bleibt hingegen als dritte Erscheinungsform die Denunziation aus rein politisch-ideologischen Motiven.71 Vgl. Hefendehl, JZ 2000, 600, 607. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 73 ff. 67 Hefendehl (o. Fn. 66), S. 124 ff., 321 ff. 68 Vgl. die Nachweise o. Fn. 40. 69 So etwa die Reaktionen auf der Strafrechtslehrertagung, s. den Bericht von Beckemper, ZStW 119 (2007), 959, 968 [Hellmann], 969 [Dölling]. 70 Vgl. Koch (o. Fn. 63), S. 2; Dohmen / Scholz, Denunziert, 2003, S. 45. 65 66

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Insgesamt ist sich die Forschung weitgehend darüber einig, dass üblicherweise von einer Gemengelage von Motiven ausgegangen werden muss, innerhalb derer die privaten Motive meist eine wesentliche Rolle spielen.72 b) Diese privaten Motive lassen sich beispielsweise durch das Streben nach Teilhabe an der Macht und den Wunsch, einmal bedeutend zu sein und das Geschehen mitzubestimmen, charakterisieren. 73 Der Versuch, besonders in Umbruchszeiten durch Denunziation Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, 74 erfolgt dabei häufig – zumindest vordergründig – auf einer sexuell-moralischen Ebene. In einer Untersuchung von Stephanie Abke zu Denunziationsmustern und Denunziationsverhalten der Jahre 1933 – 1949 finden sich Bemerkungen wie: „Sie ging oft aus und trieb sich mit Männern herum.“75 Häufig fungiert die Denunziation als Waffe sozialer Gruppen zur Exkludierung anderer.76 c) Dies sind keine guten Voraussetzungen dafür, sich auf Denunzianten oder Whistleblower zu verlassen. Sie vermengen Moral und Recht, sie nutzen Denunziationsangebote, um private Probleme zu lösen, und sie kümmern sich erst an hinterer Stelle um die Belange des Unternehmens. Wer daran Zweifel hegt: In der DDR wartete man nicht darauf, dass aus der Bevölkerung Anzeigen eingingen, sondern suchte gezielt Informanten, um verdächtige Personen oder Gruppen auszuhorchen. „Als Inoffizieller Mitarbeiter bewarb man sich nicht, sondern man wurde dazu ,erwählt‘.“77 5. Whistleblowing und kulturelle Bedingungen Auch die Erkenntnisse zur Denunziationsforschung haben gezeigt: Die Akzeptanz von Whistleblowing ist nicht entscheidend von den Rahmenbedingungen abhängig, vielmehr spielen persönliche Einstellungsfragen und hier wiederum die 71

Vgl. Rüping, in: Jerouschek / Marßolek / Röckelein (Hrsg.), Denunziation, 1997, S. 127,

134. 72 Vgl. dazu z. B. Abke, Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte, 2003, S. 347 ff.; Sauerland, 30 Silberlinge, 2000, S. 54 ff.; Sälter, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 153, 156; die tiefenpsychologische Perspektive, die Angst als grundlegendes Motiv für Denunziation sieht, kommt zu ähnlichen Ergebnissen; vgl. dazu Henning, in: Jerouschek / Marßolek / Röckelein (o. Fn. 71), S. 224, 231 f. und Kohte-Meyer, in: Jerouschek / Marßolek / Röckelein (o. Fn. 71), S. 279, 282 f., 289 f. 73 Zu den häufig persönlichen Motiven auch Tinnefeld / Rauhofer, DuD 2008 (im Erscheinen). 74 S. etwa Jerouschek, Historical Social Research 26 (2001; 2 / 3), 44, 51. 75 Abke (o. Fn. 72), S. 168; vgl. auch Sälter, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 153, 160, 162 f. 76 Sälter, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 153, 160, 162. 77 Peine, Bild der Wissenschaft 12 / 2003, 72, 74; s. im Einzelnen auch Pingel-Schliemann, Zersetzen, Strategie einer Diktatur, 2. Aufl. 2003, S. 163 ff.; ferner Tinnefeld / Rauhofer, DuD 2008 (im Erscheinen).

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kulturelle Verwurzelung eine wichtige Rolle.78 Dies stellt gerade auch multinationale Unternehmen mit unterschiedlichen kulturellen Schwerpunkten vor große Herausforderungen. So hat man beispielsweise für Korea festgestellt, dass die Loyalität gegenüber dem unmittelbaren Vorgesetzten größer als gegenüber dem Unternehmen selbst ausfallen kann.79 Als kulturelle Komponenten sind Individualismus, Machtdistanz und Vermeidung von Unsicherheit benannt worden. Bei einer Befragung von US-amerikanischen und taiwanesischen Studierenden ergaben sich erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Akzeptanz von Whistleblowing. Die eher kollektivistisch geprägte taiwanesische Kultur stand diesem Institut deutlich skeptischer gegenüber.80 6. Whistleblowing und Missbrauchsgefahr a) Die Argumentation über den Missbrauch von Instituten – hier des Whistleblowing – ist grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen: Denn ein derartiges Dammbruchargument ist maßlos bzw. witzlos, wenn es nicht selbst gebändigt wird. Das Zuviel eines jeden ist stets verderblich. Soll also das Dammbruchargument ernst genommen werden, ist darzulegen, warum plausible Eskalationsszenarien existieren. b) Hier haben aber die Denunziationsforschung und die Erkenntnisse zur onlineAnzeige zweifelsfrei das nicht nur theoretische Risiko bestätigt, dass die Möglichkeiten, die über das Institut des Whistleblowing eröffnet werden, zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz zweckwidrig genutzt werden. Im Hinblick auf diese gesicherten Heuristiken kann also im vorliegenden Kontext von einem legitimen Dammbruchargument gesprochen werden.81 c) aa) Wegen dieser Motivlage, die sich sowohl bei der Denunziationsforschung als auch bei der Untersuchung von Backes und Lindemann bestätigt hat, wird auch der Straftatbestand der Falschen Verdächtigung (§ 164 StGB) erklärlich. Er fungiert als Denunziationsschranke, mag diese auch denkbar weit gefasst sein, indem sie nur bei einem Handeln wider besseres Wissen eingreift. Als Rechtsgut dieses Straftatbestandes wird man dabei neben der Rechtspflege auch die Individualrechtsgüter des Verdächtigten ansehen müssen.82 Bezeichnenderweise gab es einen vergleichbar formulierten Straftatbestand im Strafgesetzbuch der DDR,83 78 Siehe zur Abhängigkeit des Whistleblowing von nationalen wie kulturellen Faktoren: Brody / Coulter / Lin, Teaching Business Ethics 3 (1999), 385 (Taiwan / USA). 79 Martens / Kelleher, International Business Ethics Review Vol. 7 Issue 2 (2005), abrufbar unter http: //www.business-ethics.org/newsdetail.asp?newsid=60 [27. 8. 2008]. 80 Brody / Coulter / Lin, Teaching Business Ethics 3 (1999), 385, 393. 81 Die Missbrauchsgefahren gleichfalls betonend Tinnefeld / Rauhofer, DuD 2008 (im Erscheinen). 82 Lenckner, in: Schönke / Schröder, 27. Aufl. 2006, § 164 Rn. 1; Kühl, in: Lackner / Kühl, 26. Aufl. 2007, § 164 Rn. 1; Hefendehl (o. Fn. 66), S. 325 f.

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der heutige Straftatbestand des § 164 StGB hatte seine Wurzeln im Nationalsozialismus.84 bb) Durch ein Anzeigensystem, dessen wesentlicher Grundpfeiler – wie bei der Verwendung des BKMS durch das LKA Niedersachsen – in der Zusicherung absoluter Anonymität für den Anzeigenden besteht, wird die Anwendung des durch Wortlaut und Auslegung ohnehin eng gefassten § 164 StGB faktisch außer Kraft gesetzt.85 Der von § 164 StGB gewährte Schutz des Einzelnen davor, unberechtigt mit behördlichen Verfahren oder Maßnahmen überzogen zu werden und Beeinträchtigungen von Ehre, Freiheit und Vermögen hinzunehmen,86 geht verloren.87 7. Whistleblowing und Organisation(sstruktur) Über das Whistleblowing soll die viel beschworene Mauer des Schweigens durchbrochen werden, die sich innerhalb fester Organisationen herausbildet. Diese Organisationsstrukturen selbst gilt es näher zu analysieren und etwaige Abhängigkeiten von Organisation und Relevanz des Whistleblowing herauszuarbeiten (a)). Zweitens ist die Frage zu stellen, welchen Einfluss die derzeit vermehrt zutage tretenden intensiven und multiplen Überwachungen auf das Whistleblowing nehmen (b)). Und drittens soll geprüft werden, ob die bekanntesten Fälle eines sog. Whistleblowing auch solche waren, die man für die Installierung des Instituts im Auge hatte (c)). a) Abhängigkeit des Whistleblowing von der Organisationsstruktur aa) Die Struktur eines Unternehmens erweist sich für das Ausmaß des Whistleblowing als präjudiziell. So macht eine amerikanische Untersuchung88 insbesondere Unterschiede zwischen klassisch bürokratisch-zentralisierten Organisationen und eher „demokratischen“ Organisationen aus. In streng hierarchischen Organisa83 § 228 StGB-DDR. Falsche Anschuldigung. Wer gegenüber einem staatlichen Organ wider besseres Wissen einen anderen der Begehung einer Straftat beschuldigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft. 84 Jerouschek / Marßolek / Röckelein, in: dies. (o. Fn. 71), S. 7, 10. 85 Backes / Lindemann (o. Fn. 39), S. 102 f.; Backes, StV 2006, 712, 716; das LKA Niedersachsen unterließ i.R.d. BKMS anfangs jeglichen Hinweis auf § 164 StGB, später erhielt der Hinweisgeber automatisch mit der Bestätigung des Anzeigeneingangs einen solchen Hinweis, allerdings ausdrücklich „der Form halber“. 86 Vormbaum, in: Nomos Kommentar, StGB, 2. Aufl. 2005, § 164 Rn. 7, 10. 87 A.A. Gundlach, in: Transparency International – Deutschland e.V. (Hrsg.), Korruption in Deutschland, 2004, S. 74, 75 f. (abrufbar unter http: //www.transparency.de/fileadmin/pdfs/ Themen/Justiz/04 – 12 – 08_Dokumentation_StrafverfolgungKorruption2004.pdf [27. 8. 2008]). 88 Granville King III, Journal of Business Ethics 20 (1999), 315; Barnett, Journal of Business Ethics 11 (1992), 949; Near / Miceli, Journal of Management 22 (1996), 507, 521.

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tionen finde ein Whistleblowing selten statt. Wenn ein solches erfolge, dann neigten die Hinweisgeber eher zu einem externen Hinweis. Denn in hierarchischen bzw. autoritären Organisationsstrukturen seien die Vorgesetzten den Hinweisen ihrer Mitarbeiter bzw. Veränderungen nur wenig zugeneigt. Ferner sei eine allgemeine Veränderungsresistenz von hierarchischen Organisationen zu konstatieren. Insofern bestehe ein Grundkonflikt zu Ausformungen des Whistleblowing, da hierdurch die Organisation als solche bzw. ihre jeweiligen Prinzipien angegriffen und zur Veränderung gezwungen werden sollen. bb) Egal, wie nun aber konkret die Organisationsstruktur ausgestaltet ist: Entscheidend bleiben die Motive des Tätigwerdenden,89 seine Absicherung im Hinblick auf persönliche Risiken wird allenfalls eine sekundäre Rolle spielen. Beides hängt aber nicht entscheidend davon ab, wie die Hierarchie im Unternehmen ausgestaltet ist. b) Multiple Überwachungen und Whistleblowing aa) Gerade in den letzten Monaten ist die Gefahr forciert worden, dass man zunehmend durcheinander gerät, wer in einem Unternehmen wen kontrolliert: Die seit einiger Zeit publik gewordenen Überwachungsmaßnahmen bei Lidl & Co zeigen jedenfalls, dass die unteren Chargen eines Unternehmens zumindest in bestimmten Segmenten kaum jemals unbeobachtet sind. Im Fall Telekom geriet – bildlich gesprochen – das andere Ende der Fahnenstange ins Visier, als u. a. Aufsichtsratsmitglieder (hier insbesondere Vertreter der Arbeitnehmer) über längere Zeit durch teilweise bei der Stasi wohlausgebildete externe Berater überwacht wurden, um undichte Stellen im Unternehmen herauszufinden: die Abteilung Konzernsicherheit als Kampfeinheit im Wirtschaftskrieg.90 Es scheint nur noch die Kontrolle von unten nach oben zu fehlen, damit ein wechselseitiges Kontrollsystem perfekt ist. Und gerade diese Stoßrichtung nimmt das Whistleblowing ins Auge. bb) Der Zustand im Unternehmen ist ferner durch einen Identifikations- und Solidaritätsverlust des Arbeitnehmers zu seinem Betrieb gekennzeichnet, der u. a. über die Ablösung langjähriger Mitarbeiter durch Leiharbeiter und Minijobber erklärlich wird. So verspüren nach einer aktuellen Studie des Gallup-Instituts nur noch 12% der Beschäftigten in Deutschland eine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitsplatz. cc) Diese Rahmenbedingungen lassen es als geradezu abwegig erscheinen, dass sich das kleinste Rädchen im Getriebe, das ohne zu Murren schlicht zu funktionieren hat, über das Whistleblowing für sein Unternehmen einsetzt. Die Rechnung kann nicht aufgehen, dass ein in extremer Weise Überwachter, ein solcher also, dem offensichtlich Misstrauen entgegengebracht wird, Teil eines Compliance-Systems wird und hierbei Verantwortung übernimmt. 89 90

S. dazu etwa Jensen, Journal of Business Ethics 6 (1987), 321 ff. http: //www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,555503,00.html [27. 8. 2008].

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c) Aufdeckung und Whistleblowing Die zu Beginn des Beitrags aufgeführten Whistleblowing-Fälle mögen Zweifel aufkommen lassen, ob es überhaupt eine Alternative zu dieser Methode der Aufdeckung von Straftaten gibt. Gleichwohl soll hier eine Gegenthese formuliert werden: Das Institut des Whistleblowing funktioniert allenfalls auf derselben oder benachbarten Ebene in einem Unternehmen. Denn den unteren Ebenen fehlt regelmäßig der Zugang zu sensiblen Informationen, wie flach die Hierarchien auch vordergründig sein mögen. Begründen möchte ich diese Gegenthese wie folgt: aa) Die oben aufgeführten spektakulären Beispiele eines Aufdeckens von innen heraus haben ein deutliches Schwergewicht bei der Leitungsebene des Unternehmens91 oder aber bei solchen Personen ergeben, die kraft ihres Berufes und der damit verbundenen Kompetenzen Zugriff zu sensiblen Daten haben, also etwa bei den Revisionsabteilungen. So stellt Keenan92 in einer umfragebasierten Studie fest, dass die Wahrscheinlichkeit des Whistleblowing in der höheren Manager-Ebene signifikant größer sei. Miethe93 gelangt zu dem Ergebnis, dass Mitglieder der internen Revision und externe Prüfer mit Abstand am häufigsten Missstände meldeten. Überdies erscheint nur ein Teil der Wirtschaftsdelikte tauglich für Whistleblowing zu sein.94 bb) Bei der Unternehmensspitze wird aber weniger ein Whistleblowing-System der entscheidende Faktor für ein Tätigwerden sein als vielmehr die (meist berechtigte) Sorge um elementare Überlebensbedingungen des Unternehmens. Dass hierbei zu einem überwiegenden Teil der Weg gewählt wurde, zunächst innerhalb des Unternehmens anonym für Korrekturen einzutreten, spricht m. E. nicht für die Notwendigkeit von Whistleblowing-Systemen, sondern steht für eine pragmatische Vorgehensweise in einer prekären Situation. cc) Für beruflich mit der Revision eines Unternehmens Befasste ist das System des Whistleblowing ohnehin nicht das geeignete Werkzeug, um auf Defizite hinzuweisen.

91 Zur Abhängigkeit des Whistleblowing von der jeweiligen Job-Position Near / Miceli, Journal of Management 22 (1996), 507, 515. 92 Employee Responsibilities and Rights Journal 12 (2000), 199, 213; s. auch Dworkin / Callahan, American Business Law Journal 29 (1991), 267, 300 f. 93 Whistleblowing at work, 1999, S. 39 ff. 94 Bussmann / Werle, British Journal of Criminology 46 (2006), 1128, 1135: Whistleblowing im Vergleich zu den Bestechungsdelikten weniger effektiv bei Geldwäsche und Insiderhandel.

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V. Bestehende oder geplante normative Rahmenbedingungen des Whistleblowing Mit der Forcierung des Whistleblowing sind insbesondere das Arbeitsrecht, das Datenschutzrecht und auch das Urheberrecht95 in den Fokus des Interesses gerückt. Manchmal hat man sogar den Eindruck, als sei dies nunmehr die alleinige Spielwiese des Problemfeldes – und verliert einmal mehr aus den Augen, dass selbst eine umfassende rechtliche Arrondierung des Whistleblowing aus diesem kein perfektes Institut macht. An dieser Stelle sollen daher diese rechtlichen Arrondierungsgebiete nur angetippt werden. 1. Whistleblowing und Arbeitsrecht Gerade im Hinblick auf den derzeit in den Beratungen befindlichen § 612a BGB,96 der entsprechend der bisherigen Rechtsprechung von BVerfG und BAG97 den Schutz des Whistleblowers nunmehr in Deutschland normieren soll, erscheinen mir die folgenden USamerikanischen Erkenntnisse hervorhebenswert: a) Trotz eines materiell sehr ausgeprägten und weitreichenden Schutzes98 gelang es den Arbeitnehmern in der Praxis offenbar nur sehr selten, ihre Rechte nach dem SOA durch95 Hier sind § 17 UWG (Geheimnisverrat) und bei Beamten § 353b StGB in Betracht zu ziehen, wobei es für einen Geheimnisverrat des Whistleblowers regelmäßig am subjektiven Tatbestand des § 17 UWG fehlen wird. 96 Zum Entwurf http: //www.bundestag.de/ausschuesse/a10/anhoerungen/a10_81/16_10 _849.pdf [27. 8. 2008]; s. auch die Zusammenstellung der in der Anhörung abgegebenen Stellungnahmen unter http: //www.bundestag.de/ausschuesse/a10/anhoerungen/a10_81/index. html [27. 8. 2008]. 97 BVerfG NJW 2001, 3474, 3476: Weiterleitung von Unterlagen an die Staatsanwaltschaft und Aussage vor Gericht; BAG NJW 2004, 1547, 1549: Anzeige gegen den Vorgesetzten u. a. wegen der Veruntreuung von Geldern; das Verfahren war nach § 172 Abs. 2 bzw. § 153 Abs. 1 StPO eingestellt worden; zum Whistleblowing als Kündigungsgrund auch Gänßle, KJ 2007, 265 ff. Keine unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers sah das BAG NJW 2007, 2204, 2205 f. in einer (zutreffenden) Anzeige gegen den Arbeitgeber wegen Untreue ohne vorherige innerbetriebliche Klärung. Demgegenüber wertete das LAG Berlin AuR 2007, 51, die von einer Altenpflegerin erstattete Anzeige wegen Betruges (§ 263 StGB) gegen die Leitung des Pflegeheims trotz vorheriger interner Klärungsversuche als Grund für eine fristlose Kündigung i.S.v. § 626 BGB, da die Arbeitnehmerin „ihre Anzeige leichtfertig auf Tatsachen gegründet [hat], die im Prozess nicht dargelegt werden konnten“; diese Entscheidung strikt ablehnend Deiseroth, AuR 2007, 34, 35 f.; 198 ff. Zur Sonderkonstellation bei Beamten vgl. BVerwGE 76, 76, 79 f.; Deiseroth, Betrifft Justiz 78 (2004), 296, 300. 98 Zum Schutz auf Bundesebene vgl. den Sarbanes Oxley Act (o. Fn. 24). Sec. 301 SOA verpflichtet die Unternehmen, ein internes „Audit Committee“ einzusetzen, das unter anderem vertrauliche und anonyme Hinweise von Arbeitnehmern entgegenzunehmen hat. Zudem wurden mehrere Vorschriften ins Leben gerufen, die Whistleblowern Schutz vor arbeitsrechtlichen Sanktionen gewähren und diese so ermutigen sollen, Informationen über Fehlverhalten

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zusetzen. Nach einer empirischen Untersuchung von Moberly war die Erfolgsrate der Arbeitnehmer, die entsprechenden Schutz ersuchten, in den drei Jahren nach Einführung des SOA überaus gering.99 Insgesamt reichten Arbeitnehmer in diesem Zeitraum 470 Beschwerden nach dem SOA bei der in erster Instanz zuständigen „Occupational Safety and Health Administration“ (OSHA) ein. Die OSHA entschied hiervon 361 Fälle, lediglich 13 zugunsten der Arbeitnehmer, den Rest zugunsten der Arbeitgeber (aus Arbeitnehmersicht eine Erfolgsrate von 3,6%). In 230 Fällen legten entweder Arbeitnehmer oder Arbeitgeber Einspruch gegen die Entscheidung der OSHA bei „Administrative Law Judges“ (ALJs) ein. Davon entschieden die ALJs 93 Fälle, lediglich sechs zugunsten der Arbeitnehmer, ansonsten zugunsten der Arbeitgeber (aus Arbeitnehmersicht eine Erfolgsrate von 6,5%).100 b) Nach Moberly ist dieses Ergebnis insbesondere darauf zurückzuführen, dass den Arbeitnehmern in verfahrensrechtlicher Hinsicht teilweise erhebliche Hürden auferlegt werden.101 Neben einem engen Fristerfordernis für das Rechtsmittel des Arbeitnehmers102 der Unternehmen preiszugeben; ausführlich Earle / Madek, American Business Law Journal 44 (2007), 1, 4 ff. Als zentrale Vorschrift bestimmt Sec. 806 SOA, dass einem Arbeitnehmer, der Hinweise über bestimmte Gesetzesverstöße an Behörden oder interne bzw. externe Überwachungsstellen weitergibt, weder gekündigt noch dieser herabgestuft, versetzt, bedroht oder in anderer Weise benachteiligt werden darf – http: //www.law.uc.edu/CCL/SOact/soact.pdf [27. 8. 2008], bzw. title 18 U.S.C. § 1514A – http: //www4.law.cornell.edu/uscode/18/usc_ sec_18_00001514–A000-.html [27. 8. 2008]. Flankiert wird dieser arbeitsrechtliche Schutz durch die Strafvorschrift in Sec. 1107 SOA, der die Einleitung jeglicher nachteiliger (beruflicher) Maßnahmen gegen eine Person, die den Behörden Informationen zur Aufklärung eines möglichen Vergehens gegeben hat, mit Geld- sowie Haftstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft. Für Angestellte von Bundesbehörden gewährt der Whistleblower Protection Act (http: //thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c101:S. 20.ENR: [27. 8. 2008]) bereits seit 1989 einen dem SOA vergleichbaren Schutz. Derzeit befindet sich der Whistleblower Protection Enhancement Act im Gesetzgebungsverfahren, der den Schutz für Whistleblower auf Unternehmenssowie Behördenebene noch einmal verstärken soll (http: //www.sourcewatch.org/index.php? title=Whistleblower_Protection_Enhancement_Act_of_2007 [27. 8. 2008]). Der bereits 1863 eingeführte False Claims Act im Bereich des Subventionsbetruges (31 U.S.C §§ 3729 – 3733, abrufbar unter http: //www.law.cornell.edu/uscode/31/usc_sec_31_ 00003729—000-.html [27. 8. 2008]) arbeitet mit finanziellen Anreizen und damit ganz in der Philosophie des Private Law Enforcement. Danach erhalten Whistleblower, die im Namen der Regierung gegen Einzelpersonen oder Unternehmen klagen, die in betrügerischer Weise Mittel aus dem Bundeshaushalt beansprucht haben, bis zu 30% des zurückzuzahlenden Betrages (Miethe [o. Fn. 93], S. 133 ff.; Callahan / Dworkin / Fort / Schipani, American Business Law Journal 40 [2002], 177, 193 f.; s. auch Deiseroth, Betrifft Justiz 78 [2004], 296, 299; Pant, CCZ 2008, 69 f.). Der Bürger, im Falle eines Unternehmens in der Regel ein Angestellter, der über die entsprechenden Informationen verfügt, klagt die betrügerisch erlangten Gelder im Namen des Staates ein und wird dafür direkt anteilig belohnt (sog. Qui tam-Verfahren). 99 Moberly, William and Mary Law Review 49 (2007), 1, 2 ff. 100 Moberly, William and Mary Law Review 49 (2007), 1, 19, 22; nicht entschiedene Fälle sind solche, in denen sich die Parteien einigten, der Fall in einem Schiedsgerichtsverfahren gelöst wurde oder der Arbeitnehmer seine Beschwerde zurückzog. 101 Moberly, William and Mary Law Review 49 (2007), 1, 47; die einschlägigen Vorschriften hinsichtlich des Verfahrens finden sich in title 18 U.S.C. § 1514A (b) (2) (A) mit Verweis

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müssen für einen Erfolg der Beschwerde folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss die Beschwerde den Anscheinsbeweis liefern, dass der Arbeitnehmer für einen durch den SOA erfassten Arbeitgeber arbeitet (1), er einen Hinweis bezüglich einer Tätigkeit gegeben hat, bei der er vernünftigerweise davon ausgehen durfte, dass es sich um einen durch den SOA erfassten Verstoß handelt (2), er eine nachteilige Arbeitsmaßnahme erlitten hat (3) und die Umstände ausreichen, den Verdacht zu erwecken, dass der Hinweis des Arbeitnehmers einen entscheidenden Faktor für die nachteilige Maßnahme des Arbeitgebers darstellt (4). Zum anderen darf dem Arbeitgeber durch klare und überzeugende Beweise nicht der Nachweis gelingen, dass die Maßnahme gegen den Arbeitnehmer auch ohne dessen Hinweis erfolgt wäre.103 c) Der SOA schützt die Arbeitnehmer in der Praxis damit in einem erheblich geringeren Maße, als es der Kongress bei Verabschiedung des Gesetzes intendiert hatte.104 Gefordert wird daher eine Korrektur insbesondere der Anwendung und des Verfahrens nach dem SOA, um Anspruch und Wirklichkeit des Gesetzes in Einklang zu bringen.105

2. Whistleblowing und Datenschutz Erweckt das Arbeitsrecht Zweifel, ob der Schutz eines Whistleblowers normativ hinreichend ausgestaltet ist, fordert das Datenschutzrecht einen hinreichenden Schutz der unter Umständen anonym weitergeleiteten Daten von Mitarbeitern oder Vorgesetzten.106 a) Aus diesem Grund hat die sog. Art. 29-Gruppe, ein unabhängiges Beratungsgremium der EU in Datenschutzfragen, eingesetzt aufgrund des Art. 29 der europäischen Datenschutzrichtlinie, 107 im Februar 2006 am Maßstab der Datenschutzrichtlinie eine Stellungnahme mit Empfehlungen für die datenschutzkonforme Ausgestaltung von Whistleblowing-Systemen in Europa herausgegeben.108 Die anonyme Weitergabe von personenbeauf title 49 U.S.C. § 42121 (b) sowie in den Procedures for the Handling of Discrimination Complaints Under Section 806 of the Corporate and Criminal Fraud Accountability Act of 2002, Title VIII of the Sarbanes-Oxley Act of 2002, 69 Fed. Reg. 52103 – 52117 (abrufbar unter http: //www.osha.gov/pls/oshaweb/owadisp.show_document?p_table=FEDERAL_REGISTER&p_id=18223 [27. 8. 2008]). 102 90 Tage nach Erleiden der nachteiligen Maßnahme durch den Arbeitgeber muss die Beschwerde bei der OSHA eingereicht werden, der Einspruch bei den ALJs muss spätestens 30 Tage nach der Entscheidung der OSHA erfolgen, die Beschwerde beim Administrative Review Board (ARB) innerhalb von zehn Tagen nach der Entscheidung der ALJs und die Klage bei dem Bundesgericht innerhalb von 60 Tagen nach der Entscheidung des ARB. 103 S. zu diesen Voraussetzungen die in Fn. 101 genannten Vorschriften des U.S.C. 104 Moberly, William and Mary Law Review 49 (2007), 1, 49; Watnick, Fordham Journal of Corporate & Financial Law 2007, 831, 878 f. 105 Moberly, William and Mary Law Review 49 (2007), 1, 49 ff.; Watnick, Fordham Journal of Corporate & Financial Law 2007, 831, 878 f. 106 S. zum Ganzen v. Zimmermann, WM 2007, 1060 ff.; ders., RDV 2006, 242 ff.; Breinlinger / Krader, RDV 2006, 60 ff.; Schmidl, DuD 2006, 353 ff. 107 RL 95 / 46 / EG v. 24. 10. 1995, abrufbar unter http: //eur-lex.europa.eu/LexUriServ/Lex UriServ.do?uri=CELEX:31995L0046:de:HTML [27. 8. 2008]. 108 Stellungnahme 1 / 2006 WP 117, abrufbar unter http: //ec.europa.eu/justice_home/fsj/ privacy/index_de.htm [27. 8. 2008]; s. dazu etwa Wisskirchen / Körber / Bissels, BB 2006, 1567, 1568 ff.

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zogenen Daten wird in datenschutzrechtlicher Hinsicht als äußerst bedenklich angesehen.109 b) Das deutsche Recht hat die europäische Datenschutzrichtlinie umgesetzt, womit die Empfehlungen der Art. 29-Gruppe Relevanz entfalten.110 Als gesetzliche Ermächtigung für den Umgang mit den Daten kommt § 28 BDSG in Betracht,111 wobei das Hauptaugenmerk auf den stets nötigen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Datenverarbeitung und der entsprechenden Interessenabwägung liegt.112 Systeme, die uneingeschränkt anonyme Berichte, etwa über eine Hotline, zulassen, werden dabei den Anforderungen des § 28 BDSG nicht gerecht.113 Weitere Voraussetzung für ein datenschutzkonformes Whistleblowing-System ist, dass dieses nicht leichtfertig zur Verleumdung unliebsamer Mitarbeiter oder Vorgesetzter missbraucht werden kann. Der Hinweis darf lediglich als Basis für weitergehende, unvoreingenommene Ermittlungen dienen und nicht ohne weitere Prüfungen zu negativen Konsequenzen für den Beschuldigten führen.114

VI. Gesellschafts- und Unternehmensmodell und Whistleblowing In einer 2006 erschienenen dogmengeschichtlichen Arbeit von Arndt Koch zur Denuncatio finden sich Passagen, wonach „jeder Staat zur Durchsetzung seiner Rechtsordnung auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen ist“ (S. 11), dass „auch demokratische Rechtsstaaten zur Durchsetzung ihrer Normen von Strafanzeigen abhängig sind“ (S. 12) und dass „die Strafverfolgungsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben vielfach auf Anzeigen angewiesen sind, die aus unehrenhaften Motiven oder unter Bruch zwischenmenschlicher Solidarpflichten erfolgen“ (S. 14 f.). – Zumindest die ersten beiden Thesen werden dabei durch die kriminologischen Erkenntnisse gestützt. Ohne das Institut der Strafanzeige würde das Dunkelfeld vermutlich Dimensionen erreichen, bei denen man mit Sicherheit nicht mehr von einer Präventivwirkung des Nichtwissens115 ausgehen könnte. Stellungnahme 1 / 2006 WP 117, S. 11 f. Wisskirchen / Körber / Bissels, BB 2006, 1567, 1570. 111 Für § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BDSG v. Zimmermann, RDV 2006, 242, 245; für § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BDSG Breinlinger / Krader, RDV 2006, 60, 64 Fn. 42, 45; auf § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG rekurriert das BAG in NJW 2005, 313, 316; s. zum Ganzen auch Schmidl, DuD 2006, 353, 357 ff. 112 v. Zimmermann, RDV 2006, 242, 246; Breinlinger / Krader, RDV 2006, 60, 64, jeweils m. w. N.; ebenso speziell für Korruptionsdelikte Altenburg, Bucerius Law Journal 2008, 3, 8. 113 Wisskirchen / Körber / Bissels, BB 2006, 1567, 1570; s. etwa auch das System der USamerikanischen Supermarktkette Wal Mart, bei dem die Arbeitnehmer (auch in Deutschland) sogar verpflichtet werden sollten, jegliche Verstöße gegen die unternehmenseigene Ethikrichtlinie zu melden; die Bestimmungen waren unwirksam, weil die nötige Zustimmung des Gesamtbetriebsrats gemäß § 87 BetrVG nicht eingeholt worden war; LAG Düsseldorf DB 2006, 162 ff. 114 v. Zimmermann, RDV 2006, 242, 246. 109 110

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1. Die Notwendigkeit des Bruchs zwischenmenschlicher Solidarpflichten Die weiter propagierte Einsicht, die Strafverfolgungsbehörden seien zur Erfüllung ihrer Aufgabe auch auf Anzeigen angewiesen, die unter Bruch zwischenmenschlicher Solidarpflichten erfolgten, bedarf jedoch der näheren Erörterung. Denn sie legt offensichtlich einen Begriff des theoretisch Denkbaren bei der Aufgabenerfüllung zugrunde, der nicht mit dem strafprozessualen Aufgabenbegriff deckungsgleich sein kann. Ein solcher sieht eben – „glücklicherweise“ möchte ich ergänzen – nicht vor, dass man um jeden Preis an Informationen bezüglich der Überführung des Täters gelangen muss. a) Vielmehr basiert unsere Gesellschaft auf einem Solidarmodell, bei dem nur ausnahmsweise außerhalb von über Garantenstellungen zu definierenden Sonderbeziehungen jeder Bürger einen Solidarbeitrag zu leisten hat, indem er zum Schutze elementarer Rechtsgüter beiträgt (Straftatbestand der Nichtanzeige geplanter Straftaten – § 138 StGB) oder in Notsituationen behelfsmäßig einspringt (Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung – § 323c StGB). In all diesen Konstellationen, also auch bei Vorliegen einer Garantenstellung, verändert sich das Anforderungsprofil, sobald es zu einer Rechtsgutsverletzung gekommen ist. Eine Anzeigepflicht für Privatpersonen besteht jeweils nicht, selbst wenn gravierende Rechtsgüter betroffen gewesen sind. Eine Strafvereitelung durch Unterlassen ist somit nicht konstruierbar.116 Die Strafverfolgung bleibt alleinige Domäne des Staates. Etwas anderes gilt auch nicht in einem Unternehmen. Die gegebenenfalls bereichsweise erleichterte Möglichkeit der Kenntnisnahme von Straftaten ändert hieran nichts. b) Damit ist natürlich nicht das Recht ausgeschlossen, aus privater Initiative heraus staatliche Stellen zu einer Prüfung anzuregen, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist. Dieses Wachsamkeitsmodell, wie ich es nennen möchte,117 ist aber weder gesellschaftlich noch von den normativen Rahmenbedingungen her als Regelmodell zu begreifen und war übrigens auch – wie oben erwähnt –118 nicht das Regelmodell während des Nationalsozialismus sowie in der DDR, obwohl man mit diesen Regimen jeweils Bespitzelungssysteme verbindet. 2. Whistleblowing als Zeichen einer neuen Zeit? a) Die bisherigen Überlegungen mahnen zur Vorsicht, was die Ideen des Whistleblowing anbelangt, wie perfekt auch die Absicherung des Whistleblowers konstruiert 115 Zu einer solchen Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens: Dunkelziffer, Norm und Strafe, 1968. 116 Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2006, § 3 Rn. 45. 117 Andere mögen es als Zivilcourage bezeichnen. 118 Vgl. Jerouschek / Marßolek / Röckelein, in: dies. (o. Fn. 71), S. 7, 10.

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sein mag.119 Dieses aktive Eingreifen von primär nicht zuständigen Personen widerspricht einer liberalen Gesellschafts- und auch Unternehmenskonzeption.120 Ausgeschlossen ist ein Paradigmenwechsel dadurch freilich noch nicht, insbesondere auch deshalb nicht, weil das Private Law Enforcement121 derzeit ebenso Konjunktur hat wie der kommunitaristische Gedanke, der eine Rückbesinnung auf Bedeutung und Wert von Gemeinschaft propagiert.122 Auch der Hype um Corporate Governance und Business Ethics lässt sich hierdurch zumindest vordergründig erklären. Das Private Law Enforcement versucht aber in erster Linie, über persönliche Anreizsituationen den Einzelnen bei der Geltendmachung von Ansprüchen oder der Strafverfolgung ins Boot zu holen, eine Methode, die vorliegend nicht erfolgversprechend erscheint. Und die vorgebliche Rückbesinnung auf die Gemeinschaftswerte bleibt dann ein zweischneidiges Schwert, sofern die nachgewiesenen Erfolge extrem mäßig ausfallen, die Eingriffe in die Freiheitssphäre des Betroffenen aber evident sind. Damit lässt sich die Ausnahme jedenfalls kaum utilitaristisch erklären. Auch anderweitig erscheint eine Solidarpflicht der Whistleblower nicht legitimierbar. Warum sollen diese in einer Institution Aufgaben übernehmen, die ansonsten Polizei und Staatsanwaltschaft zukommen, wenn sie aus der Solidargemeinschaft Unternehmen faktisch exkludiert sind und permanent wie Unmündige überwacht werden? In einer solchen Konstellation erscheint mir das Bild sowohl ehrlicher als auch authentischer, wenn zwischen den einzelnen Unternehmensgruppen klare Fronten gezogen werden. b) aa) Zudem weckt die Anonymität als entscheidender Motor des Whistleblowing Argwohn.123 Dieses Charakteristikum hat in jüngerer Zeit auch deshalb Konjunktur, weil die anonyme Privatsphäre heute zunehmend in Bedrängnis geraten ist. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bzw. die sog. organisierte Kriminalität meint man auch im extremen Vorfeld und damit im privaten Bereich die sich jeden Tag verbessernden Möglichkeiten der technischen Überwachung einsetzen zu müssen. Der Kampf um Anonymität hat damit schon fast etwas Symbolhaftes für den Kampf gegen einen das Individuum fürsorglich belagernden Staat. Anonymisierungsdienste und Kryptographie werden argwöhnisch seitens des Staates beäugt, weil man über sie seine Chancen schwinden sieht, im Notfall auf IP und damit Personen zugreifen zu können. 119 Was bei der Anonymisierung freilich perfekt sein soll, ist eine andere Frage. Der Verdacht liegt nahe, dass hier die Informatik häufig über Möglichkeiten verfügt, die man sich als Laie kaum auszumalen vermag. 120 Kühnbach, Solidaritätspflichten Unbeteiligter, 2007, S. 14. 121 Vgl. hierzu Hefendehl, ZStW 119 (2007), 816, 839. 122 Seelmann, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2007, § 10 Rn. 24 f.; Naucke / Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 5. Aufl. 2005, S. 144 f., jeweils m. w. N. 123 S. Tinnefeld / Rauhofer, DuD 2008 (im Erscheinen); vgl. auch Elliston, Journal of Business Ethics 1 (1982), 167, 170 ff.

Alle lieben Whistleblowing

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bb) Neben diesem Motiv für Anonymität – der klassischen Suche nach Privatheit – hat die zunehmende Virtualisierung des Lebens mit ihren neuen Kommunikationsformen das Bedürfnis nach einem anonymen Umgang forciert. Denn mit dem Verlust der Face-to-Face-Interaktion bei einer Vielzahl von Kommunikationspartnern sind Hemmschwellen wie auch Sicherheiten weggefallen, die man nur über Anonymität kompensieren möchte. Beispielhaft: Wer sich über seine außergewöhnlichen Vorlieben mit anderen austauschen will, macht dies, wenn er seinem Gegenüber aufgrund von Erfahrungen vertrauen kann, oder er wählt die anonyme Form, die ihn persönlich weniger angreifbar macht. cc) Die Anonymität beim Whistleblowing hat deshalb eine besondere Dimension, weil die Anonymität nicht eigenen legitimen Zwecken dient, sondern seinem Schutz bei der Verfolgung von dritten Zielen. Bei dieser Abwägungskonstellation sind also die Risiken für die beschuldigte Person mit einzubeziehen. VII. Resümee Das Resümee fällt für mich somit negativ aus. Einmal mehr befürchte ich, dass eine publicityträchtige Maßnahme protegiert wird, die die eigentlichen Probleme innerhalb eines Unternehmens auch nicht einmal annäherungsweise in den Griff zu bekommen vermag. Die bisherigen empirischen Daten verstärken diese Sorgen. Hier werden Unternehmen nicht auf den richtigen Weg geführt, sondern man denunziert aus regelmäßig persönlichen Motiven. Warum soll es nicht den von Whistleblowing Betroffenen einmal so schlecht gehen wie den unteren Chargen eines Unternehmens, die rund um die Uhr und bald auch noch im Privaten überwacht werden? Weil eine derartige Pseudogerechtigkeit nichts bringt. Aber man spürt, warum die Grünen und die Linken so begeistert von dieser Idee sind. Merken sie nicht, dass die überwiegende Akzeptanz einer solchen Maßnahme auch bei den Arbeitgebern eher Argwohn erwecken sollte?

Polnische Erfahrungen mit dem anonymen Zeugen Von Piotr Hofman´ski

I. Die Figur des anonymen Zeugen wurde in das polnische Strafverfahren mit der Novellierung der StPO 1969 vom 7. Juli 19951 eingeführt, als eine Reaktion auf den Teufelskreis, in den man angesichts der wachsenden Dreistigkeit und Brutalität der kriminellen Welt auf der einen Seite und der zunehmenden Einschüchterung und Angst der Zeugen auf der anderen Seite geraten zu sein schien. Und es entsprach voll den Erwartungen der gleichermaßen über die Hilfs- und Ratlosigkeit der Verfolgungsorgane wie über die Dreistigkeit der Kriminellen empörten Bevölkerung. Diese positive Einstellung dem neuen Rechtsinstitut gegenüber war mehr als verständlich. Es liegt auf der Hand, dass der sog. Otto Normalverbraucher, sein eigenes Sicherheitsgefühl im Auge, stets Maßnahmen zur effizienteren Strafverfolgung unterstützen wird, ohne sich allzu sehr wegen der möglichen und unvermeidlichen negativen Implikationen dieses Vorhabens den Kopf zu zerbrechen. Diesen Erwartungen musste und wollte man gerecht werden, auch wenn von Anfang an klar war, dass der Zugriff auf anonyme Beweisquellen die Prozessgrundsätze, insbesondere das Prinzip der Unmittelbarkeit und des Rechts auf Verteidigung wird einschränken müssen.2 Man kam aber zur Einsicht, dass die Situation klarer sein wird, wenn die Verwendung von anonymen Beweisquellen gesetzlich reglementiert wird, was dem unvermeidlichen Missbrauch dieser Möglichkeit in der Praxis Einhalt gebieten kann. Nach 12 Jahren seit Einführung dieser neuen Regelung scheint die Frage angebracht, inwieweit das neue Rechtsinstitut den damit verbundenen Erwartungen gerecht werden und die Hoffnungen erfüllen konnte und welche Probleme die Praxis mit sich brachte.

1 Art. 164a StPO von 1969, Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) Nr. 89, 1969, Pos. 444. Dieses Rechtsinstitut ist in die neue StPO von 1997 aufgenommen worden. 2 Waltos´, Pan ´ stwo i Prawo 1999 (Heft 4), 39 ff.

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II. Vor einer Bewertung müssen aber dem deutschen Leser die vom polnischen Gesetzgeber angenommenen Grundvoraussetzungen etwas näher gebracht werden. Gemäß Art. 164 a StPO von 1969 konnte das Gericht oder der Staatsanwalt einen Beschluss über die Geheimhaltung der Angaben zur Person des Zeugen erlassen, wenn die begründete Befürchtung einer Gefahr für Leben, Gesundheit, Freiheit oder bedeutende Vermögenswerte des Zeugen oder seiner nächsten Angehörigen bestand. Der Zeuge konnte nur vom Gericht oder vom Staatanwalt vernommen werden; im letzteren Fall wurde das Vernehmungsprotokoll vor dem Gericht verlesen (die Einsichtnahme in die Protokolle wurde den Prozessparteien nur so gewährt, dass die Identifizierung des Zeugen unmöglich war). Die Verteidigung konnte den Zeugen nur durch Vermittlung des Gerichts bzw. des Staatsanwalts befragen. Diese ursprüngliche Regelung wurde mit der Zeit modifiziert und abgeändert, vor allem mit Rücksicht auf die Straßburger Rechtsprechungslinie und als eine Reaktion auf Fehlentwicklungen in der Praxis. Mit dem Inkrafttreten der neuen StPO von 1997 nahm das Rechtsinstitut des anonymen Zeugen seine neue Gestalt in Art. 184 an, der dann im Jahre 2003 erheblich novelliert wurde. Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, den Entwicklungsweg der Figur des anonymen Zeugen im polnischen Recht vor dem Hintergrund praktischer, diese Entwicklung stimulierender Probleme darzustellen. Der Klarheit halber wird das Problem auf mehreren parallelen Ebenen erörtert.

III. Die erste und wohl meist umstrittene Frage gilt dem Umfang der zulässigen Anonymisierung. Die Praxis der ersten Jahre schlug eine unter keinen Umständen zu akzeptierende Richtung ein. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Staatsanwälte dazu neigten, nicht nur Angaben zur Person des Zeugen, sondern auch ganze Aussagenfragmente geheim zu halten. Zur Rechtfertigung dieser Praxis wurde auf Art. 164 a § 2 StPO von 1969 verwiesen, dem gemäß dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger die Einsichtnahme in Vernehmungsprotokolle nur so zu gewähren war, dass der Zeuge nicht identifiziert werden konnte. Es kam sogar vor, dass der Verteidigung das „Vernehmungsprotokoll“ in Form eines leeren Blattes vorgelegt wurde, damit die Verteidigung schriftlich ihre Fragen an den Zeugen formulieren konnte (!). Es kam auch zu anderen absurden Fällen. Dem Angeklagten wurde zum Beispiel die Tat in einer solchen Form zur Last gelegt, dass er überhaupt nicht herausfinden konnte, was ihm eigentlich vorgeworfen wird (zum Beispiel, dass er an einem den Verfolgungsorganen bekannten Tag die den Verfolgungsorganen bekannten Gegenstände von einem den Verfolgungsorganen bekannten Wert zum Nachteil einer den Verfolgungsorganen bekannten Person gestohlen haben soll).

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Man braucht niemanden davon zu überzeugen, dass diese karikaturale Verletzung von Regeln eines fairen Strafverfahrens und allen voran des Rechts auf Verteidigung, einer entschiedenen Reaktion bedurfte.3 Ein Eingriff des Gesetzgebers tat not. In der neuen StPO von 1997 wurde angenommen, dass nicht alle Angaben, sondern nur die Angaben zur Person des Zeugen geheim gehalten werden können. Diese Änderung trug allerdings wenig zur Verbesserung der Situation bei. Und so meldete sich das Oberste Gericht zu Wort und wies in seinem Beschluß vom 20. Januar 19944 darauf hin, dass eine wirksame Verteidigung nur dann möglich sei, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger genau wissen, worauf sich die Anklage beziehe. Aus diesem Grund sei dem in keinem Fall zuzustimmen, dass die Anwendung des Rechtsinstituts des anonymen Zeugen den Ankläger von der Pflicht befreien könne, den Zeitpunkt, den Ort, die Art und Weise sowie die Umstände der Tatbegehung sowie die Folgen der Tat und insbesondere die Höhe des entstandenen Schadens zu bestimmen. In der Begründung seiner Entscheidung formulierte das Oberste Gericht eine neue außergesetzliche Voraussetzung für die Anwendung des Rechtsinstituts des anonymen Zeugen, indem es feststellte, dass Art. 184 StPO nur dann zur Anwendung kommen kann, wenn aus dem Inhalt der Zeugenaussagen nicht auf dessen Identität geschlossen werden kann. Diese Aussagen können nämlich nur dann als Beweismittel verwendet werden, ohne das Risiko einzugehen, dass der Zeuge entlarvt wird. Die Vorschrift des Art. 184 StPO lässt es lediglich zu, die Angaben zur Person des Zeugen, nicht aber seine Aussagen geheim zu halten. Die Folge ist – wie in der Begründung des einschlägigen Beschlusses zu lesen war – dass die Verletzten in der Regel kaum als anonyme Zeugen in Frage kommen können. Dem Täter ist die Identität des Verletzten nahezu immer bekannt, und auf Grund seiner Aussagen kann er dahinter kommen, wer diese Aussagen gemacht hat. Mit seiner Auslegung des Art. 184 StPO nahm das Oberste Gericht das Recht auf Verteidigung und die Regeln eines fair trial eindeutig in Schutz.5

3 Im Schrifttum siehe insbesondere: Hofman ´ ski / Zab ocki, FS Waltos´, 2000, S. 680 ff.; Tylman, FS Nowak, 2002, S. 75; Wilin´ski, S´wiadek incognito w polskim procesie karnym (Der anonyme Zeuge im polnischen Strafprozess), 2003, S. 54. 4 I KZP 21 / 98, OSNKW 1999, Nr. 1 – 2, Pos. 3. Diesem Beschluss folgten nicht nur die Rechtsprechung des Obersten Gerichts, z. B. in dem nicht veröffentlichten Urteil vom 22. März 1999, WKN 5 / 99, sondern auch einige Gerichte niedrigerer Instanzen, z. B. mit dem Beschluss des Appellationsgerichts (im Folgenden AG) in Warszawa vom 13. August 1999, II Az. 238 / 99, (nicht veröffentlicht), in dem es u. a. hieß: „Eine präzise Redigierung der Anklageschrift und in einem noch höheren, gar entscheidenden Maße des Urteils hat Garantiecharakter (die Bestimmtheit der verbotenen Tat im Urteil ist ein prozessrechtliches Pendant zum strafrechtlichen Grundsatz der gesetzlichen Bestimmbarkeit der Tat), und ist darüber hinaus hierfür entscheidend, ob das Gericht die objektiven bzw. subjektiven Anklagegrenzen überschritten hat oder nicht, ob in weiteren Verfahren Rechtskraftwirkung oder Rechtshängigkeit vorliegt, etc.“. 5 Siehe auch weitere Entscheidungen des OG, z. B. vom 22. Februar 2002, V KN 416 / 99, Orzecznictwo Sadu Najwyzszego (Rechtsprechung des Obersten Gerichts) herausgegeben von Prokuratura Generalna (Generalstaatsanwaltschaft), Heft 11, 2002, Pos. 9.

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Die Bemühungen der Gerichtsbarkeit um eine Minimalisierung der Rolle des anonymen Zeugen stießen auf eine andere Auslegungstendenz der polnischen Rechtsprechung, die den in Art. 184 § 1 StPO enthaltenen Begriff „Angaben zur Person“ auf alle in den Vernehmungsprotokollen enthaltenen Elemente ausdehnen wollte, die zur Identifizierung des Zeugen beitragen könnten. Charakteristisch ist dabei, dass in allen in diese Richtung gehenden Entscheidungen ähnliche Argumente angeführt wurden, und zwar unter Verweis auf Art. 6 des Gesetzes über den Schutz von Personendaten vom 29. August 19976, dem gemäß „. . . als Personendaten alle Informationen über eine natürliche Person anzusehen sind, die ihre Identität bestimmen lassen“.7 Unterstützt wurde dies manchmal durch ein weiteres Argument, und zwar, dass das Personendatenschutzgesetz später als die StPO von 1997 in Kraft trat8, so dass „Personendaten“ den „Angaben zur Identität“ gleichzusetzen seien, und die letzteren dem Begriff aus 184 § 2 StPO („. . . Offenbarung / Kenntnisnahme der Identität“) ähnlich seien. Folglich sollte die darin bestehende Vorgehensweise, dass dem Angeklagten und seinem Verteidiger Einsicht in die Vernehmungsprotokolle des anonymen Zeugen nur unter Ausschluss der für die Offenbarung seiner Identität geeigneten Fragmente gewährt werden konnte, nicht nur der „Prozessnorm“ des Art. 184 § 2 StPO über den Zugang zu diesen Protokollen, sondern auch der leitenden Norm des Art. 184 § 1 StPO über den zulässigen Anonymisierungsumfang Rechnung tragen. Zum Ersten sei hier angemerkt, dass ein, und sei es nur indirekter Verweis auf den Grundsatz lex posterior derogat legi anteriori einem Missverständnis entspringt, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass beide Rechtsakte ein und dieselbe Materie regeln. Zum Zweiten ist der Versuch, den Begriff, dessen sich die StPO bedient, mit der sog. Legaldefinition eines anderen Rechtsaktes zu definieren, insofern unbegründet, als Art. 6 des Gesetzes über den Schutz von Personendaten diese Legaldefinition für die Zwecke dieses Gesetzes vorbehält („im Sinne des Gesetzes“). Beide Argumente vermögen schon die Unbegründetheit dieser Denkweise zu begründen, dennoch sei auch noch darauf hingewiesen, dass die „Bestimmung der Identität“ etwas völlig anderes darstellt als die „Offenbarung der Identität“. Es ist unschwer zu sehen, dass infolge dieser Denk- und Vorgehensweise der Unterschied zwischen den „Angaben zur Person des Zeugen“ und den „Daten, welche die Identifizierung des Zeugen ermöglichen“ verwischt zu werden droht und somit gegen die grundlegende Auslegungsregel verstößt, der gemäß ein „rationaler Gesetzgeber“ ein und demselben Begriff (in ein und derselben Vorschrift) nicht zwei verschiedene Bedeutungen geben kann. Auch die historische Auslegung lässt die in Art. 184 § 1 und § 2 StPO verwendeten Begriffe nicht als gleichbedeutend betrachten. Die Lektüre der Stenogramme aus Sitzungen des Außerordentlichen Ausschusses für Strafkodifikationen9 lässt nämlich nicht den geringsten Zweifel darüber, dass zwischen diesen beiDziennik Ustaw (Gesetzblatt), Nr. 133, 1997, Pos. 833. So z. B. AG ódz´ in dem Beschluss vom 7. April 1999, II Az. 113 / 99, AG Warszawa in dem Urteil vom 13. April 1999, II Az. 62 / 99, nicht veröffentlicht. 8 Auf dieses Argument verweist AG ódz´ in dem Beschluss vom 7. April 1999 (o. Fn. 7). 6 7

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den Ausdrücken klar unterschieden worden ist. Zum Schluss noch eine Bemerkung – wenn in den Rahmen des Begriffs „Personendaten“ im Sinne des Art. 184 § 1 StPO alle in Vernehmungsprotokollen enthaltenen Informationen „hineingezwängt“ werden können, welche die Identifizierung des Zeugen, die Bestimmung seiner Identität ermöglichen können, so lässt sich keine „greifbare“ Grenze der Anonymisierung festlegen, die von allen Prozessparteien gleichzeitig kontrollierbar wäre. Für den einen Spruchkörper wären bestimmte Aussagenfragmente „Personendaten“, für den anderen nicht, und der Angeklagte bzw. sein Verteidiger hätten, ohne deren Inhalt zu kennen, keine Möglichkeit, die Behauptung, dass in den „zensierten“ Protokollfragmenten die so verstandenen „Personendaten“ tatsächlich enthalten waren, anzugreifen und eine Verletzung der Norm aus Art. 184 § 1 StPO wirksam geltend zu machen. Dieser kaum zu lösende Streit erzwang eine weitere normative Änderung in Gestalt der Novelle vom 10. Januar 200310. Weitgehend erweitert wurde der Umfang der Anonymisierung und die Geheimhaltung von Umständen zugelassen, welche die Identifizierung des Zeugen ermöglichen. Die Zulässigkeit der Geheimhaltung solcher Umstände wurde allerdings davon abhängig gemacht, ob diese für die Entscheidung der Sache von Bedeutung sind. Jetzt dürfen nur solche Informationen geheim gehalten werden, die für die Entscheidung der Sache völlig irrelevant sind. Die Zeugenaussagen in dem Umfang, in dem sie geheim gehalten werden, dürfen weder der Feststellung des Sachverhalts noch der Entscheidung in der Sache zugrunde liegen. Diese neue Lösung scheint vorbehaltlos zu funktionieren, auch wenn sie anfänglich im Hinblick darauf kritisiert wurde, dass der Verteidiger, der nach polnischem Recht ebenso wie der Angeklagte keinen Zugang zu den geheim gehaltenen Daten (Aussagenfragmenten) hat, auch nicht kontrollieren kann, was geheim gehalten wurde, und folglich auch weder kontrollieren noch beanstanden kann, ob die geheim gehaltenen Umstände für die Entscheidung der Sache tatsächlich keine Bedeutung haben.11 IV. Die zweite hier zu erörternde Frage betrifft die Vernehmung des anonymen Zeugen. Die ursprünglich in Art. 164 a StPO von 1969 angenommene Lösung war im Lichte der Straßburger Standards des fairen Strafverfahrens nicht mehr aufrechtzuerhalten. Unvereinbar mit dem in Art. 6 Abs. 3 d EMRK vorgesehenen Recht des Angeklagten bzw. seines Verteidigers, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, waren vor allem die fehlende Vernehmung des Zeugen 9 Siehe Bulletin von der Sitzung des Außerordentlichen Ausschusses für Strafkodifikationen am 3. Oktober 1996 (Nr. 4), herausgegeben von der Sejmkanzlei, Informationsbüro, Druck Nr. 2949 / II kad. 10 Dziennik Ustaw (Gesetzblatt), Nr. 12, 2003, Pos. 155. 11 Wilin´ski (o. Fn. 3), S. 69.

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durch das Gericht und die Einschränkung des Rechts der Verteidigung (Fragen nur in Schriftform). Gemäß der neuen StPO von 1997 muss der anonyme Zeuge jetzt sowohl vom Staatsanwalt im vorbereitenden Verfahren als auch vom Gericht nach der Anklageerhebung vernommen werden. Der Zeuge kann sowohl in der Verhandlung als auch außerhalb der Verhandlung von einem durch das Gericht hierzu beauftragten Mitglied des Spruchkörpers vernommen werden, und an der Vernehmung des Zeugen durch das Gericht oder durch den beauftragten Richter dürfen der Staatsanwalt, der Angeklagte und sein Verteidiger mitwirken. In den Ausführungsvorschriften sind die Formen bestimmt, in denen die Vernehmung zu erfolgen hat. In der Verhandlung sind verschiedene Techniken zur optischen und akustischen Maskierung des Zeugen zugelassen, in der Praxis wird aber häufiger auf zahlreiche Möglichkeiten zurückgegriffen, die die moderne Technik zu bieten hat. Der Zeuge befindet sich in einem mit Videokonferenz-Einrichtungen ausgestatteten Raum, aus dem das Bild und der Ton in verfremdeter Form in den Verhandlungssaal übertragen werden. Die Vernehmung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, was im Hinblick auf die Gründe für die Geheimhaltung der Identität des Zeugen verständlich ist. Da die Prozessparteien obligatorisch an der Vernehmung teilnehmen müssen, werden die Zeugen nur selten außerhalb der Verhandlung vernommen, was den Anforderungen des Art. 6 EMRK voll Rechnung trägt. V. Ein weiteres Problem betrifft die Bewertung der Aussagen aus anonymen Quellen. In diesem Bereich wurde der im polnischen Strafprozessrecht geltende Grundsatz der freien Beweiswürdigung mit der vom Straßburger Menschengerichtshof ausgearbeiteten Regeln konfrontiert. Es gilt zu überlegen, ob und inwieweit die Tatsache, dass die Zeugenaussagen anonym gemacht wurden, auf deren Be- und Verwertung durch das Gericht von Einfluss sein kann. Das geltende Recht regelt diese Frage nicht; in der StPO wurden – was offensichtlich ist – keinerlei Beweisregeln formuliert. Dies hat freilich nicht zu bedeuten, dass das Gericht im Rahmen der in Art. 7 StPO bestimmten freien Beweiswürdigung völlig außer Acht lassen soll, dass die Aussagen anonym gemacht wurden, d. h. in einer Situation, in welcher der Zeuge um die eigene Sicherheit oder die Sicherheit seiner nächsten Angehörigen fürchtete. Eine wichtige Frage kam im Zusammenhang mit dem in der Straßburger Rechtsprechung formulierten Grundsatz auf, dass die Aussagen eines anonymen Zeugen allein keine ausreichende Grundlage für die Verurteilung darstellen dürfen.12 Diese 12 Siehe insbesondere Urteile des EGMR vom 6. Mai 1985 (Bönisch v. Austria), Publications of the European Court of Human Rights. Serie A: Judgements and Decisions (im Folgenden A), Band 92 (1995), vom 24. November 1986 (Unterpertinger v. Österreich), A Band 110

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Regel gilt auch für das polnische Strafverfahren. Auf diesen Standpunkt stellte sich auch, ohne allerdings näher darauf einzugehen, das Oberste Gericht in seinem Urteil vom 16. Juni 1999.13 Das eigentliche Problem aber besteht in der Frage, welche Prozesskonfigurationen als diejenigen anzunehmen sind, in denen die Aussagen eines anonymen Zeugen tatsächlich die ausschließliche Grundlage der Verurteilung darstellen, und insbesondere, wie dieser Grundsatz in solchen Sachen zu verstehen ist, in denen neben den Beweismitteln aus anonymen Quellen auch Indizienbeweise vorliegen. Mit beiden Fragen befasst sich das Urteil des Obersten Gerichts vom 9. November 199914, in dem festgestellt wird: „Anonyme Zeugenaussagen dürfen nicht nur ein einziges (alleiniges), sie dürfen auch kein dominierendes Beweismittel sein, das auf die Täterschaft einer konkreten Person hinweist, was zu bedeuten hat, dass unter den anderen Beweismitteln auch solche vorhanden sein müssen, die unmittelbar auf die Täterschaft einer konkreten Person hinweisen“. In den Urteilsgründen verwies das OG direkt auf Art. 6 Abs. 1 und 3 d EMRK und auf die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofes, darunter auf die Urteile in den Rechtssachen Unterpertinger gegen Österreich vom 24. November 1986, Kostovski gegen die Niederlande vom 20. November 1989, Windisch gegen Österreich vom 27. September 1990, Saidi gegen Frankreich vom 20. September 199315, und insbesondere in Sachen Doorson gegen die Niederlande vom 26. März 1996 und van Mechelen gegen die Niederlande vom 23. April 1997. Im Lichte dieser Entscheidungen zeichnet sich nach Meinung des OG eine klare Linie ab, nach der die Aussagen eines anonymen Zeugen keine Grundlage für die Verurteilung darstellen dürfen, wenn sie das einzige oder dominierende Beweismittel sind. Dies sowie die Feststellung, dass in diesem konkreten Fall die Aussagen aus anonymen Quellen allein die Täterschaft des Angeklagten begründeten, führten zum Freispruch des Angeklagten vom Tötungsvorwurf. Es bleibt aber nach wie vor umstritten, ob sich aus Art. 6 Abs. 1 und 3 d EMRK tatsächlich ein definites Verbot der Verurteilung auf der Grundlage eines einzigen (oder dominierenden) Beweismittels aus einer anonymen Quelle ergibt. Eine literale Auslegung dieser Vorschriften gebietet eine gewisse Vorsicht bei der Formulierung von allzu kategorischen Urteilen. Das Oberste Gericht (und zumindest die (1987), vom 20. November 1989 (Kostovski v. die Niederlande), A Band 166 (1990), vom 27. September 1990 (Windisch v. Österreich, A Band 186 (1990), vom 19. Dezember 1990 (Delta v. Frankreich), A Band 191 (1991), vom 15. Juni 1992 (Lüdi v. die Schweiz), A Band 238 (1992), vom 26. März 1996 (Doorson v. die Niederlande), A Band 467-A (1997) und vom 23. April 1997 (van Mechelen und andere v. die Niederlande), A Band 572-C (1998). Siehe mehr dazu Hofman´ski, S´wiadek anonimowy w polskim procesie karnym (Der anonyme Zeuge im polnischen Strafprozess), 1998, S. 36 ff. 13 V KKN 22 / 99, Orzecznictwo Sadu Najwyzszego Izba Karna i Wojskowa (Rechtsprechung des Obersten Gerichts, Straf- und Militärkammer), Heft 9 – 10, 1999, Pos. 58. 14 Siehe Urteil des OG vom 9. November 1999, II KKN 295 / 98, Orzecznictwo Sadu Najwyzszego Izba Karna i Wojskowa (Rechtsprechung des Obersten Gerichts, Straf- und Militärkammer), Heft 1 – 2, 2000, Pos. 12. 15 A Band 262-C (1993).

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meisten Richter des Spruchkörpers in der Besetzung von 5 Richtern) kam jedoch offensichtlich zur Einsicht, dass in diesem Fall kein faires Strafverfahren im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag, da die Aussagen des anonymen Zeugen nicht mit anderen, die Täterschaft des Angeklagten begründenden Beweismitteln unterstützt wurden. Die im Urteil des Obersten Gerichts vom 9. November 1999 durchgeführte Analyse der Straßburger Rechtsprechung im Kontext der Beweisverwertbarkeit der Aussagen eines anonymen Zeugen scheint dabei recht oberflächlich zu sein, da sie die Umstände der Rechtssachen, in denen die erwähnten Urteile ergangen sind, nicht mitberücksichtigt hat. Und gerade die Berücksichtigung des besonderen Situationskontextes wäre der Interpretation der Aussagen des Europäischen Menschenrechtsgerichthofes und der sich vor diesem Hintergrund abzeichnenden Rechtsprechungslinie zweifelsfrei dienlich gewesen. Es muss hervorgehoben werden, dass sich der EGMR nicht in allen oben erwähnten Fällen mit dem Beweiswert von anonymen Zeugenaussagen befasste und die festgestellte Verletzung der EMRK in der Verletzung von Verfahrensregeln im Zusammenhang mit Beweisen durch anonyme Zeugensaussagen bestand, konkret darin, dass diese Beweismittel zur Grundlage für die Verurteilung gemacht wurden, obwohl die Verteidigung keine bzw. unzureichende Möglichkeiten hatte, den Aussageinhalt zu verifizieren (so Kostovski gegen die Niederlande und Windisch gegen Österreich). Im Windisch-Fall hat sich der EGMR zwar mit der Verwertbarkeit der Aussagen aus anonymen Quellen befasst, wobei sich zwischen den österreichischen und den europäischen Richtern Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dessen abzeichneten, ob diese Aussagen hinreichend durch andere in der Sache erhobene Beweise untermauert waren, dennoch wurde die Verletzung von Art. 6 Abs. 3 d EMRK nicht etwa auf Grund dieser Zweifel festgestellt, sondern auf Grund des Umstandes, dass die Verteidigung überhaupt keine Möglichkeit hatte, Fragen an Zeugen zu formulieren. Die Frage der Verwertbarkeit von anonymen Zeugenaussagen trat insbesondere in den Rechtssachen Doorson und van Mechelen (beide gegen die Niederlande) in den Vordergrund. In seinem Urteil vom 9. November 1999 richtete sich das polnische Oberste Gericht nach den Aussagen des EGMR in beiden Rechtssachen. Der Standpunkt des EGMR ist aber bei weitem nicht so kategorisch, wie es die polnischen Richter aufzufassen schienen. Das Urteil des EGMR in der Rechtssache Doorson hat die vermeintliche Verletzung der EMRK nicht bestätigt. Zwar hob der EGMR hervor, dass die aus anonymen Quellen stammenden Beweismittel weder die ausschließliche noch die dominierende Grundlage für die Verurteilung darstellen dürfen, gleichzeitig aber kam er zur Einsicht, dass dies für diese konkrete Sache nicht zutrifft, weil auch andere Beweise für die Identität von anonym gehaltenen Zeugen vorlagen. In der Rechtssache van Mechelen wurde die Verletzung des Grundsatzes des fairen Strafverfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) festgestellt. Neben den mit der Beweisaufnahme durch Befragung von anonymen Zeugen (Art. 6 Abs. 3 EMRK) verbundenen Fragen wies der EGMR darauf hin, dass die aus diesen Aussagen stammenden Beweise die fast ausschließliche Grundlage für die Feststellung darstellten, dass van Mechelen Täter des bewaffneten Postüberfalls war. Zu berücksichtigen sind dabei aber auch besondere Umstände dieses Falles.

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Die geheim gehaltenen Zeugen waren in der Rechtssache van Mechelen ausschließlich die Polizeibeamten. Nach Meinung des EGMR hätte aber gerade dieser Umstand den holländischen Gerichten eine besondere Sorgfalt bei der Bewertung dieser Beweise gebieten sollen. Die Gerichte hätten nach Meinung des EGMR in Betracht ziehen müssen, dass den Polizeibeamten die besondere Loyalitätspflicht gegenüber der vollziehenden Gewalt und dem Verfolgungsapparat obliegt. All diese Umstände ließen den EGMR zur Einsicht gelangen, dass es in der Rechtssache van Mechelen zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 und 3 d EMRK kam, weil die Beweise nicht mit einer unter diesen Umständen erforderlichen Vorsicht bewertet und der Verteidigung keine hinreichenden Möglichkeiten geschaffen wurden, die Zeugenaussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Das Urteil in der Rechtssache van Mechelen erging mit sechs gegen drei Stimmen. In seiner abweichenden Meinung rügte der holländische Richter van Dijk, ein hervorragender Kenner des Strafverfahrensrechts, die unbegründete Abkehr von der bisherigen, vor allem in der Rechtssache Doorson zum Ausdruck gebrachten Rechtsprechungslinie des EGMR. Die Beweisaufnahme durch Aussagen anonymer Zeugen sei, wie er meinte, gemäß den im Kostovski-Urteil festgelegten Verfahrensregeln (die der holländische Gesetzgeber bei der Novellierung des Strafverfahrensrechts berücksichtigt hat16) verlaufen, und die Meinung, nach der die Verurteilung nicht auf anonym gemachten Aussagen beruhen dürfe, allzu kategorisch und auf die falsche Abwägung zwischen der Notwendigkeit, die gefährdeten Zeugen zu schützen (selbst wenn diese Zeugen Polizeibeamte sind), und der Notwendigkeit, das Recht des Angeklagten auf Verteidigung zu wahren, zurückzuführen sei. Im ähnlichen Tenor waren abweichende Meinungen von zwei weiteren „Sezessionsrichtern“, Matscher und Valticos, gehalten, die sich übrigens auf die im votum separatum des Richters van Dijk ausgedrückte Rechtsauffassung stützten. Zusammenfassend muss der Standpunkt des polnischen Obersten Gerichts als allzu kategorisch angesehen werden. Eine solche Rigorosität ist, wie es scheint, kaum mit der bisherigen Rechtsprechung des EGMR begründet, die in letzter Zeit übrigens immer stärker auf die Notwendigkeit, die Kriminalität in ihren immer bedrohlicheren Formen und allen voran das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, Rücksicht zu nehmen scheint. Aus den Entscheidungen des EGMR geht unbestritten hervor, dass der Spruchkörper in Strafsachen zu besonderer Vorsicht und Sorgfalt bei der Würdigung von Aussagen anonymer Zeugen verpflichtet ist, insbesondere dann, wenn diese als verdeckte Ermittler mit der Anklage in Verbindung stehen. In Extremfällen schließen die durch die Straßburger Rechtsprechung herausgearbeiteten Standards die Verurteilung dann aus, wenn außer den Aussagen aus anonymen Quellen keine weiteren Beweise für die Täterschaft einer konkreten Person vorliegen. Diese Richtlinie darf aber nicht als eine Verneinung der freien Beweiswürdigung inter16 Die Novelle der holländischen StPO vom 11. November 1993, Staatsblad 1993, Nr. 603, die am 1. Februar 1994 in Kraft getreten ist.

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pretiert werden. Dieser Grundsatz ist ja nicht nur dem polnischen Strafprozessrecht bekannt, sondern ist im Katalog der Prozessmaximen jedes kontinentalen Systems des Strafverfahrensrechts enthalten17, und es wäre wahrhaftig verfehlt anzunehmen, dass der EGMR eine Abkehr von diesem Grundsatz „angeordnet“ hätte. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass die vom Obersten Gericht berufene Rechtsprechungslinie des EGMR eine legale Beweisregel kreiert. Denn so müsste der Grundsatz angesehen werden, dem gemäß das Vorliegen selbst eines absolut sicheren Beweismittels durch Aussagen eines anonymen Zeugen, an dessen Glaubwürdigkeit das Gericht keine Zweifel hat, für die Verurteilung nicht ausreichend ist. Die Kreierung von gesetzlichen Beweisregeln wurde übrigens von polnischen Gerichten vielfach als unzulässig abgelehnt.18 Auf einem anderen Blatt steht, wie die Forderung des OG zu verstehen ist, dass „. . . unter den anderen Beweismitteln (neben den Aussagen von anonymen Zeugen) eines vorhanden sein muss, das unmittelbar auf die Täterschaft einer konkreten Person hinweist“. Zu erwägen gilt in erster Linie, was vor diesem Hintergrund der vom OG verwendete Ausdruck „unmittelbar“ zu bedeuten hat. A limine ist abzulehnen, dass diese Formulierung an die im Fachschrifttum bekannte Unterscheidung von Beweismitteln in solche, die auf die Haupttatsache hinweisen, und solche, die unter Hinweis auf eine andere Tatsache auf die Haupttatsache lediglich schließen lassen (Indizien), anknüpft.19 Wäre nämlich die Aussage des OG als ein Verbot der Verurteilung bei Mangel eines anderen auf die Haupttatsache hinweisenden Beweises zu interpretieren, so käme dies einer Aufgabe der seit Jahren geltenden Rechtsprechungslinie hinsichtlich der Beweiswürdigung in Indizienprozessen gleich20, denn solche Prozesse müssten als in all diesen Strafsachen unzulässig 17 Waltos´, Proces karny. Zarys systemu (Der Strafprozess. Ein Systemabriss), 2007, S. 235 ff. 18 Siehe z. B. Urteil des OH vom 28. April 1997, IV KRN 326 / 95, Prokuratura i Prawo, Heft 11, 1997, Pos. 1 und Urteil des AG ódz vom 25. Januar 1996, II AKr 326 / 95, Prokuratura i Prawo, Heft 12, 1996, Pos. 30. 19 Z. B. Cies´lak, Polska procedura karna (Das polnische Strafverfahren), 1984, S. 416; Marsza , Proces karny (Der Strafprozess), 1998, S. 199; Kmiecik / Skretowicz, Proces karny. Czes´c´ ogólna (Der Strafprozess – Allgemeiner Teil), 1999, S. 91. 20 Siehe z. B. Urteile des Obersten Gerichts vom 3. Oktober 1974, I KR 174 / 74, Orzecznictwo Sadu Najwyzszego Izba Karna i Wojskowa, Heft 3 – 4, 1975, Pos.. 117, Pan´stwo i Prawo, Heft 4, 1976, 117 mit Anmerkungen von Daszkiewicz und Palestra, Heft 2, 1976, 39 mit Anmerkungen von Cies´lak und Doda, vom 4. Juni 1983, RW 420 / 83, Orzecznictwo Sadu Najwyzszego Izba Karna i Wojskowa, Heft 12, 1983, Pos. 101 und Nowe Prawo, Heft 5, 1984, 70 mit Anmerkung von Prusak, vom 14. Dezember 1984, III KR 305 / 84, Orzecznictwo Sadu Najwyzszego, herausgegeben von Prokuratura Generalna, Heft 8, 1985, Pos. 119, vom 23. Juli 1992 , II KRN 102 / 92, nicht veröffentlicht, sowie vom 4. Juli 1995, II KRN 72 / 95, Prokuratura i Prawo, Heft 11 – 121, 1995, Pos. 6 und Przeglad Sadowy, Heft 11 – 12, 1997, 48 mit Anmerkungen von Cies´lak und Grajewski, sowie Urteile der Appellationsgerichte in Bia ystok vom 21. März 1991, II AKr 4 / 91, Orzecznictwo Sadów Apelacyjnych (Rechtsprechung der Appellationsgerichte), Heft 3, 1991, Pos. 16, in ódz´ vom 6. April 1994, II AKr 49 / 94, Orzecznictwo Sadów Apelacyjnych, Heft 7, 1994, Pos. 46, in Kraków vom 23. Juni

Polnische Erfahrungen mit dem anonymen Zeugen

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angesehen werden, in denen ein Beweismittel durch Aussagen eines anonymen Zeugen vorliegt. Ein solches Beweismittel müsste nämlich durch andere bestätigt werden, die keinen Indizcharakter haben. Einer solch absurden Interpretation seiner These widerspricht übrigens das OG in den Urteilsgründen selbst. Ungeachtet ihres allzu kategorischen Tenors ist die Urteilsthese des OG als eine Richtlinie zu verstehen, der gemäß eine Verurteilung dann nicht möglich ist, wenn auf die Täterschaft des Angeklagten nur ein einziges, mit besonderer Vorsicht zu würdigendes Beweismittel aus einer anonymen Quelle hinweist, und auch dann, wenn andere auf die Täterschaft des Angeklagten hinweisende Beweise für die finale Bewertung von Beweismitteln ohne wesentliche Bedeutung sind. Diese Auffassung steht mit der im Urteil des in der Besetzung von sieben Richtern erkennenden OG vom 11. Januar 199621 im Einklang, dem gemäß die Verurteilung sich auch auf ein einziges Beweismittel stützen kann, unter der Voraussetzung allerdings, das dieses Beweismittel nicht den anderen widerspricht, die zwar für die Frage der Strafverantwortlichkeit keine entscheidende Bedeutung haben, dennoch der Feststellung bzw. der Verifizierung des Sachverhalts in Bezug auf bestimmte Fragmente des Geschehens zugrunde liegen. Zwar bezieht sich diese These nicht unmittelbar auf ein Beweismittel aus anonymer Quelle, dennoch kann dem Gericht selbst dann, wenn dieses entscheidende Beweismittel aus einer anonymen Quelle stammt, nicht verboten werden, den Sachverhalt entsprechend seiner tiefen Überzeugung festzustellen, wenn andere Beweise den Aussagen des anonymen Zeugen nicht widersprechen und diese Aussagen sich anhand anderer in der Sache erhobenen Beweise verifizieren lassen. Eine Verurteilung kann nicht ausgeschlossen werden, wenn das Beweismittel durch Aussage eines anonymen Zeugen der einzige Beweis ist, der auf die Täterschaft des Angeklagten hinweist, und außerdem noch Indizien vorliegen, die auf die Täterschaft des Angeklagten schließen lassen oder gar nur die Glaubwürdigkeit des anonymen Zeugen untermauern. Möglich ist auch die Situation, dass das Beweismittel durch Aussagen eines anonymen Zeugen ein Indizbeweis ist. Dies kann die Feststellung der Täterschaft des Angeklagten nicht verhindern, wenn neben den Aussagen eines anonymen Zeugen auch andere Beweismittel, und seien es nur solche mit Indizcharakter, erhoben wurden, die zusammen mit dem Beweis durch Aussagen von anonymen Zeugen die Indizienkette in einer Art ergänzen, die auf die Täterschaft des Angeklagten schließen lässt. Es liegt dabei auf der Hand, dass das aus einer anonymen Quelle stammende Beweismittel stets mit besonderer Sorgfalt zu würdigen ist, und dies nicht mit Rücksicht auf seine Natur, sondern auch darauf, dass weder die Richter des Spruchkörpers noch die Prozessparteien in solchen Fällen die Möglichkeit haben, 1994, II AKr 56 / 95, Krakowskie Zeszyty Sadowe, Heft 6 – 8, 1994, Pos. 53 und in Rzeszów vom 26. Januar 1995, II AKr 5 / 95, Prokuratura i Prawo, Heft 7 – 8, 1995, Pos. 27. 21 II KRN 178 / 95, Monitor Prawniczy, Heft 10, 1996, 376, und Przeglad Sadowy. Heft 11 – 12, 1997, 48 mit Anmerkungen von Doda und Grajewski.

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die Glaubwürdigkeit des anonymen Zeugen an seinem Verhalten bei der Vernehmung, seinen spontanen Reaktionen auf die gestellten Fragen etc. zu bewerten und zu verifizieren. Ein erfahrener Richter dagegen benötigt keine Ratschläge hinsichtlich der Würdigung von solchen Beweismitteln. Es reicht, wenn er sich nach dem in Art. 7 StPO ausgedrückten Grundsatz22 leiten lässt. VI. Die Bilanz nach 12 Jahren seit Einführung des Rechtsinstituts des anonymen Zeugen in die polnische Strafrechtsordnung fällt nicht optimistisch aus. In den ersten Jahren waren zahlreiche Fehler, insbesondere im vorbereitenden Verfahren, zu verzeichnen. Der Preis, den es für die Fehler zu zahlen galt, war hoch, weil die Gerichte oft vor einer schwierigen Entscheidung standen, zwischen der Sicherheit des Zeugen auf der einen Seite und der Notwendigkeit einer gerechten Aburteilung der Straftäter auf der anderen Seite wählen zu müssen. Angesichts eines solchen Dilemmas nahmen die Gerichte meistens die gefährdete Sicherheit von anonymen Zeugen in Schutz, und die mangelhaft erhobenen Beweise sahen sie als für die Verurteilung untauglich an. Entgegen den Erwartungen der Staatsanwaltschaft waren die Gerichte kaum geneigt, die der Verteidigung vorenthaltenen Informationen zu einer Grundlage für die Verurteilung zu machen, und eine Offenlegung dieser Informationen lehnten sie mit Rücksicht auf die Loyalität gegenüber den anonymen Zeugen ab. Die Praxis hat gezeigt, dass dieses Rechtsinstitut in nur wenigen Fällen zur Anwendung gebracht werden kann. Als ineffektiv ist es vor allem in Verfahren im Bereich des organisierten Verbrechens zu bewerten. Wegen der in kriminellen Gruppen bestehenden Beziehungen und Abhängigkeiten kann die Identität eines anonymen Zeugen anhand seiner Aussagen fast immer aufgedeckt werden. In einem beschränkten Umfang erleichtert dieses Rechtsinstitut die Verwertung von Beweisen durch Aussagen dieser anonymen Zeugen, die verdeckte Ermittler und polizeiliche Lockspitzel sind. Die polnische Strafprozessordnung lässt es nämlich nicht zu, die Vernehmungsaussagen durch den sog. Beweis vom Hörensagen zu ersetzen. Im letzteren Fall geht es zwar darum, den verdeckten Ermittler eher mit Hinsicht auf dessen künftige Nützlichkeit als aus Sorge um seine Sicherheit vor Enttarnung zu schützen, dennoch steht außer Zweifel, dass die Offenbarung seiner Identität eine reelle Gefahr für Leib und Leben des verdeckten Ermittlers bedeuten kann.

22 Auf das Urteil des OG vom 9. November 1999 und die abweichende Meinung ging ausführlich Hofman´ski, ein: Anmerkung zum oben erwähnten Urteil, Palestra, Heft 2 – 3, 2000, 211 ff.

Laienrichter im Strafverfahren. Eine historisch-rechtsvergleichende Betrachtung Von Hans-Heiner Kühne

I. Die Geschichte des Richteramtes Wenn wir in die frühe gesellschaftliche Entwicklung der Stämme zurückgehen, dann finden wir in der Regel Stammesgemeinschaften, die sich an bestimmten Terminen, zumeist auch an sogenannten Heiligen Orten, treffen, um gemeinsam Gericht zu halten. Diese basisdemokratische Form des Gerichtswesens wird etwas später abgelöst durch Ältestenräte, die richterliche Funktionen übernehmen. Aber schon mit der Entwicklung einer hierarchischen gesellschaftlichen Struktur, die ihre Spitze bei einem Stammesführer, einem Herrscher oder später dann einem König oder Kaiser fand, wird die Gerichtsbarkeit zentrale Aufgabe und wichtiges Privileg der herrschenden Klasse. Da in größeren gesellschaftlichen Organisationen die Herrschenden nicht mehr alleine die Gerichtsbarkeit ausüben konnten, mussten sie Personen als Vertreter mit dieser Aufgabe betrauen. Dies waren meist angesehene Persönlichkeiten, die im weiteren Rahmen der Gruppe der Herrschenden angehörten. Eine Spezialisierung im Hinblick auf diese richterlichen Aufgaben gab es zunächst nicht. Auf dem europäischen Kontinent entwickelte sich in der germanischen Zeit aus diesen Vorgaben ein System, welches Eideshelfer oder Schöffen mit in die Rechtsprechung aufnahm. Zunächst waren Eideshelfer Personen aus dem Umfeld der Tat, die aus heutiger Sicht eher Zeugenfunktionen hatten und dem Richter Informationen über ortsübliches Verhalten vermitteln konnten. Diese Regelungen, die letztlich auf die lex salica (ca. 500 n.Chr.) zurückgingen, wurden im 9. Jahrhundert durch Karl den Großen geändert, der das Schöffengericht einführte. Hiernach sollten pro Gericht zu einem Vorsitzenden jeweils sieben Schöffen als juristisch besonders gebildete Personen mit Kenntnis über die örtlichen Gegebenheiten Recht sprechen. Diese Schöffen mussten schwören, dass sie wissentlich nicht ungerecht urteilen würden (ut scientes iniuste iudicare non debeant). Die spätere Bezeichnung der Schöffen als Geschworene ist auf diese Schwurformel zurückzuführen. Diese Regelungen hielten sich die folgenden 500 Jahre, wie sich auch aus dem Sachsenspiegel (1215 – 1235), dem Deutschen Spiegel (1275) und dem Schwabenspiegel (1276) ergibt, in welchen die Schöffen in derselben Weise beschrieben wurden.

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Die Rezeption des Römischen Rechts vom 15. Jahrhundert an bewirkte dann einerseits, dass man studierte Juristen als Richter benötigte. Andererseits kannten diese Juristen die jeweiligen Lokalrechte nicht und mussten daher auf Kenntnisse der dort Lebenden zurückgreifen. Hier waren es wieder die Schöffen, die den studierten Richtern dieses Wissen vermittelten. Gleichwohl wuchsen Generationen von studierten Richtern heran, die auch das lokale Recht kannten und damit die Schöffen verdrängten. Auch die ausdrückliche Erwähnung der Schöffen als gleichberechtigte Richter im Strafverfahren durch die peinliche Halsgerichtsordnung von Karl V. (1532) konnte diese Entwicklung letztlich nicht stoppen. Die Justiz und das Richtertum entwickelten sich in der Folgezeit bis zur Französischen Revolution zu einer Justiz der Herrschenden, welche durch ausgebildete Juristen in vom Herrscher abhängiger Position ausgeübt wurde.1 Das Werk von Charles de Montesquieu „De l’Esprit de Loi“, in der die Teilung der Staatsgewalten in drei unterschiedliche Segmente gefordert wurde, führte zu Bemühungen, die Gerichte unabhängig zu gestalten. Montesquieu selbst betrachtete Schwurgerichte als Ausdruck des Prinzips der Gewaltenteilung: Männer aus dem Volk sollten zu Gericht sitzen und nicht abhängige Beamte, die Recht von Berufs wegen sprachen und die zum Bereich der Exekutive zählten. Obwohl die „Declaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“ von 1789 sich bei den Justizgrundrechten nicht mit der Funktion und Tätigkeit von Richtern beschäftigt, steht sie doch in einem geschichtlichen Verständnis, welches die Schöffengerichte als einzig denkbare Form eines Gerichtes voraussetzt. Mit Gesetz vom 30. April 1790 wurde in Frankreich dann formell die grundsätzliche Einführung des Geschworenengerichts beschlossen.2 Trotz der folgenden politisch überaus unruhigen Zeiten blieb diese Gerichtsform bestehen und wurde insbesondere von Napoléon in seinem Entwurf des „Code d’Instruction Criminelle“ übernommen. Allerdings litt die Unabhängigkeit dieser Spruchkörper dadurch, dass die Regierung die Entscheidungsgewalt über die Ernennung von Schöffen hatte und damit nur jeweils genehme Personen in diese Positionen einrückten. Die französischen Schwurgerichte waren mit zwölf Schöffen besetzt, die lediglich über die Tatfrage zu entscheiden hatten. Die Berufsrichter mussten über die Rechtsfragen urteilen. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurde die Idee des Schöffengerichtes sehr kontrovers diskutiert. Dies nicht nur wegen der traditionellen politischen Feindseligkeiten gegenüber Frankreich. Vor allem Feuerbach hat in seiner 1813 erschienenen Monographie über „Betrachtungen über das Geschworenengericht“ darauf hingewiesen, dass auch die Tatsachenbewertung Gesetzeskenntnisse und Kenntnisse 1 Informationen zu dieser geschichtlichen Entwicklung bei Grube, Richter ohne Robe. Laienrichter in Strafsachen im deutschen und anglo-amerikanischen Rechtskreis, 2005, S. 35 ff. 2 Auslöser dafür war die berühmte Flugschrift des Abbé Sieyès mit dem Titel „Qu’est-ce que le trière Etat?“.

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über die Anwendung des Gesetzes voraussetzte.3 Auch Mittermaier, eine weitere juristische Größe des 19. Jahrhunderts, sprach sich gegen die Laienbeteiligung im Strafrecht aus und unterstrich vor allem die Unsicherheiten der Rechtsprechung, die sich daraus ergeben könnten.4 Gleichwohl setzte sich auch in Deutschland das Geschworenengericht im Wesentlichen nach französischem Vorbild durch. Es wurde als einzige Möglichkeit gesehen, die willkürliche Kabinettsjustiz durch abhängige Richter in ihre Schranken zu weisen, indem freie Männer – Frauen wurden in diesem Zusammenhang damals noch nicht erwähnt – aus dem Volke unerschrocken für gerechte Urteile einträten.5 Auch in England gab es seit dem 11. Jahrhundert, also der normannischen Zeit, ähnlich wie auf dem Kontinent die Eideshelfer, welche zunächst einmal Zeugenfunktion hatten. Die vom König eingesetzten reisenden Richter mussten in kontroversen Fällen mit Hilfe eines „Writ of Venire Facitas“ den örtlichen Sheriff anweisen, aus der betroffenen Ortschaft zwölf nicht mit den Parteien verwandte freie Männer heranzuschaffen, die als Helfer bei der Rechtsfindung fungierten. Erst seit Anfang des 13. Jahrhunderts in Folge des Laterankonzils von 1215 verbreitete sich auch in England das sogenannte Assisen-System. Hier wurden die Schöffen durch einfache Zeugen ergänzt. Wie auf dem Kontinent wandelte sich damit die Funktion der Schöffen von qualifizierten Zeugen zu richterlichen Bewertern der Tatfrage. Anders als auch heute noch in England häufig vertreten, wurzelt die Laienbeteiligung in der Strafjustiz nicht in der Magna Charta von 1215. Dort wurde zwar in der Klausel Nr. 39 das Prinzip des „iudicium parium“ eingeführt (no free man . . . shall be imprisoned except by lawful judgement of his peers). Diese Vorschrift ist jedoch nur verständlich aus der feudalen Klassenstruktur der damaligen Gesellschaft. Die Nobilität wollte sich nicht von Richtern, die unterhalb ihres sozialen Standes angesiedelt waren, verurteilen lassen, noch sollte der König, dessen Gerichte für Rechtsmissbrauch im Sinne königlicher Interessenwahrnehmung berühmt waren, dies dürfen. Das alles hatte also mit der beruflichen Qualifikation als Jurist oder Nichtjurist – eine Qualifikation, die im 13.Jahrhundert in der uns geläufigen Form noch nicht wirklich existierte – überhaupt nichts zu tun. Auch der „Act of Settlement“ von 1701 unterscheidet nicht Laien- und Berufsrichter. Hier wird nur klargestellt, dass allein das Parlament Richter entlassen könne. Ein Beitrag zur Unabhängigkeit der Richter also. Gleichwohl ist es durch Tradition im englischen Rechtsbewusstsein tief verwurzelt, dass Strafjustiz grundsätzlich nur Jury-Justiz sein könne.6 Vielleicht war es Nähere Nachweise bei Kühne, ZRP 1985, 237. Vgl. die vorige Fußnote. 5 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, 1813, S. 47 ff., 57, 64, 152, moniert allerdings zu Recht die eingeschränkte Bedeutung dieser Gerichte, solange der Monarch auch die Besetzung der Laienrichter maßgeblich beeinflussen könne. 6 Vgl. das 5. und 7. Amendment der amerikanischen Verfassung von 1791 sowie Nr. 11 der Verfassung von Virginia aus 1776, wo sehr eindrucksvoll ausgeführt wird: „That in con3 4

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diese über Jahrhunderte tradierte Überzeugung, die es verhindert hat, eine solche Regelung noch einmal ausdrücklich zu formulieren. Dieses Empfinden scheint sich aber in neuerer Zeit zu wandeln. Zwar wird das Jury-Verfahren selbst nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Allerdings ist festzustellen, dass es im Vereinigten Königreich wie in den USA praktisch nur als seltene Ausnahme vorkommt.7 Auch der gleichsam zweite Zweig der strafrechtlichen Laienjustiz, die magistrate’s courts, die über 90% aller Strafverfahren erledigen8, ist erst kürzlich restrukturiert worden. Der „Courts Act“ von 2003 sieht vor, dass die Richter am magistrate’s court, die sich bislang fast ausschließlich aus Laien zusammensetzten9, nunmehr vermehrt aus der Gruppe der Berufsjuristen zu wählen seien. Dies mag als Zeichen für den Beginn einer Abwendung von der Beteiligung von Laienrichtern in der Strafjustiz gewertet werden. In Amerika wurde allein aus historischen Gründen zunächst einmal das englische Jury-System übernommen und in der US-amerikanischen Bill of Rights von 1791 auch für die Bundesgerichtsbarkeit in Art. III section 2 no. 3 festgelegt. Im 5. Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wird dann festgelegt, dass „major crimes“ nur vor Grand Juries verhandelt werden können. Die heutige Praxis zeigt freilich auch hier, dass diese Verfahrensart bei allen Beteiligten unbeliebt ist und daher zumeist vermieden wird.10 II. Laienrichter in den europäischen Strafverfahrensrechtssystemen In Deutschland haben wir nach wie vor eine begrenzte Beteiligung von Laienrichtern an Strafverfahren. In der Großen Strafkammer sitzen neben drei Berufsrichtern zwei Laienrichter. Beim Amtsgericht können ebenfalls bis zu zwei Schöffen je nach Schwere des Tatvorwurfs als Richter hinzugezogen werden. Anders als nach französischem und anglo-amerikanischem Vorbild ist in Deutschland die richterliche Tätigkeit der Schöffen nicht auf Tatfragen begrenzt. Schöffen wirken zwar nur in der Hauptverhandlung mit, sind also an Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, nicht beteiligt, haben aber in der Hauptverhandlung dieselben Rechte wie die Berufsrichter. Lediglich im Hinblick auf die Akteneinsicht besteht ein gewisser Streit. Die Rechtsprechung des BGH hatte zunächst kategorisch ausgeschlossen11, dass Laienrichter in die Akten einsehen dürfen. Zu groß sei die Gefahr der dadurch eintroversies respecting property, and in suits between man and man, the ancient trial by jury is preferable to any other, and ought to be held sacred“. 7 Gerding, Trial by Jury, Die Bewährung des englischen und US-amerikanischen Jury Systems, 2007, S. 293 und 299. 8 Quick / Wells, in: Becker / Kinzig (Hrsg.), Rechtsmittel im Strafrecht, 1999, S. 11. 9 Näher Gerding (o. Fn. 7), S. 86 ff. 10 Vgl. Fn. 7.

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tretenden Voreingenommenheit. Berufsrichter würden in dieser Gefahr Kraft ihrer Ausbildung nicht stehen. Erst neuerdings hat der BGH begonnen, sehr vorsichtig erkennen zu lassen, dass diese Ansicht zumindest nicht mehr in allen Fällen so richtig sein müsse.12 Anlass für diesen behutsamen Ansatz einer Kehrtwendung könnten wissenschaftliche Studien sein, die gezeigt haben, dass Juristen wie Nichtjuristen sich gleichermaßen durch vorherige Aktenkenntnis Vorurteile aneignen können.13 In England und Wales werden auf der Ebene der magistrate’s courts bislang alle Entscheidungen fast ausschließlich von Laienrichtern getroffen. Der clerk als einzige Person mit einem gewissen juristischen Verständnis, nicht notwendig aber mit einer richtigen juristischen Ausbildung, steht den Richtern des magistrate’s courts als Ratgeber in Rechtsdingen zur Verfügung. Nur in wenigen Fällen haben wir sogenannte stipendary judges, also Berufsjuristen als Richter am magistrate court, dies insbesondere in größeren Städten. Der bereits erwähnte Courts Act von 2003 soll mittelfristig dazu führen, dass die magistrate’s courts überwiegend mit Berufsjuristen besetzt werden. Der Crown Court, für mittlere und schwere Delinquenz zuständig, ist ein Geschworenengericht, welches unter der Leitung eines Berufsrichters mit zwölf Laienrichtern sitzt. Die Geschworenen entscheiden über die Tatfrage. Diese Entscheidung sollte einstimmig ergehen, aber Entscheidungen 10:2 reichen ebenfalls aus, Jurys Act, section 17. Der Berufsrichter fasst nach der Beweisaufnahme gegenüber der Jury das gesamte Verfahren noch einmal zusammen und kann damit auf die Mitglieder der Jury einen nicht unerheblichen Einfluss ausüben (summing up). In der amerikanischen Version des Jury-Verfahrens ist eine solche Zusammenfassung nicht vorgesehen, weil sie dort – nicht zu Unrecht – in Verdacht steht, die Jury-Mitglieder zu beeinflussen.14 In Frankreich ist der sogenannte court d’assise ein Jury-Gericht mit einem Berufsrichter und sechs Laienbeisitzern. Er ist in erster Instanz zuständig für mittlere und schwere Kriminalität. Seit dem 01. 01. 2001 gibt es auch eine Berufung gegen Entscheidungen des Assisen-Gerichtes – früher war nur eine Kassation möglich, d. h. also eine Überprüfung der Rechtsfragen, weil der Schuldspruch des AssisenGerichts als Volkesstimme Gottesstimme und daher nicht anzweifelbar war –, die allerdings wiederum vor ein anderes Assisen-Gericht mit sechs Laienrichtern führt. Das Verfahren der Berufung der Laienrichter ist sehr kompliziert und sieht viele Ablehnungsmöglichkeiten von Seiten der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung BGHSt 13, 73. BGH NStZ 1987, 181, und 1997, 507. Die Richterschaft sieht das allgemein aber doch restriktiver, vgl. info DRiZ 2003, 116. 13 Etwa Haisch, MSchrKrim 1979, 157; Schünemann, StV 2000, 159. 14 Näher Gerding (o. Fn. 7), S. 427 ff. 11 12

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vor. Um diese meist sehr zeitintensiven Probleme zu vermeiden, einigen sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung häufig darauf, den Deliktsvorwurf zu reduzieren und damit die Zuständigkeit eines tribunal correctionnel zu eröffnen, welches nur mit Berufsrichtern besetzt ist. Diese Technik nennt man correctionalisation judiciaire. Wegen derselben Schwierigkeiten bei der Auswahl der Geschworenen mit den diversen begründungspflichtigen (for cause) und nicht begründungspflichtigen Ablehnungen (peremptory challenges) werden auch im englischen wie im US-amerikanischen Jury-Verfahren häufig Absprachen getroffen, die den Wegfall der Jury-Zuständigkeit zum Ziel haben.15 Im Übrigen wird in den USA16 wie auch in England17 der Auswahlvorgang der Jury heftig kritisiert, weil damit Vorurteile gleichsam personalisiert werden. In Italien ist für Schwerverbrechen der Corte di Assise zuständig, der mit zwei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern sitzt. Ähnlich wie nach deutschem Recht haben die Laienrichter in der Hauptverhandlung dieselben Rechte wie die Berufsrichter. Österreich sieht in Art. 91 seines Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Notwendigkeit der Beteiligung von Laien am Gerichtswesen vor. Für schwere Straftaten sind Geschworenengerichte zuständig, die mit drei Berufsrichtern und acht Geschworenen besetzt sind. Die Geschworenen entscheiden nur über die Schuld und im Falle einer Verurteilung zusammen mit den Berufsrichtern über das Strafmaß. Für mittlere und kleinere Kriminalität gibt es die Schöffengerichte, die mit zwei Berufs- und zwei Laienrichtern besetzt sind. In diesen Gerichten haben die Schöffen während der Hauptverhandlung die gleichen Rechte wie die Berufsrichter. In Spanien ist der Juez de Paz, der Friedensrichter, ein vom Gemeinderat gewählter Laie, der im Strafrecht bis zu 30 Tagen Freiheitsstrafe verhängen kann. Für schwere Kriminalität ist die Audienca Provincial zuständig, die entweder mit drei Berufsrichtern oder mit einem Berufsrichter und neun Laienrichtern sitzt. Letzteres ist selten. Die Laienrichter sind nur für Schuldfragen zuständig. In allen genannten Ländern sind die Rechtsmittelgerichte ausschließlich mit Berufsrichtern besetzt. Allein die Niederlande kennen keine Laienrichter im Strafrecht.

Grube (o. Fn. 1), S. 211 ff.; vgl. auch Gerding (o. Fn. 7), S. 218 ff. und 297 ff. Frederick, Mastering Voir Dire and Jury Selection: Gaining an Edge in Questioning and Selecting a Jury, Chicago 1995; Wagner, Art of Advocacy-Jury Selection, Loose Leaf Ed, 22nd Release, N.Y. 2003. 17 Zander, A Matter of Justice: The Legal System in Ferment, Oxford 1989, S. 227; Sanders / Young, Criminal Justice, 1996, S. 356 ff. 15 16

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III. Argumente für und gegen Laienrichter in einer modernen Strafrechtspflege 1. Politische und dogmatische Argumente In der auslaufenden Zeit des geheimen und schriftlichen Inquisitionsverfahrens gemeinrechtlicher Prägung versprach man sich von der Laienbeteiligung im Strafverfahren im Wesentlichen die Kontrolle abhängiger Berufsrichter durch wackere Bürger, deren Freisinn und Rechtschaffenheit dem wirklichen Recht gegen ebenso abhängige wie bornierte Berufsrichter und anmaßende Fürstenwillkür zum Sieg verhelfen sollte. Damit war im 19. Jahrhundert der Siegeszug des Laienrichtertums vorprogrammiert. Heute werden in der zivilisierten Welt Strafverfahren öffentlich und mündlich von Richtern mit verfassungsrechtlich garantierter und praktisch bestens realisierter Unabhängigkeit durchgeführt, denen jederzeit ein Verteidiger mit weitgehenden Rechten entgegentreten kann. Das historische Argument für Laienrichter hat sich damit erschöpft. Gleichwohl gibt es, wie wir gerade gesehen haben, noch fast überall Laienrichter. Als Rechtfertigung werden dafür hauptsächlich drei Argumente angeführt: Erstens: das Demokratieprinzip soll die Teilhabe des einfachen Staatsbürgers an der öffentlichen Staatsmacht fördern. In einer Zeit, in der nicht mehr Geburt und Standeszugehörigkeit, sondern allein die allen zugängliche juristische Ausbildung Voraussetzung für die Erlangung des Richteramts ist, werden aber gerade durch den heute üblichen Weg zum Richteramt die Forderungen des Demokratieprinzips verwirklicht. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Beteiligung von juristischen Laien an der Justiz nicht als Forderung aus dem Demokratieprinzip angesehen.18 Es ist damit eine eher rechtspolitische Frage, ob durch Laienrichter die Maxime der Partizipation an staatlicher Gewalt stärker gegenüber der der bloßen Repräsentanz gefördert wird. Das zweite Argument ist die Steigerung der Qualität der Rechtsprechung in Form und Ergebnis.19 Dies wird mit den Stichworten Bürgernähe, Gegenwartsbezug, Rechtsempfinden und Plausibilitätskontrolle umschrieben. Bürgernähe und Gegenwartsbezug bringe der Schöffe ein, indem er beim Ausfüllen normativer Freiräume die Wertung des Volksempfindens berücksichtige und damit einem wirklichkeitsfernen, unter Umständen betriebsblinden Dezisionismus der Berufsrichter entgegen wirke.20 Zudem werde der Berufsrichter dabei zu einer allgemein verständlichen Darstellung seiner Überlegungen gezwungen.21 Warum freilich die Wertung der Laien die Überzeugung in der Bevölkerung besser treffen soll, bleibt ungeklärt, da das Berufsrichtertum (wie erwähnt) heute nicht BVerfG 42, 206, 208. Peters, StPO, 4. Aufl. 1984, S. 118; Jung, in: FS 150 Jahre LG Saarbrücken, 1985, S. 317, 331; Dölling, in: FS Reinhard Böttcher, 2007, S. 41, 45 ff. 20 Peters (o. Fn. 19), S. 119. 18 19

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mehr Privileg einer bestimmte Bevölkerungsgruppe ist. Im Übrigen entstammen nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland die gewählten Schöffen überwiegend denselben sozialen Schichten wie die Berufsrichter, sondern es fehlt auch an einer schichtspezifischen „Durchmischung“ der Laienrichter, die eine Repräsentanz der gesamten Bevölkerung darstellen könnte.22 Unterstellt man, dass Juristen sich im Verfahren für Laien unverständlich artikulieren – was bereits dem Angeklagten gegenüber ein Verstoß gegen das Prinzip des rechtlichen Gehörs wäre –, so müssten Schöffen durch entsprechendes Nachfragen dies korrigieren können. Selbst wenn man annimmt, dass Schöffen in solchen Situationen tatsächlich fragen – was wegen der von Praktikern und Wissenschaftlern berichteten meist passiven Beteiligung von Schöffen jedoch eher Wunschvorstellung bleibt23 –, ist der Schöffe infolge fehlender Beherrschung der fachjuristischen Terminologie nicht in der Lage, die Richtigkeit der „Übersetzung“ durch den Berufsrichter in die Umgangsprache zu überprüfen.24 Dem ist auch nicht durch Fortbildung der Schöffen abzuhelfen. Eine solche Unterrichtung könnte sowieso nur zu juristischer Halbbildung führen, die jedoch noch mehr Kommunikationsprobleme aufwürfe als die volle juristische Naivität. Überdies würde in dem Maße der zunehmenden juristischen Bildung die vom Laien doch gerade erhoffte Unbefangenheit des Rechtsempfindens abnehmen; ein Vorgang, der die diesbezügliche Argumentation für die Laienbeteiligung ad absurdum führt. Rechtsempfinden und Plausibilität soll der von juristischer Ausbildung und Praxis nicht angekränkelte Schöffe unverfälscht einbringen.25 Es kann kaum geleugnet werden, dass juristische Schulung und Umsetzung in die forensische Praxis das Rechtsempfinden stark formen. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass juristische Dogmatik der Verbesserung des Ausgleichs zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit dient. Nur in den Fällen, in denen dogmatisch stringente Erwägungen zu offensichtlich verfehlten Ergebnissen führen, könnte das naive Judiz eines Schöffen gegenhalten. Aber auch Schöffen sind an das geltende Recht gebunden. Die Hoffnung, im Nichtjuristischen die Weisheit des Volkes – was immer das sein mag – zu finden, ist gerade heute im Zeitalter einer hochdifferenzierten Gesellschaft mit entsprechend komplexen Rechtsregeln eher eine romantisch verklärte Träumerei. Als drittes Argument für die Rechtfertigung der Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege wird ein volkspädagogischer Effekt angeführt, den die Schöffen auslösen sollen, indem sie die Akzeptanz von Rechtsprechung durch die Bürger erhöEser, in: Kroesche / Cordes, Vom nationalen zum transnationalen Recht, 1995, S. 178. Vgl. die rechtsvergleichenden Angaben bei Vidmar, World Jury Systems, 2000, S. 28 ff. 23 Rennig, Die Entscheidungsfindung durch Schöffen und Berufsrichter in rechtlicher und psychologischer Sicht, 1993, S. 531, 569. 24 Deshalb spricht Lilie, in: FS Rieß, 2002, S. 303, 315, zu Recht vom Schöffen als einer blinden Kontrollinstanz. 25 Dölling, in: FS Reinhard Böttcher, 2007, S. 41, 47 f. 21 22

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hen, die Rechtskenntnis des Volkes verbessern und dabei zur Verinnerlichung von Strafrechtsnormen beitragen und zugleich generalpräventiv wirken.26 Was die Akzeptanz betrifft, ein eher psychologisches Phänomen, sind zwei Möglichkeiten denkbar: Der rechtsunterworfene Bürger sieht den Schöffen als Garant für eine vernünftige, d. h. selbst in ihrer negativen Wirkung erträgliche und richtige Entscheidung oder er misstraut dem Schöffen als einem Nichtfachmann, der weder hinreichende Distanz noch Kompetenz für die Mitwirkung an der Entscheidung hat. Empirische Untersuchungen hierzu liegen nicht vor, so dass man auf bloße Vermutungen angewiesen ist. Die Rechtskenntnis des Volkes mit der generalpräventiven Folge stärkerer Verinnerlichung der Normen würde durch die Beteilung von Schöffen nur vermehrt werden können, wenn diese gleichsam missionarisch und außerhalb ihrer Gerichtstätigkeit lehrend tätig werden würden. Es bliebe auch in diesem Zusammenhang zu klären, ob die in ihrem Bekanntenkreis oder anderswo von ihren forensischen Erfahrungen berichtenden Laien mehr Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft genießen als Berufsrichter, die das Gleiche tun. Nach alledem ist die Beteiligung von Laien an der Strafrechtspflege zur Erreichung besserer Urteile nicht hilfreich. Eher sind Befürchtungen begründet, durch Laienrichter könnten vermehrt emotional belastete und nicht der Rechtslage entsprechende Entscheidungen ergehen. Das insbesondere in den USA heiß diskutierte Verfahren der Jury Nullification, d. h. also eines Jury-Spruchs, der bewusst entgegen der Tatsachen und Rechtslage ergeht, ist hierfür ein überzeugender Beleg. Während eine solche Entscheidung nach kontinentalem Recht unzulässig wäre, wird sie in den USA überwiegend als zulässig anerkannt.27 Auch aus beweisrechtlicher Perspektive sind Laienrichter eher problematisch. Soweit die Laienrichter ihren Spruch nicht begründen müssen – was bei allen Geschworenengerichten französischer Prägung sowie den anglo-amerikanischen Juries der Fall ist –, kann die Beachtung prozessualen Beweisrechts nicht überprüft werden. Damit läuft das Herzstück des Strafverfahrens leer. Weder Tatsachen- noch Rechtsfragen können von Laienrichtern hinreichend kompetent behandelt werden. Bei Rechtsfragen ist dies evident. Hier sind die Laien vollständig von der Aufklärung durch die Berufsrichter abhängig, was ein Argument gegen ihre Eigenständigkeit und fachliche Unabhängigkeit ist. Aber auch die Tatfragen kann der Laienrichter nicht wirklich verstehen. Schon Feuerbach hatte erkannt, dass sich erst aus der Rechtskenntnis die Relevanz von Tatsachen ergibt. Ein Wechselspiel von Normauswahl für den Sachverhalt und Faktenauswahl für die Normen konstituiert den Sachverhalt28, also die Selektion 26 Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 7 Rn. 16; Dölling, in: FS Reinhard Böttcher, 2007, S. 41, 48; Jung, in: FS 150 Jahre LG Saarbrücken, 1985, S. 317, 331. 27 Ausführlich Gerding (o. Fn. 7), S. 54 ff. 28 Näher Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, 1978, S. 51 f. m. w. N.

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bestimmter Tatsachen aus einer fast unendlichen Fülle von Realität. Deshalb können Nichtjuristen in Ermangelung von Normkenntnis diesen Prozess weder durchführen noch nachvollziehen. 2. Empirische Studien In den USA wurde die erste empirische Studie zu Laienrichtern im Strafverfahren in den 50er Jahren von Kalven jr. und Zeisel durchgeführt.29 Im sogenannten Chicago Jury Project simulierten sie Verfahren und kamen zum Ergebnis, dass die Ansichten von Berufs- und Laienrichtern nur in 22% aller Fälle divergierten. Hierbei erschienen die Laien durchweg als milder. Die Autoren sahen das als Bestätigung des Jury-Systems. In den 70er Jahren kamen Baldwin und McConville30 zu ähnlichen Ergebnissen, sahen dies aber als Anlass, das Jury-System zu kritisieren. Die Studie von Bowers31, in der die Fähigkeit von Laien überprüft wurde, die vom Supreme Court für die Verhängung der Todesstrafe vorgesehenen Sonderprüfungen zu verstehen und vorzunehmen, kam zu einem deutlich negativen Schluss. Weitere Studien kamen in unserem Zusammenhang zu keinen nennenswerten Ergebnissen.32 Im Vereinigten Königreich kam der Bericht des sogenannten Roskill Committee on Fraud, 198633 zur Erkenntnis, dass Laienrichter in komplexen Betrugsverfahren nicht eingesetzt werden sollten, weil sie unfähig seien, ein solches Geschehen zu verstehen. In Deutschland haben sich vor allem Rennig34 und Caspar / Zeisel35 (auch) empirisch mit Laienrichtern im Strafverfahren beschäftigt.36 Die vergleichsweise mageren Ergebnisse bestätigen aber die mangelnde Relevanz dieser Richter. So beteiligen sie sich kaum aktiv an den Verhandlungen37, setzen sich bei Meinungsver29 Eine unmittelbare Veröffentlichung hat es offenbar nicht gegeben. Vgl. oben Hans / Vidmar, Judging the Jury, N.Y. and London 1989, S. 117, und Zeisel, in: Walker (Ed.), The British Jury System, Cambridge 1975, S. 41. 30 Baldwin / McConville, Jury Trials, Oxford 1979. 31 Bowers, Indiana Law Journal 1995, 1043. 32 Etwa Frederic, The Psychology of the Jury, 1987; Kassin / Wrightsman, The American Jury on Trial. Psychological Perspectives, 1988. 33 Roskill Report, 1986; vgl. auch die homepage des Home Office unter „Serious Fraud Office“. 34 Rennig (o. Fn. 23). 35 Caspar / Zeisel (Hrsg.), Der Laienrichter im Strafprozess, 1979. 36 Die Studie von Schiffmann, Die Bedeutung der ehrenamtlichen Richter bei Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1974, ist für unser Thema nicht unmittelbar einschlägig. 37 Rennig (o. Fn. 23), S. 531, 569. Nach Caspar / Zeisel (o. Fn. 35), S. 37 sollen aber Fragen durch sie nicht selten sein.

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schiedenheiten mit den Berufsrichtern nicht durch38 und haben keinen erkennbaren Einfluss auf das Verfahren39. Diese wenig empirischen Belege sind letztlich nicht hinreichend aussagekräftig, um die Argumente für oder gegen Laienrichter überzeugend zu stützen oder zu falsifizieren, nähren jedoch grundsätzlich Bedenken gegen diese Institution in der heutigen Zeit.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend erscheint die Laiengerichtsbarkeit im Strafverfahren als sozialromantische Reminiszenz, die sich in modernen rechtsstaatlichen Justizsystemen überlebt hat.40 Die negativen Wirkungen haben heute deutlich mehr Gewicht als die positiven, die allein in einer erhöhten, quasi basisdemokratischen bürgerlichen Partizipation an der Justiz bestehen. Allein sinnvoll ist der Gedanke des strafrechtlichen Laienrichters dort, wo es um besondere Kenntnisse geht, die üblicherweise ein Berufsrichter nicht hat. Im deutschen Recht hat sich dies etwa bei der Handels-, Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit durchaus bewährt. In den USA gibt es in einigen Staaten die sogenannten blue ribbon juries, welche es ermöglichen, Laien mit fallbezogenen Spezialkenntnissen als Richter einzubeziehen. 41 Für das Strafrecht könnte man daran denken, in Prozessen beispielsweise der Wirtschaftskriminalität oder in Verfahren wegen Strafbarkeit im Rahmen ärztlicher Tätigkeit als Laienbeisitzer Unternehmer bzw. Ärzte miteinzubeziehen, um den Berufsrichtern Kenntnisse aus diesen spezialisierten Lebensbereichen zu vermitteln. Und damit wären wir dann auch wieder am geschichtlichen Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt, nämlich bei den Eideshelfern, die zu Schöffen wurden. An dieser Stelle könnte man dann allerdings das Konzept in eine andere Richtung weiterentwickeln. Die größte Zahl der vor den Amtsgerichten verhandelten Verfahren hat Vorwürfe zum Gegenstand, die in ihrer tatsächlichen und rechtlichen Dimension sehr einfach gelagert sind. Wenn es in England bislang möglich gewesen ist, all diese Fälle durch eine reine Laiengerichtsbarkeit – natürlich mit der Möglichkeit des Rekurses an ein richtiges, also berufsrichterliches Gericht – zu erledigen, sollte dies auch in Deutschland nicht unmöglich sein. Auch das oben erwähnte Beispiel des spanischen Friedensrichters spricht dafür. Man könnte also das Gerichtssystem ändern, indem man die erstinstanzliche Zuständigkeit von Amtsgerichten in Strafsachen grundsätzlich reinen Laiengerichten vorbehielte. Für 38 39 40 41

Caspar / Zeisel (o. Fn. 35), S. 80; Rennig (o. Fn. 23), S. 558. Caspar / Zeisel (o. Fn. 35), S. 84 f.; Rennig (o. Fn. 23), S. 567, 573, 575. So schon Volk, in: FS Dünnebier, 1982, S. 373 und Kühne, ZRP 1985, 237. Grube (o. Fn. 1), S. 238. Näher dazu Oldham, 50 U.CHL.L.Rev. 1983, 137, 142.

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schwierigere Fälle könnte dann die erstinstanzielle Zuständigkeit an einer kleinen Kammer beim Landgericht eröffnet werden. Eine solche Lösung hätte mehrere Vorteile. Zunächst einmal würde die chronische Überlastung der Strafjustiz dramatisch abgebaut, es erschiene sogar möglich, Stellen einzusparen, ohne die Aufgabenerledigung zu beeinträchtigen. Bei der im Nationenvergleich wohl einmaligen Richterdichte in Deutschland kein schlechtes Argument! Weiterhin könnten die öffentlichen Kassen entlastet werden. Das Richteramt für Nichtjuristen als Krönung ihrer bürgerlichen Karriere bedarf keiner größeren Entlohnung, insbesondere wenn es kein Vollzeit-Amt ist.42 Die soziale Attraktivität eines solchen Amtes wäre auch der des jetzigen Schöffen bei Weitem überlegen, da man dann Richter in eigener Verantwortung wäre und in der Tat einen bedeutenden Teil der anfallenden Straffälle ohne fremde Hilfe erledigen würde. Dies alles würde nicht einmal eine erhebliche Umstrukturierung des überkommenden Justizsystems bedeuten. Dies ist aber langfristig sinnvoller als der Verschleiß von Schöffen, die neben den Berufsrichtern nur scheinbar am Verfahren teilnehmen und vor allem in komplexeren Verfahren eher hinderlich sind.

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Beides finden wir in England und Wales.

Körperliche Zwangseingriffe und Selbstbelastungsfreiheit Von Joachim Renzikowski

I. Einleitung Grundrechtseingriffe im Strafverfahren und die Fragen des Rechtsschutzes gegen solche Eingriffe gehören zu den komplexen Themen, mit denen sich Knut Amelung immer wieder vertieft beschäftigt hat.1 Im vorliegenden Zusammenhang hat er die Entscheidung des BVerfG zur Brechmittelvergabe scharf kritisiert: „Man fragt sich, wie viel vom verfassungsrechtlichen Schutz der Autonomie und Würde eines Menschen übrig bleibt, wenn ihm ein Mittel aufgezwungen werden darf, dass ihn in ein Wesen verwandelt, das in Ekel erregender Weise unfähig ist, seine Körperfunktionen zu beherrschen.“2 Die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln steht auch im Mittelpunkt dieses Beitrages. Dabei geht es zentral um die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, ob dieser Eingriff gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstößt. Bis vor wenigen Jahren hätte die Verbindung von körperlichen Zwangseingriffen und Selbstbelastungsfreiheit überrascht. Die Selbstbelastungsfreiheit als grundlegendes Recht des Beschuldigten im Strafverfahren wurde bis dahin im Zusammenhang mit den Belehrungspflichten bei einer Vernehmung gemäß § 136 StPO oder den verbotenen Vernehmungsmethoden des § 136 a StPO thematisiert. Auch bis heute denkt kaum jemand daran, dass etwa die ärztliche Entnahme einer Blutprobe, eine Routinemaßnahme bei Straßenverkehrsdelikten, das Recht des Beschuldigten verletzen könnte, im Strafverfahren nicht zu seiner Überführung beitragen zu müssen – sieht man von den vereinzelten Stimmen ab, die früher einmal die pauschale Verfassungswidrigkeit von § 81a StPO behauptet haben.3 Zwar be1 S. etwa Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1976; ders., Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, 1990; ders., Entwicklung, gegenwärtiger Stand und zukunftsweisende Tendenzen der Rechtsprechung zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, FG 50 Jahre BGH, Bd. 4, 2000, S. 911 ff.; ders., Der strafprozessuale Eingriff in ein Grundrechtsgut als Staatsakt, FS Badura, 2004, S. 3 ff. 2 Amelung / Wirth, StV 2002, 161, 167. 3 Vgl. etwa Sax in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III / 2, 1959, S. 909, 985 f.; Sautter, AcP 161 (1962), 215, 247 f.; Rossmanith, Die Verfassungsmäßigkeit von körperlichen Eingriffen nach Paragraph 81a StPO, 1969, S. 66 ff.;

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steht keine Einigkeit über die normative Grundlegung der Selbstbelastungsfreiheit, aber die Differenzierung zwischen dem Beschuldigten als Wissensträger und als Augenscheinsobjekt4 wird kaum in Frage gestellt. Damit verbunden ist die Unterscheidung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Duldung: Der Beschuldigte kann nicht gezwungen werden, auszusagen oder Dokumente herauszugeben (Aktivität), aber er kann gezwungen werden, die Beschlagnahme von Dokumenten oder die Inaugenscheinnahme seines Körpers zu dulden (Passivität).5 Nur am Rande sei angemerkt, dass sich diese Position keineswegs von selbst versteht. So hat beispielsweise der österreichische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass eine zwangsweise Blutentnahme – etwa zur Bestimmung der BAK – dem Anklageprinzip widerspricht.6 Und in den USA wurde bis zum Jahr 1910 von den Gerichten die Ansicht vertreten, da der Beschuldigte jede Form der Kooperation verweigern dürfe, scheide er generell als Beweismittel aus.7 Durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Beschwerdesache Jalloh gegen Deutschland8 hat die Diskussion der Selbstbelastungsfreiheit neue Anstöße erfahren. Während die deutschen Gerichte die vom somalischen Beschwerdeführer gerügte zwangsweise Beibringung eines Brechmittels als nach § 81a StPO zulässigen körperlichen Eingriff bewerteten, hat der EGMR die Bundesrepublik wegen mehrfachen Verstoßes gegen die EMRK verurteilt: wegen Verletzung des Folterverbots nach Art. 3 EMRK, des Rechts auf Privatheit nach Art. 8 EMRK und des Anspruchs auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK. Die Vorgeschichte9 wirft kein besonders gutes Licht auf die deutsche Justiz. Jalloh war am 29. Oktober 1993 wegen des Verdachts des Drogenhandels verhaftet worden. Bei der Verhaftung hatte er in Plastik eingeschweißte Drogen verschluckt. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo man ihm über eine Magensonde Brechmittel einflößte. Zusätzlich wurde ihm Apomorphin, ein anderes Brechmittel, gespritzt – eine aus medizinischer Sicht nicht völlig unbedenkliche Konstellation.10 Während dieser Prozedur wurde der sich heftig sträubende Beschwers. demgegenüber BVerfGE 16, 194, 200 ff.; 17, 108, 118 f.; 47, 239, 248. Neuerdings für die Verfassungswidrigkeit von § 81a StPO Eisenhardt, Das nemo tenetur-Prinzip – Grenze körperlicher Untersuchungen beim Beschuldigten, 2007, S. 209 ff. 4 Dafür zuletzt mit Nachdruck Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 253 ff. 5 Vgl. statt vieler Gössel in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 1, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. J Rn. 88 und 90 m. w. N. 6 ÖVerfGH EuGRZ 1990, 162, 164; s. dazu auch Müller, EuGRZ 2001, 546, 547 ff. 7 Diese Rspr. hat der Supreme Court in Holt v. US, 218 U.S. 245 (1910), S. 252 f. verworfen; s. auch Schmerber v. California, 384 U.S. 757 (1966), S. 761. Neuerdings plädiert Eisenhardt (o. Fn. 3), S. 175 ff. für die Erstreckung der Selbstbelastungsfreiheit auf den Körper. 8 EGMR, Urt. v. 11. 7. 2006 (Große Kammer) – 54810 / 00 (Jalloh gegen Deutschland) = StV 2006, S. 617 ff. = NJW 2006, S. 3117 ff. 9 S. die Darstellung des Sachverhalts in EGMR (Jalloh – o. Fn. 8), §§ 11 – 30.

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deführer von vier Polizeibeamten fixiert. Als die Brechmittel wirkten, erbrach der Beschwerdeführer ein Plastikbeutelchen mit etwa 0,22 g Kokain. Jalloh wurde in der Berufung im Jahr 1995 vom Landgericht Wuppertal zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln hielten die Tatgerichte wegen § 81a StPO für unbedenklich. Die Revision wurde im selben Jahr vom Oberlandesgericht Düsseldorf nach § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet verworfen. Nun wandte sich Jalloh an das Bundesverfassungsgericht mit der Behauptung, durch den Einsatz des Brechmittels seien sein Persönlichkeitsrecht und seine Menschenwürde verletzt worden. Am 15. September 1999 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, weil der Beschwerdeführer nicht sämtliche prozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft habe. Über die denkbaren Alternativen nach einer erfolglosen Revision und einer ebenso erfolglosen Strafanzeige gegen die beteiligten Polizeibeamten verlor das Bundesverfassungsgericht kein Wort. Obwohl sich die Richter offensichtlich mit dieser Angelegenheit nicht näher befassen wollten – was ihnen eine Rüge aus Straßburg eintrug11 –, findet sich in der Begründung des Nichtannahmebeschlusses die beiläufige Bemerkung, dass die zwangsweise Verabreichung des Brechmittels „auch im Hinblick auf die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde und den in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet“.12 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam im Jahr 2006 – 13 Jahre nach dem fraglichen Vorfall – zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Schon die Verurteilung der Bundesrepublik wegen Verletzung des Folterverbots in Art. 3 EMRK schmerzt. Diese Ohrfeige ist umso heftiger, als der Gerichtshof als Große Kammer entschieden hat. In dieser Zusammensetzung befindet der EGMR nach Art. 30 EMRK iVm. Art. 72 der Verfahrensordnung insbesondere dann, wenn der Fall eine schwerwiegende Frage der Auslegung („a serious question affecting the interpretation“) aufwirft. Im Folgenden geht es um die vom Gerichtshof bejahte Frage, ob die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstößt und welche Konsequenzen sich daraus für andere strafprozessuale Eingriffe in den Körper des Beschuldigten ergeben. Ob § 81a StPO zu dieser Maßnahme ermächtigt13, ob der Brechmitteleinsatz wegen seiner gesundheitlichen Risiken unverhält10 Näher dazu Hackethal, Der Einsatz von Vomitivmitteln zur Beweissicherung im Strafverfahren, 2005, S. 89 f. 11 S. bereits die Zulässigkeitsentscheidung EGMR v. 26. 10. 2004 – 54810 / 00 (Jalloh gegen Deutschland), The Law, A. 12 BVerfG StV 2000, 1 m. krit. Anm. v. Naucke und Rixen, NStZ 2000, S. 381 f. 13 Dagegen OLG Frankfurt NJW 1997, 1647 ff.; Rüping, Das Strafverfahren, 3. Aufl. 1997, Rn. 266; Dallmeyer, StV 1997, 606, 609; ders., KritV 2000, 252, 254 f.; Mushoff, KritV 2005, 83, 85 ff.; Hackethal (o. Fn. 10), S. 150 ff.; dafür OLG Bremen NStZ-RR 2000, 270; KG JR 2001, 162 ff. (m. abl. Anm. Hackethal); StV 2002, 122 ff.; Benfer, JR 1998, 53 ff.;

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nismäßig ist14 oder ob er schließlich als erniedrigende Behandlung gemäß Art. 3 EMRK gegen die Konvention verstößt15, ist dabei allenfalls am Rand von Bedeutung. Zunächst soll in einem ersten Schritt die Begründung des Gerichtshofs analysiert werden, um sodann zu überprüfen, ob ihr ein stimmiges Konzept der Selbstbelastungsfreiheit zugrunde liegt. II. Die Selbstbelastungsfreiheit in der Rechtsprechung des EGMR Im Gegensatz zu Art. 14 Abs. 3 Buchstabe g des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte, wo es heißt, dass niemand gezwungen werden darf, „gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen“, und im Gegensatz auch zum 5. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten16 enthält die EMRK keine ausdrückliche Garantie der Selbstbelastungsfreiheit. Es verwundert daher nicht, dass die Selbstbelastungsfreiheit eher zu den späten Entdeckungen des EGMR gehört. 1. Die Entwicklung der Selbstbelastungsfreiheit in der Rechtsprechung des EGMR Zum ersten Mal erwähnte der EGMR im Jahr 1993 in der Entscheidung Funke gegen Frankreich die Selbstbelastungsfreiheit.17 Eine nähere dogmatische Herleitung aus der Konventionsgarantie eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK findet sich aber erst drei Jahre später in der Entscheidung Murray gegen Großbritannien.18 Beide Fälle decken das Problemspektrum ab, mit dem sich der Rogall, NStZ 1998, 66 f.; Grüner, JuS 1999, 122 ff.; Senge in: Karlsruher Kommentar zu StPO, 5. Aufl. 2003, § 81a Rn. 14. 14 So Weßlau, StV 1997, 341, 343 f.; Vetter, Problemschwerpunkte des § 81a StPO – Eine Untersuchung am Beispiel der Brechmittelvergabe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 2000, S. 72 ff., 161; Krause in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 2, 25. Aufl. 2004, § 81a Rn. 52; unzulässig jedenfalls bei Kleindealern nach Binder / Seemann, NStZ 2002, 234, 237; Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 289; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 81a Rn. 22. 15 S. EGMR (Jalloh – o. Fn. 8), §§ 75 – 83; zust. Gaede, HRRS 2006, 241, 242 f.; Schuhr, NJW 2006, 3538, 3539 ff.; krit. Schumann, StV 2006, 661, 663 f. 16 „No person . . . shall be compelled in any criminal case to be a witness against himself . . .“. 17 EGMR, Urt. v. 25. 2. 1993 – 10828 / 84 (Funke gegen Frankreich), Serie A Nr. 256-A, § 44. 18 EGMR, Urt. v. 8. 2. 1996 – 18731 / 91 (Murray gegen Großbritannien), ECHR 1996-I, § 45 = EuGRZ 1996, 587 ff. m. Bespr. Kühne, 570 ff.; seitdem ständige Rspr., s. etwa EGMR v. 19. 6. 2007 – 64054 / 00 und 64071 / 00 (Macko and Kozubal’ gegen Slowakei), § 48. Einen Überblick über die Entwicklung der Rspr. gibt EGMR, Urt. v. 29. 6. 2007 (Große Kammer) –

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Gerichtshof zunächst zu befassen hatte. Im Fall Funke ging es um die Verpflichtung, Kontobewegungen auf ausländischen Banken zu offenbaren, und um die spätere Verwendung dieser Angaben in einem Steuerstrafverfahren. Im Fall Murray ging es um die Frage, inwieweit aus dem Schweigen des Beschuldigten für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden dürfen. Das alles bewegt sich noch ganz innerhalb des klassischen Verständnisses der Selbstbelastungsfreiheit als Aussagefreiheit: Niemand darf gezwungen werden, gegen sich selbst Zeugnis abzulegen. Dabei ist der Gerichtshof jedoch nicht stehen geblieben. Im Jahr 2002 wurde die Selbstbelastungsfreiheit in der Entscheidung Allan gegen Großbritannien in der Konstellation der sogenannten „Hörfalle“ auf die Freiheit vor Täuschungen erweitert, die den staatlichen Behörden zuzurechnen sind.19 Nunmehr dehnt die Verurteilung der Bundesrepublik im Fall Jalloh die Selbstbelastungsfreiheit von der Aussagefreiheit auf körperliche Zwangseingriffe aus. Diesen Schritt hat die Große Kammer nicht völlig einmütig20, aber durchaus bewusst unternommen. Denn der Gerichtshof hätte sich mit dem Verstoß des zwangsweisen Brechmitteleinsatzes gegen Art. 3 EMRK, der unmittelbar ein Beweisverwertungsverbot impliziert, und der folgerichtig ebenfalls bejahten Verletzung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK zufrieden geben können. Stattdessen ist die Selbstbelastungsfreiheit der Großen Kammer eine gesonderte Betrachtung wert. Das Verständnis der Argumentation wird jedoch dadurch erschwert, dass der EGMR bezogen auf den Einzelfall eine Fülle von verschiedenen Gesichtspunkten nennt, deren Bedeutung und deren Verhältnis zueinander nicht weiter erläutert werden. Diese – wenig dogmatische21 – Herangehensweise kennzeichnet die Praxis des EGMR, stets alle für das Entscheidungsergebnis sprechenden Umstände heranzuziehen, um so viele fallbezogene Gründe wie möglich für das gefundene Ergebnis zu benennen. 2. Die Entscheidung im Fall Jalloh Eingangs wird klargestellt, dass die Selbstbelastungsfreiheit üblicherweise als Schweigerecht im Zusammenhang mit einer Befragung verstanden wird, dass es hier aber um die Beurteilung eines Beweismittels geht, das durch einen gewaltsamen Eingriff in die körperliche Integrität des Angeklagten erlangt worden ist. Allerdings habe der Gerichtshof die Selbstbelastungsfreiheit schon immer in einem 15809 / 02 und 25624 / 00 (O’Halloran und Francis gegen Großbritannien), §§ 45 – 52; s. ferner Gaede, Fairness als Teilhabe – das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007, S. 312 ff. 19 EGMR, Urt. v. 5. 11. 2002 – 48539 / 99 (Allan gegen Großbritannien), ECHR 2002-IX, §§ 46 – 52 = StV 2003, 257 ff. m. Anm. Gaede. 20 S. die ablehnenden Sondervoten der Richter Wildhaber, Caflisch, Ress, Pellonpää, Baka und Sikuta. 21 Krit. dazu Schumann, StV 2006, 664.

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weiteren Sinn verstanden und auch gesetzliche Auskunftspflichten miteinbezogen. Willensbeugender Zwang sei jedoch dann zulässig, wenn er auf Beweise gerichtet sei, die unabhängig vom Willen des Beschuldigten existieren. Als Beispiele nennt der EGMR Dokumente, die bei eine Durchsuchung gefunden und beschlagnahmt werden, die Analyse der Atemluft, Blut- und Urinproben oder Gewebeproben für eine DNA-Analyse. Nun ist auch die Existenz der Drogenbeutelchen unabhängig vom Willen des Beschuldigten. Der EGMR sieht aber mehrere Unterschiede: So werde das Brechmittel zur unmittelbaren Gewinnung eines Beweismittels eingesetzt, während ansonsten nur Material für weitere selbständige Tests entnommen würden. Weiter sei das Maß der Gewalt erheblich höher als etwa bei einer Blutprobe, bei der der Beschuldigte nur passiv einen relativ geringen Eingriff erdulden müsse. Selbst wenn seine Mitwirkung erforderlich sei wie etwa bei einer Urinprobe, so seien doch nur normale Körpervorgänge betroffen, während durch das Brechmittel eine pathologische Reaktion des Körpers provoziert werden, die zudem mit gesundheitlichen Risiken verbunden sei. Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass im vorliegenden Fall ein Zwangsmittel angewendet worden sei, das unter das Verbot des Art. 3 EMRK falle, während bei Blut- und Atemtests diese Schwelle allenfalls in Ausnahmefällen überschritten werde.22 Nachdem diese Gesichtspunkte zusammengetragen worden sind, folgt eine abschließende Gesamtabwägung, die sich unter anderem an Natur und Maß der eingesetzten Zwangsmittel sowie am Grad des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung orientiert. Hier nennt der Gerichtshof weitere Gründe, nämlich dass die Überführung des Angeklagten als kleiner Straßendealer nicht im vorrangigen öffentlichen Interesse gelegen habe. Die ärztliche Durchführung des Eingriffs nach § 81a StPO sei nicht sichergestellt gewesen, da der somalische Beschwerdeführer sich mit dem Arzt nicht habe verständigen können. Somit fehle es an einer ordnungsgemäßen Anamnese. Außerdem sei der sichergestellte Drogenbeutel das Hauptbeweismittel im Strafverfahren gewesen.23 Dieser letzte Aspekt gleicht der Beruhensprüfung nach § 337 Abs. 1 StPO, wonach ein Verfahrensfehler einer Revision erst dann zum Erfolg verhilft, wenn das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht.24 Ähnlich überprüft der Gerichtshof anhand einer Gesamtwürdigung das Verfahren als Ganzes, ob es unfair gewesen ist. Infolgedessen können Konventionsverletzungen im weiteren Verlauf des Verfahrens kompensiert werden. Eine einzelne rechtswidrige Beweiserhebung begründet so noch keinen Verstoß gegen Art. 6 EMRK, wohl aber die Verwertung des auf diese Weise gewonnenen Beweises im Urteil. S. EGMR (Jalloh – o. Fn. 8), §§ 75 – 83. S. EGMR (Jalloh – o. Fn. 8), §§ 75 – 83. 24 Vgl. Schroeder, GA 2003, 293, 296. Die Gesamtabwägung des EGMR geht indes weiter als die Beruhensprüfung nach § 337 Abs. 1 StPO, weil der EGMR das nationale Recht nicht in abstracto prüft und sich auch nicht in die Untiefen nationaler Begriffsbildung und Dogmatik begibt, s. EGMR, Urt. v. 25. 3. 1998 – 23224 / 94 (Kopp gegen Schweiz), ECHR 1998-II, §§ 59 – 60 m. Bespr. Kühne, StV 1998, 683 ff. 22 23

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3. Analyse der maßgeblichen Gesichtspunkte Um die richtigen Lehren aus der Entscheidung des EGMR im Fall Jalloh ziehen zu können, ist es notwendig, das Versäumnis der Begründung nachzuholen und die Bedeutung und Tragweite der einzelnen Gesichtspunkte zu analysieren. a) Keine Pflicht zu aktiver Beweisbeschaffung? Das Argument, die Selbstbelastungsfreiheit stehe der Verwendung von Beweismitteln nicht entgegen, die unabhängig vom Willen des Betroffenen existieren, findet sich bereits in der Entscheidung Saunders gegen Großbritannien.25 Dieses Argument ist in mehrerlei Hinsicht problematisch: So hat der Gerichtshof beispielsweise im Hinblick auf die Herausgabe bereits vorhandener Dokumente (z. B. steuerrelevante Unterlagen, Handelsbücher) Rechtszwang durchweg als Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit abgelehnt.26 Es ging in der bisherigen Rechtsprechung somit um etwas anderes: Die Selbstbelastungsfreiheit begründet kein Beweisthemenverbot im Hinblick auf Beweismittel, die der Rechtssphäre des Beschuldigten zugehören.27 Der Staat ist nicht daran gehindert, sich die bereits existierenden Informationen anderweitig zu beschaffen, wenn der Beschuldigte nicht mitwirken will. Das Mittel dazu sind Durchsuchung und Beschlagnahme, also Eingriffe in die Rechtssphäre des Beschuldigten, die er passiv erdulden muss. Im Hinblick auf den Brechmitteleinsatz ist aber nicht klar, was sich damit begründen lässt. Denn auch der sichergestellte Drogenbeutel existierte als Beweismittel unabhängig vom Willen des Beschuldigten, wie der EGMR zugesteht. Niemand verlangte von ihm, dass er das Beweisstück selbst beschafft. Er hätte also den körperlichen Eingriff zur Beweissicherung nur über sich ergehen zu lassen brauchen.28 Zwar hat das OLG Frankfurt einmal behauptet, die zwangsweise Brechmittelgabe verstoße gegen den Grundsatz der Passivität, denn er solle den Beschuldigten zwingen, etwas aktiv zu tun, wozu er nicht bereit sei.29 Doch das 25 EGMR, Urt. v. 17. 12. 1996 (Große Kammer) – 19187 / 91 (Saunders gegen Großbritannien), ECHR 1996-VI, § 69; seitdem wird diese Passage in ständiger Rspr. wiederholt, zuletzt EGMR (O’Halloran – o. Fn. 18), § 47. 26 Vgl. EGMR (Funke – o. Fn. 17), § 44; EGMR (Saunders – o. Fn. 25), §§ 70 – 76; EGMR v. 19. 9. 2000 – 29522 / 95, 30056 / 96 und 30574 / 96 (I.J.L. u. a. gegen Großbritannien), §§ 82 – 83; EGMR, Urt. v. 21. 12. 2000 – 36887 / 97 (Quinn gegen Irland), §§ 51 – 56; EGMR, Urt. v. 3. 5. 2001 – 31827 / 96 (J.B. gegen Schweiz), §§ 65 – 71 = NJW 2002, S. 499, 501 f. 27 So prägnant Wohlers, FS Küper, 2007, S. 691, 697. 28 S. auch Gaede, HRRS 2006, 241, 245. Mit dieser Begründung wird vielfach eine Missachtung der Selbstbelastungsfreiheit verneint, s. Rogall, NStZ 1998, 66, 67 f.; Grüner, JuS 1999, 122, 124 f.; Schuhr, NJW 2006, 3538, 3541. 29 OLG Frankfurt NJW 1997, 1647, 1648; Dallmeyer, StV 1997, 606, 608; ders., KritV 2000, 252, 260; Naucke, StV 2000, 2; krit. Verrel (o. Fn. 4), S. 222 ff.

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trifft nicht zu. Erbrechen ist ein durch einen Reiz ausgelöster Reflex und damit gerade ein Prototyp für das Fehlen einer Handlung.30 Das Argument führt auch deshalb in die Irre, weil – wie Richter Zupanc´ic´ in seiner concurring opinion anmerkt – in seiner Konsequenz alle möglichen schwerwiegenden Eingriffe zulässig wären. Warum sollte man einem Drogenkurier die verschluckten Drogenbeutelchen nicht heraus operieren, wenn sie doch unabhängig von seinem Willen existieren?31 Umgekehrt ist aber auch die Abgrenzung zur Atemalkoholprüfung32 oder Urinanalyse problematisch. Offenkundig existieren in beiden Fällen die Ergebnisse nicht unabhängig vom Willen des Beschuldigten.33 Die Unterscheidung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Duldung ist für die Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit nach der Entscheidung im Fall Jalloh – im Gegensatz zur in Deutschland vorherrschenden Ansicht – also nicht von zentraler Bedeutung. Zu Recht hat Neumann darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung des Beschuldigten, seinen Körper zur Inaugenscheinnahme zur Verfügung zu stellen, immer auf eine Mitwirkung hinausläuft. Der Bereich rechtlich zulässiger Verhaltensweisen wird auf eine bestimmte Handlung eingeengt, nämlich die Pflicht, sich dem betreffenden Eingriff zu unterziehen. Da die Duldung der Maßnahme erzwungen werden dürfe, führt die herkömmliche Auffassung ferner zu dem Wertungswiderspruch, dass eine relativ geringfügige aktive Mitwirkung nicht erzwungen werden darf und zugleich als Ersatzvornahme wesentlich massivere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit akzeptiert werden.34 Wenn somit Pflichten zur aktiven Mitwirkung etwa an einer Atemalkoholprüfung oder einer Urinanalyse nicht gegen das Verbot erzwungener Selbstbelastung verstoßen, dann fragt sich umgekehrt, weshalb die Verpflichtung zur Vorlage von bereits existierenden Dokumenten konventionswidrig sein soll.35 b) Unmittelbare und mittelbare Beweisgewinnung Einen Unterschied zwischen einer zulässigen Blutprobe36 und dem unzulässigen Einsatz eines Brechmittels erblickt der Gerichtshof weiterhin in dem Umstand, Weßlau, StV 1997, 341, 343; Zaczyk, StV 2002, 125, 127. S. auch Schlauri, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren, 2003, S. 161 f.: Gefahr exzessiver Gewaltausübung. Ein sehr fragwürdiger Beleg für diese These ist BGH NJW 1979, 1668; dort billigte der 1. Senat die Zufügung von Schmerzen durch das Anziehen von sog. „Knebelketten“ als unmittelbaren Zwang, um eine Gegenüberstellung durchzusetzen. 32 Nach EGMR v. 15. 6. 1999 – 43486 / 98 (Tirado Ortiz und Lozano Martin gegen Spanien), ECHR 1999-V zulässig. 33 Paeffgen in: Systematischer Kommentar zur StPO, 35. Lief. Januar 2004, Art. 6 Rn. 81; Eisenhardt (o. Fn. 3), S. 153; Wohlers, FS Küper, 2007, S. 691, 697. 34 Neumann, FS Wolff, 1999, S. 373, 378 ff.; ebenfalls krit. gegenüber einer rein äußerlichen Unterscheidung zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen Weßlau, StV 1997, 341, 342 f. 35 Wohlers, FS Küper, 2007, S. 691, 697. 30 31

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dass das Brechmittel zur unmittelbaren Gewinnung des Beweismittels eingesetzt werde, während auf der anderen Seite dem Körper lediglich Blut, Körperzellen oder Urin für separate Tests entnommen würden. Diese Differenzierung ist schon in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft, denn selbstverständlich muss der erbrochene Mageninhalt daraufhin untersucht werden, ob sich darin Betäubungsmittel befinden und welchen Wirkstoffgehalt sie aufweisen.37 Die Argumentation des EGMR erinnert an die Ansicht, § 81a StPO sei deshalb nicht auf die Verabreichung eines Brechmittels anzuwenden, weil es nicht um eine Inaugenscheinnahme des Körpers gehe, sondern der Vorgang eher einer Durchsuchung mit Beschlagnahme entspreche.38 Ungeachtet dessen, dass diese Auslegung von § 81a StPO nicht zutrifft, denn diese Norm dient nach der Vorstellung des Gesetzgebers der Gewinnung von Beweisen39, ist nicht zu erkennen, weshalb eine mittelbare Beweisgewinnung den Angeklagten weniger beeinträchtigen sollte als eine unmittelbare. Der nötigende Eingriff in seine Rechtssphäre bleibt derselbe. c) Provokation einer pathologischen Körperreaktion Der Brechmitteleinsatz und die Mitwirkung des Beschuldigten etwa bei einer Urinprobe unterscheiden sich weiter darin, dass auf der einen Seite nur normale Körpervorgänge betroffen sind, während durch das Brechmittel eine pathologische Reaktion des Körpers provoziert wird. Man könnte es auch so formulieren: Beim erzwungenen Brechmitteleinsatz stellt der Beschuldigte seinen Körper nicht lediglich als Augenscheinsobjekt für eine Untersuchung zur Verfügung, sondern der Körper wird zum Werkzeug gemacht, um den gesuchten Gegenstand hinauszuschaffen. Der Beschuldigte wird dadurch auf einen Organismus reduziert, der auf einen Reiz reagiert; er wird mit der Wirkung des Mittels zu einem Gegenstandslieferanten gemacht und damit zum Objekt herabgesetzt.40 Gegenüber der Blutprobe trägt dieses Kriterium indes nicht. Zwar wird behauptet, dass bei einer Blutentnahme lediglich ein organisch ablaufender Prozess, nämlich die Blutzirkulation in Dienst genommen werde.41 Aber für gewöhnlich tritt Blut nicht unvermittelt aus dem Körper aus. Der Stich mit der Injektionsnadel in eine Vene verursacht ebenfalls einen pathologischen Zustand, wenn auch der Eingriff minimal ist. Das kann also nicht der entscheidende Unterschied sein. Vielmehr handelt es sich um unterschiedlich intensive Eingriffe. S. EGMR v. 9. 4. 1997 – 30551 / 96 (Cartledge gegen Großbritannien). Vgl. Eisenhardt (o. Fn. 3), S. 154 f. 38 So OLG Frankfurt NJW 1997, 1647, 1648. 39 Zutreffend Rogall, NStZ 1998, 66 f.; Hackethal (o. Fn. 10), S. 64 f. 40 Vgl. Zaczyk, StV 2002, 125, 126 f. (der dieses Argument allerdings nur auf § 81a StPO bezieht); s. auch Gaede, HRRS 2006, 241, 245, 249; Schumann, StV 2006, 661, 665. 41 Zaczyk, StV 2002, 125, 126. 36 37

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Man könnte an eine andere Parallele denken, nämlich an einen Vergleich mit der Narkoanalyse. Es entspricht allgemeiner Ansicht, dass die Verabreichung eines sogenannten „Wahrheitsserums“ gegen das Verbot des § 136a StPO verstößt.42 Wo liegt der Unterschied zur Verabreichung eines Brechmittels? Wie Justice Frankfurter im Urteil des US Supreme Court im Fall Rochin gegen Kalifornien, der ebenfalls den Einsatz eines Brechmittels betraf, schon im Jahr 1952 ausführte: „It would be a stultification of the responsibility which the course of constitutional history has cast upon this Court to hold that in order to convict a man the police cannot extract by force what is in his mind but can extract what is in his stomach.“43 – Wenn die Polizei nicht mit Gewalt in Erfahrung bringen darf, was jemand in seinem Kopf hat, dann auch nicht das, was er in seinem Magen hat. Aber diese Metapher ist in ihrer Suggestivkraft nicht unproblematisch. Denn warum sollte man das Verbot, etwas gewaltsam aus dem Körper des Beschuldigten zu erlangen, nicht ebenso auf Blutproben anwenden? In diesem Sinne hielt Justice Douglas in dem eben erwähnten Urteil des Supreme Court eine Blutprobe gegen den Willen des Beschuldigten für eine Missachtung der Selbstbelastungsfreiheit nach dem 5. Zusatzartikel zur US-Verfassung. In diesem Zusammenhang irreführend ist der Hinweis des EGMR darauf, dass das Maß der Gewalt bei einer erzwungenen Brechmittelgabe höher sei als bei einer Blutprobe, bei der der Beschuldigte nur passiv einen relativ geringen Eingriff erdulden müsse. Denn auch zur Durchsetzung einer Blutabnahme gemäß § 81a Abs. 1 S. 2 StPO kann im Einzelfall erhebliche Gewalt angewendet werden müssen.44 Der entscheidende Unterschied liegt demgegenüber in dem Maß des Eingriffs in die körperliche Integrität. Eine Blutabnahme ist eine Routinemaßnahme, die Gabe von Brechmitteln dagegen nicht. Mit welchen Zwangsmitteln ein Eingriff nach § 81a StPO durchgesetzt werden darf, ist demgegenüber eine sekundäre Frage. d) Eingriff in die Intimsphäre? Auf eine andere Überlegung hat sich der Gerichtshof dagegen gar nicht erst eingelassen. So wird in der deutschen Diskussion behauptet, der zwangsweise Brechmitteleinsatz verstoße deshalb gegen die Menschenwürde des Beschuldigten, weil Erbrechen gewöhnlich als zur Intimsphäre gehörender Vorgang empfunden werde.45 Die Richtigkeit dieser Behauptung unterstellt, wäre die Alternative ebenfalls S. Meyer-Goßner (o. Fn. 14), § 136 a Rn. 10 m. w. N. Supreme Court, Rochin v. California 342 US 165 (1952); s. auch Dallmeyer, StV 1997, 606, 608. Bei dieser Entscheidung argumentierte der Supreme Court allerdings – aus verfassungsgeschichtlichen Gründen – nicht mit dem 5. Amendment, sondern unter Berufung auf die „due process clause“ des 14. Amendments. 44 Jalloh war von vier Polizeibeamten „fixiert“ worden. Aber ein solcher Einsatz kann durchaus auch bei renitenten Betrunkenen erforderlich sein. S. auch Eisenhardt (o. Fn. 3), S. 155. 42 43

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menschenunwürdig: Der EGMR weist – ebenso übrigens wie die betreffenden Stimmen in Deutschland – darauf hin, dass man auch den üblichen Weg abwarten könne, den die verschluckten Drogenkügelchen nehmen.46 Der Beschuldigte muss so lange in Untersuchungshaft bleiben, bis er das Beweismaterial ausgeschieden hat. Aber der Gang zur Toilette berührt den Intimbereich nicht weniger. 4. Zwischenergebnis Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so lässt sich folgendes Zwischenergebnis ziehen: Im Fall Jalloh spielt für die Bestimmung der Selbstbelastungsfreiheit der Unterschied zwischen passiv zu duldenden Ermittlungsmaßnahmen und aktiver Mitwirkung keine Rolle. Daher kommt es letztlich auch nicht darauf an, ob das Beweismittel unabhängig vom Willen des Beschuldigten existiert, so dass er es nicht aktiv herausgeben, sondern lediglich den staatlichen Zugriff hinnehmen muss. Der maßgebliche Grund für die Annahme einer Verletzung von Art. 6 EMRK liegt in der Instrumentalisierung einer pathologischen Körperreaktion, die dem körperlichen Eingriff sein besonderes Gewicht gibt. Insoweit betont der EGMR, dass die erzwungene Verabreichung eines Brechmittels im Verhältnis etwa zu einer Blutprobe oder zu einem Zellabstrich mit einem höheren Maß an Gewalt verbunden ist. Handelt es sich also nur um eine Frage fehlender Verhältnismäßigkeit zwischen dem Eingriff und dem damit verfolgten Ziel? Hier muss man sich vor einem voreiligen Fehlschluss hüten, der allerdings durch die Begründung des EGMR provoziert wird.47 So weist er auch darauf hin, dass es sich bei Jalloh lediglich um einen Straßendealer gehandelt habe, an dessen Strafverfolgung die Allgemeinheit kein überragendes Interesse reklamieren könne. Aber eine solche Relativierung der Selbstbelastungsfreiheit nach dem Motto: „Darf es etwas weniger sein?“ ist nicht unproblematisch. Das Recht, sich der Mitwirkung an einem Strafverfahren gegen sich zu verweigern, ist absolut und richtet sich nicht nach der Schwere des Tatverdachts.48 Eine derartige Abwägung widerspräche der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, der immer wieder darauf insistiert hat, dass die Fairness OLG Frankfurt NJW 1997, 1647, 1648; Dallmeyer, StV 1997, 606, 609 f. EGMR (Jalloh – o. Fn. 8), § 79 (im Zusammenhang mit der Prüfung von Art. 3 EMRK); ebenso Binder / Seemann, NStZ 2002, 236 f.; Zaczyk, StV 2002, 125, 127; Krause in: Löwe-Rosenberg (o. Fn. 14), § 81a Rn. 52; s. auch BVerfG NStZ 1993, 482 zur überwachten Gewinnung einer Urinprobe. 47 Berechtigte Kritik bei Schumann, StV 2006, 661, 665; s. auch Schuhr, NJW 2006, 3538, 3541 (m. Fn. 34) sowie das Sondervotum von Richter Sir Bratza. 48 Der Gerichtshof betont zwar verschiedentlich, dass die Selbstbelastungsfreiheit kein „absolute right“ sei – vgl. EGMR (Murray – o. Fn. 18), § 47; EGMR (Quinn – o. Fn. 26), § 47 –, aber damit ist nicht gemeint, dass das nemo tenetur-Prinzip eingeschränkt werden kann, sondern nur, dass es den Beschuldigten nicht vor jedem Eingriff in seine Mitwirkungsfreiheit bewahrt. 45 46

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nicht relativierbar ist. So heißt es etwa in der Entscheidung Teixiera de Castro gegen Portugal: „Selbst wenn die Ausweitung des organisierten Verbrechens in der Tat keinen Zweifel an der Wahl geeigneter Mittel gebietet, nimmt in einer demokratischen Gesellschaft gleichwohl das Recht auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege einen so herausragenden Platz ein, dass es Zweckmäßigkeitserwägungen nicht geopfert werden darf.“49 Man muss den EGMR daher anders verstehen: Für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zur Gewinnung von Beweismitteln wird eine absolute Grenze gesetzt. In dieser Richtung hat bereits Neumann vorgeschlagen, körperliche Eingriffe im Interesse der Strafverfolgung gegen den Willen des Beschuldigten auf Routineuntersuchungen zu beschränken und schwerwiegendere Maßnahmen, die wegen der mit ihnen verbundenen Belastungen ansonsten nur bei einer medizinischen Indikation zulässig sind, aus dem Anwendungsbereich von § 81a StPO auszuschließen.50 Eine derartige Schranke der Verhältnismäßigkeitsgrenze war in der Rechtsprechung des EGMR von Anfang an angelegt, denn nicht jede Zwangsmaßnahme wurde – und wird – per se als unvereinbar mit der Selbstbelastungsfreiheit angesehen. Vielmehr bietet dieses Prozessgrundrecht nur einen Schutz vor „improper compulsion“.51 So lässt sich die Entscheidung des EGMR im Fall Jalloh gegen Deutschland verstehen. Die Frage aber bleibt: Welches Konzept der Selbstbelastungsfreiheit liegt der Rechtsprechung des EGMR zugrunde? Denn mit dem Instrumentalisierungsgedanken kann man möglicherweise die Zulässigkeit einer Blutprobe erklären, bei der lediglich eine normale Körperfunktion ausgenutzt wird. Aber durch die Verpflichtung, Unterlagen herauszugeben, wird niemand unzulässig instrumentalisiert. Zwei Antworten sind möglich: Entweder ergibt sich die Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit nach der Rechtsprechung des EGMR aus einer Ansammlung mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehender Entscheidungen, beruht also auf bloßem Dezisionismus, oder es lässt sich ein konsistenter Begriff entwickeln.

49 EGMR, Urt. v. 9. 6. 1998 – 25829 / 94 (Teixeira de Castro gegen Portugal), ECHR 1998-IV, § 36 = EuGRZ 1999, 660, 663; vgl. auch EGMR (Saunders – o. Fn. 25), § 74; EGMR, Urt. v. 21. 12. 2000 – 34720 / 97 (Heaney und McGuinness gegen Irland), ECHR 2000-XII, §§ 57 – 58; EGMR (Quinn – o. Fn. 26), §§ 58 – 59. 50 Neumann, FS Wolff, 1998, S. 389 ff.; krit. Verrel (o. Fn. 4), S. 251 f.; Zaczyk, StV 2002, 125, 127. 51 S. bereits EGMR (Murray – o. Fn. 18), § 45; ebenso EGMR (Saunders – o. Fn. 25), § 68; EGMR, Urt. v. 20. 10. 1997 – 20225 / 92 (Serves gegen Frankreich), ECHR 1997-VI, § 46; EGMR (Quinn – o. Fn. 26), § 40. Auf dieser Linie liegt auch die nicht unproblematische Entscheidung des EGMR (O’Halloran – o. Fn. 18), §§ 55 – 63, wonach die Verpflichtung zur Angabe des Fahrers eines Kfz noch nicht als „improper“ bewertet wurde, weil die Information nicht so bedeutend sei. Zuvor EGMR, Urt. v. 8. 4. 2004 – 38544 / 97 (Weh gegen Österreich), §§ 46 – 57 = JR 2005, 423 ff. m. berechtigter Kritik von Gaede.

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III. Normative Grundlegung der Selbstbelastungsfreiheit Die Selbstbelastungsfreiheit beschreibt ein Recht des Bürgers, sich bestimmten Formen der Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. In dieser Funktion setzt es der staatlichen Strafverfolgung absolute Grenzen. Die normative Legitimationsgrundlage der Selbstbelastungsfreiheit ist seit langem umstritten. Bekanntlich leitet das Bundesverfassungsgericht die Selbstbelastungsfreiheit als Prozessgrundrecht aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG und aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG ab. Es handle sich um eine Gewährleistung, die als „selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung“ zum unverzichtbaren Kernbestand eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gehört.52 Gegenüber dieser pathetischen Formulierung sind indes zwei Klarstellungen angebracht: Im Rechtsstaatsprinzip wurzelt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren, sondern auch das Gebot zur Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege.53 Wenn also die Selbstbelastungsfreiheit und die Strafverfolgungsinteressen auf dieselbe Wurzel zurückgeführt werden können, dann liegt es nahe, beide gegenläufigen Prinzipien miteinander abzuwägen.54 Eine solche pragmatische Ausrichtung an den Ermittlungsnotwendigkeiten aber würde die Selbstbelastungsfreiheit konterkarieren: Dem Beschuldigten kann ohne weiteres zugestanden werden, was die Strafverfolgung nicht benötigt. Auf die Selbstbelastungsfreiheit könnte dann auch verzichtet werden, denn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt für alles staatliche Handeln. Eingriffe sind unzulässig, wenn es eine schonendere Alternative gibt. Auf der anderen Seite markiert der Topos der Menschenwürde zwar genau diese Grenze des Unverfügbaren, Unantastbaren, ist aber aus einem anderen Grund problematisch. Folter und erniedrigende Behandlung verletzen die Menschenwürde. Aber die Selbstbelastungsfreiheit ist gerade nicht auf das Folterverbot beschränkt. Nun wird aus der Fundierung der Selbstbelastungsfreiheit in der Menschenwürde verständlich, weshalb das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof das Recht auf die Freiheit vor Zwang beschränken. Wenn durch Zwang der Wille des Beschuldigten gebeugt wird, so wird er auf ein bloßes Mittel zu seiner Überführung reduziert. Dem physischen oder psychischen Zwang gleichgesetzt wird der – vermeintliche – Rechtszwang, dem durch die Belehrung nach § 136 StPO entgegengewirkt werden soll. Der Beschuldigte soll nicht glauben, er sei gegenüber einer Amtsperson von Rechts wegen zur Aussage verpflichtet. Aber eine Auskunftspflicht oder gar die Verpflichtung zur 52 BVerfGE 56, 37, 41 ff. (das Zitat steht auf S. 43); 95, 220, 241; NStZ 1995, 555; vgl. auch BGHSt 36, 328, 332; 38, 214, 220; 42, 139, 152. 53 S. BVerfGE 33, 367, 383; 77, 65, 76; Gössel, ZStW 94 (1982), 5, 26 f.; Landau, NStZ 2007, 121, 123 ff. 54 Vgl. Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, 1984, S. 66; krit. Niemöller / Schuppert, AöR 107 (1982), 387, 399 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 62; Renzikowski, FS Lampe, 2003, S. 791, 800; Wolter, FG BGH, Bd. 4, 2000, S. 987 ff. m. w. N.

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Herausgabe von Geschäftsunterlagen an den Insolvenzverwalter stellt noch keine Missachtung der Menschenwürde dar, will man nicht Art. 1 GG zur „kleinen Münze“ verkommen lassen. Das gilt ebenso, wenn man mit dem EGMR und jüngst dem 3. Senat des BGH den Schutz vor staatlich veranlasster Täuschung in den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit mit einbezieht.55 Die Grundlegung der Selbstbelastungsfreiheit im Rechtsstaatsprinzip und in der Menschenwürde besitzt jedoch einen zutreffenden Kern, der in einer anderen Formulierung des Bundesverfassungsgerichts deutlich wird: Der Beschuldigte ist kein Objekt des Verfahrens, sondern Verfahrensbeteiligter mit der Möglichkeit, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss zu nehmen. Die Selbstbelastungsfreiheit resultiert also aus einem bestimmten Verständnis des Strafprozesses, welches den Beschuldigten als Rechtssubjekt zur Kenntnis nimmt. Oder noch anders ausgedrückt: Die Selbstbelastungsfreiheit ist ein Bestandteil der Verfahrensgerechtigkeit und besitzt als solche einen intrinsischen Wert. Dieser Zusammenhang kann anhand der historischen Entwicklung der Selbstbelastungsfreiheit verdeutlicht werden, und es ist kaum verwunderlich, dass sich dieses Prinzip ausgerechnet im englischen Strafverfahren herausgebildet hat. Dabei sind die Einzelheiten noch ungeklärt. Verbreitet ist die Erklärung der Entstehung der Selbstbelastungsfreiheit aus Missbräuchen in den Verfahren vor der Star Chamber und vor den „Prerogative Courts“, die nach dem Inquisitionsprinzip verhandelten, während die gemeinen Gerichte nach Common Law verfuhren.56 Interessanterweise aber beriefen sich die Beschuldigten in den Verfahren, die letztlich zur Abschaffung dieser königlichen Sondergerichte im Jahr 1641 führten, nicht darauf, dass sie vor Gericht zu keiner Aussage verpflichtet seien, sondern dass sie nicht zu einer Aussage vor diesem Gericht verpflichtet seien. Es ging hier also vorrangig um die Rivalität zwischen gemeinen und königlichen Gerichten und um eine Beschränkung der königlichen Allmacht. Denn vor den gemeinen Gerichten gab es faktisch kein Schweigerecht. Hier war der Angeklagte zwar, da nicht nach dem Inquisitionsmodell verfahren wurde, nicht zur Aussage verpflichtet, denn er durfte nicht als Zeuge vernommen werden. Aber es war eine formlose Befragung möglich und aus seinem Schweigen konnten alle möglichen Schlüsse gezogen werden. Wenn sich der Beschuldigte also gegen die Anklage verteidigen wollte, so blieb ihm gar keine andere Wahl, als sich zur Sache einzulassen.57 Die neuere Forschung geht daher zunehmend davon aus, dass die Entstehung der Selbstbelas55 Vgl. BGH NJW 2007, 3138 m. Anm. Meyer-Mews; Duttge, JZ 2008, 261 ff; Engländer, ZIS 2008, 163 ff.; Renzikowski, JR 2008, 164 ff. 56 Vgl. Holdsworth, A History of English Law, Vol. IX, 1926, S. 230 f.; Roberts / Zuckerman, Criminal Evidence, 2004, S. 392; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 76 ff. 57 S. Langbein in: Helmholz / Gray / Langbein / Moglen / Smith / Alschuler, The Privilege against Self-Incrimination, 1997, 82, 107; Gerlach, FS Hanack, 1999, S. 117, 125 f.; Schlauri (o. Fn. 31), S. 66 ff.

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tungsfreiheit mit der allgemeinen Herausbildung einer professionellen Strafverteidigung im 18. Jahrhundert einhergeht, nachdem der Treason Act von 1696 bereits für bestimmte Verfahren die Institution der formellen Verteidigung zugelassen hatte.58 Die Selbstbelastungsfreiheit entwickelt sich also zusammen mit dem adversatorischen Verfahren. Sobald der Beschuldigte als Partei mit eigenen Rechten, insbesondere dem Anspruch auf eine effektive Verteidigung, anerkannt wird, scheidet er als bloßes Beweismittel aus. Vielmehr ist es seine – durchaus von taktischen Erwägungen geprägte – Entscheidung, ob und inwieweit er zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen will, möglichst angeleitet durch einen kompetenten Verteidiger. Für ein Verfahrensverständnis, das auf dem Inquisitionsmodell aufbaut, ist eine solche Entwicklung ungleich schwieriger nachzuvollziehen. Zwar verschwindet zum Ende der Epoche der Aufklärung die Folter, und das Strafverfahren wandelt sich mit der Einführung der Staatsanwaltschaft und der damit verbundenen Trennung von Ermittlungsbehörden und Gerichten. Aber die grundlegende Rolle des Richters bleibt dieselbe: Er ist der maßgebliche Sachwalter des staatlichen Strafanspruchs und die umfassende Aufklärung des Tatvorwurfs bleibt gemäß § 244 Abs. 2 StPO seine ureigene Aufgabe.59 Dies wird an der Herausbildung der Selbstbelastungsfreiheit in Deutschland deutlich. Hinter der Abschaffung der Folter stehen weniger die Rechte des Angeklagten als die Einschätzung, dass auf diese Weise der Suche nach der Wahrheit nicht gedient wird. Im Jahr 1848 wird in Art. X § 179 der Reichsverfassung von 1848 der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess beseitigt und das Akkusationsprinzip eingeführt. Nunmehr muss die Anklagebehörde vor Gericht den Tatvorwurf beweisen. Damit ist die Basis gelegt, um dem Angeklagten eine eigenständige Verfahrensrolle zuzuerkennen. Gleichwohl steht das gesamte Verfahren nach wie vor unter dem übergeordneten Ziel der Wahrheitsfindung. Da aus dem Schweigen des Angeklagten Schlüsse zu seinem Nachteil gezogen werden können, besteht ein Druck zur Aussage. Erst in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wird die Aussagefreiheit im deutschen Strafverfahren vorbehaltlos anerkannt.60 Ein unantastbares Recht des Bürgers, sich gewissen Formen der Mitwirkung an der Wahrheitsfindung zu verweigern, muss prinzipielle Probleme aufwerfen. An der Wahrheitserforschung „gemessen, bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist“, so hat der Bundesgerichtshof in anderem Zusammenhang formuliert.61 Der übergeordnete Gesichts58 Näher dazu Langbein (o. Fn. 57), S. 82 ff.; Gerlach, FS Hanack, 1999, S. 117, 126 f.; Böse, GA 2002, 98, 108 ff. 59 Vgl. BVerfGE 77, 76. 60 Näher dazu Rogall (o. Fn. 56), S. 93 ff.; Gerlach, FS Hanack, 1999, S. 117, 130 ff.; Böse, GA 2002, 98, 113 ff.; Müller, EuGRZ 2001, 546 f.; s. auch Weßlau, ZStW 110 (1998), 33 ff. 61 BGHSt 32, 345, 353; 33, 283 f.; 37, 10, 13.

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punkt par excellence ist die Menschenwürde, die unabhängig von einem bestimmten Verfahren vom Staat immer zu achten ist. Aber wenn man die Selbstbelastungsfreiheit als Konkretisierung der Menschenwürde betrachtet, wird dieser Bereich des Unantastbaren nicht besonders weit gezogen. Ein Verfahrensmodell, in dem der Richter als neutraler Mittler der Auseinandersetzung zwischen der Anklagebehörde als Sachwalterin des staatlichen Strafanspruchs und dem Angeklagten erscheint und in dem die Verantwortung für den Prozessstoff bei den Parteien liegt62, bietet demgegenüber mehr Potential für prozedurale Lösungen. Nicht umsonst kommt der Gedanke der Verfahrensfairness aus der angloamerikanischen Rechtskultur – wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die deutsche Sichtweise der Selbstbelastungsfreiheit in vieler Hinsicht beschuldigtenfreundlicher ist als etwa das US-amerikanische Strafprozessrecht.63 Was folgt aus alldem für eine normative Grundlegung der Selbstbelastungsfreiheit in europäischer, menschenrechtlicher Perspektive? Wenig und doch viel: – Zunächst einmal ist es – jedenfalls bislang – nicht gelungen, ein verbindliches oberstes Prinzip zu formulieren, aus dem die einzelnen Gewährleistungen der Selbstbelastungsfreiheit deduktiv abgeleitet werden können. Das Ausmaß, in dem sich der Beschuldigte der Mitwirkung am Strafverfahren verweigern darf, weil dies seine Stellung als Rechtssubjekt desavouieren würde, ist historisch kontingent.64 Insofern ist nicht viel gegen die Methode des EGMR einzuwenden, die Vorstellung, wie ein faires Verfahren auszusehen hat, nach und nach am jeweiligen Einzelfall zu konkretisieren. Die Differenzierung zwischen dem Beschuldigten als Wissensträger und als Augenscheinsobjekt sowie zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Duldung spielt in diesem Konzept keine Rolle mehr. Wer indes eine oberste Maxime erhofft hat, aus der die Konkretisierungen der Selbstbelastungsfreiheit deduktiv abgeleitet werden können, wird enttäuscht. – Auf der anderen Seite steht der Setzungsgrund für die Selbstbelastungsfreiheit fest: die Verfahrensgerechtigkeit. In diesem Sinn wurde schon bei der Entstehung der EMRK eine explizite Ausformulierung in Art. 6 EMRK für überflüssig angesehen, denn das nemo tenetur-Prinzip galt als „the very essence“ jedes fairen Verfahrens und damit als Selbstverständlichkeit.65 Damit ist weit mehr er62 Vgl. La Fave / Israel / King, Criminal Procedure, 3. Aufl. 2000, S. 30 ff.; Herrmann in: Jung (Hrsg.), Der Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 1990, S. 133 ff.; Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozeß, 1995, S. 127 ff., 394 ff. 63 S. Schlauri (o. Fn. 31), S. 287 f., 301 ff. 64 Instruktiv dazu die rechtsvergleichende Untersuchung von Schlauri (o. Fn. 31), die erhebliche Unterschiede im Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit im US-amerikanischen und deutschen Recht sowie in der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch den EGMR herausgearbeitet hat. 65 Bericht der Expertenkommission an das Ministerkommittee, CE Doc. H(70)7, S. 39. S. auch EGMR (Murray – o. Fn. 18), § 45: „at the heart of the notion of a fair procedure“. Gegen die Zuordnung der Selbstbelastungsfreiheit zu den Prozessgrundrechten Eisenhardt (o. Fn. 3), S. 195 ff.

Körperliche Zwangseingriffe und Selbstbelastungsfreiheit

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reicht als bloße Beliebigkeit. Bestimmte Argumente sind dadurch von vornherein ausgeschlossen. So kann man insbesondere nicht die Forderung nach einer effektiven Strafverfolgung gegen die Verfahrensgerechtigkeit ausspielen. Mag der Schutz der Bürger vor Kriminalität jedem Staat als Zweck vorgeordnet sein, so steht doch fest, dass die Strafrechtspflege in einem Rechtsstaat sich in rechtsstaatlichen Bahnen bewegen muss – oder sie ist keine rechtsstaatliche Strafrechtspflege. – Im Übrigen ist das Verbot unverhältnismäßiger Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ein typisches Verfahrenskriterium, denn es beschränkt sich auf das Strafverfahren.

IV. Ausblick Um zu den körperlichen Zwangseingriffen und damit zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückzukehren: Aus der Verurteilung der Bundesrepublik im Fall Jalloh folgt ein umfassendes Verbot des erzwungenen Brechmitteleinsatzes, unabhängig von einer günstigen Anamnese und ebenfalls ungeachtet des konkreten Mittels (Sirup oder Injektion).66 Denn der entscheidende Gesichtspunkt bleibt immer derselbe: Der Körper des Beschuldigten darf nicht durch die Auslösung pathologischer Reaktionen instrumentalisiert werden. Von den anderen Eingriffen, die bei § 81a StPO in Betracht gezogen werden, wird sich die Entnahme von Urin mittels eines Katheters67 oder das Auspumpen des Magens ebenfalls nicht mehr rechtfertigen lassen, denn diese Maßnahmen sind ebensowenig auf einen natürlichen Vorgang gerichtet und ein vergleichbar schwerwiegender Eingriff.68 Zulässig bleibt die freiwillige Einnahme eines Brechmittels, die dem Beschuldigten zur Vermeidung einer auf Verdunkelungsgefahr gestützten Untersuchungshaft angeboten werden kann.69 Im Rahmen des Freiheitsentzugs kann andernfalls abgewartet werden, bis die Drogenkügelchen ihren natürlichen Weg aus dem Körper des Beschuldigten nehmen. Eine schwerwiegende Behinderung der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität ist entgegen mancher Befürchtungen aus der Praxis70 kaum zu erwarten. 66 Ebenso Gaede, HRRS 2006, 241, 247 f.; Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 475; unzutreffend Schumann, StV 2006, 661, 664; Meyer-Goßner (o. Fn. 14), § 81a Rn. 22; Walther, in: Anwaltskommentar zur StPO, 2007, § 81a Rn. 13. 67 Nach BVerfG, NStZ 1993, 482 zulässig. 68 S. auch Gaede, HRRS 2006, 241, 249; viel zu weit demgegenüber Senge, in: KK-StPO (o. Fn. 13), § 81a Rn. 6. 69 Verkannt von Benfer, JR 1998, 55. In diesem Zusammenhang betont Schuhr, NJW 2006, 3538, 3539 f. den Aspekt der Wahl. 70 S. Schaefer, NJW 1997, 2437 f.

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In der europäischen Perspektive war die Praxis der zwangsweisen Brechmittelgabe bislang wenig verbreitet, ohne dass in den Ländern, die darauf verzichteten – darunter etwa Frankreich, Spanien, Italien, Großbritannien, Österreich und die Schweiz –, eine nennenswert höhere Kriminalitätsrate zu verzeichnen war. Bei der Liberalität des EGMR im Hinblick auf die Beurteilung körperlicher Eingriffe sollte indes nicht übersehen werden, dass es einige Unterschiede im Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit zwischen Karlsruhe und Straßburg gibt, bei denen die deutsche Rechtspraxis die Rechtsposition des Beschuldigten strikter schützt. Das gilt etwa im Hinblick auf das Schweigen, hier sind nach deutschem Verständnis Schlüsse zu Lasten des Beschuldigten unzulässig71, ferner für die Mitwirkung bei einem Atemalkoholtest, die entgegen der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland nicht erzwungen werden darf72, sowie für heimliche Stimmaufnahmen, bei denen der EGMR73 im Gegensatz zum Bundesgerichtshof74 eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit verneint hat, wenn der Vernommene keine belastende Aussage getätigt hat. Es bleibt also eine Herausforderung an die Strafprozessrechtslehre, ein konsistentes Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit auf europäisch-menschenrechtlicher Basis zu entwickeln.

71 Vgl. BVerfG NStZ 1995, 555 f.; BGHSt 20, 281, 283; 25, 365, 368; für teilweises Schweigen gilt dies allerdings nicht, s. BGHSt 20, 298, 300; 32, 140, 144 f.; 38, 302, 307 (m. Anm. Rogall, JR 1993, 380). Anders demgegenüber EGMR (Murray – o. Fn. 18), §§ 45 – 52; EGMR, Urt. v. 2. 5. 2000 – 35718 / 97 (Condron gegen Großbritannien), ECHR 2000-V, §§ 56–57; EGMR, Urt. v. 6. 6. 2000 – 36408 / 97 (Averill gegen Großbritannien), ECHR 2000-VI, §§ 45 – 52; EGMR, Urt. v. 20. 3. 2001 – 33501 / 96 (Telfner gegen Österreich), § 17; EGMR, Urt. v. 8. 10. 2002 – 44652 / 98 (Beckles gegen Großbritannien), §§ 58–59; allerdings darf die Verurteilung nicht allein oder hauptsächlich („solely or mainly“) auf das Schweigen des Angeklagten gestützt werden. Eingehende Kritik bei Schlauri (o. Fn. 31), S. 357 ff. 72 Vgl. BGH VRS 39, 184, 185; OLG Düsseldorf JZ 1988, 894; Geppert, FS Spendel, 1992, S. 655, 659 f. 73 EGMR, Urt. v. 25. 9. 2001 – 44787 / 97 (P.G. und J.H. gegen Großbritannien), ECHR 2001-IX, § 80. 74 BGHSt 34, 39, 45 f.

Beweislastumkehr – eine Lösung bei der Prüfung von Beweisverwertungsverboten? Von Edda Weßlau

I. Über den wissenschaftlichen Stellenwert der Lehre von den Beweisverwertungsverboten konnte Knut Amelung in der Einleitung zu seinem 1990 erschienenen Buch „Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß“ noch schreiben: „Die Wissenschaft nahm zum Juristentag von 1966 zwar einen glänzenden Aufschwung, der bis Ende der siebziger Jahre in einer beträchtlichen Zahl grundsätzlicher Untersuchungen fortwirkte. Inzwischen ist der Strom solcher Arbeiten aber fast gänzlich versiegt.“1 Die Wellenbewegung hat sich freilich fortgesetzt. Die vom BGH im Jahr 1992 kreierte „Widerspruchslösung“, die verschiedenen Konflikte um heimliche Ausforschungsmethoden bei der Straftataufklärung, aber auch die gestiegene Aufmerksamkeit für Fragen des grenzüberschreitenden Beweistransfers haben erneut das Interesse der Wissenschaft an der Problematik der Beweisverwertung provoziert. Im Vordergrund stehen dabei die konzeptionellen Fragen. Mit hohem intellektuellem Aufwand wird darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen ein vorhandener Beweis aus dem Verwertungsprozess ausgeschieden werden muss. Die Ausdifferenzierung der Lehrmeinungen hat sich mittlerweile ins Unübersichtliche gesteigert. Bemerkenswert randständig sind aber prozessuale Gesichtspunkte geblieben: Fest steht, dass die Amtsaufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO gilt, so dass das Tatgericht Anhaltspunkten nachgehen muss, die für das Vorliegen eines Verwertungsverbotes sprechen; daran hat sich auch durch die „Widerspruchslösung“ nichts geändert. Aber die Schwierigkeiten beginnen, wenn diese Aufklärungsbemühungen erfolglos bleiben und somit über die maßgeblichen tatsächlichen Voraussetzungen eines Verwertungsverbotes Unklarheit herrscht.2 1 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß: dogmatische Grundlagen individualrechtlicher Beweisverbote, 1990, S. 9. 2 Dass dies kein bloß theoretischer Fall ist, zeigen die Vorgänge in dem Hamburger Terrorismus-Prozess um Motassadeq. Dort ging es um die Frage nach der Verwertung von Zeugenaussagen, namentlich der Aussage von Binalshibh, der sich in US-Gefangenschaft befindet. Binalshibh war als Hauptzeuge in diesem Prozess benannt worden. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Seine den Angeklagten möglicherweise entlastenden Aussagen wurden von US-Geheimdiensten geheim gehalten. Es stellte sich unter dem Gesichtspunkt des § 136a StPO bzw. des Art. 15 der UN-Anti-Folter-Konvention die Frage nach dem Umgang mit einer solchen Aussage, deren Zustandekommen ungeklärt ist (vgl. BGHSt 49, 112; s. auch Water-

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Amelung hat den interessanten Vorschlag gemacht, in das Konzept der Lehre von den Beweisverwertungsverboten die Beweislastumkehr einzubeziehen. 3 Motiv seiner Überlegungen war allerdings nicht die Lösung von Zweifels-Situationen, in die der Tatrichter bei der Prüfung eines Verwertungsverbotes möglicherweise gerät, sondern die Beseitigung einer konzeptionellen Schwäche seiner Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten. Amelung sieht in der Beweislastumkehr eine Rechtsfolge, die alternativ zu einem Verwertungsverbot steht. Dieser Vorschlag soll im Folgenden aufgegriffen und einer kritischen Nachprüfung unterzogen werden. II. Nach Amelung dient ein Beweisverwertungsverbot der Beseitigung von informationellem Erfolgsunrecht. Werden durch eine Ermittlungsmaßnahme Informationen erlangt, so liegt ein Eingriff in ein Informationsbeherrschungsrecht vor; wenn der Eingriff rechtswidrig war, dann ist zu unterscheiden: Sollten die Normen, die verletzt worden sind, den Zugang der Strafverfolgungsorgane zu den fraglichen Informationen verhindern, so ist durch die Ermittlungsmaßnahme ein informationelles Erfolgsunrecht eingetreten, das im Wege eines Folgenbeseitigungsanspruchs ausgeglichen werden muss; ist der Eingriff jedoch lediglich mit einem Handlungsunrecht verbunden gewesen – etwa Missachtung des Richtervorbehalts –, dann entsteht kein informationelles Erfolgsunrecht und kein Verwertungsverbot.4 Dieser Konzeption ist von Kritikern entgegengehalten worden, dass die Strafverfolgungsbehörden demnach sanktionslos den Richtervorbehalt ignorieren könnten; und das wird als unbefriedigend empfunden.5 Eine Problemlösung wird von Amelung – unter Aufrechterhaltung der Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten – in folgenden Schritten entwickelt6: Im Normalfall trage der Angeklagte die Beweislast für alle Tatsachen, aus denen sich ein Verstoß der Ermittlungsbehörden gegen die schützenden prozessrechtlichen Normen ergeben soll. Haben die Strafverfolgungsbehörden allerdings einen Eingriff vorgenommen, der unter Richtervorbehalt steht, und ist dabei der Ermittlungsrichter übergangen worden, so kehre sich die Beweislast um. Dies folge daraus, dass die Strafverfolgungsbehörden im Fall fehlender Beteiligung des Ermittlungsrichters nicht besser gestellt werden dürfen als im Fall einer Beachtung des kamp / Weßlau, Die Verletzung des fairen Verfahrens in den Hamburger Al-Qaida-Prozessen. In: Grundrechte-Report 2005 S. 174). Der Frankfurter Fall Daschner / Gäfgen kann demgegenüber als untypisch bezeichnet werden. Der Vizepräsident der Frankfurter Polizei, Daschner, hatte seine Anweisung, den Verdächtigen Gäfgen mit Misshandlungen zu bedrohen, ausdrücklich aktenkundig gemacht (vgl. LG Frankfurt / Main NJW 2005, 692). 3 Amelung / Mittag, NStZ 2005, 614 f; s. auch Mittag, Anm. zu BGH JR 2005, 385. 4 Amelung (o. Fn. 1), S. 41. 5 Rogall, FS Grünwald, 1999, S. 523, 540 ff.; Schroth, JuS 1998, 969, 973; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 24 Rn. 21. 6 Amelung / Mittag, NStZ 2005, 616 f.

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Richtervorbehalts. Der Richtervorbehalt aber bewirke, dass dem Ermittlungsrichter von den Strafverfolgungsbehörden alle Fakten vorgetragen werden müssen, die den beabsichtigten Eingriff rechtfertigen sollen. In diesem Sinne enthalte die Anordnung eines strafprozessualen Eingriffs eine Garantie der Rechtmäßigkeit. Die Beweisführungslast liege bei den Ermittlungsbehörden. Daher sei zu fordern, dass in solchen Fällen, in denen die Ermittlungsmaßnahme diese Kontrolle nicht durchlaufen habe, die Strafverfolgungsseite die Beweisführungslast im späteren Prozessstadium behalte, wenn es um die Prüfung eines Verwertungsverbotes für die erlangten Informationen gehe.7 Dieser Vorschlag wirkt zunächst zufriedenstellend. Er zeigt, dass die Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten „den Richtervorbehalt nicht zu einer bloßen Ordnungsnorm verkommen lässt“.8 Konsequenz einer Missachtung dieses Vorbehalts wäre demnach zwar nicht ein Verwertungsverbot, wohl aber eine Umkehr der Beweislast . . . mit der Folge, dass eben doch ein Verwertungsverbot eingreift, wenn den Strafverfolgungsbehörden der Nachweis nicht gelingt, (materiell) rechtmäßig vorgegangen zu sein. Der „Wert“ einer solchen Beweislastumkehr für den Angeklagten scheint dabei umso größer zu sein, je höher die Hürde für einen staatlichen Grundrechtseingriff ist.9 Zweifel an diesem Vorschlag kommen allerdings dann auf, wenn die vorab umrissene Problemstellung verlassen und die angebotene Lösung mit anderen Fallkonstellationen verglichen wird. Es würde nämlich eine paradoxe Lage entstehen: Wo der Gesetzgeber einen Eingriff gestattet, ihn aber von einer richterlichen Genehmigung abhängig macht, käme der Angeklagte in die günstige Lage, dass er entweder präventiven Rechtsschutz erfährt oder aber – falls die richterliche Anordnung fehlt – von einem Beweisverwertungsverbot profitiert, sofern den Strafverfolgungsbehörden im Nachhinein der Nachweis der Rechtmäßigkeit des Eingriffs misslingt. Wo der Gesetzgeber aber einen Eingriff unter gar keinen Umständen gestattet, wo der materielle Grundrechtsschutz also besonders stark ist, soll es bei dem Grundsatz bleiben, dass der Angeklagte die Beweislast10 trägt, wenn er eine verbotswidrige Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden geltend macht. Darunter würden namentlich Verstöße gegen das Beweismethodenverbot des § 136a StPO fallen. Der Angeklagte dürfte sich in diesen Fällen regelmäßig in einer Beweisnot befinden, weil hier nicht die aktenkundige Beweiserhebungsmaßnahme als solche – die Beschuldigten- oder Zeugenvernehmung11 – rechtswidrig ist, sondern die Art 7 Ähnlich argumentiert Mittag, JR 2005, 389, für den Fall, dass der Ermittlungsrichter zwar eingeschaltet wurde, jedoch die Entscheidungsgründe der Anordnung von ihm nicht schriftlich niedergelegt worden sind. 8 Amelung / Mittag, NStZ 2005, 617. 9 So ausdrücklich Mittag, JR 2005, 389. 10 Gemeint ist nicht die Beweisführungslast, sondern die Entscheidungsregel, die den Richter anweist, wie zu entscheiden ist, wenn die Rechtswidrigkeit der Beweisgewinnung nicht zweifelsfrei feststeht. 11 Für Zeugenvernehmungen gilt § 136a StPO entsprechend: § 69 Abs. 3 StPO.

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und Weise ihrer Durchführung. Aus dem Vergleich dieser verschiedenen Konstellationen rechtswidriger Beweisgewinnung wird deutlich: Materieller Grundrechtsschutz und Grundrechtsschutz durch Verfahren würden – wenn man dem Vorschlag Amelungs folgt – krass auseinanderfallen. Deshalb überzeugt die Lösung, bei einer Missachtung des Richtervorbehalts oder der richterlichen Begründungspflicht ein Verwertungsverbot auszuschließen und stattdessen die Beweislast umzukehren, letztlich nicht. Stimmiger sind solche Konzeptionen, die auch bei Verstößen gegen den Richtervorbehalt u. U. zu einem Beweisverwertungsverbot gelangen.12 Das Eingreifen eines Verwertungsverbots und die Umkehr der Beweislast können nicht gegeneinander ausgespielt werden; vielmehr ist das Problem der Beweislast bei unklarer Sachlage – und das erkennen solche anderen Konzeptionen durchweg an – in einer anderen Problemschicht angesiedelt, weshalb insoweit eigenständige, ihrerseits auf konsistente Lösungen bedachte Bemühungen nötig sind. Darum soll es bei den folgenden Überlegungen gehen. III. Seit geraumer Zeit wird insbesondere für den Fall eines Beweisverwertungsverbotes nach § 136a Abs. 3 StPO das Dogma in Frage gestellt, wonach erst bei zweifelsfrei nachgewiesenem Verfahrensverstoß ein Verwertungsverbot eingreift. Gerichtsentscheidungen, in denen verbotene Vernehmungsmethoden gerügt werden, sind freilich selten.13 Die bedeutet aber nicht, dass verbotene Vernehmungsmethoden in der Praxis kaum Anwendung finden würden. Es verbleibt ein Dunkelfeld.14 Gerade deshalb ist die Frage nach der Beweislast von erheblicher praktischer Bedeutung. Zunächst könnte man geneigt sein, jenes Dogma mit Hinweis auf die völkerrechtliche Lage zu verteidigen. Denn nach Art. 15 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. 12. 1984 (Anti-Folter-Konvention) sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass Aussagen, die „nachweislich“ unter Anwendung von Folter zustande gekommen sind, nicht als Beweis verwendet werden. Demnach gilt sogar für die schwersten Verstöße, die im deutschen Recht von § 136a StPO erfasst werden, diese umstrittene Beweislastregel. Allerdings legt die Anti-Folter-Konvention wie alle völkerrechtlichen Übereinkommen lediglich einen Mindeststandard fest. Übereinkommen, die den Menschenrechtsschutz im Auge haben, sind das Ergebnis von Kompromissen, die umso mehr in Richtung eines Minimal-Niveaus tendieren, je größer das Interesse ist, eine Vielzahl von Staaten So neuerdings auch BGH NStZ 2007, 601, mit Besprechung Roxin, NStZ 2007, 616 ff. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. 2006, Rn. 626. 14 Zu empirischen Untersuchungen vgl. Eisenberg (o. Fn. 13), Rn. 627 m. w. N., insb. Wulf, Strafprozessuale und kriminalpraktische Fragen der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung auf der Grundlage empirischer Untersuchungen, 1984. 12 13

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zur Ratifizierung zu bewegen. Deshalb kann aus Art. 15 UN-Anti-Folter-Konvention keine juristische Regel abgeleitet werden, wie innerstaatlich das Problem der Beweislast bei Verstößen gegen § 136a StPO bzw. gegen andere Beweisregeln gelöst werden soll. § 136a Abs. 3 StPO trifft keine Aussage darüber, welcher Grad an Gewissheit zu fordern ist, wenn der Verdacht im Raum steht, eine Aussage sei unter Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden zustande gekommen. Welche Anforderungen an den Nachweis eines Verstoßes zu stellen sind und wie mit verbleibenden Zweifeln trotz umfassender Aufklärung umzugehen ist, muss also anderen Rechtssätzen entnommen oder aus allgemeinen Grundsätzen abgeleitet werden. Da ist zunächst der Grundsatz, dass im Strafprozess das Gericht von Amts wegen alle entscheidungserheblichen Tatsachen aufklären muss. Dazu gehören auch Tatsachen, die für die Anwendung einer prozessualen Norm entscheidend sind.15 Die Aufklärungspflicht erstreckt sich also auch auf die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden, vorausgesetzt, es besteht Anlass zu solchen Recherchen. Das Gleiche gilt für die Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft, sofern sich bereits im Ermittlungsverfahren die Frage stellt, ob ein Verwertungsverbot eingreift. Allerdings besteht bei der Aufklärung von prozessual relevanten Tatachen – auch in der Hauptverhandlung – nach ganz überwiegender Auffassung ein größerer Freiraum als bei der Ermittlung des Sachverhalts, für den sich der Angeklagte zu verantworten hat. Es gilt nämlich das Freibeweisverfahren.16 Das Gericht kann demnach ohne Bindung an bestimmte Beweismittel sich eine Überzeugung verschaffen, z. B. Niederschriften von Vernehmungsbeamten heranziehen, ohne den Beamten selbst als Zeugen hören zu müssen.17 Durch das Freibeweisverfahren wird allerdings nicht das Beweismaß gesenkt; auch hier muss sich das Gericht eine Gewissheit verschaffen. Lediglich die Form der Tatsachenfeststellung ist freier.18 Das Freibeweisverfahren bietet deshalb zwar einerseits eine gewisse Hilfestellung bei der Überwindung besonderer Aufklärungsschwierigkeiten, etwa wenn es sich um Auslands-Sachverhalte handelt. In diesen Fällen werden die ausländischen Behörden, denen die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden vorgeworfen wird, nämlich kaum zur Kooperation mit einem deutschen Gericht oder einer deutschen Behörde bereit sein.19 Schlüchter, in: Systematischer Kommentar zur StPO, 13. Lfg. 1995, § 244 Rn. 31. BGHSt 16, 164. Vom Anwendungsbereich des Freibeweises werden zudem alle Handlungen außerhalb der Hauptverhandlung erfasst. Er gilt ferner im Revisionsverfahren. 17 Der Begriff „Freibeweis“ geht auf Ditzen, Dreierlei Beweis im Strafverfahren, 1926, zurück (zitiert nach Többens, Der Freibeweis und die Prozessvoraussetzungen im Strafprozess, 1979, S. 25 ff.); er taucht in der StPO nicht auf. Die StPO regelt neben dem Strengbeweisverfahren lediglich die vereinzelt zulässige Glaubhaftmachung. Auf Einzelheiten ist hier nicht näher einzugehen. 18 Többens (o. Fn. 17), S. 9 f. 19 Rechtshilfeabkommen finden insoweit keine Anwendung. Diese gelten für den Bereich der Aufklärung einer Straftat, nicht jedoch im Bereich der Hilfe bei der Aufklärung, ob die Rechtmäßigkeit einer Prozesshandlung festgestellt werden kann. 15 16

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Andererseits kann trotz des freieren Zugriffs auf vorhandene Aufklärungsmöglichkeiten eine für die Überzeugungsbildung nötige Klärung oft scheitern.20 Das Problem, wie das Gericht bei verbleibender Ungewissheit zu entscheiden hat, bleibt also bestehen. Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH gilt für Verfahrensfehler der Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht.21 Daraus wird abgeleitet, dass die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden zur Überzeugung des Gerichts feststehen muss, wenn die Aussage von der Verwertung ausgeschlossen werden soll. Für diese Auffassung, die in der Literatur wohl überwiegend geteilt wird,22 werden unterschiedliche Gründe angeführt. Zum einen wird vorgetragen, der Zweifelssatz könne keine Anwendung finden, weil andernfalls befürchtet werden müsse, dass der Beschuldigte lediglich einen Verstoß gegen § 136a StPO zu behaupten brauche, um belastende Beweisergebnisse vom Verfahren auszuschließen. Dieses Argument kann allerdings nicht überzeugen. Denn es kommt nicht auf eine bloße einfache Behauptung an, sondern auf eine substantiierte.23 Zum anderen stützt man sich aber auch auf prinzipielle Überlegungen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ habe seine Wurzel im materiellen Strafrecht, im Verfahrensrecht könne er keine Geltung beanspruchen. Außerdem sei bei prozessrechtlichen Entscheidungssituationen das „pro reo“ gar nicht bestimmbar: Ob sich die Verwertung einer Aussage zu Gunsten oder zu Lasten des Angeklagten auswirke, sei erst am Ende des Verfahrens, wenn alle Beweise vorliegen und gewürdigt werden, erkennbar. Auch deshalb könne es bei der Entscheidung über ein Verwertungsverbot nicht nach der Regel „in dubio pro reo“ gehen.24 In der Literatur wird die Lösung des BGH teilweise heftig bekämpft.25 Namentlich wenn es um Verstöße gegen § 136a StPO geht, wird dem BGH entgegengehalten, der Angeklagte befinde sich regelmäßig in Beweisnot. Ihm fehlten die Beweismöglichkeiten, um das Gericht davon zu überzeugen, dass verbotene Vernehmungsmethoden angewendet worden sind. Die Schutzwirkung der Regelung über verbotene Vernehmungsmethoden und über das Verwertungsverbot würde also leer laufen, wenn man einen eindeutigen Beweis des Verfahrensverstoßes verlangen würde. 20 So auch im Fall BGHSt 6, 164: Der Angeklagte hatte sich in den Niederlanden in Haft befunden. Nicht geklärt werden konnte die Frage, ob seine dort gemachte Aussage unter der Anwendung von verbotenen Vernehmungsmethoden entstanden ist. 21 BGH bei Herlan, MDR 1955, 652; BGHSt 16, 164; BGH bei Martin, DAR 1975, 119; BGH NJW 1978, 1390. 22 Ausführlich zum Meinungsstand Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, 1999. 23 Vgl. bei Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, S. 492 f.; Montenbruck, In dubio pro reo aus normtheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht, 1985, S. 164, 166 f., 169 f., 199. 24 Lüderssen, in: LR, 25. Aufl. 1999, Einleitung Abschnitt L Rn. 62, mit Hinweis auf Sarstedt / Hamm, Die Revision in Strafsachen, 1983, S. 401. 25 Ausführlich zum Meinungsstand Zopfs (o. Fn. 22).

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Zunächst fällt auf, dass dieser Einwand – methodisch betrachtet – auf einer völlig anderen Ebene liegt als die zuletzt genannte Begründung des BGH und der herrschenden Lehre. Auf der einen Seite wird systematisch argumentiert, auf der anderen Seite folgenorientiert.26 Die Rechtfertigung der BGH-Lösung greift auf den dogmatischen Ableitungszusammenhang des in-dubio-Grundsatzes und auf dessen logische Anwendungsvoraussetzungen zurück. Dagegen ist für den vorgetragenen Einwand die Frage maßgeblich, ob das Ergebnis als sachgerecht betrachtet werden kann oder nicht. Eine Stellungnahme zur methodischen Dignität folgenorientierter Argumente und eine Bewertung der vom BGH entwickelten Problemlösung unter diesem Gesichtspunkt soll jedoch zunächst zurückgestellt werden. Zuvor ist zu klären, ob die vom BGH vorgetragenen Argumente und Schlussfolgerungen überhaupt stichhaltig sind. 1. Das Problem der richtigen Beweisfrage Der Position des BGH wird entgegen gehalten, dass es nicht auf die Geltung oder Nichtgeltung des Zweifelssatzes ankomme, sondern auf die richtige Formulierung der Beweisfrage. Sie dürfe nicht lauten, ob das Verfahren fehlerhaft gewesen sei, sondern umgekehrt, ob die Tatsachengrundlage, die das Gericht seinem Sachurteil zugrunde legen will, auf rechtsstaatliche und verfahrensrechtlich einwandfreie Weise zustande gekommen sei.27 Der Tatrichter müsse deshalb eine positive Überzeugung davon haben, ordnungsgemäß zu verfahren. Habe er daran Zweifel, so dürfte er den Beweis nicht verwerten.28 Tatsächlich wird hier ein Schwachpunkt der BGH-Rechtsprechung und der h. M. richtig erkannt: Die Regel, dass der Verfahrenfehler bewiesen sein muss, kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt bzw. logische Konsequenz aus der (angeblichen) Nichtgeltung des „in-dubio-pro-reo“-Grundsatzes ausgegeben werden. Insbesondere dürfen hier nicht die Grundsätze des Revisionsverfahrens zugrunde gelegt werden. Für das Revisionsgericht gilt zwar die besagte Regel, jedoch wird in der Revision nicht der ursprüngliche Verfahrensverstoß – also die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden im Vorfeld bzw. außerhalb der Hauptverhandlung – gerügt, sondern die Entscheidung des Tatgerichts, einen Beweis zu verwerten. Insoweit kann aber gar kein Zweifel aufkommen, weil sich aus dem Urteil ja ergibt, welche Beweise das Gericht verwertet hat und welche nicht. Die Zweifel liegen vielmehr beim Tatrichter. Die Frage, wie er – der Tatrichter – mit Zweifeln umzugehen hat, gilt es aber unabhängig von revisionsrechtlichen Regelwerken zu 26 Vgl. zur juristischen Argumentation und juristischen Methodik: U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986; Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978. 27 Ransiek, StV 1994, 343, 347. 28 Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1997, § 136a Rn. 69; Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 339; Eisenberg (o. Fn. 13), Rn. 709.

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beantworten.29 Deshalb ist zunächst einmal offen, wie die Beweisfrage zu formulieren ist. Ausschlaggebend ist insoweit die Norm, um deren Anwendung es geht. Wegen der Gesetzesbindung der Gerichte kann es nicht dem Belieben überlassen bleiben, wie die Beweisfrage lauten muss. Dieser Zusammenhang zwischen der Formulierung einer Beweisfrage und der anzuwendenden Norm ist von Leo Rosenberg30 herausgearbeitet worden und bildet die Grundlage der nach ihm benannten „Rosenbergschen Beweislastformel“. Danach muss derjenige, der eine für ihn günstige Rechtsfolge herbeiführen will, die Voraussetzungen der Norm beweisen, aus der sich jene Rechtsfolge ergibt.31 Diese Formel ist allerdings für den Parteiprozess entwickelt worden, der eine subjektive Beweislast kennt. Im Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz könnte zwar mit Hilfe dieser Formel ermittelt werden, wie die Beweisfrage lauten muss, allerdings müssten die anzuwendenden Normen dann mit der nötigen Klarheit etwas darüber besagen, welches die „günstige Rechtsfolge“ ist, auf die es ankommen soll. Hier aber liegt im Fall von Beweisverwertungsverboten das Problem: Lautet die Norm: „Der Richter ist befugt, einen Beweis zu verwenden, wenn die Beweisquelle einwandfrei ist“, oder lautet sie: „Der Richter ist verpflichtet, jede Beweisquelle zu nutzen, es sei denn, es steht ein Beweiserhebungs- bzw. -verwertungsverbot entgegen“? Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber durch die Formulierung der materiellen Befugnis – hier: der Befugnis zur Verwendung von Beweisen – festlegen wollte, wie die Beweislast verteilt sein soll. Nicht weiterführend ist bei dieser Sachlage der Einwand, es könne nicht richtig sein, dass die Gerichte „bis zum Beweis des Gegenteils“ von der Rechtmäßigkeit staatlicher Ermittlungstätigkeit auszugehen haben – dies aber sei die Logik des BGH. Bei diesem Einwand handelt es sich um Spiegelfechterei. Die Frage, wovon die Tatgerichte „üblicherweise“ auszugehen haben, stellt sich zunächst in der Phase der Sachverhaltsklärung: Das Gericht ist in der Tat nicht gehalten, ohne konkrete Anhaltspunkte Ermittlungen darüber anzustellen, ob ein jeder Beweisgewinnungsakt wohl rechtmäßig vonstatten gegangen ist. Liegen solche Anhaltspunkte nicht vor, wird das Gericht deshalb bis in die Phase der Überzeugungsbildung hinein davon ausgehen dürfen, die Beweislage sei ordnungsgemäß zustande gekommen. Die Situation des Zweifels tritt also gar nicht auf. Sind dem Gericht jedoch Zweifel gekommen und konnte durch Aufklärungsbemühungen keine restlose Klarheit geschaffen werden, dann muss eine Entscheidungsregel angewendet werden. Entscheidungsregeln sind aber gerade keine Beweisregeln. Sie besagen nicht, dass das Gericht von einem bestimmten Sachverhalt „ausgehen“ soll, weil für diesen die größere Wahrscheinlichkeit spricht, sondern sie besagen, dass die eine und nicht 29 So auch Zopfs (o. Fn. 22), S. 382, allerdings mit der Begründung, dass das Revisionsgericht keine Entscheidung über eine Statusveränderung treffe, sondern die vom Gericht ausgesprochene Statusveränderung nur in rechtlicher Hinsicht überprüfe. 30 Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 12. 31 Ebenda.

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die andere Rechtsfolge eintreten soll. Es trifft also nicht zu, dass die vom BGH favorisierte Beweislastregel auf der „Unterstellung“ beruhe, die staatliche Ermittlungstätigkeit sei normalerweise einwandfrei. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass man bei der Formulierung der Beweisfrage nicht ansetzen kann, wenn man gegen die Linie des BGH und der h. M. optieren will. 2. Geltung des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes Spitzt sich also doch alles auf die Anwendbarkeit des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes zu? Der BGH hat es so gesehen und gegen die Geltung dieses Grundsatzes angeführt, der Zweifelssatz habe seine Wurzel im materiellen Strafrecht. Dieser Befund ist allerdings keineswegs gesichert. So hat Zopfs in seiner gründlichen historischen Untersuchung zum in-dubio-proreo-Grundsatz nachgewiesen, dass es im Strafprozess schon immer jenseits von Zweifeln über die Schuldfrage Anwendungsfälle für in-dubio-pro-reo-Entscheidungen gegeben hat.32 Hinzu kommt, dass der BGH seine Linie selbst nicht konsequent durchhält und in dubio pro reo für anwendbar erklärt hat, wenn über das Prozesshindernis der Verjährung zu entscheiden ist.33 Diese Konstellation zeigt zugleich, dass die Zuordnung einer Rechtsfrage zum Prozessrecht oder zum materiellen Strafrecht z. T. auch zweifelhaft und/oder zufällig ist.34 Das weitere Argument lautet, „pro reo“ könne bei verfahrensrechtlichen Fragestellungen keinen Maßstab bilden. Das trifft in dieser Allgemeinheit freilich nicht zu – wiederum zeigt sich dies bei der Verfahrenseinstellung aufgrund eines Verfahrenshindernisses. Dennoch bleibt das Argument gültig, sofern man es nicht auf die Anwendbarkeit des Zweifelssatzes im Einzelfall bezieht, sondern auf die Logik seiner Anwendung. Zunächst ist offensichtlich, dass von einer generellen Geltung des in-dubio-proreo-Grundsatzes bei allen möglichen verfahrensrechtlichen Entscheidungssituationen nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil, es lassen sich Verfahrenslagen benennen, in denen unstreitig dieser Grundsatz nicht gilt: So gehen in der Revision Zweifel zu Lasten desjenigen, der den Verfahrensfehler rügt;35 und wenn nicht sicher festgestellt werden kann, ob eine Frist versäumt worden ist, so ist i. d. R. von einem rechtzeitigen Eingang der Erklärung auszugehen36 – dies gilt für den Angeklagten Zopfs (o. Fn. 22), S. 263 ff. BGHSt 18, 274, 276. 34 Zu diesem Thema eingehend Volk, Prozessvoraussetzungen im Strafrecht, 1978; ders., Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2002, S. 114 Rn. 10. 35 Frisch, in: SK-StPO, 37. Lfg. 2004, § 337 Rn. 70. 36 Wendisch, in: LR, 25. Aufl. 2004, Vor § 42 Rn. 33; Meyer-Goßner, 50. Aufl. 2007, § 261 Rn. 35; Weßlau, in: SK-StPO, 30. Lfg. 2003, § 43 Rn. 22. 32 33

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ebenso wie für andere Prozessbeteiligte. Der in-dubio-Grundsatz würde eine völlig andere Logik erfordern: Je nachdem, in wessen Interesse Anträge gestellt oder Verfahrensfragen aufgeworfen werden, müssten Zweifelsfragen mal so, mal anders entschieden werden. Die Problematik dieser Anwendungslogik ist den Befürwortern der in-dubiopro-reo-Lösung zumeist nicht klar. Soll bei einem nicht aufklärbaren Verstoß gegen § 136a StPO das Beweisergebnis von der Verwertung ausgeschlossen werden, dann nehmen die Befürworter regelmäßig unausgesprochenen an, die Entscheidung für ein Verwertungsverbot wirke sich zugunsten des Angeklagten aus. Dass diese Entscheidung im Ergebnis auch „contra reum“ wirken kann, wird nicht bedacht, obwohl gerade das Verwertungsverbot des § 136a Abs. 3 StPO auf diesen Umstand eigentlich aufmerksam machen müsste. Diese Vorschrift bestimmt ausdrücklich, dass es auf eine Zustimmung des Beschuldigten zu einer Verwertung nicht ankommt. Deshalb erstreckt sich das Verwertungsverbot nach ganz herrschender, allerdings nicht unbestrittener Lesart auf belastende und entlastende Aussagen gleichermaßen.37 Wollte man mit der Anwendung des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes bei Beweisverwertungs-Fragen ernst machen, so müsste man also stets unterscheiden: Handelt es sich um entlastendes oder um belastendes Beweismaterial? Eine theoretische Konzeption, die eine solche Unterscheidung ermöglicht, hat Zopfs entwickelt. Zunächst hat er versucht, in seiner Konzeption ganz auf eine Herleitung des in-dubioGrundsatzes aus dem materiellen Schuldprinzip zu verzichten und damit für das Strafverfahren eine allgemeingültige Entscheidungsregel zu entwickeln. Abgrenzungskriterium soll nicht sein, ob das Beweisthema die materielle Schuldfrage betrifft oder prozessual relevante Sachverhalte; stattdessen sei nach einer „negativen Statusveränderung“ für den Angeklagten zu fragen:38 Der Zweifelssatz müsse immer dann Geltung beanspruchen, wenn mit der zu entscheidenden Frage eine negative Statusveränderung für den Angeklagten verbunden ist. Die Feststellung des Tatgerichts, dass das Verfahren fehlerfrei verlaufen sei, bilde einen „Baustein“ für die Verurteilung, also für eine negative Statusveränderung. Auf diese Weise kommt man also zu unterschiedlichen Lösungen, je nachdem, ob es sich bei der Entscheidung, einen Beweis zu verwerten, um einen „Baustein“ für eine „negative Statusveränderung“ handelt oder nicht. Es liegt auf der Hand, dass die Verwertung ent37 Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 136a Rn. 5, 88; Meyer-Goßner (o. Fn. 36), § 136a Rn. 27; Eisenberg (o. Fn. 13), Rn. 625. Dagegen steht die Auffassung, dass Beweisverwertungsverbote stets als Belastungsverbote gedeutet werden müssen; vgl. dazu Roxin / Schäfer / Widmaier, StV 2006, 655, 660. Roxin ist zugleich ein Befürworter der in-dubio-pro-reo-Lösung bei Zweifeln hinsichtlich eines Verwertungsverbots nach § 136a StPO: Roxin, in: FS 40 Jahre BGH, 1991, S. 66, 77. Für § 136a Abs. 3 StPO würde diese Auffassung auf eine verfassungskonforme Auslegung (besser: Korrektur) hinauslaufen.– Man wende nicht ein, solche Konstellationen kämen nicht vor. Im Fall Motassadeq war es gerade die Verteidigung, die auf die Einführung der Aussagen des Zeugen Binalshibh Wert legte, weil sie sich davon entlastende Erkenntnisse erhoffte; zu diesem Fall vgl. die Nachweise in Fn. 2. 38 Zopfs (o. Fn. 22), S. 382 f.

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lastenden Beweismaterials kein solcher „Baustein“ ist, wohl aber die Verwertung belastenden Beweismaterials. Zopfs hat allerdings bei der Entwicklung seiner Lösung die Problematik entlastenden Beweismaterials gar nicht vor Augen gehabt; um die Kontroverse, ob Beweisverwertungsverbote ausschließlich als Belastungsverbote zu verstehen sind oder nicht,39 geht es bei Zopfs gar nicht. Sein Augenmerk gilt allein der Behandlung von Zweifelssituationen. Dass aber gerade in Zweifelssituationen dieses Kriterium – Entlastungs- oder Belastungsmaterial – maßgeblich sein soll, wo diese Frage doch in der Lehre von den Beweisverwertungsverboten schon konzeptionell ungeklärt ist, spricht gegen den von Zopfs beschrittenen Weg. Hinzu kommt, dass die „Baustein“-Argumentation nicht restlos überzeugt.40 Es wird nicht ausreichend begründet, warum die Entscheidungsregel, die für die unmittelbar statusverändernde Entscheidung – die Verurteilung – gilt, auf die vorgelagerte Einscheidungssituation durchschlagen soll, bei der es um die Einbeziehung oder den Ausschluss eines einzelnen Beweismittels geht. Es zeigt sich, dass der Versuch einer systematischen Herleitung des Ergebnisses schwierig ist: Die bisher behandelten Argumente liefern nur Gründe gegen die Geltung des in-dubio-Grundsatzes, aber keine Begründung für die Geltung einer anderen Entscheidungsregel. 3. Das Beweisnot-Argument Deshalb liegt es nahe, an dieser Stelle auf die folgenorientierte Sichtweise zurückzukommen. Möglicherweise können mit dieser Methode Gründe gewonnen werden, die aus dem argumentativen Patt herausführen. Wenn es stimmt, dass den Gerichten zumeist die Beweismöglichkeiten fehlen werden, um sich eine Überzeugung von der Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden zu verschaffen, dann ist der vorgetragene Einwand richtig: Die Schutzwirkung des § 136a StPO würde leer laufen, wenn man einen eindeutigen Beweis des Verfahrensverstoßes verlangen würde. Als „Gewährsmann“ für die Bedeutung dieses Einwandes lässt sich kein geringerer als der EGMR anführen. In seiner Rechtsprechung spielt das BeweisnotArgument eine entscheidende Rolle, wenn es um mutmaßliche Verstöße gegen das Misshandlungsverbot des Art. 3 EMRK geht. Allerdings hat das Straßburger Gericht eine Lösung entwickelt, die – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auf die Problemstellung im Strafverfahren nicht übertragbar ist. Der EGMR hält die Verurteilung eines Konventionsstaates wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK nicht erst dann für gerechtfertigt, wenn der volle Beweis erbracht ist. Vielmehr soll das Problem durch eine differenzierte Verteilung der 39 40

Vgl. die Nachweise in Fn. 37. Kritisch auch Zaczyk, GA 2000, 546 f.

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Beweislast gelöst werden: Der Beschwerdeführer hat lediglich Hilfstatsachen zu beweisen, aus denen sich typischerweise auf die streitige Haupttatsache schließen lässt. Was das bedeutet, zeigt der Fall Ribitsch . / . Österreich: Wenn fest steht, dass der Beschwerdeführer, bevor er in Polizeigewahrsam gelangte, unverletzt gewesen ist, während er danach Verletzungen aufwies, so lässt sich daraus typischerweise schließen, dass ihm diese Verletzungen von Polizeiangehörigen zugefügt worden sind. – Einer Verurteilung entgeht der beklagte Konventionsstaat nur dann, wenn er seinerseits diesem Schluss entgegentreten kann durch Präsentation einer plausiblen anderen Erklärung für die entstandenen Verletzungen.41 Gerechtfertigt wird diese Lösung mit der tatsächlichen Unmöglichkeit für den Beschwerdeführer, den Beweis für die Haupttatsache – also für den Verstoß gegen das Folter- bzw. Misshandlungsverbot – zu erbringen: Während der Beschwerdeführer im Verlauf der Haft keine Beweise sichern könne, sei dies dem betroffenen Staat möglich. Er könne den Ablauf der Inhaftierung routinemäßig genau dokumentieren. Versäumnisse in dieser Hinsicht müssten zu Lasten des beklagten Staates gehen. Wie man sieht, ist die gewählte Beweislast-Konstruktion erklärbar mit der Beweisnähe und dem Beweisführungsinteresse der beteiligten Parteien. Im Strafprozess aber stehen sich nicht zwei Parteien mit bestimmten Beweisführungsinteressen gegenüber; vielmehr kann das Interesse, einen Verstoß gegen das Folter- bzw. Misshandlungsverbot geltend zu machen, bei dem Angeklagten liegen, nämlich dann, wenn die fraglichen Aussagen ihn belasten; er kann aber auch ein gegenteiliges Interesse haben, wenn er sich von der Verwertung der Aussagen einen entlastenden Effekt verspricht.42 Auch das Argument, Versäumnisse, die eine Aufklärung verhindern, müssten zu Lasten des Staates gehen, verträgt sich nicht mit dem Verfahrensgegenstand des Strafprozesses. Im Verfahren vor dem EGMR will die eine Partei eine Verurteilung des beklagten Staates herbeiführen, der Beklagte will die Verurteilung abwenden. Dazu passt es, Risiken der Beweisführung mit dem Verfahrensergebnis zu verknüpfen; schließlich stehen sich diejenigen, die an dem fraglichen Geschehen beteiligt waren, nunmehr als Prozessparteien gegenüber: der Bürger, der behauptet, Opfer von Folter oder Misshandlung geworden zu sein, und der Staat, der dieser Behauptung entgegen tritt. Bei der Entscheidung über ein Verwertungsverbot im Strafprozess liegen die Dinge anders. Verfahrensgegenstand ist hier nicht das fragliche Geschehen im Zusammenhang mit einer Vernehmung, sondern die mutmaßlich von dem Angeklagten begangene Straftat. Eine unmittelbare Verknüpfung von Verfahrensergebnis und Beweisfragen, die sich in Bezug auf möglicherweise unkorrektes Vorgehen der Staatsgewalt stellen, kommt hier nicht in Frage. Hinzu kommt, dass der Angeklagte, der sich 41 EGMR – Ribitsch . / . Österreich EuGRZ 1996, 504 m. Besprechung Rudolf, EuGRZ 1996, 497 – 503. Eingehend zu diesem Problem Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, 1993. 42 Dass dies nicht nur ein theoretischer Fall ist, zeigen die Konflikte im Fall El Motassadeq, o. Fn. 2.

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auf das Verwertungsverbot beruft, auch nicht notwendig derjenige ist, der bei der Vernehmung – angeblich oder tatsächlich – gefoltert oder misshandelt worden ist; es kann auch eine Person, die in dem Strafverfahren eine Zeugenrolle hat, mit unzulässigen Methoden vernommen worden sein. Ebenso wenig muss der Staat, der die Strafverfolgung betreibt, mit der Staatsgewalt identisch sein, deren Angehörige gegen das Folter- bzw. Misshandlungsverbot verstoßen haben sollen. So gesehen kann auch der strafverfolgende Staat in Beweisnot geraten. Angesichts dieser Überlegungen wird deutlich, dass das Beweisnot-Argument mit Blick auf den Angeklagten zu einseitig ist und der komplexen Problematik – auch in folgenorientierter Sicht – nicht gerecht wird. Deshalb hilft die vom EGMR entwickelte Lösung nicht weiter, wenn es im Strafverfahren um die Aufklärung von Umständen geht, die auf das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes hindeuten. 4. Effektivität des Grundrechtsschutzes Dennoch: Die Schwierigkeit, die fraglichen Situationen der Beweisgewinnung so weit aufzuklären, dass Gewissheit entsteht, kennzeichnet die Lage im Strafprozess ebenso wie die Lage im Menschenrechtsbeschwerde-Verfahren. Die Beweislast-Lösung, die aus den genannten Gründen nicht übertragbar ist, stellt aber nicht die einzige Möglichkeit dar, auf jene Schwierigkeit zu reagieren. Geht es nicht um die Verurteilung eines Staates wegen einer Menschenrechtsverletzung, sondern um die Verwertung eines Ermittlungsergebnisses im Strafverfahren, dann trifft das Beweisnot-Argument – und die daraus abgeleitete Beweislast-Lösung – nicht den entscheidenden Punkt. Meine erste These lautet, dass es nicht darum gehen kann, hier unmittelbar auf die eine oder andere bereits etablierte Regel für die Behandlung von Zweifelsfällen – sei es „in dubio pro reo“, sei es eine bestimmte Beweislast-Regelung – zurückzugreifen. Vielmehr handelt es sich um ein methodisches Problem: Auf welche abstrakten Gesichtspunkte soll es bei der beweisrechtlichen Behandlung von Zweifelsfällen ankommen? Sofern die Rosenbergsche Beweislastformel nicht anwendbar ist – und das ist hier, wie gezeigt, der Fall –, kann sich die Lösung nur aus einer Güter- und Interessenabwägung ergeben: Welche Rechtsgüter und Interessen werden beeinträchtigt, wenn die Entscheidungsregel so, und welche, wenn sie anders lautet?43 Und da die Absenkung des Beweismaßes auf dasselbe hinausläuft wie die Umformulierung von Entscheidungsregeln, bliebe – nach Klärung dieser Abwägungsfrage – nur noch zu entscheiden, welche dieser beiden beweisrechtlichen Methoden vorzugswürdig ist. Dieses Thema ist allerdings sekundär. Primär ist also danach zu fragen, aus welchem Grunde überhaupt ein Beweisverwertungsverbot in Betracht gezogen wird, genauer gesagt, welches die Interessen sind, die durch ein Verwertungsverbot geschützt werden sollen. Meine zweite These lautet: Wenn ein Beweisverwertungs43 Vgl. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 1966, S. 49; Frisch, FS Henkel, 1974, S. 284.

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verbot dem individuellen Grundrechtsschutz dienen soll, dann schlägt bei dieser Interessenabwägung der Gesichtspunkt der Effektivität des Grundrechtsschutzes maßgeblich durch. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dieser Gesichtspunkt mehrfach herangezogen worden, wenn es um die verfassungsrechtliche Beurteilung strafprozessualer Fragen ging – allerdings noch nicht in Verbindung mit Beweisverwertungsverboten. Spektakulär war die Entscheidung vom 30. 04. 1997, mit der das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung zum Rechtsschutz gegen erledigte prozessuale Grundrechtseingriffe aufgegeben und die Statthaftigkeit der Beschwerde gem. § 304 StPO anerkannt hat.44 Die Beschwerde dürfe – so hat das Gericht argumentiert – nicht allein deswegen als unzulässig verworfen werden, weil die Maßnahme prozessual überholt sei. Bei der Auslegung des geltenden Rechts müsse das Ziel effektiven Grundrechtsschutz beachtet werden. Effektiver Grundrechtsschutz aber gebiete es in diesen Fällen, dass der Betroffene Gelegenheit erhalte, die Berechtigung eines schwerwiegenden, wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Dem früher in den Vordergrund gestellten Wortlaut-Argument, wonach das Beschwerdeverfahren gem. § 308 StPO stets auf Abänderung der angegriffenen Entscheidung gerichtet sei, wurde also mit der neuen, grundrechtsorientierten Auslegung keine Bedeutung mehr zugemessen. In anderen Streit-Fällen hat das Bundesverfassungsgericht den Topos vom „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ aktiviert, der als fester Bestandteil der Grundrechtsdogmatik gelten kann.45 So hat das Gericht in seiner Rechtsprechung zu den Anforderungen an richterliche Durchsuchungsbeschlüsse46 deutlich gemacht, dass der Richtervorbehalt als Verfahrensvorkehrung dem effektiven Grundrechtsschutz dienen soll. Dieser Schutz könne aber nur dann greifen, wenn der Richter in seiner Anordnung die Grenzen des von dieser Anordnung gedeckten Verhaltens der Ermittlungsbehörden klar abgesteckt habe. Ebenfalls um „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ geht es, wenn Dokumentations-47 oder Begründungspflichten48 oder die Pflicht zur nachträglichen Benachrichtigung des Betroffenen über eine durchgeführte heimliche Überwachungsmaßnahme49 herausgestellt werden. Insgesamt lässt sich der verfassungsgerichtlichen Recht44 BVerfGE 96, 27 m. Anm. Amelung, JR 1997, 384; Roxin, StV 1997, 654; Fezer, JZ 1997, 1062. Vertiefend zum Gebot effektiven Rechtsschutzes im Zusammenhang mit der Kontrolle strafprozessualer Eingriffe s. Amelung, FS BGH, Bd. IV, 2000, S. 911. 45 Hesse, EuGRZ 1978, 427, 434 ff.; Bethge, NJW 1982, 1, jeweils m. w. N.; Kirchhof, in: ders. / Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 59 Rn. 48 m. w. N. zur verfassungsrechtlichen Rechtsprechung. 46 Vgl. z. B. BVerfGE 96, 44, 52 ff.; BVerfG NStZ 2000, 601; BVerfG NJW 2005, 275. 47 BVerfG StV 2004, 633: Der bei Gefahr im Verzug handelnde Beamte muss darlegen und dokumentieren, aus welchen Gründen er diese Lage angenommen hat. 48 Vgl. BVerfGE 103, 142, 155, zu den Substantiierungsanforderungen bei der Annahme von Gefahr im Verzug. 49 Vgl. BVerfG NJW 2004, 999, 1015.

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sprechung also entnehmen, dass grundrechtsschützende Normen nicht leerlaufen dürfen, sondern dass umgekehrt die Schutzwirkung von Grundrechten durch ein entsprechend gestaltetes Verfahrensrecht effektiviert werden muss. Bezieht man dieses Gebot wirksamen Grundrechtsschutzes, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung herausgearbeitet hat, in die erforderliche Interessenabwägung ein, so erhält das folgenorientierte Argument seinen richtigen dogmatischen Stellenwert: Wenn erst die volle Überzeugung des Gerichts zur Unverwertbarkeit eines Beweismittels bzw. Beweisergebnisses führen würde, Zweifel sich also zugunsten der Verwertbarkeit auswirken würden, so müsste ein Verwertungsverbot umso eher leerlaufen, je schwieriger die Aufklärung eines Verfahrensverstoßes ist. Auf die Aktenkundigkeit des fraglichen Verstoßes kann regelmäßig gerade in den Fällen des § 136a StPO aber nicht gehofft werden.50 Da es sich hier um besonders schwerwiegende Grundrechtsverletzungen handelt, dürfen die beweisrechtlichen Maßstäbe nicht ausgerechnet in diesen Fällen das prozessuale Schutzkonzept konterkarieren. Die Beweisanforderungen bzw. Entscheidungsregeln müssen so ausgestaltet werden, dass dieses Schutzkonzept zum Tragen kommen kann, der von § 136a StPO bezweckte Grundrechtsschutz also nicht leerläuft. Fraglich kann demnach nur noch sein, ob das in § 136a Abs. 3 StPO ausdrücklich verankerte Verwertungsverbot wirklich als „prozessuales Schutzkonzept“ gedeutet werden kann, ob also dieses Verwertungsverbot und nicht nur das Beweismethodenverbot des Absatzes 1 dem Schutz individueller Grundrechte dienen soll. Diese Frage wird bekanntlich nicht einheitlich beantwortet. Nach verbreiteter Ansicht soll durch das Verwertungsverbot des § 136a Abs. 3 StPO die Integrität der Rechtspflege51 bzw. die staatliche Legitimation zum Strafen gewahrt werden52. Andere sehen die Disziplinierungsfunktion im Vordergrund53 und stellen sich vor, dass die Ermittlungsbehörden zur Beachtung der ihnen gezogenen Grenzen dadurch motiviert werden können, dass ein rechtswidrig erlangter Beweis wertlos wird. Solche Positionen schließen allerdings den Gedanken nicht aus, dass Verwertungsverbote dem Schutz individueller Rechte dienen und dass dies auch für das Verwertungsverbot des § 136a Abs. 3 StPO gilt. Es dürfte deshalb der herrschenden Meinung entsprechen, wenn dieses Verwertungsverbot tatsächlich – jenseits der allgemein bestehenden Differenzen über die Prinzipien der Verwertungsverbote – als Instrument zur Sicherung der durch Absatz 1 geschützten Individualrechte aufgefasst wird. 50 Deswegen ist auch der Weg, den der BGH beim Nachweis von Belehrungsfehlern eingeschlagen hat, nicht gangbar. Vgl. BGH JR 2007, 125 m. zustimmender Anm. Wohlers; danach darf ein Vernehmungsprotokoll nicht verwertet werden, wenn keine hinreichend verlässlichen Anhaltspunkte für eine Belehrung nach § 136 StPO vorhanden sind. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn ein Aktenvermerk i. S. v. Nr. 45 RiStBV nicht gefertigt wurde. 51 Rogall, in: SK-StPO, § 136a Rn. 80 m w. N. 52 Amelung, a. a. O. (o. Fn. 1), S. 20 ff. m. w. N. 53 Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 59 ff.

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Zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes bietet sich in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur eine Entscheidungsregel an, mit der die sog. objektive Beweislast anders verteilt wird als nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH54. Verschiedene Alternativen kommen in Betracht. Kühne sucht eine Lösung bei den einer jeden Zweifelssituation vorgelagerten Aufklärungsbemühungen: Nach seiner Ansicht muss der Verstoß gegen § 136a StPO im Wege des Strengbeweisverfahrens festgestellt werden.55 Dem liegt folgende Überlegung zugrunde: Je gründlicher das Gericht das fragliche Geschehen zu erforschen hat, desto weniger ist damit zu rechnen, dass am Ende überhaupt noch Zweifel verbleiben. Allerdings wird das Strengbeweisverfahren von Kühne wohl falsch eingeschätzt. Denn es handelt sich zwar um das „formstrengere“ Verfahren, es verbürgt aber nicht unbedingt eine gründlichere bzw. weiterreichende Aufklärung – eher im Gegenteil: Im Wege des Freibeweises können u. U. Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden, die dem Gericht ansonsten versperrt blieben.56 Deshalb ist sogar zu befürchten, dass die Einführung des Strengbeweisverfahrens in den fraglichen Fällen die Aufklärungsschwierigkeiten eher noch steigern würde. Ein anderer Vorschlag zielt auf eine Reduzierung des Beweismaßes. Nicht die volle Überzeugung sei erforderlich, um ein Verwertungsverbot zu bejahen, sondern es müsse genügen, wenn die Vermutung der Justizförmigkeit des staatlichen Verfahrens ernsthaft erschüttert sei.57 Tatsächlich könnten viele Zweifelsfälle, die dann nach einer Entscheidungsregel behandelt werden müssten, durch eine Reduzierung des Beweismaßes vermieden werden. Im Ergebnis läuft dieser Vorschlag allerdings auf dasselbe hinaus wie die entsprechende Umformulierung der Entscheidungsregel – insoweit handelt es sich um austauschbare Instrumente des Beweisrechts. Einerseits würde erst ein qualifizierter Zweifel zum Ausschluss eines Beweismittels führen. Andererseits wird es auch bei einem reduzierten Beweismaß zu einer restlosen Beseitigung der Zweifelssituationen nicht kommen, und für diese verbleibenden Zweifelsfälle müsste – was dann auch sachgerecht wäre – nach den Grundsätzen der BGH-Rechtsprechung verfahren werden. Wie gesagt: Welcher Weg hier vorzugswürdig wäre, bleibt eine zweitrangige Frage. Es spricht wohl mehr für die Lösung auf der Ebene der objektiven Beweislast. Diese Lösung zwingt das Gericht nicht dazu, bestimmte Feststellungen zu dem fraglichen Verfahrensverstoß zu tref54 55 56

Für eine Umkehr der Beweislast Roxin, in: FS 40 Jahre BGH, 1991, S. 77. Kühne (o. Fn. 23), S. 396 Rn. 760, S. 492 f. Rn. 964 ff. So auch Dencker (o. Fn. 53), S. 73 ff., der das Freibeweisverfahren deshalb für geeignet

hält. 57 Zum Folgenden Dencker (o. Fn. 53) , S. 138 f.; s. auch Hanack, in: LR, 25. Aufl. 1997, § 136a Rn. 69; Peters (o. Fn. 28), S. 339; Roxin (o. Fn. 5), § 15 Rn. 32; Gleß, in: LR, Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 136a Rn. 78; Eisenberg, (o. Fn. 13), Rn. 209; Lehmann, Die Behandlung des zweifelhaften Verfahrensverstoßes im Strafprozeß, 1983, S. 114 ff., 149; Michael, Der Grundsatz in dubio pro reo im Strafverfahrensrecht, 1981, S. 154. Zu dem gleichen Ergebnis führt die Forderung, eine Glaubhaftmachung müsse genügen; vgl. Montenbruck (o. Fn. 23), S. 163 ff; ähnlich auch Beulke, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 143.

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fen; vielmehr kann das wirkliche Geschehen als letztlich nicht aufklärbar bezeichnet werden. Damit ließen sich beispielsweise diplomatische Verwicklungen vermeiden, die durchaus entstehen könnten, wenn über Beweiserhebungsvorgänge im Ausland kritische Feststellungen getroffen werden, obwohl eine restlose Aufklärung gar nicht möglich war. IV. Die Rechtsprechung des BGH, wonach ein Verwertungsverbot stets nur dann eingreift, wenn der fragliche Verfahrensverstoß zur vollen Überzeugung des Gerichts feststeht, ist nicht überzeugend. Bei Fällen, in denen die Strafverfolgungsbehörden ihr Vorgehen dokumentieren müssen, ist der BGH selbst im Begriff, diese rigide Linie zu verlassen.58 Für Verstöße anderer Art – und das gilt namentlich für die Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden – müssen ebenfalls Beweiserleichterungen anerkannt werden, um zu gewährleisten, dass die prozessuale Schutzwirkung der betreffenden Vorschriften greifen kann. Die hier entwickelten Überlegungen zeigen allerdings, dass der Wunsch nach einer „überschaubaren“ und „für alle Klassen von Verfahrensfehlern“ gleichermaßen anwendbaren Lösung59 einem sachgerechten Umgang mit den problematischen Fällen nicht förderlich ist. Eine einheitliche Formel könnte nur erwarten, wer versuchen wollte, aus der Logik strafprozessualer Beweisprinzipien etwas abzuleiten. Die vorstehenden Darlegungen sollten gezeigt haben, dass dieser Weg nicht erfolgversprechend ist. Das Problem ist letztlich nur durch eine Interessenabwägung zu lösen, und dabei gilt es, das verfassungsrechtliche Anliegen eines effektiven Grundrechtsschutzes im Auge zu behalten. Das Beweisrecht erweist sich als ein Instrument, um „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ zu gewährleisten.

S. o. Fn. 52. Vgl. Rogall, in: SK-StPO, § 136a Rn. 83, der im Hinblick auf diese Kriterien zu dem Schluss kommt, es müsse „mit der h.L. sein Bewenden haben“. 58 59

Die bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen in Taiwan Von Jiuan-Yih Wu*

I. Vorbemerkung Die Freundschaft zwischen Herrn Professor Amelung und mir lässt sich auf den von ihm verfassten Aufsatz „Die Entscheidung des BVerfG zur ,Gefahr im Verzug‘ i. S. des Art. 13 Abs. 2 GG“1 zurückführen. Mit seiner Zustimmung habe ich diesen Aufsatz ins Chinesische übersetzt und dann die chinesische Fassung dieses Aufsatzes2 in Taiwan veröffentlicht. Die damit verbundene Zusammenarbeit mit Herrn Professor Amelung ermöglichte es mir, ihn näher kennen zu lernen.3 Ich hatte das Glück, im persönlichen Gespräch mit ihm mehr über seine Vorstellungen von Lehre, Forschung, Beruf und das Leben zu erfahren, als dies durch die Beschäftigung mit seinen zahlreichen Aufsätzen und Monographien möglich gewesen wäre. Im Zusammenhang mit „bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen“ hat Herr Professor Amelung einmal mehr auf „die verfassungsrechtliche Bedeutung einer jeden strafprozessualen Grundrechtseingriffsermächtigung“ hingewiesen.4 Für mich persönlich ist dieses Thema auch der Beginn unserer Freundschaft. Mit meinem Beitrag „Die bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen in Taiwan“ möchte ich Herrn Professor Amelung ganz herzlich zu seinem 70. Geburtstag gratulieren. Auch im taiwanesischen Strafverfahrensrecht ist die bei Gefahr im Verzug angeordnete Zwangsmaßnahme geregelt; sie wird von der dortigen h. M. als Ausnahmefall vom Richtervorbehalt verstanden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahme lässt einen großen Einfluss der Auffassung von Herrn Professor Amelung erkennen.5 * O. Assistenzprofessor an der staatlichen Universität Kaohsiung in Taiwan 1 Amelung, Die Entscheidung des BVerfG zur „Gefahr im Verzug“ i. S. des Art. 13 Abs. 2 GG, NStZ 2001, 337 ff. 2 Jiuan-Yih Wu (Übersetzung ins Chinesische): Amelung, Criminal Law Journal, Vol. 47, No. 2 (2003), 81 – 104. 3 Jiuan-Yih Wu (Interview mit Prof. Dr. Amelung an der TU Dresden), Law Forum, No. 23, 2003 / 11, 111 – 117. 4 S. auch Kühne, Strafprozessrecht – Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts, 7. Aufl. 2006, Rn. 394.

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Diese Arbeit besteht aus drei Teilen. Zuerst wird eine Theorie der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen und ihr Entwicklungszustand in Taiwan dargestellt (II.). Anschließend werden die Gesetzgebung und die daraus entwickelten dogmatischen Auffassungen in Taiwan vorgestellt (III., IV.). Zum Schluss erfolgt eine Kritik an den geltenden strafprozessualen Regelungen und ein entsprechender Reformvorschlag (V.). Ziel dieser Arbeit soll es aber auch sein, den Lesern in Deutschland einen Zugang zu dem aktuellen Stand im Bereich der strafprozessualen Gesetzgebung, Rechtsprechung sowie Dogmatik in Taiwan zu verschaffen. II. Theorie der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen und ihr Entwicklungsstand in Taiwan Das taiwanesische Strafprozessrecht folgt der Tradition des kontinental-europäischen Strafverfahrenrechts, insbesondere den Beispielen von Deutschland und Österreich.6 In der Entstehungsgeschichte des taiwanesischen Strafprozessrechtes spielen die ausländische Gesetzgebung, Rechtsprechung sowie die daraus entwickelten dogmatischen Auffassungen eine entscheidende Rolle. Deshalb ist es nicht schwer, im taiwanesischen Strafprozessrecht Spuren ausländischen Einflusses zu finden. Die folgende Darstellung der Theorie der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahmen orientiert sich vor allem an den von der deutschen Rechtsprechung und Literatur entwickelten Voraussetzungen, um auf diese Weise den Streitstand bei der bei Vorliegen oder Fehlen der Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahme verdeutlichen zu können. 1. Anordnung vor der Hauptverhandlung Im Rahmen der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahme befasst sich die Literatur in Taiwan hauptsächlich mit dem Richtervorbehalt.7 Über die Bedeutung dieses Instituts im Strafverfahren finden sich jedoch nur wenige Erörterungen. Das Ziel der Zwangsmaßnahmen sieht die h. M. in Taiwan darin, die spätere Hauptverhandlung ohne Hindernisse durchführen zu können, so z. B. die Gewährleistung der Anwesenheit des Beschuldigten zur Vernehmung oder die Sicherung 5 Yun-Hua Yang, Law Forum, No. 5, 2002 / 05, 1 – 19; ders., Taiwan Prosecutor Review, No. 3, 2008 / 01, 161 – 176. 6 Jiuan-Yih Wu, Gegenwart und Vergangenheit des taiwanesischen Strafprozessrechts, 2006, S. 5 f. 7 Yun-Hua Yang, Law Forum, No. 5, 2002 / 05, 1 – 19; ders., Taiwan Prosecutor Review, No. 3, 2008 / 01, 161 – 176.

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der Verfügbarkeit des Beweismittels für die Beweiswürdigung. Zwangsmaßnahmen dienen somit der Verfahrenssicherung und können in jedem Verfahrensabschnitt durchgeführt werden. Im übrigen gilt für die Urteilsfindung das Strengbeweisverfahren, während für die Feststellung der den hinreichenden Tatverdacht (§ 251 T-StPO8) begründenden Tatsachen dieses Verfahren nicht erforderlich ist, obwohl es durch die Zwangsmaßnahmen zu Grundrechtseingriffen kommt. Darüber hinaus hat nur der „Leiter der Hauptverhandlung“ die verfassungsrechtlich geschützte Unabhängigkeit,9 während der Staatsanwalt weisungsgebunden ist.10 Deshalb können Zweifel bestehen, ob die Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren stets objektiv und neutral angeordnet werden (können). Auch hat die Polizei gemäß §§ 230 Abs. 2 und 231 Abs. 2 T-StPO nach Entstehung eines Tatverdachts – z. B. durch eine Anzeige – die Befugnis, unverzüglich mit dem „Vorermittlungsverfahren“ zu beginnen. Aus diesen Umständen ergibt sich ein Bedürfnis nach einer staatlichen Instanz außerhalb des staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Verfahrens, welche die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Zwangsmaßnahmen überwacht. Wegen der Effizienz der Strafverfolgung dürfen der Staatsanwalt oder die Polizei bei Gefahr im Verzug ohne vorherige richterliche Anordnung die Zwangsmaßnahmen einsetzen. Insoweit handelt es sich bei einer von Staatsanwaltschaft und Polizei bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahme um einen Fall der Anordnung „vor“ der Hauptverhandlung.11 2. Richtervorbehalt und vorherige Erteilung der richterlichen schriftlichen Anordnung Zu den in Betracht kommenden Zwecken von Zwangsmaßnahmen werden heutzutage das Auffinden des Beschuldigten, die Sicherstellung einer als Beweis zu verwertenden Sache oder sogar die Prävention von Straftaten gezählt. Im Ermittlungsverfahren wird der Betroffene oftmals nicht zuvor darüber informiert, dass eine Zwangsmaßnahme gegen ihn angeordnet worden ist. Damit wird der Betroffene nicht in den Anordnungsablauf einbezogen, womit ein Überraschungseffekt verbunden ist. Um das Defizit der fehlenden vorherigen Anhörung auszugleichen, gibt es eine unabhängige Instanz, die die Rechtsmäßigkeit der Anordnung überprüft:12 Wegen seiner verfassungsrechtlich geschützten Unabhängigkeit ist der Richter in der Lage, den erforderlichen Grundrechtsschutz zu sichern.13 T-StPO: Strafprozessordnung der Republik China in Taiwan. Art. 80 VerfT (Verfassung der Republik China in Taiwan). 10 Nach § 63 Abs. 3 T-GVG (Gerichtsverfassungsgesetz der Republik China in Taiwan) haben die Beamten der Staatsanwaltschaft der dienstlichen Anweisung ihres Vorgesetzten nachzukommen. 11 Yun-Hua Yang, Law Forum, No. 5, 2002 / 05, 1, 9. 12 Amelung, NStZ 2001, 337, 338; Yun-Hua Yang, Taiwan Prosecutor Review, No. 3, 2008 / 01, 161, 162; dagegen Chong-He Song, Police Science Quarterly, Vol. 36. No. 6., 2006 / 05, 181. 8 9

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Außerdem werden formale Anforderungen an die Anordnung der Zwangsmaßnahme gestellt. Der mit dem Richtervorbehalt angestrebte präventive Grundrechtsschutz wird dadurch gefördert, dass zuvor ein richterlicher Befehl14 vorliegen muss. 3. Gefahr im Verzug, die Anordnungsbefugnis von Staatsanwalt oder Polizei als Eilkompetenz Nach dem Gedanken des Richtervorbehalts ist die Anordnung der Zwangsmaßnahme durch den Richter zu treffen. Das Warten auf den richterlichen Befehl kann aber unter Umständen zu Zeitverlust führen, so dass ohne die sofortige Durchführung der Zwangsmaßnahme die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte flüchtet, die gesuchte Sache unwiederbringlich verschwindet oder Beweismittel beseitigt oder verfälscht werden; Zeitverlust bedeutet in diesem Fall „Beweismittelverlust“15. Bei Vorliegen von Gefahr im Verzug, also der Gefahr einer Verdunkelung oder Verfehlung des mit der Zwangsmaßnahme angestrebten Ziels, wird dem Interesse an der Effizienz der Strafverfolgung im Verhältnis zur Einhaltung eines vom Richter in Gang zu setzenden Verfahrens Vorrang eingeräumt. Es wird dann eine unmittelbare Verbindung zwischen den Verfahrensstadien der Prüfung und der Durchführung der Maßnahme hergestellt, ohne dass es auf weitere sonst erforderliche „Zwischenmaßnahmen“ wie z. B. richterliche Anordnung und Schriftlichkeit ankommt. Damit wird der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten (Polizei) die Möglichkeit eingeräumt, bei Gefahr im Verzug ausnahmsweise die Zwangsmaßnahmen anzuordnen, und dies wird wegen der Effizienz der Strafverfolgung als eine „Eilkompetenz“ angesehen.16 4. Nachträgliche richterliche Überprüfung Wie oben erörtert, dürfen die Zwangsmaßnahmen, die in der Regel vom Richter zu treffen sind, bei Gefahr im Verzug ausnahmsweise vom Leiter des Ermittlungsverfahrens bzw. des Vorermittlungsverfahrens (Staatsanwalt oder Polizei) angeordnet werden. 13 Amelung, NStZ 2001, 337, 338, 342; Yun-Hua Yang, Taiwan Prosecutor Review , No. 3, 2008 / 01, 161, 162. 14 Nach § 128 Abs. 2 T-StPO besteht ein schriftlicher Befehl mindestens aus den folgenden Merkmalen : (1) angeklagte Straftat, (2) gesuchter Beschuldigter, Verdächtigter oder gesuchte Sache, (3) Räume, Körper, Sachen, die durchsucht werden sollen, oder elektronisch gespeicherte Daten, auf die die Durchsuchung abzielt und (4) Befristung der Durchsuchung. 15 Meyer-Goßner, Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 50. Aufl. 2007, § 105 Rn. 2. 16 Yu-Shiung Lin, The Taiwan Law Review, No. 89, 2002 / 10, 126, 127.

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Mangels dienstlicher Unabhängigkeit ist jedoch die Gefahr eines Rechtsmissbrauchs von Staatsanwalt oder Polizei nicht auszuschließen. Die Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme kann daher durch das Gericht kontrolliert werden.17 Dabei stellt sich die Frage nach dem Umfang seiner Prüfungskompetenz. In Deutschland stehen sich dabei zwei Meinungen gegenüber: Nach einer Auffassung umfasst die gerichtliche Prüfung nicht die Frage, ob bei der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei Gefahr im Verzug vorgelegen hat. Der Richter hat vielmehr ausschließlich festzustellen, ob die materiellen Voraussetzungen (z. B. Tatverdacht und dessen Grad, Erfolgsprognose für die Auffindung, Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips) zum Zeitpunkt seiner Entscheidung vorliegen.18 Nach anderer Auffassung ist auch die Prüfung erforderlich, ob Gefahr im Verzug vorgelegen hat oder nicht. Diese Auffassung beruft sich auf Wesen und Funktion des Richtervorbehalts. Da die richterliche Anordnung grundsätzlich zuvor einzuholen ist, wird ein derartiger Verstoß gegen die richterliche Anordnungskompetenz als rechtswidrig angesehen. Diese strafprozessuale Rechtswidrigkeit darf nicht ignoriert werden. Neben den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Zwangsmaßnahmen muss also der Richter nachträglich überprüfen, ob nach den damaligen Umständen, aufgrund derer die Staatsanwaltschaft oder die Polizei die Zwangsmaßnahmen angeordnet haben, die Annahme der Gefahr im Verzug zu Recht oder zu Unrecht erfolgte.19 Die erforderliche Überprüfung der Eingriffsvoraussetzungen, also auch der Gefahr im Verzug, wird dem Richter dadurch erleichtert, dass die Staatsanwaltschaft oder die Polizei gehalten sind, den Antrag auf Bestätigung der Rechtmäßigkeit innerhalb einer bestimmten (kurzen) Frist beim Gericht zu stellen und einer Dokumentationspflicht nachzukommen. Damit ist gewährleistet, dass sich die Sach- und Rechtslage seit Durchführung der Zwangsmaßnahme nicht wesentlich geändert hat. Dem Richter wird insoweit eine Überprüfung in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der bei Gefahr im Verzug ergangenen Maßnahme ermöglicht.20 Zur Frage des Umfangs einer richterlichen Überprüfung findet bis jetzt in Taiwan noch keine vertiefende Diskussion statt.21 5. Nichtrichterliche Anordnung als Ausnahme von der formellen Voraussetzung einer Zwangsmaßnahme Bei den materiellen Voraussetzungen handelt es sich um die Frage, „ob“ die Zwangsmaßnahmen gegen den Betroffenen eingesetzt werden dürfen. Die mateVgl. Hilger, GS Meyer, 1990, S. 209, 212. Vgl. Fezer, FS Rieß, 2002, S. 93, 97. 19 Fezer, FS Rieß, 2002, S. 93, 97. 20 Amelung, NStZ 2001, 337, 340. 21 S. z. B Yun-Hua Yang, Law Forum, No. 5, 2002 / 05, 1, 11, der hier auf die Auffassung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zurückgreift. 17 18

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riellen Voraussetzungen der Zwangsmaßnahmen stehen im „unmittelbaren und zusätzlichen“ Zusammenhang mit den betroffenen Grundrechten des Einzelnen.22 Im Vergleich zu den materiellen Voraussetzungen stehen die formellen Voraussetzungen allein in einem „mittelbaren“ Zusammenhang mit den betroffenen Grundrechten.23 Hierbei geht es um die Frage, „wie“ die Zwangsmaßnahmen anzuordnen sind. Erst wenn diese beiden Voraussetzungen, Vorliegen der materiellen und der formellen Voraussetzungen, gemeinsam erfüllt sind, dürfen die Zwangsmaßnahmen angeordnet werden. Bei den formellen Voraussetzungen handelt es sich um folgende Merkmale: (1) um die an dem Anordnungsverfahren Beteiligten, z. B. Antragsorgan (Polizei oder Staatsanwalt) oder Beschlussorgan (Richter) und (2) um den Ablauf des Anordnungsverfahrens, wie z. B. Antragstellung, Beschluss, Schriftlichkeit der Anordnung usw. Soll in einem Ermittlungsverfahren eine bestimmte Zwangsmaßnahme angeordnet werden, so ist in diesem Verfahren die Polizei oder der Staatsanwalt einerseits Leiter des Ermittlungsverfahrens und andererseits in dem Anordnungsverfahren das Antragsorgan im Hinblick auf die Zwangsmaßnahme, die aufgrund des Richtervorbehaltes grundsätzlich vom Richter als Beschlussorgan anzuordnen ist (Richtervorbehalt). Die Polizei oder der Staatsanwalt sind somit vor dem Einsatz der Zwangsmaßnahmen verpflichtet, beim Richter den Antrag für den richterlichen Befehl zu stellen. Abweichend von diesem Vorgehen werden Zwangsmaßnahmen ohne vorherige richterliche Anordnung unmittelbar von der Polizei oder dem Staatsanwalt durchgeführt. Eine Umgehung des richterlichen Anordnungsverfahrens ist aber nur bei Gefahr im Verzug erlaubt und kann nur als „Ausnahmefall“ von dem formalen Erfordernis der richterlichen Anordnungsbefugnis gerechtfertigt sein. III. Die Durchsuchung als einzige bei Gefahr im Verzug ohne richterliche Anordnung erlaubte Zwangsmaßnahme (§ 131 T-StPO) In der taiwanesischen Strafprozessordnung sind einige Zwangsmaßnahmen geregelt, die nur auf Grund richterlicher Anordnung ergehen dürfen.24 Ausnahmsweise jedoch dürfen bei Gefahr im Verzug die Polizei oder der Staatsanwalt ohne vorherige Einholung des richterlichen Befehls die Zwangsmaßnahmen einsetzen. 22 Jiuan-Yih Wu, Strafprozessuale Telekommunikationsüberwachung in der Informationsgesellschaft – eine rechtsvergleichende Untersuchung zwischen Deutschland und Taiwan, 2005, S. 117. 23 Jiuan-Yih Wu (o. Fn. 22), S. 129. 24 Z. B. Durchsuchung (§ 128 Abs. 3 T-StPO), Beschlagnahme (§ 128 Abs. 3 T-StPO), U-Haft (§ 102 Abs. 4 T-StPO), Unterbringung zur Beobachtung des Beschuldigten (§ 203 – 1 Abs. 4 T-StPO).

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Um einen solchen in der T-StPO geregelten Fall handelt es sich bei der Durchsuchung gemäß § 131 T-StPO, der eine Ausnahme von der Grundregel des § 128 T-StPO darstellt. § 128 Abs. 3 T-StPO lautet: „Der Durchsuchungsbefehl ist vom Richter zu unterschreiben.“ Nach dieser Vorschrift ist grundsätzlich nur der Richter befugt, die Durchsuchung anzuordnen (Richtervorbehalt). Gemäß § 131 T-StPO dürfen die Polizei oder der Staatsanwalt aber bei Gefahr im Verzug die Hausdurchsuchung „ohne vorherige Einholung des schriftlichen, richterlichen Befehls“ durchführen. Wegen dieser Formulierung wird die Durchsuchung in einem solchen Fall in Taiwan von der h. M. seit langem als die sog. „Durchsuchung ohne schriftlichen Befehl“ bezeichnet.25 Aber dieses Verständnis von der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahme ist missverständlich, da sie nach der Durchführung noch vom Richter als rechtmäßig bestätigt werden muss. Unter einer solchen Bestätigung versteht man eine „nachträgliche“ schriftliche richterliche Anordnung, d. h. die Zwangsmaßnahmen sind immer unter Einschaltung des Richters anzuordnen.26 Nach § 131 Abs. 1, 2 T-StPO dürfen die Polizei oder der Staatsanwalt bei Gefahr im Verzug das Haus oder andere Räume durchsuchen. Der zulässige Zweck solcher Durchsuchungen beschränkt sich auf folgende Fälle: (1) zur Ergreifung des Beschuldigten, des Verdächtigen oder zur Vollstreckung der Vorführung bzw. der Untersuchungshaft (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 T-StPO), (2) zur Verfolgung des auf frischer Tat betroffenen Täters oder des Flüchtigen (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 T-StPO), (3) zur Prävention von Straftaten (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 T-StPO). Zur Abwendung der Verdunkelungsgefahr (4) ist ausschließlich der Staatsanwalt, nicht aber die Polizei (§ 131 Abs. 2 T-StPO27), befugt, die Durchsuchung anzuordnen. Gefahr im Verzug gemäß § 131 T-StPO kann dann angenommen werden, wenn der zuständige Richter nicht sofort erreichbar ist oder der oben erwähnte Zweck 25 Pu-Sheng Chen, Praxis des Strafverfahrens, 8. Auflage 1993, S. 211 f.; Dung-Shiung Huang / Jing-Fang Wu, Lehre des Strafprozessrechts Teil 1, 6. Auflage 2004, S. 212; DuenMing Tsai, Strafprozessrecht, 5. Auflage 2002, S. 214. 26 Die T-StPO enthält nur 2 Fälle der strafprozessualen Ermächtigung für Grundrechtseingriffe, die zuvor und nachher nicht vom Richter zu bestätigen sind: (1) Verfolgung der frischen Tat (§ 88 T-StPO), (2) Durchsuchung mit der Einwilligung des Betroffenen (§ 131 – 1 T-StPO). 27 § 131 Abs. 2 T-StPO: „Ist im Ermittlungsverfahren Gefahr im Verzug aufgrund von Tatsachen anzunehmen, die darauf schließen lassen, dass das gesuchte Beweismittel innerhalb von 24 Stunden durch Verfälschung Veränderung, Vernichtung oder Verdunklung gefährdet wird, darf der Staatsanwalt die Durchsuchung anordnen oder die Polizei nach seiner Weisung handeln . . . “. Jedoch besteht auch für die Polizei, die wie der Staatsanwalt zur Straftatverfolgung berufen ist (z. B. muss sie nach Kenntnis des Verdachts nach §§ 230 Abs. 2, 231 Abs. 2 T-StPO die Vorermittlung aufnehmen), die Notwendigkeit der Sicherung des Beweismittels im Wege der Durchsuchung. Diese Befugnis steht der Polizei bei Gefahr im Verzug aber leider nicht zu, vgl. Shan-Tian Lin, Strafverfahrensrecht, 5. Auflage 2004, S. 346; Yu-Shiung Lin, Lehrbuch des Strafprozessrechts (I), S. 399. Darüber hinaus erfährt die Einschränkung auf 24 Stunden viel Kritik, ausführlich dazu vgl. Jhao-Peng Wang, Strafprozessrecht, 2. Auflage 2006, S. 184 f.; Chao-Yi Huang, Strafprozessrecht, 2006, S. 214 f.

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der Durchsuchung nicht verwirklicht werden kann, wenn mithin die Polizei oder der Staatsanwalt auf die richterliche Anordnung zu lange warten müssten.28 Hinzu müssen die in § 131 Abs. 1, 2 T-StPO beschriebenen Konstellationen kommen, aus denen das Vorliegen von Gefahr im Verzug schwer zu schließen ist.29 Die Annahme von Gefahr im Verzug ist aus anderen konkreten Tatsachen abzuleiten.30 Im Prinzip geht § 131 T-StPO in die richtige Richtung, um den Bedürfnissen von Polizei oder Staatsanwalt hinsichtlich einer effizienten Strafverfolgung gerecht zu werden, indem die Polizei oder der Staatsanwalt bei Gefahr im Verzug ohne vorherigen Erhalt des richterlichen Befehls die Hausdurchsuchung durchführen dürfen. Nach der Beendigung der Durchsuchung gemäß § 131 Abs. 1, 2 T-StPO haben die Polizei oder der Staatsanwalt nach Abs. 3 derselben Vorschrift gegenüber dem zuständigen Gericht die Pflicht, die richterliche Überprüfung innerhalb einer bestimmten Frist zu beantragen.31 Wenn nämlich die Polizei nach § 131 Abs. 1 T-StPO die Hausdurchsuchung anordnet, muss sie innerhalb von 3 Tagen sowohl beim zuständigen Staatsanwalt als auch beim zuständigen Gericht den Antrag stellen (§ 131 Abs. 3 T-StPO). Wird die Durchsuchung nach § 131 Abs. 1, 2 T-StPO ausschließlich vom Staatsanwalt angeordnet, muss er beim zuständigen Gericht den Antrag stellen (§ 131 Abs. 3 T-StPO). Kommt das zuständige Gericht bei der Prüfung der Anträge zu dem Ergebnis, dass die Durchsuchung unzulässig war, so hat es binnen fünf Tagen diese nichtrichterliche Anordnung aufzuheben, weil sie nach der taiwanesischen h. M. schon in Kraft getreten ist.32 Die Durchsuchung ist unzulässig, wenn nach der richterlichen Überprüfung entweder die materiellen Voraussetzungen gemäß § 122 T-StPO oder die Gefahr im Verzug nicht vorliegen. Der Richter braucht sich andererseits gar nicht zu äußern, wenn er die erfolgten Durchsuchungen nach § 131 Abs. 1, 2 T-StPO für zulässig erachtet (§ 131 Abs. 3 T-StPO). Die Fünf-Tages-Frist hat den Sinn, die Grundrechte der Betroffenen umfassend zu schützen. Diese Regelung fördert die Effizienz der nachträglichen richterlichen Überprüfung, indem der Richter gehalten ist, die Maßnahme zeitnah zu überprüfen,33 denn mit zunehmendem Zeitablauf geht die Identität von Beschlussgegenstand und Vollzugsgegenstand verloren.34

Jhao-Peng Wang (o. Fn. 27), S. 181. Dagegen Shiun-Lung Wu, China Law Journal, No. 189, 2003 / 01, 43; Jin-Cun Lin, Taiwan Bar Journal, Vol. 2. No. 11, 1998 / 11, 24. 30 Jhao-Peng Wang (o. Fn. 27), S. 185 ff. 31 Dagegen Lai-Jie He, Judicial Weekly, No. 1056, 2001 / 11 / 07; ders., Judicial Weekly, No. 1057, 2001 / 11 / 14. 32 Zur Natur der nachträglichen richterlichen Überprüfung ausführlich Yu-Shiung Lin, The Taiwan Law Review, No. 89, 2002 / 10, 126 – 141. 33 Auch nach Verstreichenlassen der Fünf-Tages-Frist kann der Richter die Bestätigung nach § 131 Abs. 3 T-StPO noch vornehmen, vgl. Yu-Shiung Lin, Spezialkommentar: Durchsuchung und Beschlagnahme, 2001, § 131 Rn. 18. 34 Vgl. Kühne (o. Fn. 4), Rn. 503. 28 29

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IV. Verwertungsverbot gemäß § 131 Abs. 4 T-StPO § 131 Abs. 4 T-StPO besagt: „Wird die nach Abs. 1, 2 angeordnete Durchsuchung nach der Beendigung dem zuständigen Gericht nicht mitgeteilt oder von ihm aufgehoben, liegt es in der Hauptverhandlung im Ermessen des Gerichts, ob die sichergestellte Sache als Beweismittel verwertbar ist.“ Somit sind zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden. 1. Verletzung der Antragspflicht von Polizei oder Staatsanwalt gemäß § 131 Abs. 3 T-StPO Wie oben ausgeführt (III) müssen der Staatsanwalt oder die Polizei nach § 131 Abs. 3 T-StPO drei Tage nach der Beendigung beim Gericht den Antrag auf Überprüfung der Maßnahme stellen. Eine Verletzung dieser Pflicht erfolgt entweder dadurch, dass der Antrag vom Staatsanwalt oder von der Polizei gar nicht oder nicht fristgemäß, d. h. nicht binnen drei Tagen, gestellt wird. 2. Aufhebung der von Staatsanwalt oder Polizei angeordneten Durchsuchung gemäß § 131 Abs. 1, 2 T-StPO Kommt der Richter zu dem Schluss, dass entweder die materiellen Voraussetzungen der Durchsuchung nach § 122 T-StPO oder Gefahr im Verzug i. S. d. § 131 Abs. 1, 2 T-StPO nicht vorgelegen haben, hat er nach § 131 Abs. 3 T-StPO binnen fünf Tagen die zuvor von Staatsanwalt oder Polizei angeordnete Durchsuchung (§ 131 I, Abs. 2 T-StPO) aufzuheben. Wie oben (II. 5.) festgestellt, führt das Fehlen einer materiellen Voraussetzung einer Zwangsmaßnahme unmittelbar zu einer Grundrechtsverletzung. Der durch die Zwangsmaßnahme gewonnene Beweis hätte somit nicht erhoben werden dürfen. Das Fehlen der materiellen Voraussetzungen führt demnach zu einem Beweiserhebungsverbot. Demgegenüber hat das Fehlen einer formellen Voraussetzung keine unmittelbare Grundrechtsverletzung zur Folge. Die formelle Verletzung der Antragsstellungsfrist (1. Fall) oder die falsche Annahme der Gefahr im Verzug (2. Fall) ändern nichts daran, dass die Durchsuchung vom Staatsanwalt „eigentlich“, also materiell-rechtlich, durchgeführt werden durfte. Demnach begründen Verstöße gegen formelle Voraussetzungen der Zwangsmaßnahme kein Beweiserhebungsverbot und damit auch kein Beweisverwertungsverbot.35 Nach § 131 Abs. 4 T-StPO steht dem Richter ein Spielraum zu: Es steht in seinem Ermessen, ob die bei der Durchsuchung erlangte Sache in der Hauptverhand35 Yu-Shiung Lin (o. Fn. 33), § 131 Rn. 22; dagegen wird bei bewusster Umgehung des Richtervorbehalts das Beweisverbot bejaht, vgl. Beulke, Strafprozessrecht, 9. Auflage 2006, Rn. 258.

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lung als Beweismittel verwertet werden darf oder nicht. Entscheidungskriterium ist dabei, ob die Verwertung den unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit betrifft. Die Regelung des § 131 Abs. 4 ist jedenfalls dann überflüssig, wenn man ohnehin insoweit ein Verwertungsverbot annimmt.36

V. Ausblick (1) Im geltenden taiwanesischen Strafverfahrensrecht ist § 131 T-StPO das einzige Beispiel für eine bei Gefahr im Verzug angeordnete Zwangsmaßnahme und wird als Ausnahmefall des Richtervorbehalts bei der Anordnung der Durchsuchung im Ermittlungsverfahren bezeichnet. (2) Die Annahme von Gefahr im Verzug ist aus der konkreten Tatsache zu schließen, dass der bei der Einhaltung des Richtervorbehalts ausgelöste Zeitverlust wegen des Wartens auf den richterlichen Befehl zu der Vereitelung des von der Hausdurchsuchung angestrebten Ziels führen würde. Insoweit ist es zu rechtfertigen, dass in diesem Fall die Polizei oder der Staatsanwalt „zur Ergreifung des Beschuldigten oder des Flüchtigen“ ohne vorherigen richterlichen Befehl die Hausdurchsuchung durchführen. „Zur Sicherung des Beweismittels“ wird die Befugnis für die bei Gefahr im Verzug angeordnete Hausdurchsuchung nur dem Staatsanwalt eingeräumt. Bei einer Neufassung des Gesetzes sollte auch der Polizei zur Sicherung des Beweismittels im Vor- oder Ermittlungsverfahren diese Befugnis gemäß § 131 Abs. 2 T-StPO eingeräumt werden. (3) Unter Berücksichtigung des Interesses an der Effizienz der Strafverfolgung sollte der Umfang der bei Gefahr im Verzug erlaubt angeordneten Zwangsmaßnahmen über die Durchsuchung hinaus erweitert werden z. B. auf Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit (wie Blutentnahme, Entnahme von körperlichen Bestandteilen) oder auf Eingriffe in die Vertraulichkeit individueller Kommunikation (wie Postbeschlagnahme, Telekommunikationsüberwachung37). Eine sowohl den Richtervorbehalt berücksichtigende als auch eine auf die Gefahr im Verzug eingehende Gesetzesformulierung würde den Ausnahmecharakter der bei Gefahr im Verzug angeordneten Zwangsmaßnahme betonen und zugleich auch eine einfachgesetzliche Regelung zur Durchsetzung legitimer strafprozessualer Ziele darstellen.38 (4) Zum Schutz vor Rechtsmissbrauch bedarf die bei Gefahr im Verzug angeordnete Zwangsmaßnahme zur Sicherung des „präventiven Grundrechtsschutzes“ So Yun-Hua Yang, Law Forum, No. 5, 2002 / 05, 1 – 19. Dafür auch, wobei die Begründung unklar bleibt, Yun-Hua Yang, Taiwan Prosecutor Review, No. 3, 2008 / 01, 161, 164. 38 Hilger, GS Meyer, 1990, S. 209, 219. Dagegen (auf Grund der Erfahrung der Praxis) für die Reduzierung der Eilkompetenz von Staatsanwalt und Polizei zugunsten des Richtervorbehalts: Asbrock ZRP 1998, 17, 19. 36 37

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nach ihrer Beendigung noch der nachträglichen richterlichen Bestätigung. Dabei muss der Richter prüfen, ob (a) die materiellen Voraussetzungen zur Zeit seiner Entscheidung noch vorliegen und (b) die Umstände für die Annahme der Gefahr im Verzug zur Zeit der ergangenen Zwangsmaßnahme damals gegeben waren. Diese Voraussetzung, die ursprünglich für die nachträgliche richterliche Bestätigung für die bei Gefahr im Verzug angeordnete Hausdurchsuchung entwickelt wurde, kann auf andere Zwangsmaßnahmen übertragen werden. Darauf aber wird in Taiwan bis jetzt noch zu wenig Aufmerksamkeit gerichtet, und es bedarf in Zukunft weiterer vertiefender und verfeinernder Diskussionen.

VI. Juristische Zeitgeschichte und Kriminalpolitik

Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik Von Jörg Arnold*

Im Jahre 2007 wurde am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht das Forschungsprojekt mit dem Thema „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht – Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse“ im Wesentlichen abgeschlossen.1 Die zentrale Frage des Projekts war darauf gerichtet, die Rolle des nationalen Strafrechts beim Umgang mit staatlichem Systemunrecht nach einem politischen Systemumbruch zu untersuchen. Der Haupttitel des Abschlussbandes: „Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik“, den ich ganz bewusst auch für den vorliegenden Festschriftbeitrag2 verwendet habe, bringt schlagwortartig den Ertrag des Projekts zum Ausdruck: Das nationale Strafrecht des Systemübergangs erscheint in Zusammenhang mit dem Umgang mit Systemunrecht des alten Systems als ein Transitionsstrafrecht. Dieses Transitionsstrafrecht – seine Ausprägungen, Wege und Facetten – ist abhängig von jener Politik der Transition, mit der die Vergangenheit reflektiert, mit der ihr begegnet oder entgegnet wird (Vergangenheitspolitik). Das über einen Zeitraum von zehn Jahren bearbeitete und international breit ausgerichtete Projekt wurde von Knut Amelung nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als langjähriges Mitglied des Fachbeirates des Max-Planck-Instituts von Anfang an nachdrücklich unterstützt. Zu Ehren des Jubilars und zugleich aus Dank für seine Anregungen zum Thema des strafrechtlichen Umgangs mit der Vergangenheit von Systemunrecht3 seien im Folgenden einige Ergebnisse des Projekts in komprimier* Der Autor ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg im Breisgau sowie Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 1 Vgl. Arnold, in: Eser / Sieber / Arnold (Hrsg.), Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht – Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Bd. 13, 2008 (im Erscheinen). 2 Die inhaltlichen Arbeiten an dem Festschriftbeitrag wurden im Februar 2008 abgeschlossen. Die grafischen Übersichten wurden technisch und mit viel Umsicht von Herrn Patrick Koeppen für den Abschlussband des Projekts hergestellt und gestaltet. Herrn Reinhard Wehle danke ich herzlich für die technische Übertragung der Übersichten in den Festschriftbeitrag und für die damit geschaffene Kompatibilität zwischen Text und Übersichten. 3 Vgl. dazu u. a. die Beiträge von Knut Amelung: Strafbarkeit von ,Mauerschützen‘, JuS 1993, 637 – 643; Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz. Ein Zwischenbericht, GA 1996, 51 – 71; Anmerkung zum Urteil des BGH vom 26. 7. 1994 – 5 StR 167 / 94 (NStZ 1994, 533), NStZ 1995, 29 – 30. Wertvolle Hinweise zum

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ter Form vorgestellt.4 Persönlich möchte auf diese Weise ein „Alt-Dresdner“ einem (schon langjährigen) „Neu-Dresdner“ zu dessen 70. Geburtstag herzlich gratulieren.5 I. Entstehung und Durchführung des Projekts Dem Projekt gingen eine intensive zeitgeschichtliche Befassung des MaxPlanck-Instituts mit dem Strafrecht der DDR und Untersuchungen der Strafrechtsentwicklung in Osteuropa nach den dortigen Systemumbrüchen voraus. Parallel dazu wurde das Thema „Strafrechtsprobleme der deutschen Vereinigung“ behandelt, zu dem der Anstoß bereits kurze Zeit nach Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gegeben worden war. Zugleich fand eine kritische Auseinandersetzung mit dem durch die Justiz der Bundesrepublik erfolgten strafrechtlichen Umgang mit der DDR-Vergangenheit statt, wobei die Auffassungen darüber in der Wissenschaft wie auch am Max-Planck-Institut selbst sich oftmals konträr gegenüber standen. Mit dem Abschluss der genannten Projekte6 waren die inhaltlichen Voraussetzungen geschaffen, um sich der Frage zuzuwenden, ob und inwieweit das Strafrecht nach politischen Umbrüchen auch in anderen Ländern reagiert. Zur BewältiProjekt hat Knut Amelung auch bei seiner Mitwirkung an dem Freiburger Internationalen Kolloquium im Jahre 1999 geliefert (Eser / Arnold [Hrsg.], Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht – Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Bd. 1, 2000, S. 411, 432, 435 f., 438 f.). 4 Es handelt sich dabei um einige – für den vorliegenden Festschriftbeitrag bearbeitete – Auszüge aus dem von mir verfassten Teil „Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik. Vergleichender Querschnitt“ des Bandes 13 der Projektreihe „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht – Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse“ (herausgegeben von Eser / Arnold bis Band 7 und danach herausgegeben von Eser / Sieber / Arnold). Der Band 13 wurde als Abschlussband des Projekts konzipiert und trägt den Titel „Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik – Bestandsaufnahmen und Querschnittsfragen“ (herausgegeben von Eser / Sieber / Arnold). Die Arbeiten am Manuskript des „Vergleichenden Querschnitts“ wurden von mir im März 2007 abgeschlossen. 5 In diesem Zusammenhang sei mir auch eine ganz andere persönliche Bemerkung erlaubt. Ich habe mich sehr gefreut, dass Kollege Amelung nach der vollzogenen staatlichen Einheit Deutschlands seine Tätigkeit an der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden aufgenommen hat. Doch ob ich will oder nicht, muss ich dabei immer auch an meinen Vater, Prof. Dr. Wolfgang Arnold, denken, der – wie viele andere DDR-Hochschullehrer im vereinigten Deutschland – unter den veränderten politischen Bedingungen und unter legalem Anstrich gezwungen wurde, die Universität zu verlassen. Im Falle meines Vaters betraf das den Bereich Hochschulpädagogik an der Sektion Berufspädagogik der Technischen Universität Dresden; eine Wissenschaftsdisziplin, der bis dato in der alten Bundesrepublik kaum Bedeutung beigemessen worden war. Erst sehr viel später wurde offenbar erkannt, dass die Hochschulpädagogik für die Lehre einen unverzichtbaren Stellenwert hat. (Vgl. zur sog. Abwicklung von DDR-Hochschullehrern u. a. Hecht, Enttäuschte Hoffnungen. Autobiographische Berichte abgewickelter Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands, 2007.) 6 Vgl. dazu im Einzelnen die Nachweise im Querschnittsteil des Abschlussbandes.

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gung der Forschungsaufgaben konnte eine Reihe von externen und internen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Landesberichterstatter7 gewonnen werden.8 Erste Ergebnisse der Landesberichte waren auf einem internationalen Kolloquium des Max-Planck-Instituts 1999 in Freiburg diskutiert worden. Der Diskurs bezog sich dabei auch auf die Projektskizze, die Methode des Projekts sowie auf die zum Kolloquium vorgeschlagenen Modelleinteilungen der Länder.9 Das Forschungsvorhaben wurde durch eine Reihe inhaltlicher Besonderheiten geprägt, die es von den sonstigen Projekten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht unterscheidet. Wie wohl bei kaum einem anderen Forschungsvorhaben war die Bearbeitung des Projekts „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht“ mit zahlreichen politischen Fragestellungen verknüpft. Die Landesberichterstatter mussten die politischen Hintergründe bei der Erfassung der Rechtslage und Verfolgungsrealität mit bedenken und nach den möglichen Zusammenhängen zwischen der (Vergangenheits-) Politik und dem Strafrecht in ihrem Land suchen. Insoweit handelte es sich um ein Projekt zur näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen Politik und Recht in Transitionsprozessen, wofür freilich der eigenen Position des jeweiligen Autors des Landesberichtes eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukam. Diese Feststellung hat die Auswertung der Landesberichte unter dem Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit naturgemäß erschwert. Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit bestanden aber auch in Bezug auf das kriminologische Vorverständnis, namentlich im Hinblick auf den Begriff des Systemunrechts. Dieser wird sehr unterschiedlich verwendet. Einmal wird direkt von „Systemunrecht“ gesprochen; das andere Mal von staatsgestützter oder staatsgesteuerter bzw. von politikgestützter oder auch politikgesteuerter Kriminalität. Diese unterschiedlichen Termini haben sich die Landesberichterstatter offenbar zu 7 Die männliche Form von Landesberichterstatter bzw. von Autor und Verfasser wird grundsätzlich im Sinne eines beide Geschlechter erfassenden Neutrums verwendet. 8 Bislang sind im Zeitraum von 2000 bis 2007 folgende Landesberichte in publizierter Form erschienen: Band 1 – Internationales Kolloquium in Freiburg 1999; Band 2 – Deutschland (Kreicker, Ludwig, Rossig, Rost, Zimmermann); Band 3 – Argentinien (Sancinetti, Ferrante); Band 4 – Griechenland (Kareklás, Papacharalambous); Band 5 – Polen (Weigend / Zoll), Ungarn (Udvaros); Band 6 – Mali (Afande) Ghana (Vukor-Quarshie); Band 7 – Russland (Obidina), Weißrussland (Khomitch, Lammich), Georgien (Gamkrelidze, Lammich), Estland (Saar, Sootak), Litauen (Lammich, Piesliakas); Band 8 – Südafrika (von Dewitz); Band 9 – China (Richter); Band 10 – Südkorea (Cho Byungsun, Holzapfl, Richter); Band 11 – Chile (Millaleo Hernández), Uruguay (Fernández). 9 Vgl. Eser / Arnold, Strafrecht und Systemunrecht (o. Fn. 4), Bd. 1. Ergänzt werden die veröffentlichten Landesberichte durch ein von mir betreutes Dissertationsvorhaben von Julie Trappe über den Umgang mit der Vergangenheit in Rumänien, das kurz vor dem Abschluss steht (an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichte Dissertation zu dem Thema: „Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit – eine Untersuchung aus strafrechtlicher Perspektive“).

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Eigen gemacht. Nicht selten finden sich auch die Begriffe „Makrokriminalität“ und „Staatskriminalität“. Oftmals fehlt dabei der strafrechtliche Bezug. Stattdessen wird die gesamte Bandbreite dieses Kriminalitätsgeschehens erfasst, die allein schon in faktischer Hinsicht in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich erscheint. Die Landesberichterstatter betrachteten die Komplexität von Systemunrecht in unterschiedlicher strafrechtlicher Relevanz und nahmen auch voneinander abweichende Reduzierungen dieses mehrdimensionalen Begriffes vor. Für einige Landesberichterstatter, wie für die lateinamerikanischen Länder, bestand das Relevante beim Systemunrecht allein in den schwersten Menschenrechtsverletzungen. Andere Autoren begrüßten es, dass – wie in der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die DDR – mit dem Begriff „Systemunrecht“ selbst unter seinem strafjuristischen Bezug die gesamte Breite staatlichen Unrechts erfasst werden sollte.10 Nicht unerwähnt bleiben soll ferner, dass sich die Autoren der Landesberichte je nach Quellenlage ganz unterschiedlicher Forschungsmethoden bedienen mussten, um das Material zum Systemunrecht auswerten zu können. Das betraf beispielsweise in Mali die Erschließung von geheimen Dokumenten, die auch für den Landesbericht nicht offen gelegt werden durften. Für Südafrika standen umfangreiche Dokumente der Wahrheits- und Versöhnungskommission zur Verfügung, wobei sich das statistisch auswertbare Zahlenmaterial letztlich als sehr dürftig herausstellte. Für Lateinamerika schließlich konnte teilweise nur auf Untersuchungen von nicht-staatlichen Menschenrechtskommissionen mit eigenen Opferschilderungen zurückgegriffen werden, weshalb die Landesberichterstatter – wie für Brasilien – auf die beschränkte Aussagekraft ihrer Untersuchungen hinweisen. In einigen anderen Landesberichten werden Quellen gar nicht genannt. Mit den vorstehend aufgezeigten methodischen Besonderheiten11 ist zugleich auch eine Reihe von Fragen der Rechtsvergleichung in diesem Projekt betroffen. Denn die Aspekte des unterschiedlichen Rechtsverständnisses, der unterschiedlichen Kultur und Sprache, oder auch der subjektiven Sicht und der personellen und zeitlichen Bezüge sind Koordinaten der Ausgangslage für die Rechtsvergleichung.12 Obwohl es als rechtsvergleichende „Binsenweisheit“ angesehen wird, ausländisches Recht in dem jeweiligen kulturellen und zivilisatorischen Raum zu betrachten,13 erhöhen sich die Anforderungen dann, wenn dabei zugleich der poli10 Kritisch dazu Arnold, in: Eser / Arnold (o. Fn. 4), Bd. 1, S. 16 f. Sancinetti, einer der beiden argentinischen Landesberichterstatter, wies in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Opfer an der deutsch-deutschen Grenze nicht mit 10 000 Getöteten in Argentinien auf eine Stufe gestellt werden können (vgl. den Nachweis bei Arnold, in: Eser / Arnold [o. Fn. 4], Bd. 1, S. 434). 11 Dazu gehören auch einige im Projekt vernachlässigte Fragen, auf die in einer Methodenkritik im Querschnittsteil des Abschlussbandes näher eingegangen wird. 12 Zum Ganzen Großfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996. 13 Vgl. dazu Großfeld (o. Fn. 12), S. 11 ff.

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tische Raum des Rechts zu berücksichtigen ist. Auch wenn in der Rechtsvergleichung gilt, nicht zuerst auf Unterschiede zu schauen, sondern Gemeinsamkeiten zu erkennen, lebt das Projekt „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht“ zuerst von Unterschieden.14 Nur über den Versuch, Unterschiede zu vergleichen, war es möglich, Zusammenhänge sichtbar zu machen und Gemeinsamkeiten zu erkennen.15 Den interdisziplinären theoretischen Bezugsrahmen des Projekts bildet die sozialbzw. politikwissenschaftliche Transitionsforschung, wobei es galt, deren Erkenntnisse für den Querschnittsband mit den strafrechtlichen Fragestellungen zu verbinden. Die Erörterungen der politischen Systemveränderungen bzw. Systemumbrüche führten dazu, dass der Begriff eines Transitionsstrafrechts zum zentralen Punkt des Projekts wurde. Dabei handelt es sich um einen Forschungsgegenstand, dem bislang noch nicht die notwendige wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Berührungspunkte gibt es freilich mit dem Forschungsbereich der „Transitional Justice“.16 Wenn von „Transitional Justice“ die Rede ist, wird dies üblicherweise mit „Transitionaler Justiz“ oder mit „Übergangsjustiz“ übersetzt.17 In diesem Zusammenhang ist das Strafrecht nur ein Aspekt unter vielen. In den Untersuchungen des Max-Planck-Instituts stand aber gerade der strafrechtliche Blickwinkel im Vordergrund. II. Transitionsforschung und Transitionsstrafrecht Im Hinblick auf die Transitionsforschung haben wir uns an die unter Federführung von Merkel erzielten Ergebnisse angelehnt.18 Dadurch entstand der Rahmen für die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Systemveränderungen bzw. Systemumbrüchen und einem Transitionsstrafrecht sowie daraus resultierend für die Formulierung von wichtigen Projektergebnissen. Es wurde herausgearbeitet, dass der Begriff „Transitionsstrafrecht“ im wörtlichen Sinne als „Übergangsstrafrecht“ zu verstehen und demzufolge auf „Übergangsgesellschaften“ zu beziehen ist. In Bezug auf die Beschäftigung mit dem Transitionsstrafrecht als eigenständigem Begriff und Forschungsgegenstand haben wir auf die Forschungen über „TranVgl. Großfeld (o. Fn. 12), S. 17 ff. Vgl. Eser, in: FS Kaiser, 1998, II. Halbband, S. 1499, 1524. 16 Als Vertreter dieser Forschungsrichtung sollen hier Jon Elster, Neil Kritz, James McAdams und Ruti Teitel exemplarisch genannt werden. Vgl. Elster, Die Akten schließen. Recht und Gerechtigkeit nach dem Ende von Diktaturen, 2005; McAdams (Hrsg.), Transitional Justice and the Rule of Law in New Democracies, 1997; Teitel, Transitional Justice, 2000; Kritz, Transitional Justice: How Emerging Democracies Reckon With Former, Vol. I, Vol. II, Vol. III, 1995. 17 Vgl. Elster (o. Fn. 16), S. 17. 18 Vgl. dazu u. a. Merkel (Hrsg.), Systemwechsel 1, Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung, 2. Aufl., 1996. 14 15

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sitional Justice“, insbesondere von Elster, zurückgegriffen.19 Danach setzt sich die „Transitionale Justiz“ oder „Übergangsjustiz“ aus mehreren Prozessen zusammen: Gerichtsverfahren, Säuberungen und Reparationen.20 Dabei ist der Begriff „Justiz“ weit gefasst und bezieht Gesetzgeber, Gerichte und Verwaltungsbehörden mit ein.21 Obwohl auch das Strafrecht bei den Forschungen von Elster und anderen über „Transitional Justice“ eine Rolle spielt, tritt in Ergänzung dazu im Ergebnis unserer Untersuchungen ein besonderes Strafrecht hervor: das Transitionsstrafrecht in seinen spezifischen Ausprägungen als ein Bestandteil, ein Element dieser transitionalen Justiz. Herausgestellt hat sich dabei ferner, dass mit dem Begriff „Transitionsstrafrecht“22 überhaupt erst die Möglichkeit besteht, die in den Landesberichten umschriebenen Phänomene des strafrechtlichen Umgangs mit Systemunrecht vergleichen zu können, da sich mit jenem Begriff – wie noch zu zeigen sein wird – sowohl die entsprechenden Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in den einzelnen Ländern erfassen lassen. Unter Berücksichtigung des Diskussionsstandes in der Transitionsforschung wird in unserem Projekt hinsichtlich des bisher verwendeten Begriffs der Transition nunmehr deutlicher zwischen Transition einerseits und Transformation andererseits unterschieden. Unter Transition wird der unmittelbare politisch-institutionelle Übergang vom diktatorischen und / oder autoritären System zur Demokratie verstanden, unter Transformation der darauf beruhende Prozess der Herausbildung und Konsolidierung der Demokratie.23 Obwohl es demzufolge zunächst nahe liegend erschien, auch von einem für die Transformation bedeutsamen Transformationsstrafrecht ausgehen zu können, das dann aber nicht im Mittelpunkt der Betrachtungen des Querschnittsbandes gestanden hätte, lässt sich eine solche Annahme bei näherer Betrachtung nicht aufrechterhalten. Denn trotz der vorgenommenen Unterscheidung zwischen Transition und Transformation kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die entsprechenden Grenzziehungen fließend sind und es schwierig ist, sie näher zu bestimmen. Diese Schwierigkeiten treffen in besonderer Weise auf die Unterscheidung zwischen Transitionsstrafrecht und Transformationsstrafrecht zu. Das wird vor allem deutlich, wenn der Blick auf bestimmte aktuelle Entwicklungen gerichtet wird, die in den Landesberichten zeitlich nicht berücksichtigt werden konnten. Für einige Länder wie Argentinien und Uruguay konnte nach Fertigstellung der Landesberichte beobachtet werden, dass es mit offenbar fortschreitenVgl. Elster (o. Fn. 16). Vgl. Elster (o. Fn. 16), S. 17. 21 Vgl. Elster (o. Fn. 16), S. 91. 22 Vgl. zu einer Kritik am Begriff des Transitionsstrafrechts näher die Ausführungen im Querschnittsteil des Abschlussbandes unter Bezugnahme auf Naucke. 23 Vgl. Puhle, in: Merkel (o. Fn. 18), S. 173. 19 20

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der Demokratisierung zu Verschiebungen von einer häufig anzutreffenden Straflosigkeit der Transition zu einer sich allmählich herausbildenden Strafverfolgung in der Transformation zu kommen scheint. Auch in anderen Ländern wie Polen ist in der jüngsten Zeit und nach der Veröffentlichung des polnischen Landesberichtes festzustellen, dass die Strafverfolgung offensichtlich intensiviert werden soll. Allerdings dürfte für dieses Land wegen der dort momentan anzutreffenden aktuellen politischen Situation wohl nicht davon gesprochen werden können, dass dies in einer Phase der Konsolidierung der Demokratie und damit in der Transformation erfolgt.24 Die Intensivierungen der Strafverfolgung in Polen lassen sich insofern nicht als Ausdruck eines Transformationsstrafrechts auffassen. 1. Systemwechsel und Systemwandel Bei der Beschäftigung mit der Transition ist der Blick klarer geworden für den Vorgang des politischen Übergangs in den einzelnen Ländern, der je nach den konkreten Abläufen entweder als Systemwechsel oder Systemwandel bezeichnet werden kann. Der Begriff „Systemwechsel“ betont stärker den Bruch zwischen altem und neuem System, während der Begriff „Systemwandel“ eher die Transition als kontinuierlicheren Übergang beschreibt. Als Oberbegriffe dafür werden die Bezeichnungen „Systemumbruch“ oder „Systemveränderung“ verwendet. Diese Begriffe ermöglichen zudem weitere Unterteilungen und Zuordnungen von Ländern, die sich mit den Begriffen „Systemwechsel“ und „Systemwandel“ nicht so recht erfassen lassen, wie die Volksrepublik China, wo – im Unterschied zu einem Systemwechsel bzw. einem Systemwandel – von einer politischen Richtungsänderung zu sprechen ist. Im Einzelnen wurden im Hinblick auf die in das Projekt einbezogenen Länder folgende Übersichten entwickelt:

24 Diese Einschätzung bezieht sich auf die politische Situation Polens zu dem Zeitpunkt des Abschlusses des Projekts im März 2007.

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Systemveränderung durch Systemwechsel:

Systemveränderung durch Systemwandel:

Systemveränderung durch Richtungsänderung:

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2. Transitionspolitik und Vergangenheitspolitik Die Vergangenheitspolitik erscheint als Teil der Transitionspolitik. Das Transitionsstrafrecht ist unmittelbar mit Vergangenheitspolitik wie auch mit Transitionspolitik verbunden. Vergangenheitspolitik und Transitionsstrafrecht sind Erscheinungsformen der Transition. Wenngleich Teil der Transitionspolitik, reicht der Begriff „Vergangenheitspolitik“ darüber hinaus. Er hat zugleich seine Berechtigung sowohl in der Transformation als auch in gefestigten Demokratien, sofern es auch in diesen Gesellschaften um die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit geht. Insofern handelt es sich bei der Vergangenheitspolitik nicht um ein typisches Merkmal der Transitionspolitik, und die im Folgenden zu treffenden Aussagen lassen sich grundsätzlich wohl auch auf das Verhältnis zwischen Vergangenheitspolitik und Transformationen übertragen. Die Vergangenheitspolitik beeinflusst über die Transitionspolitik das Transitionsstrafrecht. So wie die Vergangenheitspolitik von der Transitionspolitik abhängig ist, so wird das Transitionsstrafrecht seinerseits von der Vergangenheitspolitik bestimmt. Da die Transitionspolitik in unmittelbarem Zusammenhang mit der Transition steht, kann sie nicht unabhängig von den diese Politik beeinflussenden Faktoren und nicht losgelöst von ihrer Zielstellung betrachtet werden. Diese Feststellung trifft auch auf das Verhältnis zwischen Transitionsstrafrecht und strafrechtlicher Vergangenheitspolitik zu. Einerseits wirkt auf die strafrechtliche Vergangenheitspolitik eine Vielzahl von Faktoren ein, andererseits verfolgt Vergangenheitspolitik ganz bestimmte Ziele, die von entscheidender Bedeutung für das Transitionsstrafrecht sind. Es hat sich herausgestellt, dass eine eindeutige Zuordnung der Ziele und Einflussfaktoren zu den Strukturen der Vergangenheitspolitik nur im interdisziplinären Zusammenwirken erfolgen kann. Erst wenn diese Aufgabe gelöst ist, lässt sich in einem weiteren Schritt danach fragen, welche konkreten Verbindungslinien zwischen Vergangenheitspolitik und Transitionsstrafrecht bestehen. Deswegen können im Rahmen der Präsentation der Projektergebnisse die Konkretisierungen der oben beschriebenen allgemeinen Zusammenhänge nur angedeutet werden. Als sehr schwierig erweist sich ferner, Verbindungslinien und Zusammenhänge zwischen den Transitionen und dem Transitionsstrafrecht erkennen zu können. Zwar ist es noch möglich, bestimmte äußere Zuschreibungen vorzunehmen – wie das die im Querschnittsteil des Abschlussbandes des Projektes gezeigten Übersichten näher verdeutlichen –, konkrete Rückschlüsse zwischen der erfolgten jeweiligen Systemveränderung und dem strafrechtlichen Umgang mit der Vergangenheit lassen sich jedoch kaum ziehen. Dazu bedarf es weiterer, gerade auch verstärkter interdisziplinärer Forschung.

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Strafrechtsbezogene Vergangenheitspolitik mit täterbezogenem Transitionsstrafrecht:

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Ziele und Faktoren der Vergangenheitspolitik und täterbezogenes Transitionsstrafrecht:

III. Modellhafter Überblick über Ergebnisse zum Transitionsstrafrecht 1. Vorverständnis: Rechtslage und Verfolgungsrealität im alten System Die Rechtslage in den jeweiligen alten Systemen ist in den meisten der in das Projekt einbezogenen Länder durch grundsätzliche Straflosigkeit gekennzeichnet. Dabei handelt es sich um Straflosigkeit von Systemunrecht im alten System, die sich dort deshalb ergibt, weil zum einen das Systemunrecht grundsätzlich nicht strafbar war, oder aber zum anderen deswegen existiert, weil bei grundsätzlich bestehender Strafbarkeit zahlreiche Straffreistellungsgründe, wie Selbstamnestien durch die Machthaber geschaffen wurden. Die Verfolgungsrealität ist typischerweise durch eine fehlende Strafverfolgung gekennzeichnet. 2. Rechtslage und Verfolgungsrealität in der Transition a) Strafverfolgung, Straflosigkeit und Strafverzicht Die Frage nach der Rechtslage und Verfolgungsrealität in der Transition bezieht sich darauf, ob und welche Voraussetzungen für die Strafverfolgung in den Transitionsprozessen bestanden haben und ob bzw. inwieweit eine Verfolgung auch tatsächlich stattgefunden hat. Im Mittelpunkt stand die Untersuchung der strafrechtlichen Behandlung des konkreten täterbezogenen Systemunrechts wäh-

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rend der Transition bzw., soweit die Grenzen zwischen Transition und Transformation im Einzelfall nicht klar gezogen werden können, auch während der Transformation. Erkennbar sind drei große Hauptwege, die die Länder auf je unterschiedliche Art und Weise beschreiten: die Wege der Strafverfolgung, der Straflosigkeit und des Strafverzichts. Zugleich ergeben sich Differenzierungen dieser Kategorien. Beim Weg der Strafverfolgung ist zu unterscheiden zwischen umfassender und eingeschränkter Strafverfolgung, beim Weg der Straflosigkeit zwischen relativer und umfassender Straflosigkeit. Als umfassend wird die Strafverfolgung dann bezeichnet, wenn sie ein gewisses Ausmaß angenommen hat, als eingeschränkt, wenn eine vergleichsweise geringere Quantität vorliegt bzw. wenn Einschränkungen von vornherein anhand bestimmter Kriterien (wie Tatbestände, Verjährung, Personen, historische Zeitabschnitte) zu verzeichnen sind. In vielen Fällen sind die Grenzen zwischen eingeschränkter Strafverfolgung und relativer Straflosigkeit fließend. Was die Straflosigkeit als typisches Merkmal der Transition betrifft, so kann ihr das Attribut umfassend dann zugeschrieben werden, wenn keine Strafverfolgung vorhanden ist. Als relativ erscheint die Straflosigkeit, wenn einige wenige Fälle der Strafverfolgung festzustellen sind. Gleichwohl umschreibt der Begriff der Straflosigkeit das generelle Phänomen, dass die Systemveränderungen grundsätzlich ohne strafrechtliche Reaktion auf das täterbezogene Systemunrecht des alten Systems erfolgen. Eine besondere Problematik besteht bei dem Begriff Strafverzicht. Obwohl auf den ersten Blick kaum ein Unterschied zwischen Straflosigkeit und Strafverzicht zu existieren scheint, ergibt sich eine Differenz zunächst aufgrund des Landesberichtes für Südafrika. Denn daran wird deutlich, dass mit dem Begriff „Strafverzicht“ eine Realität erfasst wird, bei der es sich nicht um eine bloße Straflosigkeit handelt, sondern um einen bewussten Verzicht auf Strafe unter einer ganz bestimmten Voraussetzung: Die Täter gestehen das von ihnen begangene Systemunrecht offen ein und wirken auf diese Weise aktiv an der Wahrheitsfindung mit. b) Täterbezogenes Transitionsstrafrecht Die drei Wege, die für das Strafrecht bei der Transition aufgrund der Landesberichte erkannt bzw. herausgearbeitet werden konnten – Strafverfolgung, Straflosigkeit und Strafverzicht –, sind kennzeichnend für ein aus der Sicht des Täters gesehenes und primär ihn betreffendes Transitionsstrafrecht, wobei die Straflosigkeit den hauptsächlich begangenen Weg darstellt. Indem die Begriffe „Strafverfolgung“, „Straflosigkeit“ und „Strafverzicht“ im Ergebnis des Projekts als Merkmale bzw. Möglichkeiten des Transitionsstrafrechts erfasst werden, lässt sich ein von uns früher formulierter Gedanke, dass es sich bei diesen Begriffen um Modelle strafrechtlicher Reaktion auf Systemunrecht handelt,

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nicht aufrechterhalten, jedenfalls nicht unter der Prämisse, dass sich aus ihnen Vorbildwirkungen für andere Länder ergeben. Eher lässt sich von Modellen des Transitionsstrafrechts nur dann sprechen, wenn damit lediglich bestimmte Typisierungen bezeichnet werden sollen. Täterbezogenes Transitionsstrafrecht:

c) Opferbezogenes Transitionsstrafrecht Während mit früheren Projektüberlegungen davon ausgegangen worden war, dass die Maßnahmen zur Wiedergutmachung bzw. zur Versöhnung ausschließlich außerstrafrechtlicher Natur sind, ergibt sich mit einem transitionsstrafrechtlichen Blick ein anderes Bild. Nunmehr ist zu unterscheiden zwischen Wiedergutmachungsmaßnahmen mit einem strafrechtlichen Bezug auf der einen Seite und Wahrheitskommissionen bzw. weiteren Institutionen zur Aufklärung der Wahrheit – ebenfalls jeweils mit strafrechtlichem Bezug – auf der anderen Seite. Die Nähe der Wiedergutmachungsmaßnahmen sowie der institutionenbezogenen Wahrheitsfeststellung zum Strafrecht bzw. zum Strafprozessrecht ist entscheidend für das Einbeziehen dieser Maßnahmen in das Transitionsstrafrecht. In den Landesberichten sind allerdings kaum Feststellungen darüber getroffen worden, ob und inwieweit Wiedergutmachungsmaßnahmen sowie die Tätigkeit

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von Wahrheitsinstitutionen auch wirklich einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Tätern und Opfern geleistet haben. Den Opferbezug dieser Maßnahmen vermag dies freilich nicht in Frage zu stellen. Gleichwohl hat sich bestätigt, dass es nicht gerechtfertigt ist, von einem eigenen „Versöhnungsmodell“ bzw. „Aussöhnungsmodell“ zu sprechen. Ein solches aber lag zu Beginn des Projekts den Konzeptionen für die Untersuchungen noch zu Grunde. Im Einzelnen ergeben sich dazu mit Abschluss des Projekts folgende Übersichten: Rehabilitierung mit Strafrechtsbezug:

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Entschädigung mit Strafrechtsbezug:

Wahrheitsinstitutionen und Transitionsstrafrecht:

d) Gesetzgebungsbezogenes Transitionsstrafrecht Mit früheren Überlegungen sind wir von der „normbezogenen Reaktion“ als einem eigenständigen Aspekt der strafrechtsbezogenen Vergangenheitspolitik aus-

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gegangen. Die Notwendigkeit, diesen Gesichtspunkt zu berücksichtigen, ergab sich aus einigen Landesberichten, wo darauf in besonderer Weise hingewiesen worden war. Hauptsächlich handelt es sich dabei um osteuropäische Landesberichte. Die Landesberichterstatter namentlich für Russland, Weißrussland, Georgien, Estland, Litauen, Tschechien, Bulgarien, Polen und Ungarn haben großen Wert darauf gelegt, zu verdeutlichen, dass in ihren Ländern eine Lehre aus der Vergangenheit gerade darin besteht, dass die Strafgesetzbücher und Strafprozessordnungen des alten Systems mittels einer rechtsstaatlich-demokratischen Gesetzgebung in der Transition verändert bzw. ersetzt werden. Dabei geht es also nicht um gesetzgeberische Maßnahmen, mit denen eine Verfolgung und Bestrafung des Systemunrechts des alten Systems in der Transition noch erreicht werden soll und kann, sondern ausschließlich um die grundlegende Erneuerung des Strafrechts für die Zukunft. Indes sind aber auch jene Gesetzgebungsmaßnahmen nicht zu übersehen, die in einigen Ländern ergriffen wurden, um dezidiert die Straflosigkeit von Systemunrecht jedenfalls für die Zukunft zu vermeiden, wie das auf bestimmte Verjährungsausschlußvorschriften in Polen und Ungarn zutrifft. Diese Vorschriften wurden deswegen erlassen, weil in der Verjährung ein entscheidender Hinderungsgrund für die Verfolgung von Systemunrecht während der Transition bestand. Als weitere Länder, in denen der Gesetzgeber in Reaktion auf die Schwierigkeiten bei dem Umgang mit der Vergangenheit jedenfalls für die Zukunft handelte, sind beispielsweise Griechenland im Hinblick auf Hochverrat, sowie Ungarn und Polen jeweils in Bezug auf die Verjährung, aber auch Ghana hinsichtlich des Völkermords zu nennen. Für eine eindeutige Erfassung des Merkmals eines gesetzgebungsbezogenen Transitionsstrafrechts ergeben sich allerdings gewisse Schwierigkeiten. Die bisher herausgearbeiteten Bezüge des Transitionsstrafrechts bestanden in dem Täterbezug einerseits und dem Opferbezug andererseits. In diesen Zusammenhängen ist das Systemunrecht der direkte Gegenstand dieses Strafrechts, sei es in dessen Verbindungslinien zur Strafverfolgung, zur Straflosigkeit oder zu den opferbezogenen strafrechtlichen Maßnahmen. Für ein gesetzgebungsbezogenes Transitionsstrafrecht ist das Systemunrecht der Vergangenheit nur mittelbar ein Gegenstand, und zwar nur insofern, als mit der neuen Gesetzgebung neues Systemunrecht vermieden werden soll. Dazu kommt, dass sich eine eindeutige Abgrenzung zwischen der Gesetzgebung der Transition auf der einen Seite und der Gesetzgebung der Transformation auf der anderen Seite nicht vornehmen lässt. Diese Schwierigkeiten haben Auswirkungen auf das Gesamtbild des Transitionsstrafrechts. Es erscheint deswegen sinnvoll, den Aspekt des Gesetzgebungsbezuges nur in eine indirekte Anordnung zu bringen.

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e) Gesamtbild eines Transitionsstrafrechts Aus den bisherigen Übersichten und Ausführungen ergibt sich das folgende Gesamtbild eines Transitionsstrafrechts. Transitionsstrafrecht:

IV. Folgerungen 1. Keine klaren Tendenzen für ein menschenrechtsschützendes Transitionsstrafrecht Mit den ursprünglichen Projektüberlegungen wurde die Erwartung geäußert, dass sich aus den gefundenen Modellen des Umgangs mit Systemunrecht bestimmte Leitlinien für ein menschenrechtsschützendes nationales Strafrecht, für ein bestimmtes Modell strafrechtsbezogener Vergangenheitspolitik bei der Transition ableiten lassen. Anhand des jetzt vorliegenden Befundes eines Transitionsstrafrechts sind solche Leitlinien jedoch nicht zu erkennen. Das ist einerseits darauf zurückzuführen, dass schon der Ansatz für diese Erwartung insoweit problematisch war, als er von vornherein davon auszugehen schien, dass die anhand der Auswertung der Landesberichte sich ergebenden Modelle des Umgangs mit Systemunrecht per se – wenn auch in unterschiedlicher Weise – von dem Gedanken des Menschenrechtsschutzes durch Strafrecht getragen werden. Das hat sich aber ebenso wenig bestätigt, wie die Annahme, dass ein Modell deswegen gebildet werden könne, damit es für andere Länder Vorbildwirkung hat. Trotz bestimmter Typisierungen der Systemumbrüche und des eingeschlagenen Weges des Umgangs mit dem Systemunrecht erweist sich stattdessen jedes Land als konkreter Einzelfall.

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a) Die Abhängigkeit des Transitionsstrafrechts von der Politik Ein wichtiger Hinderungsgrund, ein verallgemeinerungswürdiges Modell strafrechtsbezogener Vergangenheitspolitik entwickeln zu können, besteht darin, dass das Transitionsstrafrecht sich in einer unmittelbaren Abhängigkeit von der Transitionspolitik und der Vergangenheitspolitik befindet und diese Politik ihrerseits von einer Fülle von Einflussfaktoren bestimmt ist und zudem von unterschiedlichen Zielstellungen geleitet wird. Solange nicht klar ist, welche konkreten Zusammenhänge zwischen den Faktoren und Zielen der Transitionspolitik mit der Vergangenheitspolitik auf der einen Seite und zwischen den Faktoren und Zielen der Vergangenheitspolitik mit dem Transitionsstrafrecht auf der anderen Seite bestehen, ergibt sich die bereits oben getroffene Feststellung, dass jedes Land als Einzelfall des Transitionsstrafrechts erscheint. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass sich die einzelnen Länder bestimmten Merkmalen des Transitionsstrafrechts zuordnen lassen – bei dem täterbezogenen Transitionsstrafrecht den Kriterien bzw. Typen der Strafverfolgung, Straflosigkeit oder Strafverzicht, und bei dem opferbezogenen Transitionsstrafrecht den Kriterien der Rehabilitierung, Entschädigung und / oder Wahrheitsinstitutionen. Aber bei diesen Zuordnungen handelt es sich gegenwärtig nur um äußere Zuschreibungen. b) Vorzugsstellung der Trias „Straflosigkeit – Wiedergutmachung – Wahrheitsinstitutionen“ Die äußeren Zuschreibungen erbringen den Befund, dass am häufigsten eine Kombination der Wege Straflosigkeit, Wiedergutmachung sowie Wahrheitsaufklärung beschritten wird, weshalb sich eine solche Trias wohl nicht zu Unrecht als das typischste Kennzeichen des Transitionsstrafrechts bezeichnen lässt. Eine ganz andere Frage besteht darin, wie dies zu bewerten ist und welche rechtspolitischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze. 2. Relativität der Bewertungsmaßstäbe für ein Transitionsstrafrecht a) Systemimmanente Maßstäbe Mit einer Bewertung, die eher systemimmanente Maßstäbe anlegt und damit zwangsläufig auch jene Faktizität anerkennt, die in der Abhängigkeit des Transitionsstrafrechts von der Transitions- bzw. Vergangenheitspolitik besteht, gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass entweder die oben genannte Trias oder bei gesonderter Betrachtung jedes einzelnen Landes die beschrittenen unterschiedlichen Wege zunächst zu respektieren sind. Da diese Betrachtungsweise ihren Ausgangspunkt jedoch im positiven Recht – und damit in Wirklichkeit in der Politik – hat, bedeutet dies zugleich aber, dass je nach Position des Betrachters die Transitions-

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politik für richtig oder falsch erachtet werden kann. Wer sich ein anderes Transitionsstrafrecht wünscht, muss deswegen in erster Linie eine dementsprechend andere Transitions- bzw. Vergangenheitspolitik fordern. Mitunter werden derartige Forderungen nach einer anderen Vergangenheitspolitik erst in der Transformation erfüllt. Diese Vergangenheitspolitik ist dann nicht selten darauf gerichtet, innerhalb eines Transformationsstrafrechts eine Akzentverschiebung von der Straflosigkeit zur Strafverfolgung vorzunehmen, das heißt, die Straflosigkeit der Transition zu überwinden. Möglicherweise handelt es sich bei den gegenwärtig beispielsweise in Argentinien, Chile und Uruguay zu beobachtenden Entwicklungen um solche Akzentverschiebungen. Es ist eine Aufgabe zukünftiger Forschung, sich schwerpunktmäßig mit Fragestellungen eines Transformationsstrafrechts zu befassen. b) Systemübergreifende Maßstäbe Eine andere Bewertung des Transitionsstrafrechts besteht darin, systemübergreifende Maßstäbe anzulegen und dabei den Ausgangspunkt nicht in der Politik, sondern in den Prinzipien eines systemübergreifenden menschenrechtsschützenden Strafrechts zu suchen. Diese Prinzipien finden zunehmend im Völkerstrafrecht ihren Ausdruck. Insbesondere die Landesberichte Argentinien, Uruguay und Chile enthalten die Feststellung, dass es eine nationale Bestrafungspflicht von Systemunrecht aufgrund von Völkerrecht gibt. Manchmal werden systemübergreifende Bewertungsmaßstäbe auch in einem normbestätigenden symbolischen Strafrecht gesehen, so namentlich im argentinischen Landesbericht.25 Mit Ausnahme von Karsten26 im Hinblick auf die Landesberichte zu Russland, Weißrussland, Georgien, Estland und Litauen wird in keinem weiteren Landesbericht bei der Bewertung des beschrittenen Weges des strafrechtlichen Umgangs mit der Vergangenheit auf überpositives Recht zurückgegriffen, wie es etwa in einem kritischen rechtsstaatlich-liberalen Naturrecht gesehen werden kann, das sich als Begrenzungsmittel gegenüber staatlicher Macht versteht. Freilich wird die Einzelfallbewertung der jeweiligen Länder auf Grund dieser Maßstäbe wiederum zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine pauschale Bewertung der Trias Straflosigkeit – Wiedergutmachung – Wahrheitsinstitutionen verbietet sich. Erst auf der Grundlage derartiger – hier nur grob skizzierter – Bewertungsmöglichkeiten lassen sich verallgemeinerungsfähige, rechtspolitische Schlussfolgerungen aufstellen.27 25 26 27

Sancinetti / Ferrante, in: Eser / Arnold (o. Fn. 4), Bd. 3, 2002, S. 403 ff. Karsten, Nachwort, in: Eser / Arnold (o. Fn. 4), Bd. 7, 2003, S. 315. Vgl. dazu näher die Reflexionen von Eser im Abschlussband des Projekts.

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c) Unterschiedliche Richtpunkte der Bewertung durch die Landesberichterstatter Die Landesberichterstatter nehmen aus unterschiedlichen Perspektiven eine Bewertung des jeweiligen Weges vor, den ihr Land bei dem strafrechtlichen Umgang mit der Vergangenheit beschritten hat. Zum Teil werden diese Perspektiven offen gelegt, mitunter bleiben sie aber auch unbenannt. Gleichwohl ist zu erkennen, dass trotz unterschiedlicher Perspektiven im Einzelnen folgende Bewertungsmaßstäbe angewandt werden: Überwiegend erfolgt die Bewertung (rechts)positivistisch im Sinne einer eher systemimmanenten Betrachtung. Dies ist meistens dann der Fall, wenn von den Landesberichterstattern die jeweilige nationale Reaktion auf Systemunrecht im Wesentlichen anerkannt wird. Diese Anerkennung geschieht vor dem Hintergrund der Feststellung, dass die jeweiligen politischen Umstände gerade diesen oder jenen Weg des jeweiligen Landes erfordert haben. Eine solche Einschätzung kann man etwa den Landesberichten Russland, Weißrussland, Georgien, Estland, Polen, Ungarn, Tschechien, Deutschland, Griechenland, Spanien, Brasilien sowie Südkorea entnehmen. Wenn für diese Länder von „Anerkennung“ des jeweils eingeschlagenen Weges des strafrechtlichen Umgangs mit der Vergangenheit die Rede war, muss das aber nicht heißen, dass der Verfasser eines solchen Landesberichtes sich kritiklos gegenüber der Transitionspolitik in seinem Land verhält. „Anerkennung“ in diesem Kontext bedeutet lediglich die Erkenntnis, dass das Recht von der Politik abhängig ist. Für Ghana, Mali und Südafrika werden in diesem Zusammenhang nicht nur die politischen Umstände konstatiert. Hingewiesen wird zugleich auf die Bedeutung der afrikanischen Rechtskultur. Grundlegend anders ist die Bewertungssituation für Argentinien, Chile und Uruguay. Zwar besteht auch für diese Länder der Ausgangspunkt der Bewertung im (Rechts-)Positivismus. Anders als bei den oben genannten Ländern liegt dem jedoch offenbar ein anderes Verständnis von Rechtspositivismus zugrunde, und zwar im Sinne einer strafrechtsimmanenten Betrachtung. Am deutlichsten bringt das Sancinetti für Argentinien zum Ausdruck, indem er den Sinn der Strafe betont, der einzig in der Normbestätigung bestehe. Daraus wird eine uneingeschränkte Strafverfolgungsverpflichtung für jene Verletzung von Menschenrechten abgeleitet, die bereits im nationalen Strafrecht sanktioniert waren. Vor diesem Hintergrund wird das Unterlassen von Strafverfolgung prägnant kritisiert. Politische Umstände der Transition bleiben bei dieser Bewertung außer Betracht. Diesen Ansatz verfolgt auch der Verfasser des uruguayischen Landesberichtes (Fernández). Wieder anders ist die Position des chilenischen Autors (Millaleo). Obwohl dieser die straftheoretische Position, wie sie von Sancinetti für Argentinien dargelegt worden waren, ebenfalls vertritt, berücksichtigt er bei seiner gleichwohl kritischen Bewertung des chilenischen Weges auch politische Faktoren.

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Die Landesberichterstatter für Argentinien, Uruguay sowie Chile kritisieren die jeweiligen Wege ihres Landes schließlich auch bei Anlegen von völkerrechtlichen Maßstäben. d) Rechtspolitische Schlussfolgerungen der Landesberichterstatter Insgesamt lassen sich aus dem vorausgehenden Querschnittsvergleich im Wesentlichen und zusammenfassend die folgenden rechtspolitischen Schlussfolgerungen der Landesberichterstatter erkennen. Die Gesetzgebung der Transition ist auf ein rechtsstaatlich-demokratisches Strafrecht auszurichten. Das bedeutet auch, solche nationalen Strafvorschriften zu erlassen, die jedenfalls zukünftig die Menschenrechte schützen. Diese Schlussfolgerung ist zugleich eine Aufgabe für die weitergehende Transformation, sofern sie nicht bereits im Ergebnis der Transition verwirklicht worden ist. Eine solche Gesetzgebung muss auch die Stärkung des Völkerrechts beinhalten, indem die nationalen Strafvorschriften dem Völkerrecht bzw. dem Völkerstrafrecht angepasst werden. Ferner haben die jeweiligen Länder die völkerrechtlichen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte innerstaatlich anzuerkennen und sich von Verfassung wegen zu deren Einhaltung zu verpflichten. Die Staaten haben die Verpflichtung, das Völkerstrafrecht auch dadurch zu stärken, dass sie sowohl den Internationalen Strafgerichtshof anerkennen als auch eine nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen betreiben. In der Transformation besteht – bei oftmals gegenüber der Transition veränderten politischen Bedingungen – die Aufgabe, die demokratischen Verhältnisse dadurch zu stabilisieren, dass der bisherige Weg der Straflosigkeit nicht weiter beschritten wird. Letzteres zeichnet sich in Ländern wie Argentinien, Chile sowie Uruguay ab. Insgesamt hat es sich auf der Basis der in diesem Projekt untersuchten Länder als wenig aussichtsreich, wenn nicht sogar als grundsätzlich unmöglich herausgestellt, ein verallgemeinerungsfähiges Modell eines Transitionsstrafrechts zu entwickeln, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass es für alle Länder als Muster gelten könnte. Es bleibt eine Aufgabe der Wissenschaft, sich auf der Grundlage der hier vorgelegten Ergebnisse eines Transitionsstrafrechts nunmehr verstärkt auch den Fragen nach einem Transformationsstrafrecht zuzuwenden. V. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen 1. Die beiden Varianten des Transitionsstrafrechts Als ein wichtiges Ergebnis unseres Projekts wird das Transitionsstrafrecht in zwei Varianten herausgearbeitet: zum einen als ein täterbezogenes und zum ande-

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ren als ein opferbezogenes Transitionsstrafrecht. Das täterbezogene Transitionsstrafrecht setzt sich aus einer Trias Strafverfolgung – Straflosigkeit – Strafverzicht zusammen. Das opferbezogene Transitionsstrafrecht wird auf der einen Seite durch Wiedergutmachung – und dabei insbesondere durch Rehabilitierung und Entschädigung – und auf der anderen Seite durch besondere Institutionen zur Wahrheitsaufklärung gekennzeichnet. Die Zuordnung der Länder zu den unterschiedlichen Ausprägungen des Transitionsstrafrechts ergibt ein äußerst differenziertes Bild. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass als Hauptausprägung des täterbezogenen Transitionsstrafrechts die Straflosigkeit zu Tage tritt. Das Typische des Transitionsstrafrechts insgesamt ist die Trias Straflosigkeit – Wiedergutmachung – Wahrheitsinstitutionen. Während die Straflosigkeit in den alten Systemen letzten Endes erklärbar ist mit historischen Sätzen wie „princeps legibus solutus“ bzw. „par in parem non habet imperium“,28 hat die Straflosigkeit der Transition ihre wohl entscheidende Ursache in der konkreten Vergangenheitspolitik des jeweiligen Landes, die ihrerseits wiederum von der jeweiligen Art und Weise der politischen Transition abhängig ist. Damit bestätigt sich auch für das täterbezogene Transitionsstrafrecht die faktische Abhängigkeit des Rechts von der Politik und von der Verteilung politischer Macht. Jedoch handelt es sich bei der Straflosigkeit in den alten Systemen um eine solche, die das Attribut „absolut“ verdient, hingegen ist Straflosigkeit der Transition als „relativ“ zu beschreiben. Das heißt, die Straflosigkeit der Transition erreicht nicht mehr das Ausmaß völliger strafrechtlicher Untätigkeit wie im alten System, sondern tendiert dazu, das Systemunrecht den früheren Trägern des alten Systems zumindest zögernd zuzurechnen.29 2. Bewertungen und Schlussfolgerungen Aufgrund der heterogenen politischen Voraussetzungen in den einzelnen Ländern, aber auch wegen des unterschiedlichen Vorverständnisses positionieren sich die Landesberichterstatter zu Bewertungsfragen hinsichtlich des von ihren Ländern eingeschlagenen Weges beim Umgang mit der Vergangenheit in unterschiedlicher Weise. Jeder Landesbericht steht und spricht insoweit für sich. Dennoch sollen an dieser Stelle zumindest einige eigene Bewertungsrichtungen und Schlussfolgerungen aufgezeigt und dabei mit bedacht werden, dass bei diesem Projekt Fragen der wertenden Strafrechtsvergleichung in besonderer Weise zu Tage treten. Das Thema „Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik“ berührt ganz unmittelbar das Verhältnis zwischen Positivismus, Überpositivismus, Verfassungsrecht, Naturrecht, Völkerrecht und Völkerstrafrecht. Dabei handelt es sich um die 28 Vgl. dazu Naucke die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996, S. 12. 29 Vgl. dazu Naucke (o. Fn. 22).

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grundlegende Frage, ob angesichts der Feststellung, dass das jeweilige nationale Strafrecht von Politik abhängig ist, die Forderung erhoben werden kann, dass das Recht unabhängig von den konkreten politischen Verhältnissen durch umfassende Strafverfolgung und damit durch die Beendigung der Straflosigkeit zu stärken ist. Eine solche Forderung lässt sich mit einem überpositiven Ansatz oder mit einem kritischen Naturrecht wohl am leichtesten erheben und bedeutet den Ruf nach einer umfassenden Strafverfolgung. a) Überpositives Recht und Wahrheitsaufklärung Nicht klar ist u. a., wie sich ein solcher überpositiver oder naturrechtlicher Ansatz zu dem opferorientierten Transitionsstrafrecht und dabei besonders zu den Institutionen der Wahrheitsaufklärung, etwa zu Wahrheits- und Versöhnungskommissionen verhält. Tritt die Forderung nach umfassender Strafverfolgung dann zurück, wenn durch Wahrheits- und Versöhnungskommissionen die gewaltsame Vergangenheit eines Landes an Stelle der Strafverfolgung aufgearbeitet und so der Weg in eine friedliche Zukunft geebnet werden kann? Oder beschränkt sich die Forderung nach Strafverfolgung insofern nur auf die Ahndung der schwersten Rechtsverletzungen der Vergangenheit, insbesondere der schweren Verletzungen der Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und der Verbote von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Doch selbst wenn man eine Lehre aus der Erkenntnis der Abhängigkeit des nationalen Strafrechts von der Politik und der damit bedingten Straflosigkeit darin erblicken wollte, den Ausweg im Völkerstrafrecht zu sehen, da dieses mit dem Statut über die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshof jedenfalls im Hinblick auf schwerste Menschenrechtsverletzungen den Weg der Strafverfolgung beschreitet, bleibt unklar, in welchem Verhältnis die strafrechtliche Verfolgung des Gerichthofes zu dem umfassenderen gesellschaftlichen Schlichtungsanspruch der Wahrheitskommissionen steht.30 Mit diesen Fragen sollen die Augen vor jenen Konstellationen freilich nicht verschlossen werden, die dazu führen, dass Wahrheits- und Versöhnungskommissionen die Strafverfolgung unter besonderen nationalen Umständen ergänzen oder auch ersetzen können. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Kommissionen, deren Empfehlungen in dieser Weise Folge geleistet wird, bei den Opfern nicht selten als verfehlter Aufarbeitungsmechanismus gelten.

30 In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass trotz der nicht ausdrücklichen Nennung von Amnestien oder Wahrheitskommissionen das Rom-Statut dennoch die Möglichkeit eröffnet, „auf Bemühungen einer Vertragspartei zur Konfliktbewältigung in Transitionsgesellschaften einzugehen, die durchaus unterhalb der Schwelle der strafrechtlichen Verfolgung liegen können“ (Bartelt, AVR 43 [2005], 203).

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b) Eigene Position Meine eigene Position besteht in einem grundsätzlichen Plädoyer gegen die anhaltende weltweite Straflosigkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen, ohne außer Acht zu lassen, dass die konkreten Verhältnisse der Transitionsgesellschaften im Einzelfall eine andere Entscheidung erfordern können und dass auch das Völkerstrafrecht nur begrenzt Auswirkungen auf die friedliche Entwicklung einer Gesellschaft haben kann.31 Vor diesem Hintergrund wird in dem Projekt des MaxPlanck-Instituts über „Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen“ eine sinnvolle Ergänzung des Projekts über „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht“ gesehen.32 c) Künftige Forschungsperspektiven Aus einigen Forschungsdesideraten ergeben sich ebenso Forschungsperspektiven wie aus einer ganzen Reihe weiterer offen gebliebener oder sich neu bzw. wieder stellender Fragen, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. aa) Aktuelle Entwicklungen Zunächst sind es aktuelle Entwicklungen, die es zu beobachten und zu untersuchen gilt. Dies trifft vor allem auf den sich – durchaus weltweit – abzeichnenden Trend zur Bildung von Wahrheitskommissionen zu.33 Ferner ist festzustellen, dass der strafrechtliche Umgang mit der Vergangenheit nach Systemumbrüchen zunimmt und in einigen Ländern sich eine neue Praxis entwickelt, wie beispielsweise der Prozess gegen Saddam Hussein und einige seiner Gefolgsleute im Irak. Zunehmend werden „internationalisierte Gerichte“ durch die Vereinten Nationen etabliert, nicht nur in Osttimor und Sierra Leone,34 sondern nun auch in Kambodscha. Das Sondertribunal in Irak wird als so genanntes Hybrid-Gericht eingeordnet. Auch für die Frage nach der Entwicklung eines Transformationsstrafrechts sind neuere Tendenzen zu beobachten, wie beispielsweise der unlängst erfolgte Erlass des Haftbefehls wegen Völkermords gegen den früheren Präsidenten Mexikos Echeverría zeigt. In diesem Zusammenhang ist auch die erfolgte Verurteilung des 31 Vgl. zu völkerstrafrechtlichen Grenzen näher im vergleichenden Querschnitt des Abschlussbandes. 32 Vgl. dazu die von Eser / Kreicker seit 2003 bzw. von Eser / Sieber / Kreicker seit 2004 herausgegebenen Bände „Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen“, die zahlreiche Landesberichte enthalten; vgl. dazu jüngst Kreicker, in: Eser / Sieber / Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, 2006, Bd. 7. Vgl. ferner von Braun, Internationalisierte Strafgerichte. Eine Analyse der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Osttimor, Sierra Leone und Bosnien-Herzegowina, 2008; Rinceanu, Völkerstrafrecht in Rumänien, 2008. 33 Vgl. dazu die Literaturangaben im Querschnittsteil des Abschlussbandes des Projekts. 34 Vgl. dazu v. Braun, HuV-I 2005, 93 – 105.

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früheren Staatsoberhauptes von Äthiopien, Mengistu Haile Mariam, wegen Völkermordes durch den Obersten Gerichtshof in Addis Abeba zu erwähnen. Indes gilt in wieder anderen Ländern – wie beispielsweise in Algerien – nach wie vor die Amnestie als das probate Mittel in der Transition, durch Straflosigkeit Frieden sowie Aussöhnung zu erreichen. Trotz Zustimmung zur Amnestie durch Volksentscheid in Algerien ist sowohl in diesem Land als auch international erheblicher Widerstand dagegen zu verzeichnen.35 Das Beispiel Algerien steht für die unvermindert anhaltende juristische und politische Auseinandersetzung über die Frage nach Legalität und Legitimität von nationalen Straffreistellungen bei schweren Menschenrechtsverletzungen. bb) Weitere Bestimmung des Transitions- bzw. Transformationsstrafrechts Anhand der vorstehend aufgezeigten aktuellen Entwicklungen sind weitere wichtige Aufschlüsse über das nationale Transitions- bzw. Transformationsstrafrecht zu erwarten, gerade auch im Hinblick auf dessen Reichweite, Instrumentalisierung und Grenzen. Fließend sind hier die Übergänge zu einer Thematik, die als Strafrecht in Postkonfliktsituationen bezeichnet wird.36 Die Erörterungen dieses Strafrechts erfolgen nicht so sehr vor dem Hintergrund von Systemumbrüchen bzw. Systemveränderungen, wie das bei dem Transitionsstrafrecht der Fall ist. Stattdessen geht es darum, die Rolle des Strafrechts in Postkonfliktgesellschaften zu bestimmen. Dabei stehen nicht wie bei der Transition und Transformation die politischen Systemwechsel und politischen Systemwandlungen respektive Systemkonsolidierungen im Vordergrund, sondern die Lösung meist gewaltsamer Konflikte innerhalb bestehender politischer Systeme. cc) Universeller Menschenrechtsschutz Zu einer weiteren Veränderung der Perspektive kommt es schließlich dann, wenn der Blick auch auf jene schweren Menschenrechtsverletzungen geworfen wird, die letztlich im Namen der Demokratie, gar im Namen des „Guten“ gegen das „Böse“,37 begangen werden. Man muss sich dabei nicht notwendigerweise der – freilich legitimen – drastischen Sprache des Literaturnobelpreisträgers Harold Pinter bedienen,38 um an der nach wie vor weit verbreiteten Legende zu rütteln, politisches Systemunrecht sei einzig im Zusammenhang mit staatlichen Systemen Vgl. dazu näher im Querschnittsteil des Abschlussbandes des Projekts. Vgl. dazu Forschungsbericht 2002 / 03 des Max-Planck-Instituts, S. 48 ff., sowie Forschungsbericht des Max-Planck-Instituts 2004 – 2005, S. 258 ff. 37 Zur „Dialektik“ von Gut und Böse in diesem Kontext Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, 2002. 38 Pinter, Kunst, Wahrheit & Politik, Nobelvorlesung vom 7. Dezember 2005, (http: / / nobelprize.org / nobel_prizes / literature / laureates / 2005 / pinter-lecture-g.html). 35 36

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jenseits der westlichen Demokratie verbunden.39 Nicht erst aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der USA gegen Irak40 und auch nicht erst, seitdem die Folter an den Gefangenen in „Abu Graib“ und auf „Guantánamo“ bekannt ist, hat sich die Anfälligkeit westlicher Demokratien – und nicht allein nur der USA –41 gegenüber schweren Menschenrechtsverletzungen gezeigt.42 Es wäre zu begrüßen, wenn eine solche wissenschaftliche Untersuchung wie die kürzlich Vorgelegte über „Völkermord, Kriegsverbrechen und der Westen“43, die schwere Menschenrechtsverletzungen des Westens zum Gegenstand hat,44 auch im Hinblick auf dessen vielfältige Unterstützungen des Systemunrechts von Diktaturen und autoritären Systemen von der nationalen wie internationalen Strafrechtswissenschaft und Kriminologie in den Fokus gerückt würde.45 Dabei würde sich bestätigen, dass die Verletzung von Menschenrechten ein ubiquitäres Phänomen ist. Ausgehend davon ergeben sich Überlegungen für einen universellen Menschenrechtsschutz durch Strafrecht, in die alle dazu vorliegenden strafrechtstheoretiVgl. zum Ganzen Chomsky, Der gescheiterte Staat, 2006. Vgl. Ambos / Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, 2004. 41 So hat jüngst das BVerwG die Unterstützung der deutschen Bundesregierung für den Irak-Krieg als Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot deutlich kritisiert (Urteil des 2. Wehrdienstsenats des BVerwG vom 21. 6. 2005 – BVerwG 2 WD 12.04, S. 80 – 85 d.U.). 42 In den lateinamerikanischen Landesberichten unseres Projekts finden sich zudem zahlreiche Hinweise auf die Unterstützung von Militärdiktaturen Lateinamerikas seitens der USAdministration. 43 Jones (Hrsg.), Völkermord, Kriegsverbrechen und der Westen, 2005. 44 Vgl. dazu u. a. die Beiträge in dem von Jones herausgegebenen Band (o. Fn. 43) von Branche, Folter und andere Rechtsverletzungen durch die französische Armee während des Algerienkrieges, S. 156 – 169; Churchill, Wie man es auch nennt, es bleibt Völkermord: nordamerikanische Heimschulen für indianische Kinder im Kontext, S. 91 – 133; Turner, Die Verbrechen des Westens im demokratischen Kongo – zu Belgiens Eingeständnis „moralischer Verantwortung“ für den Tod Lumumbas., S. 270 – 281; vgl. zur juristischen Aufarbeitung des Algerienkrieges in Frankreich Lelieur-Fischer, Journal of International Criminal Justice 2004, 231 – 244. 45 Dabei müsste auch das Werk von Agamben unter anderem über den „permanenten Ausnahmezustand“ berücksichtigt werden (vgl. dazu u. a. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 2003; ders., Was von Auschwitz bleibt, 2003; ders., Ausnahmezustand, 2004; insgesamt zu Agamben Steinhauer, in: Buckel / Christensen / Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006). In seinem Roman „Die Stadt der Sehenden“ schildert der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago eindrucksvoll den Ausnahmezustand der Demokratie. In der Hauptstadt einer ungenannten westlichen Demokratie geben bei einer Regionalwahl drei Viertel aller Bürger einen unbeschrifteten Stimmzettel ab. Die Regierung hält sich mit diesem Wahlergebnis für handlungsunfähig. Eine Wiederholung der Wahl erbringt ein noch schlechteres Ergebnis. Die Minister sind bestürzt; manche meinen, es handele sich um einen subversiven Angriff auf das System, um eine Torpedierung der Demokratie. Statt dass man die Motive der Wähler ergründet, wird der Ausnahmezustand verhängt, um den „Infektionsherd“ zu finden. Diktatorische Maßnahmen greifen. Panzer patrouillieren durch die Stadt. Willkürliche Verhaftungen erfolgen. Zur Hauptschuldigen wird eine Frau erklärt, die als einzige während einer Jahre zurückliegenden Epidemie nicht erblindet war. 39 40

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schen, kriminalpolitischen und kriminologischen Erkenntnisse einbezogen werden sollten.46 Allerdings wäre es verfehlt, das Strafrecht dabei als ein Allheilmittel anzusehen. Entscheidend ist jene Forderung und deren konsequente Umsetzung, dass gerade die westlichen Demokratien – nicht zuletzt in Reaktion auf das internationale Kriminalitätsgeschehen wie den Terrorismus – ihre eigenen unverfügbaren rechtsstaatlichen wie sozialstaatlichen Werte aufrechterhalten. 46a Das mag angesichts der aktuellen Herausbildung eines nationalen wie internationalen „Feindstrafrechts“, eines drastischen Sozialabbaus sowie von massenhaft Ausgegrenzten der Moderne ein allzu naiver Wunsch sein. Dass am „Kampf für ein gerechtes Recht“47 unvermindert festgehalten und nicht der „Niedergang des Rechts für eine unabwendbare Schicksalsfügung“48 angesehen werden sollte, könnte eine wichtige Lehre aus der Beschäftigung mit Transitionsstrafrecht und Vergangenheitspolitik sein; eine Lehre, die vor allem in der Hoffnung darauf zu formulieren wäre, dass sich die Vergangenheit um der Zukunft willen nicht wiederholt. So ist wissenschaftlich der – interdisziplinäre – Bogen zu spannen von der Bedeutung des Strafrechts für die Transition bis hin zu dem Gegenstand des Strafrechts für jene Demokratieforschung, die sich mit dem Erhalt und der Vertiefung der Demokratie in modernen und komplexen Nach-Transitionsgesellschaften befasst. Erst auf der Grundlage derartiger Untersuchungen und ihrer Ergebnisse wird letzten Endes eine abschließende Beurteilung des Transitionsstrafrechts möglich sein.

Vgl. dazu näher im Querschnittsteil des Abschlussteils des Projekts. Prantl, Der Terrorist als Gesetzgeber, 2008. 47 V. Hippel, Kampf für ein gerechtes Recht, Frankfurter Rundschau vom 3. 6. 2006. 48 Vgl. die Auseinandersetzung von Assheuer mit dem italienischen Philosophen Agamben, Die Zeit, Nr. 28 / 2004. 46

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Innenansichten zur Anwaltschaft im Nationalsozialismus Von Hinrich Rüping

I. Außen- und Innenansichten zur Geschichte der Rechtsanwaltschaft Stellungnahmen zur Haltung von Angehörigen juristischer Berufe zum Nationalsozialismus in der Zeit unmittelbar nach 1945 werten wir in der heutigen Perspektive der Juristischen Zeitgeschichte als Außenansichten. Das eigene Erleben trägt weitgehend apologetische Deutungen, die den eigenen Berufsstand als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung sehen und den Angehörigen zumindest inneren Widerstand bescheinigen. Das gilt für Richter als Repräsentanten der Justizjuristen in der bekannten Darstellung Schorns,1 aber auch für Anwälte als Repräsentanten freier Berufe in der weniger bekannten Darstellung Lewalds. Er gibt dem ersten Heft der NJW auf den Weg, die Anwaltschaft habe das Dritte Reich „mit geheimem Gewissensvorbehalt“ hingenommen und insgesamt „die Probe der großen Versuchung der Jahre 1933 – 1945 bestanden“.2 Eine derartige Sicht ist nicht geeignet, einen historischen Zugang zu den 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft zu eröffnen. Sie steht für die Verdrängung der nationalsozialistischen Zeit und ersetzt allein geforderte quellengestützte Aussagen durch interessegeleitete Mutmaßungen. II. Innenansichten aus der Zeit des Nationalsozialismus Die in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts breit einsetzende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat im Bereich der Justizforschung zahlreiche Quellen erschlossen und für Aussagen zur eigenen Verantwortung der Justiz nutzbar gemacht. Neben Selbstzeugnissen von Zeitzeugen und veröffentlichten wie unveröffentlichten Quellen kommt ein besonderer Stellenwert rein für den internen Dienst gefertigten Aufzeichnungen zu. Das trifft z. B. zu für die Lageberichte der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte an das Ministerium und für Berichte des Sicherheitsdienstes der SS, die in der Abtei1 2

Der Richter im Dritten Reich, 1959. NJW 1947 / 48, Heft 1, S. 2, 3.

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lung „Verwaltung und Rechtspflege“ auch Aufschluss geben über die Haltung der Bevölkerung.3 Nur sporadisch ist bisher eine weitere interne Quelle ausgewertet worden, die in einzigartiger Weise aus der Sicht der Reichsjustizverwaltung für die Jahre 1934 bis 1938 zahllose Konflikte mit der Partei und der Gestapo verzeichnet, damit unter kritischem Aspekt Vorgänge selektiert. Das sog. „Diensttagebuch des Reichsjustizministers Dr. Gürtner“ ist vom persönlichen Referenten des Ministers, späteren Reichsgerichtsrat und noch 1945 wegen seiner Beteiligung am 20. Juli 1944 hingerichteten Hans v. Dohnanyi mit Wissen und Willen Gürtners angelegt und geführt worden. Die Chronik hält in durchdachter Selektion Berichte der Provinzialjustizverwaltungen fest sowie Schriftverkehr mit anderen Ressorts des Reiches, mit Dienststellen der Partei und ihren Gliederungen; vereinzelt sind Dokumente wegen ihrer Bedeutung als Abschriften mit ihrem vollständigen Text aufgenommen. Ziel ist, Material zu gewinnen und zu sichern, um zu einem noch ungewissen späteren Zeitpunkt dokumentieren zu können, wie die Partei in allen Bereichen der Justiz ihren Einfluss geltend zu machen sucht. Wiederholte Zeichen am Rand der Eintragungen, wie „V“ für Vortrag oder „R“ für Rücksprache belegen die Befassung mit den Vorgängen in der Spitze des Ministeriums. III. Das Diensttagebuch als zeitgeschichtliche Quelle Das Diensttagebuch taucht in zeitgeschichtlichen Arbeiten sporadisch auf, ist jedoch bisher mit seinen fast 3000 Blatt nicht insgesamt oder in Teilen ediert und in seinem Gehalt nur unter dem Aspekt der Richterdisziplinierung näher gewürdigt worden.4 Systematisiert man die angesprochenen Themen, kehren bestimmte Bereiche schwerpunktmäßig wieder. Eine Sichtung kann aus Raumgründen nur in bestimmten Ausschnitten erfolgen. Was das Verhalten einzelner Richter angeht, soll die folgende Fundstelle aus der Quelle genügen. Bekannt ist der Fall des AGR Funk, unter dessen Vorsitz das Schöffengericht Kassel 1935 Übergriffe gegen einen jüdischen Händler mit Gefängnisstrafen ahndet. In seiner dienstlichen Stellungnahme sieht sich Funk verpflichtet, „Gewalttaten, die sich gegen wehrlose Personen richten, im Interesse des Ansehens des Staates, dem ich diene, mit Schärfe entgegenzutreten“. Der Gauleiter lässt daraufhin den Oberlandesgerichtspräsidenten in Kassel wissen, er sei selbst in der Lage, Funk „mit der Hundepeitsche zu verhauen, wie er es verdient hätte“.5

3 Michelberger, Berichte aus der Justiz des Dritten Reiches: Die Lageberichte der Oberlandesgerichtspräsidenten von 1940 – 45 unter vergleichender Heranziehung der Lageberichte der Generalstaatsanwälte, 1989, sowie Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich: Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938 – 1945, Bd. 1 – 17, 1984. 4 Löffler, Das Diensttagebuch des Reichsjustizministers Gürtner 1934 bis 1938, Diss. iur. Hannover, 1997.

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Das Diensttagebuch erschöpft sich jedoch nicht in einer „chronique scandaleuse“ hinsichtlich einzelner Personen und betrifft innerhalb des Justizpersonals nicht nur Richter. Es soll im Folgenden verwertet werden für den jüngsten Zweig der Erforschung juristischer Berufe, die Geschichte der Anwaltschaft im Nationalsozialismus. Die berufliche, hier forensische Tätigkeit eines Anwalts hinterlässt weitaus weniger quellenmäßige Spuren als die eines Justizjuristen, sofern sie nicht etwa aus Handakten oder mittelbar aus Aufsichts- und Strafverfahren erschlossen werden kann. Die zeitgeschichtliche Forschung hat sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zunächst an Hand des seinerzeit vorgegebenen normativen Rahmens mit einzelnen Berufsfeldern, vor allem dem des Strafverteidigers, befasst und für regionale Untersuchungen Personalakten hinzugezogen.6 Das im Diensttagebuch überlieferte Material ist geeignet, an Hand einzelner an die Justizführung gelangender Fälle übergreifend Fragen der Berufsausübung zu veranschaulichen. Schwerpunkte bilden die Ausbildung, die Berufstätigkeit nach ihren allgemeinen Voraussetzungen wie einzelnen sensiblen Bereichen bei der Vertretung von Juden oder „Staatsfeinden“, schließlich die Disziplinierung durch Ehrengerichts- und Parteigerichtsverfahren sowie durch unmittelbare Eingriffe der Polizei. IV. Einzelne Themen 1. Ausbildung und Sozialisation Preußen und nach seinem Vorbild das Reich tragen die Professionalisierung der Ausbildung durch ein zweistufiges System mit staatlichen Prüfungen und anschließend staatlicher Zulassung zur Advokatur.7 Im Nationalsozialismus kündigt nach der Verreichlichung der Justiz die Ausbildungsordnung von 1934 einen grundsätzlichen Wandel an, indem sie neben der fachlichen Seite die charakterliche betont und die Eingliederung in die Volksgemeinschaft zur Pflicht macht.8 5 Chronik [im Folgenden: Chr.] v. 15. 4. 1935; nach der Eintragung v. 26.4. stellt der Chef des Parteiverlages, Amann, einen Richter wegen eines für ihn ungünstigen Urteils zur Rede und teilt ihm später mit, als dieser das Gespräch beendet hatte: „Wenn Sie jetzt bei mir wären, würde ich Sie mit der Hundepeitsche ins Gesicht schlagen und in das Konzentrationslager abführen lassen.“ Nach der Chr. v. 6. 4. Nr. 10 beschwert sich der Präsident der Rechtsanwaltskammer [PrRAK] Celle, Meiborg, bei StS Freisler über die „reaktionäre Einstellung der Richter des OLG. Passive Resistenz, Rückhalt aller Widerstrebenden“. 6 Vgl. König, Vom Dienst am Recht: Rechtsanwälte als Strafverteidiger im Nationalsozialismus, 1987; Krach, Jüdische Rechtsanwälte in Preußen, 1991; Königseder, Recht und nationalsozialistische Herrschaft: Berliner Anwälte 1933 – 1945, 2001. 7 Zum preußischen Gesetz von 1869 sowie der AV des PrMJ von 1923 und von 1932 Rüping, FS Hans-Ludwig Schreiber, 2003, S. 405, 407. 8 Präambel zur JAO (RGBl 1934 I, 727). Die bezeichnenderweise vom Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung erlassenen „Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft“ finden sich in DJZ 1935, Sp. 167.

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Entscheidend wird die Reform des Referendariats in der JAO von 1939. Sie nimmt die in Preußen bereits 1933 einsetzenden Versuche auf, ein „Gemeinschaftsleben“ der Referendare zu organisieren und macht reichsweit eine mehrmonatige Ausbildung im Gemeinschaftslager Jüterbog zur Pflicht, damit die Referendare sich „eine hohe, sittliche Auffassung von den Aufgaben ihres Berufes“ bilden.9 Die wiederholt diesem Thema im Diensttagebuch gewidmeten Berichte zeigen, welchen Stellenwert das Erneuerungsprogramm besitzt, aber auch, dass die Wirklichkeit weit hinter der Propaganda zurückbleibt. Den Beginn machen Klagen über die politische Abstinenz der Referendare und über eine ablehnende Haltung zum neuen Staat.10 Gezielte Proteste kommen aus Süddeutschland. Der Oberlandesgerichtspräsident in Stuttgart sowie der Gauleiter in Württemberg kritisieren den militärischen Charakter der Ausbildung mit ihren körperlichen Anforderungen sowie die darauf basierenden, für das Fortkommen entscheidenden Zeugnisse des Lagerkommandanten und plädieren für die Auflösung des Lagers.11 Als weitere Beispiele leitet der Oberlandesgerichtspräsident in Frankfurt / M. in einem umfangreichen Bericht die Beschwerde eines Referendars gegen Beurteilungen im Zeugnis weiter: wenn ihm Drückebergerei wegen seines ärztlich attestierten Herzfehlers und Unkameradschaftlichkeit vorgeworfen werde, beruhe das auf Denunziationen von Stubenältesten.12 Die Beschwerde eines anderen Referendars vermerkt offene Konflikte zwischen militärischen Ausbildern und Schulungsleitern, und unter demselben Datum ist die pointierte Sicht eines von ihnen vermerkt, „daß Kameraden mit dem angesteckten Parteiabzeichen in das Lager hineinkämen, es jedoch wieder verließen, ohne ein Abzeichen zu tragen“.13 Der an das Assessorexamen anschließende einjährige Probedienst und dreijährige Anwärterdienst dient zur fortgesetzten Kontrolle auch der politischen Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Staat und beabsichtigt eine Selektion der für eine Zulassung in Betracht kommenden Bewerber. Wie dem Diensttagebuch zu 9 JAO § 48 (RGBl 1939 I, 6, 15); grundlegend zum Programm der Charakterbildung AV PrMJ (DJ 1933, 210), Freisler, Das Werden des Juristen im Dritten Reich, 1933, S. 20 ff. sowie der Leiter des Lagers, OStA Spieler, DJ 1933, 641 ff. und in: Freisler / Kunisch / Spieler, Das Gemeinschaftslager „Hanns Kerrl“, o.J. [1934], S. 9 ff. 10 Die Eintragung in der Chr. v. 26. 8. 1935 Nr. 5 gibt den Bericht des LGPr Landsberg wieder, die v. 12. 11. 1934 Nr. 8 den des Badischen MJ über die nur wenigen Referendare, die Fachkenntnisse und eine nationalsozialistische Überzeugung aufweisen. Kennzeichnend beschweren sich wegen der Auswirkung auf politisch nicht gefestigte Kameraden SA- und SS-Angehörige unter den Referendaren über einen Vortrag des Berliner Stadtkämmerers Prof. Hettlage wegen kritischer Bemerkungen zur wirtschaftlichen Lage des Reiches (Chr. v. 8. 10. 1937 Nr. 6). 11 Chr. v. 8. 8. 1935 Nr. 5. 12 Chr. v. 24. 10. 1936 Nr. 10. 13 Chr. v. 23. 3. 1937 Nr. 4 (Bericht des OLGPr Düsseldorf), Nr. 5 (Bericht des Schulungsleiters für Gutachten und Berichterstattung). Für Partei und BNSDJ beansprucht Raeke wegen der schlechten Resultate im Lager deren alleinige Zuständigkeit (Chr. v. 7. 3. 1936 Nr. 2).

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entnehmen ist, macht der nationalsozialistische Rechtswahrerbund ausdrücklich gegenüber der Justizverwaltung sein Mitspracherecht geltend.14 2. Berufsausübung Die Begrenzung des Berufsfeldes durch staatliche Vorgaben hat in Deutschland Tradition. Bedeutendster Anwendungsfall für die Zeit bis 1933 ist der Ausschluss einer Vertretung durch Rechtsanwälte im Verfahren vor dem Arbeitsgericht durch das Gesetz von 1926.15 Handelt es sich hier um einen Sieg der Gewerkschaften, schafft der Nationalsozialismus Beschränkungen aus staatspolitischen Gründen, wenn die Gestapo gegen die Sicht des Justiz- wie des Innenressorts eine Vertretung in Schutzhaftsachen untersagt.16 Ungewöhnlich offen greift auch der Oberlandesgerichtspräsident in Celle die Praxis an, im Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten eine anwaltliche Vertretung grundsätzlich auszuschließen, damit im Regelfall auch für Kranke, die sich nicht selbst vertreten können, und kritisiert die zu Grunde liegende Auffassung, „daß der Unfruchtbarzumachende geringere Rechte genieße als jeder Verbrecher“.17 Als Tribut an die Rassenpolitik des Dritten Reiches dürfen Parteigenossen unter den Rechtsanwälten nicht Juden vertreten; sie müssen bei Verstößen mit dem Ausschluss aus der Partei bzw. dem BNSDJ rechnen sowie mit einem Ehrengerichtsverfahren.18 Einzelne, sich zum Teil widersprechende Erlasse der Kammern, aber 14 Reichs-Rechtsanwaltsordnung §§ 5 ff., 9 ff. (RGBl I 1936, 107, 108); zur Forderung des NSRB Raeke (Chr. v. 6. 8. 1936 Nr. 1) und zum Anspruch, einen schematischen Numerus clausus zu überwinden durch ein Programm individueller Auslese, Freisler, DJ 1935, 1793 ff. 15 § 11 I ArbGG (RGBl 1926 I, 507, 509), dazu Wunderlich, German Labor Courts, 1946, S. 52 ff., 71 ff. Zur Kritik nur Kanein, Rechtsanwalt und Sachwalter, 1933, S. 72 ff., die Gemeinsame Erklärung des DAV und des Deutschen Richterbundes (DJZ 1926, Sp. 1758 f.) und die Entschließung der Hochschullehrer des Zivil- und Arbeitsrechts (DJZ 1926, Sp. 230). 16 Beschwerden von Rechtsanwälten behandelt die Chr. v. 7. 5. 1935 Nr. 9 und v. 10. 5. 1935 Nr. 8. Für den BNSDJ kritisiert Raeke die Praxis als unvereinbar mit dem nationalsozialistischen Begriff der Rechtssicherheit und zudem mit dem „natürlichen Rechtsempfinden der nordischen Völker“ (Chr. v. 26. 8. 1935 Nr. 4). 17 Er kritisiert weiter die Praxis, ein Anwalt könne auch nicht zur entscheidenden Frage einer Erbkrankheit Stellung nehmen, da er nicht medizinisch vorgebildet sei (Chr. v. 3. 9. 1936 Nr. 5); Raeke verlangt weitergehend eine im Einzelfall zweckdienliche Zulassung von Armenanwälten (Chr. v. 5. 11. 1936 Nr. 6). 18 Das grundsätzliche Verbot beruht auf einer Entscheidung des Führers, wie der RFSS dem RMJ mitteilt (Chr. v. 9. 11. 1935 Nr. 2) und wird konkretisiert durch den Erlass des StdF von 1938 (JW 1939, 84 f.); die Sanktionen legt der PrRRAK in einem Schreiben an den RMJ dar, das wegen seiner Bedeutung wörtlich in das Diensttagebuch aufgenommen ist (Chr. v. 25. 6. 1937 Nr. 3). Der GenStA Dresden führt ein EG-Verfahren gegen einen Anwalt, der nach dem Bericht des PrRAK Dresden bei Übernahme eines jüdischen Mandats nicht die notwendige Zurückhaltung gewahrt hat (Chr. v. 5. 7. 1937 Nr. 1), und eine Eintragung betrifft das Dienststrafverfahren gegen einen Notar, der sich auf Einladungen jüdischer Mandanten zum Essen und zur Jagd eingelassen hatte (Chr. v. 23. 2. 1938 Nr. 3).

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auch eine im Diensttagebuch notierte Anfrage der Gestapo – gez. Dr. Best – belegen zahlreiche Anwendungsfragen in der Praxis, so bei Sozietäten, Verwaltern jüdischer Vermögen, ausländischen Juden,19 Mischlingen oder für die Bestellung als Armenanwalt.20 Der Präsident der Reichsrechtsanwaltskammer weist auf das Dilemma hin, dass entweder das Vertretungsverbot konsequent durchgeführt wird und dann eine bestimmte Zahl jüdischer Anwälte zugelassen bleibt, oder diese sämtlich ausscheiden, dann aber arische Anwälte jüdische Mandate übernehmen dürfen. Akzeptabel erscheint nur der zweite Weg, die Vertretung jüdischer Interessen nicht auch noch jüdischen Anwälten zu übertragen, „sondern in ihrer Geistesverfassung zuverlässigen Anwälten, damit gerade jüdische Zersetzungen und Methoden von vornherein ausgeschaltet würden“.21 Die Verteidigung von „Staatsfeinden“ wie Internationalen Bibelforschern, Kommunisten, Hoch- und Landesverrätern kann Eingriffe der Partei22 wie der Gestapo provozieren.23 Die Reglementierung der Berufsausübung durch die Partei provoziert auf der anderen Seite, dass Mandanten zu Anwälten abwandern, die nicht in der Partei sind. Die grundsätzliche Problematik ist Anlass einer Besprechung des NSRB mit Staatssekretär Schlegelberger, ohne dass auch dort ein befriedigender Ausweg gefunden werden kann.24 19 Zu einzelnen Ausnahmen Reichsrechtsamt (RRA) der NSDAP, JW 1939, 85 f. und zur Anfrage Bests bzgl. ausländischer Juden Chr. v. 20. 2. 1937 Nr. 3. Rechtsanwälte in Saarbrücken, die ihnen durch das französische Konsulat zugewiesene Franzosen, darunter auch Juden vertreten, ersucht das Gaurechtsamt Saarpfalz, das Mandat niederzulegen, da die Vertretung eines deutschen Anwalts nicht würdig sei (Chr. v. 15. 2. 1938 Nr. 4). 20 Gegen die Sicht des RRA der PrRRAK mit Rücksicht auf kleinere Orte, in denen keine jüdischen Anwälte, dagegen die arischen sämtlich Parteigenossen sind, und auf den Eindruck im Ausland, Juden werde kein Rechtsschutz gewährt (Chr. v. 10. 1. 1938 Nr. 1). Dass sämtliche Anwälte in Greifswald die Beiordnung als Armenanwalt ablehnen, hält ein Anwalt in seiner Eingabe an den RMJ für gesetzeswidrig: „Solange den Juden der Aufenthalt in Deutschland gestattet sei, könne man nicht mißbilligen, daß jemand in Ausübung seines Berufes mit einem Juden in geschäftliche Verbindung trete“ (Chr. v. 24. 1. 1938 Nr. 2). 21 Chr. v. 3. 8. 1937 Nr. 1. 22 Als die für die „Wahrung der Berufsmoral“ zuständige Abteilung beim StdF einem Verteidiger bedeutet, der Mandant sei als „Staatsfeind“ zu betrachten, bleibt dieser dabei, über die Schuld werde „von den Gerichten und nicht vom Büro des Stellv. d. Führers entschieden“, und er werde das Mandat erst niederlegen, wenn die Reichsleitung des BNSDJ die Stellungnahme des StdF als zwingenden Anlass werte (Chr. v. 7. 4. 1936 Nr. 6). 23 Der PrRRAK berichtet über die Niederlegung eines Mandats auf Veranlassung der Gestapo, als Zeugen Jehovas behaupten, bei der Polizei misshandelt worden zu sein und sich der betroffene Beamte im Zeugenstand zunächst auf seine fehlende Erinnerung beruft, dann auf eine interne Dienstangelegenheit und schließlich auf die fehlende Aussagegenehmigung (Chr. v. 21. 6. 1937 Nr. 4). 24 Der Gau Westfalen-Nord des NSRB sieht den Zulauf bei Nicht-Parteigenossen mit Sorge und das Ziel der Partei darin, „daß alle Volksgenossen den Anwälten, die Pg. sind, ihre Angelegenheiten in vollem Vertrauen auf die Verschwiegenheit und Unabhängigkeit des RA. vortragen, denn auf diese Weise werde die Partei von dem ihr angehörigen RA. rechtzeitig

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Die zunehmende staatliche Kontrolle und Disziplinierung der Anwaltschaft verdichtet sich noch 1943 im grundsätzlichen Programm einer „Neuordnung“. Thierack gibt die Richtung vor, die Anwaltschaft nicht zu verbeamten, aber näher an den Staat heranzuführen, „um als Gehilfe des Richters bei der Rechtsfindung zu erscheinen. Habe der Anwalt tadelfrei sein Amt ausgeübt, so müsse er am Ende seines Lebens das Recht auf ein Ruhegehalt haben“.25 Verwirklicht werden noch im selben Jahr die Überleitung der Standesgerichtsbarkeit in die staatliche Disziplinargerichtsbarkeit, das Lenkungsmittel eines ersten – und einzigen – „Rechtsanwaltsbriefs“ und die Möglichkeit, Anwälte mit 65 Jahren zu pensionieren und bei „tadelfreier“ Amtsführung im Sinne Thieracks zu alimentieren. 26 Der zuletzt genannte Reformschritt geht zurück auf einen Vorschlag von Noack. Das Diensttagebuch belegt, wie er 1935 nicht nur diskutiert, sondern aus unterschiedlichen Motiven abgelehnt wird.27 3. Ehrengerichtsbarkeit Ausdruck der mit der Rechtsanwaltsordnung von 1878 erreichten „Freiheit der Advokatur“ war die Ausübung der Disziplinargewalt durch eigene Ehrengerichte, die als Abteilungen des Vorstandes bei den Kammern und als Berufungsinstanz im Ehrengerichtshof beim Reichsgericht gebildet waren. Die Neuorganisation von 1934 macht aus dem EGH und den nachgeordneten Ehrengerichten Exekutivorgane der Reichsrechtsanwaltskammer, bis die Ehrengerichtsbarkeit – in sich folgerichtig – 1943 beseitigt und in die staatliche Disziplinargerichtsbarkeit überführt wird.28 Die Reichsrechtsanwaltskammer schafft die normative Grundlage für eine einheitlich an der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichtete Praxis. Die 1934 von Mißständen erfahren, die der einzelne Vg. [Volksgenosse] selbst aufzudecken sich scheue“ (Chr. v. 16. 6. 1937 Nr. 1 unter [2]). Raeke sucht auch dahin aufklärend zu wirken, dass eine Verteidigung von Kommunisten durch nationalsozialistische Anwälte ordnungsgemäß sei und der heutigen Staatsauffassung entspreche (Chr. v. 29. 5. 1935 Nr. 8). Vgl. zu demselben Problem auch Fn. 40. 25 Diesen entscheidenden Passus aus der Rede in Breslau gibt der PrRRAK wieder in MittRRAK 1943, 1. 26 Zur Dienststrafgerichtsbarkeit und zur Pensionierung VO von 1943 §§ 7, 3 (RGBl 1943 I, 124, 123), Ankündigungserlass des RMJ von 1943 mit Rechtsanwaltsbrief von 1944 bei Boberach (Hrsg.), Richterbriefe, 1975, S. 397 ff. 27 Z. B. protestiert die RAK Dresden (Chr. v. 19. 6. 1935 Nr. 5), verwahrt sich Raeke für den BNSDJ dagegen, „Männer bei voller Schaffenskraft auf unfreiwillige Almosen jüngerer Berufsgenossen zu verweisen“ und schlägt stattdessen den verschärften Abbau der noch über 3.000 zugelassenen jüdischen Anwälte vor (Chr. v. 26. 8. 1935 Nr. 3 und v. 10. 9. 1935 Nr. 4); Bedenken äußert auch das Innenministerium (Chr. v. 24. 10. 1935 Nr. 3). 28 Zum EGH § 90 IV RAO i.d.F. v. 1934 (RGBl 1934 I, 252), zu den Ehrengerichten § 49 RRAO i.d.F. v. 1936 (RGBl 1936 I, 107, 112) und zum Dienststrafsenat des RG VO von 1943 § 7 V (RGBl 1943 I, 124).

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erlassenen und 1938 aktualisierten „Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs“ leiten aus der traditionellen Stellung des Anwalts als „Organ der Rechtspflege“ den Vorrang des Gemeinwohls vor der Verfolgung individueller Interessen ab und untersagen ihm, „offensichtlich unsoziale, undeutsche Rechtsauffassungen“ zu vertreten.29 Noch die Bundesrechtsanwaltskammer setzt die Tradition fort, die Berufsausübung an Grundsätzen zu messen, die als communis opinio der Berufsangehörigen gelten, bis die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit dieses Zustandes einen grundsätzlichen Wandel bewirkt.30 Als konkrete Folgerungen erlangen im autoritären Strafverfahren nicht nur Äußerlichkeiten wie der korrekte „deutsche Gruß“ symbolhafte Bedeutung,31 sondern ist dem Anwalt die einseitige Wahrnehmung von Mandanteninteressen untersagt, die Solidarisierung mit unzulässiger Kritik am System und erst recht eigene staatsfeindliche Kritik.32 Das Diensttagebuch vermittelt darüber hinaus Hintergründe, wenn der Generalstaatsanwalt das Verfahren gegen einen Anwalt und Gauführer des NSRB, der Geld für die Vertretung eines Juden empfangen hat, von der politischen Bewertung durch die Gauleitung abhängig macht33 oder wenn ein Anwalt seinem Mandanten wegen seiner persönlichen Sicherheit von einem Prozess gegen den Ortsgruppenleiter abgeraten hat und eine Erörterung der späteren tatsächlichen Ausschreitungen vermieden werden soll.34 Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung wird auch vorgelegt, dass ein Angeschuldigter in einem Verfahren mit politischen Hintergründen die Ehrenrichter erfolgreich mit der Begründung abgelehnt hat, er sei alter Nationalsozialist, während die Abgelehnten nicht oder erst seit kurzem in der Partei seien.35 Eine in der 29 Vgl. RiL von 1934 (bei Noack, Kommentar zur RRAO, 1936, S. 258 ff.) und von 1938 (Ausg. als Sonderdruck) Vorspruch sowie Nr. 1 S. 2. 30 BVerfGE 76, 171, 187 ff.; die Grundsätze galten als Ausdruck der allgemeinen Standesauffassung (1966 EGH München, EGE [Ehrengerichtliche Entscheidungen] 9, 121), ließen einen Gegenbeweis zu (1954 EGHBrZ, EGE 1, 132, 133) und wurden als bekannt vorausgesetzt (1953 EGHBrZ, EGE 1, 101, 104; 1971 EG Kassel, EGE 12, 140, 142). 31 Seine Karikierung als „Freiübungen“ wird mit einem Verweis geahndet (1935 EGHE 29, 61 f.), ebenso die wiederholte Verweigerung (1937 EGHE 31, 148); soziologisch zur Grußform Allert, Der deutsche Gruß, 2005, S. 80 ff. 32 Bezogen auf Kritik an der Judenverfolgung 1934 EGHE 28, 197, 200, an Schutzhaft gegenüber Zeugen Jehovas 1936 EGHE 30, 106 f. und zur Bezeichnung der Regierung als „Lumpenpack“ 1936 EGHE 30, 219, 221. 33 Bericht des GenStA Karlsruhe, Chr. v. 28. 1. 1938 Nr. 1; der Bericht des GenStA Dresden, Chr. v. 11. 1. 1938 Nr. 1, betrifft die Intervention beim polnischen Konsulat zu Gunsten eines in Schutzhaft genommenen Juden. 34 Der GenStA Rostock möchte daher von einem Verfahren gegen den Anwalt absehen (Chr. v. 26. 4. 1937 Nr. 3). 35 Das EG spricht den Angeschuldigten daraufhin frei (Bericht des OLGPr Breslau, Chr. v. 8. 1. 1935 Nr. 3), und der GenStA beabsichtigt, Berufung einzulegen (Bericht in Chr. v. 30. 1. 1935 Nr. 3).

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Chronik nicht häufige fortgesetzte Berichterstattung gilt dem Ehrengerichtsverfahren gegen Rechtsanwalt Dr. Luetgebrune. Es betrifft neben anderen Vorwürfen die beiden politischen Anschuldigungen, ungeachtet seiner Funktion als Rechtsberater der Obersten SA-Führung einen von den Nationalsozialisten angegriffenen Generaldirektor beraten und unter Berufung auf seine Funktion als Staatskommissar durch unzutreffende Angaben gegenüber der Staatsanwaltschaft die Entlassung eines Mandanten bewirkt zu haben.36 4. Parteigerichtsbarkeit Angehörige der NSDAP als Elite der Volksgemeinschaft unterliegen einer selbständigen Disziplinierung durch die Eigengerichtsbarkeit der Partei mit Kreisbzw. Ortsgerichten als erster Instanz, Gaugerichten als erster Beschwerdeinstanz und dem Obersten Parteigericht als weiterer Beschwerdeinstanz.37 Anwälte interessieren im Zusammenhang dieses Beitrags nicht als Beisitzer am Gaugericht, damit in ihrer Funktion als Parteirichter, die sich an der nationalsozialistischen Weltanschauung orientieren, an politischen Notwendigkeiten und am Wohl der Bewegung.38 Hier geht es stattdessen um die Kontrolle des beruflichen Verhaltens, z. B. hinsichtlich des Verbots, Juden zu vertreten.39 Parteigenossen sind erst recht verpflichtet, ihre Berufsausübung in den Dienst der nationalsozialistischen Sache zu stellen. In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1937 stellt das Oberste Parteigericht „eine grundlegende Änderung der Auffassung über die Pflichten und Rechte des deutschen Anwalts“ fest: er sei „nicht mehr Vertreter einseitiger Interessen seines Mandanten, also in Strafsachen einfach schlechthin Verteidiger, sondern er ist, ebenso wie der Richter, Rechtswahrer, d. h. berufen, dem Recht zum Siege zu verhelfen“.40 36 Bericht des GenStA beim KG als erste Eintragung in der Chr. v. 13. 12. 1934 Nr. 7, fortgesetzt im Referat der Anschuldigungsschrift (Chr. v. 5. 7. 1935 Nr. 3) und abschließend in der Mitteilung, Luetgebrune sei aus der Anwaltschaft ausgeschlossen und mit einem Vertretungsverbot belegt worden (Chr. v. 11. 11. 1935 Nr. 5). Seine Beteiligung an der Diskussion um eine eigene Dienststrafgerichtsbarkeit der SA behandelt Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933 – 1940, 3. Aufl. 2001, S. 416, 426 f. 37 Zum Aufbau und zu den Kontrollfunktionen McKale, The Nazi Party Courts, 1974, S. 150 ff. Amtliches Organ des ObPG ist das Mitteilungsblatt „Der Parteirichter“. 38 Zu den Richtlinien für die Parteigerichte von 1942 Block, Die Parteigerichtsbarkeit der NSDAP, 2002, S. 211 ff., und zum neuen Verständnis der Unabhängigkeit Grimm (Vorsitzender der 2. Kammer des ObPG), Der Parteirichter 1 (1934 / 35), 19. 39 Das RRA stellt fest, Gerichte kümmerten sich häufig nicht um Parteianordnungen und regt an, die RAO entsprechend zu novellieren (Chr. v. 3. 9. 1935 Nr. 8). 40 Die Anwendung auf den konkreten Fall mit politischem Hintergrund bleibt dabei kontrovers: das Gaugericht hatte dem Anwalt die Verteidigung eines Mandanten vorgeworfen, der gegen den Besuch eines Bischofs gerichtete „Heil Hitler“-Rufe der HJ mit „Pfui!“ quittiert und damit „die gemeinsame Front der Partei gegen den politischen Katholizismus ver-

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Das Diensttagebuch enthält zwei unter den Verhältnissen des Dritten Reiches verallgemeinerungsfähige Konfliktsituationen: Streitigkeiten unter Parteigenossen, als ein Referendar und Führer der Jungjuristen einem Ausbilder vorwirft, ihn aus Missgunst schlecht bewertet zu haben,41 und die Erledigung von Verfahren nach rein politischen Kriterien. Als KZ-Häftlinge auf einer Prügelbank mit schweren Folgen misshandelt worden sind, „bemächtigt“ sich, wie es in der Chronik heißt, das Oberste Parteigericht des Falles und lässt durch bloße Verwarnungen „Gnade vor Recht“ ergehen, obwohl die Angeschuldigten das zur Brechung von Widerstand erforderliche Maß überschritten und gegen einen Führerbefehl verstoßen hätten.42 5. Repressalien Disziplinierung bedeutet letztlich, durch von der Partei organisierte Kampagnen dem Druck der Straße ausgesetzt zu werden und durch den Zugriff der Polizei seine Freiheit zu verlieren. Die Chronik, hier ganz als „chronique scandaleuse“, dokumentiert die Verfolgung jüdischer Anwälte.43 Sie spricht von der Furcht, wegen der Vertretung von Juden im „Stürmer“ angeprangert zu werden,44 verzeichnet Übergriffe und Einschüchterungsversuche,45 aber auch den Fall eines lassen“ hatte. Das ObPG hebt die Entscheidung auf, damit nicht „im Gerichtsverfahren Anwälte, die der Partei nicht verpflichtet sind und unter Umständen derselben politischen Geistesrichtung wie der Angeklagte (der Mandant) angehören, diesem Rechtsbeistand leisten“ (Der Parteirichter 4 [1937 / 38], 20). 41 Berichte des OLGPr Rostock und des ObPG in der Chr. v. 7. 2. 1936 Nr. 5 und v. 15. 7. 1936 Nr. 2. 42 Bericht des OStA Wuppertal, Chr. v. 21. 1. 1936 Nr. 2. 43 Als Beispiel nur der Bericht des OLGPr und GenStA Naumburg, der BNSDJ Magdeburg übersende Mandanten jüdischer Prozessanwälte anonym die Druckschriften: „Keine jüdischen Armenanwälte mehr“, „Bedenke, daß Du ein Deutscher bist“ und „Judentum und Sexualverbrechen“ (Chr. v. 23. 5. 1935 Nr. 9). Wie jüdischen Kollegen Rechtsschutz verweigert wird, belegt die Eintragung v. 10. 5. 1937 Nr. 1: der OStA Kassel will für die Verfolgung von Beleidigungen als „Schwindleranwalt“ und „Spitzbube“ wie bei arischen Anwälten das öffentliche Interesse bejahen, ebenso die RAK Darmstadt, dagegen abl. die RAK Frankfurt / M. und der GenStA Kassel, denn „volljüdische Anwälte dürften nicht als Wahrer deutschen Rechts im eigentlichen Sinne angesehen werden“. 44 Z. B. heißt es in einem Artikel, ein Anwalt lebe nach dem Grundsatz, „auch das jüdische Geld stinkt nicht“ (Chr. v. 11. 10. 1937 Nr. 3). Illusorisch bleibt der Wunsch des PrRRAK, die Redaktion solle sich vorher beim Gericht oder bei der RAK nach dem Sachverhalt erkundigen (vgl. Chr. v. 14. 3. 1938 Nr. 1); der OLGPr Hamm berichtet von einer großen Beunruhigung in der Anwaltschaft, ob auch Anwälte, die weder Parteigenossen noch Amtswalter des NSRB seien, Juden vertreten könnten (Chr. v. 23. 5. 1938 Nr. 1). Bezeichnend für das Klima zitiert ein Rechtsanwalt in seiner Eingabe an den RMJ ein Schreiben der Gauführung Celle, sie könne Anwälte, die jüdische Aufträge übernähmen, nicht gegen Angriffe schützen (Chr. v. 13. 9. 1935 Nr. 2). 45 Der Kreisleiter organisiert gegen einen Anwalt, der einen Juden wegen tätlicher Beleidigung seiner arischen Hausangestellten verteidigt, eine Pressekampagne und lässt eine Fens-

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erfolgreichen Protestes gegen eine „Anweisung“ der Gestapo an die Prozessvertreter in einer Arisierungssache. Die „Anweisung für Rechtsanwälte in Sachen Vereinigte Schlesische Granitwerke“ stellt voran, es handele „sich um einen eindeutigen politisch bestimmten, wirtschaftlichen Vorgang im Interesse der deutschen Volkswirtschaft“, und jeder Rechtsvertreter habe „diesem Wollen des Staates unter allen Umständen Rechnung zu tragen“; sie untersagt eine Niederlegung des Mandats und auch nur Andeutungen gegenüber dem jüdischen Auftraggeber. Der Gauleiter rechtfertigt die Maßnahme damit, eine Greuelhetze im Ausland zu vermeiden, doch können die Anwälte nachträglich einen Konsens über die Durchführung der Arisierung und die Rücknahme der von der Gestapo gemachten Auflagen erreichen.46 6. Schutzhaft Wegen ihrer einschneidenden Wirkungen nimmt das Diensttagebuch wiederholt Fälle von Schutzhaft gegen Rechtsanwälte auf. Es verzeichnet zahlreiche, darunter 23 bedeutendere Vorgänge, mehrere mit Folgeeintragungen, und lässt damit auf eine weitaus höhere Zahl von Fällen insgesamt schließen. Die Dokumentation gibt Aufschluss über die Haftgründe, aber auch über das Verfahren in Konkurrenz von Polizei und Justiz; vereinzelt werden auch Reaktionen des Ministeriums sichtbar. Soweit als Haftgrund zum Schutz der „eigenen Sicherheit“47 nicht nur die stereotype „Gefährdung staatspolitischer Belange“, d. h. allgemein staatlicher Interessen auftaucht,48 begegnen zahlreiche Formen politisch oppositionellen Verhaltens: terscheibe in seiner Wohnung einschlagen (Bericht des GenStA Düsseldorf, Chr. v. 29. 8. 1935 Nr. 3); in einem anderen Fall lässt der Kreisleiter nach Strafanzeige gegen seinen Adjudanten Plakate verteilen, der Anwalt empfehle sich „für Dunkelmänner übelster Art“ (Bericht zweier Rechtsanwälte, Chr. v. 19. 7. 1935 Nr. 8). 46 Wegen ihrer Bedeutung sind die Anweisung v. 6. 10. 1937 und folgend das Schreiben der Gauleitung Schlesien an den RMJ v. 26. 10. 1937 als Abschriften in die Chronik aufgenommen (zusammen mit anderen Dokumenten hinter der Eintragung v. 25. 10. 1937 Nr. 1; im Originaltext der Anweisung unter ihrer Nr. 1 heißt es irrig „um einen eindeuten politisch bestimmten . . . Vorgang“); zum Fortgang Chr. v. 4. 11. 1937 Nr. 1. 47 Als ein Rechtsbeistand wegen der „Empörung der Bevölkerung“ über die Vertretung einer Jüdin in Haft genommen wird, macht seine Tochter geltend, sie habe nur Empörung über die Inhaftnahme bemerkt (wiedergegeben in der bemerkenswerten Eingabe eines Anwalts, der sich selbst nicht berechtigt sieht, einem Juden in einer gerechten Sache Rechtsschutz zu verweigern, vgl. Chr. v. 13. 9. 1935 Nr. 2). 48 Chr. v. 30. 8. 1935 Nr. 7; es genügen reaktionäre Bestrebungen (v. 18. 4. 1935 Nr. 13), die Arbeit für einen „mit jüdischen Elementen durchsetzten Grundbesitzerverein“ (v. 8. 6. 1935 Nr. 6), die Vertretung von Lotterieeinnehmern gegen eine Säuberungsaktion durch die staatliche Lotterie (v. 8. 7. 1935 Nr. 2; zur rechtsstaatlich argumentierenden Kritik des BNSDJ Chr. v. 11. 9. 1935 Nr. 5b), das Verhältnis eines jüdischen Anwalts mit einem arischen Mädchen (v. 26. 8. 1935 Nr. 5a, b), unsittliches Verhalten (v. 11. 9. 1935 Nr. 1) oder das unberechtigte Tragen des Eisernen Kreuzes, nachdem der Kreisleiter die Haft angedroht hatte (v. 7. 9. 1935 Nr. 9).

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durch Angehörige früherer Logen, der katholischen Kirche und der Bekenntnisgemeinde,49 aber auch durch Kritik am politischen System, an führenden Persönlichkeiten der Partei oder etwa am Winterhilfswerk50. Unter den Machtverhältnissen im Führerstaat kommt es für die Justizverwaltung darauf an, sich in der Schutzhaftfrage zu behaupten, gerade wenn die ihre Macht rücksichtslos einsetzende Polizei die Haft zur „Korrektur“ gerichtlicher Entscheidungen einsetzt.51 Das Diensttagebuch spiegelt die Bemühungen des Ministeriums wider, zumindest in Fällen, dass die Berufstätigkeit den Zugriff der Gestapo provoziert, vorher benachrichtigt zu werden,52 und kann in Einzelfällen die Überführung in Untersuchungshaft erreichen53.

49 In der Reihung des Textes bzgl. Freimaurern Chr. v. 17. 7. 1935 Nr. 3 und v. 28. 10. 1935 Nr. 5; zur Darstellung in der katholischen Presse, nachdem das Gauehrengericht des BNSDJ das Verfahren vertagt hatte, Chr. v. 23. 8. 1935 Nr. 5 sowie zu abträglichen Äußerungen eines „klerikal“ gesonnenen überzeugten Katholiken v. 10. 9. 1935 Nr. 4; zu Angriffen gegen Funktionäre des Systems durch den Vorsitzenden des Bruderrates der Bekennenden Gemeinde Glogau Eintragungen v. 12. 3. 1937 Nr. 4 und v. 22. 3. 1937 Nr. 4. 50 Einem jüdischen Anwalt wird vorgeworfen, sich missverständlich über das „nationalsozialistische Rechtsempfinden“ geäußert zu haben, während der LGPr Frankfurt / O. und KGPr nur eine Kritik an der missbräuchlichen Verwendung des Begriffs und daher die Schutzhaft als nicht gerechtfertigt sehen (Chr. v. 9. 11. 1936 Nr. 2). Weiter genügt für die Gestapo, dass ein Anwalt dem Polizeibeamten, der wegen der Unterzeichnung einer Vollmacht eine Szene macht, entgegnet: „Bitte schreien Sie mich nicht so an!“ (Chr. v. 2. 12. 1936 Nr. 1) und ein anderer sich bei einer Sammlung über das Winterhilfswerk lustig macht (v. 23. 12. 1936 Nr. 2). 51 Der Chr. v. 13. 7. 1937 Nr. 2 zufolge verteidigt ein Anwalt im Prozess gegen einen katholischen Geistlichen einen Mitangeklagten, spricht bei der Erörterung, wieweit das neue Volksempfinden trotz zwischenzeitlicher Verjährung eine Bestrafung verlange, von einem „Schauprozess“, wird weder vom AG Trier noch vom SG Köln in Untersuchungshaft genommen, jedoch daraufhin von der Gestapo in Schutzhaft. 52 Wird der RMJ zunächst noch wegen der Bewertung des beruflichen Verhaltens konsultiert (z. B. Anfrage des Sächsischen MI, Chr. v. 16. 8. 1935 Nr. 4 sowie v. 16. 10. 1935 Nr. 2, oder der Gestapo, wieweit alternativ ein ehrengerichtliches Verfahren in Betracht kommt, Chr. v. 19. 8. 1935 Nr. 7 und v. 17. 10. 1935 Nr. 3), geht es bald nur noch um die Benachrichtigung (nach dem Bericht der Gestapo in Chr. v. 28. 9. 1935 Nr. 4; sie entfällt z. B. im Prozess des Heereswaffenamtes gegen die Waffenfabrik Suhl, als der Führer Gauleiter Sauckel mit der Wahrnehmung der Interessen des Reiches beauftragt und der als Generalbevollmächtigte der Fabrik fungierende Rechtsanwalt in Schutzhaft genommen wird: Chr. v. 8. 11. 1935 Nr. 6 und v. 5. 12. 1935 Nr. 5). 53 Z. B. Bericht des KGPr und GenStA bzgl. eines Anwalts, dem widernatürliche Unzucht vorgeworfen wird (Chr. v. 25. 7. 1938 Nr. 8). Als ein schwer misshandelter Rechtskonsulent nach strafrechtlicher Amnestierung der Täter wegen Schadensersatzes klagt und einen Tag vor dem Termin in Schutzhaft genommen wird (Heydrich beruft sich dagegen dem RMJ gegenüber auf die Gefahr neuer Unruhen, da der Verletzte „als vielfach vorbestrafter, asozialer und streitsüchtiger Unruhestifter und Ausbeuter unrühmlichst bekannt und verhaßt sei“), gibt das Ministerium Anweisung, einen Haftbefehl zu erwirken (Chr. v. 28. 1. 1938 Nr. 2).

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V. Theoriebildung Geht man von den normativen Quellen der Berufstätigkeit aus, wie sie gesetzliche Regelungen in der Rechtsanwaltsordnung, Verwaltungserlasse der Justiz und Verfügungen der Kammern enthalten, und bezieht man die Rechtsprechung ein, wie die der Ehrengerichte und Parteigerichte, werden die Voraussetzungen sichtbar, unter denen sich die Tätigkeit von Anwälten entfalten kann. Einzelvorgänge, wie sie in jüngster Zeit durch Auswertung von Personalakten rekonstruiert werden konnten, belegen die Umsetzung in Einzelfällen, damit die Praxis der Berufstätigkeit und im Interesse einer „ganzen Geschichte“ die Ausweitung von der Perspektive der Opfer auch auf die der Täter.54 Dieses Quellenmaterial lässt in seiner Gesamtheit Tendenzen erkennen, um Fragen nach der Haltung der Anwaltschaft im Führerstaat zu beantworten. Sollen derartige Aussagen verallgemeinert werden, setzt das in einem weiteren Schritt voraus, Deutungen der Phänomene aus bestimmten theoriegeleiteten Prämissen zu entwickeln. Sie stammen weder aus der traditionellen Rechtsgeschichte, soweit sie sich eher am Rande mit der Geschichte einzelner juristischer Berufe befasst,55 noch liegen sie zahlreichen Einzelbeiträgen zur Anwaltsgeschichte zu Grunde, die ihre regionale Herkunft nicht verleugnen können. Die Theoriebildung ist der Rechtssoziologie vorbehalten,56 die seit längerem, ohne damit nennenswerte Beachtung gefunden zu haben, die Untersuchung einer beruflichen Elite wie der Anwaltschaft zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt hat. Ursprünglich bestimmend ist dabei der Gesichtspunkt der Professionalisierung. Sie wird gesehen in einer Ausbildung, die durch fachspezifisches Wissen Qualitätsmerkmale begründet, in der Zertifizierung durch staatlich geregelte Prüfungen, in der Autonomie von Gremien, die ihre Legitimation auf die Wahl durch die Berufsangehörigen gründen, und in einem eigenen Standeskodex, der sich an Interessen des Gemeinwohls orientiert.57 Wie der Kontext deutlich macht, sind derartige Kriterien zugeschnitten auf die durch ihre hohe Selbstorganisation und weitreichende Autonomie geprägte Bar in 54 Für Berlin Königseder (o. Fn. 6), S. 211 ff., für Celle Rüping, Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus, 2007, S. 25 f. 55 Zu den aus einer Institutionengeschichte folgenden nur begrenzten Aussagen Ledford, From General Estate to Special Interest: German Lawyers 1878 – 1933, 1996, S. XXVI, und kritisch zu dem durch eine anwaltliche Jubiläumsliteratur vermittelten Bild McClelland, Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland, in: Conze / Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 1985, S. 235; grundlegend dagegen von einem rechtssoziologischen Ansatz etwa zur Mentalität von Ausschließungsstrategien Siegrist, Advokat, Bürger und Staat, 1996, S. 617 ff., 686. 56 Das besondere Interesse, das der Jubilar dieser Festschrift diesem Feld gewidmet hat, belegt bereits seine 1972 erschienene Göttinger Dissertation „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ für die Frage der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens. 57 Zu derartigen Kriterien McClelland (o. Fn. 55), S. 240 ff., Ledford (o. Fn. 55), S. XXIII, 202.

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England und Amerika, passen jedoch weniger auf Erscheinungs- und Organisationsformen der Anwaltschaft im kontinentalen Europa. Die Kriterien müssen daher hinsichtlich der konkreten Verwirklichung ständischer Vergesellschaftung modifiziert werden zu Gunsten eines Ansatzes, der nationalen Traditionen und abweichenden Entwicklungen in Staaten Mitteleuropas Rechnung trägt.58 Bezogen auf Deutschland stellt sich die klassische Freiheit der Advokatur hier nicht als eine von der Korporation behauptete Autonomie dar, sondern als eine vom Staat gewährte Freiheit. Prägend sind der Ausgang von einer Aufsicht der Gerichte über die Anwaltschaft im 18. Jahrhundert, die auch nach der Schaffung von Kammern reale Präsenz des Staates in Gestalt des Staatsanwalts als Anwalts staatlicher Belange, das Experiment mit staatlichen „Assistenzräten“ in Preußen und die bis Ende des 19. Jahrhunderts ungebrochene Klassifizierung der Advokaten als „Staatsdiener“.59 Der Staat lässt Advokaten nach Höchstzahlen bzw. nach Bedürfnis zu und sichert mit der Absage an eine freie Konkurrenz den Besitzstand der Zugelassenen aus der Erwägung, „daß kein Proletariat für den Staat schädlicher wirken kann, als eines im Anwaltsstande“.60 Die Rechtsanwaltsordnung von 1878 verwirklicht liberale Vorstellungen Gneists im Sinne einer Zulassung ohne Begrenzungen durch Höchstzahlen und Bedürfnisprüfung, dafür mit der Selbstorganisation durch Kammern. Wegen des Vertrauens auf die Selbstregulierung durch die freie Konkurrenz nimmt Gneist eine mögliche Überfüllung in Kauf, ist doch „die Staatsverwaltung von jedem Vorwurfe befreit, wenn der Einzelne durch freie Wahl in Noth geräth, weil er sich in dem Berufe oder in dem Orte seiner Thätigkeit vergriffen hat“.61 Als Folge des 1. Weltkriegs wird diese dem klassischen Liberalismus entstammende Prämisse zweifelhaft und stattdessen vom Staat die wirtschaftliche Siche58 Zur Methode Rüschemeyer, Comparing Legal Professions Cross-nationally: From a Professions-centered to a State-centered Approach, in: American Bar Foundation, Research Journal 3 (1986), 415, 417, 437; Halpérin, Avocats et notaires en Europe: Les professions judiciaires et juridiques dans l’histoire contemporaine, 1996, S. 95, 301. 59 Als Beispiel in Hannover zur Aufsicht über das berufliche wie außerberufliche Verhalten VO von 1832 § 12 I 1 (Gesetz-Sammlung 1832, 45 ff.) und zum freien Zutritt des Staatsanwalts zu Sitzungen der Kammer Gesetze von 1850 § 3 I, III und von 1859 §§ 2 I, 11 (Gesetz-Sammlung 1850, 589, 590; 1859, 239); in Preußen zu Assistenzräten Corpus Juris Fridericianum, 1781, Vorbericht S. XXV, Tl. 3 Tit. 3 §§ 24, 26, sowie zur Klassifizierung der Anwälte als Staatsdiener Anhang zur allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten (AGO 1795), 1815, § 462. 60 Stellvertretend für die Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts vor Inkrafttreten der RAO von 1878 H[aenle], JW 1872, 233, 235, weiter v. Wilmowski, PrAnwZ 1862, 49, 52. 61 Gneist, Freie Advocatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen, 1867, S. 52 ff., 90. Vgl. in der RAO zur Zulassung §§ 1 ff., zur Kammerorganisation §§ 41 ff. (RGBl 1878, 177 ff., 185 ff.) und dazu Schubert, Entstehung und Quellen der Rechtsanwaltsordnung von 1878, 1985, S. 40 ff.

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rung der Anwaltschaft als eines Organs der staatlichen Rechtspflege erwartet.62 Die allgemeine Notlage in der Inflationszeit spitzt die bereits kurz nach der Jahrhundertwende einsetzende und seit 1913 durch die Einführung der Gewerbesteuer in mehreren Ländern geschärfte Diskussion um einen Numerus clausus zu auf die Schicksalsfrage der Anwaltschaft, in der Kontingentierung von Bewerbern die Voraussetzung der Freiheit für die „beati possidentes“ zu erblicken.63 Vor diesem Hintergrund kommt es 1932 zu der als schicksalhaft empfundenen Wende, dass die Abgeordnetenversammlung des DAV mit überwältigender Mehrheit für eine sofort greifende Zulassungssperre und einen anschließenden Numerus clausus votiert. Der Haltung der Mehrheit, nur auf diesem Wege das Überleben des Berufsstandes sichern zu können, fasst der Präsident des DAV Dix in die Formel: „Für die Freiheit der Advokatur. Deshalb numerus clausus!“64 Die Bereitschaft, sich für staatliche Interventionen zu öffnen, ist 1932 in den wirtschaftlichen Verhältnissen angelegt, wird aber durch die Entwicklung in Deutschland erleichtert, Anwälte nicht primär als Vertreter privater Interessen zu sehen, sondern als Sachwalter im Dienst des Rechts.65 Die Reformdiskussion in der Weimarer Zeit, die Kammerverfassung zu ersetzen durch eine selbstverfasste genossenschaftliche Organisation,66 fällt in die Zeit großer Namen wie Max Alsberg, Max Friedlaender, Sigbert Feuchtwanger, Max Hachenburg oder Hans Litten, bleibt jedoch kurzlebig und ohne sichtbare Wirkung. Sieht man von diesem Versuch einer grundlegenden Neuordnung ab, begründet die traditionelle Staats62 Kennzeichnend erscheinen die Entschließung der Vertreterversammlung des DAV (bei Lemberg, JW 1918, 385, 386) und die Eröffnung zusätzlicher Berufsfelder als Testamentsvollstrecker, Konkurs- und Nachlassverwalter durch die AV des PrMJ betr. Hebung der wirtschaftlichen Lage der durch den Krieg geschädigten Rechtsanwälte (PrJMBl. 1919, 67). 63 Für einen Numerus clausus bereits Kulemann, DJZ 1910, Sp. 118 ff.; Noest, JW 1910, 217 ff.; 1911, 619 f. Doch behält die einflussreich von Max Friedlaender vertretene liberale Gegenposition (JW 1910, 96) noch die Oberhand. Überblick über die landesrechtliche Gewerbesteuer, die als konform mit der Reichsverfassung (StGH, RuPrVwBl 1931, 1038 f.) und mit dem Reichsrecht gilt (RFHE 29, 110, 112 f., PrOVGE 89, 15, 20 ff.), bei Raudenbusch, Die Gewerbesteuer der sogenannten freien Berufe, insbesondere der Rechtsanwälte und Ärzte, 1933, S. 11. Grundsätzlich zu „Krisis und Jubiläum“ Feuchtwanger, JW 1929, 3131 f. 64 Text der Ansprache in AnwBl. 1931, 293 f., Text der Beschlüsse von 1932 in JW 1932, Beil. zu H. 51 / 52, S. 16. 65 Übereinst. Siegrist, Gebremste Professionalisierung, in: Conze / Kocka (o. Fn. 55), S. 301, 309; Dölemeyer, Anwaltliche Ehrengerichtsbarkeit in vorauseilendem Gehorsam, in: Laurent / Padoa Schioppa / Simon (Hrsg.), Officium advocati, 2000, S. 37, 50. Zur Abhängigkeit einer sozialen Ehre von stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, S. 534 ff., und zur zeitgleichen Erschütterung des Berufsethos’ in Frankreich durch die Weltwirtschaftskrise Halpérin (o. Fn. 56), S. 309; Karpik, Les Avocats: Entre l’Ètat, le Public et le Marché, 1995 (engl. Ausg.: French Lawyers, 1999, S. 140). 66 Vgl. Beiträge von Feuchtwanger, Die freien Berufe, 1922, S. 546 ff., und Heilberg (JW 1927, Beil. hinter S. 1968 [S. 29]), kritisch insbesondere zum tradierten Standesrecht Bendix, Die Justiz 2, 317 ff. (unter Orientierung an der WRV).

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nähe der Anwaltschaft in Deutschland eine Kontinuität, die weit vor der Zeit des Nationalsozialismus angelegt ist und sich über sie hinaus fortsetzt. Nach 1945 gelten in der Britischen Zone die Beschlüsse des Jahres 1932 als nicht nationalsozialistisch und erscheint erneut ein Numerus clausus als unverzichtbar, um den Stand vor einer Proletarisierung zu bewahren. Die seinerzeit an den Beschlüssen maßgeblich beteiligten Akteure können gegen Vorstellungen der Militärregierung, die mit einer nicht staatlich reglementierten Zulassung der eigenen Tradition entstammen, durchsetzen, dass es bei staatlichen Zulassungsbeschränkungen bleibt. Erst die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit in Art. 12 GG schafft das Fundament für die Wende, als die Bundesrechtsanwaltsordnung von 1959 Zugangsbeschränkungen beseitigt.67 Vor diese Befunde gestellt, sind die im Diensttagebuch des Reichsjustizministers festgehaltenen Innenansichten des Regimes, hier beschränkt auf den Bereich der Anwaltschaft, nicht zufällige Splitter aus der aktenmäßigen Überlieferung, sondern Ausdruck eines erheblich weiter zurückreichenden Weges in Deutschland.

67 Nachw. aus dem Celler Material bei Rüping (o. Fn. 54), S. 206 und zur Genese der BRAO (vgl. § 20 II, BGBl. 1959 I, 565, 576) S. 210.

„Chancenvollzug“ am Beispiel von Niedersachsen Von Hans-Dieter Schwind* Die Geschichte des Freiheitsentzuges lässt eine Gesetzmäßigkeit im Sinne von Wellenbewegungen erkennen, die darin besteht1, dass – im Strafvollzug Missstände auftreten (erste Stufe), die – Reformvorstellungen und Reformversuche auslösen (zweite Stufe), die – am fehlenden Geld schließlich scheitern bzw. zu Gegenbewegungen führen, die zwar keine Missstände begünstigen wollen, aber vor einer Humanisierung des Strafvollzugs generell warnen bzw. die entsprechenden Bemühungen als übertrieben zurückschneiden wollen oder / und Sicherheitsüberlegungen in den Vordergrund rücken, die die Reformen ersticken (dritte Stufe).

Die zweite Stufe wurde mit der Verabschiedung des Strafvollzugsgesetzes (vom 16. März 1976) erreicht.2 Mit diesem Gesetz, das am 1. Jan. 1977 in Kraft trat, reagierte der Gesetzgeber auf Druck des Bundesverfassungsgerichtes3 auf Missstände (Gefangenenskandale), die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts über die Medien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden4. Das StVollzG, das als Bundesgesetz die Durchführung des Strafvollzuges den Ländern zuweist (§ 139), formuliert in seinem § 2 Satz 1 das Vollzugsziel wie folgt: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Dieses in der Fachwelt für den Erwachsenenstrafvollzug oft auch als „Resozialisierung“ bezeichnete Vollzugsziel der sozialen Integration ist im geltenden Jugendstrafrecht als Ziel der „Erziehung“ verankert (§ 91 Abs. 1 JGG).5 * Diesen Beitrag widmet der Verfasser dem auch am Strafvollzug interessierten Jubilar zu seinem 70. Geburtstag in Erinnerung an gemeinsame Zeiten an den Universitäten Göttingen und Bochum. 1 Vgl. Schwind, Zur historischen Entwicklung des Strafvollzuges, in: Gesellschaft für Rechtspolitik / Bitburger Gespräche (Jahrbuch 1986 / 2), 1986, S. 13. 2 BGBl. I, 581. 3 BVerfGE 33, 1 ff. 4 Z. B. die Zustände in der „Glocke“, der berüchtigten Beruhigungszelle im Dachgeschoß des Hamburger Untersuchungsgefängnisses oder die menschenunwürdigen Haftbedingungen im alten Kölner „Klingelpütz“ (vgl. dazu Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969). 5 So BVerfG NJW 2006, 2093, 2096.

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Der Gesetzgeber hat den Begriff der Resozialisierung selbst zunächst6 nicht benutzt. Die Bundesregierung hat in der Begründung ihres Gesetzentwurfs nur von „Behandlung“7 gesprochen, durch die das Vollzugsziel der sozialen Integration erreicht werden soll. Vom „Chancenvollzug“ war im Strafvollzugsgesetz und in seiner Begründung hingegen noch keine Rede. Dass die Thematik für diesen Beitrag gleichwohl gewählt wurde, hat damit zu tun, dass der Niedersächsische Landtag am 13. Dezember 2007 ein „Gesetz zur Neuregelung des Justizvollzuges“8 (NJVollzG) verabschiedet hat, in dem der „Chancenvollzug“ nun ausdrücklich als Aufgabe des Strafvollzuges erwähnt wird. Die Diskussion des Entwurfes dieses Gesetzes wurde aber nicht nur im Parlament, sondern zuvor im Rahmen einer (schriftlichen) Verbandsbeteiligung9 und einer (mündlichen) Expertenanhörung10 geführt, und zwar auch vor dem Hintergrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 200611 zur gesetzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs (bis zum 31. Dez. 2007), die bisher gefehlt hatte. I. Zur Konzeption des „Chancenvollzuges“ Der Begriff des „Chancenvollzuges“ stammt aus der zweiten Amtszeit der niedersächsischen Landesregierung Dr. Ernst Albrecht (1978 – 82) und wurde (im Anschluss an Hinweise des BVerfG)12 vom damaligen Justizminister verwendet13. Seither wird er im Schrifttum (allerdings mit unterschiedlicher Inhaltsbestimmung) benutzt.14 Später wurde der Begriff z. B. im Rahmen des § 9 Abs. 2 Satz 1 StVollzG verwendet. BT-Drucks. 7 / 918, S. 41; dieser offene Begriff wird in § 3 StVollzG durch Grundsätze für die Gestaltung des Strafvollzugs konkretisiert: durch den Angleichungsgrundsatz, den Gegensteuerungsgrundsatz und den Integrationsgrundsatz. 8 Die Basis bildete ein Gesetzentwurf der niedersächsischen Landesregierung, Drucks. 15 / 3565 mit Begründung vom 22. Februar 2007. 9 Stellungnahmen von Gruppen und Verbänden, die in die Begründung des NJVollzG eingearbeitet wurden (im Folgenden zitiert als Verbandsbeteiligung mit Seitenangabe der Begründung). 10 Der Landtag hatte den Gesetzentwurf in seiner 113. Sitzung am 7. März 2007 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für „Rechts- und Verfassungsfragen“ sowie zur Mitberatung an den Unterausschuss „Justizvollzug und Straffälligenhilfe“ überwiesen. Diese haben in einer gemeinsamen Sitzung am 2. und 3. Mai 2007 eine Anhörung durchgeführt (im Folgenden zitiert als Anhörung mit Seitenangabe aus der entsprechenden Niederschrift). 11 BVerfG NJW 2006, 2093, 2096. 12 Z. B. BVerfGE 35, 202; 98, 169. 13 Vgl. dazu z. B. Schwind, Ergebnisse der niedersächsischen Justizpolitik in den letzten 4 Jahren, in: Niedersächsische Rechtspflege Nr. 3 (vom 15. März 1982), S. 15; ders., BewHi 1981, 351; ders., ZfStrVo 1988, 259 ff. 14 Von „Chancenvollzug“ sprechen z. B. (später) auch Müller-Dietz, Abschied vom Resozialisierungsgedanken?, in: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Heft 16, 1995, 6 7

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1. Begriffsbestimmung Unter „Chancenvollzug“ ist eine Form des Behandlungsvollzuges zu verstehen, die nicht nur die aktive Rolle der Vollzugsbehörde bei der Eröffnung von Resozialisierungschancen betont, sondern auch die Mitwirkungspflicht bzw. das Mitwirkungsgebot des einsitzenden Straftäters, seine Resozialisierung zu fördern (Postulat aus dem Integrationsgrundsatz des § 3 Abs. 3 StVollzG).15 Behandlung ist jedenfalls kein Selbstzweck (i. S. nur passiver Beteiligung des Gefangenen), sondern eine zielgerichtete Betreuung (mit dem Ziel der Rückfallverhütung), die naturgemäß ohne aktive Beteiligung des Inhaftierten nicht Erfolg haben kann. Von „Chancen wahrnehmen“ spricht übrigens auch das BVerfG.16 Als „Chancenvollzug“ ist dementsprechend (erstens) ein Behandlungsvollzug zu verstehen, der für den (insbesondere jungen) Strafgefangenen (vielerlei) Chancen eröffnet, deren Wahrnehmung die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert. Der Begriff des Chancenvollzuges impliziert ferner (zweitens), dass der (junge) Strafgefangene vor die Wahl gestellt wird, die Angebote des Staates (bzw. der Vollzugsbehörde) anzunehmen (sich darauf einzulassen) oder auch nicht. Die Konzeption des Chancenvollzuges lässt sich (drittens) vor allem im Jugendstrafvollzug realisieren, und zwar dort auch im Rahmen (nachholender) Erziehung (Erziehung als Chance). Was insoweit (noch) getan werden muss, hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich in seiner Entscheidung vom 31. Mai 200617 beschrieben. 2. Angebote (Chancen) Die Angebote können sich sowohl auf verhaltensändernde als auch auf qualifizierende Maßnahmen beziehen. a) Im Rahmen der Qualifizierungsangebote muss sich die Vollzugsbehörde bemühen, geeignete Aus- bzw. Fortbildungsgänge zur Verfügung zu stellen. „Geeignet“ bedeutet: auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt und für den Gefangenen (z. B. gemessen an seiner Begabung) erlernbar. So bieten z. B. die Berufe des Maurers, Malers, Tischlers oder Kochs relativ gute Möglichkeiten, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erreichen. Der Beruf des Bäckers ist hingegen problematisch, weil man dafür früh aufstehen muss, was Strafgefangenen wahrscheinlich weniger als anderen gelingt. Eine Ausbildung zum Schweißer (für Einbrecher) ist S. 111 und 109; ferner Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rn. 582; Meyer, ZfStrVo 1987, 4 ff. 15 Diese Definition hat der Verfasser dieses Beitrages im Rahmen der Anhörung (o. Fn. 10, S. 5 ff.) verwendet. 16 Z. B. BVerfGE 35, 202; 98, 169. 17 BVerfG NJW 2006, 2093, 2096.

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aus anderen Gründen nicht zu empfehlen. Ob das Vorurteile sind, lässt sich allerdings derzeit mangels entsprechender Forschung nicht zuverlässig ermitteln. b) Chancen, die sich auf eine Verhaltensänderung beziehen, können sich über Therapien erschließen, z. B. über ein Antigewalt-Trainings-Programm. 3. Rechtsfolgen bei Pflichtenverstoß Beide Pflichten sind nicht einklagbar: weder die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, Angebote bereitzustellen, noch die Mitwirkungspflicht des Gefangenen. Die Vollzugsbehörde kann aber auf politischem Wege (etwa im Landtag) bzw. (mit Hilfe der Medien) in der Öffentlichkeit an ihre Verpflichtung erinnert werden. Fraglich ist, wie mit Gefangenen umzugehen ist, die sich dem Mitwirkungsgebot bzw. ihrer Mitwirkungspflicht entziehen. Für diesen Fall hat der Gesetzgeber eine weitere Verpflichtung der Vollzugsbehörde vorgesehen. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 StVollzG wird der Vollzugsbehörde nämlich für diesen Fall aufgegeben, die Bereitschaft des Gefangenen zur Mitarbeit weiterhin „zu wecken und zu fördern“. Fraglich ist ferner, ob sich die entsprechenden Bemühungen über den gesamten Zeitraum der Haft erstrecken müssen oder (z. B. aus Kostengründen) nur befristet. Insoweit könnte differenziert werden: a) Im Jugendstrafvollzug müssen die Motivationsversuche die ganze Haftzeit begleiten. Junge Menschen sind oft noch nicht in der Lage zu entscheiden, was für ihre spätere Eingliederung in die Gesellschaft förderlich ist und was nicht. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 31. 5. 200618 betont, dass sich „Jugendliche biologisch, psychisch und sozial (noch) in einem Stadium des Überganges (befinden), das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten . . . verbunden ist“. Zudem stehe der Jugendliche noch in einem „Alter, in dem nicht nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind“. Diese anderen Personen sind in der Regel die Eltern oder andere nahe Bezugspersonen, die ihn, wenn er nicht im Strafvollzug einsitzen würde, beraten könnten. Auch aus diesem Grunde ist die Forderung des BVerfG, „erweiterte Besuchskontakte für familiäre Kontakte“ einzuräumen19, durchaus sinnvoll. Die Besuchszeiten, die das StVollzG bisher dafür vorsieht, sind zu kurz. Deshalb muss die Vollzugsbehörde die Beratungsaufgabe selbst wahrnehmen, und zwar unbefristet, aber möglichst im Kontakt vor allem mit den Eltern des Inhaftierten. b) Bei erwachsenen Straftätern dürfte sich hingegen eine andere Betrachtungsweise aufdrängen. Erwachsene Menschen können eher als jüngere übersehen, welche Angebote für ihr späteres Leben eine Chance darstellen. Deshalb wird vom 18 19

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Verf. die Meinung vertreten, dass der erwachsene Straftäter nicht ständig an seine Mitwirkungspflicht erinnert werden muss. So dürfte es (auch für einen antriebsarmen) erwachsenen Inhaftierten ausreichen, wenn er im Rahmen der Fortschreibung des Vollzugsplans über neue Angebote informiert und an herkömmliche erinnert wird. Im Übrigen hat der erwachsene Straftäter (wie jeder andere Staatsbürger auch) das Recht, „in Ruhe gelassen“ zu werden, wenn er an allen Angeboten nicht interessiert ist. c) Für erwachsene Totalverweigerer verbleibt nur die Grundversorgung der Anstalt; ob das auch für jugendliche Insassen gelten darf, die spezielle Resozialisierungsangebote immer wieder zurückweisen, ist umstritten. Zur Grundversorgung gehören insbesondere: eine menschenwürdige Unterbringung (aber kein „Hotelvollzug“), gesunde und hinreichende Verpflegung, gesundheitliche Betreuung sowie eine (sinnvolle) Beschäftigung. Bei einer Grundversorgung ohne Beschäftigung sprechen wir von „Verwahrvollzug“. Danach ergeben sich folgende Stufen der Vollzugsgestaltung. – Chancenvollzug (bzw. sonstige Angebote des Behandlungsvollzuges), – Grundversorgung, – Verwahrvollzug.

II. Zur Geburt des „Chancenvollzugs“ in Niedersachsen (1978 – 1982) In seiner Regierungserklärung vom 28. Juni 197820 hat der damalige Ministerpräsident Dr. Ernst Albrecht die Aufgaben der Justizpolitik in Bezug auf den Strafvollzug für die anstehende Legislaturperiode u. a. wie folgt beschrieben: – Sicherheit gewährleisten, – Behandlungsvollzug etablieren und – Entlassenenhilfe ausbauen.

Weiter hieß es: „Da die Bemühungen um die Wiedereingliederung von Gefangenen schon aus Gründen der Plausibilität bei jugendlichen Straftätern und erstbestraften Erwachsenen immer noch am meisten Erfolg versprechend erscheinen, soll hier ein besonderer Schwerpunkt der Resozialisierungsversuche liegen.“21 Damals ging es darum, das neue Strafvollzugsgesetz mit seinen Postulaten in die Praxis umzusetzen, und zwar mit neuem Leitungspersonal. Insoweit wurde erstmalig22 ein Kriminologe und Strafvollzugswissenschaftler zum Landesjustizminis20 Abgedruckt in der Beilage zum Niedersächsischen Ministerialblatt Nr. 30 vom 13. Juli 1978. 21 Regierungserklärung (o. Fn. 20).

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ter berufen, der seinerseits eine Forschungs- und Planungsgruppe aufbaute, die sich, was den Strafvollzug anbelangte23, an der Aufgabe orientierte, (mit dem Ziel der Rückfallverhütung) Resozialisierungsangebote zu entwickeln bzw. vorhandene auszubauen, ohne die Sicherheit zu gefährden. Der Gedanke des „Chancenvollzuges“ stand Pate dabei, und zwar auch insoweit, als die Leitlinie galt, den Strafvollzug nicht nach dem „Gießkannenprinzip“ mit Finanzmitteln zu versorgen, sondern bei der Förderung Schwerpunkte zu bilden. Primär gefördert bzw. weiter entwickelt wurden vor allem folgende (chancenorientierten) Maßnahmen: – schulische Bildungsangebote, – Angebote beruflicher Aus- und Weiterbildung, – Angebote, die das soziale Lernen betreffen und solche der Sozialtherapie, – Maßnahmen, die zum Ziel haben, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten, – Anregungen zur sinnvollen Freizeitbeschäftigung, – Wohngruppenvollzug und – Entlassenenhilfe.

1. Zu den einzelnen chancenorientierten Angeboten Auch wenn der Chancengedanke bei der Etablierung der Angebote zunächst noch nicht im Vordergrund stand, wurde er am Ende der Legislaturperiode als Leitlinie mit Zukunftscharakter besonders betont.24 a) Chancen der schulischen und beruflichen Bildung und Ausbildung wurden insbesondere in der 1980 (im Beisein des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens25) ihrer Bestimmung übergebenen Jugend(straf)anstalt26 Hameln (JA Hameln) eröffnet. Jugendliche Straftäter, die die Voraussetzungen dafür mitbrachten, können noch heute dort z. B. folgende Berufe erlernen: Maler, Maurer, Tischler, KfzMechaniker. Solche Berufe waren auf dem Arbeitsmarkt (damals) gefragt. Um qualifiziert bis zur Gesellensprüfung ausbilden zu können, wurden Handwerks22 Der Bochumer Hochschullehrer Hans-Dieter Schwind; 21 Jahre später (1999) wurde in Niedersachsen zum zweiten Mal ein Kriminalwissenschaftler in dieses Amt berufen, nämlich der Kriminologe und Strafvollzugswissenschaftler Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). 23 Zu außervollzuglichen Präventionsprojekten, die die Planungs- und Forschungsgruppe (unter Leitung von Gernot Steinhilper) aufbaute, vgl. Bd. 2 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Ministeriums der Justiz, Heidelberg 1982. 24 Vgl. Schwind, Ergebnisse (o. Fn. 13), S. 15. 25 Der (vom Justizminister des Landes) arrangierte Besuch war auch als Signal für den Chancenvollzug gedacht. 26 Um Chancen bei (legalen) Außenkontakten nicht zu gefährden, wurde die Anstaltsbezeichnung, auf Vorschlag des damaligen Anstaltsleiters Gerhard Bulczak auf „JA“ verkürzt.

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meister verschiedener Richtungen in den Strafvollzug eingestellt. Die Chancen wurden von einer Reihe von Straftätern, wie die Statistik zeigt, entsprechend genutzt27. b) Intensiviert worden ist auch der „Wohngruppenvollzug“. Zahlreiche Jugendliche und Heranwachsende, die im Jugendstrafvollzug einsitzen, haben ein (intaktes) familiäres Familien- und Wohnumfeld nicht kennen gelernt. Soziale Fähigkeiten wurden ihnen in der Herkunftsfamilie nicht oder zu wenig vermittelt. Zu diesen gehören z. B. Selbstbeherrschung, Frustrationstoleranz, Bedürfnisaufschub, Durchhaltevermögen, Konfliktfähigkeit, Empathie und Rechtsgefühl. Der Wohngruppenvollzug kann solche Defizite nicht beheben, aber in familiärer Atmosphäre (im Idealfall) gegenzusteuern versuchen. Damit ein solches Angebot des Chancenvollzuges Erfolg haben kann, ist aber Bedingung, dass qualifiziertes Personal „rund um die Uhr“ zur Verfügung gestellt werden kann. Sonst kommt es leicht zu Quälereien.28 c) Zum Chancenvollzug gehört ferner das Gewöhnen an eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, die viele Gefangene in ihrem bisherigen Leben kaum kennen gelernt haben und deshalb schon als Jugendliche eher gelangweilt auf der Straße herumhingen und den Kick in Straftaten suchten. Zu solchen Möglichkeiten gehören z. B. Angebote des Sports, in deren Rahmen man Regeln lernen kann und akzeptieren muss (Fußball, Korbball, Leichtathletik), Angebote des Lesens (Bibliothek), der Malerei, aber auch die Angebote, die in der tiergestützten Pädagogik bestehen29. Denn auch die Versorgung von Tieren kann soziale Fähigkeiten wie Geduld, Rücksichtnahme bzw. Empathie und Durchhaltevermögen verstärken. Die dritte Möglichkeit, die auch nur auf dem exemplarischen Wege erwähnt werden soll, ist die arbeitstherapeutische Beschäftigung i. S. des § 37 Abs. 4 StVollzG. In diesem Rahmen können Bastelarbeiten entstehen, die das Selbstwertgefühl der Gefangenen erhöhen. Produziert wurden (und werden z. T. noch) z. B. Holzspielzeuge, Grille aus Eisen, eiserne Außenlaternen usw., die (von den Gefangenen unter Aufsicht) auf den Weihnachtsmärkten Niedersachsens verkauft worden sind.30 Solche Aktionen boten (und bieten), sofern sie nicht eingestellt wurden, zugleich die Möglichkeit, die interessierte Öffentlichkeit über das Ziel und die Probleme des Strafvollzugs bzw. Chancenvollzuges zu informieren. 27 Zum 25. „Geburtstag“ der Anstalt (2005) konnte folgende Erfolgsbilanz vorgelegt werden (zit. nach Schwind, Kriminalpädagogische Praxis 2006, 9): – In der Zeit von 1980 bis zum 1. Februar 2005 wurden 466 Sonderschulabschlüsse erreicht, 752 Hauptschulabschlüsse und 225 Realschulabschlüsse. 31 Insassen hatten sogar die Reifeprüfung bestanden. – In der Zeit ab 1983 bis zum ersten Halbjahr 2005 konnten darüber hinaus von der Handwerkskammer 722 Gesellenbriefe ausgestellt werden; ferner wurden 761 weitere Abschlüsse gemacht, die den Zugang zum beruflichen Leben ebenfalls erleichtern (können). 28 Vgl. die Schilderungen von Wattenberg (über Hamelner Beobachtungen), zit. nach Bruns, Theorie und Praxis des Wohngruppenvollzugs, 1986, S. 322 ff.; vgl. auch u. Fn. 74. 29 Dazu Schwind, in: FS Seebode, 2008. 30 Niedersächsischer Minister der Justiz, Strafvollzug in Niedersachsen: dem Rückfall vorbeugen, 1980, S. 50, 59, 61.

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d) Nach dem Inkrafttreten des StVollzG (1977) begannen ferner die wichtigen Versuche mit der Sozialtherapie. Sozialtherapeutische Behandlungsmöglichkeiten wurden in Niedersachsen in Bad Gandersheim und in der JA Hameln eröffnet. Ein Konzept der Sozialtherapie musste allerdings erst noch erarbeitet werden. Laubenthal31 bezeichnet die Sozialtherapie aus heutiger Sicht als „eine Sammelbezeichnung für all diejenigen Methoden, die eine auf das Individuum bezogene, zielorientierte Verhaltens- und Einstellungsänderung bewirken sollen“.32 Der Verf. dieses Beitrages hatte schon vor über 25 Jahren vorgeschlagen33, der Sozialtherapeutischen Anstalt insoweit eine Vorreiterrolle34 für den gesamten Strafvollzug zu übertragen. Das heißt, es sollte erprobt werden, welche Maßnahmen bzw. Chancen (gemessen am Maßstab der Rückfallverhütung) im Strafvollzug generell (also auch im Normalvollzug) Erfolg haben (können) und welche eher nicht. e) Ein weiteres Schwergewicht ihrer Arbeit hat die MJ-Referatsgruppe auf den Ausbau der Entlassenenhilfe gelegt, zu der es in der Regierungserklärung35 wie folgt hieß: „Die Entlassenenhilfe bildet ein notwendiges Seitenstück jeder Reform des Vollzuges. Denn eine Betreuung innerhalb der Anstalt wird meist wenig nützen, wenn sie im Zeitpunkt der höchsten Rückfallgefährdung, d. h. nach der Entlassung, aufhören muss. Niedersachsen wird daher in den nächsten Jahren versuchen, mit den Trägern der außerstaatlichen Entlassenenhilfe eine enge Zusammenarbeit zu vereinbaren.“ Im Rahmen dieser Zielvorgabe sind in fast allen größeren Städten Niedersachsens36 in der Zeit von 1979 bis 1982 (im Rahmen eines Verbundsystems) „Anlaufstellen für Straffällige“ etabliert worden37, die noch heute, über 25 Jahre nach ihrer Gründung, Entlassenen bei der Arbeits- und Wohnraumsuche sowie z. B. auch bei der Schuldenregulierung behilflich sind38: „Hilfe zur Selbsthilfe“. Bei der Schuldenregulierung hat auch ein Resozialisierungsfonds mitgeholfen.39

Laubenthal (o. Fn. 14), Rn. 585. Laubenthal (o. Fn. 14), Rn. 585. 33 Schwind, NStZ 1981, 121. 34 Zur historischen Entwicklung der Sozialtherapeutischen Anstalt vgl. Rotthaus / Egg, in: Schwind / Böhm, Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 4. Auflage 2005, § 9. 35 Regierungserklärung (o. Fn. 20). 36 In Aurich, Braunschweig, Delmenhorst, Hameln, Hannover, Göttingen, Hildesheim, Lingen, Lüneburg, Oldenburg, Osnabrück, Stade, Wilhelmshaven und Celle. 37 Niedersächsischer Minister der Justiz (o. Fn. 30), S. 56 / 57. 38 Niedersächsischer Minister der Justiz (o. Fn. 30), S. 30 / 31; Schwind / Best, ZfStrVo 1981, 4 – 11; vgl. dazu z. B. auch den Jahresbericht 2006 der Anlaufstelle in Osnabrück, die vom Diakonischen Werk Osnabrück betrieben wird. 39 Diese am 19. Nov. 1979 errichtete Stiftung, die am 30. Juni 2003 (nach fast 25jähriger anerkannt erfolgreicher Arbeit) wieder aufgelöst wurde, vermittelte geeigneten Strafgefangenen (um ihre Wiedereingliederung zu erleichtern) im Rahmen eines Bürgschaftsmodells Kredite der Stadtsparkasse Hannover (dazu Drucks. 15 / 1494 der 15. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtags). 31 32

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2. Forschung Schließlich ist es vor allem für den Chancenvollzug wichtig zu wissen, ob die angebotene „Medizin“ hilft oder nicht. Dazu hieß es in der Regierungserklärung von Dr. Ernst Albrecht40: „Die Landesregierung wird erstmalig in Deutschland eine eigene Forschungsabteilung aufbauen, die u. a. Untersuchungen zur Erfolgskontrolle durchführen soll.“ Mit der Durchführung auch dieser Aufgabe wurde wiederum der damalige Landesjustizminister betraut bzw. über diesen die Referatsgruppe „Planung und Forschung“. Da diese jedoch personell nicht weiter ausgebaut werden sollte, wurde ein Forschungsinstitut, das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen“ (KFN), gegründet, das seit langem Christian Pfeiffer leitet. Beide Institutionen sind u. a. zu dem Ergebnis gelangt, dass vielen Straftätern die Wiedereingliederung in die Gesellschaft misslingt.41 Diese Resultate wurden z. B. durch eine Rückfallstudie, die Jehle / Heinz / Sutterer42 vorlegt haben, bestätigt: die Rückfallquote lag nach unbedingter Jugendstrafe bei 78 %. Andere Untersuchungen sind zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Nach Sozialtherapie sind die Rückfallquoten geringer: um etwa 11 %43; das gilt auch für Straftäter, die eine Bildungsmaßnahme im Normalvollzug mitgemacht haben44. Das dürfte bedeuten: wenn Chancen angeboten und genutzt werden, sinkt die Rückfälligkeit. Jedenfalls ist die Feststellung amerikanischer Wissenschaftler, die für den Resozialisierungsvollzug im Rahmen einer Sekundäranalyse das vernichtende Urteil gefällt haben: „nothing works“45 (nicht nur aus methodischen Gründen) wenig plausibel. Da der reine Verwahrvollzug allemal die schlechtere Alternative ist, spricht viel dafür, den Chancenvollzug weiter zu verbessern und immer wieder auf den Prüfstand der empirischen Forschung zu stellen. Dementsprechend hat auch das BVerfG46 (zumindest für den Jugendstrafvollzug) eine umfangreiche Evaluation eingefordert. Das NJVollzG hat diesem Anliegen in § 182 entsprochen; allerdings erscheint (was bedauert wird) der „Kriminologische Dienst“ (§ 166 StVollzG) nicht mehr in diesem Gesetz. Regierungserklärung (o. Fn. 20). Nach der europaweit größten Längsschnittuntersuchung, die das KFN innerhalb von 9 Jahren in sechs verschiedenen Jugendstrafanstalten Norddeutschlands durchgeführt hat, wurden nach der Haftentlassung 81% der niedersächsischen Teilnehmer erneut verurteilt. Von den nicht registrierten Haftentlassenen räumte im Rahmen von Dunkelfeldforschung jeder Zweite ein, im Dunkelfeld auffällig geworden zu sein: vor allem mit Körperverletzungen und Trunkenheitsfahrten (Hosser, Anhörung [o. Fn. 10], S. 5). 42 Zit. in Heinz, ZJJ 2004, 45. 43 Rotthaus / Egg, in: Schwind / Böhm (o. Fn. 34), § 9. 44 So schon die Ergebnisse einer früheren niedersächsischen Studie: Berckhauer / Hasenpusch, Legalbewährung nach Strafvollzug, in: Schwind / Steinhilper (Hrsg.), Modelle der Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 281 ff. 45 Martinson: The public interest 1974, 22; ebenso Lipton / Martinson / Wils: The Effectiveness of Correctional Treatment. Evaluation studies, 1975. 46 BVerfG NJW 2006, 2093, 2097. 40 41

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III. „Chancenvollzug“ (als Postulat) im NJVollzG (2007) Den Chancenvollzug, so wie er in den Jahren 1978 – 82 angelegt und praktiziert worden ist, haben alle folgenden Landesjustizminister 47 (unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit) grundsätzlich weitergeführt.48Das gilt auch für die „Sortierung“ von motivierten Strafgefangenen und Verweigerern. Niemand hat bisher ein Problem darin entdeckt. Das war erst den Diskussionen um das NJVollzG vorbehalten, die allerdings auch mit der (erwähnten) Entscheidung des BVerfG vom 31. Mai 200649 zu tun haben. So wurden im Rahmen der (schriftlichen) Verbandsbeteiligung50 und im Rahmen der Anhörung zum NJVollzG Bedenken gegen die fehlende (weitere) Betreuung der Verweigerer erhoben. Befürchtet wird eine „ZweiKlassengesellschaft“ im Strafvollzug.51 Aber auch außerhalb der Gefängnismauern leben (viele) Menschen, die Chancen verpassen. 1. Von der Bundes- zur Landesgesetzgebung Bis zum Jahre 2006 hat das Strafvollzugsgesetz von 1976 eine Reihe von Änderungen erfahren52, hatte sich jedoch, insgesamt betrachtet, bewährt53; das haben auch fast alle Landes- und Bundesjustizminister immer wieder betont54. a) Auffällig ist nur, dass die Zahl der Bürgerinnen und Bürger (bzw. Wählerinnen und Wähler), die den Resozialisierungsgedanken als vorrangiges Vollzugsziel bejahen, im Laufe der Jahre kontinuierlich abnimmt55 von 61,2 % (1976) über 47,5 % (1984) auf 41,3 % (1999); sie dürfte inzwischen (2008) bei unter 40 % liegen. Dafür gibt es mehrere Ursachen, zu denen z. B. gehören: – die bisher geringe Erfolgsquote des (teuren) Behandlungs- bzw. Chancenvollzugs, – Negativmeldungen der Medien über den Strafvollzug, generell meist festgemacht an spektakulären Einzelfällen, die auch zu tun haben mit 47 Nach Hans-Dieter Schwind (CDU) waren das bis 2008: Walter Remmers (CDU), Heidi Alm-Merk (SPD), Wolfgang Weber (SPD), Christian Pfeiffer (SPD), Elisabeth Heister-Neumann (CDU). 48 Schwind, Anhörung (o. Fn. 10), S. 5. 49 BVerfG NJW 2006, 2093, 2096. 50 Vgl. die Stellungnahme der LAG-Psychologen, Verbandsbeteiligung (o. Fn. 9), S. 88. 51 LAG-Psychologen, Anhörung (o. Fn. 10), S. 30; so auch Dünkel, Anhörung (o. Fn. 10), S. 37. 52 Zuletzt geändert durch das Gesetz vom 23. März 2005 (BGBl. I, 930). 53 Dazu z. B. die Beiträge in: Schwind / Steinhilper / Böhm, 10 Jahre Strafvollzugsgesetz – Resozialisierung als alleiniges Vollzugsziel?, Heidelberg 1988; Dünkel. / Kunkat: 20 Jahre Strafvollzugsgesetz, Neue Kriminalpolitik 1997, 24; Kreuzer: 30 Jahre Strafvollzugsgesetz, ZfStrVo 2006, 136. 54 So z. B. Beschluss zu TOP 19 der 58. Justizministerkonferenz 1987 (BT-Drucks. 11 / 715). 55 Dazu Schwind, ZfStrVo 1988, 265; ders., in: FS Müller-Dietz, 2001, S. 841, 855.

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– einer „Renaissance der Opferperspektive“: das Interesse der Bevölkerung verlagerte sich vom Interesse am Täter auf den Opferschutz: das kann man an neuen Gesetzen erkennen56, aber auch daran, dass im Gesetzgebungsverfahren alle Parteien darauf Wert gelegt haben, dass im Strafvollzug in Bezug auf den Straftäter eine „zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit den eigenen Straftaten und ihren Folgen“ notwendig ist (SPD) bzw. das „Erlernen von Opferempathie“ (Bündnis 90 / Die Grünen).57

b) Vor dem Hintergrund des abnehmenden Interesses der Bevölkerung am Resozialisierungsvollzug ist vielleicht zu erklären, dass gegen den nahezu einmütigen Widerstand der Fachwelt58 die „Föderalismusreform“59 (30 Jahre nach dem Inkrafttreten des StVollzG) zu dem Resultat führen konnte, die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug (in sach- bzw. systemwidriger Weise) zu ändern. Diese wurde aus der konkurrierenden Gesetzgebung (nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) in die ausschließliche Gesetzgebung der Länder (Art. 70 Abs. 1 GG) verlagert.60 Einige Bundesländer nutzten die Gelegenheit, die ihnen eingeräumt wurde: Niedersachsen und Bayern haben insoweit zeitlich eine Vorreiterrolle übernommen. Obgleich der erste Teil der Föderalismusreform erst am 1. September 2006 in Kraft trat, konnte Niedersachsen (unter Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann) bereits sechs Monate später den (erwähnten) fertigen Entwurf für ein entsprechendes „Gesetz zur Neuregelung des Justizvollzuges in Niedersachsen“ (NJVollzG) vorlegen, der (wie schon eingangs erwähnt) am 13. Dezember 2007 im Niedersächsischen Landtag mit den Stimmen der Regierungskoalition (aus CDU und FDP) verabschiedet wurde. 56 Z. B. Opferentschädigungsgesetz (OSG) von 1976 (BGBl. I, 110); Opferschutzgesetz (OSG) von 1986 (BGBl. I, 2496); Opferanspruchssicherungsgesetz (OASG) von 1998 (BGBl. I, 24, 91); Opferrechtsreformgesetz (OpferRRG) von 2004 (BGBl. I, 1354). 57 § 5 Abs. 3 des Gesetzentwurfs der SPD und § 5 Abs. 4 des Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen (vgl. u. Fn. 60). 58 Vgl. eine entsprechende Resolution, die fast alle Strafvollzugs-Professoren unterschrieben haben (abgedruckt in Neue Kriminalpolitik 2005, 3); Prantl in der Süddeutschen Zeitung zu der Regelung: „ein historischer Fehler“. Ostendorf (Anhörung, o. Fn. 10, S. 17): „Rechtszersplitterung, eine Rückkehr zum Partikularismus mit all den praktischen Problemen“. Generalstaatsanwalt Range (Anhörung [o. Fn. 10], S. 5) ergänzend dazu: „Gefangene können sich (künftig) durch Wechsel ihres Wohnsitzes den Vollzug aussuchen, der ihnen am genehmsten ist“. Auch eine Art Chance! 59 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 8. 2006 (BGBl. I, 2034: Art. 1 Nr. 7 a / aa). 60 Die gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzuges (bis Ende 2007) hat das Bundesverfassungsgericht (NJW 2006, 2093, 2098) verlangt. Die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Niedersächsischen Landtag hatte zugleich einen eigenen Entwurf eines „Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzuges im Land Niedersachsen“ (GJVollz Nds) vorgelegt (Drucks. 15 / 3590); das gilt auch für die Fraktion der SPD (Drucks. 15 / 3271): „Niedersächsisches Jugendstrafvollzugsgesetz“ (NJugVollzG). Der SPD-Entwurf verweist z. T. auf Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes, das gemäß Art. 125 a StVollzG (trotz des Übergangs der Gesetzgebungstätigkeit auf die Länder) solange fortgilt, wie es durch die Länder nicht ersetzt worden ist.

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2. Konzeptionelle Auffälligkeiten Auffällig an diesem Landesstrafvollzugsgesetz ist vor allem, dass es – den Jugendstrafvollzug und den U-Haftvollzug mitregelt („Kombigesetz“)61, – Sicherheitsregelungen verstärkt, – den „Chancenvollzug“ (erstmalig in der Bundesrepublik) gesetzlich verankert und insoweit auch die Entlassenenhilfe ausbauen will.

Dabei darf man nicht übersehen, dass sich die Sicherheitsgefahren im Vollzug erhöht haben und Sicherheit und Resozialisierungsvollzug bzw. Chancenvollzug eng miteinander verknüpft sind. Je mehr Sicherheit nach außen etabliert wird, desto mehr Freiheiten (Chancen) können im Inneren der Anstalt gewährt werden. 3. Chancenvollzug im NJVollzG Der Chancenvollzug für erwachsene Straftäter ist (ausdrücklich) in § 6 NJVollzG geregelt; die entsprechende Vorschrift für den Jugendstrafvollzug bildet der § 112 NJVollzG, dessen Besonderheit auch darin besteht, dass er den Gefangenen eine Mitwirkungspflicht auferlegt – § 6 postuliert hingegen nur eine „Mitwirkungsnotwendigkeit“ (Mitwirkungsgebot). a) Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 NJVollzG sollen dem Gefangenen „geeignete“ Maßnahmen angeboten werden, nämlich solche, „die ihm die Chance eröffnen, sich nach Verbüßung der Strafe in die Gesellschaft einzugliedern“. Gemeint sind (so heißt es in einem Info62) „Angebote der Förderung, Qualifizierung und Behandlung“. Diese Angebote „müssen so ausgewählt werden, dass die Gefangenen sie objektiv brauchen, sie von ihren Fähigkeiten heraus zu nutzen in der Lage sind und das auch wollen“. Mit anderen Worten: der Gefangene muss z. B. fähig sein, die Anforderungen einer Ausbildung zu erfüllen (ausbildungsfähig sein); er muss bereit sein, sich der Ausbildung zu unterziehen (ausbildungsbereit sein) bzw. dazu, eine Therapie mitzumachen (therapiebereit sein). In dem Info63 wird sinnvollerweise auch zwischen Grundversorgung, verhaltensändernden Maßnahmen sowie schulischer und beruflicher Qualifizierung differenziert. 61 Im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde kritisiert, dass sich die drei Gesetze (wegen ihrer unterschiedlichen Zielrichtungen) nicht in einem „Kombigesetz“ zusammenführen lassen, abgesehen davon, dass durch zahlreiche Querverweisungen (sogar Kettenverweisungen) das neue „schlanke“ Gesetz praktisch „nur noch für Juristen lesbar ist“ (Range, Anhörung, o. Fn. 10, S. 6). „Man muss ständig blättern nach dem Motto „Guck mal hier und guck mal da“ (Bode, Anhörung, o. Fn. 10, S. 12). So auch Ostendorf (Anhörung, o. Fn. 10, S. 17). 62 Info „Niedersächsischer Chancenvollzug“, Grundsätze und Standards im geschlossenen Vollzug der Freiheitsstrafe, Dez. 2006; so auch Niedersächsisches Justizministerium, Einheitliches Niedersächsisches Vollzugskonzept, 2004, S. 47. 63 Info (o. Fn. 62).

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Als „verhaltensändernde Maßnahmen“ werden genannt: Trainingsangebote für einzelne Problembereiche und Therapien mit wissenschaftlich fundierten und standardisierten Methoden, die mehr die ganze Persönlichkeit in den Blick nehmen. Zu solchen Maßnahmen werden gezählt: Einzel- und Gruppentherapie, Sozialtherapie, Arbeitstherapie, Behandlungsprogramme für Gewaltstraftäter, Migrationskurse, soziales Training, Beratung bei der Schuldenregulierung (mit Geld umgehen können als Chance) und anderes mehr. Zu den „qualifizierenden Maßnahmen“, die das Land im Rahmen des Chancenvollzuges bereithält, gehören (auch weiterhin) vor allem schulische Ausbildungsmöglichkeiten, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen („mit Zertifikat“), Alphabetisierungskurse und Vorschulkurse.64 Schlägt der Gefangene das Angebot aus, muss er (solange er bei seiner ablehnenden Entscheidung verharrt) mit der Grundversorgung vorlieb nehmen. Zur Grundversorgung gehört auch eine Beschäftigung, die der Gefangene nicht ausschlagen darf, da im Strafvollzug Arbeitspflicht besteht. Kommt er der Arbeitspflicht nicht nach, muss er mit einer disziplinarischen Ahndung rechnen. Eine solche soll für die Ablehnung der anderen Angebote des Chancenvollzugs zwar nicht in Betracht kommen, wohl aber eine Berücksichtigung „bei den nach diesem Gesetz anzustellenden Prognoseentscheidungen“65. Im Übrigen verpflichtet das Gesetz die Vollzugsbehörde, die Bereitschaft aller Gefangenen an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuwirken, „zu wecken und zu fördern“ (§ 6 Abs. 1 Satz 2): Greve66 nennt das einen „Wir lassen-niemand-in-Ruhe-Vollzug“ (vgl. dazu auch § 5 Abs. 4 NJVollzG). Die oben angeregte Differenzierung zwischen jugendlichen und erwachsenen Straftätern wird durch diese Regelung aber nicht ausgeschlossen. b) Ist der Gefangene ausbildungsfähig und ausbildungsbereit bzw. therapiebereit und therapiefähig und ergreift er die damit verbundenen Chancen, steht er allerdings unter dem Damoklesschwert des § 6 Abs. 2 Satz 2, der wie folgt lautet: „Kann der Zweck einer solchen Maßnahme dauerhaft nicht erreicht werden, insbesondere weil der Gefangene nicht hinreichend daran mitarbeitet, so soll diese Maßnahme beendet werden“. Es geht also „immer nur um den Abbruch der jeweiligen Maßnahme, nicht aber um die künftige Verweigerung von (allen) Angeboten nach Abs. 2 Satz 1. Eine generelle Rückstufung der oder des Gefangenen auf eine ,Grundversorgung‘ oder bloße ,Verwahrung‘ . . . ist . . . nicht beabsichtigt. . . . (Im Übrigen) hat der Gefangene auch bei Abbruch einer einzelnen Maßnahme einen Anspruch darauf, dass sich die Vollzugsbehörde weiterhin um . . . seine soziale 64 Im NJVollzG wird (erstmalig) nunmehr auch die Chance festgeschrieben, über den Entlassungszeitpunkt hinaus eine begonnene Ausbildung bis zum Abschluss fortzusetzen zu können. Grundsätzlich eingestellt wurde die tiergestützte Pädagogik, die nur noch in der JVA Lingen und in der Jugendarrestanstalt Vechta gepflegt wird (dazu Schwind, in: FS Seebode, 2008). 65 Begründung zum NJVollzG (o. Fn. 8), S. 88. 66 Greve, Anhörung (o. Fn. 10), S. 22.

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Integration bemüht.“67 In der Anhörung68 wurde gleichwohl die Besorgnis dahingehend geäußert, dass die Befugnis zum Abbruch „zu Disziplinierungszwecken“ missbraucht werden könnte. Solche Gefahren werden jedoch reduziert, wenn die Vollzugsplanungskonferenz mit qualifizierter Mehrheit über die Beurteilung der Mitarbeitsbereitschaft die Entscheidung trifft.69 c) In der Anhörung vor dem Rechtsausschuss ist von Seiten der Experten ferner kritisiert worden, dass das Gesetz auch in Bezug auf § 6 Abs. 1 Satz 2 Raum für Disziplinierungsversuche eröffne. Insoweit wurde betont, dass zu hohe Anforderungen70 an die „Mitarbeitsbereitschaft“ manche Gefangene letztlich vom Chancenvollzug ausschließen könnten: „Chancentod“. Und: wie soll man mit einer nur vorgetäuschten Bereitschaft, um z. B. Lockerungen oder eine vorzeitige Entlassung zu erreichen (extrinsische Motivation), umgehen? Die Antwort kann nur darin bestehen, dass Mitarbeitsbereitschaft „niederschwellig“ zu verstehen ist. Wer sich einlassen will, erhält eine Chance, ohne dass seine Motive dafür erforscht werden (sollten). Selbst, wenn sich Gefangene in Angebote „hineinmogeln“ würden, wäre das kein Problem, und zwar aus zwei Gründen: zum einen würde ihre Einstellung bald auffällig werden, zum anderen besteht insbesondere bei jugendlichen Straftätern die Gelegenheit, eine Motivation noch nachträglich zu entwickeln71. Im Übrigen ist in § 2 Abs. 3 sowie in § 6 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes ausdrücklich die Verpflichtung der Vollzugsbehörde vorgesehen, die Mitarbeitsbereitschaft der Gefangenen zu wecken und zu fördern. Und weiter heißt es dort: „Hierbei handelt es sich um eine kontinuierliche Pflicht der Vollzugsbehörde, die in jedem Fall – auch für anfangs nicht mitarbeitsbereite oder mitarbeitsfähige Gefangene gilt“. Mehr Betreuung bedeutet allerdings mehr Personal und mehr Geld, das nach der Haushaltslage nicht unbegrenzt eingesetzt werden wird. Es kann sich daher nur um eine bloße Absichtserklärung handeln, die unter Vorbehalt steht. d) Die Probleme des Chancenvollzugs haben allerdings nicht nur mit den finanziellen Rahmenbedingungen der Haushaltslage zu tun, sondern auch mit der Lernbereitschaft und der Lernfähigkeit der Gefangenen selbst. Dazu hat eine KFNUntersuchung72 die (Hamelner) Erfolgsbilanz relativiert, und zwar durch das Ergebnis, – dass „obwohl 30 % der KFN-Untersuchungsteilnehmer eine schulische Maßnahme im Jugendvollzug durchliefen, nur 7 % einen Abschluss erwerben konnten“; 67 Schriftlicher Bericht des Berichterstatters (Noack), ausgegeben am 11. Dez. 2007 (Drucks. 15 / 4325). 68 Z. B. Briese, Anhörung (o. Fn. 10), S. 15. 69 So auch Greve, Anhörung (o. Fn. 10), S. 19. 70 Dazu Suhling (LAG Psychologen, Anhörung [o. Fn. 10], S. 30, von dem befürchtet wird, dass eine „intrinsische Motivation“ verlangt werden könnte, nämlich eine echte, innere Motivation zur Veränderung des Verhaltens. Der Gesetzgeber sagt dazu allerdings nichts. 71 Suhling, Anhörung (o. Fn. 10), S. 30. 72 Hosser, Anhörung (o. Fn. 10), S. 8.

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– dass „44 % der Befragten zwar an einer beruflichen Weiterqualifizierung teilnahmen, aber nur 9 % einen offiziellen Abschluss erreichen konnten“.

Ernüchternd wirkt auch das weitere Resultat der KFN-Untersuchung, dass „ein Drittel der erstmalig Inhaftierten (deutschen) Gefangenen den Jugendstrafvollzug verlässt, ohne an einer einzigen Maßnahme aus dem Spektrum an Trainingskursen, therapeutischen Angeboten, Drogen- oder Schuldnerberatung, Gesprächskreisen oder Entlassungsvorbereitungen teilgenommen zu haben“. Die Leiterin der Jugendanstalt Hameln (Jesse)73 bietet als (plausible) Erklärung an, dass nicht „alle diese Gefangenen behandlungsbedürftig sind. Nicht jeder, der ein Gefangener ist, (sei) deshalb automatisch behandlungsbedürftig“. 4. Spezielle Probleme Zu den speziellen Problemen des Chancenvollzuges gehören auch solche, die sich auf die Unterbringung (Wahrung der Privatsphäre) und auf die Gewährung von Vollzugslockerungen beziehen, sowie solche, die mit dem hohen Anteil von Inhaftierten mit Migrationshintergrund zu tun haben. a) Im Rahmen der Grundversorgung fällt am NJVollzG auf, dass eine gemeinschaftliche Unterbringung möglich sein soll, wenn die Gefangenen zustimmen oder die räumlichen Verhältnisse der Anstalt (bei Überbelegungen) „dies erfordern“. Eine solche Regelung weicht allerdings vom § 18 des StVollzG ab und ist insoweit auf die Kritik der Verbände gestoßen, der das MJ mit dem Hinweis begegnet, dass der § 20 Abs. 1 NJVollzG eine gemeinsame Unterbringung nur für den Fall vorsieht, dass eine „schädliche Beeinflussung nicht zu befürchten ist“. Vorfälle (wie in der Jugendstrafanstalt Siegburg74) zeigen jedoch, dass die entsprechende Prognose unsicher ist und nicht nur Beeinflussungen zu befürchten sind, sondern (vor allem im Jugendstrafvollzug) auch die schon erwähnten Quälereien, die bis zum Tod führen können. Im Übrigen ist der Wohngruppenvollzug nach dem NJVollzG zwar für den Jugendstrafvollzug vorgesehen; er wird aber auch schon lange im Erwachsenenstrafvollzug praktiziert. b) Positiv fällt an der Neuregelung im NJVollzG auf, dass vor der Entlassung Lockerungen (als Chance für die Arbeits- und Wohnungssuche) großzügiger gewährt werden sollen als bisher, und zwar im Zuge einer geplanten „durchgängigen“ Entlassungsvorbereitung, die auch ausdrücklich eine Zusammenarbeit „mit Stellen und Personen außerhalb des Vollzuges“ vorsieht (§ 67 Abs. 2). Eine solche KoopeJesse, Anhörung (o. Fn. 10), S. 22. Am Abend des 11. Nov. 2006 haben drei (jugendliche) Häftlinge der Jugendstrafanstalt Siegburg (in der Nähe von Bonn) unbemerkt vom Wachpersonal einen 20jährigen Mitgefangenen nach langen Demütigungen und unvorstellbaren Quälereien erhängt (vgl. dazu Walter, ZJJ 2007, 72; ferner: Schilder, Aus Spaß weghängen. Geständnisse im Prozess um Häftlingstod, in: FAZ vom 3. 8. 2007, S. 9, und schon Bruns, Theorie und Praxis des Wohngruppenvollzuges, 1986, S. 322 ff.). 73 74

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ration kommt nicht nur mit den Personenberechtigten (§ 112) im (Jugend)Strafvollzug in Betracht, sondern auch mit der Bewährungshilfe bzw. den „Anlaufstellen für Straffällige“. In der Verbandsanhörung75 wurde allerdings eine „allzu restriktive Handhabung der Lockerungspraxis“ im Laufe der übrigen Haftzeit bemängelt. In der schon zitierten KFN-Untersuchung76 heißt es insoweit, dass „Lockerungen in Form von begleitetem oder unbegleitetem Ausgang, Freigang oder Urlaub 32 % der von uns Befragten erhielten, nahezu ausschließlich Teilnehmer aus dem (offenen) Jugendstrafvollzug“. Dem entspricht eine empirische Untersuchung (2006) von Dünkel77, nach der im Strafvollzug Niedersachsens (insgesamt) im geschlossenen Vollzug nur 1,4 % der Gefangenen lockerungsberechtigt sind. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Klientel, wie schon oben erwähnt, heute eine andere ist als zur Zeit des Inkrafttretens des StVollzG: es gibt mehr Gewalttäter, viel mehr Drogenabhängige und Probleme, die mit dem Migrationshintergrund vieler Gefangener zu tun haben. Außerdem wird in der Diskussion oft übersehen, dass in Niedersachsen (im Bundesvergleich) der offene Vollzug eine Vorreiterstellung einnimmt. c) Im Rahmen des § 5 NJVollzG spielt vor allem die Frage eine Rolle, wie der Chancenvollzug in Bezug auf die Wiedereingliederung von Ausländern aussehen soll. Bedenkt man, dass z. B. in der Jugendstrafanstalt Hameln mindestens etwa 25 % (stabil über viele Jahre)78 der Insassen Nichtdeutsche sind, muss dieser Frage besonderes Gewicht eingeräumt werden. Dementsprechend hat z. B. der frühere stellvertretende Anstaltsleiter der JA Hameln (Schütze)79 die Frage gestellt: „Welches Vollzugsziel soll für diese Klientel überhaupt erarbeitet werden?“. Und Schütze fährt fort: „In der Regel haben diese Gefangenen eine lange Strafe zu verbüßen und müssen nach der Entlassung mit der Abschiebung in ihre Heimatländer rechnen. Sie wollen sich deshalb im Vollzug nur halbherzig auf eine Integration in die deutsche Gesellschaft einlassen.“80 Auch nach Walter81 fehlt es „insoweit an der klassischen Resozialisierungsperspektive“. Ein anderer Anstaltsleiter (Bukowski)82 weist darauf hin, dass das (schulische und berufliche) Ausbildungsangebot schon wegen der Sprachschwierigkeiten und den oft fehlenden Zugangsvoraussetzungen nicht in Betracht komme. Im Rahmen einer entsprechenden Konzeption des Chancenvollzuges sollte deshalb z. B. der Arbeitsmarkt in den Herkunftsländern (bzw. Herkunftswohnorten) erkundet werden, um z. B. festzustellen, welche Berufe dort gefragt sind und welche nicht. Mit den EU-Erweiterungen dürften sol75 76 77 78 79 80 81 82

Dünkel, Anhörung (o. Fn. 10), S. 39. Hosser, Anhörung (o. Fn. 10), S. 8. Dünkel, Anhörung (o. Fn. 10), S. 39. Auskunft JA Hameln (Jesse) vom 28. 11. 2007. Schütze, DVJJ-Journal 1993, 382. Schütze, DVJJ-Journal 1993, 382. Walter, DVJJ-Journal 1993, 350. Bukowski, ZfStrVo 1996, 225.

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che Probleme immer dringlicher werden, weil zusätzliche Belastungen (durch Zuwanderungen auch von Straftätern) auf den Strafvollzug zukommen dürften. Wahrscheinlich müssen sogar neue Strafanstalten gebaut werden83, sofern es nicht gelingt, europaweit oder zumindest bilateral Absprachen dahingehend zu treffen, dass ausländische Straftäter ihre Freiheitsstrafen auch in den Herkunftsländern verbüßen können oder sogar müssen. Der Zug scheint immerhin in diese Richtung zu fahren.84

IV. Schlussbemerkung: Hat der „Chancenvollzug“ eine Zukunft? Aus Kreisen der Skeptiker („Strafvollzug im Untergang?“85) wird befürchtet, dass mit der Änderung der Gesetzgebungskompetenz das Ende des Behandlungsund damit auch des Chancenvollzugs droht. Die Sorge scheint nicht unbegründet zu sein. Sie knüpft z. B. an die neue niedersächsische Regelung an, nach der das Vollzugsziel der Resozialisierung um das des „Schutzes der Allgemeinheit“ ergänzt wurde. Damit geht eine langjährige Forderung der sog. Gegenreform86 in Erfüllung. Eine solche Klarstellung der Vollzugsziele scheint aber noch akzeptabel, solange die Resozialisierung an erster Stelle genannt wird. Der Etablierung eines reinen (humanen) Verwahrvollzuges steht im Übrigen die Rechtsprechung des BVerfG87 entgegen. Gleichwohl kann sich in der Praxis eine Schwerpunktverlagerung weg vom Resozialisierungsvollzug hin zu einem Strafvollzug mit stärkerer Sicherheitsorientierung vollziehen. Ein Negativbeispiel stellen insoweit die USA dar. Von dort schwappt derzeit im Zuge eines „neuen Zeitgeistes“ eine eher repressiv orientierte (neue) Kriminalpolitik nach Europa herüber, die Best88 mit dem Slogan „mehr Sicherheit, weniger Kosten“ beschreibt: wird die dritte Stufe der Wellenbewegungen damit erreicht? Der Aufbau „punitiver Reaktionsstrategien“ hat inzwischen (wie Beulke89 es formuliert hat) „die Kraft eines weltweiten Orkans“ erreicht, der sich auch auf Schwind, FOCUS-Interview 31 / 2004, S. 13. Nach einem EU-Rahmenbeschluss des Rates der EU-Justiz- und Innenminister sollen verurteilte Straftäter künftig auch ohne ihre Zustimmung zur Verbüßung der Strafe in ihr EUHeimatland überstellt werden, wenn sie dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und dort über familiäre, soziale und sonstige Bindungen verfügen. Die Zustimmung des Heimatlandes zu einer solchen Überstellung soll nicht mehr erforderlich sein (zit. nach einer Verlautbarung des Referats Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums der Justiz vom 15. Febr. 2007). 85 Kreuzer, ZfStrVo 2006, 136 (vgl. auch o. Fn. 58). 86 Vgl. die Hinweise bei Walter, Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, S. 921. 87 BVerfGE 45, 187, 239; 35, 202, 235 f. Zu den entsprechenden Richtlinien und Empfehlungen der Vereinten Nationen und des Europarats vgl. Höynck / Neubacher / Schüler-Springorum, Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001. 88 Best, in: FS Schwind 2006, S. 3 ff.; vgl. auch Kreuzer, KrimPäd 2004, 4. 89 Beulke, in: FS Schwind, 2006, S. 225, 226. 83 84

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Hans-Dieter Schwind

Deutschland auswirkt. Steffen90 nennt insoweit „zahlreiche neue Straftatbestände, reduzierte Strafbarkeitsvoraussetzungen, erhöhte Strafrahmen, repressiv orientierte Regelungen im Gefahrenabwehr- und Polizeirecht der Länder“. Kury / ObergfellFuchs91 haben beobachtet, dass auch „ein größerer Anteil von verhängten Freiheitsstrafen vollzogen wird und vorzeitige Entlassungen zurückhaltender gewährt werden“. Die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz vom Bund auf die Bundesländer hat auch in Bezug auf die zweite Perspektive (Kosten einsparen) Befürchtungen ausgelöst. Dünkel und Schüler-Springorum92 warnen sogar vor einem „Wettbewerb der Schäbigkeit“ unter den Bundesländern.93 Droht ein „Strafvollzug light“?94 Das BVerfG95 betont dazu, dass der „Staat den Strafvollzug so ausstatten muss, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels erforderlich ist“. Was das bedeutet, hat das BVerfG96 bisher nur für den Jugendstrafvollzug ausgeführt: nämlich die Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, ausreichende pädagogische und therapeutische Betreuung der Gefangenen bzw. Fachpersonal, das nicht nur in der Lage ist, Gefangene (in den Wohngruppen) vor Übergriffen von Mitgefangenen zu beschützen. Fraglich ist, ob bzw. inwieweit die Bundesländer die entsprechenden Lasten mit Hilfe von Privatisierungen von Anstaltsbereichen reduzieren dürfen. Das NJVollzG sieht in § 171 eine solche Übertragung von Aufgaben zwar vor, aber (in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz) nur „soweit damit nicht die Ausübung hoheitlicher Befugnisse zu zielgerichteten Eingriffen in die Rechte der Gefangenen verbunden ist“. Danach kommt eine vollständige Privatisierung, also etwa eine Verpachtung ganzer Anstalten (wie in den USA)97 für Deutschland wegen des Funktionsvorbehaltes in Art. 33 Abs. 4 GG nicht in Betracht – wohl aber eine Teilprivatisierung (wie in Frankreich) für solche Bereiche, in denen es nicht um die Wahrnehmung „hoheitlicher“ Befugnisse geht.98 Das könnte (und wird bereits praktiziert) z. B. für die Übertragung von Teilen der Ausbildung und für die therapeutische Behandlung gelten99, aber verbunden mit der Gefahr, dass die Privaten unterbezahltes und deshalb schlecht quaSteffen, in: FS Schwind, 2006, S. 1141, 1150. Kury / Obergfell-Fuchs, in: FS Schwind, 2006, S. 1021 ff. 92 Dünkel / Schüler-Springorum, ZfStrVo 2006, 145. 93 Befürchtet wird, dass die Neuregelung die Begehrlichkeit der Länderfinanzminister wecken könnte: weitere Einsparungen. 94 Dünkel, Anhörung (o. Fn. 10), S. 35. 95 BVerfGE 35, 235; vgl. auch BVerfG NJW 2006, 2093, 2095 f. 96 BVerfG NJW 2006, 2093, 2095. 97 Dazu Arloth, in: Berg / Kapsch / Streng: Strafrecht in den Vereinigten Staaten und Deutschland, 2006, S. 163 ff., 168 ff.; Müller-Dietz, Neue Kriminalpolitik 2006, 11 – 14. 98 Unbedenklich erscheint die bisherige Praxis Vertragsärzte und Vertragslehrer zu beschäftigen (vgl. dazu auch § 155 Abs. 1 StVollzG). 99 Z. B. soziales Training, Sexual- und Gewalttherapie, Drogenarbeit und Schuldenregulierung. 90 91

„Chancenvollzug“ am Beispiel von Niedersachsen

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lifiziertes Personal einsetzen100. Das wäre dann vor allem ein Problem für den Chancenvollzug.101 Die neuen Entwicklungen im Strafvollzug (Länderzuständigkeit bzw. Gefahren, die dem Behandlungsvollzug / Chancenvollzug drohen) hätte man noch vor wenigen Jahren für völlig unmöglich gehalten. Man sollte nunmehr das Beste aus der Situation machen, ohne aus den Augen zu verlieren, dass es sachgerecht wäre, wenn sich die Bundesländer (nunmehr ohne den Bund, der in mancher Hinsicht zu wenig aktiv wurde) auf einen neuen (bzw. ergänzten) Text eines bundeseinheitlichen Strafvollzugsgesetzes und eines gemeinsamen Jugendstrafvollzugsgesetzes102 (etwa im Rahmen der Justizministerkonferenz / JUMIKO)103 einigen würden. In diesen beiden Gesetzen sollte nach dem niedersächsischen Beispiel auch der „Chancenvollzug“ seinen berechtigten Platz finden.

100 So „zeichnet sich offenbar ab, dass das (in der JVA Hünfeld / Hessen) durch die Firma SERCO bereitgestellte Personal nicht den Anforderungen entspricht, die wir hier in Niedersachsen an einen qualitativ hochwertigen Strafvollzug stellen“ (so Kalt, Verband Niedersächsischer Strafvollzugsbediensteter, Anhörung [o. Fn. 10], S. 25). 101 Ostendorf hat in der Anhörung (o. Fn. 10, S. 20) auf Qualitätsverluste durch Privatisierungen verwiesen. Die Verbände sorgen sich darüber hinaus um Korruption- und Streikgefahren und natürlich um die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder (Anhörung, [o. Fn. 10]). Außerdem wurde in der Anhörung (o. Fn. 10, S. 27) von Müller eine erhebliche Fluktuation der Mitarbeiter befürchtet. SERCO wurden 40% aller Dienstleistungen der JVA übertragen, die sich auf folgende Bereiche beziehen: Sozialarbeit, Pädagogik, Psychologie, Küchenbereich, aber auch auf „sehr differenzierte Behandlungsprogramme“ (Maelicke, Anhörung [o. Fn. 10], S. 32). 102 Insoweit gibt es bereits (auf der Basis eines Entwurfs des BMJ) einen gemeinsamen Entwurf von neun Bundesländern (Entwurf der „Neun“), die sieben Übrigen haben sich für eigene Regelungen zum Jugendstrafvollzug entschieden. Einen Vergleich der vorliegenden Gesetze und Gesetzentwürfe hat Dünkel im Internet publiziert (http: / / jura.uni-greifswald. de / duenkel). 103 Diesen Vorschlag hat der Verf. schon im Rahmen eines Interviews (mit Prantl) in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Juni 2006, S. 5, unterbreitet.

Vergangenheitsbewältigung im Rechtsstaat Von Thomas Vormbaum

I. Der Jubilar, dem diese Festschrift und dieser Beitrag gewidmet sind, hat mit seinem opus magnum „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft“ aus dem Jahre 1972 nicht nur – nach der bescheidenen Einschätzung des Verfassers dieses Beitrages – einen der bedeutendsten Beiträge zur modernen Strafrechtsgeschichte geliefert, sondern auch beispielhaft unter Beweis gestellt, wie aus rechtshistorischer Forschung Kritik des geltenden Rechts erwachsen kann. So hat er, lange bevor Silva Sanchez in seinem seit einigen Jahren auch in deutscher Sprache vorliegenden Klassiker „Die Expansion des Strafrechts“ diesen Umstand in ein noch breiteres Bewusstsein gerückt hat1, darauf hingewiesen, dass an der Wiege des Rechtsgüterschutz-Gedankens nicht etwa, wie es verbreiteter Auffassung entsprechen dürfte, der Wunsch nach Einschränkung und Kontrolle der Strafgesetzgebung und der Kriminalpolitik gestanden hat, sondern gerade umgekehrt der Wunsch nach Auflockerung dieser Einschränkung und dieser Kontrolle.2 Ob, wie Amelung meint, die richtige Konsequenz aus dieser Einsicht darin besteht, die Hoffnung auf eine solche Kontrollleistung des Rechtsgüterschutzgedankens aufzugeben und ihn nur noch in seiner methodischen Funktion beizubehalten, mag man bezweifeln – jedenfalls so lange, wie nicht ein anderer Ansatz gefunden ist, der diese Funktion übernehmen kann3. Das – sit venia verbo – „naive“ Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Rechtsgüterschutzlehre, das durch einen Blick in die beliebige KomSilva Sánchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 62. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage, 1972, S. 45 ff.; s. zuletzt Naucke, Bespr. von Gonzáles Cussac, „Feindstrafrecht“. Die Wiedergeburt des autoritären Denkens im Schoße des Rechtsstaates, Journal der juristischen Zeitgeschichte 2 (2008), 33 f. 3 Amelung hat seine Kritik am „gesetzesabhängigen Rechtsgutsbegriff“ noch einmal zusammengefasst in: Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003, S. 155 ff., 159 ff. Amelung diskutiert dort auch das Spannungsverhältnis von Bändigung staatlicher Strafgewalt und pluralistischer Wertfindung in der Demokratie. Er bekundet im Anschluss an den russischen Strafrechtler Jalinski seine Sympathie für das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für den Erlass von Strafgesetzen (ebd., S. 164). 1 2

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Thomas Vormbaum

mentierung eines beliebigen Straftatbestandes des Strafgesetzbuches desavouiert wird, müsste jedoch erschüttert sein; und dies nicht einmal so sehr deshalb, weil der Gesetzgeber sich immer weniger um Argumentations- und Begründungsangebote der Strafrechtswissenschaft schert4, sondern weil der Rechtsgüterschutz ihm häufig gerade die Argumente für die Expansion der Strafdrohungen liefert.

II. Die folgenden Überlegungen werden allerdings nur in einem von mehreren Punkten die gerade angesprochene Thematik berühren. Sie wollen jedoch ebenfalls versuchen, eine Verbindung zwischen jüngerer Strafrechtsgeschichte und aktuellem Recht herzustellen. Es geht um ein Thema, das nicht nur wegen seiner zeitlichen Positionierung die Strafrechtsgeschichte berührt, sondern auch thematisch geschichtsbezogen ist. Wie haben, so wird gefragt, die Bemühungen um die sog. Aufarbeitung der Vergangenheit sich auf das geltende deutsche Strafrecht ausgewirkt? Dieser Fragestellung liegt die Einsicht zugrunde, dass die strafrechtliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und mit der Vergangenheit der DDR kein linear in eine Richtung verlaufender Vorgang, sondern ein dialektischer Vorgang gewesen ist – schlichter ausgedrückt: dass das Strafrecht nicht nur „Akteur“ dieses Vorgangs gewesen ist, sondern in ihm und durch ihn auch selbst Veränderungen erfahren hat. Die Beispiele, an denen dies demonstriert werden soll, können bei den Lesern dieser Festschrift als bekannt vorausgesetzt werden und brauchen daher nur so weit in Erinnerung gerufen zu werden, wie dies für die Zwecke des Beitrages erforderlich ist. Gerade die Zusammenstellung der Beispiele könnte jedoch ein Ganzes sichtbar werden lassen, das ein über die bloße Summe seiner Teile hinausgehendes Interesse beanspruchen kann.

III. Zweimal in der Geschichte des 20. Jahrhunderts standen die deutsche Gesellschaft und die deutschen Juristen vor der Aufgabe, eine rechtsstaatswidrige Vergangenheit politisch und juristisch aufzuarbeiten: zunächst ging es um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, später um die Aufarbeitung der Vergangenheit der Deutschen Demokratischen Republik. Ob diese Aufarbeitung „gelungen“ ist, wird vor allem im erstgenannten Fall unter Historikern unterschiedlich beurteilt. Die Geschichte dieser Aufarbeitung ist inzwischen ihrerseits „historisiert“, d. h. Gegenstand eigenen Forschungsinteresses der Geschichtswissenschaft geworden.5 Dazu zuletzt H.J. Hirsch, JZ 2007, 494 ff., 502. Vor allem der Bochumer Historiker Frey hat sich mit dieser Thematik intensiv auseinandergesetzt: Frey, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergan4 5

Vergangenheitsbewältigung im Rechtsstaat

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Seit einer bekannten Monographie von Norbert Frei sprechen Historiker von „Vergangenheitspolitik“; und der Maßstab, den sie für die Bewertung einer Vergangenheitspolitik anlegen, ist eben der, ob es gelungen sei, die Vergangenheit aufzuarbeiten oder – wie man seit den 50er Jahren sagt – sie zu „bewältigen“. Historiker verfallen regelmäßig in einen vorwurfsvollen Ton gegenüber Juristen, vor allem gegenüber Strafjuristen, wenn sie von den Hürden sprechen, welche vor einer Verurteilung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher aufgebaut wurden. Es heißt dann, die Justiz habe sich nicht intensiv genug um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit bemüht. Diese Vorwürfe der Historiker sind, wie hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, weitgehend berechtigt, vor allem in der Frühzeit der Bundesrepublik ist in dieser Hinsicht viel versäumt worden. Auch ist die Frage nach dem Gelingen der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nur für Historiker, sondern für alle, also auch für Rechtshistoriker und Juristen, eine berechtigte Fragestellung. Doch der Rechtshistoriker muss als Jurist, der er regelmäßig auch ist, eigene Erklärungen geben und eigene Fragen stellen: Er muss erklären, dass der Richter – und gerade der Strafrichter – einerseits zwar Zwangsmittel besitzt, um an Quellen zu gelangen, die dem Historiker nicht ohne weiteres zugänglich sind, dass er aber andererseits kein Historiker ist und dass historische Aufklärung allenfalls ein Reflex seiner Tätigkeit, nicht aber das von ihm angestrebte Ziel sein kann.6 Der Rechtsstaat muss auch seinen Feinden gegenüber die rechtsstaatlichen Grundsätze einhalten – darüber besteht ja, wie die jüngste Diskussion über das „Feindstrafrecht“ gezeigt hat, unter Strafjuristen weitgehend Einigkeit7. Und gerade weil dem Richter Zwangsmittel zur Verfügung stehen, sind seiner Tätigkeit rechtliche Grenzen gesetzt. Für viele Historiker ist dies ein enttäuschender Befund. Die Kehrseite dieses Problems ist folgende: Ist die politische Lage für die Aufarbeitung der Vergangenheit ungünstig – oder möchte man, dass sie ungünstig sei – dann stehen Gesetzgeber und Richter meistens auf der Seite der rechtsstaatlichen genheit, 1997; teilweise kritisch Rasehorn, Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 5 (2003 / 2004), 553 ff.; zur Bedeutung der Erlebnisgeneration und der Erinnerungsgeneration für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit s. Baufeld, Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 8 (2006 / 2007), 1 ff., dazu Vormbaum, ebd. S. IX ff. 6 Die intensiv erörterte Frage nach dem Verhältnis von Richter und Historiker kann hier nicht näher diskutiert werden; s. dazu Frei / Laak / Stolleis, Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, 2000; dazu Bespr. von Niermann, Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 2 (2000 / 2001), 214 ff.; ich selber habe mich mit dieser Frage auseinandergesetzt in: Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils. Untersuchungen zum Strafrechtsschutz des strafprozessualen Verfahrensziels, 1987, S. 122 ff.; Vormbaum, Euthanasie vor Gericht – Gericht über Euthanasie (Einführung), in: ders. (Hrsg), Euthanasie vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt / M. gegen Dr. Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962, S. XV f. 7 Ob dieser Konsens ein substantieller ist oder ob er von einer zu optimistischen Einschätzung des nicht als Feindstrafrecht angesehenen Teils des Strafrechts ausgeht, kann an dieser Stelle nicht näher erörtert werden; s. dazu Naucke (o. Fn. 3), S. 34.

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Forderungen der Strafjuristen; ändert sich die Situation und die Aufarbeitung der Vergangenheit gilt als politisch opportun (meistens dann, wenn es niemandem mehr politisch weh tut), dann nähern Gesetzgeber und Richter sich der Position der Historiker an. So war es auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zunächst wurde die strafrechtliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Gewalt- und Justizverbrechen versäumt oder nur sehr zögerlich geführt, und wenn es zu Strafverfahren kam, erwiesen die Gerichte sich – zum Beispiel bei der Frage der Verhandlungsfähigkeit oder der Haftfähigkeit der Angeklagten – als äußerst sensibel; als dann der Wind sich gedreht hatte, änderte sich auch diese Einstellung, und noch zu Beginn des neuen Jahrtausends wurden über 90jährige Greise als verhandlungsfähig beurteilt, und sie standen vor dem Strafrichter für Taten, die sie vor mehr als 60 Jahren begangen hatten. 1. Zu der Zeit, als die den Angeklagten vorgeworfenen Taten begangen wurden, betrug die Verjährungsfrist für Mord 20 Jahre – jedenfalls bis zum Jahre 1942; dann erhielt die Staatsanwaltschaft die Ermessensbefugnis, Mordtaten auch nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist zu verfolgen.8 Diese Regelung wurde zunächst nach 1945 wieder beseitigt. Als dann aber – nicht zuletzt wegen der zögerlichen Verfolgungstätigkeit der bundesdeutschen Gerichte in Verfahren wegen NSVerbrechen – die Verjährung für Totschlag bereits eingetreten war und der Eintritt der Verjährung auch für Mord drohte, schob der Gesetzgeber in mehreren Schritten den Eintritt der Verjährung hinaus und beseitigte ihn 1979 völlig. Zweimal im 20. Jahrhundert wurde also die Verjährung für Mord beseitigt: beim ersten Mal durch die Nationalsozialisten, beim zweiten Mal durch den bundesdeutschen Gesetzgeber, um nationalsozialistische Verbrechen weiter verfolgen zu können. Das Bundesverfassungsgericht sah in der nachträglichen Verlängerung von (noch nicht abgelaufenen) Verjährungsfristen keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, da sie nicht die (materiellrechtliche) Strafbarkeit, sondern nur die (prozessuale) Verfolgbarkeit betreffe. Unabhängig davon, ob man diese Meinung teilt, kann die Frage gestellt werden, ob man sich zu einer solchen Änderung auch dann entschlossen hätte, wenn es nicht um die Weiterverfolgung von nationalsozialistischen Tätern gegangen wäre. Und unter dem Aspekt eines liberalen Strafrechts ist es problematisch, dass mit einer verhältnismäßig alten strafrechtlichen Tradition gebrochen wurde und für einen klassischen Straftatbestand, wenn auch für den schwersten von allen, die Verjährbarkeit aufgehoben wurde. (Für den Völkermord mögen hier andere Maßstäbe gelten). 2. Ohne ausdrückliche Änderung des Gesetzestextes, aber in Befolgung einer einhelligen Äußerung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform9, wird der subjektive Tatbestand der Rechtsbeugung (heute § 339, damals § 336 StGB) seit 8 Näher zur neueren Entwicklung der Mordverjährung Vormbaum, FS Bemmann, 1997, S. 481 ff.; teilweiser Wiederabdruck in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 1 (1999 / 2000), 271 ff. 9 Näher m. Nachw. Vormbaum, Schutz des Strafurteils (o. Fn. 6), S. 317 ff.

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1975 dahin interpretiert, dass die allgemeine Regel gilt, wonach, wenn nicht eine ausdrückliche gesetzliche Anweisung oder die Natur der Sache etwas anderes fordern, dolus eventualis genügt. Zuvor hatte die herrschende, wenn auch nicht unumstrittene Auffassung dolus directus gefordert.10 Die parlamentarische Willensbekundung dürfte durch eine Praxis ausgelöst worden sein, die dazu geführt hatte, dass wegen der zahllosen während der NS-Herrschaft gefällten Unrechtsurteile kein einziger Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden ist.11 „Erzielt“ worden war dieses Ergebnis durch die Kumulation zweier Faktoren, nämlich des sog. Richterprivilegs, das die Bestrafung richterlicher Handlungen, insbesondere von Urteilen (z. B. wegen Freiheitsberaubung, Nötigung, Tötung) davon abhängig macht, dass durch sie zugleich eine Rechtsbeugung begangen wird12, und eben der Forderung, dass diese Rechtsbeugung mit dolus directus begangen worden ist. Für beide Forderungen gibt es an sich gute Gründe: für das Richterprivileg, dass Grundrechtseingriffe für strafrichterliche Tätigkeit geradezu typisch sind, weshalb eine strafrechtliche Ahndung nur dann eintreten sollte, wenn auch der richterspezifische Tatbestand erfüllt ist; für die Anforderung des dolus directus, dass „falsche Rechtsanwendung“ (so jedenfalls nach damaliger Auffassung die Bestimmung der Rechtsbeugung) objektiv täglich vorkommt; jeder Richter, dessen Urteil aufgehoben wird, bekommt sie bescheinigt und hält dies für möglich und findet sich damit ab; ein Korrektiv in Form der erhöhten Vorsatzsschwelle ist daher nicht unangemessen. Dass aber das Richterprivileg auch den Richtern des NS-Regimes zugebilligt wurde, ja dass es für sie geradezu erfunden wurde13, war jedoch weder geboten noch naheliegend.14 Ein Richter wie der Nürnberger Strafkammer10 S. die Nachweise bei Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung, 1982, S. 82 ff. 11 Dencker, NS-Justiz vor Gericht, in: Requate (Hrsg.), Recht und Justiz im gesellschaftlichen Aufbruch (1960 – 1975). Bundesrepublik, Italien und Frankreich im Vergleich, 2003, S. 93. Auslöser für die Intensivierung der Diskussion um den Rechtsbeugungsvorsatz und damit letztlich für die Äußerung des Sonderausschusses war die Rechtsprechung des BGH im sog. Rehse-Urteil; dazu Thiel, Rechtsbeugung – § 339. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 2005, S. 148 ff. 12 Zum richterlichen Haftungsprivileg s. Kuhlen, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 339 Rn. 90 ff.; Thiel (o. Fn. 11), S. 136 ff. 13 Soweit ersichtlich, wird die These vom Richterprivileg erstmals von Radbruch in seinem bekannten Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ aus dem Jahre 1946 vertreten: Radbruch, SJZ 1946, 105 ff.; Neuausgabe mit einer Einleitung von Winfried Hassemer, 2002. Ich habe in den 80er Jahren im Rahmen meiner Habilitationsschrift (Vormbaum, Schutz des Strafurteils [o. Fn. 6], S. 354 ff.) alle mir erreichbaren Lehrbücher, Kommentare und Gerichtsentscheidungen aus der Zeit bis 1945 durchgesehen und habe keine einzige Stelle gefunden, an der von einem solchen Richterprivileg die Rede war; mein Doktorand Thiel, der kürzlich die Geschichte des Rechtsbeugungstatbestandes seit dem 19. Jahrhunderts untersucht hat, hat einen weiteren, noch breiter angelegten Versuch unternommen und ist zu demselben negativen Ergebnis gelangt, Thiel (o. Fn. 11), S. 136 ff. 14 Dencker, Die strafrechtliche Beurteilung von NS-Rechtsprechungsakten, in: Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, S. 294 ff.; zustimmend Vormbaum, Schutz des Strafurteils (o. Fn. 6), S. 350 ff.

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vorsitzende Rothaug, der 1937 den jüdischen Kaufmann Leo Katzenberger wegen Rassenschande zum Tode verurteilt hatte15, verdiente schließlich keine privilegiertere Behandlung als ein KZ-Bewacher, der Häftlinge getötet, oder ein Militär, der Kriegsverbrechen begangen hatte. 3. Aber nicht nur die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hat Rückwirkungen auf das Strafrecht gehabt; es gab solche auch bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Wir können insoweit gleich beim Tatbestand der Rechtsbeugung bleiben. Er spielte auch bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit eine Rolle. Bemerkenswert ist hier, dass der Bundesgerichtshof die Versäumnisse seiner Kollegen bei der Verfolgung des Justizunrechts der nationalsozialistischen Vergangenheit kritisiert und sich für deren Rechtsprechung regelrecht entschuldigt hat16. Dies hinderte freilich nicht, dass das Richterprivileg nunmehr auch Richtern der DDR zugebilligt wurde, die vor allem deshalb angeklagt waren, weil sie Regimegegner aus politischen Gründen arbeitsrechtlich benachteiligt hatten – ein fragwürdiges Vorgehen, da die Richter der DDR erklärtermaßen nicht unabhängig waren. Die Hürde des dolus directus war freilich inzwischen gefallen. Der Bundesgerichtshof ließ sich jedoch eine neue Schranke im objektiven Tatbestand einfallen, die noch effektiver sein dürfte als diejenige des dolus directus, ihr gegenüber jedoch den Nachteil größerer Unbestimmtheit mit sich bringt17. Durch den Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR war allerdings ausdrücklich das Strafgesetzbuch der DDR aufgehoben worden. Das formale Argument, dass zur Zeit der Tat und zur Zeit des Urteils derselbe Straftatbestand gegolten habe, mit dem bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein tatbestandliches Rückwirkungsproblem geleugnet worden war, stand damit nicht mehr zur Verfügung. § 2 StGB, der im Einigungsvertrag ausdrücklich als Regel für den an Alttaten anzulegenden Maßstab genannt wird, hätte an sich zu der Konsequenz führen müssen, dass, da der Tatzeit-Tatbestand beseitigt war, das mildere Recht, nämlich Straflosigkeit, eintrete. Allerdings war durch den Einigungsvertrag das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik auf die DDR ausgedehnt worden, so dass man sich auf den Standpunkt stellen konnte, dass die neuen (westdeutschen) Tatbestände an die Stelle der alten DDR-Tatbestände getreten seien. Hier hätte nun die Lehre vom geschützten Rechtsgut reale Bedeutung erhalten können. Nach ihr war die erwähnte Argumentation dort unproblematisch, wo es sich um Tatbestände mit individuellen bzw. persönlichen Rechtsgütern handelte. Im Bereich von Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung und Körperverletzung schützen der einschlägige bundesdeutsche Tatbestand und derjenige der DDR zweifellos dasselbe Rechtsgut; deshalb konnte man bei den Todesschüssen an der Grenze davon ausgehen, dass S. dazu die Dokumentation von Kohl, Der Jude und das Mädchen, 1997. BGHSt 41, 317 ff., 339 f. 17 BGHSt 40, 30 ff. beschränkt den objektiven Tatbestand auf Fälle, in denen „die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich ist und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derartig schwerwiegend verletzt werden, dass sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt“. 15 16

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der bundesdeutsche Tatbestand an die Stelle des entsprechenden DDR-Tatbestandes getreten war18. Zweifelhaft wurde diese Argumentation aber dort, wo das geschützte Rechtsgut ein überindividuelles bzw. kollektives war. Der Rechtsbeugungs-Tatbestand der DDR schützte – jedenfalls im Kern – das Recht der DDR, der Rechtsbeugungs-Tatbestand der Bundesrepublik schützt das Recht der Bundesrepublik. Dass beispielsweise ein schweizerischer oder italienischer Richter, der eine Rechtsbeugung begeht, dafür nach deutschem Recht nicht bestraft werden kann, weil weder ein individuelles Rechtsgut noch ein staatliches deutsches Rechtsgut verletzt sei, war bis dahin ausgemacht. Die bundesdeutsche Justiz bis hin zum BGH zeigte sich indes von diesen Hinweisen nicht beeindruckt; sie entdeckte in den jeweiligen Tatbeständen der DDR und der BRD einen „gemeinsamen Unrechtskern“19. 4. Noch deutlicher zeigte sich dies Problem in der Rechtsprechung zu den DDR-Wahlfälschungen: Jahrzehntelang war unumstritten, dass der Wahlfälschungstatbestand des § 107a StGB dem Schutz der staatlichen Veranstaltung „Wahl“, also eines Kollektivgutes, diene. Das Strafgesetzbuch der DDR schützte die Korrektheit der Wahlen der DDR, und das Strafgesetzbuch der BRD schützt die Korrektheit der Wahlen der BRD. Da nun das Strafgesetzbuch der DDR aufgehoben worden war, die Wahlpersiflage der DDR aber schwerlich als Institution dem Schutz des bundesdeutschen Strafrechts unterstellt werden konnte, erfand die Rechtsprechung hier ein zusätzliches Individualrechtsgut „Recht des Bürgers auf ungestörte Wahrnehmung des Wahlrechts“20. Man kann sicherlich darüber nachdenken, ob es nicht besser wäre, dem § 107a StGB überhaupt nur diesen Sinn zuzuweisen; anlässlich eines unbefriedigenden Ergebnisses zusätzlich eingeführt, schwächte sie jedoch die kritische Potenz des Rechtsgüterschutzgedankens. Hinzukommt, dass der Bundesgerichtshof diese Rechtsgutverdoppelung offenbar nur in einer Richtung vorgenommen sehen wollte, nämlich bei Manipulationen der DDR-Wahlen im Interesse der SED, nicht hingegen in dem theoretisch ebenfalls denkbaren Fall, dass ein heimlicher Sympathisant der Bürgerrechtsbewegung im Apparat die Wahlen in deren Sinne verfälscht hätte21.

18 Ob auf der Ebene der Rechtswidrigkeit die Übertragung der sog. Radbruchschen Formel auf die Taten der Mauerschützen im Sinne des Erfinders der Formel war, erscheint freilich eher zweifelhaft. 19 Zu den Argumenten des BGH und ihrer Kritik s. Vormbaum, Der Schutz von Institutionen der DDR durch das bundesdeutsche Strafrecht, FS Posser, 1997, S. 165 ff. 20 BGHSt 39, 54; bestätigt durch BVerfG NJW 1993, 2524. 21 Ausführlich (mit Nachweisen) Vormbaum, Zur Strafbarkeit der Fälschung von DDRWahlen nach bundesdeutschem Recht, in: Jahrbuch 1994 der Gesellschaft der Freunde der Fernuniversität Hagen, 1995, S. 79 ff.; ders., FS Posser, 1997, S. 153 ff.

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IV. Fassen wir zusammen: Im Bereich der Verjährung, im Bereich der Rechtsbeugung – dort gleich zweimal – sowie im Bereich der Wahlfälschung hat die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit zu einer Veränderung des Instruments der Aufarbeitung selbst, nämlich des Strafrechts, geführt, und zwar durchweg zu einer Veränderung im Sinne seiner Expansion. Mord verjährt nicht mehr, für Rechtsbeugung und Wahlfälschung wurden klare Rechtsgutbeschreibungen aufgeweicht; bei der Rechtsbeugung wurde ferner das klare Einschränkungskriterium des dolus directus durch eine Einschränkung des objektiven Tatbestandes mittels vager Kriterien ersetzt. Weitere weniger spektakuläre Folgen wie die bisher beschriebenen, in denen ebenfalls die Aufarbeitung der Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen hat, werden sich in der Gesetzgebung und im Justizalltag finden lassen, die angeführten Beispiele mögen indes genügen. Nicht strukturell, aber doch anlassbedingt hängt mit der behandelten Thematik ein weiterer Bereich zusammen. Im Bereich der Lehre von Täterschaft und Teilnahme stellte sich das Problem, wie man sog. Schreibtischtäter vom Schlage Adolf Eichmanns behandeln solle, deren Untergebene im Einzelfall weitgehend selbständig gehandelt hatten. Diesem Ziel diente die Figur der Organisationsherrschaft. Ursprünglich auf die genannten Fälle gemünzt, hat diese Rechtsfigur seither Karriere gemacht; Wissenschaft und Justiz haben sie als Instrument zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und der sog. organisierten Kriminalität entdeckt22. Ergänzt werden kann auch der Tatbestand der „Holocaust-Leugnung“ bzw. „Auschwitz-Lüge“, der seine Vorläufer nicht gerade in einem vorbildlichen Teil der deutschen Strafrechtstradition hat23 und in Deutschland und Österreich schon zu Strafen geführt hat, für die man sonst eine Bank überfallen müsste. Aus historischer Sicht gab es gewiss Gründe für manche der geschilderten Operationen. Bei näherem Hinsehen handelt es sich bei den Ausgangsbeispielen durchweg um Folgen von vorausgehenden fragwürdigen Entscheidungen. Die Verlängerung der Verjährungsfristen, dann die Aufhebung der Verjährung für Mord war im wesentlichen die Folge der zunächst zögerlichen Aufnahme der Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen; die Erhöhung der Schwelle für die Anerkennung von Verhandlungsunfähigkeit liegt auf derselben Linie. Die Herabsetzung der Vorsatzschwelle bei der Rechtsbeugung war im wesentlichen die Folge der Entscheidung, das sog. Richterprivileg auf die Justiz des NS-Regimes anzuwenden. Die Aufweichung des Rechtsgüterschutzgedankens im Bereich von Wahlfälschung und Rechtsbeugung, also ausgerechnet in einem der wenigen Bereiche, 22 Zum ganzen Komplex zuletzt der Sammelband Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000. 23 Dazu in Kürze Rohrßen. Von der ,Anreizung zum Klassenkampf‘zur ,Volksverhetzung‘ (§ 130 StGB).

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in dem er bis dahin noch seine Begrenzungsfunktion entfaltet hatte, verdankte sich der vorschnellen Ersetzung des Strafgesetzbuchs der DDR durch dasjenige der Bundesrepublik. Unter den beiden ergänzend genannten Beispielen unterscheidet das erste sich von den Ausgangsbeispielen dadurch, dass es nicht der Kompensation von eigenen Fehlern und Versäumnissen der Strafverfolger diente, sondern auf ein neues Phänomen reagierte; das zweite Beispiel liegt noch weiter von den Ausgangsbeispielen entfernt, denn es betrifft – ähnlich wie der Tatbestand des § 86a StGB24 – nicht die Aufarbeitung der Vergangenheit durch Verfolgung der damaligen Täter, sondern die Verfolgung gegenwärtiger Täter. Ebenso wie in den Ausgangsbeispielen handelt es sich auch in den ergänzenden Beispielen um Operationen, die „verständlich“ sind. Gefährlich für die Rechtsstaatlichkeit sind aber auch sie, denn im ersten Fall erfolgte eine Ausdehnung der strafrechtlichen Verantwortung auf weit vom konkreten Tatgeschehen entfernte Personen, und im zweiten Fall gerät der Tatbestand in die Nähe einer Zensur geschichtswissenschaftlicher Ansichten. So berechtigt die Forderung war, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verfolgen – selbst Strafrechts-Abolitionisten werden ja mit der Entkriminalisierung nicht gerade bei „staatsverstärkter Kriminalität“ beginnen – und so sehr es dem Wiederaufkommen nazistischer und rassistischer Tendenzen zu begegnen gilt – Sensibilität ist gefordert, wenn Strafrecht und Strafprozess zum Mittel der Überwindung, der Aufarbeitung oder der Verhinderung eines abgelehnten politischen Systems gemacht werden sollen. Die Grenze zwischen der – berechtigten – Verfolgung von Staatsverbrechen zur – problematischen – Instrumentalisierung des Strafrechts zu politischen Zwecken kann auch im demokratischen Eifer überschritten werden.

V. Und alle angeführten Beispiele wirken über ihren Anlass hinaus. Vor allem die Auswirkungen der aufgehobenen Verjährung für Mord machen sich aktuell bemerkbar, da die Verfolgung terroristischer Anschläge aus den 70er Jahren wieder aufgenommen wird. Die neuen Möglichkeiten der DNA-Analyse führen zur Wiederaufnahme der Verfolgung von Taten, die früher bereits seit Jahrzehnten verjährt gewesen wären. Und jüngst hat nach Zeitungsberichten die Justizministerin von Nordrhein-Westfalen, die sonst nicht durch eine populistische Kriminalpolitik aufgefallen ist, eine „Gerechtigkeitslücke“ darin entdeckt, dass bei Mord eine Verjährung ausgeschlossen sei, bei Totschlag aber nicht. Sie will diese Ungerechtigkeit 24 Dort hat immerhin der Bundesgerichtshof in seiner jüngsten Entscheidung seine Rechtsprechung für die Fälle, in denen die Verwendung des Zeichens einer verfassungswidrigen Organisation in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu dieser Organisation zum Ausdruck bringt, gemildert, s. BGH JR 2007, 521 ff. m. Anm. M. Vormbaum.

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mit einer Gesetzesinitiative beseitigen – natürlich dadurch, dass auch für Totschlag die Verjährung beseitigt wird. Die Ausweitung des Rechtsbeugungstatbestandes hat auf rechtsgutstheoretischer Ebene inzwischen ihre rechtsdogmatische Unterstützung gefunden.25 Damit löst sich die Betrachtung vom konkreten Anlass. Die problematischen Züge der erörterten Beispiele fügen sich nämlich in eine Tendenz der Strafrechtsentwicklung ein, die sich über das ganze 20. Jahrhundert hinzieht. Dies wäre jedoch Stoff für einen eigenen Beitrag, weshalb hier nur noch auf jene Merkmale hingewiesen sei, die in den letzten Jahren verschiedentlich herausgearbeitet worden sind: Expansion, Materialisierung, Ethisierung, Subjektivierung und Funktionalisierung26. An dieser Tendenz nehmen das nationalsozialistische Strafrecht und das Strafrecht der DDR ebenso teil wie das bundesdeutsche Strafrecht, mit dem die Vergangenheit beider aufgearbeitet worden ist. Man könnte sich damit trösten, dass „Systemkriminalität“ größeren Ausmaßes zukünftig nach den Regeln des Völkerstrafrechts abgeurteilt wird und die „Lockerungen“, die in diesem Bereich nötig sein mögen, weil das alltägliche Strafrecht solchen außerordentlichen Herausforderungen nicht gewachsen sein könnte, sich auf diese Weise isolieren lassen. Der Trost ist jedoch ein schwacher, denn längst haben sich, wie erwähnt, die verhängnisvollen Elemente allenthalben im Strafrecht festgesetzt. Der „unmögliche Zustand des Strafrechts“27 ist ein allgemeiner, und ein Ende dieses Zustandes ist nicht abzusehen28.

25 Scholderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat, 1992; Schulz, Rechtsbeugung und Mißbrauch staatlicher Macht, StV 1995, 206 ff. Die Rechtsprechung hatte freilich die Heranziehung von Individualschutz-Gesichtspunkten explizit nur bei der Wahlfälschung vollzogen; die neueren Konstruktionen folgen aber der dortigen Logik. 26 S. z. B. Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, S. 43 ff.; s. auch Vormbaum, 130 Jahre Strafgesetzgebung. Markierungspunkte und Tendenzen, in: ders. / Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 456 ff., 479 f.; Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen zwischen 1933 und 1945 und ihre Fortwirkung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1992. 27 Vgl. Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995. 28 Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts zeigt, dass von dort Abhilfe – die ja ohnehin nur die extremen Ausschläge mildern könnte – nicht zu erwarten ist. Wenn der Rechtsgüterschutzgedanke nicht einmal ausreicht, dem fragwürdigen, seit 200 Jahren umstrittenen Tatbestand des Geschwister-Inzests den verfassungsrechtlichen Segen zu verweigern, vielmehr eine erdrückende Mehrheit des zweiten Senats sich gegen die zwingenden Argumente des Senatsvorsitzenden auf das weite gesetzgeberische Ermessen im Bereich des Strafrechts – das doch gerade dort am wenigsten weit sein dürfte – beruft, so bedeutet dies, dass diesem Gedanken von höchstrichterlicher Stelle der Abschied erteilt worden ist; vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Zweiten Senats vom 26. Februar 2008: http: / / www.bverfg.de / entscheidungen / rs20080226 _2bvr039207.html.

Verzeichnis der Schriften von Knut Amelung 1. Monographien Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens. Frankfurt 1972, 439 S. Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Strafrechtliche Abhandlungen Bd. 28, Berlin 1976, 81 S. Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes. Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 392, Berlin 1981, 151 S. Der Hausfriedensbruch. Kurs-Skriptum der Fernuniversität Hagen. 1. Aufl. 1983, 2. Aufl. 1989 Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß. Dogmatische Grundlagen individualrechtlicher Beweisverbote. Schriften zum Prozessrecht Bd. 97, Berlin 1990, 111 S. Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen? Analyse des Problemfeldes Forschungsbedarf und Einwilligungsproblematik, H. Helmchen / H. Lauter (Hrsg.), Stuttgart / New York 1995, 104 S. Vetorechte beschränkt Einwilligungsfähiger in Grenzbereichen medizinischer Intervention. Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 140. Berlin / New York 1995, 30 S. Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz. Dresdner Juristische Beiträge, Heft 1, 1996, 37 S.; auch abgedruckt in: S. Hogaku Ronshu, Nr. 69 (März 1997), S. 33 ff., ins Japanische übersetzt von Y. Hidaka. Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten, Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge Bd. 108, Berlin 1998, 97 S. Die Ehre als Kommunikationsvoraussetzung. Studien zum Wirklichkeitsgehalt des Ehrbegriffs und seiner Bedeutung im Strafrecht, Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik Bd. 10, Baden-Baden 2002, 86 S.

2. Herausgebertätigkeiten Die Untersuchungshaft. Arbeitskreis Strafprozessreform, Heidelberg 1983. Zusammen mit Ursula Nettes und Thomas Vormbaum. Stosowanie Srodkow Przymusu W Procesie Karnym (Die Anwendung der Zwangsmaßnahmen im Strafprozeß), Universität Kattowitz 1990. Zusammen mit K. Marszal.

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Kultur, Wissenschaft und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Erwartungen, Visionen – Ängste? Vorträge auf dem Symposium zum 65. Geburtstag von Hans-Ludwig Schreiber, Göttinger Universitätsreden Heft 91, Göttingen 1999. Zusammen mit Hans Lilie, Hennig Rosenau, Hinrich Rüping, Gabriele Wolfslast und Werner Beulke. Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, Sinzheim 2000. In Japanisch herausgegeben von K. Yamanaka, Tokyo 2002. Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2003. Zusammen mit Werner Beulke, Hans Lilie, Henning Rosenau, Heinrich Rüping, Gabriele Wolfslast.

3. Abhandlungen in Sammelwerken und Festschriften Art. Internationale Gerichtsbarkeit, in: P. Badura u. a. (Hrsg.), Fischerlexikon „Recht“, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1971, S. 69. Die Zulässigkeit der Einwilligung bei den Amtsdelikten, in: E. W. Hanack u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag, Berlin / New York 1982, S. 487 ff. Zulässigkeit und Freiwilligkeit der Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtsbeeinträchtigungen, in: B. Rüthers / K. Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat. Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der Gesellschaft für Rechtspolitik, München 1984, S. 1 ff. Grundrechtstheoretische Aspekte der Entwicklung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte Bd. 2, Göttingen 1987, S. 291 ff. Die Rechtfertigung und Entschuldigung von Polizeibeamten im deutschen Recht; in: A. Eser u. a. (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung. Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd. 2, Freiburg 1988, S. 1327 ff. Ogolna charakterystika ograniczen karnoprocesosych praw konstytucyjnych w RFN (Zur Charakterisierung strafprozessualer Grundrechtseingriffe), in: K. Amelung / K. Marszal, Stosowanie Srodkow Przymusu W Procesie Karnym (Die Anwendung der Zwangsmaßnahmen im Strafprozeß), Universität Kattowitz 1990, S. 28 ff. Zusammen mit R. Köhnen. Zastrzezenie wylacznosci podstawy ustawowej przy karnoprocesowych ograniczeniach w RFN (Der Vorbehalt des Gesetzes bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen), in: K. Amelung / K. Marszal, Stosowanie Srodkow Przymusu W Procesie Karnym (Die Anwendung der Zwangsmaßnahmen im Strafprozeß), Universität Kattowitz 1990, S. 70 ff. Uprawnienie do stosowania ograniczen praw obywatelskich i obowiazek ich znoszenia w RFN (Die Zuständigkeit zur Anordnung und die Passivbeteiligung bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen), in: K. Amelung / K. Marszal, Stosowanie Srodkow Przymusu W Procesie Karnym (Die Anwendung der Zwangsmaßnahmen im Strafprozeß), Universität Kattowitz 1990, S. 99 ff. Zusammen mit G. Pauli.

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Ochrona prawna przed karnoprocesowymi ograniczeniami praw konstytucyjnych w RFN (Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe), in: K. Amelung / K. Marszal, Stosowanie Srodkow Przymusu W Procesie Karnym (Die Anwendung der Zwangsmaßnahmen im Strafprozeß), Universität Kattowitz 1990, S. 135 ff. Rechtsgutsverletzung und Sozialschädlichkeit, in: H. Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral. Beiträge zu einer Standortbestimmung, Baden-Baden 1991, S. 269 ff. Kommentierung der §§ 94 – 100, 102 – 110 StPO in: R. Wassermann (Hrsg.), Alternativ Kommentar zur StPO. Bd. 2, Neuwied 1992. Zum Verantwortungsmaßstab bei der mittelbaren Täterschaft durch Beherrschung eines nicht verantwortlichen Selbstschädigers, in: B. Schünemann / J. de Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des Europäischen Strafrechts, Köln 1995, S. 247 ff.; auch abgedruckt in S. Sanchez / B. Schünemann / J. de Figueiredo Dias (Hrsg.), Fundamentos de un Sistema Europeo del Derecho Penal, Barcelona 1995, S. 323 ff. Informed Consent in Psychiatry, National Report Germany, in: H. G. Koch / S. ReiterTheil / H. Helmchen (Hrsg.), Informed Consent in Psychiatry, Baden-Baden 1996, S. 97 ff. J.M.F. Birnbaums Lehre vom strafrechtlichen Güter-Schutz als Übergang vom naturrechtlichen zum positivistischen Rechtsdenken, in: D. Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, Band 1, Goldbach 1997, S. 349 ff. Subjektive Rechte in der Lehre von den strafprozessualen Beweisverboten, in: J. Schulz / T. Vormbaum (Hrsg.), Festschrift für Günter Bemmann zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 1997, S. 505 ff. Art. „Zwangsbehandlung, rechtlich“ in: W. Korff (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Band 3, Gütersloh 1998, S. 806 ff. Art. „Zwangseinweisung / Zwangsunterbringung, rechtlich“, in: W. Korff (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Band 3, Gütersloh 1998, S. 808 ff. Strafrechtliche Grenzen audiovisueller Kommunikation, in: G. Hohloch (Hrsg.), Aspekte des Rechts der audiovisuellen Kommunikation, Baden-Baden 1999, S. 119 ff.; in französischer Sprache, S. 139 ff. Die Neutralisierung geschäftsmäßiger Beiträge zu fremden Straftaten im Rahmen des Beihilfetatbestandes, in: E. Samson u. a. (Hrsg.), Festschrift für Gerald Grünwald zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 1999, S. 9 ff. Entwicklung, gegenwärtiger Stand und zukunftsweisende Tendenzen der Rechtsprechung zum Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, in: C. W. Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 4, Köln / Berlin / Bonn / München 2000, S. 911 ff. Zum Streit über die Lehre von den Beweisverwertungsverboten, in: H. J. Rudolphi u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, Berlin / New York 2001, S. 1259 ff. Der frühe Luhmann und das Gesellschaftsbild bundesrepublikanischer Juristen. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: C. Prittwitz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüderssen, Baden-Baden 2002, S. 7 ff.; ins Spanische übersetzt in: Revista Peruana de Doctrina y Jurisprudencia Penales, 2002, Nr. 3, S. 33 ff.; auch abgedruckt in: Revista Brasileira de Ciencias Criminais 50 (2004), S. 280 ff.

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Der Einfluss des südwestdeutschen Neukantianismus auf die Lehre vom Rechtsgüterschutz im deutschen Strafrecht, in: R. Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, Baden-Baden 2002, S. 363 ff. Die Einwilligungsfähigkeit in Deutschland, in: C. Kopetzki (Hrsg.), Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit, Recht der Medizin Bd. 16, Wien 2002, S. 24 ff. Prinzipien der Verwertungsverbote, in: G. Duttge u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, Köln 2002, S. 417 ff.; ins Polnische übersetzt in: K. Marszal, Wspólczesne problemy procesu karnego i wymiaru sprawiedliwo’sci, Ksiega ku czci, Katowice 2003, S. 17 ff. Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: R. Hefendehl u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, Baden-Baden 2003, S. 155 ff. Zur Akzeptanz des deutschen Notwehrrechts in der Bevölkerung, in: K. Amelung u. a. (Hrsg.), Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2003, S. 3 ff. Zusammen mit Ines Kilian. Normstruktur und Positivität strafprozessualer Beweisverbote, in: J. Wolter u. a. (Hrsg.), Datenübermittlungen und Vorermittlungen. Festgabe für Hans Hilger zum 65. Geburtstag, Heidelberg 2003, S. 327 ff. Der strafprozessuale Eingriff in ein Grundrechtsgut als Staatsakt, in: M. Brenner u. a. (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, S. 3 ff. Zum Wirklichkeitsbezug der Ehre und ihrer Verletzung, insbesondere bei sexuellen Beleidigungen, in: K. Rogall u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag, Neuwied 2004, S. 373 ff. Auf der Rückseite der Strafnorm. Opfer und Normvertrauen in der strafrechtsdogmatischen Argumentation, in: J. Arnold u. a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 3 ff. Die Anstiftung als korrumpierende Aufforderung zu strafbedrohtem Verhalten, in: A. Hoyer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 147 ff. Statement zum Vortrag von Axel Boetticher, Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin, in: T. Hillenkamp / B. Tag (Hrsg.), Intramurale Medizin – Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug, Berlin / Heidelberg / New York 2005, S. 81 ff. Mensch und Person als Schutzobjekte strafrechtlicher Normen insbesondere bei Körperverletzung, in: G. Dannecker u. a. (Hrgs.), Festschrift für Harro Otto, Köln / Berlin / München 2007, S. 527 ff. Zusammen mit Jörn Lorenz. Zwangsbefugnisse für Europol?, in: J. Ruthig / W.-R. Schenke / J. Wolter (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, Heidelberg 2008, S. 233 ff. Zusammen mit Matthias Mittag.

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4. Abhandlungen in Zeitschriften Zur Frage der Vereinbarkeit vollstreckungsrechtlicher Durchsuchungen mit dem Richtervorbehalt in Art. 13 Abs. 2 GG, in: Zeitschrift für Zivilprozeß 1975, S. 74 ff. Unternehmerpfandrecht und Schadensberechnung beim Betrug, in: NJW 1975, S. 675 ff. Zum Einsatz von Polizeispitzeln: Hausfriedensbruch und Notstandsrechtfertigung, Wohnungsgrundrecht und Durchsuchungsbefugnis. Besprechung von OLG München, NJW 1972, S. 2275, in: JuS 1975, S. 565 ff. Zusammen mit Hero Schall. Irrtum und Zweifel des Getäuschten beim Betrug, in: GA 1977, S. 1 ff. Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates?, in: NJW 1977, S. 833 ff. Nochmals: § 34 StGB als öffentlichrechtliche Eingriffsnorm, in: NJW 1978, S. 623 ff. Probleme des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, in: NJW 1979, S. 1678 ff. Zur Behandlung des Rechts am eigenen Bild in der neueren strafrechtlichen Rechtsprechung, in: NJW 1980, S. 1560 ff. Zusammen mit Ch. Tyrell. Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung (Vortrag auf der Strafrechtslehrertagung 1979), in: ZStW 92 (1980), S. 19 ff. Einwilligung und Verfügungsbefugnis bei staatlichen Beeinträchtigungen des Fernmeldegeheimnisses i. S. d. Art. 10 GG, in: MDR 1980, S. 801 ff. Zusammen mit G. Pauli. Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Roxin, in: JZ 1982 S. 618 ff.; wieder abgedruckt in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin 1984; S. 85 ff.; ders. (Hrsg.), Gendai keiho taikei no kihon mondai, Tokyo 1990, S. 73 ff. (übersetzt von Y. Hidaka). Das Problem der heimlichen Notwehr gegen die erpresserische Androhung kompromittierender Enthüllungen, in: GA 1982, S. 381 ff. Zum heutigen Stand der Lehre vom Rechtsgüterschutz in der deutschen Strafrechtswissenschaft, in: jurist (Japan) 1982, S. 88 ff., ins Japanische übersetzt von Y. Hidaka. Die Einwilligung des Unfreien. Das Problem der Freiwilligkeit bei der Einwilligung eingesperrter Personen, in: ZStW 95 (1983), S. 1 ff. Grenzen der Beschlagnahme notarieller Unterlagen, in: Deutsche Notarzeitung 1984, S. 195 ff. Bestechlichkeit und Förderung einer Selbstschädigung im Maßregelvollzug. Besprechung von BGH NJW 1983, S. 462, in: JuS 1984, S. 595 ff. Zusammen mit J. Weidemann. Probleme der Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtsbeeinträchtigungen, in: Strafverteidiger 1985, S. 257 ff. Die Rechtfertigung von Polizeivollzugsbeamten, in: JuS 1986, S. 329 ff. Der Hausfriedensbruch als Mißachtung physisch gesicherter Territorialität, in: ZStW 98 (1986), S. 355 ff.

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Bemerkungen zum Schutz des „befriedeten Besitztums“ in § 123 StGB, in: NJW 1986, S. 2075 ff. Zur dogmatischen Einordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe, in: JZ 1987, S. 737 ff. Problematyka zgody osoby, której naruszono podstawowe prawa obywatelskie w procesie karnym (Probleme der Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtsbeeinträchtigungen), in: Uniwersytet Slaski, Problemy Prawa Karnego 13 (1987), S. 11 ff. Der Grundrechtsschutz der Gewissenserforschung und die strafprozessuale Behandlung von Tagebüchern, in: NJW 1988, S. 1002 ff. Sozialer Wandel und Rechtssystem, in: Jura 1988, S. 393 ff. sowie in: Trierer Beiträge aus Forschung und Lehre an der Universität Trier 1989, S. 38 ff. Stellungnahme zum Artikelgesetz, in: Strafverteidiger 1989, S. 72 ff. Zusammen mit W. Hassemer, H.J. Rudolphi, S. Scheerer. Die zweite Tagebuchentscheidung des BVerfG, in: NJW 1990, S. 1753 ff. Grundfragen der Verwertungsverbote bei beweissichernden Haussuchungen im Strafverfahren, in: NJW 1991, S. 2533 ff. Strafrechtlicher Grundrechtsschutz gegen die Polizei, in: ZRP 1991, S. 143 ff.; leicht verändert auch in: Brusten (Hrsg.), Polizei-Politik, Beiheft 4 zum Kriminologischen Journal 1992, S. 168 ff. Über die Einwilligungsfähigkeit, in: ZStW 104 (1992), S. 525 ff., 821 ff. Zur strafprozessualen Verwertbarkeit von Videoaufzeichnungen ohne spezialgesetzliche Ermächtigung, in: JuS 1993, S. 196 ff. Strafbarkeit von „Mauerschützen“. Besprechung von BGH NJW 1993, 141, in: JuS 1993, S. 637 ff.; sowie in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden, Jahrgang 43 (1994), Heft 1, S. 60 ff. Der Bundesgerichtshof als „Gesetzgeber“ im Bereich des materiellen Strafrechts –, Lederspray-, Geldstrafen- und Methadon-Entscheidung des BGH, in: „Rechtsgestaltende Wirkung des Revisionsrechts“, Schriftenreihe des Deutschen Anwaltvereins, AG Strafrecht, Bd. 10 (1993), S. 64 ff. Constitution et procès pénal en Allemagne, in: Revue de Science Criminelle et de Droit Pénal Comparé 1994, S. 459 ff.; wiederabgedruckt in spanischer Sprache in: Ambos / Lynett (Hrsg.), Constitución y sistema acusatorio, 2005, S. 19 ff. Probleme der Einwilligungsfähigkeit, in: Recht und Psychiatrie, Heft 1 / 95, 13. Jahrgang, S. 20 ff.; auch abgedruckt in: Hiroshima Hogaku, 18 (1995), S. 209 ff., und in: Kansai university review of law and politics, No. 16 (1995), S. 61 ff. Aufklärungspflicht – die Jurisprudenz vor den Toren der Medizin, in: Hippokrates mikros 1995, Nr. 4, S. 6 ff. Sitzblockaden, Gewalt und Kraftentfaltung. Zur dritten Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG, in: NJW 1995, S. 2584 ff. Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz – Ein Zwischenbericht, in: GA 1996, S. 51 ff.

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Zur Verantwortlichkeit Drogenabhängiger für Selbstschädigungen durch den Gebrauch von Suchtstoffen, in: NJW 1996, S. 2393 ff., sowie in: H. J. Hirsch / P. Hofmanski / E.W. Plywaczewski / C. Roxin (Hrsg), Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Straf- und Strafprozeßrecht, Bialystok 1996, S. 387 ff. Über das Naturrecht, in: fak. jur. 1996, Nr. 3, S. 12 f. Obedience to superior order and corporal punishment as an educational method, in: Israel Law Review 30 (1996), S. 154 ff. Willensmängel bei der Einwilligung als Tatzurechnungsproblem, in: ZStW 109 (1997), S. 490 ff. Noch einmal: Notwehr gegen sog. Chantage, in: NStZ 1998, S. 70 ff. Rechtsfragen der Behandlung einwilligungsunfähiger Patienten, Beilage zum Ärzteblatt Sachsen, Heft 5 / 1998. Über Freiheit und Freiwilligkeit auf der Opferseite der Strafnorm, in: GA 1999, S. 182 ff. Einwilligungsfähigkeit und Rationalität, in: JR 1999, S. 45 ff. Die Verwertbarkeit rechtswidrig gewonnener Beweismittel zugunsten des Angeklagten und deren Grenzen, in: Strafverteidiger Forum, Heft 1999, S. 181 ff.; abgedruckt auch in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), 23. Strafverteidigertag vom 12. – 14. März 1999, S. 175 ff. Einwilligungsfähigkeit bei klinischen Prüfungen, in: Pharmakopsychiatrie 32 (1999), S. I ff.; in englischer Sprache auch in: Pharmacopsychiatry, 32 (1999), S. 165 ff. Zusammen mit N. Nedopil, J. Aldenhoff, F. X. Eich, J. Fritze, M. Gastpar, W. Maier und H. J. Möller. Amnestie für DDR Unrecht?, in: fak. jur. 2000, Nr. 9, S. 15 ff. Competency to Consent – A German Approach, in: European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2000, S. 1 ff. Die Einwilligung zwischen medizinischer Erfahrung, amerikanischer Ethik und kulturellem Gedächtnisverlust, in: MedizinRecht 2000, S. 530 f. Der Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe und die neue Rechtsprechung zur Ausweitung des Eingriffsbegriffs bei staatlichen Ermittlungsmaßnahmen, in: StV 2001, S. 131 ff. Die Einwilligung des Verletzten im Strafrecht, in: JuS 2001, S. 937 ff. Zusammen mit F. Egmann. Die Entscheidung des BVerfG zur „Gefahr im Verzug“ i. S. d. Art. 13 II GG, in: NStZ 2001, S. 337 ff. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit 1990 zum Schutz der materiellen Grundrechte im Strafverfahren, in: StV 2002, S. 161 ff. Zusammen mit Stefan Wirth. Sein und Schein bei der Notwehr gegen die Drohung mit einer Scheinwaffe, in: Jura 2003, S. 91 ff. Die Entstehung des Grundrechtsschutzes gegen willkürliche Verhaftung, in: Jura 2005, S. 447 ff. Beweislastumkehr bei Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung gem. § 105 StPO, in: NStZ 2005, S. 614 ff. Zusammen mit Matthias Mittag.

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Grundsätzliches zur Freiwilligkeit der Einwilligung des Verletzten, in: NStZ 2006, S. 317 ff. Zur Theorie der Freiwilligkeit eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch, in: ZStW 120 (2008), S. 205 ff. Die Darstellung der Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten im strafprozessualen Gutachten für den 67. Deutschen Juristentag in Erfurt in: JR 2008, S. 327 ff.

5. Entscheidungsanmerkungen Anmerkung zu VG Stuttgart Beschl. vom 26. 4. 1974 – I 54 / 74, in: NJW 1975, S. 276 ff. – Richtervorbehalt bei Vollstreckungsdurchsuchungen. Anmerkung zu BVerwG Urt. vom 3. 12. 1974 – I C 11.73, in: JZ 1975, S. 526 ff. – Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Anmerkung zu BGH Beschl. (Ermittlungsrichter) vom 16. 12. 1977 – 1 BJs 93 / 77, in: NJW 1978, S. 1013 ff. – Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe. Anmerkung zu BVerfG Beschl. vom 18. 8. 1981 – 2 BvR 166 / 81, in: NStZ 1982, S. 38 ff. – Einsatz des Lügendetektors im Strafprozeß. Anmerkung zu BGH Urt. vom 16. 3. 1983 – 2 StR 775 / 82, in: JR 1984, S. 256 ff. – Abhören von sog. „Raumgesprächen“. Anmerkung zu OLG Zweibrücken Urt. vom 26. 10. 1984 – 1 Ss 175 / 84, in: NStZ 1985, S. 457 ff. – Hausfriedensbruch am „Tag der offenen Tür“. Anmerkung zu OLG Schleswig Beschl. vom 15. 6. 1984 – 1 Ws 366 / 84, in: JR 1985, S. 474 ff. – Rechtfertigung einer Freiheitsberaubung durch Verfahren. Anmerkung zu OLG Oldenburg Urt. vom 21. 1. 1985 – Ss 566 / 84, in: JZ 1986, S. 247 ff. – Hausfriedensbruch in einer Ladenpassage. Anmerkung zu BGH Urt. vom 9. 4. 1987 – III ZR 3 / 86, in: Strafverteidiger 1988, S. 326 ff. – Entschädigung für Schäden infolge einer Beschlagnahme. Anmerkung zu OLG Hamm Urt. vom 13. 1. 1988 – 1 Ss 811 / 87, in: NStZ 1988, S. 517 ff. – Einseitige Einwilligung in die polizeiliche Überwachung eines Telefonats. Anmerkung zu OLG Celle Vorlagebeschl. vom 26. 3. 1991 – 1 Ss 2 / 91, in: StV 1991, S. 45. – Verwertungsverbot bei unterlassener Beschuldigtenbelehrung durch die Polizei. Anmerkung zu BGH Beschl. vom 18. 03. 1992 – 1 BGs 90 / 92, in: NStZ 1992, S. 394. – 2 BJs 186 / 91 – 5, in NStZ 1993, S. 48 ff. – Beschlagnahme von Behördenakten. Anmerkung zu BGH Urt. vom 8. 9. 1993 – 3 StR 341 / 93, in: NStZ 1994, S. 83; in: NStZ 1994, S. 338 ff. – Haftung eines Brandstifters für den Tod eines Retters. Anmerkung zu BGH Urt. vom 26. 7. 1994 – 5 StR 167 / 94, in: NStZ 1994, S. 533; in: NStZ 1995, S. 29 ff. – Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze vor dem Beitritt der DDR zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Anmerkung zu BGH Urt. vom 20. 7. 1995 – 1 StR 126 / 95, in: NStZ 1995, S. 541; in NStZ 1996, S. 230 f. – Nötigung durch Straßenblockade.

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Anmerkung zu BVerfG Beschl. vom 30. 04. 1997 – 2 BvR 817 / 90 etc., in: JR 1997, S. 384 ff. – Rechtsschutz gegen erledigte Durchsuchungsanordnungen eines Richters. Anmerkung zu BGH Urt. vom 29. 01. 1998 – 1 StR 511 / 97, in: NStZ 1998, S. 631 ff. – Zulässigkeit längerfristiger Videoüberwachungen. Anmerkung zu BayObLG Beschl. vom 07. 09. 1998 – 5 St RR 153 / 98 etc., in: NStZ 1999, S. 458 ff. – Einwilligungsfähigkeit von Jugendlichen. Anmerkung zu BGH Urt. vom 17. 12. 1998 – 1 StR 156 / 98, in: JR 1999, S. 382 ff. – Unzulässigkeit des Einsatzes eines „Lügendetektors“ im Strafverfahren. Anmerkung zu BGH Beschl. vom 25. 08. 1999 – 5 AR (VS) 1 / 99, in: JR 2000, S. 479 ff. – Rechtsschutz gegen die Art und Weise des Vollzugs einer richterlich angeordneten Durchsuchung.

6. Buchrezensionen Jürgen Baumann, Reform des studentischen Disziplinarrechts, in: AöR 95 (1970), S. 702. Horst Eckmann, Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie, in: Rechtstheorie 1970, S. 122 ff. Michael Marx, Zur Definition des Begriffes „Rechtsgut“, in: ZStW 84 (1972), S. 1015 ff. Jürgen Habermas u. Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, in: AöR 98 (1973), S. 138 ff. Winfried Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, in: ZStW 87 (1975), S. 132 ff. Jörg-Detlef Kühne, Grundrechtlicher Wohnungsschutz und Vollstreckungsdurchsuchungen, in: Der Staat 22 (1983), S. 297 ff. Thomas Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, in: GA 1984, S. 579 ff. Helmut Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, in: StV 1991, S. 189 f. Horst Schlehofer, Einwilligung und Einverständnis, in: ZStW 103 (1991), S. 476 ff. Michael Labe, Zufallsfund und Restitutionsprinzip im Strafverfahren, in: ZStW 104 (1992), S. 843 ff. Karl Lackner u. Kristian Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 21. Aufl., in: NJW 1995, S. 3172. Klaus Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht, StV 1995, S. 165 ff. Reinhart Maurach, Friedrich-Christian Schroeder u. Manfred Maiwald, Strafrecht – Besonderer Teil. Ein Lehrbuch. Teilband 1: Straftaten gegen Persönlichkeits- und Vermögenswerte, 8. Aufl., in: JZ 1996, S. 1174. Gerhard Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote, in: GA 1996, S. 332 ff. Frank Riepl, Informationelle Selbstbestimmung im Strafverfahren, in: StV 2000, S. 286 f. Carsten Paul, Zusammengesetztes Delikt und Einwilligung, in: JR 2000, S. 350 f.

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Verzeichnis der Schriften von Knut Amelung

Albin Eser u. Jörg Arnold (Hrsg.), Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Bd. 1: Internationales Kolloquium, Bd. 2: Deutschland, in: Neue Justiz 2001, S. 527. Thomas Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, in: ZStW 115 (2003), S. 710 ff.

7. Sonstiges Geleitwort zu Weber, Der Zivilrechtliche Vertrag als Rechtfertigungsgrund im Strafrecht, 1986. Geleitwort zu Brauer, Die strafrechtliche Behandlung genehmigungsfähigen, aber nicht genehmigten Verhaltens, 1988. Das Studium der Rechtswissenschaft an der Technischen Universität Dresden, in: Das Studium der Rechtswissenschaften in den neuen Bundesländern, JuS-Spezial, Beilage zu Heft 7 / 1994, S. V ff. Ansprache zur Übergabe des „von-Gerber-Baus“, in: Jur.Fak. (Hrsg.), Feierliche Übergabe des von-Gerber-Baus an die Juristische Fakultät – Feierliche Entpflichtung der Gründungskommission der Juristischen Fakultät (1994), S. 23 ff. Ansprache zur Entpflichtung der Gründungskommission, in: Jur.Fak. (Hrsg.), Feierliche Übergabe des von-Gerber-Baus an die Juristische Fakultät – Feierliche Entpflichtung der Gründungskommission der Juristischen Fakultät (1994), S. 55 ff. Der praktische Fall – Strafrecht: Ein Schutzgeldkassierer unter Waschzwang, in: JuS 1995, S. 48 ff. Zusammen mit Gabriele Cirener und Gerhard Grüner. „Über Grenzen gehen“, zusammen mit Barbara Amelung, in: Winfried Ripp / Wendelin Szalai (Hrsg.), Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben in Ost und West, 1998, S. 158 ff. Einführung des Herausgebers, in: K. Amelung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, Sinzheim 2000, S. 7 ff. Hausarbeitsanalyse – Strafrecht: Ein Ehestreit mit dem Hockeyschläger, in: JuS 2000, S. 261 ff. Zusammen mit Gert Boch und Roland Schmidt. Was machen eigentlich unsere Professoren?, in: fak. jur. 2002, Nr. 14, S. 10 ff. Der Wissenschaftler Ulrich Behm, in: Sozialpolitik unter Druck, in der Reihe Beiträge aus der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialversicherung. Vortrag zu Ehren von Prof. Dr. Ulrich Behm am 2. Juli 2005 in Hennef; Band 1, S. 48 ff.

Autorenverzeichnis Achenbach, Hans, Prof. Dr., Universität Osnabrück Arnold, Jörg, Prof. Dr., Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg Badura, Peter, em. Prof. Dr., Universität München Bernsmann, Klaus, Prof. Dr., Universität Bochum Beulke, Werner, Prof. Dr., Universität Passau Böse, Martin, Prof. Dr., Universität Bonn Eisenberg, Ulrich, em. Prof. Dr., Freie Universität Berlin Frister, Helmut, Prof. Dr., Universität Düsseldorf Greco, Luís, Wiss. Mitarbeiter, LL.M., Universität München Günther, Hans-Ludwig, Prof. Dr., Universität Tübingen Haffke, Bernhard, Prof. Dr., Universität Passau Harms, Monika, Prof., Generalbundesanwältin beim Bundesgerichtshof Hefendehl, Roland, Prof. Dr., Universität Freiburg Heine, Günter, Prof. Dr., Universität Bern Heine, Sonja, Dr., Staatsanwältin bei der Generalbundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof Herzberg, Rolf Dietrich, em. Prof. Dr., Universität Bochum Hillenkamp, Thomas, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Heidelberg Hirsch, Hans Joachim, em. Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Köln Hofman´ski, Piotr, Prof. Dr., Universität Krakau, Richter und Pressesprecher am Obersten Gerichtshof der Republik Polen Jäger, Markus, Prof. Dr., Richter am Bundesgerichtshof Jakobs, Günther, em. Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Bonn Krey, Volker, Prof. Dr., Universität Trier, Richter am OLG Koblenz a.D. Kühne, Hans-Heiner, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Trier Lagodny, Otto, Prof. Dr., Universität Salzburg Lilie, Hans, Prof. Dr., Universität Halle-Wittenberg Lüderssen, Klaus, em. Prof. Dr., Universität Frankfurt am Main Nuys, Marcel, Ref. iur., Universität Trier Otto, Harro, em. Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Bayreuth Paeffgen, Hans-Ullrich, Prof. Dr., Universität Bonn Renzikowski, Joachim, Prof. Dr., Universität Halle-Wittenberg Rönnau, Thomas, Prof. Dr., Bucerius Law School Hamburg Roxin, Claus, em. Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität München Rüping, Hinrich, em. Prof. Dr., Universität Hannover Schall, Hero, em. Prof. Dr., Universität Osnabrück Schreiber, Hans-Ludwig, em. Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Göttingen, Staatssekretär a.D. Schroeder, Friedrich-Christian, em. Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Regensburg Schünemann, Bernd, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität München Schwind, Hans-Dieter, em. Prof. Dr., Universität Bochum, Minister a.D.

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Autorenverzeichnis

Sternberg-Lieben, Detlev, Prof. Dr., Universität Dresden Stratenwerth, Günter, em. Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Basel Szwarc, Andrzej J., Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Poznan´, Richter des Staatsgerichts der Republik Polen Tag, Brigitte, Prof. Dr., Universität Zürich Vormbaum, Thomas, Prof. Dr. Dr., FernUniversität Hagen Weßlau, Edda, Prof. Dr., Universität Bremen Wohlers, Wolfgang, Prof. Dr., Universität Zürich Wu, Jiuan-Yih, Prof. Dr., Universität Kaohsiung (Taiwan)