Festschrift für Karsten Schmidt: zum 70. Geburtstag 9783504380649

Mit diesem gewichtigen Band ehren namhafte Repräsentanten des Gesellschafts- und Insolvenzrechts Karsten Schmidt, einen

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German Pages 1882 Year 2009

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Festschrift für Karsten Schmidt: zum 70. Geburtstag
 9783504380649

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Festschrift für Karsten Schmidt

FESTSCHRIFT FÜR

KARSTEN SCHMIDT ZUM 70. GEBURTSTAG heraus~e~eben

von

Georg Bitter Marcus Lutter Hans-joachim Priester WolfQang Schön Peter Ulmer

2009

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Dr.OttoSchmidt Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie1 detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb,d-nb,de abrufbar, Verlog Dr, Otto Schmidt KG Gustav-Heinerrumn-Ufer 58, 50968 Köin

Tel 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 info®otto-schmidt,de www,otto-schmidt,de

ISBN 978-3-504-06039-8 ©2009 by Verlag Dr, Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt, Jede Verwe:rtung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustinnnuog des Verlages, Das gilt insbesoodere für Verv:ielfiiltigungen, Bearbeitungen, Ühersetztmgen, Mikroverlilmungen und die Einspeichetung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig uod umweltfreundlich,

Einbandgestaltung: )an P Lichtenford, Mettmann Satz: A Quednau, Haan Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Gerrnany

Vorwort Mit diesem Buch ehren über 100 Autoren einen der ganz Großen ihres Faches, des Zivilrechts: Karsten Schmidt. Wie kaum ein anderer hat er in gut 35 Jahren das Handelsrecht, das Gesellschaftsrecht, das Kartellrecht, das Insolvenzrecht und das Geldrecht geprägt. Dabei ging es ihm in unzähligen Abhandlungen (inzwischen ist die Grenze von 500 deutlich überschritten), Anmerkungen, Vorträgen und Kommentaren, vor allem aber in seinen großen Monographien zum Handelsrecht (1. Aufl. 1980, 5. Aufl. 1999, gut 1000 Seiten), zum Gesellschaftsrecht (1. Aufl. 1986, 4. Aufl. 2002, 2000 Seiten), zum Insolvenzrecht (Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, 1990) und Kartellrecht (Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977) um die Entwicklung systematischer Einheit, die es dem Rechtsanwender erlaubt, die vielen Einzelfragen als Teile eines Ganzen zu sehen, zu verstehen und zu lösen. Man kann dieses sein lebenslanges Anliegen nicht besser formulieren, als er selbst es zu Beginn seiner „Wege zum Insolvenzrecht“ getan hat: „Gerade weil das Wirtschaftsleben komplex ist, muß es durch allgemeingültige Regeln zusammengehalten werden; gerade weil der Konsens über Einzelfragen so schwierig geworden ist, bedarf dieser Konsens einer Grundordnung, die allein eine Stimmigkeit der Ergebnisse gewährleistet und verhindert, daß der Diskurs aller Einzelprobleme bei inkohärenten Prämissen und Fragen beginnt. Gerade weil alle Rechtserkenntnis provisorische Züge trägt und unter dem steten Risiko der Korrektur steht, müssen sich Rechtswissenschaft und Rechtspolitik ständig aufgerufen sehen, Einzelprobleme und ihre Lösungen stets nur als Bausteine eines stimmigen Ganzen zu begreifen. Darin steckt der optimistische Glaube an die ordnende Kraft der rechtswissenschaftlichen Institutionenlehre, nicht aber vermessene Juristenwillkür.“

Sein Schüler Georg Bitter hat ihn in seinem Berliner Vortrag über den Lehrer Karsten Schmidt daher auch als „Landschaftsbildner des Rechts“ bezeichnet. Der Erfolg dieses Denkens im Grundsätzlichen war groß. Wenn wir das Handelsrecht heute als Unternehmensrecht und nicht mehr als Sonderprivatrecht der Kaufleute verstehen, wenn wir von einem ungeschriebenen Allgemeinen Teil des Gesellschaftsrechts sprechen und wenn das Insolvenzrecht mehr und mehr vom vollstreckungsrechtlichen Denken befreit wurde und wir heute vom Insolvenzrecht der Unternehmen und nicht mehr der Buddenbrook’schen Kaufleute sprechen, so verdanken wir das Karsten Schmidt. Karsten Schmidt ist an weltlichen Gütern kaum interessiert; Gutachten gibt es wenige von ihm. Um so mehr interessiert ihn die Theorie des Geldes: 500 Seiten hat er darüber 1983 im Staudinger geschrieben, erneut 500 Seiten in der 13. Bearbeitung 1997. Allein die dort wirklich verarbeitete Literatur von Savigny über Goldschmidt bis F. A. Mann und Martin Wolff ist geradezu überwältigend, die von ihm herausgearbeitete Doppelfunktion des Geldes als Recheneinheit und Tauschmittel theoretisch überzeugend und praktisch hilfreich. Dabei betont Karsten Schmidt die großen Leistungen der Wirtschaftswissenschaft bei der theoretischen Durchdringung des Phänomens „Geld“, besteht aber ebenso nachdrücklich auf einem eigenständigen Rechtsbegriff des Geldes. V

Vorwort

Diesem großen Juristen wurde die Rechtswissenschaft nicht in die Wiege gelegt. 1939 wurden er und seine Zwillingsschwester Kerstin in eine PhilologenFamilie geboren. Die Eltern hatten im heimischen Kiel keine Anstellung gefunden und waren daher nach Oschersleben a.d. Bode (Harzvorland) gezogen, das ab 1945 zur russischen Zone gehörte. Der Vater kehrte mit der Tochter bereits 1946 ins heimische Kiel zurück, der Sohn folgte 1947 auf abenteuerlichen Wegen und kam auf diese Weise relativ spät zur Schule: es hat ihm nicht geschadet. Es folgten Gymnasium und Militärdienst bei den Pionieren, ehe er mit dem Studium in München und Kiel begann, zunächst der Germanistik; denn eigentlich hatte er Journalist werden wollen: Wir hätten auch in diesem Beruf viel Interessantes von ihm zu lesen bekommen. Doch bald konzentrierte er sich auf die Rechtswissenschaft und bestand – nach einem Abstecher an die Universität München – die beiden Examina in Kiel. Der Strafrechtler Werner Schmid bot ihm die Promotion an, und Karsten Schmidt begann mit einer rechtsvergleichenden Dissertation über französisches Strafprozessrecht. Inzwischen hatte der Kieler Ordinarius Peter Raisch einen Ruf nach Bonn angenommen und fragte seinen Kollegen Werner Schmid, ob er einen Assistenten für ihn wisse. So kam Karsten Schmidt zu Peter Raisch und wurde für das Zivilrecht gerettet: Die strafrechtlichen Vorarbeiten landeten im Papierkorb und statt dessen schrieb er, nunmehr in Bonn, seine erste systematische, noch heute viel zitierte Monographie über die „Stellung der OHG im System der Handelsgesellschaften“, während seine junge Frau Inga SchmidtSyassen bei Kurt Ballerstedt promovierte. Die Habilitation mit der bereits zitierten Arbeit über „Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht“ folgte rasch. Aber nicht nur das: Gleichzeitig mit der Dissertation erschien sein „Automatenrecht“, zusammen verfasst mit seinem Assistentenkollegen Eberhard v. Olshausen; gleichzeitig mit der Habilitationsschrift erschienen seine Monographien über das „Kartellverbot und ‚sonstige Wettbewerbsbeschränkungen‘ – Begriff und Funktion des ‚gemeinsamen Zwecks‘ im GWB“ und seine „Einlage und Haftung des Kommanditisten“: in nur sieben Bonner Jahren fünf Monographien! Die außergewöhnliche Produktivität von Karsten Schmidt kam früh zutage. Nach einer kurzen Zeit als Professor in Göttingen war Karsten Schmidt dann von 1977 bis 1997 als Nachfolger von Peter Ulmer Professor an der Universität Hamburg, von 1997 bis 2004 als Nachfolger von Marcus Lutter Professor an der Universität Bonn und ist jetzt wieder in Hamburg als Präsident der von ihm mit begründeten Bucerius Law School. Überhaupt Gerd Bucerius: Das Zusammentreffen dieser beiden Männer war ein Kairos. Spontane Zuneigung und wechselseitiger Respekt führten Karsten Schmidt in den Vorstand und das Kuratorium der damals neu gegründeten „ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius“. Und nach dem Tode von Gerd Bucerius entwickelte der Wettbewerbsrechtler Karsten Schmidt das Wettbewerbsmodell einer privaten Rechtsfakultät. Die Bucerius Law School wurde zu einem großen und viel beachteten Erfolg, den ihr heutiger Präsident mit stetem persönlichen Einsatz mit begründet hat und weiter ausbaut. VI

Vorwort

Damit aber ist sein Wirken im Rahmen der ZEIT-Stiftung nicht ausreichend umrissen. Karsten Schmidt hat nämlich auch eine große Zahl von kulturellen Projekten dieser großartigen Stiftung aktiv gefördert; genannt seien etwa die Orgeln in Mecklenburgischen Dorfkirchen und das Dach des Königsberger Doms. Karsten Schmidt mag Menschen und die Menschen mögen ihn. Das ist kein Wunder. Denn jenseits seiner großen Leistungen für die Rechtswissenschaft ist er das schönste Beispiel der Idee vom Bildungsbürger. Unerhört belesen, nicht nur in der deutschen, sondern der ganzen europäischen Literatur, ist jedes Gespräch mit ihm ein Genuss. Mit einem fabelhaften Gedächtnis beschenkt, zitiert er gerne und sogar englische Gedichte. Musik steht gleichrangig daneben. Seine Geige, auch sie ein Teil bürgerlicher Erziehung, hat ihn früh mit all den Wundern der europäischen Musik vertraut gemacht. Und auch hier lässt ihn sein Gedächtnis nicht im Stich. Vor allem aber: er kann und will darüber reden. Dieses Buch ist daher nicht nur eine Ehrung für Karsten Schmidt, es ist auch Dank an ihn. Wir wären ärmer ohne ihn. Und da er ein geselliger Mensch ist, haben wir auch immer wieder Gelegenheit, uns an ihm zu freuen. Möge es noch lange so bleiben. Im November 2008 Georg Bitter, Marcus Lutter, Hans-Joachim Priester, Wolfgang Schön, Peter Ulmer

VII

.

Geleitwort Karsten Schmidt wird 70 In den Vorständen deutscher Stiftungen gibt es viele Juristen. Nur einer hat das Glück, Karsten Schmidt bei sich zu wissen. Karsten Schmidt wurde als einziges Mitglied des jetzigen Vorstands der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius vom Stifter selbst 1986 in diese Position eingesetzt. 13 Jahre nach dem Tod von Gerd Bucerius wird Karsten Schmidt darum gern zugestanden, besonders nah am Willen des Stifters zu sein. Schmidts Satz: „Ich glaube, dieses Projekt hätte Bucerius besonders gut gefallen“, ist wie ein Ritterschlag, auch wenn diese Einordnung heute allein nicht mehr zur positiven Evaluation eines Stiftungsprojektes ausreicht. Karsten Schmidt verfügt über eine selten gewordene Breite an Wissen und Kenntnissen. Wer immer erlebt hat, wie selbstverständlich Schmidt an einem 13. Februar die Vorlesung mit dem Summen des Walkürenritts beginnt, um jeden Studierenden im Hörsaal an den Geburtstag Richard Wagners zu erinnern, kann sich vorstellen, mit wie viel eigener Expertise musikwissenschaftliche Forschungsanträge im Stiftungsvorstand diskutiert werden. Dass Karsten Schmidt aber ebenso mühelos Partien aus Puccinis „Gianni Schicchi“ summt und analysiert, E. T. A. Hoffmanns verkannter Meisterschaft ein brilliantes literaturwissenschaftliches Streitgespräch widmet und die Paestum Ausstellung im Bucerius Kunst Forum mit einem blitzgescheiten Ausflug in Geschichte und Kosmos der Etrusker eröffnet, verwundert nicht. Nicht einmal sind wir überrascht, wenn Karsten Schmidt bei einer Autofahrt das Überholen eines der selten gewordenen NSU RO-80-Automobile zum Anlass nimmt, den Mitfahrenden die Funktionsweise des Wankelmotors zu erläutern. Alles, was er tut, sagt und denkt, tut, sagt und denkt er mit Temperament und einer Intensität, die ihres gleichen sucht. Es gibt kein Phänomen, das sich nicht lohnte, gründlich und intensiv durchdacht und analysiert zu werden. Mit funkelnden Augen und atemberaubend schnellen Gedankensprüngen durchmisst er assoziativ Zeit und Raum, Überirdisches und Irdisches – immer klug, immer tiefgründig und immer blitzgescheit. Nur das Tempo der Sprache kann manches Mal mit der Geschwindigkeit der Gedanken nicht Schritt halten. In den Rechtswissenschaften ist er den Entwicklungen des Rechts um Jahre, oft Jahrzehnte voraus. Karsten Schmidt erzeugt Mindermeinungen am laufenden Band. Es handelt sich um Mindermeinungen, die die Zunft anregen und stets weit voranbringen, weil keiner an ihrer Schlüssigkeit und an ihrer auf der Grundlage genauer Beobachtungen der Wirklichkeit und ihrer Entwicklung fußenden Schärfe vorbeikommt. Karsten Schmidt bereichert mit seinem Wissen, seiner Erfahrung und seinem klugen Urteil die Tätigkeit der ZEIT-Stiftung ungemein – und ermöglicht so der Stiftung Außergewöhnliches: Als die Stiftung erstmals im März 1997 über IX

Geleitwort

die Möglichkeit nachdachte, mit einer eigenen Rechtshochschule die Diskussion um eine zeitgemäße Juristenausbildung in Deutschland voranzubringen und zugleich einen Markstein für die Universitätsausbildung besonders befähigter, hoch talentierter und belastbarer Studenten in Deutschland zu setzen, arbeitete Karsten Schmidt selbstverständlich federführend an der Umsetzung dieser Idee mit. Im Jahr 1999 erwarb die Stiftung in Hamburg die Gebäude des Alten Botanischen Institutes und gründete dort die Bucerius Law School. Karsten Schmidt setzte die ersten Berufungskommissionen ein. Im Herbst 2000 startete der erste Bucerius-Jahrgang: 100 Studierende und fünf sorgfältig ausgesuchte Hochschullehrer. Schmidts Kollege Professor Hein Kötz nahm die Herausforderungen eines Gründungspräsidenten an. Im Jahr 2004 übernahm Karsten Schmidt nach seiner Emeritierung in Bonn selbst dieses Amt. Heute zählt die Bucerius Law School rund 500 Studierende mit dem Ziel Staatsexamen, fünfzig Studierende im Programm „Master of Law and Business“ und 180 Doktoranden. 16 festangestellte Professoren und weitere 100 Lehrkräfte stellen die hohe Qualität der Ausbildung und Forschung an der Bucerius Law School sicher. Dank Karsten Schmidt hat die ZEIT-Stiftung in den vergangenen zwölf Jahren eigenes Know-how auf dem Gebiet der rechtswissenschaftlichen Förderung aufbauen können: unter anderem juristische Sommercamps für Oberstufenschüler und rechtswissenschaftliche Stiftungsprofessuren an vier staatlichen Hochschulen; Moot Courts für Studierende aller Universitäten gehören ebenso dazu wie das Bucerius-Jura-Programm, das jährlich bis zu zehn Stipendien an besonders begabte Doktoranden vergibt, die für ihre juristische Dissertation an ausländischen Hochschulen arbeiten wollen. Immer wieder ist bei der großen Gruppe der rechtswissenschaftlichen Förderprojekte der ZEIT-Stiftung Karsten Schmidts Einsatz und Urteil vonnöten, verbunden mit Reisen und Gremiensitzungen, mit Kommissions- und Gutachtertätigkeit, mit Einzelgesprächen und Verhandlungen. Dazu kommen die Vorlesungen, die Aufsätze, die Tagungen, die Kommentare, die wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Wenn die ZEIT-Stiftung heute dem Jubilar von Herzen „ad multos annos“ zuruft, so hegt sie diesen Wunsch ausnahmsweise nicht allein im gemeinnützigen Sinne, sondern auch zum Nutzen der eigenen Institution, die Karsten Schmidt so viel verdankt. Im November 2008 Michael Göring, Klaus Asche, Markus Baumanns

X

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIX

Alberto Alonso Ureba/María de la Concepción Chamorro Domínguez Das spanische Verwaltungsratssystem der börsennotierten Aktiengesellschaft nach den letzten Gesetzesänderungen und den Regelungen des Corporate Governance Kodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Holger Altmeppen Grenzen der Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats und die Folgen ihrer Verletzung durch den Vorstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Gregor Bachmann Die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile bei der KGaA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Theodor Baums Rücklagenbildung und Gewinnausschüttung im Aktienrecht . . . . . . . .

57

Walter Bayer Legalitätspflicht der Unternehmensleitung, nützliche Gesetzesverstöße und Regress bei verhängten Sanktionen – dargestellt am Beispiel von Kartellverstößen – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Gerold Bezzenberger/Tilman Bezzenberger Aktionärskonsortien zur Wahrnehmung von Minderheitsrechten . . . .

105

Georg Bitter Insolvenzanfechtung bei Weggabe unpfändbarer Gegenstände – Ansätze für einen normativen Begriff der Gläubigerbenachteiligung – .

123

Reinhard Bork Die Zurechnung subjektiver Tatbestandsmerkmale in der Insolvenz . .

143

Andreas Cahn Die wirtschaftliche Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

Claus-Wilhelm Canaris Die Problematik der Minderung beim Dienstvertrag . . . . . . . . . . . . . . .

177

Matthias Casper Der Compliancebeauftragte – unternehmensinternes Aktienamt, Unternehmensbeauftragter oder einfacher Angestellter? – . . . . . . . . . .

199

Carsten Peter Claussen Der Aktionär – das unbekannte Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217 XI

Inhalt Seite

Meinrad Dreher Die Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Jean Nicolas Druey Die Pflicht zur Halbwahrheit – Über die Aporien organisationsrechtlicher Informationsansprüche anhand des Aktionärs-Auskunftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

Tim Drygala Zuwendungen an Unternehmensorgane bei Umwandlungen und Übernahmen – unethisch, aber wirksam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

Werner F. Ebke Ausgleich und Abfindung der außenstehenden Aktionäre bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen zwischen nicht börsennotierten Aktiengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Horst Eidenmüller/Andreas Engert Insolvenzrechtliche Ausschüttungssperren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Raimond Emde Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters . . . . . . . . . . . . . .

331

Florian Faust Der Regress gegen Mitgesellschafter bei Personenhandelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Holger Fleischer Juristische Entdeckungen im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

Tim Florstedt Schuldrechtliches Beteiligungskapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399

Hans Friedhelm Gaul Rangfolge und Rangsicherung unter Befriedigung suchenden konkurrierenden Anfechtungsgläubigern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

Walter Gerhardt Besondere prozessuale Zulässigkeitsprobleme für eine Anfechtungsklage wegen Gläubigerbenachteiligung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

Wulf Goette Zu den Folgen der Eintragung eines Squeeze-out-Beschlusses vor Ablauf der Eintragungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

469

Barbara Grunewald Können juristische Personen/Personengesellschaften Eigenbedarf im Sinne von § 573 Abs. 2 BGB haben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485

XII

Inhalt Seite

Ulrich Haas/Paul Oberhammer „Drittwirkung“ von Schiedsvereinbarungen einer Personenhandelsgesellschaft gegenüber ihren persönlich haftenden Gesellschaftern? . . .

493

Mathias Habersack „Superdividenden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523

Wilhelm Happ Zur Nachholung aktienrechtlicher Meldepflichten und damit verbundenen prozessualen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

545

Hans-Jürgen Hellwig Die Umwandlung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main in eine Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Joachim Hennrichs Bilanzrechtsmodernisierung – erste Grundsatzfragen aus handels- und gesellschaftsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581

Martin Henssler Konzernrechtliche Abhängigkeit im Mitbestimmungsrecht der Europäischen Aktiengesellschaft – Der Abhängigkeitsbegriff im Europäischen Mitbestimmungsrecht, EBRG, SEBG und nationalem AktG – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601

Hartwig Henze Einschränkung und Ausschluss des Abfindungsanspruchs des Personengesellschafters in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . .

619

Heribert Hirte Die Tochtergesellschaft in der Insolvenz der Muttergesellschaft als Verpfändung von „Konzern“-Aktiva an Dritte – Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

641

Michael Hoffmann-Becking Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – grenzenlose Anwendung des § 114 AktG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

657

Peter Hommelhoff Bruchstellen im Kommissionsentwurf für eine SPE-Verordnung . . . . .

671

Klaus J. Hopt MAC-Klauseln im Finanz- und Übernahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

Norbert Horn Transnationales Handelsrecht: zur Normqualität der lex mercatoria . .

705

Ulrich Huber Abstrakte Schadensberechnung des Käufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

725

XIII

Inhalt Seite

Uwe Hüffer Konsortialverträge im Rahmen der Mitteilungspflichten nach § 20 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

747

Rainer Hüttemann Überschuldung, Überschuldungsstatus und Unternehmensbewertung .

761

Hans-Christoph Ihrig Zum Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften . . . . . . .

779

Matthias Jacobs Privatautonome Unternehmensmitbestimmung in der SE . . . . . . . . . .

795

Detlev Joost Betrachtungen zur handelsrechtlichen und versicherungsrechtlichen Vertretungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

817

Carsten Jungmann Die Business Judgment Rule – ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts? – Zur Geltung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG außerhalb des Aktienrechts – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

831

Susanne Kalss Der Einfluss von Begünstigten in der österreichischen Privatstiftung . .

857

Peter Kindler Der Kommanditist hinter dem Kommanditisten – Zur Treugeberhaftung in der Insolvenz der Publikums-GmbH & Co. KG . . . . . . . . . .

871

Detlef Kleindiek Geschäftsführerhaftung nach der GmbH-Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . .

893

Johannes Köndgen Gefahrtragung und Verzug bei Zahlungsschulden – Neues vom EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

909

Hans-Georg Koppensteiner Über Zurechnungskriterien im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

927

Michael Kort Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Verhaltensstandards? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

945

Gerhart Kreft Vergleich über Anfechtungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

965

Heinz Krejci GmbH-Reform: Gründerfreiheit statt Rechtssicherheit und Gläubigerschutz? Warum das MoMiG für Österreichs GmbH-Reform kein leuchtendes Vorbild ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

981

XIV

Inhalt Seite

Gerd Krieger Der Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags zwischen Mutter und Enkel im mehrstufigen faktischen Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . .

999

Bruno Kropff Der unabhängige Finanzexperte in der Gesellschaftsverfassung . . . . . . 1023 Friedrich Kübler Gesellschaftsrecht und Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 Katja Langenbucher Kausalitätsbeziehungen bei der Einschaltung von Finanzintermediären – Zur Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation – . . . 1053 Marcus Lutter Das unvollendete Konzernrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 Georg Maier-Reimer Erweiterung des Spruchverfahrens und Ausgleich in Aktien . . . . . . . . . 1077 Rafael Mariano Manóvil Der Durchgriff in der Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht in Argentinien und Uruguay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091 Reinhard Marsch-Barner Zur Anfechtung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern . . . . . . . . . . . . 1109 Klaus-Peter Martens/Sebastian A. E. Martens Strategien gegen missbräuchliche Anlegerklagen in Deutschland und den Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129 Dieter Medicus Die unverhältnismäßig teure Nachbesserung beim Kauf . . . . . . . . . . . . 1153 Hanno Merkt Die Einpersonen-Vor-GmbH im Spiegel der rechtswissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1161 Hans-Joachim Mertens Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichtbeachtung der Regeln des ARAG-Urteils über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 Ernst-Joachim Mestmäcker Systembezüge subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1197 Peter O. Mülbert Das Recht des Rechtsverlusts – insbesondere am Beispiel des § 28 WpHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219

XV

Inhalt Seite

Martin Peltzer Unternehmerische Mitbestimmung und gute Corporate Governance: Führt die Unvereinbarkeit zur Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243 Andreas Pentz Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG . . . . . . 1265 Hans-Joachim Priester Differenzhaftung bei Verschmelzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1287 Thomas Raiser Handelsgesellschaften und politische Verbände in der Rechtssoziologie Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1307 Peter Rawert Von süffigen Parolen, einem dicken Sargnagel und der Philosophie des »Als Ob« – Karsten Schmidt und das Stiftungsrecht . . . . . . . . . . . . 1323 Jochem Reichert Golden Shares und andere Schutzmechanismen – Ergänzungen oder Alternativen zu staatlichen Eingriffsrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1341 Dieter Reuter Zur Lehre Karsten Schmidts vom Innenrecht der Personengesellschaft und der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1357 Wulf-Henning Roth Rechtsfragen der Scheinsozietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1375 Carsten Schäfer Die „Bestandskraft“ fehlerhafter Strukturänderungen im Aktien- und Umwandlungsrecht – zu neuen, rechtlich nicht vertretbaren Ausdehnungstendenzen und zu ihrer prinzipiellen Ungeeignetheit, missbräuchliche Anfechtungsklagen einzudämmen – . . . . . . . . . . . . . . 1389 Uwe H. Schneider/Tobias Brouwer Kapitalmarktrechtliche Transparenz bei der Aktienleihe . . . . . . . . . . . 1411 Wolfgang Schön Recht und Ökonomie bei Levin Goldschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427 Joachim Schulze-Osterloh Gewinn oder Verlust der Personenhandelsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . 1447 Ulrich Seibert Ethik in der Wirtschaft und die Rolle der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1455 Christoph H. Seibt Dekonstruktion des Delegationsverbots bei der Unternehmensleitung

XVI

1463

Inhalt Seite

Johannes Semler Anforderungen an die Befähigung eines Aufsichtsratsmitglieds . . . . . . 1489 Walter Sigle Betrachtungen zum Sonderkündigungsrecht nach § 723 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507 Gerald Spindler Konzernbezogene Anstellungsverträge und Vergütungen von Organmitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1529 Ursula Stein Vom Plappern und Lallen im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1551 Karsten Thorn Der Unternehmer im Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1561 Martin Tonner Die Maßgeblichkeit des Börsenkurses bei der Bewertung des Anteilseigentums – Konsequenzen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1581 Wilhelm Uhlenbruck Corporate Governance, Compliance and Insolvency Judgement Rule als Problem der Insolvenzverwalterhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603 Peter Ulmer Das Streichquartett – eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts . . . . . . . . . 1625 Rüdiger Veil Stimmrechtszurechnungen aufgrund von Abstimmungsvereinbarungen gemäß § 20 Abs. 2 WpHG und § 30 Abs. 2 WpHG . . . . . . . . . 1645 Gerhard Wagner Grundfragen der Insolvenzverschleppungshaftung nach der GmbHReform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 Birgit Weitemeyer Die Wirksamkeit von Haftungsbeschränkungen bei so genannten atypischen Erscheinungsformen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts . 1693 Harm Peter Westermann Zur Theorie der Grundtypenvermischung – am Beispiel der GmbH & Co KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1709 Herbert Wiedemann Ist der Kleinaktionär kein Aktionär? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1731 Arne Wittig Das Sanierungsprivileg für Gesellschafterdarlehen im neuen § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1743 XVII

Inhalt Seite

Albrecht Zeuner Unterbrechung und Aufnahme von Kündigungsschutzverfahren im Rahmen der Arbeitgeberinsolvenz und Grundstrukturen des Insolvenzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1761 Hildegard Ziemons Options- und Wandlungsrechte bei Squeeze out und Eingliederung . . . 1777 Daniel Zimmer Zwischen Theorie und Empirie: Zur Konkurrenz der Gesetzgeber im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1789

Schriftenverzeichnis Professor Dr. Dres. h. c. Karsten Schmidt . . . . . . . . 1805

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XVIII

Verzeichnis der Autoren

Alonso Ureba, Alberto Dr., Universitätsprofessor („Catedrático“), Lehrstuhl für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Rey Juan Carlos, Madrid Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht I, Universität Passau Bachmann, Gregor Dr., LL.M. (Michigan), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Zivilprozessrecht, Universität Trier Baums, Theodor Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Institute for Law and Finance an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Bayer, Walter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Privatversicherungsrecht und Internationales Privatrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum deutschen und europäischen Unternehmensrecht, Richter am Thüringer OLG und am Thüringer Verfassungsgerichtshof Bezzenberger, Gerold Dr., Notar a. D., Rechtsanwalt in Berlin Bezzenberger, Tilman Dr., Universitätsprofessor, Professur für Bürgerliches Recht, Gesellschaftsrecht und Europäisches Zivilrecht an der Universität Potsdam Bitter, Georg Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bank-, Börsenund Kapitalmarktrecht, Direktor des Instituts für Unternehmensrecht (IURUM) und Vorsitzender des Zentrums für Insolvenz und Sanierung (ZIS) an der Universität Mannheim Bork, Reinhard Dr., Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht an der Universität Hamburg Brouwer, Tobias Dr., Referent bei einem großen Industrieverband in Frankfurt/Main XIX

Verzeichnis der Autoren

Cahn, Andreas Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Institute for Law and Finance an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Canaris, Claus-Wilhelm Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.) für Bürgerliches Recht, Handels- und Arbeitsrecht sowie Rechtsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Casper, Matthias Dr., Dipl.-Ök., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bank- und Kapitalmarktrecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Chamorro Domínguez, María de la Concepción Dr., Professorin („Profesora Titular Interina“) für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Rey Juan Carlos, Madrid Claussen, Carsten Peter Dr. Dr. h.c., Rechtsanwalt, Hoffmann, Liebs, Fritsch & Partner, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Hamburg Dreher, Meinrad Dr., LL.M., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Europarecht, Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Druey, Jean Nicolas Dr., LL.M., Professor (em.) für Zivil- und Handelsrecht an der Universität St. Gallen Drygala, Tim Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Universität Leipzig Ebke, Werner F. Dr. iur., Dr. rer pol. h.c., LL.M. (UC Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Eidenmüller, Horst Dr., LL.M. (Cambridge), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches, europäisches und internationales Unternehmensrecht, Forschungsprofessur im Rahmen von LMUexcellent, Ludwig-Maximilians-Universität München Emde, Raimond Dr., Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Graf von Westphalen, Hamburg XX

Verzeichnis der Autoren

Engert, Andreas Dr., LL.M. (Univ. Chicago), Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München Faust, Florian Dr., LL.M. (Univ. Michigan), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bucerius Law School, Hamburg Fleischer, Holger Dr., LL.M. (Ann Arbor), Dipl.-Kfm., Universitätsprofessor, Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bonn Florstedt, Tim Dr., Wissenschaftlicher Assistent, Institute for Law and Finance an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Gaul, Hans Friedhelm Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.) für Zivilrecht und Zivilprozessrecht an der Universität Bonn Gerhardt, Walter Dr., o. Professor (em.), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht, Universität Bonn Goette, Wulf Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Ettlingen Grunewald, Barbara Dr., Universitätsprofessorin, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschafts- und Anwaltsrecht sowie Direktorin des Instituts für Gesellschaftsrecht (Abt. 1: Personengesellschaften, Umwandlungsrecht) an der Universität zu Köln Haas, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Zivilverfahrens- und Privatrecht, Universität Zürich Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Happ, Wilhelm Dr., Rechtsanwalt, Happ Luther und Partner, Hamburg Hellwig, Hans-Jürgen Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main; Honorarprofessor für Europäisches Gesellschaftsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg XXI

Verzeichnis der Autoren

Hennrichs, Joachim Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht sowie Direktor des Instituts für Gesellschaftsrecht (Abt. 2: Kapitalgesellschaften, Bilanzrecht) an der Universität zu Köln Henssler, Martin Dr., Universitätsprofessor, Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln Henze, Hartwig Dr., Richter am Bundesgerichtshof a. D., Honorarprofessor an der Universität Konstanz Hirte, Heribert Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht an der Universität Hamburg Hoffmann-Becking, Michael Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Bonn Hommelhoff, Peter Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.), vormals Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht sowie Richter am OLG Hamm und OLG Karlsruhe, Partner der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Hopt, Klaus J. Dr. Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor, Direktor am Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, vormals Richter am OLG Stuttgart Horn, Norbert Dr., Universitätsprofessor (em.) für Zivil-, Wirtschafts- und Bankrecht sowie Rechtsphilosophie an der Universität Köln, Direktor (em.) des dortigen Instituts für Bankrecht sowie Leiter des ADIC Arbitration Documentation and Information Center in Köln Huber, Ulrich Dr., Universitätsprofessor (em.) für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bonn, Mitglied des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn Hüffer, Uwe Dr., Rechtsanwalt in Mannheim, Universitätsprofessor (em.) an der RuhrUniversität Bochum, Richter am OLG Hamm a. D. XXII

Verzeichnis der Autoren

Hüttemann, Rainer Dr., Dipl.-Volkwirt, Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Steuerrecht und Mitglied im Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn Ihrig, Hans-Christoph Dr., Rechtsanwalt, Allen & Overy LLP, Frankfurt am Main Jacobs, Matthias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht, Bucerius Law School, Hamburg Joost, Detlev Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Seminars für Arbeitsrecht an der Universität Hamburg Jungmann, Carsten Dr., LL.M. (Yale), M.Sc. in Finance (Leicester), Wissenschaftlicher Assistent an der Bucerius Law School, Hamburg Kalss, Susanne Dr., LL.M. (Florenz), Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Gesellschafts-, Unternehmens- und Privatrecht, Wirtschaftsuniversität Wien Kindler, Peter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsund Gesellschaftsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Universität Augsburg Kleindiek, Detlef Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht, Universität Bielefeld Köndgen, Johannes Dr., Universitätsprofessor, Institut für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung der Universität Bonn, Richter am HansOLG Hamburg a. D. Koppensteiner, Hans-Georg Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor (em.), Institut für Österreichisches und Internationales Handels- und Wirtschaftsrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg Kort, Michael Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Gewerblichen Rechtsschutz und Arbeitsrecht, Universität Augsburg Kreft, Gerhart Dr., Vorsitzender Richter am BGH a. D., Karlsruhe XXIII

Verzeichnis der Autoren

Krejci, Heinz Dr., Universitätsprofessor, Institut für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien Krieger, Gerd Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf Kropff, Bruno Dr., Ministerialdirigent a. D., Honorarprofessor an der Universität Bonn Kübler, Friedrich Dr., M.A., Universitätsprofessor (em.), Goethe-Universität Frankfurt am Main Langenbucher, Katja Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Bankrecht, Goethe-Universität Frankfurt am Main Lutter, Marcus Dr. Dr. h.c. mult, Universitätsprofessor (em.), Sprecher des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn Maier-Reimer, Georg Dr. Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Oppenhoff & Partner Rechtsanwälte, Köln Manóvil, Rafael Mariano Dr., Ordentlicher Professor für Handelsrecht an der Rechtsfakultät der Universidad de Buenos Aires Marsch-Barner, Reinhard Dr., Rechtsanwalt, Linklaters LLP, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen Martens, Klaus-Peter Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität Hamburg, Richter am OLG Hamburg a. D. Martens, Sebastian A. E. Dr., M.Jur. (Oxon.), Habilitand, Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg Medicus, Dieter Dr. Dres. h.c., Universitätsprofessor (em.), Ludwig-Maximilians-Universität München Merkt, Hanno Dr., LL.M. (Chicago), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Richter am OLG Karlsruhe XXIV

Verzeichnis der Autoren

Mertens, Hans-Joachim Dr., ordentlicher Professor (em.) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Mestmäcker, Ernst-Joachim Dr. iur., Dr. rer. pol. h.c., emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Professor an der Universität Hamburg Mülbert, Peter O. Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht, Universität Mainz, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Oberhammer, Paul Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Schweizerisches und Internationales Zivilprozess-, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht sowie Privat- und Wirtschaftsrecht, Universität Zürich Peltzer, Martin Dr., Notar a. D., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Pentz, Andreas Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Rowedder Zimmermann Hass, Mannheim Priester, Hans-Joachim Dr., Notar a. D., Honorarprofessor an der Universität Hamburg Raiser, Thomas Dr., Universitätsprofessor (em.), Lehrstuhl für deutsches und europäisches Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Rechtssoziologie und Bürgerliches Recht, Humboldt-Universität Berlin, Richter am Kartellsenat des OLG Frankfurt a. D. Rawert, Peter Dr., LL.M. (Exeter), Notar in Hamburg, Honorarprofessor an der Universität Kiel Reichert, Jochem Dr., Rechtsanwalt, Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Honorarprofessor an der Universität Jena Reuter, Dieter Dr., Universitätsprofessor (em.) für Bürgerliches Recht, Handels- und Arbeitsrecht an der Universität Kiel, Richter am OLG Schleswig a. D. XXV

Verzeichnis der Autoren

Roth, Wulf-Henning Dr., LL.M. (Harvard), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung und des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Bonn Schäfer, Carsten Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim und Direktor des dortigen Instituts für Unternehmensrecht (IURUM) Schneider, Uwe H. Dr., Universitätsprofessor, Technische Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Schön, Wolfgang Dr., Direktor am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbsund Steuerrecht in München, Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Schulze-Osterloh, Joachim Dr., Universitätsprofessor (em.), Freie Universität Berlin Seibert, Ulrich Dr., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf Seibt, Christoph H. Dr., LL.M. (Yale), Rechtsanwalt, Freshfields Bruckhaus Deringer, Hamburg, Honorarprofessor an der Bucerius Law School, Hamburg Semler, Johannes Dr. Dr. h.c. (TU Tiflis), Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der WU Wien Sigle, Walter Prof. Dr., Rechtsanwalt, Notar a. D., Stuttgart Spindler, Gerald Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen Stein, Ursula Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Universität Dresden Thorn, Karsten Dr., LL.M. (Georgetown University, Washington D.C.), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Handelsrecht und Rechtsvergleichung, Bucerius Law School, Hamburg XXVI

Verzeichnis der Autoren

Tonner, Martin Dr., Richter am Landgericht, Hamburg Uhlenbruck, Wilhelm Dr., ehem. Richter am AG Köln, Honorarprofessor an der Universität zu Köln Ulmer, Peter Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.), Institut für deutsches und europäisches Gesellschaftsrecht, Universität Heidelberg Veil, Rüdiger Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Alfried Krupp-Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Internationales Unternehmens- und Wirtschaftsrecht sowie Geschäftsführender Direktor des Instituts für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht an der Bucerius Law School, Hamburg Wagner, Gerhard Dr., LL.M. (Univ. of Chicago), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Privat- und Prozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Universität Bonn Weitemeyer, Birgit Dr., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Steuerrecht, Direktorin des Instituts für Stiftungsrecht und das Recht der Non-Profit-Organisationen an der Bucerius Law School, Hamburg Westermann, Harm Peter Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Universität Tübingen Wiedemann, Herbert Dr., Universitätsprofessor (em.), Universität zu Köln, Richter am OLG Düsseldorf a. D. Wittig, Arne General Counsel, Deutsche Bank AG, Frankfurt am Main Zeuner, Albrecht Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Universität Hamburg Ziemons, Hildegard Dr., Rechtsanwältin, CMS Hasche Sigle, Frankfurt am Main Zimmer, Daniel Dr., LL.M. (UCLA), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht der Universität Bonn

XXVII

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Alberto Alonso Ureba/María de la Concepción Chamorro Domínguez

Das spanische Verwaltungsratssystem der börsennotierten Aktiengesellschaft nach den letzten Gesetzesänderungen und den Regelungen des Corporate Governance Kodex Inhaltsübersicht I. Einführung II. Grundlagen 1. Die Änderungen des Verwaltungsratssystems im spanischen Aktienrecht seit 1998 2. Die Entwicklung der Satzungen sowie der Geschäftsordnungen des Verwaltungsrates nach den Gesetzesnovellen 2002 und 2003 III. Das monistische Modell der Unternehmensführung entsprechend dem spanischen Corporate Governance Kodex von 2006 1. Die Überwachungsaufgaben des Verwaltungsrates unter besonderer

Berücksichtung der Geschäfte mit nahe stehenden Personen und nahe stehenden Unternehmen 2. Die neue Zusammensetzung und die Aufgaben des Exekutivausschusses nach dem neuen Modell des Verwaltungsrates 3. Regelungen zu den Funktionsmechanismen des Verwaltungsrates hinsichtlich seiner Überwachungsaufgaben IV. Ausblick

I. Einführung Die globale Verflechtung von Unternehmen und Kapitalmärkten führt in allen Industrieländern zu einem Wettbewerb um die beste Corporate Governance. Damit einher geht eine Stärkung der Eigenverantwortung der Unternehmen. Vor diesem Hintergrund wurde 1998 der ersten spanische Corporate Governance Kodex der Olivencia Kommission1 veröffentlicht. Im gleichen Jahr publizierte die spanische Nationale Kommission für den Wertpapierhandel2 (im Folgenden CNMV) ein Geschäftsordnungsmodell für den Verwaltungsrat3 (im Folgenden RCNMV). Dies war der Anfang eines Strukturwandels im spanischen Aktienrecht. Börsennotierte und geschlossene Aktiengesellschaften entwickelten sich auseinander. Insbesondere bei den börsennotierten Aktiengesellschaften konnte zudem eine Neuausrichtung weg vom monistischen Mo-

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1 Bericht der Olivencia Kommission von 1998 (www.cnmv.es/index.htm). Dazu vgl. Velasco San Pedro in Libro Homenaje al Profesor Fernando Sánchez Calero, Band III, 2002, S. 3003; Álvarez-Valdés in Libro Homenaje al Profesor Fernando Sánchez Calero, Band III, 2002, S. 2517. 2 Comisión Nacional del Mercado de Valores (www.cnmv.es). 3 Reglamento tipo del Consejo de Administración ajustado al Código de Buen Gobierno (www.cnmv.es/delfos/dossgm/corpgov/reglamen.html).

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Alberto Alonso Ureba/María de la Concepción Chamorro Domínguez

dell einer Führung durch den Verwaltungsrat hin zu einem monistischen Modell der Überwachung beobachtet werden. 2002 kam es zur Verabschiedung des Gesetzes 44/2002 vom 22. November 2002 über die Maßnahmen zur Reform des Finanzsystems (im Folgenden Finanzgesetz)4. Ein Jahr später wurde der bestehende Corporate Governance Kodex von der Aldama Kommission überarbeitet5. Mit dem Gesetz 26/2003 vom 17. Juli 2003 zum Zwecke der Förderung der Transparenz der börsennotierten Aktiengesellschaften (im Folgenden Transparenzgesetz)6 wurde erstmals ein eigenständiger Titel mit besonderen Regelungen zu börsennotierten Aktiengesellschaften in das spanische Gesetz über den Wertpapiermarkt (im Folgenden LMV)7 eingeführt sowie gleichzeitig das spanische Aktiengesetz von 1989 (im Folgenden TRLSA)8 modifiziert. Der vorläufige Höhepunkt war 2006 die Veröffentlichung des sog. Einheitlichen Corporate Governance Kodex (im Folgenden CU)9. Diese Änderungen in der spanischen Praxis der börsennotierten Aktiengesellschaft sollen im Folgenden dargestellt und analysiert werden. Erkennbar sind sie vor allem an der rasanten Entwicklung der Satzungen und der Geschäftsordnungen der Verwaltungsräte. Diese zeigen eine deutliche Tendenz zu einem monistischen Modell der Unternehmensführung mit deutlicher Ausdifferenzierung zwischen Überwachungs- und Leitungsaufgaben. Die sich Schritt für Schritt vollziehende Modernisierung des spanischen Aktienrechts ist damit noch nicht abgeschlossen. Vollzogene Änderungen des Verwaltungsratsmodells machen die Neubearbeitung oder die neue Auslegung anderer Normen zu den Verwaltungsratsmitgliedern – wie z. B. der Vorschriften über deren Verantwortlichkeit – erforderlich, wie am Ende dieser Abhandlung angedeutet wird.

__________ 4 Das Finanzgesetz reformiert verschiedene Bereiche des Prüfungsrechts, des Gesellschaftsrechts (das Aktiengesetz, das GmbH-Gesetz und das Gesetz über die Gesellschaft in Arbeitnehmerhand) sowie anderer Gesetze. Zur Bedeutung vgl. Benito Peña, Partida doble Nr. 142, 2003, 28; Mir Fernández, Partida Doble, Nr. 142, 2003, 42. 5 Bericht der Aldama Kommission von 2003 (www.cnmv.es/index.htm). Vgl. Fernández de Araoz, Revista del Instituto de Estudios Económicos, Nr. 1, 2003, 139. 6 Ley 26/2003, de 17 de julio, por la que se modifican la LMV y el TRLSA, con el fin de reforzar la transparencia de las sociedades anónimas cotizadas. Vgl. Duque Domínguez in Derecho de Sociedades Anónimas Cotizadas, Del Texto Refundido de la LSA de 1989 a la Ley de Transparencia de 2003: Hitos y situación actual del ordenamiento español en materia de gobierno corporativo, Band I, 2006, S. 251; Gallego Sánchez in Derecho de Sociedades Anónimas Cotizadas, El deber de secreto de los administradores tras la reforma de la Ley de sociedades anónimas por la Ley de transparencia, Band II, 2006, S. 991; Fernández Pérez, Revista de Derecho de Sociedades (im Folgenden RdS), 22, 2004, 87; Mateu de Ros Cerezo, La Ley de Transparencia de las sociedades anónimas cotizadas, 2004. 7 Ley 24/1988, de 28 de julio, del Mercado de Valores. 8 Real Decreto Legislativo 1564/1989, de 22 de diciembre, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley de Sociedades Anónimas. 9 Informe del Grupo Especial de Trabajo sobre Buen Gobierno de las Sociedades Cotizadas (Código Unificado, Apéndices y Recomendaciones a otros Organismos)“ – Código Unificado. (www.cnmv.es).

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Das spanische Verwaltungsratssystem der börsennotierten Aktiengesellschaft

Die hier vorgelegte Analyse ist allerdings mehr als eine Zusammenfassung der neuesten Entwicklungen im spanischen Aktienrecht und ein Ausblick in die Zukunft. Für den deutschen Leser lässt der Vergleich mit der eigenen dualistischen Organisationsverfassung in Deutschland leicht erkennen, dass auf Grund der eingangs erwähnten Globalisierung sich Tendenzen zu einer Annährung vormals deutlich unterschiedlicher Modelle (Dualismus und Monismus) abzeichnen, alternative Gestaltungsvorschläge deswegen durchaus für das jeweils andere System von Interesse sein könnten. Mehrmals durften wir im Rahmen von Seminaren in Madrid, bei denen uns der Jubilar mit seiner Anwesenheit und noch mehr mit seinen klaren Ausführungen ehrte, ein beeindruckendes Gesamtbild des sich „Schritt für Schritt vollziehenden Modernisierungsprozesses des deutschen Aktienrechts“10 gewinnen. Die Verfasser hoffen nun, auf den nächsten Seiten mit einem kleinen Beitrag über einen Teilaspekt des Wandels der spanischen börsennotierten Aktiengesellschaften das Interesse des Geehrten zu wecken. Deseamos al querido Profesor Schmidt todo lo mejor y esperamos contar con él y con sus siempre acertadas aportaciones muchas más veces en España.

II. Grundlagen 1. Die Änderungen des Verwaltungsratssystems im spanischen Aktienrecht seit 1998 Die Organisationsverfassung der börsennotierten Aktiengesellschaft, welche dem Aktiengesetz von 1951 (im Folgenden LSA/1951)11 zugrunde liegt und welche im TRLSA unverändert beibehalten wird, sieht einen Verwaltungsrat als höchstes Organ der Gesellschaft vor. Der Verwaltungsrat überwacht nicht nur, sondern trifft die wichtigsten Entscheidungen der Gesellschaft. Selbst wenn er Entscheidungskompetenzen delegiert, behält er sich alle übertragenen Kompetenzen als eigene vor (Unterordnungsprinzip). Selbst die Kompetenzverteilung innerhalb des Verwaltungsrates differenziert nicht funktionsbezogen in Leitung und Überwachung. In der älteren Literatur wird deshalb hauptsächlich die Leitungsfunktion des Verwaltungsrates thematisiert. Es wurde allenfalls zwischen den Aufgaben der Verwaltungsratsmitglieder dahingehend nuanciert, dass die einen „intensiver und andauernder“ und die andern „quantitativ weniger“ aber dafür „qualitativ höherwertiger“ in der Führung tätig sind12. Dennoch wurde weiterhin von einem unitarischen Miteinander in der Geschäftsführung und damit auch von einer gemeinschaftlichen Haftung ausgegangen13.

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10 S. Schmidt, RdS, 22, 2004, 19; Schmidt, in Derecho de sociedades anónimas cotizadas, La junta general en la Ley alemana de sociedades anónimas y en la reforma del Derecho de sociedades anónimas, Band 1, 2006, S. 27; Schmidt, Revista de Derecho Concursal y Paraconcursal (im Folgenden RDCP), 5, 2006, 339; Schmidt, RDCP, 8, 2008, 29. 11 Ley de 17 de julio de 1951, de régimen jurídico de las sociedades anónimas. 12 Charakteristisch Quijano González, La responsabilidad civil de los administradores de la sociedad anónima, 1985, S. 278 und 299. 13 Dazu Sánchez Calero, Los administradores en las sociedades de capital, 2. Aufl. 2007.

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Alberto Alonso Ureba/María de la Concepción Chamorro Domínguez

Dieses unitarische Miteinander entsprach aber immer weniger der Praxis, so dass erstmals 1998 im Bericht der Olivencia Kommission und in dem RCNMV eine Neuausrichtung eingeleitet wurde weg vom monistischen Modell einer Führung durch den Verwaltungsrat hin zu einem monistischen Modell der Überwachung. Diese Neuausrichtung konnte von den Gesellschaften dank der bestehenden Satzungs- und Geschäftsordnungsautonomie (Art. 10 und Art. 141 TRLSA) relativ schnell reflektiert und umgesetzt werden. Im RCNMV ist festgeschrieben, dass „die Politik des Verwaltungsrates darin besteht, die Geschäftsführung der Gesellschaft an die ausführenden Organe und das Leitungsteam zu übertragen und seine eigenen Aktivitäten auf die allgemeine Überwachungsfunktion zu konzentrieren.“ (Art. 5.2 RCNMV). Im RCNMV werden im Anschluss Aufgabengebiete aufgezählt, in denen der Verwaltungsrat entscheiden muss, „um eine verantwortliche Ausübung der allgemeinen Überwachungsfunktion zu gewährleisten.“14 Das RCNMV verknüpft diese funktionale Festschreibung des Verwaltungsrates, welche in der Ausdifferenzierung zwischen Leitung und Überwachung besteht, mit einer neuen „qualitativen Zusammensetzung desselben“ (Art. 8 RCNMV), indem zwischen geschäftsführenden Mitgliedern (consejeros ejecutivos) und nicht geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsrates (consejeros no ejecutivos oder consejeros externos) unterschieden wird. Unter die geschäftsführenden Mitglieder fallen auch der leitende Geschäftsführer/ CEO (primer ejecutivo) und der Vorsitzende (presidente), sofern dieser ebenfalls Leitungsfunktionen in andauernder und geschäftsmäßiger Weise ausübt. Bei den nicht geschäftsführenden Mitgliedern kann darüber hinaus noch unterschieden werden zwischen abhängigen Mitgliedern (consejeros dominicales) und unabhängigen Mitgliedern (consejeros independientes)15. Die nicht geschäftsführenden Mitglieder müssen gegenüber den geschäftsführenden Mitgliedern deutlich in der Mehrheit sein (Art. 8 und 9 RCNMV). Art. 5.2 RCNMV schreibt vor, „die Geschäftsführung auf die ausführenden Organe und das Leitungsteam zu übertragen“, und ordnet damit die Leitung der Gesellschaft in erster Linie den geschäftsführenden Mitgliedern zu. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Formulierung „ausführende Organe“. Hiermit wird bereits angedeutet, dass nicht nur die consejeros ejecutivos, son-

__________ 14 Bei diesen Aufgabenfeldern handelt es sich grundsätzlich um die strategische Ausrichtung der Gesellschaft, die Führungsstruktur (Zusammensetzung, Vergütung und Beurteilung der Führungskräfte), Risikomanagement und -controlling, Kommunikations- und Informationspolitik gegenüber den Aktionären und den Märkten und Geschäftsentscheidungen von erheblicher Bedeutung inklusive derjenigen, bei denen es um die wichtigsten Aktiva der Gesellschaft geht, sowie um die Politik über den Erwerb eigener Aktien (Art. 5.3 RCNMV). 15 Die Übersetzung einiger Begriff ins Deutsche gestaltet sich nicht einfach, weil aufgrund des monistischen Systems in Spanien identische Parallelbegriffe im Deutschen häufig nicht vorhanden sind. Über die Bedeutung der Fachterminologie s. Alonso Ureba in Diccionario de Derecho de Sociedades (Hrsg. Alonso Ledesma), 2006, S. 358 ff., 364 ff.; Sánchez Calero, (Fn. 13), S. 537–549, 791–803. S. auch CU, S. 38–40 (Definiciones).

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Das spanische Verwaltungsratssystem der börsennotierten Aktiengesellschaft

dern auch weitere Personenkreise des Unternehmens in dessen Leitung eingebunden sind: Damit sind die so genannten ausführenden Ausschüsse (comités ejecutivos) gemeint, die sich neben den consejeros ejecutivos zusätzlich noch aus den Führungskräften der obersten Ebene der Gesellschaft zusammensetzen. Daneben existiert ein so genannter Exekutivausschuss (comisión ejecutiva). Auch er ist nicht als eigentliches Leitungsorgan definiert, sondern muss eher als verkleinerter Verwaltungsrat aufgefasst werden, welcher in „vernünftiger Art und Weise“ die gleiche Zusammensetzung wie der Verwaltungsrat im Plenum wiedergeben soll (Art. 15.1 RCNMV)16 und alle delegierbaren Kompetenzen des Verwaltungsrates dauerhaft inne hat17. Da er aufgrund seiner geringeren Mitgliederzahl flexibler ist, tritt er häufiger als der Verwaltungsrat zusammen. Somit übernimmt er die Überwachung der Gesellschaft zwischen den verschiedenen, regulären Sitzungen des Verwaltungsrates, den er selbstverständlich über alle behandelten Themen und Entscheidungen zu informieren hat. Unbeschadet davon muss der Verwaltungsrat im Plenum und nicht nur der Exekutivausschuss tätig werden, sofern Angelegenheiten betroffen sind, die dem Verwaltungsrat im engeren Sinn seiner Überwachungsfunktion übertragen worden sind (Art. 5.3 RCNMV). Somit ist dieser ‚neue‘ Verwaltungsrat als ein Organ zu begreifen, dessen Aufgabe die Überwachung der Geschäftsleitung ist, obwohl in ihm gleichzeitig Mitglieder dieser Geschäftsleitung – die consejeros ejecutivos – vertreten sind. Nur folgerichtig konstituieren sich deshalb aus Verwaltungsratsmitgliedern spezialisierte Überwachungsausschüsse, die sich ausschließlich aus nicht geschäftsführenden Mitgliedern zusammensetzen. Mit dem Finanzgesetz von 2002 wird dieser neue Typus von Verwaltungsrat in der spanischen Rechtsordnung erstmals in Ansätzen gesetzlich festgeschrieben. Das mit dem Finanzgesetz geänderte LMV18 schreibt vor, dass börsennotierte Aktiengesellschaften innerhalb ihres Verwaltungsrates einen Prüfungsausschuss (comité de auditoría) einzurichten haben19. Nach dem LMV muss die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses so gestaltet sein, dass die Mehrheit seiner Mitglieder (darunter der Vorsitzende) nicht geschäftsführende Mitglieder sind20. Damit erkennt der spanische Gesetzgeber eine Trennung zwischen Überwachungsund Leitungsaufgaben im Verwaltungsratsmodell an.

__________ 16 Z. B. Art. 23.a der Geschäftsordnung von TELEFÓNICA, Art. 5 der Geschäftsordnung von BSCH und Art. 8.1 der Geschäftsordnung von ZELTIA. 17 S. Alonso Ureba, RdS, Nr. 27, 2006, 65. 18 18. Zusatzbestimmung des LMV, eingeführt durch Art. 47 Finanzgesetz. 19 Velasco San Pedro in Derecho de sociedades anónimas cotizadas, El Comité de Auditoría, Band. 2, 2006, S. 1087; Sánchez Calero, Revista de Derecho Bancario y Bursátil, Nr. 89, 2003, 198; Terreros Ceballos, El Comité de Auditoría y sus funciones, Documentos de trabajo del Departamento de Derecho Mercantil (Universidad Complutense), 2008, 17, S. 1. 20 Das Mandat der Mitglieder ist auf vier Jahre beschränkt, eine Wiederbestellung ist nach einer einjährigen Karenz möglich.

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2003 erfolgte unter Bezugnahme auf den im selben Jahr erschienenen Bericht der Aldama Kommission die Verabschiedung des Transparenzgesetzes, welches erstmalig einen eigenständigen Titel X zu den börsennotierten Aktiengesellschaften in das LMV einführt, in dem verschiedene Informationspflichten definiert werden21. Zudem wurde ein neuer Art. 127.2 in das TRLSA aufgenommen, welcher die Verwaltungsratmitglieder verpflichtet, sich „sorgfältig über den Gang der Dinge im Unternehmen zu informieren“. Diese neue Vorschrift setzt einen Verwaltungsrat voraus, welcher in der Tat nicht die Geschäfte leitet, sondern diese überwacht22. 2. Die Entwicklung der Satzungen sowie der Geschäftsordnungen des Verwaltungsrates nach den Gesetzesnovellen 2002 und 2003 Auf Grundlage der soeben erläuterten Gesetzesänderungen und Empfehlungen zur Corporate Governance kam es folgerichtig zu gehäuften Änderungen in den Satzungen bzw. den Geschäftsordnungen der Verwaltungsräte, die alle die Tendenz haben, den Verwaltungsrat als eine Überwachungsinstanz der Geschäftsleitung auszurichten. Auch wenn Nuancen auftreten, gehen sie doch alle entsprechend dem gesetzlichen Rahmen von einer Definition des Verwaltungsrates aus als „höchstes Leitungs- und Verwaltungsorgan der Gesellschaft, welches in dieser Hinsicht die alleinige Kompetenz hat, die Gesellschaft in der Verfolgung ihrer Ziele, die ihr zugrunde liegen, zu führen, zu leiten und zu vertreten“, ausgenommen die gesetzlichen bzw. satzungsmäßigen Bestimmungen hinsichtlich der Hauptversammlung23. Parallel dazu zeigt sich in den Satzungen und den Geschäftsordnungen eine Tendenz dahin, dass der Verwaltungsrat „mit den Handlungen bezüglich des gewöhnlichen Geschäftsverkehrs seine geschäftsführenden Mitglieder und die Geschäftsleitung beauftragt“24. Damit wird in den Satzungen und Geschäftsordnungen nachvollzogen, was bereits gängige Unternehmenspraxis war und ist. Die geschäftsführenden Mitglieder, welche Aufgaben der Geschäftsführung übernehmen sowie Mitglieder derselben, die dem Unternehmen üblicherweise durch geschäftliche oder persönliche Beziehungen verbunden sind, sind diejenigen, welche tatsächlich das operative Geschäft des Unternehmens betreiben. Außerdem sind sie auch diejenigen, die tatsächlich die Vorschläge in dem

__________ 21 Verpflichtende Eintragung der Geschäftsordnung der Hauptversammlung und des Verwaltungsrates ins Handelsregister – Art. 113 und 115 LMV; Jahresbericht über den Corporate Governance Kodex – Art. 116 LMV, verpflichtende Homepage des Unternehmens, welche über für die Aktionäre wichtige Information verfügen muss – Art. 117.2 LMV, etc. 22 Juste Mencía/Igartúa Arregui, RdS, Nr. 24, 2005, 75. 23 Art. 6.1 der Geschäftsordnung von ALDEASA, Art. 19 der Satzung und Art. 6 der Geschäftsordnung von EBRO PULEVA. 24 Art. 21.1 der Satzung und Art. 6.1 der Geschäftsordnung von ALDEASA; Art. 15.F der Satzung und Art. 5.1 der Geschäftsordnung von AZKOYEN; Art. 6, zweiter Absatz der Geschäftsordnung von EBRO PULEVA; Art. 32.2 der Satzung und Art. 5.2 der Geschäftsordnung von ZELTIA.

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so genannten Bereich der Präventivkontrolle25 ausarbeiten, welche dann dem Verwaltungsrat und dem Exekutivausschuss vorgelegt werden. Schließlich sind sie es auch, die die Risiken für das Unternehmen identifizieren und durch ihre Einschätzung den Verwaltungsrat und den Exekutivausschuss in die Lage versetzen, entsprechende Maßnahmen hinsichtlich dieser Risiken zu treffen. Es verwundert deswegen in keiner Weise, dass sich sogar in den Satzungen und Geschäftsordnungen Regeln hinsichtlich der Geschäftsleitung finden lassen, obwohl diese keinen prominenten Platz in der Machtverteilung der Gesellschaft innehat, zumindest was deren Mitglieder angeht, die nicht gleichzeitig im Verwaltungsrat (i. e. consejeros ejecutivos) sind. Es verwundert dann ebenso wenig, dass einige Geschäftsordnungen spezielle Vorschriften enthalten „zu den Beziehungen mit den Direktoren auf der höchsten Hierarchiestufe“26, die „Beziehungen zwischen dem Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung“ sowie des eigentlichen „Leitungsausschusses“ thematisieren27 oder ausdrücklich Regeln aufstellen, die der „Geschäftsführung“28 gewidmet sind. In vielen Satzungen und Geschäftsordnungen finden sich andererseits Formulierungen, die die Rolle des Verwaltungsrates im Plenum als Überwachungsorgan unterstreichen: So wird dem Verwaltungsrat „die Konzentration seiner Aktivität auf die Überwachung“29 aufgegeben, wobei manchmal der Ausdruck „Konzentration“ variiert wird, indem „seine Aktivität auf die allgemeine Aufgabe der Überwachung gerichtet ist“30, oder „die Aufstellung [des Verwaltungsrates] sich grundsätzlich aus seinen Aufgaben als Überwachungs- und Kontrollorgan herleitet“31. Wenn die Satzungen bzw. Geschäftsordnungen vorsehen, dass der Verwaltungsrat ein Nominierungsrecht hinsichtlich seiner eigenen Mitglieder hat, wird regelmäßig darauf verwiesen, dass die nicht geschäftsführenden Mitglieder gegenüber den geschäftsführenden Mitgliedern in der Mehrheit sein müssen32. Damit wird die schwerpunktmäßige Überwachungsaufgabe des Verwaltungs-

__________ 25 Annahme der strategischen Ausrichtung des Unternehmens und Bestimmung der Geschäftsführungsrichtlinien, Aufstellung der Leitlinien für die Unternehmensorganisation, Festlegung der allgemeinen Informationspolitik des Unternehmens, Erwerb eigener Aktien, etc. 26 So Art. 48 der Geschäftsordnung von IBERDROLA. 27 So die Art. 20 bzw. 16 der Geschäftsordnung von EBRO PULEVA. 28 So der Art. 50 der Satzung der BBVA. 29 Art. 21.1 der Satzung und Art. 6.1 der Geschäftsordnung von ALDEASA; Art. 15.17 der Satzung und Art. 5.1 der Geschäftsordnung von AZKOYEN; Art. 6 zweiter Absatz der Geschäftsordnung von EBRO PULEVA; Art. 6.1 zweiter Absatz der Geschäftsordnung von ENDESA; Art. 32.2 der Satzung und Art. 5.2 der Geschäftsordnung von ZELTIA. 30 Art. 3.2 der Geschäftsordnung von BSCH; Art. 342 der Satzung und Art. 7.2 der Geschäftsordnung von IBERDROLA; Art. 33 der Satzung von REPSOL. 31 Art. 52 der Geschäftsordnung von TELEFONICA. 32 Art. 37.2 der Satzung und Art. 10.3 der Geschäftsordnung von IBERDROLA; Art. 9.1 der Satzung von TELEFÓNICA; Art. 5.4 der Geschäftsordnung von ALDEASA und Art. 32 der Satzung von REPSOL.

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rates unterstrichen. Diese Regelung für die Zusammensetzung wiederholt sich hinsichtlich der Ausschüsse des Verwaltungsrates, wobei bei einigen dieser Ausschüsse, etwa dem Prüfungsausschuss oder dem Nominierungs- bzw. Vergütungsausschuss, sogar vorgesehen ist, dass kein geschäftsführendes Mitglied vertreten sein darf33. In einigen Fällen gehen die Vorschriften sogar soweit, dass eine Mehrheit nicht nur der nicht geschäftsführenden Mitglieder sondern der unabhängigen nicht geschäftsführenden Mitglieder vorhanden sein muss. Dies kann sowohl den Verwaltungsrat im Plenum34 als auch bestimmte Ausschüsse35 betreffen. Wie vereinbart man nun die schwerpunktmäßige Überwachungsfunktion des Verwaltungsrates mit den durch Gesetz, Satzung oder Geschäftsordnung dem Verwaltungsrat vorbehaltenen Entscheidungsbereichen? Wenn man sich diese Entscheidungsbereiche genauer anschaut, können diese funktional der eigentlichen Überwachungsaufgabe zugeordnet werden: „im Bereich der Überwachung beschäftigt sich der Verwaltungsrat mit folgenden Fragen, die im folgenden nicht abschließend aufgezählt werden …“36. Es gibt durchaus eine gewisse Konvergenz in den Satzungen bzw. Geschäftsordnungen, was diese dem Verwaltungsrat vorbehaltenen Entscheidungsbereiche angeht: strategische Ausrichtung der Gesellschaft und Bestimmung der Geschäftsführungsrichtlinien; Grundstruktur des Unternehmens; Überwachungs- und Kontrollsystem hinsichtlich der wichtigsten Risiken der Gesellschaft; Informationspolitik gegenüber den Aktionären und Märkten nach Transparenz- und Wahrhaftigkeitskriterien; Erwerb eigener Aktien sowie strategische Ausrichtung der Unternehmensgruppe37. Welche Entscheidungsbereiche nun der Überwachungsaufgabe zuzuordnen sind oder nicht, lehrt uns ein Blick in die Praxis: Es ist nicht der Verwaltungsrat im Plenum, sondern es sind die geschäftsführenden Mitglieder mit der Unterstützung der Geschäftsführung, die Vorschläge für die strategische Ausrich-

__________ 33 Art. 33 der Geschäftsordnung von REPSOL. Vgl. Roncero Sánchez/Alonso Ureba, in El Gobierno de las Sociedades Cotizadas, Sistemas de elección de los consejeros: Comité de Nombramiento, 1999, S. 213. 34 Art. 1 der Geschäftsordnung von BBVA: Wenigstens zwei Drittel der Mitglieder des Verwaltungsrates müssen unabhängige, nicht geschäftsführende Mitglieder sein. 35 Art. 26 der Geschäftsordnung von BBVA, welcher eine Mehrheit von unabhängigen nicht geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsrates für die Comisión Delegada Permanente fordert. 36 Art. 34.3 der Satzung und Art. 7.5 der Geschäftsordnung von IBERDROLA. In ähnlichem Sinn: s. Art. 5.2 und 5.4 der Geschäftsordnung von TELEFÓNICA; Art. 6.1 der Geschäftsordnung von ENDESA; Art. 21.1 der Satzung und Art. 6.1 der Geschäftsordnung von ALDEASA, und ebenso Art. 6 Abs. 2 der Geschäftsordnung von EBRO PULEVA. 37 In diesem Sinn Art. 21 der Satzung und Art. 6 der Geschäftsordnung von ALDEASA; Art. 15.E der Satzung und Art. 5.1 der Geschäftsordnung von AZKOYEN; Art. 3 der Geschäftsordnung von BSCH; Art. 6 der Geschäftsordnung EBRO PULEVA; Art. 6.1 der Geschäftsordnung ENDESA; Art. 34.3 der Satzung und Art. 7.5 der Geschäftsordnung von IBERDROLA; Art. 5.4 der Geschäftsordnung von TELEFÓNICA.

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tung des Unternehmens, etc. ausarbeiten. Der Verwaltungsrat im Plenum bewertet dann diese Vorschläge. Deswegen kann man eher von einer dem Verwaltungsrat vorbehaltenen Mitwirkung an diesen Entscheidungen sprechen denn von einem dem Verwaltungsrat vorbehaltenen Entscheidungsrecht38. In einigen Fällen wird dieser Entscheidungsablauf sogar ausdrücklich in der Geschäftsordnung des Verwaltungsrates vermerkt39. Diese Form der Zusammenarbeit wird üblicherweise als präventive Überwachung bezeichnet40. Eine besondere Betrachtung verdient der Exekutivausschuss. Er kennt vorab die Vorschläge, welche von den geschäftsführenden Mitgliedern und der Geschäftsführung zur Vorlage im Verwaltungsrat ausgearbeitet worden sind und entscheidet in solchen Fällen, die keine weitere zeitliche Verzögerung erlauben41. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, dass der Exekutivausschuss im Gegensatz zu dem, was sein Name suggeriert überhaupt keinen operativen – exekutiven – Charakter hat, sondern der Überwachung zugeordnet werden kann42. Sein Kenntnisstand ist sehr detailliert aufgrund der regelmäßigeren Ausübung seiner Überwachungsfunktion, so dass seine Entscheidungen in Wirklichkeit auf Grundlage der Vorschläge seitens der geschäftsführenden Mitglieder und der Geschäftsführung getroffen werden. Er ratifiziert oder verwirft die Vorschläge der Geschäftsleitung und leitet sie danach dem Verwaltungsrat zu, der im Grunde genommen analog vorgeht: Er bewertet und überwacht die Entscheidungen, die ihm vom Exekutivausschuss vorgelegt worden sind und ihren Ursprung in den Vorschlägen der geschäftsführenden Mitgliedern und der Geschäftsleitung haben.

__________ 38 Hier sind durchaus Parallelen zur Abstimmung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat gemäß des deutschen Corporate Governance Kodex (Kapitel 3) zu erkennen. 39 So Art. 4.1 der Geschäftsordnung von REPSOL, die hinsichtlich der Festsetzung der Strategien und ökonomischer Ziele der Gesellschaft ausdrücklich vorsieht, dass der Verwaltungsrat auf „Vorschlag der Geschäftsführung“ aktiv wird. 40 Unter der präventiven Überwachung sind auch diejenigen Einzelentscheidungen zu subsumieren, die eigentlich im Bereich der Geschäftsführung angesiedelt sind, aber einem Zustimmungsvorbehalt des Verwaltungsrates unterliegen, da sie von herausragender Bedeutung für die Gesellschaft sind (z. B. Kapitel II, Geschäftsordnung von BBVA; Art. 32.G der Geschäftsordnung von BSCH; Art. 34.2 der Satzung von IBERDROLA und im gleichen Sinn Art. 33 der Satzung von REPSOL; Art. 5.4 der Geschäftsordnung von TELEFÓNICA). 41 „Der Exekutivausschuss erledigt alle Angelegenheiten, die unter die Kompetenz des Verwaltungsrates fallen, welche nach Bewertung des Ausschusses unverzüglich entschieden werden müssen.“ Art. 43.3 der Satzung von IBERDROLA. 42 „Der Exekutivausschuss konzentriert seine Aktivitäten hauptsächlich auf die Ausübung der fortwährenden Überwachung und Kontrolle der normalen Geschäftsführung der Gesellschaft, in dem er regelmäßig die Wirtschaftlichkeit, die Budget- und Strategieentwicklung der Gesellschaft verfolgt …“ Art. 15.2 der Geschäftsordnung von ZELTIA.

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III. Das monistische Modell der Unternehmensführung entsprechend dem spanischen Corporate Governance Kodex von 2006 1. Die Überwachungsaufgaben des Verwaltungsrates unter besonderer Berücksichtung der Geschäfte mit nahe stehenden Personen und nahe stehenden Unternehmen 2006 wurde der derzeit gültige spanische Corporate Governance Kodex (CU) veröffentlicht. Nach dem bisher Gesagten verwundert nicht, dass der CU die bisherige Linie hin zu einem Verwaltungsrat mit schwerpunktmäßigen Überwachungsaufgaben im Großen und Ganzen bestätigt. Dies scheint sich aus einer ersten Lektüre des Textes nicht so eindeutig zu erschließen, heißt es doch, dass „die Unternehmen aus sehr unterschiedlichen Modellen der Organisation und Tätigkeitsfelder von Verwaltungsräten auswählen können, insbesondere bezüglich der allgemeinen Geschäftsführung der Gesellschaft.“43 Diese augenscheinliche Neutralität wird sogar im Folgenden noch eingeschränkt, wenn weiter ausgeführt wird, dass das spanische „Aktiengesetz dem Verwaltungsrat die umfassende Kompetenz der Geschäftsleitung der Gesellschaft zuschreibt“44. Eine genauere Analyse kommt aber zum eingangs genannten, gegenteiligen Schluss: Die letztgenannte Funktionszuschreibung der Geschäftsleitung durch den Verwaltungsrat wird dadurch relativiert, dass ihm gleichzeitig „eine großzügige Kompetenz zur Delegation“45 attestiert wird. Die erstgenannte augenscheinliche Neutralität wird wiederum dadurch unterlaufen, dass – im Kontext der Warnung vor exzessivem Delegieren – der Verwaltungsrat auf seine „essentielle und nicht verzichtbare Aufgabe, nämlich der so genannten Generalfunktion der Überwachung“46 zurückgeführt wird. Benannt werden die der Überwachung durch den Verwaltungsrat unterliegenden Bereiche in der Empfehlung 8 Abs. a) des CU47. Die eigentliche Zusammensetzung des Verwaltungsrates auf der Basis der Verteilung seiner Mitglieder in geschäftsführende und – mehrheitlich – externe Mitglieder (Empfehlungen 9, 10, 11, 12 und 13)

__________ 43 44 45 46 47

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Begründung Empfehlung 8 des CU (S. 12–13). Ebd. Ebd. Ebd. Empfehlung 8 Abs. a) des CU: „8. Dass der Verwaltungsrat als seine Kernaufgabe versteht, die Unternehmensstrategie und deren Umsetzung in die Praxis zu übernehmen, ebenso wie die Geschäftsleitung zu überwachen und zu kontrollieren, ob diese die festgelegten Ziele einhält und dem Gesellschaftsinteresse dient. Und dass der Verwaltungsrat im Plenum zu diesem Zweck sich die Kompetenzen für folgende Bereiche vorbehält: a) Geschäfts- und Strategiepolitik der Gesellschaft, insbesondere: i) die Strategie- oder Geschäftsplanung, sowie die Geschäftsziele und das Jahresbudget, ii) die Investitions- und Finanzpolitik, iii) die Strukturdefinition des Konzerns, iv) die Corporate Governance Politik, v) Grundsätze zur Corporate Social Responsibility, vi) die Vergütungs- und Evaluationspolitik der Führungskräfte, vii) Risikomanagement und -controlling sowie unternehmensinterne Informations- und Kontrollpolitik, Dividendenpolitik sowie den Umgang mit dem Erwerb eigener Aktien, besonders mit dessen Begrenzungen“.

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und der Funktionsmechanismus auf Basis von Ausschüssen mit abgegrenzten Überwachungsbereichen (Empfehlungen 44 bis 58) beweisen ebenfalls die Präferenz des CU für dieses Verwaltungsratsmodell. Es ist offensichtlich, dass einer der Vorteile des Art. 141.1 TRLSA die große „funktionale Neutralität“48 ist, welche er dem Verwaltungsrat durch die Einräumung eines großzügigen Spielraums zur Gestaltung der Satzungen bzw. Geschäftsordnungen gewährt. Aber in dem Maße, wie diese Freiheit zur Selbstorganisation via Art. 141.1 TRLSA (ähnlich § 161 AktG) den Märkten gegenüber erklärt werden muss, ob man nun dem konkret empfohlenen (aber nicht vorgeschriebenen) Organisationsmodell folgt oder nicht, wird deutlich, dass eine solche Neutralität nicht existiert. Durch das Konzept des „comply or explain“ wird im Endeffekt ein Modell bevorzugt, welches nicht gesetzlich geregelt ist, aber anhand der Empfehlungen des CU doch einen solch eindeutigen Vorzug hat, welchen dieses in die Nähe einer „gesetzlichen Vorschrift“ bringt49. In der Tat entspricht der Tenor der meisten Satzungen und Geschäftsordnungen der Empfehlung 8 Abs. a) des CU. Auffällig ist die wiederholte Verwendung des Begriffs „…-politik“50, der noch einmal unterstreicht, dass der Verwaltungsrat die allgemeinen Handlungsrichtlinien („Politiken“) im Sinne seiner präventiven Überwachungsfunktion festlegt und somit seine Aktivitäten auf die Überwachung und Verfolgung dieser Politiken konzentriert. Abs. b) der Empfehlung 8 des CU spielt seinerseits auf bestimmte Entscheidungsbereiche an, die ebenfalls dem Verwaltungsrat vorbehalten sind und nur ausnahmsweise aus Dringlichkeitsgründen vom Exekutivausschuss übernommen werden können (mit nachträglicher Ratifizierung durch den Verwaltungsrat)51. Im Allgemeinen handelt es sich hierbei um Sachbereiche, in denen die

__________ 48 Paz-Ares, Responsabilidad de los administradores y gobierno corporativo, Colegio de Registradores de la Propiedad, Mercantiles y de Bienes Muebles de España, Madrid, 2007; Paz-Ares, RdS, Nr. 20 2003, 67 ff.; Paz-Ares, Dirección y Progreso, Nr. 159, 1998, 161. 49 Nach Art. 116 LMV müssen alle börsennotierte Aktiengesellschaften jährlich im Geschäftsbericht über die Corporate Governance des Unternehmens berichten (Corporate Governance Bericht). Vgl. Sánchez Calero in Derecho de sociedades anónimas cotizadas, El informe anual del gobierno corporativo, Band II, 2006, S. 1445. 50 Art. 5.4.A der Geschäftsordnung von TELEFÓNICA. 51 „i) die Ernennung und ggf. Entlassung von Führungskräften, ebenso wie deren Abfindungsmodalitäten auf Vorschlag des CEO; ii) die Vergütung der Verwaltungsratsmitglieder ebenso wie, im Falle der geschäftsführenden Mitglieder, deren zusätzlichen Vergütungsbestandteile aufgrund ihrer Geschäftsführungsfunktionen und zusätzlicher Vertragskonditionen; iii) die Finanzauskunft, welche die Gesellschaft aufgrund ihrer Börsennotierung in periodischen Abständen veröffentlichen muss; iv) die Investitionen und sämtliche sonstige Unternehmensaktivitäten, welche aufgrund ihres erhöhten Volumens oder sonstiger Eigenschaften einen strategischen Charakter haben, abgesehen von denjenigen, die einer Zustimmungspflicht durch die Hauptversammlung bedürfen; v) die Gründung oder der Erwerb von Aktien von Unternehmen mit speziellen Charakteristika oder mit Unternehmenssitz in sog. Steuerparadiesen sowie sämtliche andere Transaktionen oder Aktivitäten ähnlicher Natur, welche aufgrund ihrer Komplexität die Transparenz des Konzerns beeinträchtigen könnten“.

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Initiative bzw. der Vorschlag gewöhnlich vom leitenden Geschäftsführer oder den geschäftsführenden Mitgliedern und der Geschäftsführung ausgeht und die auch unter die so genannte präventive Überwachung fallen. Die Angelegenheiten sind zumeist von außergewöhnlicher Wichtigkeit für die Gesellschaft bzw. den Konzern, und weil sie auf die eine oder andere Art und Weise aus dem Rahmen der normalen Geschäftsführung fallen, sind sie dem Verwaltungsrat als Teil seiner Überwachung der Geschäftsleitung zugeordnet. Vielleicht sollte man ebenfalls auf den dem Verwaltungsrat vorbehaltenen Entscheidungsbereich der „Vergütung der Mitglieder des Verwaltungsrats“ eingehen. Art. 130 TRLSA fordert, dass „die Vergütung der Verwaltungsratsmitglieder in der Satzung festgelegt wird“, so dass darin die Struktur des Vergütungssystems und dessen Anwendungsbereich geregelt sein müssen. Dies betrifft sowohl die geschäftsführenden Mitglieder als auch die nicht geschäftsführenden Mitglieder, da Art. 130 TRLSA keinerlei Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien macht. Dies ist unbeschadet der Tatsache zu sehen, dass die Satzung festschreiben kann, dass die Hauptversammlung die Vergütungshöhe in jedem Geschäftsjahr im Rahmen der satzungsgemäß geregelten verschiedenen Vergütungssysteme präzisieren kann, und dass dem Verwaltungsrat die Zuständigkeit vorbehalten bleibt, die Verteilung der Mittel zu bestimmen, welche den einzelnen Vergütungssystemen zugrunde liegen. Dies betrifft auch die Konkretisierung der spezifischen Vergütung der geschäftsführenden Mitglieder aufgrund ihrer Leistungen und Funktionen im Rahmen der von der Satzung vorgesehenen Konzepte (Vergütung auf Basis der Dienstleistungsverträge, Versorgungszusagen, die sonstigen Zusagen, insbesondere für den Fall der Beendigung der Tätigkeit – z. B. Abfindungen –, etc.). In jedem Fall liegt auf der Hand, dass dieser Bereich dem Verwaltungsrat als Plenum vorbehalten bleibt, in dem Maße, wie dieser aufgrund der Aufgabenbereiche und Leistungsbeurteilungen der einzelnen Mitglieder bewerten muss, welches satzungsgemäße Vergütungskonzept angewendet werden soll, und – im Falle der der Hauptversammlung zugeordneten Volumina – auch deren Verteilung. Schließlich geht Abs. c) der Empfehlung 8 des CU auf die so genannten „Geschäfte mit nahe stehenden Personen“ ein52. Hier wird dem Verwaltungsrat im Rahmen seiner Überwachungsfunktion hinsichtlich möglicher Interessenkonflikte vorbehalten, von solchen in Kenntnis gesetzt zu werden und diese dann

__________ 52 „c) Geschäfte, die die Gesellschaft mit den Mitgliedern des Verwaltungsrates, wichtigen oder im Verwaltungsrat vertretenen Aktionären oder mit diesen Gruppen nahe stehende Personen tätigt („Geschäfte mit nahe stehende Personen“). Diese Autorisierung durch den Verwaltungsrat ist jedoch nicht notwendig, wenn in diesen Geschäfte mit nahe stehende Personen folgende drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: „1. Dass sie auf Grundlage von Verträgen durchgeführt werden, dessen Bedingungen branchenüblichen Standards entsprechen und in großer Zahl mit vielen Kunden durchgeführt werden, 2. Dass sie zu allgemein üblichen, festgesetzten Preisen oder Tarifen durchgeführt werden durch den Lieferanten des Gutes oder des Dienstes); 3. Dass ihr Volumen 1 % der jährlichen Einnahmen der Gesellschaft nicht überschreitet“.

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ggf. auch zu billigen, es sei denn, die in der Empfehlung genannten Bedingungen sind erfüllt. Art. 116.4 c LMV fordert die Aufnahme der Geschäfte mit nahe stehenden Personen der Gesellschaft in den Jahresbericht zum Corporate Governance Kodex. Darunter werden diejenigen Geschäfte verstanden, die die Gesellschaft mit ihren Aktionären, den Verwaltungsratsmitgliedern und den Führungskräften abschließt, wie auch die Geschäfte innerhalb des Konzerns. Zusätzlich wird aus Art. 127 ter 3 TRLSA hergeleitet, dass Verwaltungsratsmitglieder – sofern diese in Geschäfte mit nahe stehenden Personen involviert sind und diese Geschäfte einen Interessenkonflikt mit dem Geschäftsinteresse der Gesellschaft verursachen können – diesen Sachverhalt dem Verwaltungsrat zur Kenntnis geben und sich bei der Behandlung dieser Thematik und der entsprechenden Entscheidungsfindung im Verwaltungsrat enthalten müssen. Abs. c) der Empfehlung 8 des CU begrenzt das Konzept der Geschäfte mit nahe stehenden Personen im Gegensatz zu Art. 116.4. c LMV, welcher sich nur auf die Gruppe der Aktionäre ganz allgemein bezieht, auf diejenigen Geschäfte, die mit bedeutenden Aktionären durchgeführt werden. Obwohl uns das angemessen erscheint, stellt sich doch die Frage, was unter einem „bedeutenden“ Aktionär zu verstehen ist, da in der CU zwar die „bedeutende Beteiligung“ (über 5 %53), nicht aber das Konzept des „bedeutenden Aktionärs“ definiert wird. Aufgrund der Tatsache, dass dessen Bedeutung von der gesamten Aktionärsstruktur abhängig sein kann, kann unseres Erachtens die Konkretisierung des Konzepts des „bedeutenden Aktionärs“ dem Verwaltungsrat überlassen werden. Ebenso schließt die Empfehlung 8 Abs. c) des CU im Gegensatz zu Art. 116.4.c LMV die „im Verwaltungsrat vertretenen Aktionäre“ ein. Diese Formulierung kann nicht auf das Mitglied als Aktionär abzielen, da Abs. c) ja bereits typologisch die „Mitglieder“ (ob sie gleichzeitig auch Aktionäre sind oder nicht) erwähnt. Im Kontext der Empfehlungen hinsichtlich der verschiedenen Kategorien von Mitgliedern wird ein gleicher oder ähnlicher Ausdruck im Zusammenhang mit den abhängigen, nicht geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsrates benutzt (so in der Empfehlung 12). Das zielt im Rahmen der Definition der abhängigen, nicht geschäftsführenden Mitglieder auf diejenigen, „welche die Aktionäre vertreten“, ab. Dabei handelt es sich um diejenigen Aktionäre, welche aufgrund einer gesetzlich als bedeutend betrachteten Beteiligung54 oder aufgrund ihrer Eigenschaft als Aktionäre überhaupt zu abhängigen, nicht geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsrates bestimmt worden sind (selbst wenn sie Inhaber keiner bedeutenden Beteiligung sind). Die in der Empfehlung 8 Abs. c) des CU verwendete Formulierung macht es möglich, das Konzept des Geschäftes mit nahe stehenden Personen nicht nur

__________ 53 S. Anlage I CU, III Definitionen, S. 38. Vgl. Flores Dueña in Derecho de Sociedades Anónimas Cotizadas, Los distintos contenidos y efectos del concepto de participación significativa, Band II, 2006, S. 1193. 54 Gegenwärtig werden diejenigen als ‚bedeutende Beteiligung‘ definiert, die über 5 % des Grundkapitals liegen (Art. 1 Real Decreto 377/1991 sobre comunicación de participaciones significativas).

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auf das Mitglied des Verwaltungsrates, sondern auch auf denjenigen Aktionär anzuwenden, der das Mitglied für seine Position vorgeschlagen hat (im Falle der abhängigen, nicht geschäftsführenden Mitglieder des Verwaltungsrates). Dies gilt ebenso für die natürliche Person, welche das Mitglied des Verwaltungsrates vertritt. Wie bereits behandelt ist eine Autorisierung durch den Verwaltungsrat in den Fällen der Geschäfte mit nahe stehenden Personen nach Empfehlung 8 Abs. c) des CU erforderlich. Dies ist nicht notwendig, wenn gleichzeitig alle drei folgenden Bedingungen erfüllt sind: branchenübliche Standards bei gleichzeitig großer Transaktionszahl; allgemein übliche, festgesetzte Preise oder Tarife; Maximalvolumen von 1 % der jährlichen Gesellschaftseinnahmen. Die konzerninternen Transaktionen (operaciones intragrupo) werden in der Empfehlung 2 des CU behandelt55. Sie betrachtet ganz allgemein die Beziehungen der Tochtergesellschaft „mit den anderen Gesellschaften des Konzerns“, unabhängig davon, ob diese börsennotiert sind oder nicht. Bei solchen Interessenkonflikten geht es immer um das Zurückstellen des Interesses einer der Gesellschaften und damit einhergehend des Interesses von deren Aktionären zugunsten der Mutter- oder einer anderen Gesellschaft des Konzerns. Das spanische Recht kennt keine umfassende Regelung zum Konzernrecht, in welche die möglichen Kompensations- oder Entschädigungsverpflichtungen einzuordnen wären. Das macht die Lösung einer solchen Situation schwierig. Ausgehend von dem Konzept einer einheitlichen Leitung des Konzerns wäre es nur logisch, wenn im Interesse des Konzerns Kompensationsregeln zugunsten der benachteiligten Tochtergesellschaft geschaffen würden. Heutzutage kann man nur auf Art. 42 des spanischen Handelsgesetzbuches zurückzugreifen, um die Beziehung des Konzerns (einheitliche Leitungsstruktur), der Muttergesellschaft (herrschende Gesellschaft) und der Tochtergesellschaft (beherrschte Gesellschaft) zu definieren. Problematischer ist das Verständnis der „anderen Gesellschaften des Konzerns“ in der Empfehlung 2 des CU. Unseres Erachtens müssten darunter auch diejenigen Gesellschaften des Konzerns zu verstehen sein, die nicht börsennotiert aber im Sinne des Art. 42 des spanischen Handelsgesetzbuches abhängig von der Muttergesellschaft sind. Die Empfehlung 2 des CU setzt allein auf die Bekanntmachung dieser Transaktionen innerhalb des Konzerns, obwohl sie keine konkrete Vorgabe zur Art der Veröffentlichung macht. Es wird dafür auch kein zeitlicher Rahmen vorgegeben. Zudem wird die geforderte Auskunftspflicht allein auf die Beziehungen beschränkt, die zwischen börsennotierten Gesellschaften des Konzerns bestehen.

__________ 55 „Dass im Falle einer Börsennotierung sowohl die Mutter- als auch die Tochtergesellschaft detailliert öffentlich machen: a) die jeweiligen Geschäftsfelder und etwaige Geschäftsbeziehungen zwischen ihnen ebenso wie diejenigen Geschäftsbeziehungen der börsennotierten Tochtergesellschaft mit den anderen Gesellschaften des Konzerns; b) die vorgesehenen Mechanismen zur Lösung eventuell auftretender Interessenkonflikte“.

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Angesichts dieser fehlenden Präzisierung schlagen wir vor, die Bekanntmachung im Jahresbericht zum Corporate Governance Kodex vorzusehen. Er bietet sich dafür an, da er a posteriori über das (abgelaufene) Geschäftsjahr informiert und auch die Beziehungen zwischen den Gesellschaften des Konzerns darstellt. Die Verankerung der Bekanntmachung der Transaktionen zwischen den Gesellschaften des Konzerns im Corporate Governance Bericht sollte sowohl für den Bericht der börsennotierten Mutter- als auch der Tochtergesellschaft gelten. Es soll dabei erklärt werden, ob in den „etwaigen Geschäftsbeziehungen“ irgendeine andere Gesellschaft des Konzerns ihre Interessen zurückstellen musste, und welche Kompensation oder welcher Lösungsmechanismus ggf. in Abstimmung mit dem Verwaltungsrat der betroffenen Gesellschaft beschlossen worden ist. Angesichts der Autonomie zur Ausgestaltung der Konfliktlösungsmechanismen ist vorstellbar, diesen einem der Ausschüsse des Verwaltungsrates zuzuordnen. Der Ausschuss könnte sich in dem Procedere an der Vorgehensweise der Empfehlung 8 Abs. c) des CU (Geschäfte mit nahe stehenden Personen) orientieren. Das bedeutete, dass dieser präventive Kontrollmechanismus nicht angewendet werden müsste, wenn es sich um Transaktionen handelte, deren Bedingungen branchenübliche Standards bei gleichzeitig großer Transaktionszahl, allgemein üblichen, festgesetzten Preisen oder Tarifen entsprechen und auch nicht mehr als ein Volumen von 1 % der jährlichen Gesellschaftseinnahmen umfassten. Bei letzterem ist die Referenz selbstverständlich die jeweilige Mutter- bzw. Tochtergesellschaft. Neben dieser Konkretisierung, ab welchen Eckwerten dieser präventive Kontrollmechanismus ausgelöst werden soll, müssen auch die entsprechenden Kriterien zur Konfliktlösung öffentlich gemacht werden. In dieser Hinsicht wäre es bspw. sinnvoll vorzusehen, dass der Verwaltungsrat (oder ggf. ein entsprechender Ausschuss) darüber wacht, dass in den konzerninternen Geschäftsbeziehungen das gesellschaftliche Interesse einer jeden betroffenen Tochtergesellschaft gewahrt bleibt. Dies soll so vonstatten gehen, dass die genannten Beziehungen dem Gegenseitigkeits- und Ausgleichsprinzip verpflichtet sind. Sollten diese Prinzipien zum Schaden einer der beteiligten Parteien verletzt werden, werden der benachteiligten Tochtergesellschaft kompensatorische oder andere entsprechende Mittel angeboten. Dennoch müssen entsprechend dem Tenor der Empfehlung 2 des CU diese etwaigen Kompensationsleistungen nicht öffentlich gemacht werden, da die Empfehlung sich auf die Informationspflicht zu den „Mechanismen zur Konfliktlösung“ zwischen börsennotierter Mutterund Tochtergesellschaft bezieht, nicht aber auf die Informationspflicht zu der Frage, wie in jedem einzelnen Fall diese Konflikte gelöst worden sind. Alle Regelungen, die hier beispielhaft vorgeschlagen werden, um die Empfehlung 2 des CU umzusetzen, könnten in der Geschäftsordnung des Verwaltungsrates der börsennotierten Mutter- und Tochtergesellschaft festgeschrieben werden. Die Geschäftsordnung könnte aber auch vorsehen, dass der Verwaltungsrat mittels entsprechenden Beschlusses die notwendigen Bestimmungen trifft, um diese Empfehlung umzusetzen.

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2. Die neue Zusammensetzung und die Aufgaben des Exekutivausschusses nach dem neuen Modell des Verwaltungsrates Mit Blick auf den Exekutivausschuss folgen die Empfehlungen 42 und 43 des CU von der Zusammensetzung und dem Funktionsbereich her dem, was in der Praxis vom Exekutivausschuss aufgrund der Entwicklung hin zu einem Verwaltungsrat mit schwerpunktmäßigen Überwachungsaufgaben an Bereichen übernommen worden ist. Der CU votiert in Abs. a) und b) der Empfehlung 8 dafür, dass der Kernbereich der präventiven Überwachungsfunktion dem Verwaltungsrat im Plenum vorbehalten bleibt und schließt damit die Delegation an eine Person (den leitenden Geschäftsführer) oder an eine Gruppe (den Exekutivausschuss) aus. Nur in den Bereichen, die im Abs. b) aufgeführt sind, hat der Exekutivausschuss ausnahmsweise und aus Dringlichkeitsgründen mit nachfolgender Ratifizierung durch den Verwaltungsrat Entscheidungsrecht. Damit könnte man denken, dass der Exekutivausschuss in der Praxis derzeit eine weniger wichtige Rolle inne hat als früher56. Wir können diese Auffassung nicht teilen, da in der Wirklichkeit der Exekutivausschuss allein eine Änderung seiner Position im Akteursgefüge durchläuft: Er wird zu einer Instanz, die die Verknüpfung von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung zur Aufgabe hat. Er filtert Vorschläge, Initiativen und Entscheidungen seitens der Geschäftsleitung vor der Unterbreitung zur Kontrolle und Überwachung an den Verwaltungsrat. In diesem neuen Kontext hat der Exekutivausschuss die Rolle eines vorwiegend zur Entscheidung befugten Organs abgelegt zugunsten einer unterstützenden Rolle für das reibungslose Funktionieren des Verwaltungsrates als Überwachungsorgan der Geschäftsleitung. In dieser Hinsicht operiert der Exekutivausschuss in der Praxis auf zweierlei Ebenen: Einerseits verfolgt er auf andauerndere und direktere Art und Weise die Geschäftsleitungspolitik auf Grundlage der Entscheidungen der präventiven Überwachung und Kontrolle, die der Verwaltungsrat im Plenum beschlossen hat. Er übernimmt dahingehend eine Überwachung der Ausführung der Entscheidungen des Verwaltungsrates ebenso wie die Geschäftsleitung zwischen den Plenarsitzungen des Verwaltungsrates im Sinne des eingangs bereits erläuterten „verkleinerten Verwaltungsrates“. Andererseits erhält er von den geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsrates und der Geschäftsführung die Initiativen und Vorschläge zur Übermittlung an und Präsentation vor dem im Plenum tagenden Verwaltungsrat und wirkt damit als ein erster Filter dieser Vorschläge. Da dies der neue Funktionsbereich des Exekutivausschusses ist, ist auch verständlich, dass die Empfehlung 42 des CU es vorzieht, eher von einem „Lenkungsausschuss“ (comisión delegada) als von einem Exekutivausschuss zu sprechen. Die exekutive Rolle des Ausschusses gehört klar dem mit Geschäftsleitungsaufgaben betrauten Verwaltungsratsmodell an und weniger dem aktuellen Verwaltungsrat mit Überwachungsaufgaben. Es wird sogar vorgeschlagen, dass – da der Exekutivausschuss in der Tat wie ein verkleinerter

__________

56 Bereits im Olivencia Bericht wurde diese Behauptung angekündigt und führte dazu, dass in der Begründung für die Empfehlung 42 des CU von „einem allmählichen Verschwinden der Exekutivausschüsse gesprochen wird“.

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Rat arbeitet57 – sogar sein Sekretär der gleiche wie der des Verwaltungsrates sein soll. Dies erklärt und rechtfertigt auch die Forderung der Empfehlung 43 des CU, dass der Verwaltungsrat und seine Mitglieder eine direkte und umfassende Kenntnis der vom Exekutivausschuss besprochenen Vorgänge und Beschlüsse haben sollen. Abgesichert wird dies dadurch, dass jedes einzelne Verwaltungsratsmitglied eine Kopie der Protokolle der Exekutivausschusstagungen erhält58. Aus unserer Perspektive beschreiben diese wenigen aber umso wichtigeren Präzisierungen des CU sehr zutreffend die Rolle, die der Exekutivausschuss ausfüllen soll und in der Tat in der Praxis seit der Einführung des Verwaltungsrats mit Überwachungsfunktion spielt. 3. Regelungen zu den Funktionsmechanismen des Verwaltungsrates hinsichtlich seiner Überwachungsaufgaben Die Empfehlungen 16 bis 22 des CU dienen dem Ziel, die Funktionsweise des Verwaltungsrates zur Erfüllung seiner Überwachungsaufgaben zu verbessern. In diesem Kontext sind die Empfehlungen 16 und 17 bezüglich des Vorsitzenden, die Empfehlung 18 zum Sekretär, die Empfehlungen 19 bis 21 über den Ablauf der Sitzungen und die Empfehlung 22 zur Bewertung des Verwaltungsrates, seines Vorsitzenden und des leitenden Geschäftsführers des Unternehmens sowie der Ausschüsse des Verwaltungsrates zu verstehen. Den Vorsitzenden sieht die Empfehlung 16 des CU in einer doppelten Rolle: Einerseits wünscht man sich, dass der Vorsitzende einen ordnungsgemäßen Sitzungsablauf unter der zentralen Prämisse „der Wahrung der freien Meinungsäußerung und Stellungnahme“ der Mitglieder wahrt. Andererseits wird ebenso vorausgesetzt, dass der Vorsitzende eine für den Meinungsbildungsprozess aller Mitglieder notwendige, proaktive Haltung einnimmt. Der Vorsitzende hat die Pflicht, das Informationsrecht der Mitglieder dadurch zu garantieren, dass er ihnen vor Sitzungsbeginn „ausreichend Informationen“ zugehen lässt. Er soll ebenfalls die „aktive Diskussion der Mitglieder während der Sitzungen“ fördern59.

__________ 57 Dass insofern ein Exekutivausschuss existiert, dessen Mitgliederstruktur hinsichtlich der verschiedenen Kategorien dieselbe sei wie im eigentlichen Verwaltungsrat und auch dessen Sekretär derjenige des Verwaltungsrates sei (Empfehlung 42 des CU). 58 Dass der Verwaltungsrat immer Kenntnis von den behandelten Punkten und den Entscheidungen des Exekutivausschusses hat, und dass alle Mitglieder des Verwaltungsrates eine Kopie der Tagungsprotokolle des Exekutivausschusses erhalten (Empfehlung 43 des CU). 59 Empfehlung 16 des CU: „Dass der Vorsitzende als Verantwortlicher eines effizienten Funktionierens des Verwaltungsrates sich versichert, dass die Mitglieder rechtzeitig ausreichende Informationen erhalten, er die Diskussion und die Mitwirkung der Mitglieder während der Sitzungen aktiv befördert, die freie Meinungsäußerung und Stellungnahmen garantiert, sowie er gemeinsam mit den Vorsitzenden der einschlägigen Ausschüsse die regelmäßige Bewertung des Verwaltungsrates, und – sofern zutreffend, des leitenden Geschäftsführers – organisiert und koordiniert“.

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In dieser Sachlogik hätte die Empfehlung 16 des CU nicht auch noch dem Vorsitzenden, auch wenn dieser nicht geschäftsführendes Mitglied ist, die Organisation und Koordination der regelmäßigen Leistungsbewertung übertragen sollen, da dieser ja gleichzeitig der wichtigste Verantwortliche für das effiziente Funktionieren des Verwaltungsrates ist. Diese Aufgabe wäre bspw. besser in den Händen des Vorsitzenden des Nominierungs- und Vergütungsausschusses oder eines jeden unabhängigen Mitgliedes des Verwaltungsrates aufgehoben. Unproblematisch ist es dagegen, dem Vorsitzenden die Organisation der regelmäßigen Leistungsbewertung des leitenden Geschäftsführers des Unternehmens zuzuordnen. Die vorher geäußerten Einwände spielen allerdings dann eine Rolle, wenn der Vorsitzende ebenfalls geschäftsführendes Mitglied ist (auch wenn er nicht der leitende Geschäftsführer ist): Die Bewertung der geschäftsführenden Mitglieder sollte vom Verwaltungsrat im Plenum und nicht von den mit der Geschäftsführung betrauten Personen durchgeführt werden. Zu den Bewertungen äußert sich die Empfehlung 22 des CU60. Die Bewertung des Verwaltungsrates durch sich selbst muss als eine Selbstkontrolle begriffen werden. Das Verfahren impliziert eine Prüfung des Sitzungskalenders, der in den Sitzungen behandelten Sachverhalte und des Grades der Zufriedenheit über die reale Entwicklung der Kompetenzen zur Überwachung der Geschäftsführung. Ein wichtiges Bewertungskriterium ist die Einschätzung, ob die von der Geschäftsführung erhaltenen Informationen für die Überwachungsaufgabe als ausreichend angesehen werden können. In einem anderen Bereich kann die Selbstevaluation des Verwaltungsrates durchaus auch seine eigene Zusammensetzung betreffen. Haben die verschiedenen Mitglieder die jeweiligen Fähigkeiten, Unabhängigkeit und notwendigen Kenntnisse für die Ausübung ihrer Funktionen? Sind die Beiträge, die die verschiedenen Ausschüsse mit ihren Aufgaben der Überwachung bestimmter Sachgebiete beisteuern, ausreichend informativ? Ist die Kommunikation zwischen den Ausschüssen und dem Verwaltungsrat gewährleistet? Die Empfehlung fordert in dieser Hinsicht, dass der Evaluation der Ausschüsse durch den Verwaltungsrat ein Bericht der jeweiligen Ausschüsse vorangestellt wird, welcher einerseits eine Beschreibung der durchgeführten Aufgaben in den Ausschüssen und andererseits auch eine Selbstbewertung hinsichtlich ihres eigenen Funktionierens enthält. Schließlich erfordert die Bewertung der Tätigkeit des Vorsitzenden des Verwaltungsrates und des leitenden Geschäftsführers des Unternehmens vielleicht ein besonderes Format. Eine angemessene Vorgehensweise könnte die Einberufung einer Sondersitzung des Verwaltungsrats sein, welche bereits im Sitzungskalender des Jahres einen festen Platz hat. In dieser Sondersitzung sollten der Vorsitzende und der leitende Geschäftsführer des Unternehmens zuerst

__________ 60 „Dass der Verwaltungsrat im Plenum einmal im Jahr bewertet: a) die Qualität und Effizienz des Funktionsablaufs des Verwaltungsrates; b) auf Basis des Berichts, dem ihm der Nominierungsausschuss zugehen lässt, die Arbeitsweise des Vorsitzenden des Verwaltungsrates und des leitenden Geschäftsführers des Unternehmens; c) der Funktionsablauf der Ausschüsse auf Grundlage der von diesen eingereichten Berichten“.

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einen kurzen Abriss ihrer Aktivitäten geben, um dann die Sitzung zu verlassen. Sie würden sich den Sitzungsteilnehmern am Ende wieder anschließen, damit ihnen die Schlussfolgerungen der vom Verwaltungsrat durchgeführten Bewertung erläutert werden. Die genannte Evaluation sollte sich vordringlich mit Organisation und Funktionsweise des Verwaltungsrates hinsichtlich der Rolle des Vorsitzenden befassen. Ebenfalls sollte die Angemessenheit der Informationen für eine reale Überwachung der Geschäftsleitung, welche der leitende Geschäftsführer des Unternehmens in seiner Präsentation gegeben hat, als Bewertungsgrundlage dienen. Die Empfehlung 17 des CU setzt sich vom Bisherigen etwas ab, da sie sich zwar auch auf den Vorsitzenden bezieht, aber voraussetzt, dass er gleichzeitig der leitende Geschäftsführer des Unternehmens ist61. Die Praxis ist sehr unterschiedlich, wenn der Vorsitzende, obwohl geschäftsführendes Mitglied, nicht gleichzeitig der leitende Geschäftsführer ist und in diesem Zusammenhang hauptsächlich koordinierende und institutionelle Aufgaben wahrnimmt. Wenn der Vorsitzende allerdings gleichzeitig leitender Geschäftsführer ist, ist die Ausgangslage wie folgt: Der Vorsitzende, der den Verwaltungsrat in seiner Überwachungsfunktion maßgeblich koordiniert, ist gleichzeitig diejenige Person, die ihre eigenen Aktivitäten als leitender Geschäftsführer der Gesellschaft der Kontrolle des Verwaltungsrates vorlegen muss. Nach den Empfehlungen des Olivencia Berichtes war es dem Vorsitzenden erlaubt, auch die Rolle des leitenden Geschäftsführers einzunehmen. Allerdings schlägt der Bericht vor, „dass im Falle, dass der Verwaltungsrat für die Konstellation eines Vorsitzenden mit gleichzeitiger Übernahme des Amtes des leitenden Geschäftsführers der Gesellschaft votiert, dieser die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen hat, um die Risiken einer Machtkonzentration in den Händen einer einzigen Person zu reduzieren.“62 Demzufolge soll „aus den Reihen der unabhängigen nicht geschäftsführenden Mitglieder des Verwaltungsrates ein zweiter Vorsitzender mit Koordinierungsfunktion bestellt werden, der vertretungsweise ebenfalls die Kompetenz hat, den Verwaltungsrat einzuberufen, neue Tagesordnungspunkte einzubringen, den weiteren Mitgliedern Informationen zukommen zu lassen und ganz allgemein seine Bedenken vorzutragen.“ Das RCNMV machte sich die Vorschläge des Olivencia Berichtes zu eigen in den Art. 11 und 12. Dies führte dann zu der Situation, dass zwei Personen mit gleichen Kompetenzen ausgestattet sind – mit dem auf der Hand liegenden Risiko einer Doppelspitze in der Führung des Verwaltungsrates. Die Lösung, die nun in der Empfehlung 17 des CU vorgeschlagen wird, folgt der Linie des Olivencia

__________ 61 „Dass, wenn der Vorsitzende des Verwaltungsrates gleichzeitig leitender Geschäftsführer der Gesellschaft ist, einer der unabhängigen Mitglieder ermächtigt wird, eine neue Einberufung des Verwaltungsrates oder die Einbeziehung neuer Tagesordnungspunkte zu verlangen; dies soll ermöglichen, dass die Ansichten der nicht geschäftsführenden Mitglieder des Verwaltungsrates gehört und koordiniert werden und dass die Bewertung des Vorsitzenden durch den Verwaltungsrat durchgeführt werden kann.“ Vgl. Sacristán Represa in El Gobierno de las Sociedades Cotizadas, El Presidente del Consejo, 1999, S. 245. 62 Olivencia Bericht, Empfehlung 3.2, S. 25 und 26.

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Berichtes und des RCNMV von 1998. Die Tatsache, dass einem der unabhängigen nicht geschäftsführenden Mitgliedern (anstelle eines zweiten Vorsitzenden) die Kompetenz angetragen wird, den Verwaltungsrat einzuberufen oder neue Tagesordnungspunkte einzubringen, ist keine realistische Lösung in dem Maße, dass unabhängige nicht geschäftsführende Mitglieder nur schwierig vorab über die notwendige Informationen verfügen können, um hier hinsichtlich der Einberufung des Verwaltungsrates und der in der Sitzung zu behandelnden Themen initiativ werden zu können. Darüber hinaus scheint es uns unangemessen, einem unabhängigen Mitglied die Koordinierungsfunktion zuzusprechen, als hätten die anderen unabhängigen Mitglieder nicht selbst die Fähigkeit, für eine sorgfältige Amtsausübung ihrer eigenen Aufgaben zu sorgen, zu denen sie in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Verwaltungsrates verpflichtet sind. Die Instanz, die sich koordinieren muss und in der die Bedenken zum Tragen kommen müssen, ist der Verwaltungsrat selbst und nicht eine Art informeller Parallelrat, welcher unabhängig vom eigentlichen Verwaltungsrat agiert. Vielleicht hätte den einzelnen Gesellschaften ein größerer Spielraum gelassen werden sollen, damit diese im Rahmen der Satzungs- und Geschäftsordnungsautonomie die jeweils angemessene Lösung für ihre spezifische Ausgangssituation finden können. Diese Lösung müsste natürlich detailliert erläutert im Jahresbericht zum Corporate Governance Kodex aufgeführt und zudem jeweils jährlich vom Verwaltungsrat einer Selbstbewertung unterworfen werden. Mit Blick auf den jährlichen Sitzungskalender und die jeweilige Tagesordnung könnte man verpflichtend einführen, dass der Verwaltungsrat am Ende jeder Sitzung die Einberufung und die Tagesordnung der folgenden Sitzung selbst verabschiedet. Somit hätte der Verwaltungsrat im Plenum die Möglichkeit, den Sitzungskalender und die darin zu behandelnden Themen zu ändern, und das zudem in Betrachtung der jeweils aktuellen Erfordernisse für die Gesellschaft. Unseres Erachtens ist die Vorgabe der Empfehlung 17 des CU – Übertragung der Evaluation des Vorsitzenden auf ein unabhängiges Mitglied – unnötig. Die Figur des zweiten Vorsitzenden ist hier absolut ausreichend, der die Leitungsfunktion der Verwaltungsratssitzung übernimmt, wenn auf der Tagesordnung die Evaluation des Vorsitzenden steht (und dieser die Sitzung verlässt). Die Empfehlung 18 des CU zur Figur des Sekretärs ist weder innovativ noch problematisch. Ihm wird die Aufgabe übertragen, die formelle und materielle Gesetzmäßigkeit der Handlungen des Verwaltungsrates zu überwachen. D. h., er muss kontrollieren, ob der Verwaltungsrat die bestehenden Gesetze, Satzungen und Geschäftsordnungen sowie die Empfehlungen des CU, welchen die Gesellschaft folgen möchte, einhält63. Der CU verzichtet darauf, auf die Pflich-

__________ 63 „Dass der Sekretär des Verwaltungsrates in besonderer Weise wacht, dass die Handlungen des Verwaltungsrates: a) die Gesetze und ihre Verordnungen, darunter auch diejenigen, die durch die Aufsichtsbehörden verabschiedet worden sind nach Wortlaut und Gehalt befolgen; b) der Satzung und den Geschäftsordnungen der Hauptversammlung, des Verwaltungsrates und den sonstigen, die die Gesellschaft hat, ent-

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ten des Sekretärs – wie etwa im Olivencia Bericht – einzugehen64. Er übernimmt ebenfalls nicht den Vorschlag des Olivencia Berichtes, dass der Sekretär gleichzeitig auch Mitglied des Verwaltungsrats sein soll, was ihm nicht nur ein Mitsprache-, sondern gleichzeitig auch ein Stimmrecht einräumen würde. Diese Nichtberücksichtung des vorgenannten Vorschlages ist unseres Erachtens richtig. Die Unabhängigkeit und Professionalität des Sekretärs sollte nicht mit dem Mitgliedsstatus verknüpft sein, sondern diese Eigenschaften sollten auf seinen eher technischen Fähigkeiten beruhen und auf seiner hierarchischen Abhängigkeit innerhalb der Leitungsstruktur der Gesellschaft, ebenso wie auf der Stabilität seines Amtes und seinem Recht, sich sämtliche Informationen der Gesellschaft einzuholen, die er für die Ausübung seiner Funktionen als notwendig erachtet. Die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Professionalität des Sekretärs zur Wahrnehmung der Funktionen, die ihm zugeordnet sind, sind nach der Empfehlung 18 des CU zu sichern, indem Regelungen zu seiner Ernennung und der Beendigung seines Amtes vorgesehen sind. Diesem Ziel gilt auch das Erfordernis, dass solche Regelungen explizit in der Geschäftsordnung des Verwaltungsrates vorgeschrieben sind. Der Verwaltungsrat im Plenum oder ein Ausschuss soll den Status des Sekretärs in jeglicher Hinsicht bestimmen, darunter auch seine Vergütung und die Natur seiner Verbindung mit der Gesellschaft. Schließlich sind die Empfehlungen 19 bis 21 in Wirklichkeit nur ein Reflex der Sorgfaltspflicht, mit der die Mitglieder des Verwaltungsrates die Aufgaben ihres Amtes auszuüben haben65. Diese Sorgfaltspflicht sollte die Mitglieder dazu bringen, einen terminlich festgelegten Sitzungskalender mit den zu be-

__________ sprechen; c) die Empfehlungen der Good Governance, welche in diesem Kodex enthalten und von der Gesellschaft übernommen worden sind, präsent haben; d) und dass zur Wahrung der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und Professionalität des Sekretärs über dessen Ernennung und Beendigung dieses Amtes durch den Nominierungsausschuss informiert und durch den Verwaltungsrat im Plenum beschlossen werde, und dass diese Vorgehensweise der Ernennung und der Beendigung dieses Amtes in der Satzung des Verwaltungsrates festgeschrieben sei“. 64 Darin heißt es, der Sekretär ist dazu angehalten, „den reibungslosen Ablauf der Sitzungen des Verwaltungsrates zu gewährleisten, indem er vor allem dafür Sorge trägt, dass den Mitgliedern die notwendigen Einschätzungen und Informationen vorliegen“. Olivencia Bericht, Empfehlung 3.3, S. 26 und 27. Vgl. Fernández de la Gándara in El Gobierno de las Sociedades Cotizadas, El Secretario del Consejo de Administración, 1999, S. 273. 65 „Empfehlung 19: Dass der Verwaltungsrat sich in einem bestimmten Rhythmus einfindet, um seine Aufgaben wirksam ausüben zu können, er den Terminen und Aufgabenstellung zu Beginn der Amtsausübung folgt, wobei jedes Mitglied das Recht hat, andere, zu Beginn nicht vorgesehene Tagesordnungspunkte einzubringen. Empfehlung 20: Dass die Abwesenheiten der Mitglieder sich auf wenige unbedingt notwendige beschränken und diese im Jahresbericht zum Corporate Governance Kodex quantifiziert werden. Und dass im Falle einer unbedingt notwendigen Vertretung diese detailliert instruiert ist. Empfehlung 21: Dass sofern die Mitglieder oder der Sekretär Bedenken zu einem Vorschlag äußern, oder im Fall der Mitglieder, über die Leistung des Unternehmens und solche Bedenken im Verwaltungsrat nicht ausgeräumt werden können, auf Bitten desjenigen, der sie geäußert hat, diese im Protokoll vermerkt werden“.

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handelnden Themen einzufordern und aufzustellen. Jedes Mitglied ist mit dem Recht ausgestattet, so viel Tagesordnungspunke vorzuschlagen, wie es für notwendig erachtet, auch dann, wenn diese nicht im Sitzungskalender zu Beginn des Geschäftsjahres beschlossen worden sind. Ebenso führt die Sorgfaltspflicht dazu, das die Abwesenheit der Mitglieder eine absolute Ausnahme darstellen muss, und dass es die Regel sein sollte, in einem solchen Fall den Vertreter aus dem Kreis der anderen Mitglieder zu instruieren. Es erscheint im Übrigen angemessen, dass die Abwesenheiten im Jahresbericht zum Corporate Governance Kodex nach Möglichkeit personenbezogen quantifiziert werden sollen. Letzteres macht nur dann Sinn, wenn gleichzeitig im Jahresbericht in allgemeiner Art zum Sitzungsablauf des Verwaltungsrates im Geschäftsjahr Stellung bezogen wird.

IV. Ausblick Obwohl die schwerpunktmäßige Überwachungsaufgabe des Verwaltungsrates durch die Gesetzesnovellen von 2002 und 2003 sowie die Corporate-Governance-Regelungen bekräftigt worden ist, bleibt dennoch das unitarische System der Verantwortlichkeit der Verwaltungsratsmitglieder im TRLSA bestehen, welches in der Tradition des LSA/1951 nicht zwischen den Positionen des geschäftsführenden und nicht geschäftsführendes Mitgliedes unterscheidet. Die klare Aufgabenteilung der Mitglieder des Verwaltungsrates in Geschäftsleitung und Überwachung führt zu einem Mangel an Homogenität in der Ausübung des Amtes, was wiederum die Voraussetzung für eine gesamtschuldnerische Haftung ist. Diese Inkonsistenz muss zwingend zu einer Überarbeitung des derzeitigen, unitarischen Verantwortungsregimes des Verwaltungsrates führen. Die Lehre hat diese Inkongruenz seit einiger Zeit erkannt66. Die solidarische Verantwortlichkeit aller Verwaltungsratsmitglider ohne Berücksichtung deren unterschiedlicher Aufgabenbereiche im Rahmen der Leitung und Überwachung (Art. 132.3 TRLSA), das Fehlen unterschiedlicher Anforderungen hinsichtlich Sorgfaltspflicht und Loyalität als Voraussetzung für die Verantwortlichkeit (Art. 127 ff. TRLSA) sind Hinweis dafür, dass der spanische Gesetzgeber gefordert ist, eine grundlegende Reform der Verantwortlichkeit der Verwaltungsratsmitglieder vorzulegen, damit diese wieder mit dem hier skizzierten Verwaltungsratsmodell der spanischen börsennotierten Aktiengesellschaft übereinstimmt67.

__________ 66 Vgl. Fernández de la Gándara in El Gobierno de las Sociedades Cotizadas, El debate actual sobre el gobierno corporativo: aspectos metodológicos y de contenido, 1999, S. 55, S. 90; Esteban Velasco in El Gobierno de las Sociedades Cotizadas, La renovación de la estructura de la administración en el marco del debate sobre el Gobierno Corporativo, 1999, S. 137, S. 183. S. auch Esteban Velasco, in Derecho de Sociedades Anónimas Cotizadas, La separación entre Dirección y Control: el sistema monista español frente a la opción entre distintos sistemas que ofrece el Derecho comparado, Band II, 2006, S. 727. 67 Ausführlich dazu s. Alonso Ureba, RdS, Nr. 25, 2005, 19, 60.

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Grenzen der Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats und die Folgen ihrer Verletzung durch den Vorstand Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Grenzen der Gültigkeit von Zustimmungsvorbehalten 1. Die Organkompetenzen von Vorstand und Aufsichtsrat hinsichtlich der Geschäftsführung 2. Zur Historie des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG 3. Zum Begriff „bestimmte Arten von Geschäften“ im Sinne des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG 4. Ergebnis III. Generelle Haftung bei Verletzung des Zustimmungsvorbehalts? 1. Meinungsstand zu § 93 AktG

2. Der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Verfahrensfehlern a) Grundlagen b) Meinungsstand aa) Rechtsprechung bb) Schrifttum c) Stellungnahme aa) Grundsatz bb) Der Schutzzweck des Zustimmungsvorbehalts cc) Grenzen der Zufallshaftung (versari in re illicita) IV. Ergebnisse

I. Einleitung Der Aufsichtsrat ist das zwingend notwendige Kontrollorgan in der AG. Während der Vorstand die Gesellschaft „unter eigener Verantwortung“ zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG 1965) hat, weiß das AktG nichts von Geschäftsleitungskompetenzen des Aufsichtsorgans. Insbesondere ist die dem Aufsichtsrat für „bestimmte Arten von Geschäften“ vorbehaltene Zustimmung (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) bei formaler Betrachtung ein aliud im Verhältnis zur Geschäftsleitung. Doch wäre die Annahme, dass die Geschäftsleitungsaufgabe des Vorstands und die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats in einem antagonistischen Verhältnis stünden, graue Theorie. In der Praxis lassen sich Geschäftsleitungsund Überwachungsfunktion nicht streng trennen. Die Organwalter in Vorstand und Aufsichtsrat sind entgegen dem Eindruck, den man aus dem Buchstaben des Gesetzes (§§ 76, 111 AktG) gewinnen könnte, auch keine Gegenspieler. In einem führenden Lehrbuch des Gesellschaftsrechts, welches seit 1986 die Liebe unzähliger junger Juristen für dieses Fach geweckt hat und für alle Gesellschaftsrechtler seither unentbehrlich geworden ist, heißt es dazu treffend: „Insgesamt sind die Hauptaufgaben des Aufsichtsrats damit durch seine Überwachungsfunktion gegenüber der Unternehmensleitung geprägt. … Man muss sich jedoch darüber

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Holger Altmeppen klar sein, dass diese Überwachung in florierenden Unternehmen eher dem Bild kooperativer Beratung entspricht und nur ausnahmsweise in formellen Maßnahmen sichtbar wird1.“

Die in der Praxis typischerweise einvernehmliche Kooperation zwischen Vorstand und Aufsichtsrat bei der Geschäftsleitung wird durch allzu pauschale Kompetenzabgrenzungen in Geschäftsordnungen für den Vorstand gestört. Danach soll der Vorstand der Zustimmung des Aufsichtsrats für Maßnahmen und Geschäfte bedürfen, die alles andere als präzise bezeichnet werden. So wird nicht selten die „Unternehmensplanung“ als solche, die „Langfristplanung“, die „Mittelfristplanung“, die „Finanz“- oder „Investitionsplanung“ der Zustimmung des Aufsichtsrats vorbehalten2. Sehr verbreitet sind auch Zustimmungsvorbehalte, die pauschal „Investitionen“ ab einer bestimmten Größenordnung (in der Regel ein siebenstelliger oder achtstelliger Betrag) einem Kondominat von Vorstand und Aufsichtsrat unterwerfen. Was aber sind „Investitionen“? Das Standardwerk zur allgemeinen Betriebswirtschaftslehre definiert Investition als „die Hingabe von Geld heute in der Hoffnung auf höhere Geldrückflüsse in der Zukunft3.“

Das Wirtschaftslexikon von Gabler versteht darunter „zielgerichtete, in der Regel langfristige Kapitalbindung zur Erwirtschaftung zukünftiger Erträge4.“

Nichts Konkreteres erfährt der Vorstand endlich aus dem Fremdwörterbuch von Duden. Danach ist die Investition „Überführung von Finanzkapital in Sachkapital5.“

Der Vorstand ist bei derartig diffusen Zustimmungsvorbehalten, wie sie in der Praxis vorkommen, nicht zu beneiden. Die schlimmsten dieser Art beschränken sich nicht nur auf unbestimmte Begriffe aus der Betriebswirtschaft („Unternehmensplanung“, „Mittelfristplanung“, „Langfristplanung“, „Finanz“oder „Investitionsplanung“, „Investitionen“ etc.). Immer wieder trifft man in der Praxis Geschäftsordnungen an, die den Vorstand bereits an die Zustimmung des Aufsichtsrats fesseln, wenn er „wichtige Geschäfte“ oder „außergewöhnliche Geschäfte“ tätigen will6. Der Vorstand mag sich in der Praxis damit trösten, dass seine Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat „… in florierenden Unternehmen eher dem Bild

__________ 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 820. 2 Vgl. dazu statt aller Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 111 AktG Rz. 68; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, § 3 Rz. 109 ff. m. w. N. 3 Wöhe, Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 22. Aufl. 2005, S. 584. 4 Gabler, Wirtschaftslexikon, 16. Aufl. 2005, S. 1588 f. 5 Duden, Das Standardwerk zur deutschen Sprache, Bd. 5, Fremdwörterbuch, 9. Aufl. 2007. 6 Die außergewöhnlichen Geschäfte erfassen zwar auch §§ 116, 164 HGB, aber für nicht vergleichbare Fallgruppen.

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Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

kooperativer Beratung entspricht und nur ausnahmsweise in formellen Maßnahmen sichtbar wird7.“ Doch was ist, wenn – etwa nach einem Unternehmenskauf – Vorstand und Aufsichtsrat ausgewechselt werden und die neuen Machthaber entdecken, dass ein missglücktes Geschäft ohne die nach der Geschäftsordnung erforderliche „förmliche“ Zustimmung des Aufsichtsrats erfolgt ist? Haften die Vorstandsmitglieder dann für den gesamten unternehmerischen Misserfolg der – für sich betrachtet nicht pflichtwidrigen – Maßnahme, auch wenn der damalige Aufsichtsrat sie ohne weiteres gebilligt hätte? Befragt man dazu den neuesten, vom Jubilar herausgegebenen Kommentar zum AktG, so müssen die Vorstandsmitglieder erzittern: „Die Haftung (sc. der Vorstandsmitglieder auf Schadensersatz) entfällt, wenn der Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre. … Bei der Verletzung von Kompetenz-, Organisations- oder Verfahrensregeln ist der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens jedoch ausgeschlossen, weil sonst der Schutzzweck dieser Regeln unterlaufen würde; z. B. kann gegenüber einer Haftung für eine ohne die erforderliche Aufsichtsratszustimmung vorgenommene Geschäftsführungsmaßnahme nicht eingewandt werden, bei ordnungsgemäßer Einschaltung des Aufsichtsrats hätte dieser zugestimmt8.“

Zwei Fragen drängen sich dazu auf: Welchen Grenzen der Wirksamkeit begegnen pauschale und diffuse Zustimmungsvorbehalte in Satzungsregelungen oder Geschäftsordnungen für den Vorstand? Und bürdet eine Verletzung des Zustimmungsvorbehalts wirklich ausnahmslos das gesamte unternehmerische Risiko einer Geschäftsleitungsmaßnahme dem Vorstand auf, auch wenn der (damalige) Aufsichtsrat die Maßnahme nachweislich gebilligt hätte? Der Jubilar beherrscht das historische Argument und die übergreifende Betrachtungsweise meisterlich. Versuchen wir, ob diese beiden Instrumente juristischer Arbeitstechnik auch betreffs unserer Fragen Ertrag bringen.

II. Die Grenzen der Gültigkeit von Zustimmungsvorbehalten 1. Die Organkompetenzen von Vorstand und Aufsichtsrat hinsichtlich der Geschäftsführung Die Führung der Geschäfte einer AG ist Angelegenheit des Vorstands. Er handelt dabei eigenverantwortlich (§ 76 AktG) und ist an Weisungen der Hauptversammlung seit Geltung des AktG 1937 nicht mehr gebunden9. Die Überwachungsaufgabe, die das Organ Aufsichtsrat in der AG wahrzunehmen hat, umfasst aber auch die Möglichkeit – und seit der Formulierung des § 111

__________

7 Karsten Schmidt (Fn. 1). 8 Krieger/Seiler in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 93 AktG Rz. 30 m. w. N. 9 Der Gesetzgeber der Aktienrechtsnovelle von 1884 (RGBl. S. 123) erkor die Generalversammlung zum obersten Organ der Aktiengesellschaft mit Weisungsbefugnis. Das HGB von 1897 hatte dies zunächst übernommen (§§ 178 ff.). Erst das AktG von 1937 hat die Macht in der AG bewusst von der Generalversammlung an den Vorstand weitergeleitet, der die Gesellschaft eigenverantwortlich und weisungsfrei leiten sollte (§ 70 AktG 1937).

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Abs. 4 Satz 2 AktG i. d. F. vom 19.7.200210 offenbar sogar eine Pflicht – des Aufsichtsrats, sich auch durch Zustimmungsvorbehalte Kontrolle zu verschaffen. Seit 1937 durften derartige Zustimmungsvorbehalte aber nur „bestimmte Arten von Geschäften“

erfassen (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG 1965). Der Gesetzgeber bestätigt ausdrücklich in § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG die aus der Organisationsverfassung in der AG seit 1937 folgende Organkompetenz, dass „Maßnahmen der Geschäftsführung … dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden (können).“

Mit diesem Verbot wäre aber die Annahme unvereinbar, der Aufsichtsrat könne sich zu jeder Art von Geschäften oder doch zu einer solchen Fülle von Geschäftsarten die Zustimmung vorbehalten, die eine klare Abgrenzung der Organkompetenzen (eigenverantwortliche Geschäftsleitung durch den Vorstand – Überwachung durch den Aufsichtsrat) vereiteln bzw. ins „Unverbindliche“ treiben würde11. Die seit Geltung des TransPuG12 eingeführte „Verpflichtung“ für den Aufsichtsrat zur Festlegung von Zustimmungsvorbehalten beruht auf dem Bericht der Regierungskommission Corporate Governance13. Nach Ziffer 3.3. des deutschen Corporate Governance Kodexes geht es dabei um Zustimmungsvorbehalte „für Geschäfte von grundlegender Bedeutung … hierzu gehören Entscheidungen oder Maßnahmen, die die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens grundlegend verändern.“

Im Übrigen sollte die Funktionenaufteilung, nach welcher der Vorstand die Geschäfte der AG eigenverantwortlich leitet, der Aufsichtsrat demgegenüber auf die Kontrolle der Geschäftsführung beschränkt sein soll, durch die neue Regelung des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG aus dem Jahre 2002 nicht verändert werden14. 2. Zur Historie des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG Unter Geltung des HGB von 1897 war die Abgrenzung der geschäftsleitenden Tätigkeit und der kontrollierenden Tätigkeit der Organe Vorstand und Aufsichtsrat noch nicht so klar getrennt wie später. Die in einer Entscheidung aus dem Jahre 1881 durchschimmernde Annahme des Reichsgerichts, das Willensorgan der AG sei die Generalversammlung, das ausführende Organ der Vor-

__________ 10 Art. 1 Nr. 9 TransPuG (BGBl. I S. 2681). 11 Treffend dazu etwa Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 111 AktG Rz. 369 ff., 394 ff. m. w. N. 12 S. dazu Fn. 10. 13 Dazu Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, Unternehmensführung, Unternehmenskontrolle, Modernisierung des Aktienrechts, 2002, Rz. 35. 14 Vgl. dazu auch Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl. 2003, Rz. 301.

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Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

stand und das kontrollierende Organ der Aufsichtsrat15, wurde in den Kommentierungen zum HGB von 1897 als zumindest „missverständlich“ gerügt, da der Vorstand „… sicherlich auch ein Willensorgan, und der Aufsichtsrat nicht nur ein Aufsichtsorgan“ sei16. Das HGB von 1897 hat dem Aufsichtsrat bereits konkrete Aufsichtspflichten in § 246 HGB und konkrete Pflichten, die dem Bereich der Geschäftsleitung angehören (vgl. § 238 HGB 1897: Zustimmung zur Bestellung von Prokuristen), zugewiesen. Darüber hinausgehend enthielt das HGB von 1897 eine dispositive Bestimmung folgenden Inhalts (§ 246 Abs. 3 HGB 1897): „Weitere Obliegenheiten des Aufsichtsrats werden durch den Gesellschaftsvertrag bestimmt“.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass das HGB von 1897 noch vom Weisungsrecht der Gesellschafterversammlung gegenüber dem Vorstand ausgegangen ist, das der Gesetzgeber des AktG von 1937 bewusst abgeschafft hat17. So hielt man vor 1937 etwa Regelungen für zulässig, kraft derer der Vorstand „den Weisungen des Aufsichtsrats folgen muss“18, und weiter heißt es: „Ja es kann sogar bestimmt werden, dass der Aufsichtsrat über alles, was geschehen soll, Beschluss zu fassen hat, und der Vorstand nichts tun darf, als was der Aufsichtsrat anordnet oder vorher genehmigt, oder auch in anderer Form alles das tun muss, was der Aufsichtsrat bestimmt. Es kann ihm, was Petersen/Pechmann 461 ohne Grund für unzulässig erklären, die ganze Geschäftsführung übertragen sein, selbstverständlich vorbehaltlich der Rechte der Generalversammlung und vorbehaltlich gewisser dem Vorstande vom Gesetze unentziehbar übertragener Geschäftsführungsakte …19.“

Der Gesetzgeber des AktG von 1937 hat diese Rechtslage grundlegend abändern wollen. In der Bestimmung des § 95 Abs. 5 AktG 1937 heißt es dazu: „Maßnahmen der Geschäftsführung können dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden. Die Satzung oder der Aufsichtsrat kann jedoch bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden sollen.“

Im damals führenden Kommentar zum AktG 1937 wird treffend hervorgehoben, dass diese Regelung den bisher geltenden § 246 Abs. 3 HGB 1897 und damit die gesamte Organisationsverfassung in der AG grundlegend neu gestalten sollte. Die alte Regelung habe nämlich „zu der unheilvollen Entwicklung geführt, die den Aufsichtsrat von seiner Stellung als Aufsichts- und Überwachungsorgan völlig entfernte und ihn zum tatsächlichen Geschäftsführer der Gesellschaft machte … Das Aktiengesetz bricht mit dieser Entwicklung und stellt die Trennung zwischen Geschäftsführung und Aufsicht über sie, die verloren gegangen war, wieder her. Die Aufgabenkreise der beiden Verwaltungsträger werden scharf gegeneinander abgegrenzt. Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten (§ 70 Abs. 1), der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen (§ 95 Abs. 1). Um einer Verwischung der Aufgabenkreise in der Zukunft vorzu-

__________ 15 16 17 18 19

RG, Urteil v. 19.2.1881, RGZ 3, 123, 129. So etwa Staub/Pinner, HGB 1897, 12./13. Aufl. 1926, § 246 HGB Einl. I. S. die Nachw. II 1. Staub/Pinner, HGB 1897 (Fn. 16), § 246 HGB Anm. 10. S. Staub/Pinner, HGB 1897 (Fn. 16), § 246 HGB Anm. 10.

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Holger Altmeppen beugen, bestimmt Abs. 5 ausdrücklich, dass dem Aufsichtsrat Maßnahmen der Geschäftsführung nicht übertragen werden können20.“

Hinsichtlich des Zustimmungsvorbehalts (§ 95 Abs. 5 Satz 2 AktG 1937) wurde ausdrücklich bemerkt, dass, sofern von ihm Gebrauch gemacht werde, dadurch „die klare Trennungslinie, die das Gesetz aufgestellt hat, nicht beseitigt“

werden solle. Die Vorschrift solle „nur dazu dienen, die Überwachung der Geschäftsführung durch den Aufsichtsrat zu erleichtern, indem er durch das Erfordernis der Zustimmung über gewisse Geschäfte auf dem Laufenden bleibt und nicht durch ihren Abschluss überrascht werden soll21.“

Der Zustimmungsvorbehalt sollte nach dem Willen des Gesetzgebers des AktG von 1937 Ausnahmecharakter haben. Treffend heißt es dazu im damals führenden Standardkommentar: „Die Zustimmung kann nur für bestimmte Arten von Geschäften gefordert werden … . Bestimmte Arten sind nur einzelne Arten, die ausnahmsweise ausgenommen werden. Selbstverständlich kann auch nur für ein einzelnes Geschäft die Zustimmung vorgeschrieben werden22.“

Für den Gesetzgeber des AktG von 1937 war bereits selbstverständlich, dass die Zustimmung nur interne Bedeutung haben konnte, die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts im Außenverhältnis also nicht betraf (§ 74 Abs. 1 AktG 1937)23. An dieser Aufgabenverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat wollte der Gesetzgeber des AktG von 1965 nichts ändern. Im hier interessierenden Zusammenhang wurde § 95 Abs. 5 Satz 2 AktG 1937 nur um eine Petitesse abgewandelt: Statt „… nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden sollen“, heißt es seit 1965 „… nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen.“ In der Regierungsbegründung zu § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG 1965 heißt es dazu: „In Abs. 4 Satz 2 wird das Wort „sollen“ durch das Wort „dürfen“ ersetzt. Die Vorschrift ist bisher manchmal dahin missverstanden worden, dass es mehr oder weniger im Ermessen des Vorstandes liege, ob er die Zustimmung des Aufsichtsrates einhole, wenn er ein Geschäft beabsichtige, das nur mit Zustimmung des Aufsichtsrates vorgenommen werden „solle“. Der Vorstand ist vielmehr verpflichtet, die Zustimmung einzuholen. Versäumt er dies, so kann er sich ersatzpflichtig machen. Die Verletzung der Pflicht, die erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats einzuholen, berührt allerdings – wie schon im geltenden Recht – nicht die Wirksamkeit des Geschäfts gegenüber Dritten24.“

Auch die Neufassung des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG durch das TransPuG im Jahre 200225 hat lediglich die inhaltliche Änderung gebracht, dass der Gesetzgeber bei für die AG grundlegend bedeutsamen Geschäften einen geeignet zu

__________ 20 21 22 23 24 25

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Schlegelberger/Quassowski, AktG 1937, 3. Aufl. 1939, § 95 AktG Rz. 28. Schlegelberger/Quassowski, AktG 1937 (Fn. 20), § 95 AktG Rn. 30 f. Schlegelberger/Quassowski, AktG 1937 (Fn. 20), § 95 AktG Rn. 32. Dazu Schlegelberger/Quassowski, AktG 1937 (Fn. 20), § 95 AktG Rn. 34. S. Regierungsbegründung Kropff, AktG, 1965, S. 155. S. dazu Fn. 10.

Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

gestaltenden Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats geradezu erwartet, ihn also nicht mehr in das Ermessen von Satzungsgeber oder Aufsichtsrat gestellt wissen will26. 3. Zum Begriff „bestimmte Arten von Geschäften“ im Sinne des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG Die wohl einhellige Ansicht in Rechtsprechung und Lehre geht hinsichtlich des Begriffs der „bestimmten Arten von Geschäften“ davon aus, dass der Zustimmungsvorbehalt – ganz im Sinne des Gesetzgebers des AktG von 1937 – Ausnahmecharakter behalten soll. Der Vorstand ist der eigenverantwortliche Leiter der Geschäfte der AG (§ 76 AktG), und der Zustimmungsvorbehalt soll keineswegs dazu dienen, diese zwingende Organkompetenz des Vorstands nach Belieben auf den Aufsichtsrat zu verlagern. Der Ausnahmecharakter des Zustimmungsvorbehalts wird insbesondere dadurch unterstrichen, dass man es heute sehr zu Recht für unzulässig hält, ihm alle „außergewöhnlichen Geschäfte“ oder „wichtigen Geschäfte“ zu unterwerfen27. Insofern kann dahingestellt bleiben, ob „außergewöhnliche Geschäfte“ oder „wichtige Geschäfte“ noch eine „bestimmte Art“ von Geschäften bilden28. Selbst wenn man das hinsichtlich des unantastbaren Kernbereichs der Organkompetenzen noch bejahen wollte, fehlt es jedenfalls an der notwendigen Bestimmtheit eines solchen Zustimmungsvorbehalts. Derer bedarf es aber, wenn und weil eine Überwachung der Geschäftsleitertätigkeit durch Ausübung des Zustimmungsvorbehalts die klar definierte Ausnahme sein soll. Dabei geht es zwar nicht um eine Beschränkung auf „bestimmte Rechtsgeschäfte“, auch unternehmensinterne Leitungsmaßnahmen können an das Zustimmungserfordernis gebunden werden29. Doch immer zu beachten ist das Bestimmtheitserfordernis: Die dem Zustimmungsvorbehalt unterworfenen Maßnahmen und Rechtsgeschäfte müssen in der Regelung so eindeutig bestimmt sein, dass Zweifel über ihren Umfang ausgeschlossen sind. Wegen des Regel- und Ausnahmecharakters zwischen Geschäftsführungstätigkeit des Vorstands und des Aufsichtsrats darf es nämlich keinen Zweifel darüber geben, ob der Vorstand alleine handeln darf oder (ausnahmsweise!) den Aufsichtsrat um Zustimmung fragen muss. Treffend wird hervorgehoben, dass der die Geschäftsleitung des Vorstands (§ 76 AktG) einschränkende Zustim-

__________ 26 S. dazu oben II 1. 27 Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 2), § 111 AktG Rz. 67; Semler in MünchKomm. AktG (Fn. 11), § 111 AktG Rz. 399; Meyer/Landrut in Großkomm.AktG, 3. Aufl. 1976, § 111 AktG Anm. 15; Lange, DStR 2003, 376, 379 jew. m. w. N. 28 Dies verneinend etwa Semler in MünchKomm.AktG (Fn. 11), § 111 AktG Rz. 399. 29 Zutreffend Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 111 AktG Rn. 18; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, § 3 Rz. 111; Kropff in Semler/ v. Schenck (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl. 2004, § 8 Rz. 28; Kropff, NZG 1998, 613, 616 f.

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mungsvorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG so bedeutungsvoll ist, dass keinesfalls „unklare Formulierungen“ oder „Unsicherheiten“ in Kauf zu nehmen seien. Sei der Zustimmungsvorbehalt nicht uneingeschränkt klar formuliert, bleibe vielmehr zweifelhaft, ob der Grundsatz der uneingeschränkten Geschäftsführungszuständigkeit des Vorstands als Grundmodell im Aktienrecht (§ 76 AktG) zur Anwendung gelange, müsse der ganze Zustimmungsvorbehalt nichtig sein30. Das ist weniger ein Problem des „Freiraumes des Vorstands“, der in der Tat nicht so „eingeengt werden darf“, dass dem Vorstand die Initiative in der Unternehmensführung auf breiter Front abgeschnitten wird31. Die inhaltliche Frage, ob der Zustimmungsvorbehalt aus Sicht der Beschneidung der Organkompetenz zu weit geht, muss vielmehr unbedingt von der formalen Frage geschieden werden, ob er allein schon wegen seiner Unbestimmtheit ohne Wirkung ist, wenn und weil völlige Klarheit darüber zu bestehen hat, ob der Vorstand alleine handeln darf oder nicht. Gewiss sind Zustimmungsvorbehalte unzulässig, die in „noch laufende Entscheidungs- und Planungsprozesse des Vorstandes eingreifen“, nämlich unter dem Aspekt, dass die Geschäftsführung im Kern Angelegenheit des Vorstandes bleiben soll32. Doch die davon zu scheidende Frage ist, ob der Zustimmungsvorbehalt – auch wenn er sachlich nicht „zu weit“ in die Kompetenzen des Vorstands eingreift – die von ihm erfassten Maßnahmen und Geschäfte, die der Geschäftsleitung angehören, „präzise“ und „eindeutig“ definiert und bezeichnet33. Die gesamte „Unternehmensplanung als solche“ etwa kann verbreiteter Ansicht zufolge aus beiden genannten Gründen nicht global einem Zustimmungsvorbehalt unterworfen werden, auch nicht durch begriffliche Abwandlungen wie „Mittelfristplanung“ oder „Langfristplanung“, „Finanz- oder Investitionsplanung“. Solche Begriffe sind richtiger Ansicht nach schon nicht konkret genug, um sich als Gegenstand eines Zustimmungsvorbehalts zu eignen34. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Die scheinbar im Vordergrund stehende Frage, ob der Zustimmungsvorbehalt unzulässig weit in den Kernbereich der Organkompetenz des Vorstands eingreift, stellt sich also erst, wenn der Vorbehalt zumindest präzise genug ist. Sie ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei die aus den Gesetzesmaterialien abzuleitende Faustformel lautet, dass der Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats die Ausnahme von der Regel bleiben muss und nur der Erleichterung effektiver Überwachung des Vorstands gewidmet sein soll.

__________ 30 So bereits Semler in MünchKomm.AktG (Fn. 11), § 111 AktG Rz. 398; vgl. auch Hüffer, AktG (Fn. 29), § 111 AktG Rz. 18. 31 Dies hervorhebend Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 2), § 111 AktG Rz. 66. 32 Zutreffend v. Rechenberg, BB 1990, 1356, 1360 ff.; zustimmend Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 2), § 111 AktG Rz. 66. 33 Insofern richtig auch Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 2), § 111 AktG Rz. 67. 34 Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 2), § 111 AktG Rz. 68; v. Rechenberg, BB 1990, 1356, 1360 ff.; tendenziell großzügiger Lutter, AG 1991, 249, 254; Lutter, ZHR 159 (1995), 287, 300 f.; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats (Fn. 2), § 3 Rz. 109 ff.; wohl auch Semler, ZGR 1983, 1, 21.

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Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

4. Ergebnis Aus einer Betrachtung der historischen Entwicklung hat sich folgende Lösung ergeben: Unter Geltung des HGB, als die Generalversammlung noch Weisungen erteilen durfte, konnte der Aufsichtsrat eine den Vorstand beinahe vollständig verdrängende, ihm übergeordnete Geschäftsleitungskompetenz erhalten. Das Gegenteil sollte im AktG geregelt werden. Der Gesetzgeber des AktG will seit 1937 unbedingt vermeiden, dass die Organkompetenzen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat hinsichtlich der Geschäftsleitung nicht klar abgegrenzt sind35. Mit dem Begriff „bestimmte Arten von Geschäften“ i. S. d. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG wollte der Gesetzgeber zweierlei erreichen: Erstens sollte die Organkompetenz des Vorstands als desjenigen Organs, welches die Geschäfte der AG eigenverantwortlich leitet, nicht durch Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats ausgehöhlt werden. Zweitens ist dem Gesetzgeber gleichermaßen die in allen Teilen vollständige Klarheit besonders bedeutsam, die hinsichtlich der Zuständigkeiten zwischen Vorstand und Aufsichtsrat hergestellt sein muss, soweit es um Geschäftsleitung geht. Unklare, unpräzise oder mehrdeutige Zustimmungsvorbehalte sind dann aber immer und ausnahmslos nichtig. Das ist die zwingende Folge des gesetzgeberischen Anliegens, eindeutige Kompetenzverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat auch dann zu gewährleisten, wenn der Aufsichtsrat seine Überwachungsaufgabe durch Zustimmungsvorbehalte präzisiert36. Nichtig sind aber auch präzise Zustimmungsvorbehalte, soweit sie den unantastbaren Kernbereich der Organkompetenz des Vorstands zu stark einengen. Die erforderliche Präzision fehlt den Zustimmungsvorbehalten in der Praxis häufig, und ebenso häufig greifen sie in den unantastbaren Kernbereich der eigenverantwortlichen Geschäftsleitungskompetenz des Vorstandes ein. Eine haftungsbegründende Verletzung solcher Zustimmungsvorbehalte scheidet dann wegen deren Ungültigkeit aus.

III. Generelle Haftung bei Verletzung des Zustimmungsvorbehalts? 1. Meinungsstand zu § 93 AktG Im neuesten Kommentar zum AktG wird die Verletzung des Zustimmungsvorbehalts als ein stets haftungsbegründender Fall hervorgehoben, welcher dem Vorstand den Einwand versage, dass der Aufsichtsrat der konkreten Maßnahme ohnehin zugestimmt hätte37. Die Autoren stehen mit dieser Ansicht

__________ 35 S. eingehend oben II.2. 36 S. dazu oben II.3. 37 S. Krieger/Seiler in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 8).

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nicht allein. Mehr oder weniger gleichlautende Formulierungen finden sich in vier weiteren Standardwerken zum AktG bei § 9338. Diese Auffassung überrascht. Denn die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten, die das Reichsgericht noch kritisch gesehen hat39, wird heutzutage in aller Regel zu Recht für beachtlich gehalten40. 2. Der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Verfahrensfehlern a) Grundlagen In Wirklichkeit gehört das hier zu untersuchende Problem der angeblich zwingenden Vorstandshaftung für Verletzung des Zustimmungsvorbehalts in den großen Zusammenhang der Beachtlichkeit des Einwandes rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Verfahrensfehlern. Letztlich geht es um den Zurechnungszusammenhang zwischen einer rechtswidrigen und schädigenden Handlung einerseits sowie dem eingetretenen Schaden andererseits. Dieses grundlegende, alle denkbaren Schadensersatzansprüche des Privatrechts und des öffentlichen Rechts gleichermaßen betreffende Zurechnungsproblem ist aber kein Problem des § 93 AktG, geschweige denn ein solches der Organkompetenzen von Vorstand und Aufsichtsrat, sondern ein solches des allgemeinen Schuldrechts i. S. d. §§ 249 ff. BGB (allgemeines Schadensrecht). Die übergreifende Betrachtungsweise wird ergeben, dass die entsprechenden Kommentarbemerkungen zu § 93 AktG41 in ihrer Pauschalität zumindest irreführend, wenn nicht falsch sind. b) Meinungsstand aa) Rechtsprechung Schon das Reichsgericht hat, obwohl es den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens eher nicht zulassen wollte42, bei Verfahrensfehlern oftmals eine Ausnahme gemacht. Die Verletzung von Pfandverwertungsregeln etwa sollte nicht zu einem Schadensersatzanspruch führen, wenn auch die verfahrensgemäße Pfandverwertung keinen höheren Erlös für den Eigentümer erbracht hät-

__________ 38 Vgl. Wiesner in MünchHdb.AG, 3. Aufl. 2007, § 26 Rz. 8; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 93 AktG Rz. 81; Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 267; Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 2), § 93 AktG Rz. 23. 39 Beispielhaft RGZ 141, 365, 367 ff.; RGZ 144, 348, 358. 40 S. nur Palandt/Heinrichs, BGB, 67. Aufl. 2008, Vor § 249 BGB Rz. 96 ff., 105 ff.; Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearb. 2005, § 249 BGB Rz. 102 ff.; Oetker in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 249 BGB Rz. 211 ff. jew. m. w. N. 41 S. die Nachw. in Fn. 37, 38. 42 S. die Nachw. in Fn. 39.

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te43. Auch bei Amtspflichtverletzungen soll der Staat einwenden können, die Behörde hätte den Schaden für den Kläger auch in einem rechtmäßigen Verfahren herbeiführen dürfen, es sei denn, die Einhaltung der Verfahrensregeln hätte zumindest theoretisch auch zu einer anderen Entscheidung der Behörde geführt (oftmals bei Ermessen)44. Die wohl einschlägigste Entscheidung des BGH in unserem Zusammenhang stammt vom 11.12.2006 und handelt von einer Schadensersatzklage gegen einen Gesellschafter-Geschäftsführer, der ohne notwendigen Gesellschafterbeschluss (§ 46 Nr. 5 GmbHG) und ohne zutreffende Information seines Mitgesellschafters Geschäftsführergehalt an einen anderen Gesellschafter-Geschäftsführer ausgezahlt hatte. Der BGH hat das der Klage stattgebende Berufungsurteil aufgehoben und dargelegt, dass der Verstoß gegen § 46 Nr. 5 GmbHG bzw. gegen die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht noch nicht genüge, um den Schadensersatzanspruch zu begründen. Entscheidend sei, ob der Empfänger des Geschäftsführergehaltes einen Anspruch auf Genehmigung der Zahlung gehabt habe, genauer: Ob die Vergütung in der Sache berechtigt gewesen sei45. Das Urteil geht also ohne weiteres davon aus, dass sich ein Geschäftsführer, der gegen die gesellschaftsrechtliche Kompetenzordnung nach § 46 Nr. 5 GmbHG verstoßen hat, mit dem Einwand verteidigen kann, die Gesellschafterversammlung habe der Vergütungsleistung – weil materiell berechtigt – ohnehin zustimmen müssen. Daraus folgt, dass der II. Zivilsenat des BGH dem Geschäftsführer den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens auch und gerade bei Verletzung von Verfahrensvorschriften gewährt hat. Besonders lehrreich ist eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Zivilsachen aus dem Jahre 1948 im sog. „Löschteich“-Fall46: Ein Bauunternehmer (Beklagter) hatte ohne die dazu erforderliche Inanspruchnahmeverfügung der zuständigen Behörde auf dem Trümmergrundstück des Klägers einen Löschteich angelegt. Der Beklagte hatte geltend gemacht, die Inanspruchnahmeverfügung wäre jedenfalls später erteilt worden. Der OGH hat zunächst begründet, dass die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche keine „Straffunktion“ oder „Abschreckungswirkung“ zum Zweck der Einhaltung von Verfahrensregeln haben sollen47. Treffend arbeitet das Gericht die gebotene Differenzierung heraus, die sich aus dem Schutzzweck der Verfahrensregel ergibt:

__________ 43 RGZ 77, 201, 205 f.: „… Sache der Beklagten ist es, gegenüber dieser Klage einredeweise darzutun, dass auch im Falle einer gesetzmäßigen Veräußerung der Pfandstücke der Erlös kein anderer gewesen sein würde …“; RG JW 1930, 134, 135: „Bei Verstoß gegen die Verwertung eines Pfandes bleibt dem (sc. Beklagten) doch der Nachweis offen, dass die Art der Verwertung den (sc. Kläger) nicht geschädigt habe“ (mit Hinweis auf RGZ 77, 201, 205 f. und RG, Urt. v. 2.1.1924 – I 764/22, n.v.). 44 RG JW 1936, 813 Nr. 29; RGZ 169, 343, 348 f.; BGHZ 20, 275, 278 ff.; BGHZ 63, 319, 325 f.; BGH, NJW 1971, 239; BGHZ 77, 223, 226; BGHZ 120, 281, 288. 45 BGH, ZIP 2007, 268 f. 46 OGHBritZ, OGHZ 1, 308 = NJW 1949, 304 = DRZ 1949, 182. 47 OGHBritZ, NJW 1949, 302, 303 re.Sp.

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Holger Altmeppen „Zum Mindesten in einem Falle, in welchem – wie hier – das zum Ersatz verpflichtende Verhalten gerade darin gesehen wird, dass der Ersatzpflichtige ohne Rechtfertigung getan hat, was er mit Rechtfertigung genau so hätte ausführen sollen und ausgeführt hätte, kann jedoch an der Rechtsprechung des RG nicht festgehalten werden. Hier wäre nicht nur wirtschaftlich derselbe Schaden, sondern tatsächlich der gleiche Schadensverlauf und der gleiche Endzustand eingetreten und kann daher als ‚Schaden‘ bei natürlicher Betrachtung nur der Unterschied betrachtet werden, der sich zwischen rechtmäßiger und rechtloser Durchführung der Maßnahme ergäbe. Dieser Unterschied kann im Ausfall von Entschädigungszahlungen, u. U. etwa auch im Ausfall einer Rechtspflicht zur Beseitigung des Löschteichs, wohl kaum aber zur Wiedererrichtung der Ruine im alten Zustand zu suchen sein48.“

Ein Grundsatzurteil des BAG vom 31.10.195849 betraf ein scheinbar komplizierteres Wertungsproblem. Das BAG hatte über einen Schadensersatzanspruch der Arbeitgeber wegen Produktionsausfalls zu entscheiden, nachdem vor Ablauf der tarifvertraglichen Friedenspflicht Arbeitskampfmaßnahmen der Arbeitnehmerseite erfolgt waren. Die Arbeitnehmerseite hatte gegen den Anspruch aus positiver Vertragsverletzung eingewandt, sie sei zu Arbeitskampfmaßnahmen ungeachtet der andauernden Friedenspflicht ohnehin fest entschlossen gewesen. Der durch Streikmaßnahmen verursachte Schaden sei also auch bei Einhaltung der Friedenspflicht unvermeidbar gewesen. Das BAG hat diesen Einwand nicht gelten lassen. Die Friedenspflicht sei „… für das Arbeitsleben und das öffentliche Leben der Gemeinschaft überhaupt“ überragend wichtig und deshalb „mit dem schweren Risiko der Pflicht zum Ersatz des gesamten aus der Vertragsverletzung entstandenen Schadens verbunden50.“ Für das BAG stand also fest, dass eine Verpflichtung zum Schadensersatz hier schon wegen der Bedeutung der Friedenspflicht und zum Schutz dieser Institution im Arbeitskampf angenommen werden müsse: „Im Arbeitskampfrecht würde die Verletzung der Friedenspflicht entgegen ihren von den Parteien mit in Kauf genommenen Folgen praktisch weitgehend sanktionslos sein, wenn man sich zur Berücksichtigung eines möglichen späteren, und zwar angeblich zulässigen Streiks als Reserveursache herbeiließe … Das gilt gerade auch dann, wenn es sich um die Verletzung eines Tarifvertrages handelt, der die Verpflichtung enthält, an sich erlaubte Kampfhandlungen während einer gewissen Zeit zu unterlassen. … Diese Verträge sind dadurch charakterisiert, dass von vornherein feststeht, dass die während des Vertrages unzulässige Handlung nach Ablauf der Vertragsdauer oder einer im Vertrag bestimmten Zeit wieder freisteht. Diese besondere vertragliche Abmachung wäre sinnund zwecklos, wenn der Verletzer des Vertrages sich damit rechtfertigen könnte, er hätte die vorgeworfene Handlung später vornehmen dürfen. … Sie (sc. Verletzung der Friedenspflicht) ist vielmehr gerade d i e Handlung, die nach dem Vertrag während einer gewissen Dauer unterlassen werden muss, während sie nachher wieder freisteht51.“

Die Entscheidung des BAG, die sich in ihrer Tendenz noch gegen die Relevanz rechtmäßigen Alternativverhaltens überhaupt zu wenden scheint, war im

__________ 48 49 50 51

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OGH BritZ, NJW 1949, 302, 304 li.Sp. BAGE 6, 321 = NJW 1949, 908 „Metallarbeiter-Streik“. BAGE 6, 377 f. BAGE 6, 321, 378.

Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

Schrifttum hoch umstritten52. Nach Ansicht der Kritiker hat das BAG verkannt, dass das zivilrechtliche Schadensrecht nicht den Sinn hat, die Einhaltung von Verfahrensregeln um ihrer selbst willen zu schützen. In zwei weiteren Entscheidungen wurde eine schwerwiegende Verfahrensverletzung, die ein besonders hohes Rechtsgut betraf, für stets beachtlich gehalten. Die Verletzung der persönlichen Freiheit unter Verstoß gegen eine Verfahrensgarantie soll danach auch dann zur Schadensersatzpflicht führen, wenn ein rechtmäßiger Haftbefehl hätte erwirkt werden können, oder wenn der psychisch Kranke unter Beachtung der Verfahrensgarantien hätte rechtmäßig untergebracht werden können53. bb) Schrifttum Auch im Schrifttum wird die Frage, ob der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei der Verletzung von Verfahrensvorschriften beachtlich ist, unterschiedlich beurteilt. Die früher herrschende Ansicht differenziert nach der Art der jeweiligen Verfahrensvorschrift. Die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten soll danach im Grundsatz beachtlich sein, weil dies allgemeiner Schadensdogmatik entspricht. Die Besonderheit bei Verfahrensvorschriften sei aber diejenige, dass grundlegende Verfahrensvorschriften zum Schutz sehr bedeutender Rechtsgüter dann und deswegen um ihrer selbst willen zu schützen seien, wenn und weil ihre schadensersatzrechtliche Bedeutung anderenfalls verloren gehe54. Nach der Gegenansicht, die heute im Vordringen ist, kommt es demgegenüber gar nicht darauf an, ob es sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen eine „grundlegende“ Verfahrensvorschrift handelt und ob sie ein bedeutsames Rechtsgut schützen soll. Maßgebend sei, ob der Schaden auch bei Einhaltung der Verfahrensvorschrift mit Sicherheit eingetreten wäre. Dann scheide eine Schadensersatzhaftung des Verletzers aus. Das heute überwiegend für ent-

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52 Zust. Larenz, NJW 1959, 865 f.; Niederländer, JZ 1959, 617, 621; abl. Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 1971, S. 112 ff.; Staudinger/Schiemann (Fn. 40), § 249 BGB Rn. 105; Oetker in MünchKomm. BGB (Fn. 40), § 249 BGB Rz. 217 jew. m. w. N. 53 OGH, JBl 1982, 259; OLG Oldenburg, VersR 1991, 306. 54 S. statt aller Palandt/Heinrichs, BGB (Fn. 40), Vor § 249 BGB Rz. 106 a. E.: „Bei Verletzung grundlegender Verfahrensnormen kann die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten unzulässig sein …, so bei einer verfahrenswidrigen Unterbringung eines psychisch Kranken … oder bei einer rechtswidrigen Freiheitsberaubung, wenn die Voraussetzungen des dinglichen Arrests vorlagen.“; Staudinger/Medicus, BGB, 12. Aufl. 1983, § 249 BGB Rz. 114; Erman/Ebert, BGB, 12. Aufl. 2008, Vor § 249 ff. BGB Rz. 80; Erman/Kuckuk, BGB, 11. Aufl. 2000, Vor § 249 BGB Rz. 89; Jauernig/ Teichmann, BGB, 12. Aufl. 2007, Vor §§ 249 ff. BGB Rz. 48; Grünberger in Bamberger/ Roth, BGB, 2003, Vor § 249 BGB Rz. 75 a. E.; Soergel/Mertens, BGB, 11. Aufl. 1986, Vor § 249 BGB Rz. 164; 12. Aufl. 1990, Vor § 249 BGB Rz. 164; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rz. 193; Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, 4. Aufl. 2002, Rz. 75; Lange/Schiemann, Schuldrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, S. 208; eingehend Koziol in FS Deutsch, 1999, S. 179, 186.

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scheidend gehaltene Argument lautet, es sei jedenfalls nicht die Aufgabe des zivilrechtlichen Schadenersatzrechtes, auf die Einhaltung – wenn auch grundlegender – verfahrensrechtlicher Bestimmungen hinzuwirken55. Diese Auffassung deckt sich mit derjenigen, die der OGH im berühmten „Löschteich“-Fall in Abgrenzung zur Rechtsansicht des Reichsgerichts für entscheidend gehalten hat: Das Schadensersatzrecht dient generell nicht der Pönalisierung oder Sanktionierung von Verfahrensverletzungen56. c) Stellungnahme aa) Grundsatz Die Durchdringung des Meinungsstandes zur übergreifenden Frage hat gezeigt, dass die Kommentarbemerkungen zu § 93 AktG57 insoweit unzureichend, wenn nicht falsch sind: Es kann keine Rede davon sein, dass Rechtsprechung und Lehre den Verstoß gegen Verfahrensregeln oder Kompetenznormen generell mit einer Schadensersatzpflicht ahnden würden, wenn auch verfahrensgemäßes Verhalten den Schaden herbeigeführt hätte. Nach der früher herrschenden Meinung sollte es vielmehr darauf ankommen, ob es sich um eine sehr bedeutsame Verfahrensregel handelt, die dem Schutz eines hohen Rechtsgutes gewidmet ist58. Zu folgen ist der im Schrifttum inzwischen wohl überwiegenden Ansicht, nach welcher die Fallgruppe der Verfahrensverstöße keine Besonderheiten im Verhältnis zur grundsätzlichen Thematik der Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten aufweist59. Zu fragen ist allein, ob sich der eingetretene Schaden im Schutzbereich der verletzten Verfahrensregel realisiert hat. Wäre im Falle der Beachtung der Verfahrensvorschrift mit Sicherheit kein anderes Ergebnis herausgekommen, fehlt es typischerweise daran oder auch: am inneren (Rechtswidrigkeits-) Zusammenhang zwischen dem Verfahrensverstoß und dem eingetretenen Schaden. Eine ganz andere, von den Vertretern der älteren Auffassung offenbar nicht immer hinreichend von der Grundsatzfrage unterschiedene Frage geht dahin, welchen Grad an Gewissheit man hinsichtlich der Irrelevanz des Verfahrensverstoßes zu verlangen hat. Ein non liquet geht jedenfalls zu Lasten des Verletzers, wie insbesondere in der Rechtsprechung zutreffend erkannt wurde60.

__________ 55 So Oetker in MünchKomm.BGB (Fn. 40), § 249 BGB Rz. 217, 221; Grunsky in MünchKomm.BGB, 3. Aufl. 1994, Vor § 249 BGB Rz. 90b, 92; Staudinger/Schiemann (Fn. 40), § 249 BGB Rz. 106; Staudinger/Schiemann, BGB, 13. Aufl. 1998, § 249 BGB Rz. 106; Esser/Schmidt, Schuldrecht, Bd. I/2, 8. Aufl. 2000, S. 244; Schubert in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl. 2007, § 249 BGB Rz 94. 56 Näher Fn. 46–48. 57 S. die Nachw. in Fn. 37, 38. 58 S. die Nachw. in Fn. 54. 59 S. die Nachw. in Fn. 55. 60 S. die Nachw. in Fn. 43 ff.

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Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

Dann aber liegt es nahe, bei schwerwiegenden Verstößen gegen Zuständigkeitsnormen, welche wesentliche Organkompetenzen verletzen, den Beweis der Irrelevanz des Verfahrensverstoßes nicht vorschnell als geführt zu betrachten. Wenn etwa ein mit Vertretern von verschiedenen Gruppeninteressen besetztes Organ Aufsichtsrat verfahrenswidrig bei einer wichtigen Entscheidung übergangen wird, kann sich ein Gericht typischerweise nicht mit letzter Sicherheit davon überzeugen, der Verfahrensverstoß habe sich in keiner Weise ausgewirkt. Damit bestätigt sich, dass das „Wertungsproblem“ hinsichtlich der Bedeutung der Verfahrensregel oder des Rechtsgutes, dessen Schutz die Regel gewidmet ist, im hier interessierenden Zusammenhang allein ein Beweislastproblem ist: Wer wesentliche Verfahrensvorschriften insbesondere im Hinblick auf Organzuständigkeiten in der AG verletzt, wird zumeist schwerlich den Beweis erbringen können, dass die Missachtung der Verfahrensvorschrift und der Organkompetenzen in der AG mit Sicherheit irrelevant war. Ausgeschlossen ist dieser Nachweis aber keineswegs. So kann es oftmals sein, dass ein Aufsichtsrat aus einem Versehen die verfahrensmäßig gebotene Zustimmung i. S. d. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG nicht erteilt, etwa weil die Notwendigkeit der Zustimmung von allen Beteiligten nicht gesehen wurde. Die Maßnahme mag dann gleichwohl mit Sicherheit die uneingeschränkte Billigung des Aufsichtsrats gehabt haben, was etwa dann gut nachweisbar ist, wenn der Aufsichtsrat ohnehin in den Vorgang eng einbezogen war. Auch dieses Beispiel zeigt, dass pauschale Aussagen ungeeignet und unbehilflich sind. bb) Der Schutzzweck des Zustimmungsvorbehalts Die in den Kommentaren zu § 93 AktG geäußerte Rechtsansicht61, der Verstoß gegen den Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats mache den Vorstand stets und auch dann haftbar, wenn der Aufsichtsrat die Zustimmung nachweislich erteilt hätte, könnte nur Bestand haben, wenn der Schutzzweck des Zustimmungsvorbehalts darin bestünde, den Vorstand bei seiner Verletzung stets mit dem Unternehmerrisiko der AG zu belasten. Die dahingehende Annahme liegt aber vollständig fern, wie insbesondere die historische Betrachtung eindrucksvoll bestätigt. Der Zustimmungsvorbehalt sollte nämlich „nur dazu dienen, die Überwachung der Geschäftsführung durch den Aufsichtsrat zu erleichtern, indem er durch das Erfordernis der Zustimmung über gewisse Geschäfte auf dem Laufenden bleibt und nicht durch ihren Abschluss überrascht werden soll62.“

In der Regierungsbegründung zu § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG 1965 wird es deshalb für erwähnungsbedürftig gehalten, dass der Vorstand in solchen Fällen die Zustimmung auch einholen müsse, dies nicht etwa in seinem Ermessen stehe, und dass er sich sogar „ersatzpflichtig machen“ könne (!), wenn er die Pflicht verletze, die erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats einzuholen63.

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61 S. Fn. 37, 38. 62 Schlegelberger/Quassowski (Fn. 20). 63 S. RegBegr. Kropff (Fn. 24).

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Der Schutzzweck des Zustimmungsvorbehalts, den Aufsichtsrat nicht durch Abschluss gewisser Geschäfte zu „überraschen“, hat aber mit unternehmerischem Misserfolg nichts zu tun, wenn der Aufsichtsrat die Maßnahme ohnehin gebilligt hätte. Für diesen Fall ist insbesondere auch der weitere Schutzzweck des Zustimmungsvorbehalts nicht mehr relevant verletzt, dem Aufsichtsrat die Überwachung der Geschäftsführung zu erleichtern. Dieser Schutzzweck ist nämlich mit der Feststellung erledigt, dass der Aufsichtsrat seine Überwachungsaufgabe in concreto durch Zustimmung erfüllt hätte. Erweist sich der Verfahrensverstoß also in diesem Sinne als irrelevant, weil der Aufsichtsrat die Zustimmung nachweislich jedenfalls erteilt hätte, kommt eine Haftung des Vorstands entgegen der zu § 93 AktG geäußerten Kommentarbemerkungen64 dann und nur dann in Betracht, wenn die Geschäftsleitungsmaßnahme vom Geschäftsleiterermessen i. S. d. § 93 Abs. 2 AktG nicht mehr gedeckt war. Insofern bestehen keine Besonderheiten. Geschäftlicher Misserfolg in welcher Größenordnung auch immer gehört zum unternehmerischen Alltag und macht die Manager, wenn sie die Chancen und Risiken mit der gebotenen Sorgfalt abgewogen haben, nicht haftbar. Das unternehmerische Risiko der pflichtgemäßen Entscheidung für eine Geschäftsleitungsmaßnahme trägt die AG, auch dann, wenn ihr Aufsichtsrat trotz einschlägigen Vorbehalts nicht zugestimmt hat, aber nachweislich zugestimmt hätte. cc) Grenzen der Zufallshaftung (versari in re illicita) Dies mag eine letzte Parallelwertung bestätigen. Das richtige Ergebnis folgt hier bereits aus fundamentalen Haftungsprinzipien, die seit dem klassischen römischen Recht zu unserer Rechtstradition gehören. Es geht um die Zufallshaftung, die einen Schädiger treffen kann, der bereits einen rechtswidrigen Kausalbeitrag für ein Schadensereignis geleistet hat. Schon im klassischen römischen Recht war anerkannt, dass die allgemeine culpa-Haftung sich in solchen Fällen zu einer Zufallshaftung verdichten kann (versari in re illicita)65. Dies gilt etwa für die Zufallshaftung des Schuldners im Verzug, die Zufallshaftung des Diebes (fur semper in mora), die Zufallshaftung bei Abweichung des Geschäftsbesorgers von Weisungen, bei unberechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag etc. Sogar eine solche ausnahmsweise anerkannte Zufallshaftung endet aber bekanntlich dann, wenn der Geschädigte den eingetretenen Schaden ohnehin erlitten hätte, was eine Frage der hypothetischen Kausalität ist (vgl. etwa §§ 287 Satz 2, 848 letzter Halbs. BGB). Die Haftung nach Maßgabe des ‚versari in re illicita‘ besagt zwar, dass dem, welcher sich „im verbotenen Bereich aufhält“, alles zugerechnet wird, was sich aus seiner unerlaubten Handlung ergibt, mag dies auch durch bloßen Zufall eintreten. Doch hat man seit Paulus

__________ 64 S. die Nachw. in Fn. 37 f. 65 Nachw. bei Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 18. Aufl. 2005, § 44 Rz. 20.

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Zustimmungsvorbehalte und die Folgen ihrer Verletzung

erkannt, dass dem ‚versari in re illicita‘ der Gedanke der hypothetischen (überholenden) Kausalität als Haftungsgrenze begegnet66. Überträgt man diese fundamentalen Wertungen zur Zufallshaftung auf unseren Fall, so liegt das richtige Ergebnis offen auf der Hand: Ein Vorstand, der unter Verletzung eines Zustimmungsvorbehalts eine für sich betrachtet vom Geschäftsleiterermessen gedeckte Entscheidung trifft, mag zwar in die Zufallshaftung für das unternehmerische Risiko gelangen, welches diese Entscheidung in sich birgt, wenn sie bei Beachtung des Zustimmungsvorbehalts nicht getroffen worden wäre. Dies mag auch dann noch angehen, wenn Letzteres im Sinne eines non liquet ungewiss bleibt. Steht aber fest, dass der Aufsichtsrat der Entscheidung zugestimmt hätte, kommt eine Zufallshaftung (!) für eine an sich pflichtgemäße (!) Geschäftsleitungsmaßnahme, die dem Vorstand das Unternehmerrisiko der AG aufbürden würde, mit zwingender Evidenz nicht in Betracht. Um dies zu erkennen, genügt schon das Verständnis für eine elementare Grundregel des Privatrechts: Der Schuldner haftet bei pflichtwidrig herbeigeführter Gefahrenlage zwar ausnahmsweise auch für Zufall (versari in re illicita), nicht aber dann, wenn der Schaden auch ohne diesen Kausalbeitrag entstanden wäre („hypothetische“ bzw. „überholende“ Kausalität).

IV. Ergebnisse 1. Die in Geschäftsordnungen für den Vorstand in der Praxis vielfach anzutreffenden Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats sind nach dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers unter zwei Aspekten einer Nichtigkeitskontrolle zu unterziehen. Die Nichtigkeit ergibt sich oftmals schon daraus, dass ein Zustimmungsvorbehalt nicht völlig eindeutig ist, etwa weil unbestimmte Begriffe für die zustimmungsbedürftige Maßnahme bzw. das Geschäft verwendet werden. Der Gesetzgeber des AktG 1937 wollte dem Aufsichtsrat nämlich die bis dahin nahezu umfassenden Möglichkeiten, die Geschäfte der AG (mit)leiten zu können, nehmen und die Geschäftsführung zwingend dem Vorstand überantworten. Die unklaren Verhältnisse zwischen Vorstand und Aufsichtsrat hinsichtlich der Geschäftsleitung hat der historische Gesetzgeber zugunsten eines klaren Kompetenzvorranges für den Vorstand und entsprechend eindeutiger Ausnahmen beseitigen wollen. Dieser Wille des historischen Gesetzgebers wirkt sich bei der Auslegung des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG insbesondere auch dahin aus, dass zu weitgehende

__________ 66 S. dazu bereits das treffende Beispiel D. 14, 2, 10, 1 (Labeo im ersten Buch der von Paulus ausgewählten Überzeugenden Rechtssätze): Zwar haftet der Kapitän des gecharterten Schiffes für den Untergang der Ware, wenn er diese weisungswidrig auf ein anderes Schiff umgeladen hat, welches untergegangen ist. Dazu aber Paulus: „immo contra, si modo ea navigatione utraque navis periit, cum id sine dolo et culpa nautarum factum esset.“ (Paulus: „In Wahrheit gilt das Gegenteil, sofern nur beide Schiffe auf dieser Fahrt untergegangen sind und dies auch nicht auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit der Besatzung zurückzuführen ist. …“). Diese Auffassung hat sich seitdem erhalten, s. Ulpian, D. 19, 2, 13, 1.

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Zustimmungserfordernisse nichtig sind, wenn und weil sie dem Vorstand den Kernbereich der Geschäftsleitungskompetenz streitig machen. Präzision, Ausnahmecharakter und Zurückhaltung hinsichtlich der Einmischung in die Geschäftsführung sind danach Wirksamkeitsvoraussetzungen für einen Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats: Der Vorstand ist immer alleine für die Geschäftsführung zuständig, es sei denn, er ist es ausnahmsweise einmal eindeutig nicht! 2. Die Verletzung eines Zustimmungsvorbehaltes des Aufsichtsrats führt entgegen entsprechender Kommentarbemerkungen zu § 93 AktG keineswegs immer und auch dann zur Schadensersatzhaftung des Vorstands, wenn der Aufsichtsrat die Zustimmung nachweislich erteilt hätte. Der entsprechende Einwand des Vorstands ist vielmehr nach den allgemeinen Regeln der Schadensdogmatik beachtlich, wenn die Geschäftsleitungsmaßnahme im Übrigen vom Geschäftsleiterermessen gedeckt war. Der Zweck des Zustimmungsvorbehalts ist es insbesondere nicht, dem Vorstand im Falle seiner Verletzung das Unternehmerrisiko der AG aufzuerlegen. Die Haftung liefe, wollte man den Einwand nicht zulassen, zudem auf eine unbegrenzte Zufallshaftung hinaus, die es noch nicht einmal in den Fällen der Haftung nach dem Rechtsgedanken des ‚versari in re illicita‘ gibt: Auch sie findet ihre Grenze in der hypothetischen (überholenden) Kausalität.

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Die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile bei der KGaA Inhaltsübersicht I. Karsten Schmidt und die KGaA II. Rechtsunsicherheit als Rechtswahlbremse 1. Die KGaA als „große Unbekannte“ 2. Schritte zur Entschleierung III. Die Satzungsänderung als Exempel 1. Das Problem 2. Die im Schrifttum vertretenen Lösungen 3. Ein alternativer Ansatz a) Die Widersprüche der vertretenen Lehren b) Ein systemgerechtes Konzept aa) Personengesellschaftsrecht als Ausgangspunkt

bb) Aber: Einheitlicher Satzungstext cc) Veränderungen im Komplementärbestand c) Einwand: Rechtsrückschritt? IV. Wie es weitergeht 1. Wie sich die Kautelarpraxis behilft 2. Wohin die Rechtsentwicklung geht a) Keine Hilfe vom Gesetzgeber b) Die aktienrechtliche Tendenz der Rechtsprechung c) Rechtsfortbildung durch Extrapolation? V. Zusammenfassung und Schluss

I. Karsten Schmidt und die KGaA Ein Markenzeichen des Jubilars ist es, dass er vor „exotischen“ Rechtsformen nie zurückschreckte, ja von diesen regelrecht angezogen wird. Neben dem wirtschaftlichen Verein, den typengemischten Gesellschaften und – natürlich – der Partenreederei fand auch die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) sein besonderes Interesse. Belebt wurde die Rechtsform 1997, als der Bundesgerichtshof die Einsetzung einer juristischen Person als Komplementär ausdrücklich anerkannte1. Dem war ein Disput zwischen dem Jubilar und Priester vorausgegangen, in dem Karsten Schmidt vor den Folgen der Typenverbindung gewarnt hatte2. Wiewohl dieser Mahnruf verhallte, blieb er dem „Rätsel KGaA“ auch in der Folgezeit auf der Spur3. Die vorläufige Summe seines Nachdenkens präsentiert ein von ihm mit herausgegebener Aktienrechtskommentar, in dem Karsten Schmidt die Erläuterung der KGaA höchstselbst

__________ 1 BGHZ 134, 392. 2 Vgl. Karsten Schmidt, Deregulierung des Aktienrechts durch Denaturierung der KGaA?, ZHR 160 (1996), 265; Priester, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien ohne natürlichen Komplementär, ZHR 160 (1996), 250. 3 Vgl. Karsten Schmidt, Zehn Jahre GmbH & Co. KGaA – Zurechungs- und Durchgriffsprobleme nach BGHZ 134, 392, in FS Priester, 2007, S. 691; Karsten Schmidt, Zur Vermögensstruktur der KGaA, in FS Forstmoser, 2003, S. 87.

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übernahm4. Die nachfolgende Betrachtung, die einem Ausschnitt des Rätsels gewidmet ist, darf daher auf die geschätzte Aufmerksamkeit des Jubilars hoffen.

II. Rechtsunsicherheit als Rechtswahlbremse 1. Die KGaA als „große Unbekannte“ Obwohl die KGaA durch die genannte BGH-Entscheidung aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt wurde, ist sie weiter ein Aschenputtel geblieben5. Ihre zahlenmäßige Bedeutung ist – trotz der aus Unternehmersicht unbestreitbaren Vorteile6 – im Vergleich zur AG gering7. Größter Hemmschuh für die Wahl dieser Rechtsform dürfte die Rechtsunsicherheit sein, die in der rudimentären Regelung im zweiten Buch des AktG, im Fehlen höchstrichterlicher Vorgaben, vor allem aber in der Verquickung von Kapital- und Personengesellschaftsrecht ihre Ursache hat. Einfachste Fragestellungen, deren Auflösung bei der AG keinerlei Mühen bereitet, führen bei der KGaA zu Kopfzerbrechen. In der Literatur ist das nicht unbemerkt geblieben, hat vielmehr die Suche nach Lösungen angestachelt. Dabei werden verschiedene Wege beschritten. 2. Schritte zur Entschleierung Das Recht der KGaA ist dadurch gekennzeichnet, dass es nur wenige Sonderregeln enthält, im Wesentlichen dagegen mit Verweisungen operiert. Anwendbar sind zum Teil die Regeln des Personengesellschaftsrechts (vgl. § 278 Abs. 2 AktG), zum Teil diejenigen des (allgemeinen) Aktienrechts (vgl. § 278 Abs. 3 AktG). Rechtsprechung und Lehre betrachten die KGaA daher einmütig als Hybride8, ohne dass damit für die Rechtsanwendung etwas gewonnen wäre. Um in zweifelhaften Fragen weiterzukommen, bieten sich methodisch zwei Ansätze an. Der vom Gesetz nahe gelegte Weg besteht darin, bei den Verweisungsregeln anzusetzen und die in Rede stehende Frage entweder dem Personen- oder dem Aktienrecht zuzuordnen. Je nachdem sind dann die einen (HGB) oder anderen (AktG) Vorschriften heranzuziehen9. Was simpel klingt, erweist

__________ 4 Vgl. Karsten Schmidt, in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), Aktiengesetz – Kommentar, 2008, Band 1, §§ 278–290 AktG. 5 Märchenhafte Allegorie nach Karsten Schmidt in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band 2, 2007, S. 1188, 1194 (Rz. 8). 6 Insbesondere hinsichtlich Besteuerung, Mitbestimmung, Übernahmeresistenz und Satzungsfreiheit. 7 Illusionslos Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 1188, 1193 (Rz. 7): „Der Markt wollte und will die KGaA als eine ernst zu nehmende Konkurrentin der Aktiengesellschaft nicht akzeptieren“. 8 Vgl. nur BGHZ 134, 392, 398; Großkomm.AktG/Assmann/Sethe, 4. Aufl. 2001, § 278 AktG Rz. 3. 9 Betont in diesem Sinne Fett in Schütz/Bürgers/Riotte, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 2004, § 3 Rz. 3 ff., 31.

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Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsteile bei der KGaA

sich in der Umsetzung als widerborstig, weil die Zuordnung einer Rechtsfrage zum einen oder anderen Bereich oft nicht leicht fällt. Diesem „positivistisch-pragmatischen“ Vorgehen wird ein „konzeptioneller“, die KGaA als Ganzes erfassender Ansatz gegenübergestellt10. Er setzt bei der umstrittenen Frage an, ob die KGaA ihrem Wesen nach nur eine – durch das Vorhandensein eines persönlich haftenden Gesellschafters modifizierte – Form der Aktiengesellschaft darstellt11 oder ob wir es mit einer – durch Vergemeinschaftung der Kommanditisten geprägten – Abart der Kommanditgesellschaft zu tun haben12. Dem historischen Ausgangspunkt entspricht der zuletzt genannte Standpunkt, doch hat sich die KGaA im Laufe der Zeit unverkennbar dem aktienrechtlichen Muster angenähert. Weil es aber eben bei einer Annäherung geblieben ist, stellt sich die Frage, was aus dieser Erkenntnis für die Lösung konkreter Probleme zu gewinnen ist. „Nichts“ – sagen manche und belassen es dabei, die Antwort auf Einzelfragen allein über die Verweisungspfade zu suchen13. Richtigerweise wird man beiden Sichtweisen zu ihrer Geltung verhelfen. Ausgangspunkt müssen die Verweisungsnormen sein, die keinen redaktionellen Unfall darstellen, sondern Ausdruck einer bis heute unveränderten Grundentscheidung des Gesetzgebers sind und damit das Charakteristikum der KGaA ausmachen14. Weil ihre blinde Anwendung aber nicht jeden Überschneidungsfall auszuschließen vermag, muss im Zweifel der Wertungskontext zum Tragen kommen, wozu auch der Umstand gehört, dass die KGaA vom Gesetz in der Tat als Sonderform der AG angelegt ist15. Das heißt nicht, dass jede Normanwendungsfrage sogleich nach der Formel „im Zweifel für das Aktienrecht“ zu entscheiden ist. Wohl aber stellt sich die Frage, ob personengesellschaftsrechtliche Ergebnisse nicht im Einzelfall mit aktienrechtlichen Vorgaben zu harmonisieren sind. Welche Schwierigkeiten das bereitet, lässt sich trefflich am Beispiel der Satzungsänderung zeigen.

III. Die Satzungsänderung als Exempel 1. Das Problem Werden Satzungsbestandteile der KGaA geändert, dann bestimmt sich die Frage, ob die jeweilige Änderung inhaltlich zulässig ist, danach, ob es sich um einen dem Personengesellschaftsrecht oder dem Aktienrecht unterfallenden

__________ 10 Vgl. Karsten Schmidt (Fn. 5), Rz. 16, 19 ff.; für eine „ganzheitliche Betrachtung“ auch schon Karsten Schmidt, ZHR 160 (1996), 265, 272. 11 Vgl. nur Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 278 AktG Rz. 3. 12 So Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 9. 13 Vgl. Mertens/Cahn in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, Vor § 278 AktG Rz. 2, die die Frage nach dem Wesen der KGaA als „müßig“ erachten; ebenso Fett (Fn. 9), § 3 Rz. 2 („begriffstheoretische Diskussion“). 14 Grundsätzlich auch Philbert, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien zwischen Personengesellschaftsrecht und Aktienrecht, 2005, S. 83. 15 Näher Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 278 AktG Rz. 1 und 24.

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Gegenstand handelt16. So wäre die Einführung einer Klausel, die die Rückzahlung von Einlagen auf das Grundkapital gestattet, wegen Verstoßes gegen § 57 AktG nicht möglich, dagegen eine Regelung, welche einem einzelnen Komplementär in Geschäftsführungsfragen den Alleinentscheid einräumt, zulässig, da § 77 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 AktG, der eine solche Klausel verbietet, auf die KGaA keine Anwendung findet17. Das hier zu behandelnde Problem ergibt sich daraus, dass sowohl die personengesellschaftsrechtlichen als auch die aktienrechtlichen Satzungsbestandteile einheitlich in einer Satzung zusammengefasst sind. Dieses Prinzip der einheitlichen Satzung ist zwar als solches im Gesetz nicht ausgesprochen, kommt aber darin zum Ausdruck, dass §§ 278 ff. AktG durchgängig nur von „der Satzung“ reden und auf diese auch dann Bezug nehmen, wenn personengesellschaftsrechtliche Regelungen angesprochen werden18. Nach einhelliger Ansicht müssen daher sämtliche das mitgliedschaftliche Verhältnis regelnden Klauseln in der Satzung ihren Niederschlag finden. Inhaltlich mag also die Verfassung der KGaA in eine (aktienrechtliche) „Satzung“ und in einen (personengesellschaftsrechtlichen) „Gesellschaftsvertrag“ zerfallen19; äußerlich müssen alle Regelungen in einem, „Satzung“ genannten Dokument zusammengefasst sein. Sollen Bestandteile dieser Satzung geändert werden, dann bedarf es dazu in jedem Fall der Mitwirkung der Komplementäre, wie sich aus § 285 Abs. 2 Satz 1 AktG ergibt20. Erforderlich ist ferner ein Beschluss der Hauptversammlung, der in §§ 279 ff. AktG jedoch nicht besonders geregelt ist. Keine Probleme bereitet das, wenn es sich um dem Aktienrecht zugehörige Gegenstände handelt (Bsp.: Änderung der Firma, § 23 Abs. 3 Nr. 1 AktG). Das Procedere richtet sich dann ausschließlich und zwingend nach §§ 179–181 AktG21. Anders liegt es bei der Änderung personengesellschaftsrechtlicher Klauseln. Weil auch diese Bestandteil der „Satzung“ sind, liegt der Schluss nahe, dass auch ihre Änderung sich nach den zwingenden Regeln der „Satzungsänderung“ (§§ 179 ff. AktG) richtet. Denkbar ist aber auch, dass insoweit personengesellschaftsrechtliche Grundsätze zum Tragen kommen. Damit stellt sich die Frage, ob die §§ 179 ff. AktG hier ganz, teilweise oder gar nicht gelten. Sie ist ungeklärt.

__________ 16 17 18 19

Unstr., vgl. nur Karsten Schmidt (Fn. 4), § 278 AktG Rz. 35. Vgl. Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 132. Vgl. Bachmann (Fn. 15), § 281 AktG Rz. 2 und 19. So Würdinger, Aktienrecht und das Recht der verbundenen Unternehmen, 4. Aufl. 1981, S. 260 f. 20 Näher und m. w. N auch zur Frage der Abdingbarkeit Bachmann (Fn. 15), § 285 AktG Rz. 32. 21 Vgl. nur Bachmann (Fn. 15), § 281 AktG Rz. 18; Wichert in Heidel, AktG, 2. Aufl. 2007, § 281 AktG Rz. 23; z.T. abweichend Philbert, s. u. Fn. 24.

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Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsteile bei der KGaA

2. Die im Schrifttum vertretenen Lösungen Die ganz überwiegende Sicht geht davon aus, dass die §§ 179 ff. AktG grundsätzlich auch bei der Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile zur Anwendung kommen22. Für Veränderungen in der Person des Komplementärs oder der von ihm zu erbringenden Vermögenseinlage, die nach § 281 AktG zum Inhalt der Satzung gehören, soll das aber nicht gelten: Sie dürfen per Satzungsermächtigung anderen Organen als der Hauptversammlung zugewiesen werden23. Eine solche Ermächtigung zur Aufnahme neuer Gesellschafter ist von der KG her vertraut. Doch wie verträgt sie sich mit der grundsätzlich befürworteten Anwendung der §§ 179 ff. AktG? Die Antwort lautet, dass bei der KGaA zwischen der Kompetenz zur Satzungsänderung und dem Verfahren zu trennen sei. Während die Kompetenzebene bei personengesellschaftsrechtlichen Satzungsbestandteilen disponibel sei, bleibe es hinsichtlich des satzungsändernden Verfahrens beim zwingenden Aktienrecht24. Die Folgerungen, die daraus gezogen werden, sind nicht einheitlich. Die traditionelle Lesart geht davon aus, dass mit der Übertragung der Kompetenz auf außerhalb der Hauptversammlung liegende Stellen auch die Basis für die Anwendung der §§ 179 Abs. 2, 181 AktG entfällt, mit der Folge, dass die entsprechenden Änderungen abweichend von §§ 179 ff. AktG vorgenommen werden können und die Satzung lediglich einer Fassungsänderung bedarf25. Fehle es dagegen an einer entsprechenden Ermächtigung, soll es bei den Erfordernissen der §§ 179 ff. AktG bleiben, namentlich also der qualifizierten Hauptversammlungsmehrheit (§ 179 Abs. 2 AktG), der notariellen Beurkundung (§ 130 Abs. 1 Satz 3 AktG) und der konstitutiv wirkenden Eintragung (§ 181 Abs. 3 AktG) bedürfen26. Andere wollen zwischen „materiellen“ und „formellen“ Voraussetzungen der Satzungsänderung unterscheiden27. Während die „materiellen“ Voraussetzungen – dazu werden neben der Kompetenz (§ 179 Abs. 1 AktG) auch die Mehrheitserfordernisse (§ 179 Abs. 2 AktG) gerechnet – bei der Änderung personen-

__________ 22 Vgl. Karsten Schmidt (Fn. 4), § 281 AktG Rz. 15; Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 181; Semler/Perlitt in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 281 AktG Rz. 60; Mertens/Cahn (Fn. 13), Vorb § 278 AktG Rz. 13; Philbert (Fn. 14), S. 177 f.; beiläufig auch OLG Stuttgart, NZG 2003, 293: „… bedarf eines Hauptversammlungsbeschlusses (§§ 278 Abs. 3, 179 AktG)“. Zum alten HGB (ohne Diskussion) auch schon Düringer/Hachenburg, HGB, Band III/3, 3. Aufl. 1935, § 321 HGB Anm. 44 a. E. und Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl. 1933, § 320 HGB Anm. 108. 23 Unstr., s. nur Hüffer (Fn. 11), § 278 AktG Rz. 19; Semler/Perlitt (Fn. 22), § 281 AktG Rz. 63. 24 Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 99; ebenso Philbert (Fn. 14), S. 178 f., der die Hauptversammlungskompetenz sogar bei der Änderung aktienrechtlicher Satzungsbestandteile für abdingbar hält. 25 Vgl. nur Hüffer (Fn. 11), § 278 AktG Rz. 19; Philbert (Fn. 14), Rz. 179 f. 26 Karsten Schmidt (Fn. 4), § 281 AktG Rz. 15; Assmann/Sethe, § 278 AktG Rz. 49; Philbert (Fn. 14), S. 179. 27 Cahn, Die Änderung von Satzungsbestimmungen nach § 281 AktG bei der Kommanditgesellschaft auf Aktien, AG 2001, 579, 582 f.; s. auch Mertens/Cahn (Fn. 13), Vorb § 278 AktG Rz. 13.

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gesellschaftsrechtlicher Bestandteile dispositiv seien, bleibe es hinsichtlich der „formellen“ Voraussetzungen – gemeint sind die notarielle Beurkundung und die konstitutive Wirkung des Registereintrags – stets beim zwingenden Aktienrecht. Auch bei Übertragung auf andere Stellen würde die Satzungsänderung danach erst mit notarieller Beurkundung und anschließender Eintragung wirksam. Unklarheiten bestehen schließlich hinsichtlich der erforderlichen Beschlussmehrheiten. Soweit die Hauptversammlung zuständig ist, wird überwiegend auf § 179 Abs. 2 AktG verwiesen, der eine Mehrheit von drei Vierteln des vertretenen Kapitals vorsieht28. Einzelne Stimmen halten dagegen § 133 Abs. 1 AktG für einschlägig, der die einfache Mehrheit genügen lässt29. 3. Ein alternativer Ansatz Die vorgestellte Problematik ist exemplarisch für die Misere der KGaA: Die gesetzlich vorgegebene Verquickung von Personengesellschafts- und Aktienrecht führt dazu, dass einmal dieser, einmal jener Fundus bemüht wird. Daraus ergeben sich Widersprüche, die es zu bereinigen gilt. a) Die Widersprüche der vertretenen Lehren Im Ergebnis weichen die dargestellten Ansichten insofern nicht voneinander ab, als alle eine Ermächtigung anderer Stellen zu Änderungen in der Person des Komplementärs zulassen. Diese äußerliche Übereinstimmung wird um den Preis dogmatischer Unstimmigkeiten erkauft. So bleibt unklar, ob – und wenn ja, warum – von §§ 179 ff. AktG nur bei Änderungen in der Person des Komplementärs oder auch sonst soll abgewichen werden können. Grundsätzlicher ist die Frage, wie trotz der befürworteten Anwendbarkeit der (unnachgiebigen!) §§ 179 ff. AktG die Zulässigkeit einer Delegation auf Stellen außerhalb der Hauptversammlung begründet werden kann30. Weil aktienrechtliche Vorschriften ihren zwingenden Charakter nicht schon dadurch verlieren, dass sie auf die KGaA angewendet werden, kann die Abdingbarkeit nur aus § 278 Abs. 2 AktG abgeleitet werden, der – seine Anwendbarkeit unterstellt – jedoch gar nicht erst zur Anwendung des § 179 AktG führen dürfte. Der Versuch, diesem Einwand durch Unterscheidung in eine dispositive „Kompetenzebene“ und eine zwingende „Beschlussebene“ zu begegnen, führt dazu, dass z. B. die Änderung der Geschäftsführungsbefugnis, wenn sie von der Hauptversammlung (mit Zustimmung des Komplementärs) beschlossen wird, erst nach registergerichtlicher Prüfung und Eintragung ins Handelsregister wirksam wird (§ 181 Abs. 3 AktG), dagegen sofort, wenn sie allein vom Komplemen-

__________ 28 Vgl. nur Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 49 mit Fn. 107; Semler/Perlitt (Fn. 22), § 281 AktG Rz. 60. 29 So Wichert in Heidel (Fn. 21), § 281 AktG Rz. 23; Bachmann (Fn. 15), § 281 AktG Rz. 22. 30 Zum zwingenden Charakter der Hauptversammlungskompetenz nur Hüffer (Fn. 11), § 179 AktG Rz. 10.

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tär verfügt wird. Das vermag nicht einzuleuchten31. Vermieden wird es von der Variante der h. M., welche stets auf die Einhaltung des § 181 AktG pocht32. Sie gelangt damit jedoch zu einer aktienrechtlichen Formenstrenge, wie sie selbst für die AG nicht verwirklicht ist. Denn das Aktienrecht lässt die Änderung materieller Satzungsbestandteile (Grundkapital) außerhalb der Satzung durchaus zu33. Diesem Einwand müssen sich auch diejenigen stellen, die zwar in der Frage der Beschlussmehrheit personengesellschaftsrechtlich argumentieren, hinsichtlich der „formellen“ Seite aber die Einhaltung aktienrechtlicher Kautelen verlangen34. b) Ein systemgerechtes Konzept aa) Personengesellschaftsrecht als Ausgangspunkt Ein systemgerechtes Verständnis muss bei § 278 Abs. 2 AktG ansetzen. Dieser erklärt für Fragen, die den Komplementär oder sein Verhältnis zur Gesellschaft betreffen, das Personengesellschaftsrecht für anwendbar. Ausgangspunkt sind also die Regeln des Personengesellschaftsrechts35. Danach kann die Kompetenz zur Änderung gesellschaftsvertraglicher Regeln auf andere Stellen übertragen werden, womit die von der h. M. angenommene Delegationsmöglichkeit zwanglos ihre Erklärung findet. Entsprechendes muss aber auch für alle anderen Satzungsbestandteile gelten, die dem Personengesellschaftsrecht unterliegen36. Diese stellen nur äußerlich einen Bestandteil der Satzung dar, sind der Sache nach aber Gesellschaftsvertrag i. S. v. § 109 HGB37. Mangels abweichender Satzungsbestimmung ist daher § 119 HGB zur Anwendung berufen, wonach es des einstimmigen Zusammenwirkens aller Gesellschafter bedarf. Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Kommanditist seine Zustimmung erteilen müsste. Die Besonderheit der KGaA gegenüber der gesetzestypischen KG besteht vielmehr darin, dass die Kommanditaktionäre vom Gesetz insoweit nur als „Gesamtheit“ wahrgenommen werden, d. h. als Einheit zu denken sind38. Handlungsfähig wird diese „Gesamtheit“ in Gestalt der Hauptversammlung, wie sich aus § 285 AktG ergibt. Weil § 285 AktG als Spezialvorschrift den allgemeinen Verweisungsnormen in § 278 Abs. 2 und 3 AktG vorgeht39, ist damit

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Kritisch mit Recht auch Cahn, AG 2001, 579, 582. So Cahn, AG 2001, 579, 585. Vgl. nur Hüffer (Fn. 11), § 188 AktG Rz. 11. So Wichert in Heidel (Fn. 21), § 281 AktG Rz. 27. So auch Fett (Fn. 9), Rz. 24 ff.; Herfs, in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4: Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, § 78 Rz. 39a; s. auch Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 99; Semler/Perlitt (Fn. 22), § 281 AktG Rz. 60. Zutreffend Assmann/Sethe (Fn. 8), Vor § 278 AktG Rz. 59; Philbert (Fn. 14), S. 164. Würdinger (Fn. 19), S. 260 f. Vgl. nur Würdinger (Fn. 19), S. 257. Von einem „virtuellen Treuhandkommanditisten“ spricht anschaulich Karsten Schmidt (Fn. 4), § 278 AktG Rz. 5, der dieser Vorstellung jedoch skeptisch gegenübersteht; vgl. auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, § 9 I 4c (S. 762). Ganz h. M., vgl. nur Bachmann (Fn. 15), § 278 AktG Rz. 21.

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das Tor aufgestoßen zur Anwendung der §§ 121–149 AktG. Die zur Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile erforderliche Zustimmung der „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ erfolgt daher in der Weise, dass die Hauptversammlung vom Komplementär (§ 283 Nr. 6 AktG i. V. m. § 121 Abs. 2 AktG) einberufen und vorbereitet wird und, soweit die Satzung nichts anderes vorsieht, mit einfacher Mehrheit (§ 133 AktG) über den entsprechenden Beschlussantrag abstimmt40. Eine Mehrheit von drei Vierteln des vertretenen Kapitals ist an sich nicht erforderlich, da § 179 AktG als aktienrechtliche Vorschrift auf die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile nach dem Gesagten keine Anwendung findet41. Weil sich diese Auffassung aber offenbar nicht vermitteln lässt, erscheint es im Sinne der Fortentwicklung der Rechtsform hinnehmbar, die Anwendbarkeit des § 179 Abs. 2 AktG als gegeben zu akzeptieren42. Dies fällt umso leichter, als die Norm nachgiebig ist (vgl. § 179 Abs. 2 Satz 2 AktG) und sich damit gut in den dispositiven Rahmen des Personengesellschaftsrechts fügt43. Entsprechendes gilt für die damit stets erforderlich werdende Beteiligung eines Notars (§ 130 Abs. 1 Satz 3 AktG), die wegen § 285 Abs. 3 AktG ohnehin erforderlich ist. bb) Aber: Einheitlicher Satzungstext Aus der Einheitlichkeit der Satzung folgt, dass eine publizitätslose Satzungsänderung, wie sie das HGB zulässt, bei der KGaA nicht in Betracht kommt. Dem ist nicht notwendig dadurch Rechnung zu tragen, dass die Änderung der personengesellschaftsrechtlichen Bestandteile dem konstitutiven Eintragungserfordernis zu unterwerfen wäre44. Da die Satzungseinheit nach hiesigem Ver-

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40 Wichert in Heidel (Fn. 21), § 281 AktG Rz. 23; ders., Satzungsänderungen in der Kommanditgesellschaft auf Aktien, AG 1999, 362, 365; Würdinger (Fn. 19), S. 259; Bachmann (Fn. 15), § 281 AktG Rz. 22. 41 Die h. M. folgert die Anwendbarkeit der § 179 AktG dagegen schlicht aus der Zuständigkeit der Hauptversammlung (vgl. Assmann/Sethe (Fn. 8), § 278 AktG Rz. 49 mit Fn. 107; Semler/Perlitt (Fn. 22), § 281 AktG Rz. 60). Aus der Zuständigkeit der Hauptversammlung ergibt sich aber zunächst nur die Geltung der entsprechenden Verfahrensregeln (§§ 121 ff. AktG). Voraussetzung für das Eingreifen des § 179 AktG ist ein satzungsändernder Beschlussgegenstand. Die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile vollzieht sich aber außerhalb der Satzung und ruft daher nur redaktionellen Änderungsbedarf hervor. Der Einwand, dass bei Anwendung des Personengesellschaftrechts die Zustimmung jedes einzelnen Kommanditaktionärs erforderlich sein müsste (Cahn, AG 2001, 579, 582 mit Fn. 24; Philbert (Fn. 14), S. 181), übersieht die Kollektivstellung der „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ (s. Fn. 38). 42 Dass darin kein methodischer Sündenfall liegt, folgt daraus, dass die Vorschriften der KGaA stets im aktienrechtlichen Gesamtkontext zu sehen sind, s. o. II.2. sowie unten IV.2. 43 Hinzu kommt, dass auch für die Auflösung eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, vgl. § 285 Abs. 4 Satz 3 AktG, der nur Abweichungen nach oben zulässt und damit der Regelung für die AG (§ 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG) entspricht. 44 So aber Cahn, AG 2001, 579, 583 f., der allein aus pragmatischen Gründen eine bloß deklaratorische Wirkung genügen lässt (ebd., S. 585); ähnlich Karsten Schmidt (Fn. 4), § 278 AktG Rz. 32 (zur Auswechslung des Komplementärs).

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ständnis nur eine äußere ist, genügt es, eine einheitliche Verfassungsurkunde („Satzung“) zu erstellen und diese auf aktuellem Stand zu halten. Weil die personengesellschaftsrechtlichen Bestandteile keine echten Satzungsbestandteile (im aktienrechtlichen Sinne) darstellen, ist die Anpassung des Satzungstexts eine bloße Fassungsänderung, zu der jedenfalls der Aufsichtsrat (§ 179 Abs. 1 Satz 2 AktG) ermächtigt werden kann45. Dessen Beschluss bedarf nicht der notariellen Beurkundung. Die Einreichung der neuen Fassung zum Handelsregister ist gemäß § 181 Abs. 1 AktG i. V. m. § 283 Nr. 1 AktG vom Komplementär unter Beifügung einer Notarbescheinigung zu bewirken. Geändert ist der Verfassungstext erst mit seiner Eintragung (§ 181 Abs. 3 AktG), doch hängt die Wirksamkeit der geänderten personengesellschaftsrechtlichen Bestandteile davon nicht ab. Wird also aufgrund einer Satzungsermächtigung ein neuer Komplementär aufgenommen oder dessen Geschäftsführungsbefugnis geändert, so ist der Satzungstext bis zur Eintragung der Fassungsänderung unrichtig. Soweit dagegen die Publizitätsstrenge der juristischen Person ins Feld geführt wird46, ist daran zu erinnern, dass die entsprechende Situation auch bei der AG eintreten kann47. Dritten droht dadurch kein Unheil, weil die Organe der KGaA zur alsbaldigen Neufassung des Satzungstexts verpflichtet sind. Da die einschlägigen Änderungen eintragungspflichtig sind, kommt ihnen in der Zwischenzeit § 15 HGB zugute. Der Informationsfunktion des Handelsregisters ist damit hinreichend genüge getan. cc) Veränderungen im Komplementärbestand Folgt man dem skizzierten Modell, sind Änderungen in der Person des Komplementärs und seiner Einlage ohne Schwierigkeiten zu bewältigen. Beharrt man dagegen auf einem aktienrechtlichen Ansatz, stellt sich die Frage, wie die Flexibilität hinsichtlich des Komplementärs anders erreicht werden kann48. Wer sich mit der Lösung, § 179 Abs. 1 AktG schlicht für dispositiv zu erklären, nicht anfreunden mag, muss nach anderen Auswegen sinnen. Hilfe bietet hier eine Neuinterpretation des § 281 AktG, der die Aufnahme von Angaben über den Komplementär und seine Vermögenseinlage in die Satzung fordert. Gelingt es, diese als reine Gründungsvorschrift zu deuten, können sich spätere Änderungen außerhalb der Satzung vollziehen.

__________ 45 Für Ermächtigung auch anderer Organe Cahn, AG 2001, 181, 185 (betr. Vorstand beim genehmigten Kapital); Cahn, AG 2001, 579, 584 f. (betr. persönlich haftender Gesellschafter der KGaA). 46 Philbert (Fn. 14), S. 170; auf die „Informationsfunktion des Handelsregisters“ verweisend auch Cahn, AG 2001, 579, 583. 47 Nämlich bei der Kapitalerhöhung (s. o. Fn. 33). Um dem vorzubeugen, fordert die h. M., die Anmeldung der Durchführung der Kapitalerhöhung (§ 188 AktG) mit der Anmeldung der Satzungsänderung zu verbinden, vgl. nur Servatius in Spindler/Stilz (Fn. 15), § 188 AktG Rz. 9. 48 Dieses Problem stellt sich auch bei personengesellschaftsrechtlichem Ausgangspunkt, weil die Großzügigkeit, mit der man den Austausch des Komplementärs zulässt, vor dem Hintergrund der Kernbereichslehre nicht unbedenklich ist, s. dazu Bachmann (Fn. 15), § 278 AktG Rz. 69.

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Zum Verständnis der Norm ist zunächst ihr Zweck zu betrachten. Dieser ist dunkel. Man sieht ihn in der Information von Mitgesellschaftern und Gläubigern49, die sich die Angaben über den Komplementär jedoch einfacher aus dem (elektronischen) Handelsregister besorgen können, in welches zumindest die Personalien einzutragen sind50. Andere wollen den Zweck darin sehen, die Mitwirkung der Hauptversammlung bei entsprechenden Satzungsänderungen zu gewährleisten51. Eine solche Mitwirkungskompetenz folgt aber bereits aus personengesellschaftsrechtlichen Grundsätzen, und satzungsfest soll sie nach h. M. gerade nicht sein52. Da der teleologische Weg nicht weiter führt, ist historisch-systematisch anzusetzen. Insofern erweist sich der Blick auf den 1978 gestrichenen dritten Absatz der Vorschrift als hilfreich. Er enthielt eine dem § 26 Abs. 1 AktG entsprechende Norm, die mit der Neufassung dieser Vorschrift überflüssig wurde. § 26 AktG, der die Aufnahme von Sondervorteilen in die Satzung vorschreibt, ist eine Gründungsvorschrift. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Stellung des § 281 AktG, der zwischen § 280 AktG (Feststellung der Satzung und Definition der Gründer) und § 282 AktG (Eintragung der Gesellschaft) platziert ist, wird klar, dass auch § 281 AktG als Gründungsvorschrift gelesen werden muss53. Ebenso wie bei den nach § 26 AktG geforderten Angaben stellen somit auch die in § 281 AktG genannten Daten nur formelle Satzungsbestandteile dar, deren materielle Änderung sich nicht nach §§ 179 ff. AktG richtet54. Nach Abschluss der Gründung können sie getilgt werden; bleiben sie erhalten, hat der Satzungstext insoweit nur deklaratorische Bedeutung. c) Einwand: Rechtsrückschritt? Der vorstehend skizzierten, personalistisch ansetzenden Deutung kann man entgegenhalten, dass sie den historischen Entwicklungsstrang umkehrt. Seit ihrer Entstehung hat sich die KGaA von ihren personengesellschaftsrecht-

__________ 49 Vgl Assmann/Sethe (Fn. 8), § 281 AktG Rz. 7; Mertens/Cahn (Fn. 13), § 281 AktG Rz. 15. 50 Vgl. § 282 AktG. Auf welche Normen sich die Eintragungspflichtigkeit bei Änderungen stützt (§ 81 AktG i. V. m. § 278 Abs. 3 AktG oder § 107 HGB i. V. m. § 278 Abs. 2 AktG), ist nicht restlos geklärt, für das Ergebnis aber irrelevant, s. Bachmann (Fn. 15), § 282 AktG Rz. 7. Nicht eintragungspflichtig ist die Vermögenseinlage (statt aller Semler/Perlitt (Fn. 22), § 282 AktG Rz. 7), doch sollte dieses Ergebnis de lege ferenda überdacht werden. 51 Herfs in VGR Bd. 1, 1999, S. 23, 50 f.; Masuch, NZG 2003, 1048, 1049; Würdinger (Fn. 19), S. 255. 52 S. o. Fn. 23. 53 So schon Düringer/Hachenburg (Fn. 22), § 321 HGB Anm. 45 und § 322 HGB Anm. 11: „Diese Bestimmungen fließen aus dem Grundgedanken, daß alle Abreden über das Verhältnis der phG zu den Komm.-Aktionären bei der Gründung der KAG der Aufnahme in den Gesellschaftsvertrag zu ihrer Wirksamkeit bedürfen. Nicht aber, daß auch in der Folgezeit jede Aenderung derselben eine Aenderung des Gesellschaftsvertrags ist“. 54 Bachmann (Fn. 15), § 281 AktG Rz. 23; zu § 26 AktG nur Hüffer (Fn. 11), § 23 AktG Rz. 4 f.

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lichen Wurzeln gelöst und zunehmend den Charakter einer Kapitalgesellschaft angenommen. Das moderne Aktienrecht versteht die KGaA nicht mehr als einen aus Unterverbänden bestehenden Verbund, weist namentlich der „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ keine Rechtsfähigkeit zu55. Stellt die KGaA aber einen Verband mit einer Satzung dar („monistisches Modell“), dann liegt die Folgerung nahe, dass über deren Änderung auch nur einheitlich – und das heißt: gem. §§ 179 ff. AktG – entschieden werden kann56. Trotz monistischer Züge fußt das Recht der KGaA jedoch nach wie vor auf einem dualistischen Sockel57. Zwar ist richtig, dass die KGaA durch das AktG 1937 zur juristischen Person erklärt wurde58, deren Organstruktur mit Ausnahme des Fremdkörpers Komplementär derjenigen der AG entspricht. Aufsichtsrat und Hauptversammlung der KGaA kommt aber, wie §§ 285, 287 AktG zeigen, eine unverkennbare Doppelfunktion zu59. Einerseits fungieren sie als aktienrechtliches Organ, andererseits nehmen sie die Rechte der „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ wahr. Eine entsprechende Doppelstruktur weist die Satzung auf, die sich nach außen als Einheit darstellt, der Sache nach aber in zwei Teile zerfällt60. Nur so lässt sich auch die h. L. erklären, der zufolge die Entscheidung zur Aufnahme neuer Komplementäre trotz ihres satzungsändernden Charakters der Hauptversammlung entzogen werden kann und damit nur zu einer Fassungsänderung führt. Das hier skizzierte Modell macht also keinen Schritt zurück, sondern zögert allenfalls, weitere Schritte nach vorne zu gehen. Das führt zu der abschließenden Frage, ob die KGaA nicht langfristig doch im Aktienrecht aufgehen wird.

IV. Wie es weitergeht Der personalistische Ansatz widerstrebt dem modernen Empfinden, welchem die KGaA – zu Recht! – als bloße Spielart der AG erscheint61. Weil nicht zu erwarten ist, dass Lehre und Rechtsanwender den eingetretenen Pfad ohne Not verlassen, soll daher zum Schluss der Blick nach vorne gewagt werden.

__________ 55 Heute unstr., vgl. nur Bachmann (Fn. 15), § 278 AktG Rz. 18. 56 Betont Karsten Schmidt (Fn. 4), § 281 AktG Rz. 15; ders, (Fn. 5), S. 1188, 1199 (Rz. 19 ff.); ebenso Philbert (Fn. 14), S. 170, 177: Satzung als „aktienrechtliche Organisationsklammer“, in die die personengesellschaftsrechtlichen Elemente „eingepasst“ werden müssen. 57 Vgl. Würdinger (Fn. 19), S. 261; s. auch Fett in Bürgers/Körber, AktG, 2007, § 278 AktG Rz. 35 („strenger Dualismus“). 58 Explizit § 278 Abs. 1 AktG („eigene Rechtspersönlichkeit“); das entsprach aber schon zuvor der h. M., eingehend dazu Düringer/Hachenburg (Fn. 22), Einl. Anm. 13. 59 H. M., vgl. nur Sethe, AG 1996, 289, 290, 300; Bachmann (Fn. 15), § 285 AktG Rz. 2 und § 287 AktG Rz. 1; Assmann/Sethe (Fn. 8), § 285 AktG Rz. 15; Hüffer (Fn. 11), § 287 AktG Rz. 1; Raiser/Veil, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2005, § 23 Rz. 33; ablehnend Mertens, Zur Existenzberechtigung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, in FS Barz, 1974, S. 252, 256; von umgekehrter Warte auch noch Düringer/ Hachenburg (Fn. 22), Einl. Anm. 15 und § 327 HGB Anm. 1. 60 S. o. bei Fn. 19. 61 Vgl. nochmals Bachmann (Fn. 15), § 278 AktG Rz. 1 und 24.

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1. Wie sich die Kautelarpraxis behilft Mangels tonangebender Präjudizien orientiert sich die Kautelarpraxis hier wie auch sonst an überkommenen Mustern und Formularen. Diese kennen eine Ermächtigung zur Aufnahme neuer Komplementäre62, enthalten aber keine Aussagen zum Verfahren der Satzungsänderung. Im akuten Fall wird man daher die Abstimmung mit dem zuständigen Registergericht suchen. Welcher Rechtsauffassung dieses folgt, zeigt sich bereits daran, wer dort die Entscheidung trifft. Folgt das Gericht der h. M., wonach die Aufnahme neuer Komplementäre bei Delegation der Entscheidung eine bloße Fassungsänderung ist (s. o. II.1.), wird der Rechtspfleger mit der Sache befasst; andernfalls ist die Zuständigkeit des Richters gegeben (vgl. § 17 Nr. 1b) RPflG). Je nach Ansicht der örtlichen Instanzen wird sich damit ein eigenes „Landrecht“ der KGaA bilden. Ist eine anderweitige Abstimmung mit dem Registergericht nicht möglich oder nicht erstrebt, wird man vorsorglich dem strengsten Maßstab folgen. Auch die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile darf dann nicht ohne die Beteiligung der Hauptversammlung erfolgen, die – wiederum der strengsten Vorgabe folgend – mit der in § 179 Abs. 2 AktG erwähnten Mehrheit von drei Vierteln des vertretenen Kapitals zu beschließen hat, die allerdings per Satzung herabgeschraubt werden kann. Ebenso wird man die beschlossene Änderung erst dann praktizieren, wenn ihre Eintragung in das Handelsregister erfolgt ist. Im Ergebnis bedeutet das die vollumfängliche Anwendung der §§ 179 ff. AktG auf die KGaA, für die auch der Umstand spricht, dass sich die Zuordnung von Satzungsbestandteilen zum Aktien- oder Personengesellschaftsrecht nicht immer zweifelsfrei entscheiden lässt63. Die dadurch erschwerte Auswechslung des Komplementärs ist in Kauf zu nehmen, wenn dieser – wie heute üblich – eine juristische Person und als solche nicht auswechslungsbedürftig ist. Die vorsorgliche Anwendung des Aktienrechts befreit indes nicht von dem zusätzlichen Erfordernis, die – notariell beurkundete (§ 285 Abs. 3 Satz 2 AktG) – Zustimmung des Komplementärs einzuholen, § 285 Abs. 2 AktG. Insofern stellt sich die Satzungsänderung bei der KGaA im Vergleich zur AG als mühsamer heraus. 2. Wohin die Rechtsentwicklung geht a) Keine Hilfe vom Gesetzgeber Keine Lösung des hier diskutierten Problems wie auch der generellen Normanwendungsfragen ist vom Gesetzgeber zu erwarten. Spätestens seit der

__________ 62 Vgl. etwa Bürgers/Förl (Fn. 9), § 13 Mustersatzung III § 8 Abs. 2 („Weitere persönlich haftende Gesellschafter können durch die Komplementärversammlung mit Zustimmung des Aufsichtsrats aufgenommen werden“); Hölters in Heidenhain/Meister (Hrsg.), Münchener Vertragshandbuch, Band III, 2. Aufl. 2005, Form. V. 160, § 8 („… durch den Aufsichtsrat mit Zustimmung der Hauptversammlung“); Volhard in Hopt (Hrsg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 3. Aufl. 2007, S. 526 (§ 7). 63 Cahn, AG 2001, 579, 583.

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Aktienrechtsreform 1937 hat sich dieser für die KGaA nicht mehr sonderlich interessiert64. Soweit es nach dem Neuerlass des AktG 1965 überhaupt zu gesetzgeberischen Eingriffen in die §§ 278 ff. AktG kam, waren diese nicht Ausdruck neuer Weichenstellungen, sondern bloßer Nachvollzug anderweitiger Entwicklungen65. Das betrifft etwa die Sanktionierung der vom BGH zuvor ausgesprochenen Anerkennung der GmbH & Co. KGaA im Rahmen des Handelsrechtsreformgesetzes 1998 (vgl. § 279 Abs. 2 AktG) sowie die mit dem UMAG im Jahr 2005 nachgeholte Zulassung der Einmanngründung66. Dass sich an der stiefmütterlichen Behandlung der KGaA durch den Gesetzgeber in absehbarer Zeit etwas ändern wird, ist sehr unwahrscheinlich. Derzeit wird nicht die KGaA, sondern die monistische SE als mittelständische Alternative zur AG gepriesen; sollte das den Gesetzgeber zu neuerlichen Reformen im AktG anstacheln, werden diese an der KGaA aller Voraussicht nach wieder vorbei gehen. b) Die aktienrechtliche Tendenz der Rechtsprechung Die gesetzgeberische Enthaltsamkeit stellt auch die Rechtsprechung vor Probleme. Die Neigung der Gerichte, den Verästelungen der KGaA-typischen Verweisungstechnik in mühevoller Kleinarbeit nachzugehen, ist verständlicherweise gering. Prüfungshilfen, welche die Wissenschaft bereitgestellt hat, erweisen sich für die forensische Handhabung als zu kompliziert67. Will das Gericht seiner Entscheidung Überzeugungskraft verleihen, dann argumentiert es daher vorsorglich von beiden Seiten her. So verfährt das OLG Stuttgart, wenn es die Zustimmungspflichtigkeit der Veräußerung eines Geschäftsbereichs sowohl mit der personenrechtlichen Kategorie des Grundlagengeschäfts als auch mit der dem Aktienrecht entlehnten „Holzmüller“-Lehre absichert68. Einfacher macht es sich der BGH, der, mit der Frage von Insichgeschäften des Komplementärs befasst, rasch zur Anwendung von § 112 AktG gelangt, ohne die Frage zu vertiefen, ob insoweit nicht das Personengesellschaftsrecht einschlägig wäre69. Richtigerweise ist sie zu bejahen, was zur Anwendung des (abdingbaren!) § 181 BGB führt70. Weil das Ergebnis zugegebenermaßen nicht sonder-

__________ 64 So schon Mertens in FS Barz, 1974, S. 253, 255, dessen Einschätzung nach wie vor Gültigkeit besitzt. Vom „Stiefkind des Aktienrechtsgesetzgebers“ sprechen treffend Assmann/Sethe (Fn. 8), Vor § 278 AktG Rz. 43. 65 Vgl. im Einzelnen Assmann/Sethe (Fn. 8), Vor § 278 AktG Rz. 33–42. 66 Der ebenfalls mit dem UMAG unternommene Versuch, die mit der Handelsrechtsreform versehentlich aufgerissene Lücke bei der Auflösungskündigung durch Streichung von § 289 Abs. 4 Satz 1 AktG zu schließen, wurde nach Protesten aus Praxis und Lehre abgebrochen. Ob es eine Auflösungskündigung der Kommanditaktionäre geben kann, ist daher streitig geblieben, näher dazu Bachmann (Fn. 15), § 289 AktG Rz. 13 ff., 31 f. 67 Bachmann (Fn. 15), § 278 AktG Rz. 24 mit Fn. 67. 68 Vgl. OLG Stuttgart, NZG 2003, 778; begrüßend Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 1199 (Rz. 18): „Beitrag zur gesellschaftsrechtlichen Institutionenbildung“; kritisch aber Fett/Förl, NZG 2004, 210, 212 ff. 69 Vgl. BGH, NZG 2005, 276 = ZIP 2005, 348. 70 Näher Bachmann (Fn. 15), § 287 AktG Rz. 11 m. w. N.

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lich befriedigt, spricht im Ergebnis manches für die aktienrechtliche Lösung des BGH71. Sie ist aber nur durch eine Rechtsfortbildung zu gewinnen, die den vom Gesetzgeber abgebrochenen Weg zur AG fortsetzt. Wie weit er gangbar ist, ist unsere letzte Frage. c) Rechtsfortbildung durch Extrapolation? Die zentrale Weichenstellung im Recht der KGaA, die Verweisung auf Aktienund Personengesellschaftsrecht, ist über alle Reformen der letzten hundert Jahre erhalten geblieben. Ohne Übertreibung darf man daher sagen, dass die gesetzliche Regelung – von marginalen Änderungen abgesehen – im Kern noch derjenigen von 1897 entspricht72. Dennoch ist eine Strömung unverkennbar, welche die KGaA vorsichtig in Richtung der AG getragen hat. Sichtbar wird dies an einigen, für sich genommenen unauffälligen Änderungen im AktG 193773, am Nachvollzug aktienrechtlicher Reformen74, aber auch am Umwandlungsgesetz von 1994, welches die KGaA der AG wertungsmäßig gleichstellt (vgl. § 78 Satz 4 UmwG). Doch erlaubt dieser Befund es Rechtsprechung und Wissenschaft, die KGaA auch in ihrem unberührten, personengesellschaftsrechtlichen Bereich in Richtung auf ein aktienrechtliches Konzept fortzuentwickeln? Karsten Schmidt neigt zur Bejahung der Frage, wenn er den Weg zu einer „körperschaftlich gedachten, durchgehend aktienrechtlich konzipierten Integration von AG und KG“ andeutet75 und damit methodisch an das von ihm stets betonte „Zuendedenken“ des Gesetzes als Aufgabe der Rechtswissenschaft anknüpft76. Unproblematisch ist ein solches „Zuendedenken“, wo eine im Gesetz nur ausschnittweise hervorscheinende Lösung offensichtlich sachgerecht ist und ihre fehlende Vollendung allein darauf beruht, dass der Gesetzgeber sich der Sache nicht näher angenommen hat77. Schwieriger wird es, wenn eine bewusste Weichenstellung erforderlich ist, die, wenn sie erfolgt, zu nicht unerheblichen Belastungen Einzelner führt78. Solche Belastungen, wie

__________ 71 Nur im Ergebnis zustimmend daher Fett in Bürgers/Körber, AktG, 2007, § 287 AktG Rz. 4; Bachmann (Fn. 15), § 287 AktG Rz. 12. 72 Ebenso Assmann/Sethe (Fn. 8), Vor § 278 AktG Rz. 43. 73 Das AktG 1937 brachte neben der Ausgliederung von AG und KGaA aus dem HGB die Anerkennung der KGaA als juristische Person, das Stimmrecht für aktienbesitzende Komplementäre und die Übernahme des aktienrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs für den Komplementär. 74 Zu nennen ist etwa die erwähnte Zulassung der Einmann-Gründung, die bei Personengesellschaften nach wie vor ausgeschlossen ist. 75 Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 1197 (Rz. 4), auch S. 1199 (Rz. 18) und S. 1202 (Rz. 24 f.). 76 Zum Rechtsfortbildungskonzept des Jubilars nur Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985, S. 67 ff. 77 Vgl. auch Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 1 III 2 (S. 23): „Je schwächer die positivrechtliche Basis ist, um so eher sind Praxis und Wissenschaft aufgerufen, das geschriebene Recht systematisch fortzubilden“. 78 Nicht unproblematisch daher die undifferenzierte Unterwerfung von GbR-Gesellschaftern unter das strenge Haftungsregime der OHG, s. zur Kritik nur Hadding, ZGR 2001, 712, 736 ff.

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sie insbesondere in der Auferlegung einer unbeschränkten Solidarhaftung bestehen, sind bei der Fortentwicklung des KGaA-Rechts nicht zu gewärtigen. Gleichwohl gehen mit der Anpassung an das allgemeine Aktienrecht Spielräume verloren, die nicht nur den Charme der Rechtsform „KGaA“ ausmachen, sondern geradezu deren Existenzberechtigung darstellen79. Im Ausgangspunkt sollte es daher dabei bleiben, den dualistischen Grundansatz der KGaA ernst zu nehmen. Verliert man dabei das Ganze nicht aus dem Auge, können aktienrechtliche Wertungen vorsichtig auch im personengesellschaftsrechtlichen Bereich zum Tragen kommen80. Soweit das der Rechtssicherheit dient, sollten die dadurch gewonnenen Ergebnisse im Interesse der Attraktivität der Rechtsform nicht mehr in Frage gestellt werden.

V. Zusammenfassung und Schluss Die KGaA präsentiert sich als Rechtsform, die sich auch bei großer gedanklicher Anstrengung nur schwer enträtseln lässt. Des Rätsels Lösung ist nicht vom Gesetzgeber im positiven Recht verborgen worden, sondern muss durch Rechtsanwendung gewonnen werden. Ausgangspunkt ist und bleibt dabei das Drehkreuz des § 278 AktG, das sich seit 1897 nicht verändert hat. Die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile folgt demgemäß den §§ 109, 119 HGB i. V. m. § 278 Abs. 2 AktG. Das bedeutet, dass die Zuständigkeit der Hauptversammlung abbedungen werden darf. Ist das nicht geschehen, entscheidet sie mit einer Mehrheit, die sich im Interesse der Rechtsklarheit an § 179 Abs. 2 AktG orientieren sollte. Die Eintragung der Änderung im Register hat dagegen bloß redaktionelle Bedeutung. Angaben über den Komplementär gehören nur bei der Gründung in die Satzung. Dieses personengesellschaftsrechtliche Modell steht im Kontrast zur Tendenz, die KGaA im Zweifel dem Aktienrecht zu unterwerfen. In der Tat hat sich diese Rechtsform zu einer Abart der AG entwickelt, doch sollte sie sich ihrer personengesellschaftsrechtlichen Freiräume nur vorsichtig und nicht ohne Not begeben. Andernfalls droht der überkommene „Exot“ im bunter werdenden Rechtsformreigen verloren zu gehen – und das wäre nicht nur aus akademischer Sicht schade.

__________ 79 Die immer wieder diskutierte Abschaffung der KGaA wurde stets mit dem Hinweis blockiert, dass die Beibehaltung der Rechtsform bestimmten Unternehmen Gestaltungsoptionen eröffne, die ihnen ansonsten verschlossen blieben. Den Stillstand im KGaA-Recht daher bewusst als Chance zur Gestaltungsfreiheit begreifend Mertens (Fn. 59). 80 Vgl. Bachmann (Fn. 15), § 278 AktG Rz. 24 („konkret-teleologische Methode“).

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Rücklagenbildung und Gewinnausschüttung im Aktienrecht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Wirtschaftswissenschaftliche Erwägungen zu Rücklagenbildung und Ausschüttung 1. Trennung von Investitions- und Finanzierungsentscheidungen 2. Transaktionskosten und Steuern 3. Unterschiedliche Ausschüttungspräferenzen der Anleger 4. Ausschüttungen als Instrument der Management-Kontrolle III. Die Rücklagenbildung durch Vorstand und Aufsichtsrat gemäß § 58 Abs. 2 AktG 1. Unternehmenswertsteigerung als Handlungsziel 2. Das Handlungsermessen der Verwaltung 3. Unterschiedliche Ausschüttungspräferenzen der Anleger und Verwaltungspflichten

4. Durchsetzung der Verwaltungspflichten IV. Die Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung gemäß § 58 Abs. 3 AktG 1. Allgemeines 2. Rücklagenbildung, Ausschüttung und Gesellschaftszweck 3. Keine umfassende Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses 4. Die eingeschränkte Inhaltskontrolle gemäß § 254 Abs. 1 AktG 5. Anfechtung wegen Treuepflichtverletzung 6. Sonstige Rechtsbehelfe V. Ergebnisse

I. Einführung Im Normalfall, in dem Vorstand und Aufsichtsrat den Jahresabschluss feststellen (vgl. § 172 AktG), können sie einen Teil des Jahresüberschusses, höchstens jedoch die Hälfte, in „andere Gewinnrücklagen“1 einstellen (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AktG). Die Satzung kann Vorstand und Aufsichtsrat zur Einstellung eines größeren oder kleineren Teils des Jahresüberschusses ermächtigen; allerdings darf die Verwaltung aufgrund einer solchen Satzungsbestimmung keine Beträge in andere Gewinnrücklagen einstellen, wenn die anderen Gewinnrücklagen die Hälfte des Grundkapitals übersteigen oder soweit sie nach der Einstellung die Hälfte übersteigen würden (§ 58 Abs. 2 Satz 2, 3 AktG). Nach § 58 Abs. 3 AktG kann die Hauptversammlung sodann in ihrem Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns (vgl. § 174 AktG) weitere Beträge in Gewinn-

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1 Der Begriff der „anderen“ Gewinnrücklage versteht sich als Abgrenzung zu den in § 266 Abs. 3 A. III. Nrn. 1.–3. HGB genannten Gewinnrücklagen.

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rücklagen einstellen oder als Gewinn vortragen. Im Folgenden werden nach einer Sichtung wirtschaftswissenschaftlicher Erwägungen zu Thesaurierung und Ausschüttung (unten II.) die Pflichten und die Kontrolle der Entscheidungen über die Gewinnverwendung von Vorstand und Aufsichtsrat einerseits (unten III.) und der Hauptversammlung andererseits (unten IV.) erörtert. V. fasst die Ergebnisse zusammen. Die besonderen Rechtsfragen, die sich bei Rücklagenbildung in abhängigen Gesellschaften ergeben, werden nicht behandelt.

II. Wirtschaftswissenschaftliche Erwägungen zu Rücklagenbildung und Ausschüttung Die Kompetenz der Verwaltung zur Bildung von Rücklagen im Rahmen des § 58 Abs. 2 AktG besagt nicht, dass die Verwaltung in der Entscheidung darüber, ob dieser Ermächtigungsrahmen ganz oder teilweise ausgeschöpft werden oder umgekehrt auf eine Rücklagenbildung verzichtet und statt dessen Dividenden ausgeschüttet werden sollten, völlig frei und ungebunden wäre2. Aber welche Maßstäbe sind insoweit anzulegen? Mustert man die juristische Literatur hierauf durch, dann findet man – vornehmlich im älteren Schrifttum – die Ansicht, dass die Verwaltung das „Unternehmensinteresse“ an der Selbstfinanzierung mit den Ausschüttungsinteressen der Aktionäre abzuwägen habe3. Im neueren Schrifttum wird auf die ARAG-Garmenbeck – Entscheidung des Bundesgerichtshofes4 und inzwischen auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verwiesen5. Danach sei der Verwaltung bei Rücklagenentscheidungen ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zuzubilligen. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG umschreibt diesen Freiraum und seine Voraussetzungen jetzt so, dass eine Pflichtverletzung nicht vorliegt, wenn der Vorstand „bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“ Aber wann darf der Vorstand vernünftigerweise annehmen, bei einer Rücklagenentscheidung zum Wohl der Gesellschaft zu handeln, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmaß muss oder darf er Ausschüttungsinteressen der Anleger beachten, wann darf er sie zurücksetzen, und handelt es sich dabei um eine „unternehmerische Entscheidung“? Ist überhaupt ein – von

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2 S. nur Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 5. Lfg. 2001, § 58 AktG Rz. 45; Bayer in MünchKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 2003, § 58 AktG Rz. 38; Cahn in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, Bd. 1, 2007, § 58 AktG Rz. 34; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 10; Fleischer in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, Bd. 1, 2008, § 58 AktG Rz. 18 ff. Einschränkend Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 58 AktG Rz. 34: § 58 Abs. 2 Satz 1 AktG könne eine Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens der Verwaltung entnommen werden; vgl. dazu noch unten III.2. 3 Lutter (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 5; vgl. auch Hüffer (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 1: divergierende Interessen der Gesellschaftsleitung (Hervorhebung d. Verf.) an Selbstfinanzierung des Unternehmens und der anlageorientierten Aktionäre an für sie verfügbarer Kapitalrendite. 4 BGHZ 135, 244. 5 Bayer (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 38; Fleischer in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 20.

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den Interessen der Aktionäre zu unterscheidendes – Unternehmens- oder Gesellschaftsinteresse oder gar ein Interesse der Unternehmensleitung an Thesaurierung rechtlich anzuerkennen, und kann man dem undifferenziert ein Ausschüttungsinteresse der (aller?) Aktionäre entgegensetzen? Eingehendere Überlegungen zu Dividendenpolitik und Rücklagenbildung werden in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur angestellt6. Neben empirischen Angaben zum Ausschüttungsverhalten und zur Bedeutung der Innenfinanzierung in der Praxis7 sowie modelltheoretischen Aussagen zur Irrelevanz der Dividendenentscheidung auf vollkommenen Märkten8 finden sich dort auch Ausführungen zu der Frage, ob bei Annahme bestimmter Rahmenbedingungen (z. B. steuerlicher Bedingungen) wertsteigernde Ausschüttungs- oder Rücklageentscheidungen identifiziert werden können. Diese Ausführungen sind im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse, da sich aus ihnen möglicherweise Antworten auf die aufgeworfenen Fragen entwickeln lassen. 1. Trennung von Investitions- und Finanzierungsentscheidungen Häufig wird in der einschlägigen wirtschaftswissenschaftlichen Literatur modellhaft die Alternative Finanzierung eines Projekts oder einer Einzelinvestition durch thesaurierte Mittel mit der Alternative Gewinnausschüttung verglichen. Ausgangspunkt ist insoweit, dass zwischen Investitionsentscheidung und Finanzierungsentscheidung klar getrennt werden muss. Eine Entscheidung für Ausschüttung und gegen Rücklagenbildung bedeutet noch keine Absage an Investitionen, die mit Hilfe der ausgeschütteten Mittel hätten finanziert werden können, sondern nur eine Absage an eine Innenfinanzierung der Investition. Es sind also mit anderen Worten bei der Entscheidung über eine Innenfinanzierung von Investitionen oder die Ausschüttung von Dividenden zwei verschiedene Fragen zu beantworten: Erstens, ob das Management überhaupt über Projekte („Investitionsvorhaben“) verfügt, die eine Finanzierung verdienen (dazu sogleich); und zweitens ist eine Entscheidung über deren Innen- oder Außenfinanzierung zu treffen (dazu unten 2.–4.).

__________ 6 S. Drukarczyk, Finanzierung, 10. Aufl. 2008, S. 399 ff. m. Literaturnachweisen; ders., Theorie und Politik der Finanzierung, 2. Aufl. 1993, S. 415 ff.; Franke/Hax, Finanzwirtschaft des Unternehmens und Kapitalmarkt, 5. Aufl. 2004, S. 568 ff.; Rudolph (Fn. 1), S. 441 ff.; Volkart, Corporate Finance, 2. Aufl. 2006, S. 661 ff.; Brealey/Myers/ Allen, Principles of Corporate Finance, 8. Aufl. 2006, S. 415 ff.; Klein/Coffee, Business Organization and Finance. Legal and Economic Principles, 9. Aufl. 2004, S. 380 ff. – Ein Überblick über die (ältere) Literatur dazu findet sich in der juristischen Dissertation von Schütte, Die Dividendenentscheidung in der Aktiengesellschaft, 1994, S. 63 ff., 80 ff. 7 Dazu Wiegers, Kapitalmarktpolitik und Unternehmensfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 187 ff.; Monopolkommission, Hauptgutachten VII. (1986/87), 1988, S. 285 ff.; Drukarczyk, Finanzierung (Fn. 6), S. 383 f.; T. Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, S. 57 ff. 8 Dazu die grundlegende Arbeit von Modigliani/Miller, Dividend Policy, Growth and the Valuation of Shares, Journal of Business, Vol. 34, Nr. 4, 1961, S. 411 ff.

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Was die erste Frage betrifft, lässt sich festhalten, dass das Management keine Investitionen tätigen (und weder Mittel der Innen- noch der Außenfinanzierung dafür einsetzen) sollte, deren Nettokapitalwert („net present value“) negativ ist9. Anders formuliert sollte ein Projekt nicht unternommen werden, wenn es über seine gesamte Laufzeit hinweg nicht die Kapitalkosten erwirtschaftet. Außerdem sollten Projekte mit höherem Nettokapitalwert vorgezogen werden (sofern sie sich im Rahmen des in der Satzung festgelegten Unternehmensgegenstands bewegen10). Nun werden Rücklagen nicht nur dazu eingesetzt, Einzelprojekte oder Investitionen im Anlagevermögen zu finanzieren11. Sie können auch dazu verwandt werden, Verbindlichkeiten der Gesellschaft abzulösen, um die Eigenkapitalquote und damit die Finanzierungsstruktur der Gesellschaft zu verbessern; sie können am „internen“ Kapitalmarkt des Konzerns verbundenen Unternehmen zur Verfügung gestellt, oder sie können vorgehalten werden, um bei sich bietender Gelegenheit z. B. passende, aber noch nicht konkret feststehende Beteiligungen zu erwerben. Eine Ausschüttung kann ferner unterbleiben oder geringer ausfallen, um einen absehbaren Liquiditätsbedarf zu überbrücken oder auch, um allfällige Verluste in den folgenden Jahren ausgleichen und gleichwohl zur Ausschüttung einer gleichbleibenden Dividende imstande sein zu können. Das „Projekt“, in das in diesen Fällen mit der Einbehaltung von ausschüttungsfähigen Gewinnen investiert wird, ist das Unternehmen insgesamt. Auch insofern gilt aus ökonomischer Sicht das Gebot, dass die Anlage dieser Mittel im Unternehmen langfristig zumindest die Kapitalkosten decken sollte. 2. Transaktionskosten und Steuern Auch wenn zu erwarten steht, dass die Thesaurierung nicht zu einer Kapitalvernichtung, sondern im Gegenteil zu einer Steigerung des Unternehmenswertes führen wird, besagt das noch nicht, dass tatsächlich auf eine Ausschüttung verzichtet und Rücklagen gebildet werden sollten. Nehmen wir wieder vereinfachend das Beispiel einer Investition in ein zeitlich befristetes Einzelprojekt mit abgrenzbaren Aufwendungen und einschätzbaren Erlösen hierfür. Hier stellen sich, wenn das Projekt denn durchgeführt werden soll, zwei Alternativen: Entweder wird das Projekt aus thesaurierten Gewinnen finanziert, oder die Gewinne werden ausgeschüttet und statt dessen wird eine Außenfinanzierung vorgenommen. Nur in einer theoretischen Modellwelt ohne Transaktionskosten und unterschiedliche Steuersätze auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne wäre es aus Sicht des Unternehmens gleichgültig, ob die Investition aus einbehaltenen Gewinnen finanziert wird, oder ob die Gewinne ausgeschüttet werden, und zwecks Finanzierung eine Kapitalerhöhung durchgeführt wird. Auch für den Investor ist es in einer solchen Modellwelt ohne Belang, ob

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9 S. statt aller Volkart (Fn. 6), S. 276 ff. 10 Dazu Koch, Diversifizierung und Vorstandskompetenzen (Frankfurter wirtschaftsrechtliche Studien Bd. 40), 2000. 11 Zu den verschiedenen Zielen der Rücklagenpolitik etwa Wöhe, Bilanzierung und Bilanzpolitik, 9. Aufl. 1997, S. 677 ff.

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die Dividenden ausgeschüttet werden oder nicht, weil bei Ausschüttung der Wert seiner Aktien genau um den Betrag der ausgeschütteten Dividenden sinkt, und er sich bei Thesaurierung den einbehaltenen Betrag durch Veräußerung von Aktien am Sekundärmarkt transaktionskostenfrei verschaffen kann12. Verlässt man diese Modellwelt aber und betrachtet die Alternativen Ausschüttung oder Thesaurierung zunächst aus Sicht des Unternehmens, dann sprechen bei gleichbleibendem (Eigenkapital-)Finanzierungsbedarf die erheblichen Kosten einer Eigenkapitalaufnahme durch Emission junger Aktien insbesondere bei börsengehandelten Anteilen13 ceteris paribus für die Finanzierung durch thesaurierte Gewinne und gegen eine Ausschüttung verbunden mit einer Gegenfinanzierung durch Ausgabe junger Aktien. Bezieht man die Besteuerung mit ein, dann gilt dies jedenfalls für das gegenwärtig noch geltende Halbeinkünfteverfahren14 erst recht: Die Gesamtsteuerbelastung von Gesellschaft und im Inland steuerpflichtigen Anteilseignern fällt bei Thesaurierung niedriger aus als bei Ausschüttung und anschließender Kapitalaufnahme15. Das gilt auch dann, wenn es sich bei dem Dividendenempfänger um eine Kapitalgesellschaft handelt. Unter dem künftigen Abgeltungssteuersystem dürfte sich dieser Effekt noch verstärken16. Das alles spricht jedenfalls auf den ersten Blick dafür, dass die Verwaltung Dividenden nicht ausschütten sollte, wenn die einbehaltenen Gewinne im Unternehmen selbst profitabel in dem oben beschriebenen Sinne angelegt werden können. Dagegen werden aber mehrere Einwendungen erhoben: Die Präferenzen der Anleger könnten gleichwohl Ausschüttungen nahelegen (dazu sogleich unter 3.); und es werden principal-agent-Erwägungen angeführt, die für Ausschüttungen sprächen (dazu unten 4.). 3. Unterschiedliche Ausschüttungspräferenzen der Anleger Der erste Einwand lautet, dass die Anleger vielleicht über – unter Rendite- und Risikogesichtspunkten – profitablere Investmentmöglichkeiten als die Gesellschaft verfügen, und zwar selbst unter Berücksichtigung der mit der Ausschüttung für sie entstehenden Steuern, und sie deshalb den zur Ausschüttung zur Verfügung stehenden Jahresüberschuss erhalten sollten. Außerdem vermindert eine Ausschüttung im Vergleich mit einer Thesaurierung den Anteil am Vermögen des Anlegers, der einem bestimmten unternehmensspezifischen Risiko unterliegt, und trägt somit unter Umständen zur Risikodiversifizierung bei. Dem lässt sich für eine Gesellschaft mit auf einem liquiden Sekundärmarkt

__________ 12 Eingehend zu diesem Irrelevanztheorem Modigliani/Miller (Fn. 8) und die Nachweise zur Diskussion dazu bei Schütte (Fn. 6), S. 80 ff. 13 S. dazu die Nachweise bei Schütte (Fn. 6), S. 84 ff. 14 Zur Schütt-aus-hol-zurück-Politik unter dem früheren Anrechnungsverfahren etwa Olfert, Finanzierung, 9. Aufl. 1997, S. 321, 325 f. 15 Jacobs, Unternehmensbesteuerung und Rechtsform, 3. Aufl. 2002, S. 504 ff., 510; Birk, Steuerrecht, 10. Aufl. 2007, S. 367 ff., 370. 16 S. dazu etwa Kessler/Ortmann-Babel/Zipfel, BB 2007, 523 ff.; Rödder, Unternehmenssteuerreformgesetz 2008, DStR-Beihefter 2007, 2 ff.

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gehandelten Anteilen entgegnen, dass derjenige Aktionär, der über profitablere Investmentmöglichkeiten verfügt oder das unternehmensspezifische Risiko senken möchte, den einer Dividendenausschüttung äquivalenten Teil seiner Aktien verkaufen und den Erlös wie eine Ausschüttung investieren kann17. Dieser Weg ist allerdings nur im Rahmen eines umfassenderen Portfoliomanagements gangbar, das verhütet, dass Verkäufe einzelner Aktienwerte zur Unzeit getätigt werden müssen und dadurch Verluste realisiert werden. Außerdem mag eine solche „Selbstbeschaffung“ der Dividende über den Kapitalmarkt für den Investor, der z. B. eine Sperrminorität hält und diese nicht aufgeben möchte, aus diesem Grunde ausscheiden. Für die Gesellschaft mit nicht börsengehandelten Anteilen trägt diese Überlegung ohnehin nicht. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur ist der Verwaltung daher empfohlen worden, dem „Residualprinzip“ zu folgen: Die Verwaltung solle auf Rücklagenbildung verzichten und der Hauptversammlung die Ausschüttung des Bilanzgewinns vorschlagen, wenn die Gesellschaft diese Mittel nicht profitabler als die Aktionäre anlegen könne18. Die Befolgung dieses Prinzips stößt allerdings auf folgende Schwierigkeiten: Erstens weiß die Verwaltung nicht in jedem Fall und ohne weiteres, ob die Aktionäre – unter Berücksichtigung der mit der Ausschüttung für sie individuell verbundenen Steuern und Kosten – über profitablere Investitionsmöglichkeiten verfügen als die Gesellschaft selbst. Zweitens mag es sein, dass nur einzelne und nicht alle Aktionäre über solche Möglichkeiten verfügen. Drittens möchten Investoren vielleicht selbst ertragreichere Investments gar nicht wahrnehmen, sei es, weil sie risikoavers sind, sei es, weil z. B. bei institutionellen Investoren ihnen ihre Anlagepolitik bestimmte Anlagen in bestimmten Sparten oder Werten vorgibt. Wie sollte die Verwaltung in einem solchen Fall entscheiden? Die Verwaltung könnte zunächst darauf verweisen, dass die unterschiedlichen Ausschüttungspräferenzen der Anleger von diesen in der Entscheidung der Hauptversammlung zum Ausdruck gebracht werden können, die gemäß § 58 Abs. 3 AktG mangels abweichender Satzungsbestimmung über die Ausschüttung oder Thesaurierung der Hälfte des Jahresüberschusses (nach Korrektur19) verfügt; dabei mag sich dann in Bezug auf diesen Teil des Jahresüberschusses eine von der Politik der Verwaltung abweichende Ausschüttungspolitik durchsetzen. Dem hierbei überstimmten, in der Minderheit befindlichen Investor ist

__________ 17 Steuerlich gesehen ist dieser Weg unter dem geltenden Einkommensteuerrecht für den Privatanleger, der nicht wesentlich beteiligt ist (§ 17 EStG) und die Aktie nicht in der Spekulationsfrist (§ 23 EStG) verkauft, sogar günstiger als eine Ausschüttung. Zum künftigen Recht s. aber Kessler u. a. (Fn. 16), S. 524. 18 Drukarczyk, Finanzierung, 9. Aufl. 2003, S. 363 ff. 19 Der Jahresüberschuss, der mangels abweichender Satzungsbestimmung zur Hälfte von der Verwaltung ausgeschüttet oder einbehalten werden kann, ist um die Posten nach § 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AktG zu korrigieren, um zum „Bilanzgewinn“ i. S. d. § 58 Abs. 3 AktG zu gelangen; Einzelheiten bei Cahn in Spindler/Stilz (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 16 f.

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damit freilich noch nicht geholfen20. Außerdem löst diese salomonische Empfehlung das Dilemma gegenläufiger Ausschüttungspräferenzen nicht wirklich. Statt einer notwendig einheitlich für alle Aktionäre geltenden Entscheidung über Ausschüttung oder Rücklagenbildung ließen sich unterschiedliche Ausschüttungspräferenzen der Anleger an sich besser durch ein Aktienrückkaufprogramm der Gesellschaft bedienen. Jeder Investor kann dann anders als im Fall einer Dividendenausschüttung für sich entscheiden, ob er hieran teilnimmt oder nicht. Ein Rückkaufprogramm ist in der Höhe möglich, in der auch eine Ausschüttung in Betracht käme (§ 71 Abs. 2 Satz 2 AktG). In steuerlicher Hinsicht ist ein Rückkaufprogramm nach derzeit (noch21) geltender Rechtslage für den Anleger sogar günstiger als eine Dividendenausschüttung. Allerdings handelt es sich wegen der starren Beschränkungen des Rückerwerbs eigener Aktien nach geltendem Recht22 (vgl. nur § 71 Abs. 1 Nr. 8, Abs. 2 Satz 1 AktG) um ein recht unflexibles und überdies kostenträchtiges Ausschüttungsverfahren, das nur ausnahmsweise in Betracht kommt und eine Regelausschüttung durch Zahlung von Dividenden nicht ersetzen kann23. Die Verwaltung kann in Gesellschaften mit nicht börsengehandelten Anteilen ferner dabei mitwirken, einen privaten Sekundärmarkt zu organisieren und zum Beispiel durch Gestattung einer due diligence den Verkauf von Anteilen einzelner Anleger ermöglichen und diesen dadurch zu der geforderten Liquidität verhelfen. Auch diese Alternative ist freilich mit Kosten verbunden und mag für Investoren, die an einer bestimmten Aktienquote festhalten wollen oder der Preisbildung für die Aktien bei privaten Veräußerungsgeschäften nicht trauen, nicht akzeptabel sein. Dies alles kann im Ergebnis dazu führen, dass die Verwaltung statt dessen eine stetige Dividendenpolitik verfolgt, also trotz steuerlicher Nachteile eine mehr oder weniger gleichbleibende, mäßig wachsende Dividende anstrebt24 und im übrigen Rücklagen bildet, um auf diese Weise den divergierenden Präferenzen

__________ 20 S. zu Mehrheits-/Minderheitskonflikten gesondert unten IV. 21 Vgl. Fn. 16. 22 Erleichterungen werden sich insoweit nach der Umsetzung der Änderungsrichtlinie der EU v. 6.9.2006 ergeben (Richtlinie 2006/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.9.2006, ABl. EU Nr. L 264, 32). 23 Eingehend zur Austauschbarkeit von Aktienrückkauf und Dividendenausschüttung T. Bezzenberger, Erwerb eigener Aktien durch die AG, 2002, S. 51 ff. Wegen der anderen Rechtslage in den USA haben dort Aktienrückkaufprogramme statt Dividendenzahlungen eine ganz andere praktische Bedeutung; vgl. nur Allen/Michaely, Payout Policy in Constantinides/Harris/Stulz (Hrsg.), Handbook of the Economics of Finance: Corporate Finance, Bd. 1A, 2003, S. 337 ff., 342 ff. 24 Formal erfordert dies, dass die Verwaltung soviel an Jahresüberschuss von der Einstellung in Rücklagen ausnimmt, dass unter Berücksichtigung der Posten gemäß § 158 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AktG die angestrebte Dividende der Hauptversammlung zur Ausschüttung vorgeschlagen werden kann (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). Übersteigt der Bilanzgewinn die angestrebte Dividende, schlägt die Verwaltung hinsichtlich des übersteigenden Teils eine Rücklagenbildung gemäß § 58 Abs. 3 AktG vor.

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der Anleger Rechnung zu tragen25. Die Anleger können sich dann ex ante bei ihrer (Wieder-)Anlageentscheidung entsprechend ihren Präferenzen darauf einstellen, ob die Gesellschaft, an der sie sich beteiligen, auch in der absehbaren Zukunft voraussichtlich keine Dividenden ausschütten wird (Beispiel: eine wachsende Leasinggesellschaft, die wegen des hohen Abschreibungsaufwands auf die Leasinggüter trotz ihres operativen Gewinns keinen bilanziellen Jahresüberschuss ausweisen kann), oder ob eine Gesellschaft bereits bisher eine mehr oder weniger stabile Dividende ausgeschüttet hat und mit der Fortsetzung dieser Politik zu rechnen ist. Mit einer berechenbaren Ausschüttungspolitik kommt die Gesellschaft auch solchen Anlegern entgegen, denen aus Liquiditäts- oder Konsumgründen an einer stetigen Ausschüttung liegt. Aus der Sicht des Managements ist eine stetige Dividendenpolitik vorteilhaft, weil stärkere Schwankungen zu vermehrten Konflikten mit den Anteilseignern führen dürften. 4. Ausschüttungen als Instrument der Management-Kontrolle Ein weiterer Einwand gegen die Thesaurierung des Jahresüberschusses durch die Verwaltung bleibt zu erörtern, der in der ökonomischen Literatur als Kapitalfehlleitungsgefahr infolge von „agency“ – Problemen thematisiert wird. Rechtlich führt dieser Einwand zu der Frage, ob die Verwaltung bei einer Thesaurierungsentscheidung sachlich unbefangen handelt und damit den Entscheidungsfreiraum des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG für sich in Anspruch nehmen kann, oder ob bei Thesaurierungsentscheidungen Eigeninteressen der Verwaltung im Spiel sind oder sein können, die eine Berufung auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausschließen26. In der Literatur ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass Manager tendenziell Rücklagen bevorzugten, und zwar auch zum Nachteil der Gesellschaft und ihrer Eigenkapitalgeber, wenn es an hinreichender Kontrolle und gegenläufigen Anreizen, zum Beispiel durch eine entsprechend gestaltete Struktur der Vergütung, fehle. Bei Ausschüttung von Finanzmitteln müssten sie sich diese nämlich erforderlichenfalls wieder im Wege der Außenfinanzierung besorgen und dem Kapitalmarkt oder Kreditinstitut den Finanzierungsbedarf, etwa eine geplante Investition, erläutern und rechtfertigen. Bei Thesaurierung entscheide dagegen nicht der Kapitalgeber (mit) über den Finanzmitteleinsatz, sondern allein die Verwaltung. Außerdem nütze dem Management persönlich der Einbehalt von Mitteln im eigenen Unternehmen selbst dann, wenn alle Anleger über profitablere Verwendungsmöglichkeiten verfügten. Thesaurierung und Reinvestition im eigenen Unternehmen unterstützten tendenziell weniger profitable Diversifizierungs- und Expansionsstrategien, soweit Ausschüttungsentscheidungen nicht vom Votum der Eigenkapitalgeber abhingen,

__________

25 Dazu, dass dieses Ausschüttungsverhalten in der Praxis weit verbreitet ist, Drukarczyk, Finanzierung (Fn. 6), S. 375 ff.; für die USA Nachweise im gleichen Sinne bei Allen/Michaely (Fn. 23). Zu Behavioral Finance – Erklärungen der Dividendenpolitik der Unternehmen Breuer/Hartmann, ZfbF 55 (2003), 343 ff. 26 Dazu unten III.2.

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sondern allein von der Entscheidung der Verwaltung. Denn das Management profitiere von solchen Strategien der Diversifizierung und Expansion auch bei niedrigen Renditen, da Diversifizierung das Arbeitsplatzrisiko der Manager senke und Expansion ihnen zu verschiedenen denkbaren, mit „Empirebuilding“ verbundenen Vorteilen verhelfe27. Diese Annahmen mögen mehr oder weniger zutreffen. Ob sie sogar rechtfertigen, die Thesaurierungsentscheidung kraft zwingenden Gesetzesrechts Vorstand und Aufsichtsrat völlig28 aus der Hand zu nehmen oder einen Zwang zu Mindestausschüttungen vorzusehen29, ist eine rechtspolitische Frage, der hier nicht nachzugehen ist. An dieser Stelle geht es lediglich um die Frage, ob es im Hinblick auf die angedeuteten Thesaurierungsinteressen der Verwaltung de lege lata zutreffend erscheint, die Unbefangenheit der Verwaltung zu verneinen und ihr damit die Berufung auf die Vermutung pflichtkonformen Verhaltens gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu verweigern30. Das ist schon aus praktischen Gründen abzulehnen. Die Folge wäre nämlich sonst die, dass die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat die fehlende Pflichtwidrigkeit ihrer Thesaurierungsentscheidung im Einzelnen darzulegen (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG), und die Gerichte diese Entscheidung inhaltlich zu überprüfen hätten. Eine solche Lösung würde auch der vom Gesetzgeber in § 58 Abs. 2, 3 AktG getroffenen Regelung widersprechen. Denn dadurch hat bereits der Gesetzgeber selbst einerseits dafür Sorge getragen, dass die Verwaltung nicht den gesamten Jahresüberschuss in Rücklagen einstellen kann, ihr andererseits aber ein in § 58 Abs. 2 AktG nicht näher eingeschränktes Ermessen eingeräumt, durchaus in Kenntnis und nach Erörterung der mit einer Ausschüttungskompetenz der Verwaltung verbundenen Problematik31. Einer Hauptversammlung,

__________ 27 S. die eingehende Darstellung und die Nachweise zur Literatur bei Schütte (Fn. 6), S. 125 ff.; Allen/Michaely (Fn. 23), S. 384 ff. 28 Immerhin entscheidet nach deutschem Recht die Hauptversammlung im gesetzlichen Regelfall, vergröbert formuliert (vgl. oben Fn. 19), über die Verwendung der Hälfte des ausschüttungsfähigen Jahresüberschusses (§ 58 Abs. 3 i. V. m. § 58 Abs. 2 AktG); durch Satzungsbestimmung kann sie, zurückgehend auf eine Empfehlung der Regierungskommission Corporate Governance, seit 2002 der Verwaltung die Kompetenz zur Bildung von Gewinnrücklagen sogar völlig entziehen (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AktG); vgl. Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, BT-Drucks. 14/7515, S. 93 (Abdruck bei Baums [Hrsg.], Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rz. 197). 29 Dazu für die Zeit vor der Aktienrechtsreform 1965 Schmalenbach, Die Aktiengesellschaft, 7. Aufl. 1950, S. 144 f. sowie die eingehende Darstellung der Diskussion vor Erlass des AktG 1965 bei Bahrenfuss, Die Entstehung des Aktiengesetzes von 1965, 2000, S. 688 ff.; für die Zeit nach Erlass des AktG 1965 insbesondere Pütz/ Willgerodt, Gleiches Recht für Beteiligungskapital, 1985, S. 113 ff.; Wagner, Ausschüttungszwang und Kapitalentzugsrechte als Instrumente marktgelenkter Unternehmenskontrolle, in D. Schneider (Hrsg.), Kapitalmarkt und Finanzierung, 1986, S. 409 ff.; Monopolkommission (Fn. 7), S. 287 ff.; Schütte (Fn. 6), passim; zu Aktienzinsen als Instrument der Verwaltungskontrolle Baums, Das Zinsverbot im Aktienrecht, in FS Horn, 2006, S. 249 ff., 253 ff. 30 Zur Ableitung der Voraussetzung der Unbefangenheit der Verwaltung aus der Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG s. nur Hüffer (Fn. 2), § 93 AktG Rz. 4g. 31 Vgl. dazu insbesondere den Ausschussbericht bei Kropff, AktG, 1965, S. 76 f.

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die sich dem nicht aussetzen möchte, steht es überdies frei, durch eine Satzungsbestimmung die Thesaurierungskompetenz der Verwaltung ganz auszuschließen (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AktG). Gegenüber dem übermäßigen Aufbau von „free cash flow“ und „Empire-building“ ist im übrigen auf Marktmechanismen zu setzen32. Aus diesen Gründen braucht hier nicht der bisher in der Literatur nicht erörterten Frage nachgegangen zu werden, ob zur Annahme der Befangenheit der Verwaltung eine typisierende Betrachtung überhaupt genügt, oder ob diese konkret im Einzelfall auch bestehen muss, wenn der Handlungsfreiraum des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entfallen soll. Die mögliche Divergenz zwischen Anleger – und Verwaltungsinteressen tritt noch schärfer hervor, wenn sich die Vergütung der Vorstände bei Ausschüttung von Dividenden im Vergleich zur Rücklagenbildung nachteilig ändert. Das kann insbesondere bei Aktienoptionsplänen eintreten, wenn der Wert der Optionen sich am Aktienkurs der Gesellschaft und nicht an ihrer Aktienrendite orientiert33. Auch insofern ist eine Wahrnehmung der Anlegerinteressen nicht von einer Beschränkung des Verwaltungsermessens durch gesteigerte richterliche Kontrolle der Rücklagenentscheidung zu erhoffen, sondern davon, dass der Aufsichtsrat die Vorstandsvergütung auf überzeugende Vergleichsparameter bezieht34.

III. Die Rücklagenbildung durch Vorstand und Aufsichtsrat gemäß § 58 Abs. 2 AktG Was legen die bisherigen Überlegungen in rechtlicher Hinsicht nahe, und wie sind sie aus rechtlicher Sicht zu ergänzen? Wie oben gezeigt wurde, trennt die ökonomische Debatte im Ansatz deutlich zwischen dem allgemeinen Handlungsziel (Unternehmenswertsteigerung), an dem die mit einer Rücklagenbildung finanzierten Maßnahmen zu messen sind, und den Handlungsalternativen (Rücklagenbildung oder Ausschüttung und Außenfinanzierung). Diese Unterscheidung ist auch aus rechtlicher Sicht wertvoll; allerdings sind, wie sich zeigen wird, nicht alle ökonomischen Handlungsgebote auch sogleich in Rechtspflichten auszumünzen. 1. Unternehmenswertsteigerung als Handlungsziel Was zunächst das Handlungsziel betrifft, sind aus rechtlicher Sicht zwei Anmerkungen angebracht. Wenn die Gesellschaft ein Unternehmen mit erwerbswirtschaftlicher Zielsetzung betreibt, dann ist damit auch die Unternehmens-

__________ 32 S. dazu den klassischen Aufsatz von Jensen, Agency Cost of Free Cash Flow, Corporate Finance, and Takeovers, American Economic Review 76, 1986, 323 ff. 33 Baums, Aktienoptionen für Vorstandsmitglieder, in FS Claussen, 1997, S. 3 ff., 14, 16 f. unter Hinweis auf empirische Studien in Fn. 70; Klein/Coffee (Fn. 6), S. 301 f., 390. 34 Ausdrücklich dazu (für börsennotierte Gesellschaften) Ziff. 4.2.3 Deutscher Corporate Governance Kodex.

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wertsteigerung als Leitmaxime des Handelns von Vorstand und Aufsichtsrat vorgegeben; die Gewinnerzielung ist der „Zweck“ einer solchen Gesellschaft. Nur lässt sich aus diesem allgemeinen Zweck oder Handlungsziel nicht ableiten, dass Vorstand und Aufsichtsrat eine Thesaurierungsentscheidung nur treffen dürften, wenn davon oder von der mit thesaurierten Mitteln finanzierten Maßnahme konkret eine messbare Unternehmenswertsteigerung erwartet werden kann. Zulässig ist eine Rücklagenbildung auch dann, wie § 254 Abs. 1 AktG für die Thesaurierungsentscheidung der Hauptversammlung belegt (für die Rücklagenentscheidung der Verwaltung gilt insoweit35 nichts anderes), wenn sie vorgenommen wird, „um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Notwendigkeiten übersehbaren Zeitraum zu sichern.“ Voraussetzung ist nach dieser Vorschrift nicht, dass mit den thesaurierten Mitteln eine Maßnahme finanziert wird, die eine „Unternehmenswertsteigerung“ in dem oben unter II.1. beschriebenen Sinne erwarten lässt. Die zweite Anmerkung betrifft den „Einschätzungsfreiraum“ oder „Beurteilungsspielraum“, den die Verwaltung in rechtlicher Hinsicht bei der Beurteilung genießt, ob eine Rücklagenentscheidung oder die mit ihr finanzierte Maßnahme dem Ziel der Unternehmenswertsteigerung oder der „Stärkung der Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft“ dient. Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Maßnahme hierzu beitragen kann, handelt es sich um eine „unternehmerische“ Entscheidung mit Prognosecharakter, die deshalb in ihrem Kern nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gerichtlicher Kontrolle entzogen ist. 2. Das Handlungsermessen der Verwaltung a) Einen ähnlichen Freiraum kann die Verwaltung in Anspruch nehmen, wo es um die Auswahl der Handlungsalternativen geht, die ihr zur Verfolgung der aufgezeigten Ziele zur Verfügung stehen, also bei der Frage, ob und in welchem Umfang der Jahresüberschuss thesauriert werden soll, oder ob er zur Ausschüttung freigegeben werden und statt dessen erforderlichenfalls eine Gegenfinanzierung durch Kapitalaufnahme von außen erfolgen soll. Auch dabei handelt es sich um eine „unternehmerische“ und deshalb in ihrem Kern gerichtlicher Kontrolle entzogene Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Daran ändert sich nichts durch die Beobachtung, dass der Vorstand Rücklagenentscheidungen tendenziell bevorzugen mag36. Die Norm des § 58 Abs. 2 AktG will, wie ihr Wortlaut, der systematische Zusammenhang und die Entstehungsgeschichte ergeben, gerade diesen Beurteilungs- und Handlungsspielraum der Verwaltung in dem (eingeschränkten) Bereich bekräftigen, in dem Vorstand und Aufsichtsrat über eine Rücklagenbildung nach dieser Vorschrift zu befinden haben37. Allerdings eröffnet § 58 Abs. 2 AktG keinen Freiraum für

__________ 35 Dazu, dass sich aus § 254 Abs. 1 AktG keine Einschränkung des Handlungsermessens der Verwaltung ergibt, sogleich unter 2. 36 Dazu bereits oben unter II.4. 37 So auch BGHZ 55, 359, 362 f.

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willkürliche kontrollfreie Entscheidungen der Verwaltung. Auch zu einer aus dieser Vorschrift abgeleiteten voraussetzungslosen „Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens“ bei Rücklagenentscheidungen38 besteht jedenfalls heute in Anbetracht der allgemeinen Vorschrift des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kein Anlass mehr39; nach dieser in das Aktiengesetz neu eingefügten Vorschrift ist pflichtgemäßes Verhalten zu vermuten, wenn die Vorstandsmitglieder deren tatsächliche Voraussetzungen dartun können40. b) Das Handlungsermessen der Verwaltung schrumpft allerdings in folgendem Fall auf eine Thesaurierungspflicht: Nach einer allgemeinen Regel darf der Vorstand den Bestand der Gesellschaft nicht gefährden41. Die Verwaltung kann daher ausnahmsweise sogar zu einer Thesaurierung verpflichtet sein, wenn anders der Bestand der Gesellschaft konkret gefährdet würde, insbesondere weil eine Ausschüttung einen sonst nicht behebbaren Liquiditätsengpass auslösen würde. Weitere Einschränkungen des Handlungsermessens der Verwaltung, die aus der Behauptung einer bestimmten Relation der Gewinnrücklagen zur Grundkapitalziffer oder aus § 254 AktG abgeleitet werden könnten, sind dagegen abzulehnen. c) Zunächst einmal lässt sich gegen eine Innenfinanzierung durch Rücklagenbildung nicht einwenden, dass die Aktionäre bei der Gründung der Gesellschaft bzw. einer späteren Kapitalerhöhung mit der Festlegung der Höhe der Einlagen in Höhe der Grundkapitalziffer ein bestimmtes Maß an Eigenkapitalfinanzierung festgelegt hätten, das nicht durch übermäßige Rücklagenbildung überschritten werden dürfe. Eine solche Argumentation könnte etwa wie folgt lauten: Der Festlegung der Gesamtsumme der Einlagen durch die Nennung der Grundkapitalziffer in der Satzung sowie dem Fehlen einer Satzungsermächtigung im Sinne des § 58 Abs. 2 Satz 2 AktG zur Bildung weiterer Rücklagen sei der Wille des Satzungsgebers zu entnehmen, den Anteil des Eigenkapitalengagements der Aktionäre zu begrenzen; jedenfalls dürfe dieses Engagement nicht durch Rücklagenentscheidung der Verwaltung auf ein Vielfaches der satzungsmäßig festgelegten Einlagen erhöht werden. Diese Argumentation würde sich unmittelbar mit der gesetzlichen Regelung in Widerspruch setzen. Das Aktiengesetz legt, anders als für die gesetzlich zu bildende Rücklage (vgl. § 150 AktG), keine Relation zwischen Grundkapitalziffer und (höchstens) zu bildenden freiwilligen Rücklagen fest. Nur für den Fall, dass die Satzung Vorstand und Aufsichtsrat ausdrücklich dazu ermächtigt, mehr als die Hälfte des Jahresüberschusses in andere Gewinnrücklagen

__________ 38 S. dazu oben Fn. 2. 39 So auch Fleischer in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 20. 40 Zur ähnlich eingeschränkten Kontrolle der Dividenden – bzw. Rücklagenentscheidung des Board einer Gesellschaft durch die Gerichte nach US-amerikanischem Recht Abeltshauser, Leitungshaftung im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 69 ff. m. Nachweisen. 41 Zum Verbot der „Bestandsgefährdung“ etwa Hüffer (Fn. 2), § 76 AktG Rz. 13 m. Nachweisen.

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einzustellen, greift die Beschränkung des § 58 Abs. 2 Satz 3 AktG ein, wonach aufgrund einer solchen Satzungsbestimmung keine Beträge in andere Gewinnrücklagen eingestellt werden dürfen, wenn die anderen Gewinnrücklagen die Hälfte des Grundkapitals übersteigen oder soweit sie nach der Einstellung die Hälfte übersteigen würden. Man mag die Beschränkung dieser Vorschrift auf den Fall, dass eine entsprechende Satzungsbestimmung besteht, rechtspolitisch für verfehlt halten; de lege lata ist daran nicht zu rütteln42. Da es nun aber dem Satzungsgeber nach der gesetzlichen Regelung freisteht, durch eine entsprechende Satzungsgestaltung das Ermessen der Verwaltung hinsichtlich der Rücklagenbildung zu beschränken (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AktG), und bei Fehlen einer solchen Satzungsbestimmung das Ermessen der Verwaltung mit Ausnahme der Beschränkung auf die Hälfte des Jahresüberschusses (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AktG) nicht begrenzt ist, kann bei Fehlen einer einschränkenden Satzungsbestimmung nicht bereits aus der Festlegung der Höhe der Einlagen der Aktionäre geschlossen werden, dass diese ihr „Eigenkapitalengagement“ hierauf und auf die kraft Gesetzes zu bildenden Rücklagen beschränken wollten. d) Auch aus § 254 Abs. 1 AktG ist keine Einschränkung der Rücklagenbildung seitens der Verwaltung abzuleiten. Nach dieser Vorschrift kann der Beschluss der Hauptversammlung über die Verwendung des Bilanzgewinns angefochten werden, wenn die Hauptversammlung aus dem Bilanzgewinn Beträge in Gewinnrücklagen einstellt, obwohl die Einstellung „bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung nicht notwendig ist, um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Notwendigkeiten übersehbaren Zeitraum zu sichern und dadurch unter die Aktionäre kein Gewinn in Höhe von mindestens vier vom Hundert des Grundkapitals abzüglich von noch nicht eingeforderten Einlagen verteilt werden kann.“ Diese Vorschrift schränkt nur die Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung, nicht die Rücklagenentscheidung der Verwaltung ein. Die Verwaltung mag zwar allgemein und so auch bei ihrem Beschlussvorschlag zur Gewinnverwendung darauf zu achten haben, dass keine gesetzwidrigen Beschlüsse gefasst werden43. Ob dies auch bedeutet, dass sie der Hauptversammlung keine vollständige Thesaurierung vorschlagen darf, wenn dies den Anfechtungsgrund des § 254 Abs. 1 AktG auslösen könnte, kann hier offen bleiben. Jedenfalls ist daraus nicht zu folgern, dass die Verwaltung bereits ihrerseits insoweit keine Rücklagen bilden darf, als diese Thesaurierung „bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung nicht notwendig ist, um die Lebens-

__________ 42 Henze (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 42; Bayer (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 42; Cahn in Spindler/ Stilz (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 37; a. A. aber Wöhe (Fn. 11), S. 594; vgl. dagegen ausdrücklich Kropff (Fn. 31), S. 77. In der Praxis finden sich denn auch häufig Fälle, in denen die gesetzlichen und anderen Gewinnrücklagen ein Mehrfaches der Grundkapitalziffer ausmachen; vgl. nur die Tabelle bei Monopolkommission (Fn. 7), S. 285 ff. 43 Einzelheiten zu den Vorstandspflichten hinsichtlich gesetzwidriger Beschlüsse bei Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 6. Lfg. 1996, § 243 AktG Rz. 71, § 245 AktG Rz. 32, sowie bei Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 11. Lfg. 1999, § 93 AktG Rz. 322 ff.

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und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Notwendigkeiten übersehbaren Zeitraum zu sichern und dadurch unter die Aktionäre kein Gewinn in Höhe von mindestens vier vom Hundert des Grundkapitals abzüglich von noch nicht eingeforderten Einlagen verteilt werden kann.“ Denn das Anfechtungsrecht des Aktionärs bezieht sich eben nicht auf den Fall, dass der gesamte Jahresüberschuss eine solche Mindestausschüttung gestatten würde, sondern nur auf den Fall, dass der verbleibende Bilanzgewinn diese gestattet44. 3. Unterschiedliche Ausschüttungspräferenzen der Anleger und Verwaltungspflichten Eine weitere Frage, die sich im vorliegenden Zusammenhang stellt, geht dahin, wie die Verwaltung mit dem Dilemma unterschiedlicher Ausschüttungspräferenzen der Aktionäre aus rechtlicher Sicht umzugehen hat. Insoweit ist folgendes festzuhalten. Die Verwaltung ist weder verpflichtet noch auch nur berechtigt, ohne Rücksicht auf gegenläufige Ausschüttungspräferenzen anderer Anleger den Jahresüberschuss ganz oder zum Teil im Hinblick darauf zur Ausschüttung freizugeben, dass einzelne individuelle Anleger, etwa der Mehrheitsaktionär, über profitablere Anlagemöglichkeiten verfügen, oder dass für sie die Ausschüttungsentscheidung zu günstigeren steuerlichen Konsequenzen als eine Thesaurierung führt, oder dass sie besondere Liquiditätsbedürfnisse haben. Dabei handelt es sich um individuelle, nicht in der Mitgliedschaft angelegte Gegebenheiten, an denen die Verwaltung ihre Ausschüttungsentscheidung nicht ausrichten darf, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass dadurch andere Anleger mit anderen Präferenzen nachteilig betroffen würden. Wohl aber darf die Verwaltung eine typisierende Betrachtung vornehmen, auch wenn dies für einzelne Anlegergruppen wegen deren Interessen an einer Thesaurierung bzw. Ausschüttung im Vergleich mit der gegenläufigen Entscheidung der Verwaltung zu Nachteilen führt. So kann die Gesellschaft zum Beispiel das Ziel der Ausschüttung einer stetigen Dividende verfolgen; dies ermöglicht den Anlegern vor der (Wieder-)Anlageentscheidung eine Einschätzung, ob dies mit ihren Präferenzen übereinstimmt. Oder die Verwaltung eines Unternehmens, das aus der Vermarktung eines Patents derzeit noch hohe Erlöse erzielt, aber absehbar nicht über ähnlich profitable Möglichkeiten der Wiederanlage dieser Erlöse im Rahmen des Unternehmensgegenstands verfügt, mag sich dazu entschließen, diese Erlöse zur Ausschüttung an die Anteilseigner freizugeben, auch wenn die Ausschüttung wegen der individuellen steuerlichen Gegebenheiten und Wiederanlagemöglichkeiten der Aktionäre diesen unterschiedlich willkommen sein kann und für den einen oder anderen Anleger auch im Vergleich zu einer Thesaurierungsentscheidung sogar zu einem

__________ 44 H. M., vgl. nur Henze (Fn. 2), § 58 AktG Rz. 38 m. Nachweisen; s. auch BGHZ 55, 359, 364 f. (zu der Debatte, ob eine Satzungsbestimmung im Sinne des § 58 Abs. 2 Satz 2 AktG eine § 254 Abs. 1 AktG entsprechende Mindestausschüttung durch die Verwaltung vorsehen muss).

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Nachteil führt. Letzten Endes wird dies auch vom Gesetzgeber selbst hingenommen, wie § 254 AktG zeigt. Der Anfechtungsgrund des § 254 Abs. 1 AktG gilt zwar nicht für die Rücklagenentscheidung der Verwaltung, sondern nur für die Gewinnverwendung durch die Hauptversammlung45. Dieser Vorschrift lässt sich aber die Wertung entnehmen, dass die Hauptversammlung eine Mindestausschüttung beschließen soll, wenn die Verhältnisse der Gesellschaft dies gestatten, und zwar insoweit ohne Rücksicht auf divergierende Ausschüttungspräferenzen einzelner Anleger oder Anlegergruppen. Das Dilemma unterschiedlicher Ausschüttungspräferenzen kann die Verwaltung auch, ohne ihre Pflichten zu verletzen, durch alternative Verfahren lösen, etwa indem sie ein Aktienrückkaufprogramm auflegt oder in Gesellschaften mit nicht börsengehandelten Anteilen dazu beiträgt, dass Anteile verkauft werden können. 4. Durchsetzung der Verwaltungspflichten Wie wird nun die Beachtung dieser für die Rücklagenentscheidung der Verwaltung formulierten Grundsätze rechtlich gewährleistet? a) Eine erste institutionelle Sicherung ist in der in § 58 Abs. 2, 3 AktG angelegten Kompetenzspaltung zwischen Verwaltung und Hauptversammlung zu sehen. Diese soll dem angedeuteten Thesaurierungsinteresse der Verwaltung entgegenwirken und einem angenommenen, typisierten Anlegerinteresse an Mindestausschüttungen Rechnung tragen. Der Satzungsgeber kann hiervon zwar insofern abweichen, als er die Verwaltung zur Einstellung des gesamten Jahresüberschusses in andere Gewinnrücklagen ermächtigen kann (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AktG)46. Allerdings gilt dann die weitere Schranke, dass die anderen Gewinnrücklagen nicht mehr als die Hälfte des Grundkapitals der Gesellschaft ausmachen dürfen (§ 58 Abs. 2 Satz 3 AktG). Eine zweite institutionelle Sicherung liegt darin, dass nicht der Vorstand allein die Entscheidung nach § 58 Abs. 2 Satz 1 AktG trifft, sondern Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam hierüber zu befinden haben. Allerdings ist der Aufsichtsrat im deutschen Recht seiner Konzeption nach kein Aktionärsausschuss, und er wird, insbesondere in mitbestimmten Gesellschaften, aber nicht nur dort, auch nicht als Organ zur ausschließlichen Vertretung der Interessen der residualberechtigten Eigenkapitalgeber aufgefasst47. b) Ein weiteres Sicherungsinstrument bildet die Nichtigkeitsklage. Hat die Verwaltung bei der Feststellung des Jahresabschlusses die Bestimmungen des

__________ 45 Vgl. Text zu Fn. 44; eingehend zur Anfechtung gemäß § 254 Abs. 1 AktG unten IV.4. 46 Vgl. BGHZ 55, 359 ff. 47 Zur Verpflichtung der Aufsichtsratsmitglieder auf das „Unternehmensinteresse“, das nicht in jedem Fall mit den Interessen der Anteilseigner identisch ist, auch dann nicht, wenn die Gesellschaft über nur einen Aktionär verfügt oder die Präferenzen der Anteilseigner sich decken, etwa Baums in FS U. Huber, 2006, S. 657, 664 ff.; Hopt/M. Roth in Großkomm.AktG, IV. Band, 4. Aufl. 2006, § 111 AktG Rz. 103 ff. m. umfangreichen Nachweisen.

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§ 58 Abs. 2 AktG oder der Satzung über die Einstellung von Beträgen in Gewinnrücklagen oder über die Entnahme aus Gewinnrücklagen verletzt, ist der Jahresabschluss gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG nichtig. Dieser Nichtigkeitsgrund liegt allerdings nur bei Überschreiten der durch § 58 Abs. 2 AktG oder durch die Satzung gezogenen Schranken vor, nicht dagegen bei sonstigen Verstößen gegen die Pflichten eines sorgfältigen und gewissenhaften Geschäftsleiters im Zusammenhang mit Rücklagen- oder Ausschüttungsentscheidungen. Ferner ist eine Nichtigkeit binnen sechs Monaten heilbar (§ 256 Abs. 6 AktG). Die Nichtigkeit kann von jedem Aktionär mit der gegen die Gesellschaft zu richtenden Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden (§ 256 Abs. 7 Satz 1 i. V. m. § 249 AktG). c) Eine Haftung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft gegenüber gemäß §§ 93, 116 AktG käme nur in Betracht, wenn der Gesellschaft (und nicht nur ihren Aktionären) infolge pflichtwidrigen und schuldhaften Verhaltens der Organmitglieder ein Schaden entstanden wäre. Das kommt im hier erörterten Zusammenhang in folgenden Fällen in Frage: Wenn die Verwaltung keine Ausschüttung hätte vornehmen dürfen, und der Gesellschaft dadurch ein Schaden entstanden ist48; wenn der Verstoß gegen § 58 Abs. 2 AktG zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses führt (§ 256 Abs. 1 Nr. 4 AktG), und der Gesellschaft dadurch Kosten entstehen; oder wenn die Gesellschaft selbst von ihren Aktionären erfolgreich auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden kann (dazu weiter unten) und deshalb bei ihren Organmitgliedern Regress nehmen will. Ein pflichtwidriges Verhalten scheidet allerdings aus, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind. Eine Haftung der Organmitglieder unmittelbar den Aktionären gegenüber wegen ihrer Thesaurierungs- oder Ausschüttungsentscheidung dürfte in der Regel, von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, ausscheiden. Denn der klagende Aktionär müsste nicht nur dartun, dass ihm durch eine rechtswidrige Thesaurierungsentscheidung ein Schaden entstanden ist, zum Beispiel weil er infolgedessen zu einem Verkauf seiner Beteiligung zur Unzeit gezwungen wurde, oder weil ihm dadurch Gewinne entgangen sind, die er bei einer Auszahlung wahrscheinlich erzielt hätte (§ 252 BGB), oder weil der zu Unrecht einbehaltene Betrag inzwischen endgültig verloren ist. Sondern es müssten auch die engen Voraussetzungen des § 826 BGB oder des § 117 Abs. 2 AktG erfüllt sein. Die Mitgliedschaft des Aktionärs ist zwar auch in ihren vermögensrechtlichen Bezügen ein „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB. Aber nicht jedes Fehlverhalten der Verwaltung, das zu einer Minderung des Residualgewinns der Anleger führt, erfüllt bereits das Tatbestandsmerkmal der „Verletzung“ des Mitgliedschaftsrechts. Die nichtvorsätzliche, pflichtwidrige Ausübung eigener Organkompetenzen rechnet nicht zu den anerkann-

__________ 48 Vgl. dazu Text zu Fn. 41.

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ten Verletzungen der Mitgliedschaft im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB49. Die Vorschriften des § 93 Abs. 1, 2 AktG sind ferner keine „Schutzgesetze“ im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB50. Dagegen bezweckt § 58 Abs. 2 AktG zwar den Schutz der Aktionäre, aber nur, indem diese Norm die äußeren Grenzen der Thesaurierung durch die Verwaltung festlegt. Eine schuldhafte Überschreitung dieser äußeren Grenzen mag daher einen Schadensersatzanspruch der Aktionäre auslösen, nicht dagegen jeder fahrlässige Verstoß gegen die oben unter 1.–3. angeführten Prinzipien und Regeln. Eine unmittelbare Haftung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder den Anlegern gegenüber nach Vertragsgrundsätzen schließlich ist nicht anerkannt51. Denkbar ist auch eine Haftung der Gesellschaft ihrem Aktionär gegenüber wegen ihr entsprechend § 31 BGB zuzurechnenden Verhaltens der Organmitglieder. Soweit § 31 BGB die Mithaftung des Verbands wegen der Eigendelikte der Organmitglieder sichern soll52, ist auf die voranstehenden Ausführungen zur Haftung der Verwaltung wegen Verletzung der Mitgliedschaft nach deliktischen Grundsätzen zu verweisen. Daneben wird zum Teil eine Haftung des Verbands wegen schuldhafter Verletzung des Mitgliedschaftsverhältnisses nach Vertragsgrundsätzen befürwortet53. Anders als für die deliktische Verletzung der Mitgliedschaft54 fehlt aber für die Haftung des Verbands wegen Verletzung der Mitgliedschaft bisher eine eingehende Untersuchung, die den Vorrang des Gläubigerschutzes, die Interessen der wirtschaftlich von einer Verbandshaftung betroffenen Mitgesellschafter und Fragen des verbandsinternen Rückgriffs zu thematisieren hätte; darauf kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden.

__________ 49 Auswahl aus der umfangreichen Literatur hierzu: Habersack, Die Mitgliedschaft – subjektives und „sonstiges“ Recht, 1996, passim (S. 274 ff. zur Verletzung des „Gewinnstammrechts“); Hopt (Fn. 43), § 93 AktG Rz. 470 ff.; Baums, Aktionärsklagerechte (Gutachten F zum 63. Deutschen Juristentag), 2000, S. F 226 f., 233; Schmitz, Die Haftung des Vorstands gegenüber den Aktionären, 2004 (Frankfurter wirtschaftsrechtliche Studien Bd. 62), S. 253 ff.; Schmolke, Organwalterhaftung für Eigenschäden von Kapitalgesellschaftern, 2004 (Abhandlungen zum deutschen und europäischen Wirtschaftsrecht Bd. 144), S. 50 ff.; je mit Nachweisen. 50 Nachweise dazu bei Hopt (Fn. 43), § 93 AktG Rz. 469. 51 Dafür etwa Schmitz und Schmolke (Fn. 49); anders die herrschende Meinung, vgl. die Nachweise bei Baums (Fn. 49), S. F 233. 52 § 31 BGB sichert erstens die kumulative Haftung der Gesellschaft für die Eigendelikte der Organpersonen und vermittelt zweitens die ausschließliche Haftung der Gesellschaft in Fällen, in denen ihre Organpersonen schuldhaft der Gesellschaft dem Mitglied gegenüber obliegende Pflichten verletzt haben; vgl. Kleindiek, Deliktshaftung und juristische Person, 1997, S. 355 f. 53 Aus der Rechtsprechung insbesondere BGHZ 110, 323, 327; zur Literatur dazu Nachweise bei Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 651 f.; Baums (Fn. 49), S. F 222 ff. 54 Dazu insbesondere die monographische Untersuchung von Habersack (Fn. 49); weitere Literaturangaben bei Karsten Schmidt (Fn. 53), S. 651 und Baums (Fn. 49), S. F 226 Fn. 18.

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IV. Die Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung gemäß § 58 Abs. 3 AktG 1. Allgemeines Gemäß § 58 Abs. 3 AktG kann die Hauptversammlung im Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns (vgl. § 174 AktG) weitere Beträge, über die von der Verwaltung gemäß § 58 Abs. 2 AktG gebildeten Rücklagen hinaus, in Gewinnrücklagen einstellen oder als Gewinn vortragen. Dieser Beschluss wird mit einfacher Stimmenmehrheit gefasst, soweit nicht die Satzung eine größere Mehrheit bestimmt (§ 133 Abs. 1 AktG). Auch hier stellt sich, wie bei der Entscheidung der Verwaltung gemäß § 58 Abs. 2 AktG, die Frage nach den von der Hauptversammlung zu beachtenden Maßstäben und dem Rechtsschutz der überstimmten Minderheit. Für die Rücklagenentscheidung der Verwaltung ist oben (unter III.2.) ausgeführt worden, dass es sich um eine unternehmerische Ermessensentscheidung handelt, für die die in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vorgesehene Freistellung vom Vorwurf einer Pflichtverletzung eingreift, wenn die dort angeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Obwohl es sich auch bei der Entscheidung der Hauptversammlung für oder gegen eine Rücklagenbildung materiell, der Sache nach, im gleichen Sinne um eine „unternehmerische“ Entscheidung handelt, kann hier der für Organmitglieder geltende allgemeine Verhaltensstandard des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und demgemäß auch die daran anknüpfende Vermutung pflichtkonformen Verhaltens in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, herangezogen werden. Es geht vielmehr um die Bestimmung der Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht. Die privatautonome Betätigung mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht, die einen Mehrheitsbeschluss zustande bringt, unterliegt wegen der Verbindlichkeit des Mehrheitsbeschlusses für die Gesellschaft und damit auch für die Minderheit und wegen der Einwirkung auf deren Rechte und rechtlich geschützte Interessen je nach Beschlussgegenstand und der Intensität dieser Einwirkung unterschiedlichen Schranken und Kontrollen. Bei Beschlüssen nach § 58 Abs. 3 Satz 1 AktG ist formaler Ausgangspunkt der Bestimmung dieser Stimmrechtsschranken und der Beschlusskontrolle § 254 Abs. 1 AktG, der zum einen klarstellt, dass eine Anfechtung eines Gewinnverwendungsbeschlusses aus allgemeinen Gründen, nach § 243 AktG, in Betracht kommt, und der zum anderen einen weiteren, besonderen Anfechtungsgrund schafft. Dass auch ein Gewinnverwendungsbeschluss gegen allgemeine Gesetze, zum Beispiel das Gebot der Gleichbehandlung der Aktionäre (§ 53a AktG)55, oder gegen Satzungsvorschriften verstoßen und deshalb nach § 243 AktG anfechtbar sein mag56, ist an dieser Stelle nicht von Interesse. Hier geht es vielmehr um die Fragen, die bereits oben für die Entscheidung der Verwaltung gemäß

__________ 55 Vgl. dazu BGHZ 84, 303, 309 ff. 56 Aus der Literatur dazu etwa Karsten Schmidt (Fn. 43), § 254 AktG Rz. 5; Stilz in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, Bd. 2, 2007, § 254 AktG Rz. 5 f.; je mit Nachweisen.

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§ 58 Abs. 2 AktG erörtert worden sind: Sind auch die Aktionäre bei ihrer Entscheidung über Ausschüttung oder Thesaurierung auf das „Wohl der Gesellschaft“ verpflichtet, und was besagt das im vorliegenden Zusammenhang praktisch? Dürfen die Aktionäre insbesondere bei ihrer Stimmabgabe ihre individuellen Ausschüttungs- oder Thesaurierungspräferenzen ohne Rücksicht auf Finanzierungsbedürfnisse der Gesellschaft und ohne Rücksicht auf abweichende Präferenzen anderer Aktionäre zur Geltung bringen und durchsetzen? Und falls ähnliche Pflichten oder Bindungen wie für das Verhalten der Verwaltung anzunehmen sind, gibt es dann auch einen entsprechenden von gerichtlicher Kontrolle freigestellten Beurteilungs- und Handlungsfreiraum, sofern der Beschluss bestimmten Mindestvoraussetzungen genügt? 2. Rücklagenbildung, Ausschüttung und Gesellschaftszweck Eine erste, selbstverständliche Bindung ergibt sich für die Aktionäre bei ihrer Entscheidung über Thesaurierung oder Ausschüttung aus dem für alle Aktionäre verbindlichen Gesellschaftszweck57. Bei der erwerbswirtschaftlich tätigen Gesellschaft ist Zweck die Erzielung von Gewinn58, der letzten Endes, sei es im Wege der sofortigen Ausschüttung von Bilanzgewinn, sei es im Wege der Thesaurierung und späteren Ausschüttung, den residualberechtigten Eigenkapitalgebern zukommen soll. Die Entscheidung über eine Thesaurierung oder Ausschüttung des Bilanzgewinns ist unmittelbar auf diesen Zweck bezogen: Befördert die Thesaurierungsentscheidung jedenfalls langfristig die Erzielung künftiger Gewinne, oder ist für die residualberechtigten Eigenkapitalgeber eine Ausschüttung des erzielten „Zwischengewinns“ günstiger? Beide Entscheidungen sind, vom Gebot der Beachtung des Gesellschaftszwecks her betrachtet, möglich; welche der beiden Alternativen aber im konkreten Einzelfall mehr zur Beförderung des Gesellschaftszwecks beitragen wird, erfordert eine Prognoseentscheidung, für die den in der Hauptversammlung abstimmenden Aktionären ein ähnlicher kontrollfreier Beurteilungsspielraum eingeräumt werden muss wie der Verwaltung59. Aus der Bindung der in der Hauptversammlung abstimmenden Aktionäre an den Gesellschaftszweck dürften sich daher kaum praktisch relevante Schranken entwickeln lassen60.

__________

57 S. dazu nur Zöllner in KölnKomm.AktG, Bd. 2, 1971, § 243 AktG Rz. 176 ff.; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Band, 2. Teil, Die juristische Person, 1983, S. 208 ff.; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 233 ff. 58 Einzelheiten (Zweck der Gewinnerzielung auch als „stillschweigender“ Satzungsbestandteil; Änderung nur einstimmig möglich) bei Röhricht in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 7. Lfg. 1996, § 23 AktG Rz. 91 ff. 59 Dazu oben III.2. 60 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die berühmte Entscheidung Dodge v. Ford Motor Co., 204 Michigan 459, 170 N.W. 668; dazu Clark, Corporate Law, 1986, S. 602 ff.; aus der deutschen Literatur dazu Huber in Albach/Sadowski (Hrsg.), Die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen für die Willensbildung im Unternehmen, 1976, S. 139 ff. In diesem Fall hatte Henry Ford als Mehrheitsgesellschafter und Präsident der beklagten Ford Motor Co. in deren Geschäftsbericht erklärt, die Gesellschaft werde in Zukunft nur mehr eine feste Dividende von 5 % pro

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3. Keine umfassende Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses Aus dem Vorstehenden ergibt sich bereits, dass eine umfassende Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses ausscheidet. Seit der grundlegenden Kali & Salz- Entscheidung des Bundesgerichtshofs61 ist eine Inhaltskontrolle von Beschlüssen anerkannt, die in die Mitgliedschaft der Aktionäre eingreifen62. Die Verletzung der für die Inhaltskontrolle entwickelten Grundsätze führt zur Anfechtbarkeit des dagegen verstoßenden Beschlusses gemäß § 243 Abs. 1 AktG63. So muss ein Bezugsrechtsausschluss, um kontrollfest zu sein, im Interesse der Gesellschaft liegen; er muss geeignet sein, den angestrebten Zweck zu erreichen; und er muss sowohl erforderlich als auch verhältnismäßig sein. Diese strengen Anforderungen werden mit der weitreichenden Bedeutung eines Bezugsrechtsausschlusses für den Aktionär begründet. Der Bezugsrechtsausschluss führt dazu, dass der Anteil der Aktionäre am Gesellschaftsvermögen relativ absinkt. Zugleich verschieben sich die Stimmrechtsquoten, und zwar entweder zu Lasten aller Aktionäre, wenn nur Außenstehende bezugsberechtigt sind, oder bereits im Verhältnis der Aktionäre untereinander, wenn sich das Bezugsrecht auf einen oder einen Teil der Aktionäre beschränkt. Das kann sich je nach den Umständen als Verlust einer Sperrminorität oder von Minderheitsrechten, die einen Mindestanteilsbesitz voraussetzen, auswirken64. Diese Auswirkungen lassen sich jedenfalls in der nicht börsennotierten Gesellschaft nicht durch einen Zukauf von Aktien zu Marktpreisen an einem liquiden Sekundärmarkt ausgleichen. Ferner kann die Gesellschaft bei Zuteilung der neuen Aktien an einen Großaktionär von diesem abhängig werden oder eine schon bestehende Abhängigkeit sich noch verstärken; hieraus mögen sich dann weitere Nachteile für die außenstehenden Aktionäre ergeben.

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Monat auf das Grundkapital ausschütten. Die übrigen Gewinne sollten im Unternehmen stehen bleiben, um drei Zwecken zu dienen: erstens der weiteren Expansion des Unternehmens, insbesondere der Schaffung weiterer Arbeitsplätze; zweitens der Verbesserung der Leistungen an die Arbeitnehmer; drittens der Herabsetzung der Autopreise. Eine solche auch auf künftige Gewinnverwendungsbeschlüsse gerichtete Entscheidung des Mehrheitsaktionärs mag sich in der Tat als Versuch darstellen, sich über den Zweck der bloßen Gewinnerzielung hinwegzusetzen. Um wirksam zu sein, bedürfte eine Zweckänderung nach deutschem Recht der Zustimmung auch der Mitgesellschafter. Dies besagt aber nichts dafür, dass auch ein konkreter Gewinnverwendungsbeschluss, der in diesem Zusammenhang gefasst wurde und sich in die Ausschüttungspolitik des Mehrheitsaktionärs einfügte, mit dem Gesellschaftszweck unvereinbar und wegen Satzungsverstoßes anfechtbar wäre; überzeugend Huber a. a. O. S. 141. BGHZ 71, 40 ff. Einzelheiten mit Nachweisen dazu bei Karsten Schmidt (Fn. 43), § 243 AktG Rz. 45 ff. BGHZ 71, 40, 43, 49. Vgl. BGHZ 71, 40, 45. Genauer zu der hier erforderlichen Differenzierung zwischen „gebündelten Individualrechten“ und solchen Quoren, deren Ziel es nicht ist, den Aktionär zu schützen, sondern sicherzustellen, dass die betreffenden Rechte nicht von Aktionären mit Splitterbesitz missbraucht werden, Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, S. 419 f.

Rücklagenbildung und Gewinnausschüttung im Aktienrecht

Mit dem Bezugsrechtsausschluss ist die Thesaurierung von Bilanzgewinn aber nicht zu vergleichen. Allerdings ist bereits oben hervorgehoben worden, dass nicht nur ein Bezugsrechtsausschluss, sondern auch der Gewinnverwendungsbeschluss im Interesse der Gesellschaft liegen muss, indem er dazu dient, im Rahmen des Unternehmensgegenstands den Gesellschaftszweck zu fördern. Dagegen scheidet eine weitergehende richterliche Inhaltskontrolle, eine allgemeine65 Prüfung darauf, ob die vorgenommene Thesaurierung in ihrem konkreten Umfang erforderlich und verhältnismäßig war, aus mehreren Gründen aus. Eine Prüfung, ob eine Rücklagenbildung in dem beschlossenen Umfang „erforderlich“ war, würde die Zulässigkeit von Rücklagen über den durch die §§ 58 Abs. 3, 254 Abs. 1 AktG vorgezeichneten Rahmen hinaus auf die Bildung solcher Rücklagen beschränken, die ein bereits konkret zu benennendes Vorhaben, etwa die Finanzierung einer bestimmten Investition, am besten zu fördern vermögen. Denn die zur Inhaltskontrolle gehörende Erforderlichkeitsprüfung setzt ein konkretes Vorhaben oder Zwischenziel voraus, das erreicht werden soll. So ist zum Beispiel im Fall eines Bezugsrechtsausschlusses zu fragen, ob dieser im Hinblick auf den Erwerb einer bestimmten Sacheinlage „erforderlich“, dieses Vorhaben also nicht auf anderem Wege besser zu verwirklichen ist. Verzichtet man dagegen auf die enge Vorgabe eines konkreten Vorhabens oder Zwischenziels, das mit einer Rücklagenbildung erreicht werden soll, und lässt die Bildung von Rücklagen auch zu allgemeineren Zwecken wie der Unternehmenswertsteigerung oder der „Sicherung der Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft“ zu, wie dies § 254 Abs. 1 AktG formuliert, dann verliert eine Erforderlichkeitsprüfung ihren konkreten Bezug und ihre Stringenz. Damit zeigt sich bereits ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Bezugsrechtsausschluss für ein konkretes Vorhaben und der Rücklagenbildung zu den erwähnten allgemeinen Zwecken in aller Deutlichkeit. Ein weiterer Unterschied beider Fälle besteht darin, dass der Bezugsrechtsausschluss als Eingriff in das Bezugsrecht sofort und definitiv wirkt, so dass bezogen auf diesen Zeitpunkt des Eingriffs gefragt werden kann, ob eine Entscheidungsalternative bestanden hat, und ob der Eingriff in die Rechte der Aktionäre trotz seiner Schwere in Anbetracht der damit konkret bezweckten Maßnahme hinzunehmen ist. Bei der Rücklagenbildung wird dagegen jedenfalls zunächst, im Zeitpunkt der Beschlussfassung, die vermögensmäßige Zuweisung des Bilanzgewinns an die Aktionäre nicht auf Dauer aufgehoben oder eingeschränkt, sondern bleibt vorerst im Grundsatz erhalten. Die Rücklagenbildung begründet nur die Gefahr, dass der zurückgestellte Bilanzgewinn sich im Unternehmen nicht etwa angemessen verzinst und später vermehrt um diese Verzinsung doch noch ausgeschüttet, sondern im Gegenteil zur Deckung später eintretender Verluste aufgebraucht wird und deshalb nicht mehr an die Aktionäre ausgeschüttet werden kann.

__________ 65 Zur eingeschränkten Inhaltskontrolle gemäß § 254 Abs. 1 AktG s. sogleich unter 4.

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4. Die eingeschränkte Inhaltskontrolle gemäß § 254 Abs. 1 AktG Auch nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers kommt eine umfassende Inhaltskontrolle des Beschlusses der Hauptversammlung, der den Bilanzgewinn ganz oder teilweise in Gewinnrücklagen einstellt, nicht in Betracht, da der Gesetzgeber selbst insoweit bereits eine normative Abwägung zwischen den verschiedenen Interessen einzelner Aktionäre oder Aktionärsgruppen an Ausschüttung einerseits und an Rücklagenbildung andererseits vorgenommen hat66. Diese normative Interessenabwägung ergibt sich aus dem Zusammenspiel von § 58 Abs. 3 und § 254 Abs. 1 AktG. Auf der einen Seite überlässt es der Gesetzgeber in § 58 Abs. 3 AktG uneingeschränkt der nach dem Mehrheitsprinzip abstimmenden Hauptversammlung, den Bilanzgewinn ganz oder teilweise in Gewinnrücklagen einzustellen oder als Gewinn vorzutragen (§ 58 Abs. 3 Satz 1 AktG). Auf der anderen Seite kann ein solcher Beschluss gemäß § 254 Abs. 1 AktG von Aktionären, die über den hierfür erforderlichen Aktienbesitz verfügen (5 % des Grundkapitals oder anteiliger Betrag von 500 000 Euro; vgl. § 254 Abs. 2 Satz 3 AktG), angefochten werden, „wenn die Hauptversammlung aus dem Bilanzgewinn Beträge in Gewinnrücklagen einstellt oder als Gewinn vorträgt, die nicht nach Gesetz oder Satzung von der Verteilung unter die Aktionäre ausgeschlossen sind, obwohl die Einstellung oder der Gewinnvortrag bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung nicht notwendig ist, um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Notwendigkeiten übersehbaren Zeitraum zu sichern und dadurch unter die Aktionäre kein Gewinn in Höhe von mindestens vier vom Hundert des Grundkapitals abzüglich von noch nicht eingeforderten Einlagen verteilt werden kann.“ Die kompliziert formulierte Vorschrift will den überstimmten Aktionären eine Mindestdividende von 4 % des Grundkapitals zukommen lassen, es sei denn, dass die Rücklage des Bilanzgewinns notwendig ist, um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen übersehbaren Zeitraum zu sichern. Diese Bestimmung stellt zwei Dinge klar: Erstens, dass eine allgemeine Inhaltskontrolle jedes Thesaurierungsbeschlusses in dem oben beschriebenen Sinne ungeachtet dessen, ob dieser Beschluss die Ausschüttung einer Dividende vorsieht oder nicht, ausscheidet; zweitens, dass auch die besondere Inhaltskontrolle eines Thesaurierungsbeschlusses, deren spezielle Voraussetzungen § 254 Abs. 1 AktG benennt, nur in Betracht kommt, wenn nicht einmal die dort genannte Mindestdividende ausgeschüttet wird. Wird dagegen beschlossen, diese minimale67 Dividende auszuschütten, dann scheiden eine An-

__________ 66 Allgemein zum Ausschluss der Inhaltskontrolle bei Vorhandensein solcher normativer Interessenbewertungen Hüffer (Fn. 2), § 243 AktG Rz. 26 ff. m. Nachweisen. 67 Das sei an folgendem beliebig herausgegriffenen Börsenwert illustriert (Angaben per 31.12.2006). Bei der Adidas AG, einem DAX-Wert, beträgt die Mindestdividende gemäß § 254 Abs. 1 AktG 0,04 Euro pro Aktie. Bezogen auf einen (angenommenen) durchschnittlichen Kurswert von 37 Euro ergibt das eine Dividendenrendite von 0,11 % (die historische Dividendenrendite des DAX liegt bei 1,8 %, die aktuelle Dividendenrendite des DAX bei 2,7 %; Angaben nach Peemöller/Beckmann/Meitner,

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fechtung des Hauptversammlungsbeschlusses wegen übermäßiger, sachlich nicht notwendiger Thesaurierung und eine darauf abzielende Inhaltskontrolle aus. Die Formulierung, dass die „Rücklage des Bilanzgewinns notwendig ist, um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen übersehbaren Zeitraum zu sichern“, will also nicht etwa eine von jeder Rücklagenbildung zu erfüllende allgemeine Voraussetzung aufstellen. Nicht jede darüber hinausgehende Rücklagenbildung, die diesen engen Voraussetzungen nicht genügt, ist bereits deshalb wegen Übermaßes oder wegen „Aushungerns“ der Minderheit anfechtbar. Vielmehr soll sich „der Großaktionär … durch Ausschüttung der Mindestdividende freie Hand für seine Rücklagenpolitik verschaffen“ können68. Das bedeutet allerdings nicht, wie noch zu zeigen sein wird, dass der Thesaurierungsbeschluss nicht aus anderen Gründen treupflichtwidrig und damit anfechtbar sein kann. Es ist hier nicht der Ort, die Auslegungsfragen, die an die offenbar wenig bedeutsame69 Vorschrift des § 254 Abs. 1 AktG anknüpfen, zu erörtern. Angefügt sei nur mehr, dass dieses Anfechtungsrecht der überstimmten Minderheit wegen „Aushungerns“ nach herrschender Auffassung in der Literatur ohne weiteres dadurch ausgehebelt werden kann, dass die Satzung der Gesellschaft die Hauptversammlung ermächtigen und sogar verpflichten könne, den gesamten Bilanzgewinn uneingeschränkt zur Rücklagenbildung zu verwenden, obwohl § 58 Abs. 3 Satz 1 AktG im Gegensatz zu § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG eine abweichende oder ergänzende Satzungsbestimmung (vgl. § 23 Abs. 5 AktG) nicht vorsieht70. Rechtspolitisch dürfte sich empfehlen, der Berechnung der Mindestdividende des § 254 Abs. 1 AktG nicht allein die Grundkapitalziffer zugrunde zu legen, sondern dabei nach dem Vorbild der §§ 120 Abs. 2, 121 Abs. 1 HGB auch die gebildeten Rücklagen als Berechnungsgrundlage einzubeziehen71. 5. Anfechtung wegen Treuepflichtverletzung Neben die Inhaltskontrolle von Hauptversammlungsbeschlüssen, die auf bestimmte Beschlüsse beschränkt ist und gegenüber Gewinnverwendungs-

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BB 2005, 90, 94 Fn. 52, sowie „EURO am Sonntag“, Heft 8/2007 v. 25.2.2007, S. 19). Bei Vollausschüttung des Bilanzgewinns der Adidas AG ergäbe sich eine Dividende von 0,42 Euro pro Aktie, das entspricht einer Dividendenrendite (bei dem angenommenen Durchschnittskurs von 37 Euro) von 1,13 %. So die Begr. zum Regierungsentwurf des AktG; vgl. Kropff (Fn. 31), S. 340. Vgl. die wenigen in der Kommentarliteratur zitierten Gerichtsentscheidungen hierzu. Allerdings schließt das nicht aus, dass die Vorschrift präventiv wirkt und zu entsprechenden Mindestdividenden anhält. S. nur Karsten Schmidt (Fn. 43), § 254 AktG Rz. 9; Stilz in Spindler/Stilz (Fn. 56), § 254 AktG Rz. 9; je m. weiteren Nachweisen. So überzeugend bereits Huber (Fn. 60), S. 140. – Im Fall der Adidas AG (vgl. Fn. 66) betrug per 31.12.2007 allein die Gewinnrücklage mehr als das 10fache des Grundkapitals (Gewinnrücklage 2,2 Mrd. Euro, Grundkapital 204 Mio. Euro). Im Fall Dodge v. Ford Motor Inc. (oben Fn. 60) betrug die jährlich gezahlte Dividende 60 % des Grundkapitals, aber nur 1 % des Eigenkapitals; vgl. 204 Mich. 459, 470, 170 N.W. 668, 672.

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beschlüssen nur, wie gezeigt, in dem beschränkten Umfang des § 254 Abs. 1 AktG eingreift, tritt die Anfechtung wegen Verletzung der „Treuepflicht“72. Sie kommt auch gegenüber Gewinnverwendungsbeschlüssen in Betracht73. Allerdings kann ein zur Anfechtung gemäß § 243 Abs. 1 AktG berechtigender Treuepflichtverstoß nicht schon darin gefunden werden, dass trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 254 Abs. 1 AktG keine Mindestdividende beschlossen worden ist, weil sonst jeder Aktionär (vgl. § 245 AktG) die Anfechtungsklage erheben und so die qualifizierten Voraussetzungen der Anfechtungsbefugnis gemäß § 254 Abs. 2 Satz 3 AktG unterlaufen könnte. Ein zur Anfechtung gemäß § 243 Abs. 1 AktG berechtigender Treupflichtverstoß liegt auch nicht per se darin, dass zur Stärkung der Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft nicht notwendige Rücklagen aus dem Bilanzgewinn gebildet werden; § 254 AktG ist auch insoweit, was die Bildung nicht notwendiger Rücklagen betrifft, die durchaus in der nicht börsennotierten Gesellschaft die Gefahr des Aushungerns der Minderheit mit sich bringen kann, als lex specialis anzusehen. Um einen Treuepflichtverstoß und damit eine Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 1 AktG zu begründen, müssen vielmehr weitere, zusätzliche Umstände hinzutreten, die es rechtfertigen, jedem davon betroffenen Aktionär das Recht zu geben, die Entscheidung der Mehrheit anzufechten, ohne dass dadurch die vom Gesetzgeber in §§ 58 Abs. 3, 254 AktG getroffene Interessenbewertung in Frage gestellt würde. Das wird insbesondere dann der Fall sein, wenn der Gewinnverwendungsbeschluss sich über die Rücklagenbildung hinaus als willkürliche Benachteiligung der Minderheit darstellt, wenn die Interessen der Minderheit über die Rücklagenbildung hinaus in unangemessener Weise zurückgesetzt werden, oder wenn der Großaktionär sich Sondervorteile zum Nachteil der Gesellschaft oder der Minderheit zu verschaffen versucht74. Insbesondere die Rechtsprechung und Literatur zum GmbH-Recht liefern eindrucksvolle Beispiele für solche Treuepflichtverstöße, die über eine bloß „übermäßige“, nicht notwendige Rücklagenbildung hinausgehen, etwa weil sie darauf abzielen, den Wert der Beteiligungen der Minderheit zu senken, um ein bestehendes Ankaufsrecht günstig ausüben zu können, oder weil die Rücklagenbildung sich steuerlich ausschließlich zugunsten der Mehrheit, aber zum Nachteil der Minderheit auswirkt, oder weil die gebildeten Rücklagen im Interesse des Mehrheitsgesellschafters verwendet werden sollen, dies aber nicht

__________ 72 Grundlegend für das Aktienrecht BGHZ 103, 184, 193, wo die Verletzung der Treuepflicht noch als Anfechtungsgrund „entsprechend § 243 Abs. 2 AktG“ behandelt wird. In BGH, WM 1999, 1767, 1768 wird dagegen die Verletzung der Treuepflicht als Anfechtungsgrund gemäß § 243 Abs. 1 AktG angeführt. Einzelheiten zu diesem Anfechtungsgrund, auch zum Verhältnis zur Inhaltskontrolle (oben 3.), bei Karsten Schmidt (Fn. 43), § 243 AktG Rz. 48 ff. m. Nachweisen. 73 Anders Schwab in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, Bd. 2, 2008, § 254 AktG Rz. 6, wonach die Anfechtung wegen Treuepflichtverletzung durch § 254 AktG ausgeschlossen werde; vgl. dazu den Text. 74 Vgl. auch Hüffer in MünchKomm.AktG, Bd. 7, 2. Aufl. 2001, § 243 AktG Rz. 66.

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im Interesse der Gesellschaft liegt75, u. a. m. Nicht selten wird die übermäßige Rücklagenbildung als Instrument des Hinausdrängens der Minderheit eingesetzt oder geht sie mit verdeckten Vermögenszahlungen an die Mehrheit in Form marktunüblicher Vergütungen einher76. Umgekehrt mag auch ein Ausschüttungsbeschluss, den das herrschende Unternehmen oder eine strategisch zusammenwirkende Gruppe von Investoren ohne Rücksicht auf die Finanzierungsbedürfnisse der Gesellschaft im eigenen Interesse durchsetzt, die Anfechtbarkeit dieses Beschlusses wegen Treupflichtverletzung begründen und eine Haftung des herrschenden Unternehmens bzw. der Mitglieder der Investorengruppe auslösen77. Denkbar ist auch eine Anfechtung gemäß § 243 Abs. 2 AktG wegen Strebens nach Sondervorteilen, die neben die Anfechtung gemäß § 243 Abs. 1 AktG treten kann78. 6. Sonstige Rechtsbehelfe Der wichtigste Rechtsbehelf der Minderheit gegen die Entscheidung der Hauptversammlung gemäß § 58 Abs. 3 Satz 1 AktG ist demnach die Anfechtungsklage. Außerdem kommt eine Schadensersatzhaftung des Mehrheitsaktionärs gemäß §§ 117 AktG, 826 BGB gegenüber der Minderheit in Betracht, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschriften erfüllt sind. Daneben tritt nach der Rechtsprechung die Haftung wegen vorsätzlicher Treupflichtverletzung79.

V. Ergebnisse Was die Rücklagenbildung seitens der Verwaltung gemäß § 58 Abs. 2 AktG betrifft, ist Folgendes festzuhalten: 1. Bei der Entscheidung, ob und in welchem Umfang der Jahresüberschuss (im Rahmen von Gesetz und Satzung) thesauriert werden soll, handelt es sich im Grundsatz um eine „unternehmerische“ und deshalb in ihrem Kern gerichtlicher Kontrolle entzogene Maßnahme im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Daran ändert nichts, dass die Verwaltung tendenziell eine Rücklagenbildung einer Ausschüttung mit Außenfinanzierung vorziehen mag. 2. Die Verwaltung kann ausnahmsweise zu einer Thesaurierung verpflichtet sein, wenn anders der Bestand der Gesellschaft konkret gefährdet würde, insbesondere weil eine Ausschüttung einen sonst nicht behebbaren Liquiditätsengpass auslösen würde.

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75 Vgl. BGH, WM 1966, 1132, 1134; vgl. auch die bei Marsch, S. 2 ff. berichteten Beispiele aus der Unternehmenspraxis (Marsch, Die rechtliche Problematik der Verwendung von Jahresüberschüssen deutscher Aktiengesellschaften unter besonderer Berücksichtigung der Kleinaktionärsinteressen, jur. Diss. Göttingen 1974). 76 S. dazu die Kommentare zu § 29 GmbHG. 77 S. dazu aus der US-amerikanischen Judikatur den Fall Sinclair Oil Corp. v. Levien, 280 A. 2d 717 (Delaware 1971). 78 Dazu Hüffer (Fn. 74), § 243 AktG Rz. 66, 73. 79 Grundlegend BGHZ 129, 136, 158 ff.; aus der Literatur dazu Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 53), S. 591 f. m. Nachweisen.

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3. Einschränkungen des Handlungsermessens der Verwaltung, die aus der Behauptung einer bestimmten Relation der Gewinnrücklagen zur Grundkapitalziffer oder aus § 254 AktG abgeleitet werden könnten, sind abzulehnen. 4. Was den Umgang mit unterschiedlichen Ausschüttungspräferenzen der Aktionäre betrifft, ist Folgendes festzuhalten. Die Verwaltung ist nicht berechtigt, ohne Rücksicht auf gegenläufige Ausschüttungspräferenzen anderer Anleger den Jahresüberschuss ganz oder zum Teil im Hinblick darauf zur Ausschüttung freizugeben, dass einzelne individuelle Anleger, etwa der Mehrheitsaktionär, über profitablere Anlagemöglichkeiten verfügen, oder dass für sie die Ausschüttungsentscheidung zu günstigeren steuerlichen Konsequenzen als eine Thesaurierung führt, oder dass sie besondere Liquiditätsbedürfnisse haben. Dabei handelt es sich um individuelle, nicht in der Mitgliedschaft angelegte Gegebenheiten, an denen die Verwaltung ihre Ausschüttungsentscheidung nicht ausrichten darf, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass dadurch andere Anleger mit anderen Präferenzen nachteilig betroffen würden. Wohl aber darf die Verwaltung eine typisierende Betrachtung vornehmen, auch wenn dies für einzelne Anlegergruppen wegen deren Interessen an einer Thesaurierung bzw. Ausschüttung im Vergleich mit der gegenläufigen Entscheidung der Verwaltung zu Nachteilen führt. So kann die Gesellschaft zum Beispiel das Ziel der Ausschüttung einer stetigen Dividende verfolgen; dies ermöglicht den Anlegern vor der (Wieder-)Anlageentscheidung eine Einschätzung, ob dies mit ihren Präferenzen übereinstimmt. Das Dilemma unterschiedlicher Ausschüttungspräferenzen kann die Verwaltung auch durch alternative Verfahren lösen, etwa indem sie ein Aktienrückkaufprogramm auflegt oder in Gesellschaften mit nicht börsengehandelten Anteilen dazu beiträgt, dass Anteile verkauft werden können. Hinsichtlich der Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung gemäß § 58 Abs. 3 AktG sind folgende Ergebnisse der Untersuchung festzuhalten: 1. Die Hauptversammlung ist bei ihrer Entscheidung über Rücklagenbildung oder Ausschüttung an den Gesellschaftszweck gebunden. Bei der Frage, ob eine Thesaurierungsentscheidung den Gesellschaftszweck fördert, steht den abstimmenden Aktionären ein breiter Beurteilungsspielraum zu. Eine Anfechtung des Gewinnverwendungsbeschlusses wegen Unvereinbarkeit mit dem Gesellschaftszweck dürfte daher praktisch nicht in Betracht kommen. 2. Auch eine allgemeine Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses im Sinne der Kali & Salz – Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes scheidet aus. Auf Anfechtungsklage der hierzu berechtigten Minderheit gemäß § 254 AktG hin findet nur eine eingeschränkte Inhaltskontrolle unter den dort angegebenen Voraussetzungen statt. Diese Vorschrift erfasst aber übermäßige, nicht im engeren Sinn notwendige Rücklagenbildungen nicht, solange nur die Minimaldividende des § 254 Abs. 1 AktG ausgezahlt wird. 3. Rechtspolitische Kritik ist daran zu üben, dass Berechnungsgrundlage für die Minimaldividende des § 254 Abs. 1 AktG nur die Summe der eingezahlten Einlagen ist, während die inzwischen gebildeten Rücklagen nicht einbezogen werden. 82

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4. Die eingeschränkte Inhaltskontrolle gemäß § 254 Abs. 1 AktG schließt die Kontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses unter dem Gesichtspunkt der Treuepflichtverletzung nicht aus. Eine solche Treuepflichtverletzung liegt aber nicht bereits bei einer übermäßigen, sachlich nicht notwendigen Rücklagenbildung vor. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, die die Entscheidung der Mehrheit darüber hinausgehend als pflichtwidrige Durchsetzung der Interessen der Mehrheit gegenüber der Gesellschaft oder der überstimmten Minderheit erscheinen lassen.

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Legalitätspflicht der Unternehmensleitung, nützliche Gesetzesverstöße und Regress bei verhängten Sanktionen – dargestellt am Beispiel von Kartellverstößen –

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Kartellverstöße und Vorstandsverantwortlichkeit 1. Die Legalitätspflicht und die Pflichtwidrigkeit von Kartellverstößen a) Externe und interne Pflichtenbindung b) Pflichtwidrigkeit sog. „nützlicher Gesetzesverstöße“ c) Keine Privilegierung im Rahmen der Business judgment rule d) Ausnahme: Unklare oder umstrittene Rechtslage 2. Schaden und Haftung a) Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden

b) Differenzhypothese und Vorteilsausgleichung c) Ausschluss oder Begrenzung des Regresses für Bußgeldzahlungen? 3. Darlegungs- und Beweislast III. Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen 1. Regress der Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat 2. Aktionärsklage IV. Verweigerung der Entlastung? V. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung Unzulässige Schmiergeldzahlungen bei Siemens und rechtswidrige Bespitzelungen bei der Telekom – deutsche Topmanager stehen in der Öffentlichkeit nicht nur aufgrund zahlreicher Vergütungsexzesse am Pranger1, sondern werden auch mit dem nicht offensichtlich unbegründeten Vorwurf konfrontiert, sie würden sich bedenkenlos über geltendes Recht hinwegsetzen, wenn diese Rechtsverletzung nach ihrer Überzeugung im Interesse ihres Unternehmens liege. Es sei hier dahingestellt, ob letzten Endes wirklich ein falsch verstandenes Unternehmensinteresse und nicht nur das eigene Macht- oder Vergütungs-

__________ 1 Ausgelöst wurde die Diskussion insbesondere durch die nach der zutreffenden Auffassung des BGH rechtswidrige Honorierung im Fall Mannesmann; vgl. dazu nur BGHSt 50, 331 ff.; im Ergebnis ebenso Bayer, FAZ v. 28.4.2004; ausf. Martens, ZHR 169 (2005), 124, 136 ff.; abw. jedoch die gutachterliche Stellungnahme von Hüffer, BB 2003, Beilage 7; krit. gegenüber dem BGH auch Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005), 155, 161 ff.

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interesse2 Motiv für solches rechtswidriges Managerhandeln ist. Auch lässt der heutige Kenntnisstand3 kein sicheres Urteil zu, ob die gegen hochrangige Siemens- und Telekom-Manager erhobenen Vorwürfe wirklich berechtigt sind. Aber immerhin werden die öffentlich diskutierten Rechtsverstöße mit nachdrücklicher Unterstützung der aktuellen Unternehmensleitung verfolgt, und im Fall Siemens hat das Unternehmen bereits angekündigt, frühere Vorstandsund Aufsichtsratsmitglieder wegen festgestellter Pflichtwidrigkeiten auf Schadensersatz verklagen zu wollen. Mag diese „Flucht nach vorn“ auch dadurch motiviert sein, dass weitere Reputationsverluste und drohende Sanktionen (etwa auch der SEC) abgewehrt und darüber hinaus die Position der heutigen Unternehmensleitung durch das Ziehen einer deutlichen Trennlinie gegenüber früher begangenen Rechtsverletzungen verbessert werden sollen, so ist doch anzuerkennen, dass hierdurch der Öffentlichkeit einerseits signalisiert wird, dass man künftig sein Verhalten ändern und gesetzliche Verbote beachten werde, und andererseits, dass das Unternehmen die Aufarbeitung der Rechtsverletzungen nicht allein Staatsanwaltschaft und Strafjustiz überlassen möchte, sondern alle Anstrengungen unternimmt, um die Verantwortlichen auch zivilrechtlich haftbar zu machen. Soweit die Haftung nicht – wie etwa im Falle des über den Zusammenschluss von Daimler und Chrysler offenherzig plaudernden Vorstandsvorsitzenden Schrempp – durch eine D&O-Versicherung gedeckt ist, kann eine Verurteilung zur Schadensersatzleistung für den betroffenen Manager jedoch dessen finanziellen Ruin bedeuten. Diese Konsequenz sowie die rechtliche Konstruktion, dass der für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen (außerhalb eines Insolvenzverfahrens) zuständige Aufsichtsrat auf der Anteilseignerseite regelmäßig von aktuellen oder früheren Vorstandskollegen des eigenen Unternehmens oder auch vergleichbarer Unternehmen majorisiert wird und man sich daher gegenseitig „nicht weh tun“ möchte, mag der Hauptgrund dafür sein, dass Haftungsklagen gegen Vorstandsmitglieder deutscher Aktiengesellschaften in der Vergangenheit höchst selten waren. Angesichts der offensiven Aufarbeitung von Rechtsverstößen in den Beispielsfällen Siemens und Telekom überrascht es, wenn jedenfalls in der Öffentlichkeit nichts darüber bekannt ist, welche unternehmensinternen Konsequenzen bei aufgedeckten Kartellverstößen gezogen werden. Denn Kartellverstöße sind keineswegs „Kavaliersdelikte“4, sondern werden von den zuständigen Behörden auf europäischer wie auf nationaler Ebene streng geahndet: So hat etwa die Europäische Kommission im Jahre 2007 gegen insgesamt 45 Unternehmen Kartellbußgelder in der neuen Rekordhöhe von insgesamt 3,334 Mrd. Euro

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2 Gesetzesverstöße resultieren häufig auch aus falsch konzipierten anreizorientierten Vergütungsstrukturen, insbesondere im Rahmen der Bilanzaufstellung sowie der Kapitalmarktinformation; vgl. hierzu nur die US-amerikanischen Beispiele Enron und Worldcom sowie aus Deutschland die Beispiele EM.TV oder Comroad. 3 Das Manuskript wurde Ende Mai 2008 abgeschlossen. 4 Stockmann bezeichnet schwere Kartellverstöße vielmehr zu Recht als „schwerwiegendes Wirtschaftsunrecht“ mit „hoher Sozialschädlichkeit“, in FS Bechtold, 2006, S. 559, 566.

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Legalitätspflicht, Gesetzesverstöße und Regress bei Kartellverstößen

verhängt5. Das bislang höchste Bußgeld traf das deutsche Unternehmen Thyssen-Krupp im Jahre 2007 mit 479,7 Mio. Euro6. Aber auch das Bundeskartellamt hat im Jahre 2007 Strafen in Höhe von insgesamt 435 Mio. Euro ausgesprochen7. Diese Sanktionen werden nicht einfach „aus der Portokasse“ gezahlt, sondern stellen bilanzrelevante Größen dar. In Zukunft sind aufgrund einer verschärften Rechtslage noch weitaus höhere Sanktionen zu erwarten8. Darüber hinaus sehen sich Kartellsünder zunehmend mit Schadensersatzklagen privater Dritter konfrontiert9. Es überrascht daher, wenn die Abschreckungswirkung dieser finanziellen Sanktionen von Kennern der Materie für nicht ausreichend erachtet10 und stattdessen nach US-amerikanischem Vorbild bei gravierenden Kartellverstößen Haftstrafen für die verantwortlichen Manager gefordert werden11. Wird die Abschreckungswirkung der bisherigen Maßnahmen möglicherweise deshalb verneint, weil die Verhängung von Bußgeldern gegen das Unternehmen für die betroffenen Topmanager keine Konsequenzen hat? Es soll daher in diesem Beitrag zum einen der Frage nachgegangen werden, ob von den Behörden sanktionierte Kartellverstöße aus Sicht der betroffenen Unternehmen als Pflichtverletzungen des Managements zu qualifizieren sind, zum anderen soll erörtert werden, ob die geleisteten Strafzahlungen einen Schaden des Unternehmens darstellen, für den das Management haftbar gemacht werden kann. Im Anschluss wird diskutiert, wie ein möglicher Regress durchzusetzen ist. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang das Pflichtenprogramm des Aufsichtsrats zu diskutieren, und es ist weiterhin zu klären, ob auch Aktionäre vermeintliche Haftungsansprüche geltend machen können, sofern der Aufsichtsrat von einer Verfolgung der Kartellverstöße Abstand nimmt. Abschließend wird untersucht, welche Auswirkungen begangene Kartellverstöße auf den jährlichen Hauptversammlungs-TOP „Entlastung des Vorstands“ haben. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Problematik an der Schnittstelle zwi-

__________ 5 6 7 8 9

Wirtschaftswoche 1/2/2008 S. 40 ff. Ebd. Ebd. Zu den kartellrechtlichen Grundlagen ausf. Dreher in FS Konzen, 2006, S. 85, 86 ff. Grundlegend bereits EuGH v. 20.9.2001, Slg 2001, I-6314 (Courage and Crehan); vgl. zur weiteren Entwicklung etwa Brinker/Balssen in FS Bechtold, 2006, S. 69 ff.; aktuell auch OLG Düsseldorf v. 14.5.2008 – VI-U (Kart) 14/07: Schadensersatzklage über 113 Mio. Euro gegen Zementkartell. Vgl. weiterhin das am 3.4.2008 von der EUKommission vorgelegte Weißbuch betr. Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM (2008) 165 endg. 10 Aus dem strafrechtlichen Schrifttum Kriminalstrafen befürwortend etwa Dannecker/ Biermann in Immenga/Mestmäcker, GWB, 4. Aufl. 2007, vor § 81 GWB Rz. 17 ff. m. w. N.; ablehnend aus dem wirtschaftsrechtlichen Schrifttum hingegen Klocker/ Ost in FS Bechtold, 2006, S. 229, 241 f. (mit rechtsvergleichenden Hinweisen). 11 So der ausgeschiedene Präsident des EuG, Bo Vesterdorf, mit der Begründung, dass hohe Bußgelder keine größere Abschreckung bedeuten, da diese Sanktionen letztendlich über die Preise auf die Kunden abgewälzt würden. Die von ihm befürworteten Haftstrafen werden indes von der Bundesregierung (bisher) abgelehnt; vgl. Handelsblatt v. 20.7.2007.

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schen Kartell-, Gesellschafts- und Schadensrecht unseren heutigen Jubilar interessieren dürfte12.

II. Kartellverstöße und Vorstandsverantwortlichkeit 1. Die Legalitätspflicht und die Pflichtwidrigkeit von Kartellverstößen a) Externe und interne Pflichtenbindung Es ist heute weitgehend unstreitig, dass der Vorstand bei der ihm gem. § 76 AktG obliegenden Aufgabe der Leitung der Aktiengesellschaft im Außenverhältnis sämtliche Rechtsvorschriften einzuhalten hat, die das Unternehmen als Rechtssubjekt treffen13. Diese sog. „Legalitätspflicht“14 bedeutet im Kontext unseres Themas zum einen, dass der Vorstand keine Kartellverstöße anordnen oder billigen darf15. Zum anderen hat der Vorstand aber auch dafür Sorge zu tragen, dass das Unternehmen so organisiert und beaufsichtigt wird, dass keine Gesetzesverletzungen und damit auch keine Kartellverstöße stattfinden16. Konkretisiert wird diese Organisationspflicht insbesondere dadurch, dass § 91 Abs. 2 AktG ein Überwachungssystem verlangt, das bestandsgefährdende Entwicklungen frühzeitig erkennt17. Erfasst werden ausweislich der Gesetzesbegründung18 auch Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften19. Zu den Pflichten der Unternehmensleitung zählt daher auch die frühzeitige Erken-

__________ 12 Vgl. zum Thema etwa Karsten Schmidt, wistra 1990, 131 ff. 13 Arnold in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2005, § 22 Rz. 12; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 93 AktG Rz. 23; Hopt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 98; Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 93 AktG Rz. 30; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, § 14 Rz. 66; Spindler in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 64; Wiesner in MünchHdB GesR, Bd. 4 (AG), 3. Aufl. 2007, § 25 Rz. 4; vgl. für die GmbH auch Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 17; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 43 GmbHG Rz. 10; Paefgen in Ulmer, GmbHG, 2006, § 43 GmbHG Rz. 32; Haas in Michalski, GmbHG, 2002, § 43 GmbHG Rz. 46; vgl. auch BGHZ 133, 370, 375. 14 Dieser Begriff (oder auch „Legalitätsprinzip“) findet sich etwa bei Hauschka, AG 2004, 461, 465; vgl. weiter Fleischer, ZIP 2005, 141 ff.; Wilsing in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2007, § 25 Rz. 21. 15 Fleischer, CCZ 2008, 1 im Anschluss an ders., Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 7 Rz. 4 ff.: „Es gehört zu den Kardinalpflichten eines Vorstandsmitglieds, sich bei seiner Amtsführung gesetzestreu zu verhalten“. 16 Hierzu allgemein Fleischer (Fn. 13), § 93 Rz. 52; Krieger/Sailer in Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 93 AktG Rz. 6; Wiesner (Fn. 13), § 25 Rz. 5; speziell zu Kartellverstößen etwa Dreher, ZWeR 2004, 75 ff.; Fleischer, AG 2003, 291 ff.; ders., BB 2008, 1070, 1071 f.; Hauschka, AG 2004, 461, 465; ders., BB 2004, 1178 ff.; vgl. auch Kellenter/Eberhard, in Krieger/Schneider (Fn. 14), § 21. 17 Vgl. nur Arnold (Fn. 13), § 22 Rz. 15; Fleischer (Fn. 13), § 91 AktG Rz. 29 ff.; Wiesner (Fn. 13), § 25 Rz. 6. 18 Begr.RegE zum KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 19 Vgl. Fleischer (Fn. 13), § 91 AktG Rz. 43; Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 91 AktG Rz. 30; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 91 Rz. 9.

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Legalitätspflicht, Gesetzesverstöße und Regress bei Kartellverstößen

nung und Bekämpfung von Kartellverstößen20. Beredtes Zeugnis hierfür ist auch § 130 OWiG, wonach ordnungswidrig handelt, „wer als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber als solchen treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist“21. Dieser Organisationspflicht genügt der Vorstand bei entsprechender Gefahrenlage nach heutigem Verständnis nur, wenn er eine auf Schadensprävention und Risikokontrolle angelegte Compliance-Organisation einrichtet22. Dies gilt nach richtigem Verständnis nicht nur für die unverbundene Aktiengesellschaft, sondern ebenso im Rahmen einer übergreifenden Konzernleitung23. Verstöße gegen die Legalitätspflicht und damit zunächst gegen die externe Pflichtenbindung des Vorstands sind auch im Innenverhältnis zur Gesellschaft grundsätzlich24 als Pflichtverletzung i. S. v. § 93 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AktG zu qualifizieren, soweit das jeweilige Vorstandsmitglied den Gesetzesverstoß zu verantworten hat25. M. a. W.: Vorstandsmitglieder, die im Rahmen ihrer Geschäftsführungstätigkeit gesetzwidrig handeln, wenden entgegen der

__________ 20 Allgemein zu Gesetzesverletzungen: Fleischer (Fn. 13), § 91 AktG Rz. 43; speziell zu Kartellverstößen: Kort (Fn. 19), § 91 AktG Rz. 32; Spindler (Fn. 13), § 91 AktG Rz. 20. 21 Dazu allgemein König in Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, 14. Aufl. 2006, § 130 OWiG Rz. 1 ff. m. w. N.; vgl. auch II. ZS des BGH, BGHZ 125, 366 ff.; speziell im Hinblick auf Kartellverstöße etwa BGH in WuW/E BGH 1799; WuW/E BGH 2202; WuW/E BGH 2262; WuW/E BGH 2329; WuW/E BGH 2394. 22 So zutreffend bereits Fleischer, AG 2003, 291 ff. und neuerdings wieder ders., CCZ 2008, 1 ff.; ähnlich U. H. Schneider, ZIP 2003, 645 ff.; Hauschka, AG 2004, 461 ff.; vgl. aus der Kommentarliteratur nur Fleischer (Fn. 13), § 91 AktG Rz. 43; Kort (Fn. 19), § 91 AktG Rz. 65 ff. sowie ausf. auch Bachmann, VGR Bd. 13, 2008, S. 65 ff.; vgl. weiter Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2007; speziell zur Kartellrechtscompliance etwa Dreher, ZWeR 2004, 75 ff. 23 Wie hier Kremer/Klahold in Krieger/Schneider (Fn. 14), § 18 Rz. 8; Schneider/ Schneider, ZIP 2007, 2061, 2064; Fleischer, CCZ 2008, 1, 5. 24 Zu Ausnahmen: unten II.1.d). Die Parallelität externer und interner Pflichtverletzung gilt hingegen nicht für Vertragsverletzungen: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 30; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 100; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 73. Doch kann selbstverständlich auch eine Vertragsverletzung ein gegenüber der Gesellschaft pflichtwidriges Vorstandshandeln darstellen. 25 Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 24; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 98; Mertens (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 34; Raiser/Veil (Fn. 13), § 14 Rz. 66; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 64; Wiesner (Fn. 13), § 25 Rz. 4; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 22; vgl. dezidiert auch Lutter in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kommentar zum deutschen Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008, Rz. 461: „Die Nichtbeachtung und Verletzung der Gesetze sind per se Pflichtverletzungen“; für die GmbH ebenso Zöllner/Noack (Fn. 13), § 43 GmbHG Rz. 17; Paefgen (Fn. 13), § 43 GmbHG Rz. 32. Zu Unrecht relativierend hingegen M. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001, S. 131 ff.; zust. Hellgardt WM 2006, 1514, 1519; sympathisierend Bachmann (Fn. 22), S. 65, 76 ff.

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zwingenden26 internen Pflichtenbindung des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ an. Sie handeln damit zugleich pflichtwidrig i. S. v. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG27. Dieser Rechtsstandpunkt folgt für gravierende Verstöße zweifelsfrei aus § 396 AktG, wonach eine Aktiengesellschaft aufgelöst werden kann, wenn sie durch gesetzwidriges Verhalten ihrer Verwaltungsträger das Gemeinwohl gefährdet28; mit dieser Regelung kommt eindeutig der Vorrang der Gesetzestreue gegenüber allen sonstigen Aspekten der Unternehmensleitung zum Ausdruck29. Unerheblich ist dabei, ob die verletzten Gesetzesbestimmungen straf- oder bußgeldrechtlich sanktioniert sind; „Rechtsnormen ‚zweiter Klasse‘ gibt es (insoweit) nicht“30. So hat denn auch der BGH zutreffend entschieden, dass der Aufsichtsrat verpflichtet ist, eine gesetzwidrige Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands zu verhindern31. Kartellverstöße bedeuten daher grundsätzlich eine Pflichtwidrigkeit i. S. v. § 93 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AktG32. Dies gilt insbesondere im Falle der Teilnahme an sog. Hard-Core-Kartellen33 und anderen mit Händen zu greifenden Kartellverstößen34. b) Pflichtwidrigkeit sog. „nützlicher Gesetzesverstöße“ Auch wenn bei rein ökonomischer Betrachtung – sei es aufgrund unzulänglicher Sanktionen, sei es aufgrund von Überwachungs- oder Vollzugsdefiziten – die Nichtbeachtung gesetzlicher Vorgaben durchaus im Interesse des Unternehmens liegen kann, so entfällt dennoch aufgrund einer vorrangigen rechtlichen Wertung auch in diesem Fall der externen Verletzung der Legalitäts-

__________ 26 Der in der Vorschrift des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG angeordnete Sorgfaltsmaßstab sowie die generalklauselartig formulierten Verhaltenspflichten (Doppelfunktion) sind zwingendes Recht: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 3; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 34 ff.; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 1; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 3; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 10, 26 (allg. M.). 27 Die Verletzung der Legalitätspflicht ist jedenfalls bei der Verletzung von Allgemeininteressen von erheblicher Bedeutung per se pflichtwidrig i. S. v. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 188; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 130; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 22; insoweit auch M. Roth (Fn. 25), S. 132; vgl. weiter Bachmann (Fn. 22), S. 76 ff. m. w. N. 28 Zur Gemeinwohlgefährdung durch Gesetzesverstöße: Hüffer (Fn. 26), § 396 AktG Rz. 2, 3; Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2006, § 396 AktG Rz. 8, 9. 29 So deutlich Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 32; ähnlich Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 98; vgl. auch bereits Rehbinder, ZHR 148 (1984) 555, 569. 30 So zutreffend Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 64; Klammerzusatz vom Verf. 31 BGHZ 124, 111, 127. 32 Wie hier: Dreher in FS Konzen, 2006, S. 86, 96; Fleischer, BB 2008, 1070; Glöckner/ Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344; Krause, BB-Spezial 8/2008, S. 1, 5; Zimmermann, WM 2008, 433, 435. 33 Unter Hard-Core-Kartellen versteht man allgemein Preis-, Marktaufteilungs- und Submissionsabsprachen zwischen Wettbewerbern; vgl. Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344; allgemein zu den Erscheinungsformen von Kartellverstößen: Dannecker/Biermann (Fn. 10), vor § 81 GWB Rz. 26 ff. m. w. N. 34 So dezidiert auch Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 345; vgl. auch Dreher/ Thomas, WuW 2004, 8, 18.

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pflicht die interne Pflichtverletzung gegenüber der Gesellschaft nicht. Die der gegenteiligen Auffassung zugrunde liegende und in den USA kontrovers diskutierte Theorie eines effizienten Gesetzesbruchs („efficient breach of public law“)35 ist in der deutschen Rechtsordnung generell nicht anzuerkennen. Zutreffend geht vielmehr die ganz h. M. davon aus, dass die Pflichtwidrigkeit von Gesetzesverstößen nicht deshalb entfällt, weil sie im (vermeintlichen) Interesse der Gesellschaft begangen wurden (sog. „nützliche“ Gesetzesverletzungen)36. Auch der Gesetzgeber des UMAG hat dezidiert diesen Standpunkt eingenommen37. Keine Rolle spielt daher, ob das Entdeckungs- und Verfolgungsrisiko im Verhältnis zum erwarteten Vorteil38 vernachlässigbar ist39. Auch Kartellverstöße, die sich aus der ex-ante-Beurteilung für das Unternehmen „rechnen“, sind somit pflichtwidrig i. S. v. § 93 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AktG40. c) Keine Privilegierung im Rahmen der Business judgment rule Die durch das UMAG41 im Anschluss an die ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH42 kodifizierte Business judgment rule will das unternehmerische Ermessen schützen. Sie greift daher nur bei unternehmerischen Zweckmäßigkeits- bzw. Prognoseentscheidungen ein43, nicht hingegen bei rechtlich gebundenen Entscheidungen44, d. h. insbesondere nicht bei Verstößen gegen

__________ 35 Ausf. hierzu mit rechtsvergleichenden Hinweisen Fleischer, ZIP 2005, 141, 146 ff.; vgl. auch ders., BB 2008, 1070, 1071. 36 Allg. M.: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 32; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 99; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 12; Raiser/Veil (Fn. 13), § 14 Rz. 66; vgl. weiter Lutter, ZIP 2007, 841, 843 f.; Fleischer, ZIP 2005, 141, 145 f.; Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1256; in diesem Sinne bereits U. H. Schneider, AG 1983, 205, 212; Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 569; vgl. zur GmbH auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 43 GmbHG Rz. 6; Haas (Fn. 13), § 43 GmbHG Rz. 51; Paefgen (Fn. 13), § 43 GmbHG Rz. 33; großzügiger und auf eine Einzelfallbetrachtung abstellend allerdings Ihrig, WM 2004, 2098, 2105: „Dabei mag sich im Einzelfall unter Berücksichtigung von Chancen und Risiken durchaus ergeben, dass eine bewusste Hinwegsetzung über eine gesetzliche Anordnung … im wohlverstandenen Unternehmensinteresse zu rechtfertigen war und folglich eine Haftung des Vorstands … ausscheidet“. 37 Vgl. Begr.RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 38 Dazu aus der rechtsökonomischen Literatur: Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 479 ff.; vgl. weiter Bryant/Eckard, 73 Rev. Econ. & Stat. 531 (1991) sowie aus schadenspräventiver Sicht auch Wagner, Gutachten zum 66. DJT, 2006, A 98 ff., speziell zum Kartellrecht A 104. 39 Zutreffend Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 99; Mertens (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 34. 40 Speziell zu Kartellverstößen: Fleischer, BB 2008, 1070, 1071; Glöckner/MüllerTautphaeus, AG 2001, 344; Krause, BB-Spezial 8/2008, S. 1, 6; Zimmermann, WM 2008, 433, 435; vgl. auch schon Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 569. 41 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts v. 22.9.2005, BGBl. I S. 2802 ff. 42 BGHZ 135, 244 ff. 43 Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 63 ff.; Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 15 ff.; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 12; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 40. 44 So ausdrücklich Begr.RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11.

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das Gesetz45. Daher werden auch Verstöße gegen das Kartellverbot nicht von der Business judgment rule erfasst und somit nicht durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG privilegiert46. d) Ausnahme: Unklare oder umstrittene Rechtslage Nicht per se pflichtwidrig47 sind Kartellverstöße allerdings bei zweifelhafter Rechtslage. Hier kommt es vielmehr auf den Einzelfall an48. Grundsätzlich wird der Vorstand bei einem solchen – aufgrund der gesetzlichen Konzeption49 allerdings nicht seltenen50 – Sachverhalt zunächst rechtlichen Rat einholen51 und die in Betracht kommenden Alternativen unter Berücksichtigung sämtlicher Risiken und Chancen abwägen müssen. Dieser Prozess kann im Ergebnis dazu führen, dass er nach pflichtgemäßem Ermessen einen Rechtsstandpunkt einnimmt, der für die Gesellschaft günstig ist und nach vertretbarer Auffassung auch noch mit der Rechtslage in Einklang steht52. Selbstredend wird der Vorstand durch juristische Gefälligkeitsgutachten, mögen sie auch von prominenter Seite zur Verfügung gestellt werden, nicht entlastet. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Rechtswidrigkeit offenkundig ist53. Die Pflichtwidrigkeit dürfte regelmäßig auch dann nicht entfallen, wenn der vom Vorstand eingenommene Rechtsstandpunkt zwar (noch) vertretbar ist, jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass im Streitfall die Gerichte abweichend entscheiden werden. Gleiches gilt, wenn es aufgrund der zu erwartenden Nachteile für die Gesellschaft im Falle festgestellter Rechtswidrigkeit unverhältnismäßig ist, das Risiko eines möglichen Kartellverstoßes einzugehen54. In dieser Konstellation wird der Vorstand regelmäßig auch nicht

__________

45 Hopt/Roth (Fn. 43), § 93 Abs. 1 Satz 2, 4 AktG n. F. Rz. 22; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 12; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 44, 65; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 26. 46 So ausdrücklich auch Fleischer, BB 2008, 1070, 1071; Dreher (Fn. 8), S. 90, 96; Krause, BB-Spezial 8/2008, S. 1, 6; Zimmermann, WM 2008, 433, 435; allgemein etwa auch Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1256; Thümmel, DB 2004, 471, 472. 47 In dieser Situation soll nach h. M. allerdings nur das Verschulden (so etwa Fuchs in Immenga/Mestmäcker (Fn. 11), § 2 GWB Rz. 59 m.z.w.N.; Nordemann in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, GWB, 2006, § 2 GWB Rz. 200; vgl. auch Begr.RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11), nicht hingegen die Pflichtwidrigkeit entfallen (so aber mit guten Gründen Fleischer, BB 2008, 1070, 1071 m. w. N.). 48 Dazu speziell im Hinblick auf Kartellverstöße: Dreher in FS Konzen, 2006, S. 86, 95 ff.; Krause, BB-Spezial 8/2008, S. 1, 6; Zimmermann, WM 2008, 433, 435; Glöckner/ Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 345. 49 Zum Paradigmenwechsel aufgrund der VO Nr. 1/2003, ABl. EG 2003, Nr. L 1, S. 1 ff., nur Emmerich, Kartellrecht, 10. Aufl. 2006, § 8 Rz. 8 ff. 50 Siehe etwa Bechtold, WuW 2003, 343; ausf. Dreher/Thomas, WuW 2004, 8 ff. 51 Ausf. Spindler in FS Canaris, 2007, Bd. II, S. 403, 421. 52 Wie hier: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 29; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 99; Mertens (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 38; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 68; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 27 ff. 53 So zutreffend BGH, ZIP 2005, 21; zustimmend Schneider/Schneider, GmbHR 2005, 1229, 1232. 54 So i. E. auch Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 99; Mertens (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 38; Wiesner (Fn. 13), § 25 Rz. 4.

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mit dem Argument gehört werden können, er habe sich bewusst über die vorherrschende Gesetzesauslegung hinweggesetzt, um so eine Änderung der Rechtsprechung herbeizuführen. Im Einzelfall mag dies indes auch anders sein55. 2. Schaden und Haftung Nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG sind Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten (schuldhaft56) verletzen, der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. a) Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden Der Schaden der Gesellschaft muss gerade durch die Pflichtwidrigkeit verursacht worden sein. Es muss also nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen ein Zurechnungszusammenhang bestehen57. Dies bedeutet zunächst die Anwendbarkeit der Adäquanztheorie, so dass alle Schäden ausscheiden, die außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegen58. Die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten ist grundsätzlich zulässig, d. h. die Haftung entfällt, wenn der Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre59. Besondere Kausalitätsfragen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, stellen sich bei Kollegialentscheidungen60. Im Falle von Kartellverstößen kommen als adäquat kausal verursachter Schaden der Gesellschaft in erster Linie die gezahlten Bußgelder, aber auch Ersatzleistungen an private Dritte, Verfahrenskosten sowie sonstige Nachteile (z. B. Reputationsschaden usw.) in Betracht. Insbesondere im Hinblick auf verhängte Bußgelder stellt sich die Frage, inwieweit dieser Schaden im Regresswege geltend gemacht werden kann: b) Differenzhypothese und Vorteilsausgleichung Der gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ersatzfähige Schaden der Gesellschaft bemisst sich nach den §§ 249 ff. BGB und damit nach der sog. Differenzhypo-

__________ 55 Zur Problematik auch Fleischer, ZIP 2005, 141, 150; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 70 ff.; speziell zum Kartellrecht auch Dreher in FS Konzen, 2006, S. 85, 93. 56 Die Schadensersatzhaftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG setzt Verschulden voraus: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 193; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 252; Hüffer (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 14; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 29; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 158 (allg. M.). 57 Allg. M.: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 202; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 266; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 156. 58 Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 202; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 266; Krieger/ Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 30. 59 Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 268; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 30; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 156. Zu Ausnahmen bei Kompetenzüberschreitungen: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 203 m. w. N. 60 Hierzu etwa Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 204; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 157.

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these61. Es wird also das vorhandene Vermögen der Gesellschaft verglichen mit der Vermögenssituation, wie sie sich unter Hinwegdenken der pflichtwidrigen Handlung entwickelt hätte62. Oder anders formuliert: Zu ersetzen ist als Schaden der Gesellschaft die Differenz, die sich aus dem Vergleich der realen Vermögenssituation mit der hypothetischen Situation bei pflichtgemäßem Verhalten ergibt. Unbeachtlich ist hingegen ein Eigenschaden der Aktionäre, der insbesondere durch einen Kursverlust ihrer Aktien entstehen kann63. Im Falle von Kartellverstößen wird regelmäßig die Frage diskutiert, ob gegenüber der Vermögensminderung in Form der gezahlten Bußgelder als auszugleichender Vorteil diejenigen Gewinne in Betracht kommen, die der Gesellschaft als Folge ihres kartellrechtswidrigen Verhaltens erwachsen sind. Diese Frage hat große praktische Bedeutung. Denn berücksichtigt man zugunsten des pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieds diese Gewinne, dann entfällt ein Schaden der Gesellschaft insoweit, als das Bußgeld die wirtschaftlichen Vorteile, die dem Unternehmen aus dem Kartellverstoß erwachsen sind, nicht übersteigt. Ob dies zutrifft, ist im Einzelfall zu klären. Zielstellung des Kartellbußgeldrechts ist es allerdings, sowohl den Kartellverstoß zu ahnden als auch die hieraus erwachsenen wirtschaftlichen Vorteile abzuschöpfen. Idealtypisch sollte daher für eine Vorteilsausgleichung überhaupt kein Raum bleiben. Da es jedoch nicht ausgeschlossen ist, dass die dem Unternehmen tatsächlich erwachsenen Vorteile größer sind als die Summe der verhängten Bußgelder, muss man die aufgeworfene Frage beantworten: Festzuhalten ist zunächst, dass im Schrifttum entweder stillschweigend64 oder ausdrücklich65 bei Kartellverstößen eine Vorteilsausgleichung66 vorgenommen wird. Dieser Auffassung ist im Ergebnis zu folgen. Die Grundsätze der Vorteilsausgleichung gelten für Schadensersatzansprüche aller Art67, können somit im Rahmen der Organhaftung gem. § 93 AktG ohne weiteres berücksichtigt werden. Nach allgemeinen Grundsätzen sind daher alle Vorteile vom eingetretenen Schaden im Wege der Anrechnung abzuziehen68, die bei wertender

__________

61 Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 198; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 261; Krieger/ Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 30; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 154; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 32, 43; aus der Rspr. nur BGHZ 152, 280, 287 sowie aktuell BGH, GmbHR 2008, 488 ff. 62 Vgl. nur BGH (GSZ), BGHZ 98, 212, 217; Heinrichs in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, Vorb v § 249 BGB Rz. 8 m. w. N. 63 BGH, NJW 1977, 1283; Mertens (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 24; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 154. Auch Verrechnungen zwischen der Seite der Gesellschaft und der Seite der Aktionäre sind unzulässig: Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 201; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 265. 64 So Horn, ZIP 1997, 1129, 1136. 65 So Fleischer, BB 2008, 1070, 1073; Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, 344, 346; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 37; Zimmermann, WM 2008, 433, 439. 66 Allgemein zur Vorteilsausgleichung: Wendehorst, Anspruch und Ausgleich: Theorie einer Vorteils- und Nachteilsausgleichung im Schuldrecht, 1999; Thüsing, Wertende Schadensberechnung, 2001. Vgl. zusammenfassend nur C. Schubert in Bamberger/ Roth, BGB, 2. Aufl. 2007, § 249 BGB Rz. 102 ff. 67 Heinrichs in Palandt (Fn. 62), Vorb v § 249 BGB Rz. 124 m. w. N. 68 Zur Abzugsmethode: Heinrichs in Palandt (Fn. 62), Vorb v § 249 BGB Rz. 123 m. w. N.

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Betrachtung in einem inneren Zusammenhang stehen69. Dies entspricht auch der allgemeinen Auffassung im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum, wonach im Rahmen der Vorstandshaftung des § 93 AktG sämtliche Vorteile, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schädigung der Gesellschaft stehen, grundsätzlich schadensmindernd berücksichtigt werden dürfen70. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn der Zweck der verletzten Rechtsnorm einer solchen Berücksichtigung gerade entgegenstehen würde71. Dies ist jedoch für das Verhältnis des kartellrechtswidrig handelnden Unternehmens zum hierfür persönlich Verantwortlichen zu verneinen72: Es ist nicht Zweck des Regresses gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, dass sich die Gesellschaft beim pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglied bereichert und sich hierdurch gegenüber anderen Unternehmen mittelbar aus dem Kartellverstoß wiederum in bedenklicher Weise einen Vorteil verschafft73. Dies gilt umso mehr, als es sowieso fraglich ist, inwieweit verhängte Bußgelder im Wege des Regresses geltend gemacht werden können74. Praxisprobleme können allerdings im Rahmen der Darlegungs- und Beweislast auftreten75. c) Ausschluss oder Begrenzung des Regresses für Bußgeldzahlungen? Nach einer im Schrifttum verbreiteten Auffassung soll der Regress im Hinblick auf Bußgelder, die gegenüber der Gesellschaft wegen eines Kartellverstoßes verhängt wurden, generell ausgeschlossen76 oder zumindest begrenzt77 sein. Dogmatisch wird dieses Ergebnis damit begründet, dass die Erstattung von Unternehmens-Bußgeldern durch pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder nicht vom Schutzbereich des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG erfasst würde. Dieser Auffassung wird indes von anderen Autoren heftig widersprochen78. Nach allgemeiner Einschätzung ist die Rechtslage insoweit sehr unklar. Eine gerichtliche Klärung der in der Tat schwierigen Problematik wäre daher höchst wünschenswert.

__________ 69 Dogmatik und Einzelheiten sind streitig und werden in der Praxis durch Fallgruppenbildung gelöst; vgl. nur Heinrichs in Palandt (Fn. 62), Vorb v § 249 BGB Rz. 122, 125 ff.; C. Schubert (Fn. 66), § 249 BGB Rz. 112 ff. 70 Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 240; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 205; ausf. Fleischer, ZIP 2005, 141, 151. 71 Zutreffend Fleischer, ZIP 2005, 141, 151 mit rechtsvergleichenden Hinweisen zum US-amerikanischen Recht auf S. 148. 72 Richtig Zimmermann, WM 2008, 433, 439; zustimmend nunmehr auch Fleischer, BB 2008, 1070, 1073. 73 Ähnlich Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 37 und ihm folgend auch Zimmermann, WM 2008, 433, 438 und Fleischer, BB 2008, 1070, 1073. 74 Dazu sogleich unter II.1.c). 75 Ausf. unter II. 3. 76 So insbesondere Dreher (Fn. 8), S. 85, 104 ff. im Anschluss an Horn, ZIP 1997, 1129, 1136. 77 So etwa Krause, BB-Spezial 8/2008, S. 1, 13; ebenso Fleischer, BB 2008, 1070, 1073. 78 Eingehend Zimmermann, WM 2008, 433, 436 ff.; vgl. auch bereits Glöckner/MüllerTautphaeus, AG 2001, 344, 345 f. sowie Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 39 ff., 41.

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Ausgangspunkt aller Überlegungen ist zunächst, dass einem Regress der vom Unternehmen gezahlten Bußgelder nicht das angebliche Prinzip der Höchstpersönlichkeit von Strafzahlungen entgegensteht79. Denn bereits das Reichsgericht80 sowie das Reichsarbeitsgericht81 haben herausgearbeitet, dass eine Schadensersatzpflicht grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Dieser Rechtsprechung hat sich in der Folgezeit auch der II. Zivilsenat des BGH angeschlossen82. In seiner Entscheidung vom 14.11.1997 führte der IX. Zivilsenat des BGH hierzu zusammenfassend aus83: „Wer eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat, muss zwar die deswegen gegen ihn verhängte Sanktion nach deren Sinn und Zweck in eigener Person tragen und damit auch eine ihm auferlegte Geldstrafe oder -buße aus seinem eigenen Vermögen aufbringen. Dies schließt indessen für sich allein einen Anspruch gegen einen anderen auf Ersatz für einen solchen Vermögensnachteil nicht aus. Die Erstattung einer vom Täter schon gezahlten Geldstrafe ist nicht verboten; sie ist nicht als Begünstigung (§ 257 StGB) strafbar. … Selbst derjenige, der dem Täter im voraus die zur Zahlung der Strafe erforderlichen Geldmittel zur Verfügung stellt, macht sich … nicht wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB) strafbar. … Es kann deshalb … für die Frage eines Ersatzanspruchs allein darauf ankommen, ob ein solcher sich aus den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts ergibt.“84

Das neuere Schrifttum hat einhellig ebenso diesen Standpunkt eingenommen85. Die Problematik liegt allerdings darin begründet, dass im Falle von Kartellverstößen die deutschen Behörden Bußgelder sowohl gegen die Verantwortlichen persönlich als auch gegenüber dem kartellrechtswidrig handelnden Unternehmen verhängen können (vgl. §§ 9 Abs. 1, 130 Abs. 1 OWiG i. V. m. §§ 1, 19 ff., 81 Abs. 1 GWB, Art. 81 Abs. 1, 82 EG). Wird dagegen die EU-Kommission tätig, so ist Adressat des Bußgelds stets nur das Unternehmen86. Auf diese Zweispurigkeit nimmt auch der gesetzliche Bußgeldrahmen Rücksicht. Bußgelder im hohen Millionenbereich, wie sie heute sowohl auf europäischer wie auch auf nationaler Ebene gegen kartellrechtswidrig handelnde Unternehmen verhängt werden, sind de lege lata gegen Privatpersonen nicht möglich und würden auch gegen den elementaren Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Denn wenn auch – wie bereits ausgeführt – Kartellverstöße „keine Kavaliersdelikte“ sind und daher Verstöße gegen das Kartellrecht als der „Magna Charta des Wettbewerbs“87 zu Recht streng zu ahnden sind, so wiegt doch auch ein gravierender Kartellverstoß nicht so schwer, dass er in seiner Konse-

__________ 79 80 81 82 83 84 85

So aber noch Bastuck, Enthaftung des Managements, 1986, S. 127 ff. RGZ 169, 267 ff. RAGE 27, 43 ff. BGHZ 23, 222, 224 ff. BGH, NJW 1997, 518, 519. Der BGH zitiert hierfür BGHZ 23, 222, 226. Ausf. Rehbinder, ZHR 148 (1984), 555, 560 ff.; speziell für Kartellverstöße auch Dreher in FS Konzen, 2006, S. 86, 104; Fleischer, BB 2008, 1070, 1073; Zimmermann, WM 2008, 433, 437. 86 Hierzu ausf. Dreher in FS Konzen, 2006, S. 86 ff. 87 So treffend Dreher, ZWeR 2004, 75, 77.

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quenz die Verhängung einer „wirtschaftlichen Todesstrafe“ rechtfertigen könnte. Daher berücksichtigt jede Geldstrafe oder Geldbuße neben der Schwere der Schuld auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Täters. Diese Grenzen würden aber überschritten, wenn gezahlte Bußgelder generell und unbegrenzt als Schadensersatzleistungen von den für den Kartellverstoß Verantwortlichen im Regresswege eingefordert werden könnten. Diesen im Schrifttum zu Recht geltend gemachten Bedenken ist allerdings nicht durch einen generellen Regressausschluss Rechnung zu tragen88. Sympathischer ist vielmehr die Erwägung, den Regress auf eine angemessene Höhe zu begrenzen. Allerdings besteht kein Anlass, diese Begrenzung an irgendeinem Bußgeldrahmen zu orientieren bzw. hypothetisch zu fragen, welches Bußgeld gegen den für den Kartellverstoß Verantwortlichen persönlich hätte verhängt werden dürfen89. Die Maßstäbe der öffentlich-rechtlichen Kartellund Bußgeldvorschriften sind für die zivilrechtliche Regressfrage vielmehr völlig irrelevant. Auch der Schutzbereich der Haftungsnorm des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ist nicht berührt. Dogmatisch zutreffender erscheint vielmehr der Ansatz, dass Haftungsansprüche, die nicht auf einem illoyalen, eigennützigen Verhalten des Vorstandsmitglieds beruhen, sondern aus der betrieblichen, weil unternehmensleitenden Sphäre herrühren und auch nicht – wie regelmäßig im Falle von Kartellverstößen – im Rahmen einer D&O-Versicherung versicherbar sind90, aufgrund der Fürsorgepflicht der Aktiengesellschaft im Regresswege nur in einem angemessenen Rahmen geltend gemacht werden dürfen. Anleihe nimmt diese Überlegung bei den Grundsätzen über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung91, wohlwissend, dass diese Haftungsbeschränkung nach ganz h. M. grundsätzlich nicht auf die Mitglieder der Unternehmensleitung zur Anwendung kommen soll92. Ausgeschlossen ist dadurch jedoch nur die Heranziehung der arbeitsrechtsdogmatischen Grundlage der Haftungsbeschränkung, nicht jedoch das Ergebnis einer Haftungsbeschränkung als solche, wenn allein dieser Rechtszustand mit übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellungen vereinbar ist93. Faktoren für die Höhe der Regressbegrenzung sollten etwa der Schadensumfang, die Schwere der Pflichtverletzung, aber auch die aktuell und in der Vergangenheit bezogene Vergütung des Regresspflichtigen sein. Denn wer – wie häufig – eine (zu) hohe Vorstandsvergütung mit dem Argument der großen Ver-

__________

88 So aber Dreher in FS Konzen, 2006, S. 86, 103 ff., 106; ähnlich auch Horn, ZIP 1997, 1129, 1136. 89 So aber erwogen von Krause, BB-Spezial 8/2008, S. 1, 13 im Anschluss an Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 41; zustimmend Fleischer, BB 2008, 1070, 1073. 90 Zum Ausschluss von Kartellbußen in der D&O-Versicherung: Hauschka, VGR Bd. 13, 2008, S. 51, 56; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 52 ff., 55. 91 Dazu grundlegend BAG (GS), NJW 1995, 210. 92 Abl. hierzu mit knapper Begründung bereits BGH, WM 1975, 467, 469; ausf. Fleck in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 197, 215 ff.; U. H. Schneider in FS Werner, 1984, S. 795 ff.; vgl. auch Bastuck (Fn. 79), S. 80 ff.; aus der Kommentarliteratur nur Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 339 ff.; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 159 m. w. N. 93 Das Modell der Regressbeschränkung ist jedenfalls dem Modell des Regressausschlusses sowohl konzeptionell als auch vom Ergebnis her eindeutig überlegen.

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antwortung zu rechtfertigen sucht, darf sich im Ernstfall auch der Übernahme einer finanziellen Verantwortung nicht entziehen, sondern muss seinen Teil dazu beitragen, einen pflichtwidrig herbeigeführten Schaden der Gesellschaft nach besten Kräften wieder auszugleichen. 3. Darlegungs- und Beweislast Die Darlegungs- und Beweislast ist nach der gesetzlichen Konzeption des § 93 Abs. 2 AktG geteilt: Die Gesellschaft hat zunächst (und nur) darzulegen und zu beweisen, dass ihr durch ein Verhalten des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds – das sie für pflichtwidrig hält – ein Schaden entstanden ist94. Sowohl für die Feststellung der Schadenshöhe als auch für die Ursächlichkeit zwischen Organhandeln und Schaden gilt die Beweiserleichterung des § 287 ZPO95. Das verklagte Vorstandsmitglied muss hingegen darlegen und beweisen, dass das ihm vorgeworfene Verhalten nicht pflichtwidrig bzw. nicht schuldhaft war96. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch einem rechtskräftigen Bußgeldbescheid oder sogar einem rechtskräftigen Strafurteil keine gesetzliche Bindungswirkung zukommt97. Dass entgegen der gesetzlichen Vermutung keine Pflichtwidrigkeit gegeben ist, muss jedoch zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden; es gilt somit das Beweismaß des § 286 ZPO98. Stehen Kartellverstoß und Pflichtwidrigkeit des Vorstandshandelns fest und wird von der Gesellschaft das gezahlte Bußgeld als Schaden geltend gemacht, so ist es Sache des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds, die Voraussetzungen der Vorteilsausgleichung darzulegen und zu beweisen. Denn hierfür trägt nach den allgemeinen Grundsätzen des Schadensrechts der Schädiger die Darlegungs- und Beweislast99.

III. Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen 1. Regress der Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat Schadensersatzansprüche der AG wegen Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern sind grundsätzlich vom Aufsichtsrat geltend zu machen (§ 112

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94 Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 208; Hüffer (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 16; Krieger/ Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 31; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 167; Wiesner (Fn. 13), § 26 Rz. 9; Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 48. 95 BGHZ 152, 280, 287 m. w. N. zur BGH-Rechtsprechung; vgl. neuerdings wieder BGH, GmbHR 2008, 488, 489; zustimmend Arnold (Fn. 13), § 22 Rz. 49; Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 208; zweifelnd jedoch Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 278, 281. 96 Arnold (Fn. 13), § 22 Rz. 48; Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 209; Hopt (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 285; Hüffer (Fn. 26), § 93 AktG Rz. 16; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 31; vgl. auch Goette, ZGR 1995, 648, 672. 97 Richtig Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 30. 98 BGH, GmbHR 2008, 488 (II. ZS); vgl. auch BGHZ 162, 259, 263 (VII. ZS) sowie speziell für Kartellbußen auch Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 51. 99 BGHZ 94, 195, 217; BGH, NJW 1979, 761; NJW 1985, 1539; NJW-RR 1991, 814, 815; NJW-RR 1992, 1397; NJW-RR 2002, 1280; NJW-RR 2004, 79, 81; Heinrichs in Palandt (Fn. 62), Vorb v § 239 BGB Rz. 123b m. w. N.

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AktG)100. Nach der grundlegenden ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH101 hat der Aufsichtsrat im Falle einer möglichen Pflichtverletzung das Vorliegen von Ersatzansprüchen zu prüfen und über die Anspruchsverfolgung zu entscheiden. Gelangt er dabei zu dem Ergebnis, dass der AG (zumindest teilweise) durchsetzbare Schadensersatzansprüche zustehen, so ist er grundsätzlich zur gerichtlichen Geltendmachung verpflichtet; er darf hiervon nur ausnahmsweise absehen, wenn gewichtige Gründe des Wohls der Gesellschaft dagegen sprechen und diese Umstände die Gründe, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, deutlich überwiegen. Die Entscheidung des Aufsichtsrats ist gerichtlich in weiten Teilen voll nachprüfbar; ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum kommt nur in engen Grenzen in Betracht102. Nach diesen Grundsätzen darf der Aufsichtsrat – will er sich nicht selbst dem Risiko einer Haftung wegen Pflichtwidrigkeit aussetzen – im Falle verhängter Kartellbußgelder von einem Regress regelmäßig nur dann Abstand nehmen, wenn entweder feststeht, dass sich kein Vorstandsmitglied pflichtwidrig verhalten hat, oder wenn trotz der gezahlten Bußgelder der Gesellschaft deshalb kein Schaden entstanden ist, weil die aus dem Kartellverstoß erwachsenen Vorteile das Bußgeld übersteigen103. Allein die Tatsache, dass der Erfolg der Klage nicht gewiss ist104, berechtigt den Aufsichtsrat hingegen nicht, generell von der Anspruchsverfolgung Abstand zu nehmen105. Ebenfalls kein Hinderungsgrund sind die bisherigen Verdienste des Vorstandsmitglieds sowie die ihn persönlich ggf. hart treffenden Konsequenzen106. Da es angesichts schwerster Kartellverstöße und gezahlter Bußgelder in Millionenhöhe unwahrscheinlich ist, dass in sämtlichen Fällen auf Vorstandsebene keine Pflichtverletzungen begangen wurden oder überhaupt kein Schaden entstanden ist, spricht viel dafür, dass die Aufsichtsräte der von Kartellbußen betroffenen Unternehmen ihrer Pflicht zur vergangenheitsorientierten Überwachung des Vorstands in Form der Prüfung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen bislang nur unzureichend nachgekommen sind. Die weit verbreitete Skepsis, dass auch die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung in der Praxis aufgrund der personellen Verflechtungsstrukturen zwischen Management und Aufsichtsrat zu keinen wesentlichen Veränderungen bei der Verfolgung pflichtwidrigen Vorstandshandels führen werde107, scheint sich jedenfalls in Bezug auf unser Thema bewahrheitet zu haben.

__________ 100 Fleischer (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 248; Krieger/Sailer (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 35; Spindler (Fn. 13), § 93 AktG Rz. 172. 101 BGHZ 135, 244, 252 ff. 102 Einzelheiten etwa bei Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 13), § 111 AktG Rz. 34 ff.; Spindler (Fn. 13), § 111 AktG Rz. 27 m. w. N. 103 Zur Vorteilsausgleichung oben II.2.b). 104 Etwa weil Stimmen im Schrifttum einen Regress in dieser Konstellation für ausgeschlossen erachten: dazu oben II.2.c). 105 Richtig Habersack (Fn. 102), § 111 AktG Rz. 35 a. E. 106 So auch Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 45. 107 So etwa Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 910 f.; vgl. auch Karsten Schmidt, NZG 2005, 796, 798.

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2. Aktionärsklage Da sich in der Praxis auch die Hürden für eine Anspruchsverfolgung gem. § 147 AktG als zu hoch erwiesen haben108, hat der Gesetzgeber des UMAG im Anschluss an zahlreiche Vorarbeiten aus dem Schrifttum109 und ausländische Vorbilder mit der neuen Vorschrift des § 148 AktG auch für eine Aktionärsminderheit die Möglichkeit eröffnet, Schadensersatzansprüche der AG im Wege einer gesetzlichen Prozessstandschaft geltend zu machen110. Die zahlreichen Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden111. Doch gilt es festzuhalten, dass jedenfalls Kartellverstöße, die mit hohen Bußgeldzahlungen sanktioniert wurden, prima facie Tatsachen i. S. v. § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG sind, „die den Verdacht rechtfertigen, dass der Gesellschaft durch … grobe Verletzung des Gesetzes … ein Schaden entstanden ist“112. Die Antragsteller dürften daher ihrer Darlegungslast113 genügen, wenn sie den in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Kartellverstoß sowie das hierfür verhängte Bußgeld als Tatsache in das Verfahren einführen. Nicht erforderlich ist auf der ersten Stufe des Klagezulassungsverfahrens, dass die vorgelegten Tatsachen zur Anspruchsbegründung ausreichen114. Insbesondere der Einwand, es sei aufgrund anrechenbarer Vorteile überhaupt kein Schaden bei der Gesellschaft entstanden, muss nicht von den Antragstellern antizipiert werden, sondern bleibt dem eigentlichen Haftungsprozess vorbehalten. „Überwiegende Gründe des Gesellschaftswohls“ i. S. v. § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG dürften der Zulassung der Klage im Regelfall nicht entgegenstehen. Der Gesetzgeber hat vielmehr mit seiner Formulierung die Kriterien der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung („gewichtige Gründe“) eher noch verschärft und damit den Ausnahmecharakter dieser Regelung deutlich betont115. Fraglich ist, was diese Ausnahmeregelung für unser Thema bedeutet. So soll einerseits – im Anschluss an die Gesetzesbegründung116 – die Verfolgung „von Ersatzansprüchen wegen einer Unternehmensgeldbuße in Bagatellfällen“ ausscheiden117. Andererseits soll – ebenfalls im Anschluss an die Gesetzesbegrün-

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108 Zur Reform des § 147 AktG durch das UMAG auch Karsten Schmidt, NZG 2005, 796 ff. 109 Vgl. hierzu grundlegend Ulmer, ZHR 163 (1999), 290 ff.; zust. Bayer, NJW 2000, 2609 ff.; ausf. Baums, Gutachten 63. DJT, 2000, F 256 ff. 110 Dazu Begr.RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 23; vgl. hierzu auch Lieder (Fn. 107), S. 909 ff. 111 Ausf. etwa Hüffer (Fn. 26), § 148 AktG Rz. 4 ff.; Spindler in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 16), § 148 AktG Rz. 5 ff. 112 Wie hier Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 46; allgemein zu schwerwiegenden Gesetzesverletzungen: Mock in Spindler/Stilz (Fn. 13), § 148 AktG Rz. 53; Spindler (Fn. 111), § 148 AktG Rz. 24. 113 Einzelheiten str.; vgl. nur Hüffer (Fn. 26), § 148 AktG Rz. 8; Mock (Fn. 112), § 148 AktG Rz. 52; Spindler (Fn. 111), § 148 AktG Rz. 24. 114 Vgl. nur Handelsrechtsausschuss des DAV, NZG 2004, 555, 561; vgl. weiter Spindler (Fn. 111), § 148 AktG Rz. 24 m. w. N. 115 Wie hier Hüffer (Fn. 26), § 148 AktG Rz. 9; Mock (Fn. 112), § 148 AktG Rz. 55; Spindler (Fn. 111), § 148 AktG Rz. 25. 116 Begr.RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 22. 117 So Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 47.

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dung – eine Verfolgung aber auch dann nicht in Betracht kommen, „wenn die Beitreibung … angesichts der Vermögensverhältnisse des Schuldners … ausgeschlossen erscheint“, etwa „bei der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs wegen einer besonders hohen Geldbuße“118. Beide Aussagen passen nicht richtig zusammen. Hier besteht noch Klärungsbedarf. Eine im Übrigen fundierte Aktionärsklage wird jedenfalls dann nicht an der Zahlungsunfähigkeit des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds scheitern, wenn dessen Haftung bereits materiellrechtlich auf eine angemessene Höhe begrenzt wird119 oder prozessual nur ein Teilschaden geltend gemacht wird.

IV. Verweigerung der Entlastung? Die begangenen Kartellverstöße können für die Hauptversammlung ein Grund sein, den hierfür verantwortlichen Vorstandsmitgliedern die Entlastung zu verweigern, nämlich dann, wenn die Rechtsverletzung „schwerwiegend“ ist120. Da die Hauptversammlung über die Entlastung nach zutreffender h. M. nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat121, wäre jede andere Entscheidung in diesem Fall regelmäßig materiell rechtswidrig. Denn die Entlastung bedeutet neben der Billigung der Zweckmäßigkeit der Unternehmensleitung zugleich auch, dass die Verwaltung im großen und ganzen gesetz- und satzungsmäßig gehandelt hat122; diese Voraussetzung ist bei einem schwerwiegenden Kartellverstoß, der zudem mit einer hohen Bußgeldzahlung sanktioniert wurde, nicht gegeben. Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn für die Gesellschaft aufgrund der Vorteilsausgleichung kein Schaden entstanden ist und die Arbeit des betreffenden Vorstandsmitglieds im Übrigen sehr erfolgreich war. Will daher nicht auch der Aufsichtsrat pflichtwidrig handeln, darf er der Hauptversammlung ggf. die Entlastung der betroffenen Vorstandsmitglieder nicht vorschlagen. Denn der nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG auch vom Aufsichtsrat zu unterbreitende Vorschlag zum TOP „Entlastung des Vorstands“ muss generell auf eine rechtmäßige Beschlussfassung hinzielen123. Ist dies nicht der Fall, ist der Aufsichtsratsbeschluss rechtswidrig und damit fehlerhaft. Die Nichtigkeit des Beschlusses kann von jedem Aufsichtsratsmitglied mittels Feststellungsklage geltend gemacht werden124.

__________ 118 119 120 121

So Wilsing (Fn. 14), § 25 Rz. 47. Dazu oben II.2.c). So die Formulierung in BGHZ 153, 40, 51. So zutreffend und ausf. Graff, Die Anfechtbarkeit der Entlastung im Kapitalgesellschaftsrecht, 2008, S. 350 f.; im Anschluss an BGHZ 153, 47 ff.; ebenso Hoffmann in Spindler/Stilz (Fn. 13), § 120 AktG Rz. 25 ff., 27; Hüffer (Fn. 26), § 120 AktG Rz. 12; a. A. Kubis in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 120 AktG Rz. 15: unbeschränktes Ermessen; zustimmend Spindler (Fn. 111), § 120 AktG Rz. 31. 122 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 121. 123 Kubis (Fn. 26), § 124 AktG Rz. 53; Werner in Großkomm.AktG (Fn. 13), § 124 AktG Rz. 74. 124 BGHZ 135, 244, 247 m. w. N.

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Wird trotz der Verantwortlichkeit für einen schwerwiegenden Kartellverstoß dem Vorstand insgesamt bzw. dem betroffenen Vorstandsmitglied von der Hauptversammlung die Entlastung erteilt, so kann der Entlastungsbeschluss regelmäßig erfolgreich angefochten werden. Denn in diesem Fall dürfte das gebilligte Verhalten eindeutig einen schwerwiegenden Gesetzesverstoß darstellen, was nach der zutreffenden Auffassung des BGH zur Anfechtung berechtigt125. Dogmatisch lässt sich dieses Ergebnis damit begründen, dass die Hauptversammlungsmehrheit gegenüber der Minderheit treuwidrig handelt, wenn sie trotz des schwerwiegenden Kartellverstoßes die Entlastung ausspricht. Ob dies im jeweiligen Einzelfall zutrifft, ist allerdings im Wege einer umfassenden Interessenabwägung festzustellen, in die eine Vielzahl von Interessen einzustellen ist126.

V. Zusammenfassung und Ausblick 1. Wer als Vorstandsmitglied einen Kartellverstoß zu verantworten hat, handelt gegen das Legalitätsprinzip und damit im Regelfall auch gegenüber seiner Gesellschaft pflichtwidrig. 2. Er haftet für jeden Schaden, der seiner Gesellschaft aus dem Kartellverstoß entsteht. Allerdings finden die Grundsätze der Vorteilsausgleichung Anwendung. 3. Der Regress ist im Hinblick auf gezahlte Bußgelder, mit denen die Gesellschaft wegen des Kartellverstoßes sanktioniert wurde, nicht ausgeschlossen, aber auf eine angemessene Höhe zu begrenzen. 4. Darlegungs- und beweispflichtig für pflichtgemäßes bzw. schuldloses Handeln und auch für ausgleichsfähige Vorteile ist das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied. Für die Gesellschaft reicht es, wenn sie den Kartellverstoß als mögliche Pflichtwidrigkeit und das gezahlte Bußgeld als Schaden geltend macht. Diese Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gilt auch im Rahmen der Aktionärsklage (§ 148 AktG). 5. Der Aufsichtsrat hat im Falle eines festgestellten Kartellverstoßes nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH über das Bestehen und die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen zu befinden. Er muss weiterhin prüfen, ob er der Hauptversammlung die Entlastung der für den Kartellverstoß verantwortlichen Vorstandsmitglieder vorschlagen kann, ohne sich mit der Macroton-Entscheidung des BGH in Widerspruch zu setzen. 6. Jedenfalls bei schwerwiegenden Kartellverstößen und hohen Bußgeldzahlungen spricht viel dafür, dass Schadensersatzansprüche gegen die hierfür verantwortlichen Vorstandsmitglieder bei Untätigkeit des Aufsichtsrats im Wege der Aktionärsklage geltend gemacht werden können. Auch ein ent-

__________ 125 BGHZ 153, 47, 51. 126 Dazu ausf. Graff (Fn. 121), S. 374 ff.

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Legalitätspflicht, Gesetzesverstöße und Regress bei Kartellverstößen

sprechender Entlastungsbeschluss der Hauptversammlung dürfte regelmäßig anfechtbar sein. Werden diese Grundsätze beherzigt, dann kann auch das Gesellschaftsrecht einen sinnvollen Beitrag zur Durchsetzung des Legalitätsprinzips im Allgemeinen und zur Bekämpfung von Kartellverstößen im Besonderen leisten. Von Anfang an verfolgen die Vorschriften des deutschen Aktienrechts auch den Zweck, das Handeln der Gesellschaft und ihrer Organe am Interesse der Allgemeinheit auszurichten127. Speziell die großen, im Regelfall auch börsennotierten Aktiengesellschaften sind seit jeher aufgrund ihrer großen wirtschaftlichen Bedeutung stets auch eine öffentliche Veranstaltung128. So wenig wie „nützliche Gesetzesverstöße“ die Pflichtwidrigkeit entfallen lassen, so wenig dürfen solche Verstöße gegen die Legalitätspflicht aufgrund innergesellschaftsrechtlicher Norm- oder Durchsetzungsdefizite für die Verantwortlichen sanktionslos bleiben. Die Haftungsordnung des § 93 AktG ist nicht ohne Grund als zwingendes Recht ausgestaltet. In der Verantwortung des Aufsichtsrats liegt es, für die Einhaltung der Rechtsordnung durch den Vorstand der Aktiengesellschaft Sorge zu tragen.

__________ 127 Siehe hierzu nur die vielfältigen Hinweise in den zahlreichen Beiträgen in Bayer/ Habersack, Aktienrecht im Wandel, 2007. 128 Dazu auch Bayer, Gutachten für den 67. DJT, 2008, E 26, 84 m. w. N.

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Gerold Bezzenberger/Tilman Bezzenberger

Aktionärskonsortien zur Wahrnehmung von Minderheitsrechten Inhaltsübersicht I. Einführung II. Erscheinungsformen und Begriff der Minderheitsrechte 1. Überblick über die einzelnen Minderheitsrechte 2. Zum Begriff der Minderheitsrechte III. Notwendige Bestandsdauer der Aktionärsminderheit 1. Mehrstufige Verfahren 2. Beispiel 1: Das Einberufungsbegehren nach § 122 AktG 3. Beispiel 2: Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 148 AktG

2. Die gemeinsame Rechtsverfolgung als Streitgenossen 3. Koordination der Rechtsverfolgung in einer BGB-Innengesellschaft 4. Rechtsverfolgung durch eine BGBAußengesellschaft V. Vertragsgestaltung zur Ausübung von Minderheitsrechten 1. Der Gesellschaftsvertrag der Innengesellschaft 2. Der Gesellschaftsvertrag der Außengesellschaft VI. Zusammenfassende Schlussbetrachtung

IV. Möglichkeiten der Organisation einer Aktionärsminderheit 1. Gestaltungsmöglichkeit für die Rechtsverfolgung

I. Einführung Minderheitsrechte in der Aktiengesellschaft sind Mitgliedschaftsrechte, zu deren Geltendmachung nicht jeder einzelne Aktionär, sondern nur Aktionäre mit einer bestimmten Mindestbeteiligung befugt sind. Hierzu gehören etwa die Rechte auf Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung (§ 122 AktG) oder auf gerichtliche Bestellung von Sonderprüfern (§ 142 AktG). Solche Minderheitsrechte fanden sich schon seit 1884 im ADHGB und wurden in den nachfolgenden Aktiengesetzgebungen vermehrt. Im Jahr 2005 hat der Gesetzgeber ein weiteres und wichtiges Minderheitsrecht geschaffen, nämlich die derivative Haftungsklage von Aktionären (§ 148 AktG)1, mit der Minderheitsaktionäre im eigenen Namen insbesondere gegen Unternehmensleiter auf Ersatzleistung an die Gesellschaft klagen können (actio pro socio), dies allerdings nur, wenn den Aktionären die Klagebefugnis in einem gesonderten gerichtlichen Vorverfahren, dem Klagezulassungsverfahren, eigens erteilt worden

__________ 1 Eingeführt durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 22.9.2005 (BGBl. I S. 2802).

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ist2. Anders als die überlieferten Minderheitsrechte, die auf ein zeitlich und gegenständlich eng abgegrenztes Anliegen bezogen sind, kann sich ein solches Klagezulassungs- und Klageverfahren der Aktionären über lange Zeit hinziehen und stellt daher eine Mehrzahl von klagewilligen Aktionäre in erhöhtem Maße vor die Notwendigkeit, ihr Zusammenwirken zu planen und zu organisieren. Das gibt Anlass, einer Reihe von Fragen zu den Minderheitsrechten nachzugehen. Hierfür sollen zunächst deren einzelne Erscheinungsformen und ihr gemeinsamer Bedeutungsgehalt in Erinnerung gerufen werden (anschließend zu II.). Minderheitsrechte durchbrechen die reguläre Organverfassung der Aktiengesellschaft und setzen daher in vielen Fällen voraus, dass die tätigen Aktionäre ihr Begehren zunächst erfolglos innerhalb der Gesellschaft geltend machen, bevor sie es gerichtlich durchsetzen können. Das Verfahren ist also zeitlich gestuft, in mehrere aufeinander folgende Schritte unterteilt. Dies wirft die Frage auf, ob und inwieweit das gesetzlich gebotene Beteiligungsquorum auf den einzelnen Verfahrensstufen ausgefüllt werden muss, und ob neue Aktionäre hinzustoßen oder alte abspringen können (unten zu III.). Und vor allem stellt sich die Frage, wie die Minderheitsaktionäre ihr Zusammenwirken rechtlich organisieren können. In der Gesetzesbegründung zur derivativen Haftungsklage der Aktionäre heißt es hierzu ein wenig lapidar, „die Minderheit, die ‚zusammen‘ das Quorum aufbringt und den Antrag stellt, und die aus mehreren Personen besteht, handelt als BGB-Gesellschaft“3. Das ist nicht falsch, aber es ist bei weitem nicht alles (näher unten zu IV.), und es berührt neue Fragen der Vertragsgestaltung, zu denen der nachfolgende Beitrag Hinweise geben will (abschließend zu V.).

II. Erscheinungsformen und Begriff der Minderheitsrechte 1. Überblick über die einzelnen Minderheitsrechte Minderheitsrechte sind im Aktienrecht gar nicht selten. Ab einer bestimmten Beteiligungsquote können Aktionäre – einen Verzicht der Gesellschaft auf Ersatzansprüche gegen Organmitglieder und einen Vergleich über solche Ansprüche verhindern, § 93 Abs. 4 Satz 3 und § 116 AktG (10 % Beteiligung), – die Einberufung einer Hauptversammlung oder die Ergänzung ihrer Tagesordnung durchsetzen, § 122 AktG (5 % Beteiligung, im letzteren Fall auch Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 500.000 Euro), – die gerichtliche Bestellung oder Auswechslung von Sonderprüfern erwirken, § 142 Abs. 2 und 4 AktG (1 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 100.000 Euro),

__________

2 Zu den Einzelheiten G. & T. Bezzenberger in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2008, § 148 Rz. 1–267. 3 RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, Anlage I, Begr. zu Art. 1 Nr. 14 und 15 (§§ 147, 148 AktG), S. 21 re. Sp.

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– besondere Vertreter der Gesellschaft zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gerichtlich bestellen lassen, wenn die Hauptversammlung deren Geltendmachung beschlossen hat, § 147 Abs. 2 AktG (10 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 1.000.000 Euro), – die gerichtliche Zulassung einer derivativen Haftungsklage erwirken und anschließend die Klage gegen den angeblichen Haftungsschuldner auf Leistung an die Gesellschaft erheben, § 148 AktG (1 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 100.000 Euro), – die gerichtliche Bestellung von Sonderprüfern wegen unzulässiger Unterbewertung von Jahresabschlussposten erwirken, § 258 AktG (1 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 100.000 Euro), – eine gerichtliche Entscheidung über die abschließende Feststellungen dieser Sonderprüfer herbeiführen, § 260 AktG (5 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 500.000 Euro), – die gerichtliche Bestellung oder Abberufung von Abwicklern herbeiführen, § 265 Abs. 3 AktG (5 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 500.000 Euro), – die gerichtliche Bestellung von Sonderprüfern zur Prüfung der geschäftlichen Beziehungen der Gesellschaft zu einem herrschenden oder einem mit ihm verbundenen Unternehmen erwirken, § 315 Satz 2 AktG (unter bestimmten Voraussetzungen 1 % Beteiligung oder Aktien mit einem anteiligen Grundkapitalsbetrag von 100.000 Euro), – die gerichtliche Ersetzung von Abschlussprüfern durchsetzen, § 318 Abs. 3 HGB (5 % Beteiligung oder Aktien mit einem Börsenwert von 500.000 Euro). Ein Klagezulassungsantrag und eine derivative Haftungsklage nach § 148 AktG werden vor den ordentlichen Gerichten in Verfahren nach den Regeln der ZPO verfolgt4. Zu den anderen Minderheitsrechten ergehen gerichtliche Entscheidungen dagegen in aktienrechtlichen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 375 FamFG sowie im AktG etwa § 142 Abs. 8)5. 2. Zum Begriff der Minderheitsrechte Die aktienrechtlichen Minderheitsrechte dienen der Rechtsmäßigkeitskontrolle des Verbandshandelns und zielen in der Regel darauf, ein pflichtwidriges Verhalten von Vorstand oder Aufsichtsrat festzustellen und zu korrigieren. Bei der

__________ 4 G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 162, 237. 5 Hierzu im Einzelnen G. Bezzenberger, FS Priester, 2007, S. 23 ff. Das bisherige Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) geht künftig im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) auf. Dieses wurde im Juni 2008 vom Bundestag verabschiedet, war aber bei Abschluss dieses Beitrags noch nicht verkündet und tritt voraussichtlich am 1. September 2009 in Kraft. Quellen: RegE, BT-Drucks. 16/6308 v. 7.9.2007; Beschlussempfehlung und Bericht des BT-Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/9733 v. 23.6.2008 (endgültige Gesetzesfassung).

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Wahrnehmung von Minderheitsrechten verfolgen die Aktionäre zwar häufig auch eigene Interessen. Aber nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regeln üben die Aktionäre diese Rechte auch und sogar in erster Linie als Funktionäre der Gesellschaft und der Gesamtheit der Aktionäre aus, als Maßnahmen des institutionellen Minderheitenschutzes. Es handelt sich also dem Schwerpunkt nach um Funktionärsverfahren, nicht um Verletztenverfahren. Das weiß der Jubilar selbst am besten6 und braucht daher hier nicht vertieft zu werden. Wegen dieser Ausrichtung der Minderheitsrechte beschränkt das Gesetz ihre Ausübung mit gutem Grund durch Mindestbeteiligungsquoren. Je höher die Aktionäre beteiligt sind, desto eher können sie für die Gesellschaft sprechen. Diese Rechte werden daher auch als „formelle“ oder „technische“ Minderheitsrechte bezeichnet7. Natürlich können diese Rechte auch von Mehrheitsaktionären ausgeübt werden8. Aber ihrer Funktion nach dienen sie in erster Linie dem Minderheitenschutz, so dass man an der überlieferten Bezeichnung „Minderheitsrechte“ festhalten sollte.

III. Notwendige Bestandsdauer der Aktionärsminderheit 1. Mehrstufige Verfahren Über die Befugnis und Berechtigung von Aktionären, die zusammen ein aktienrechtliches Minderheitsrecht geltend machen, entscheiden letztlich die Gerichte. Voraussetzung für einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist jedoch oftmals eine vorangegangene, aber ergebnislos gebliebene Aufforderung an die zuständigen Organe der Gesellschaft, in bestimmten Angelegenheiten selbst tätig zu werden. So ist Voraussetzung für einen Antrag an das Gericht, Aktionäre zu ermächtigen, eine Hauptversammlung einzuberufen oder Gegenstände zur Beschlussfassung der Versammlung bekannt zu machen, dass diese Aktionäre den Vorstand der Gesellschaft zuvor vergeblich hierzu aufgefordert haben (§ 122 Abs. 3 AktG). Auch der Antrag auf gerichtliche Zulassung einer derivativen Haftungsklage von Aktionären setzt voraus, dass die Aktionäre die Gesellschaft zuvor erfolglos aufgefordert haben, selbst Klage zu erheben (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AktG). Und selbst wenn die Aktionäre nach § 148 Abs. 1 und 2 AktG zur Klageerhebung zugelassen sind, ist ihre nachfolgende Haftungsklage nur zulässig, wenn sie die Gesellschaft erneut, aber wiederum vergeblich, zur Erhebung einer eigenen Klage aufgefordert haben (§ 148 Abs. 4

__________ 6 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 16 III, S. 466 ff.; Karsten Schmidt in FS Semler, 1993, S. 329, 335 ff. (mit der klassischen Unterscheidung von „Verletztenklagen“ und „Funktionärsklagen“); Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 245 AktG Rz. 4, 10; auf gleicher Linie Baums in Verhandlungen des 63. DJT Leipzig 2000, Bd. I, Gutachten F, S. F 42; Baums/Drinhausen, ZIP 2008, 145, 146. 7 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 6), § 16 III 2 c, S. 469; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, § 8 I 4, S. 419 f. 8 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 122 AktG Rz. 2; Halberkamp/Gierke, NZG 2004, 494, 496 li. Sp.; beide unter Hinweis auf OLG Hamm, DStR 2003, 219 m. Anm. König/ Römer.

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Satz 1 AktG). Bei der Geltendmachung dieser Minderheitsrechte sind somit verschiedene aufeinander folgende Rechtshandlungen in einem mehrstufigen Verfahren erforderlich. 2. Beispiel 1: Das Einberufungsbegehren nach § 122 AktG Welche Aktionäre im Verlauf eines solchen mehrstufigen Verfahrens welche Erklärungen abgeben und welche gerichtlichen Anträge stellen müssen, um Minderheitsrechte wahrzunehmen, lässt sich besonders gut am Beispiel des sogenannten „Einberufungsbegehrens“ verdeutlichen, also an der Befugnis von Aktionären mit einem bestimmten Aktienbesitz, die Einberufung einer Hauptversammlung oder die Bekanntmachung von Gegenständen zu ihrer Beschlussfassung durchzusetzen (§ 122 AktG). Weitgehend gleiche Regelungen gelten für Mitglieder eines eingetragenen Vereins nach § 37 BGB und für Genossen einer eingetragenen Genossenschaft nach § 45 GenG. Die für die Ausübung dieses Minderheitsrechts erforderlichen Rechtshandlungen waren wiederholt Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen. In all den genannten Verbänden kann eine hinreichende Anzahl von Mitgliedern gegenüber dem Verbandsvorstand die Einberufung der Mitgliederversammlung in gemeinsamen oder gesonderten Erklärungen verlangen, wobei eine Vertretung durch Bevollmächtigte zugelassen ist9. Wird das Verlangen vom Vorstand abgelehnt, so kann das zuständige Gericht die Minderheit ermächtigen, selbst die Mitgliederversammlung einzuberufen oder Gegenstände zu ihrer Beschlussfassung bekannt zu machen. Voraussetzung für eine solche ermächtigende Gerichtsentscheidung ist ein Antrag an das Gericht, der von Mitgliedern gestellt werden muss, die zuvor innerhalb des Verbandes das vom Vorstand abgelehnte Verlangen vorgebracht haben. Hierbei ist es nicht erforderlich, dass alle an dem vorangegangenen verbandsinternen Verlangen beteiligten Mitglieder den Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen; es reicht vielmehr aus, wenn nur so viele dieser Mitglieder der Minderheit beteiligt sind, wie das Gesetz oder das Verbandsstatut es vorschreiben10. Gleiches gilt für die Einberufung der Mitgliederversammlung nach erteilter gerichtlicher Ermächtigung. Die Einberufung kann nur durch Verbandsmitglieder erfolgen, die das Minderheitsverlangen an den Vorstand gerichtet und nachfolgend den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt haben, „da die richterliche Ermächtigung nicht dem einzelnen Antragsteller, sondern der sie verlangenden Minderheit als solcher erteilt wird und die Einberufung deshalb auch von ihnen ausgehen muß“, wie es in einer Entscheidung des Reichsgerichts heißt11.

__________ 9 KG, HRR 1935, Nr. 250 (zu § 45 GenG); OLG Frankfurt, OLGZ 1973, 137, 140 (zu § 37 BGB). 10 Zu § 45 GenG RGZ 170, 83, 90, 93 f.; KG, HRR 1935, Nr. 250. Zu § 37 BGB OLG Frankfurt, OLGZ 1973, 137, 140; BayObLG, NJW-RR 1986, 1499. Ebenso zum Aktienrecht die unten in Fn. 17 Genannten. 11 RGZ 170, 83, 93 f. zu § 45 GenG.

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Besonders deutlich werden diese Zusammenhänge beim Begehren einer Aktionärsminderheit nach Einberufung einer Hauptversammlung. Ein hierhin gehendes Verlangen muss zunächst nach § 122 Abs. 1 AktG von Aktionären, deren Anteile zusammen den zwanzigsten Teil des Grundkapitals erreichen, an den Vorstand gerichtet werden. Entspricht der Vorstand diesem Verlangen nicht, so „kann das Gericht die Aktionäre, die das Verlangen gestellt haben, ermächtigen, die Hauptversammlung einzuberufen“ (§ 122 Abs. 3 Satz 1 AktG). Der Antrag auf gerichtliche Ermächtigung kann also nur von Aktionären gestellt werden, die ein vorangegangenes und berechtigtes innergesellschaftliches Einberufungsverlangen mitgetragen haben, und das 5 %-Quorum muss durch die Antrag stellenden Aktionäre weiterhin gewahrt sein12. Das Quorum muss sogar noch während des gesamten gerichtlichen Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichts bestehen bleiben13, und zwar bis zur endgültigen Entscheidung, also auch in einem Beschwerdeverfahren14. Dieses Erfordernis ist im Jahr 2005 durch die Neufassung des § 122 Abs. 1 Satz 3 AktG15 bestätigt worden, wonach § 142 Abs. 2 Satz 2 AktG entsprechend gilt, also „die Aktionäre nachzuweisen [haben], … dass sie die Aktien bis zur Entscheidung über den Antrag halten“, womit die gerichtliche Entscheidung gemeint ist16. Springen vor der Antragstellung oder im Laufe des gerichtlichen Verfahrens einzelne Aktionäre ab, so ist dies unschädlich, solange das Beteiligungsquorum in den Händen der verbleibenden Aktionäre gewahrt bleibt17. Auch zur anschließenden Einberufung der Hauptversammlung auf Grund der gerichtlichen Ermächtigung nach § 122 Abs. 3 Satz 1 AktG sind nur diejenigen Aktionäre befugt, die gegenüber dem Vorstand das ursprüngliche Einberufungsverlangen ergebnislos erklärt, daraufhin das gerichtliche Verfahren erfolgreich durchge-

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12 OLG Zweibrücken, AG 1997, 140; OLG Düsseldorf, FG Prax 2004, 87, 88 li. Sp. = ZIP 2004, 313 m. Anm. Vetter EWiR 2004, § 122 AktG 1/04, S. 261 f.; Zöllner in KölnKomm.AktG, 1. Aufl. 1985, § 122 AktG Rz. 26; Werner in GroßKomm.AktG, 4. Aufl. 1993, § 122 AktG Rz. 10, 55; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 3a, 10; Semler in MünchHdB AG, 3. Aufl. 2007, § 35 Rz. 19; Butzke in Obermüller/Werner/Winden, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 4. Aufl. 2001, Abschnitt B Rz. 123; Reichert/Schlitt in Semler/Volhard (Hrsg.), Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 2. Aufl. 2003, § 4 Rz. 35; Ziemons in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 2008, § 122 AktG Rz. 33; Willamowski in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 2007, § 122 AktG Rz. 13; Pluta in Heidel (Hrsg.), Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2007, § 122 AktG Rz. 29. Anders früher Kubis in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 122 AktG Rz. 7, 41, wonach das Quorum nur beim Einberufungsverlangen gegenüber dem Vorstand bestehen müsse; diese Auffassung ist seit 2005 durch die Neufassung des § 122 Abs. 1 Satz 3 AktG gegenstandslos (vgl. unten bei Fn. 15 f.). 13 Ziemons (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 10, 33; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 3a; ebenso die nachfolgend in Fn. 14 Genannten. 14 OLG Düsseldorf, FG Prax 2004, 87, 88 = ZIP 2004, 313, 314 re. Sp. (bis zur Beschwerdeentscheidung); mit gleichem Ansatz (bei Beschwerdeeinlegung) OLG Zweibrücken, AG 1997, 140 re Sp.; Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 31; auch BayObLG, NJW-RR 1986, 1499 (zu § 37 BGB); ebenso der Sache nach Werner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 10. 15 Eingefügt durch Art. 1 Nr. 4 des UMAG (vgl. Fn. 1). 16 Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 3a. 17 OLG Düsseldorf, FG Prax 2004, 87, 88 li. Sp. = ZIP 2004, 313, 314 re. Sp.; Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 26; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 10; Semler (Fn. 12), § 35 Rz. 19; auch RGZ 170, 83, 93 f. (zu § 45 GenG).

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führt haben18, und zum Zeitpunkt der Einberufung weiterhin über das nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AktG erforderliche Quorum verfügen19. Streitig war und ist, ob an die Stelle der Aktionäre, die das Verlangen gestellt haben, deren Rechtsnachfolger treten können. Für eine Gesamtrechtsnachfolge wird dies allgemein und zutreffend bejaht20, denn der Gesamtrechtsnachfolger tritt in die gesamte Rechtsstellung des Vorgängers ein. Der weitergehenden Ansicht, dass auch ein Aktienerwerb im Wege der Einzelrechtsnachfolge und namentlich auf der Grundlage eines Kaufs die Befugnis zur Antragstellung vermittele21, kann dagegen nicht zugestimmt werden22. Ein Aktionär, der die Aktien auf diese Weise erwirbt, tritt damit zwar in die allgemeinen Mitgliedschaftsrechte ein, welche die Aktie aus sich heraus gewährt, aber nicht in die Rechtsposition, die der Veräußerer durch die persönliche Erklärung eines Minderheitsverlangens gegenüber dem Vorstand für die weitere Verfolgung des Minderheitsrechts erlangt hat. Scheiden nach Abschluss des innergesellschaftlichen Vorverfahrens Aktionäre aus der Minderheit aus, und wird damit das Quorum unterschritten, so kann eine Auffüllung nicht dadurch erfolgen, dass ein Aktionär, der an dem Minderheitsverlangen zunächst nicht beteiligt war, sich dem Verlangen mit seinen Aktien anschließt23. Wollen Aktionäre, die sich an einem Verlangen nach § 122 Abs. 1 gegenüber dem Vorstand nicht beteiligt haben, eine gerichtliche Ermächtigung zur Einberufung einer Hauptversammlung mit beantragen, so muss zunächst ein erneutes Verlangen an den Vorstand gerichtet und von ihm zurückgewiesen werden24. Dagegen bleibt das Beteiligungsquorum erhalten, wenn Aktionäre ihren Aktienbesitz auf verbleibende Aktionäre der ursprünglichen Minderheit übertragen. In derartigen Fällen kann die Aktienbesitzzeit des veräußernden Aktionärs dem Erwerber zugerechnet werden.

__________ 18 RGZ 170, 83, 93 f. zur Genossenschaft; Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 36. 19 Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 36; Werner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 55; Ziemons (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 38; Semler (Fn. 12), § 35 Rz. 19; Reichert/Schlitt (Fn. 12), § 4 Rz. 35 mit Fn. 112. Anders Kubis (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 59 (kein Quorum erforderlich); i. Erg. auch Halberkamp/Gierke, NZG 2004, 494, 500 li. Sp. 20 Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 26; Werner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 10 und 55 mit Fn. 58; Kubis (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 41; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 10; Ziemons (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 33. 21 Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 26; Werner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 10 und 55 mit Fn. 58; Kubis (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 41. Nicht eindeutig OLG Düsseldorf, FG Prax 2004, 87, 88 = ZIP 2004, 313, 314, das ohne nähere Differenzierung dem „Rechtsnachfolger der ursprünglichen Antragsteller“ eine Befugnis zur Antragstellung nach § 122 Abs. 3 AktG zuspricht. 22 Ebenso Ziemons (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 33; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 10. 23 OLG Düsseldorf, FG Prax 2004, 87, 88 = ZIP 2004, 313; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 3a. Anders im Ergebnis Kubis (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 7, 41, 58, dem das OLG Düsseldorf (a. a. O., S. 88 li. Sp.) ausdrücklich widerspricht. 24 OLG Düsseldorf, FG Prax 2004, 87, 88 li. Sp. = ZIP 2004, 313; Zöllner (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 26; Hüffer (Fn. 8), § 122 AktG Rz. 10; Pluta (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 29. Anders Kubis (Fn. 12), § 122 AktG Rz. 41; Halberkamp/Gierke, NZG 2004, 494, 500 li. Sp.

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3. Beispiel 2: Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 148 AktG Für das Klagezulassungsverfahren nach § 148 Abs. 1 und 2 AktG sowie für eine anschließende Haftungsklage der zugelassenen Aktionäre gegen angebliche Schuldner der Gesellschaft (§ 148 Abs. 4 AktG) ist umstritten, wann und für welchen Zeitraum die handelnden Aktionäre das gesetzliche Quorum von 1 % oder nominal 100.000 Euro ausfüllen müssen. Aus dem Wortlaut des § 148 Abs. 1 Satz 1 AktG, dass „Aktionäre, deren Anteile im Zeitpunkt der Antragstellung“ dieses Mindestquorum erreichen, einen Klagezulassungsantrag stellen können, wird überwiegend gefolgert, dass dieser Anteilsbesitz nur bei der Antragstellung, nicht dagegen während des weiteren Antragsverfahrens und auch nicht bei Erhebung einer nachfolgenden Haftungsklage vorhanden sein müsse25. Zur Begründung wird darauf hingewiesen, dass im selben Zuge mit der Einführung der Aktionärs-Haftungsklage und des Klagezulassungsverfahrens durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)26 im Hinblick auf das Minderheitsrecht zur Einberufung der Hauptversammlung und Bekanntmachung von Beschlussgegenständen den Aktionären der Nachweis auferlegt wurde, dass sie ihre Aktien bis zur Entscheidung über den Antrag halten (§§ 122 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 142 Abs. 2 Satz 2 AktG27), wohingegen eine solche Nachweispflicht in § 148 AktG für die hier geregelten Verfahren nicht aufgenommen wurde. Diese Erwägungen greifen jedoch nicht durch. Das UMAG wurde im Gesetzgebungsverfahren mehrfach geändert, so dass von der Möglichkeit ausgegangen werden muss, dass verschiedene rechtstechnische Formulierungen in den einzelnen Vorschriften nicht miteinander abgestimmt wurden. Entscheidend ist aber: Der Gesetzgeber wollte die actio pro socio nicht als Individualrecht jedem einzelnen Aktionär, sondern nur Aktionären mit einem Mindestanteilsbesitz eröffnen. Die Vorstellung, dass die für einen Klagezulassungsantrag erforderliche Minderheit den Antrag stellt und die hierfür nach § 148 Abs. 1 AktG erforderlichen Beteiligungsnachweise erbringt, dann aber immer mehr Aktionäre aus dieser Minderheit ausscheiden und am Ende vielleicht nur noch ein einzelner Aktionär mit einer einzigen Aktie das Klagezulassungsverfahren durchführt und anschließend die Haftungsklage erhebt, widerspricht dem Grundgedanken und den rechtspolitischen Zielen des Gesetzes. Die actio pro socio wird als Minderheitsrecht einer bestimmten Fraktion von Aktionären gewährt, die hierzu als solche vom Gericht ermächtigt werden müssen. Auch hier gelten die Erwägungen in der zitierten Entscheidung des Reichsgerichts,

__________ 25 Schröer, ZIP 2005, 2081, 2083; Hüffer (Fn. 8), § 148 AktG Rz. 4 und 16; Spindler in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 2008, § 148 AktG Rz. 9; Mock in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, 2007, § 148 AktG Rz. 33; Semler (Fn. 12), § 42 Rz. 24; Tielmann in Happ (Hrsg.), Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, 18.16, Anm. 3 a. E. Anders G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 173 ff., 228, 238 f.; Lochner in Heidel (Hrsg.), Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2007, § 148 AktG Rz. 8. 26 Siehe oben Fn. 1. 27 Siehe oben bei Fn. 15.

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dass die „richterliche Ermächtigung nicht dem einzelnen Antragsteller, sondern der sie verlangenden Minderheit als solchen erteilt wird“28. Die Beteiligungsquote muss daher während des gesamten Klagezulassungsverfahrens und auch noch bei Erhebung einer gerichtlich zugelassenen Haftungsklage beibehalten werden29.

IV. Möglichkeiten der Organisation einer Aktionärsminderheit 1. Gestaltungsmöglichkeit für die Rechtsverfolgung Die Minderheitsrechte können nur von Aktionären ausgeübt werden, die über den gesetzlich vorgeschriebenen Anteilsbesitz verfügen. Ist dies bei einem Einzelaktionär der Fall, so kann er alleine handeln und ist namentlich auch vor Gericht alleine antrags- oder klagebefugt. Verfügen dagegen nur mehrere Aktionäre zusammen über den erforderlichen Aktienbesitz, so können sie die Rechtsverfolgung nur zusammen betreiben, insbesondere auch im gerichtlichen Verfahren. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Minderheitsaktionäre können ihr Zusammenspiel dem Prozessrecht oder allgemein den Regeln über das gerichtliche Verfahren anheim stellen und als Streitgenossen vorgehen (anschließend zu 2.). Sie können aber auch vertraglich vereinbaren, dass sie mit der Einleitung und Durchführung des Minderheitsverfahrens einen gemeinsamen Zweck verfolgen und sich dadurch zu einer Innengesellschaft bürgerlichen Rechts zusammenschließen; eine solche Innengesellschaft wird hier als „Aktionärskonsortium“ oder „Minderheitskonsortium“ bezeichnet (nachfolgend zu 3.). Und schließlich können die Minderheitsaktionäre ihre Aktien auf eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts übertragen, die dann als Außengesellschaft selbst Rechtsinhaberin ist und im eigenen Namen das Minderheitsrecht geltend macht; diese Gestaltung soll hier als „Minderheitspool“ bezeichnet werden30 (unten zu 4.). 2. Die gemeinsame Rechtsverfolgung als Streitgenossen Wird der Antrag auf gerichtliche Zulassung einer derivativen Haftungsklage (§ 148 Abs. 1–2 AktG) von mehreren Aktionären gestellt, die nur zusammen über den hierfür erforderlichen Aktienbesitz verfügen, so sind die Aktionäre

__________ 28 RGZ 170, 83, 93, vgl. oben bei Fn. 11. 29 G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 175 f., 228. 30 Die Begriffe „Konsortium“ und „Pool“ werden in der Literatur nicht immer einheitlich verwendet, vgl. Karsten Schmidt, GesR (Fn. 6), § 58 III 6, S. 1708 ff.; H. P. Westermann in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, vor § 705 Rz. 44; H. P. Westermann in FS G. Bezzenberger, 2000, S. 449 ff. Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, verwendet die Begriffe Konsortium und Pool alternativ (S. 7) und bezeichnet sein „Muster eines Vertrages für ein Gesellschafterkonsortium“ als „Poolvertrag“ (Anh. S. 333 ff.).

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Streitgenossen nach Maßgabe der §§ 59 ff. ZPO31, denn das Klagezulassungsverfahren folgt den Regeln der Zivilprozessordnung32. In Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit33 gelten die Regeln über die einfache Streitgenossenschaft (§§ 59 bis 61, 63 ZPO) entsprechend34, so dass mehrere Antrag stellende Aktionäre auch hier Streitgenossen sind, weil sie im Sinne des § 59 Fall 2 ZPO aus demselben tatsächlichen und rechtlichen Grund berechtigt sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die mehreren Aktionäre jeder für sich einen eigenen Antrag an das Gericht stellen oder gemeinsam einen einheitlichen Antrag. Als Streitgenossen bleiben die einzelnen Aktionäre entsprechend § 61 ZPO selbständige Verfahrensbeteiligte und stehen in einem jeweils gesonderten verfahrensrechtlichen Verhältnis zum gemeinsamen Gegner, also in der Regel zur Gesellschaft, auch wenn äußerlich eine Verbindung der Verfahren erfolgt35. Jeder Antragsteller kann Angriffs- und Verteidigungsmittel selbständig geltend machen oder nicht und sich damit auch in Widerspruch zu der Prozess- oder Verfahrensführung anderer Antragsteller setzen36. Zudem kann jeder Antragsteller seinen Antrag ohne Zustimmung der anderen Streitgenossen zurücknehmen, selbst wenn dadurch das für die Geltendmachung des Minderheitsrechts erforderliche Beteiligungsquorum nicht mehr besteht und der Antrag der übrigen Antragsteller damit unzulässig wird37. Die Verbindung unter den Minderheitsaktionären ist hier also nur sehr locker. Etwas fester ist die prozessrechtliche Verbindung unter den Minderheitsaktionären demgegenüber im Klagezulassungsverfahren und bei der anschließenden derivativen Haftungsklage nach § 148 AktG. Hier sind die Antrag stellenden und klagenden Aktionäre nach den Regeln der ZPO notwendige Streitgenossen aus materiellrechtlichen Gründen (§ 62 Abs. 1 Fall 2 ZPO), da ihnen die Antrags- und Klagebefugnis nur gemeinsam zusteht38. Bei der notwendigen Streitgenossenschaft werden im Falle der Termins- oder Fristversäumung säumige Streitgenossen als durch die nicht säumigen vertreten angesehen (§ 62 Abs. 1 ZPO), um eine einheitliche gerichtliche Entscheidung zu gewährleisten. Diese

__________ 31 32 33 34 35

36 37

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G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 167 f. Siehe oben bei Fn. 4. Vgl. oben bei Fn. 5. Von König/von Schuckmann in Jansen, FGG, 3. Aufl. 2006, Vor §§ 8–18 FGG Rz. 86 f.; Meyer-Holz in Keidel/Kunze/Winkler, FGG, 15. Aufl. 2003, Vorb. §§ 8–18 FGG Rz. 3 f.; Brehm, FGG, 3. Aufl. 2002, § 7 FGG Rz. 196 ff. Vgl. allgemein zu dieser Selbständigkeit von Streitgenossen Schultes in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 61 ZPO Rz. 2; Vollkommer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 61 ZPO Rz. 8; Weth in Musielak, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 61 ZPO Rz. 2 f.; Bork in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 61 ZPO Rz. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 66. Aufl. 2008, § 61 ZPO Rz. 2, 4 ff. Vgl. nur BGHZ 131, 376, 380 m. w. N. Vgl. zur Zulässigkeit einer Klagerücknahme durch notwendige Streitgenossen OLG Rostock, NJW-RR 1995, 381 f.; Schultes (Fn. 35), § 62 ZPO Rz. 47 u. 49; Bork (Fn. 35), § 62 ZPO Rz. 62, 35. Anders Hartmann (Fn. 35), § 62 ZPO Rz. 20; Vollkommer (Fn. 35), § 62 ZPO Rz. 25. G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 168, 227. Allgemein zur notwendigen Streitgenossenschaft nach § 62 Abs. 1 Fall 2 ZPO aus materiellrechtlichen Gründen Weth (Fn. 35), § 62 ZPO Rz. 9, 12; Vollkommer (Fn. 35), § 62 ZPO Rz. 11, 19.

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Vorschrift wird in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht entsprechend angewendet39. 3. Koordination der Rechtsverfolgung in einer BGB-Innengesellschaft Wollen mehrere Aktionäre einer Aktiengesellschaft, die nur zusammen über die für die Wahrnehmung eines Minderheitsrechts erforderliche Beteiligung verfügen, ihr Zusammenwirken nicht lediglich den Regeln über das gerichtliche Verfahren unterstellen, so können sie sich untereinander materiellrechtlich verpflichten, dieses Minderheitsrecht gemeinsam auszuüben. Hierdurch errichten sie eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§ 705 BGB) mit dem gemeinsamen Zweck, das Minderheitsrecht in der vereinbarten Weise zu verfolgen und zum Erfolg zu führen. Werden die Aktien nicht in die BGB-Gesellschaft der Aktionäre als Gesellschaftsvermögen eingebracht, so wird diese Gesellschaft nicht Aktionärin und kann folglich die aktienrechtlichen Minderheitsrechte auch nicht im eigenen Namen ausüben. Die Aktien bleiben vielmehr in den Händen der einzelnen Minderheitsaktionäre, die ihre Rechte gegenüber der Aktiengesellschaft und gerichtlich selbst ausüben und namentlich auch Antragsteller oder Kläger und in diesem Zusammenhang wiederum Streitgenossen sind40. Bei der Aktionärsvereinigung handelt es sich daher um eine Innengesellschaft, die sich in schuldrechtlichen Bindungen zwischen den handelnden Aktionären erschöpft41. Ein solcher Konsortialvertrag hat Ähnlichkeit mit einem Stimmbindungsvertrag. Auch dort schließen sich Aktionäre oder Mitglieder eines anderen Verbandes außerhalb ihrer Verbandsmitgliedschaft zu einer schuldrechtlichen Sondergesellschaft zusammen, um ihre Rechte koordiniert auszuüben42. Das ist insbesondere beim Stimmrecht möglich43. Es gibt allerdings auch wichtige Unterschiede zwischen den beiden Gestaltungen. Stimmbindungsverträge sind

__________ 39 So unter der Geltung des FGG BGH, NJW 1980, 1960, 1961; BayObLG, NJW-RR 1986, 1499 re. Sp.; von König/von Schuckmann (Fn. 34), Vor §§ 8–18 FGG Rz. 87 m. w. N. in Fn. 258. 40 Siehe oben zu 1. und 2. 41 Zum Zusammenschluss mehrerer Aktionäre zu einer BGB-Innengesellschaft beim Klagezulassungsverfahren und bei der derivativen Akltionärs-Haftungsklage siehe G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 168; Mock (Fn. 25), § 148 AktG Rz. 36. Vgl. auch BGHZ 126, 226 ff. zu einem Schutzgemeinschaftsvertrag, durch den sich Kapitalgesellschafter in Form einer BGB-Innengesellschaft zu dem gemeinsamen Zweck zusammengeschlossen hatten, eine einheitliche Rechteausübung und die Erhaltung des Beteiligungsbesitzes in der Hand der jeweiligen Mitglieder der Schutzgemeinschaft sicherzustellen; zu solchen und ähnlichen Gestaltungen des Weiteren Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, Vor § 705 BGB Rz. 68. Allgemein zur BGB-Innengesellschaft Ulmer, a. a. O., § 705 BGB Rz. 275 ff. 42 Zur Rechtsnatur eines Stimmbindungsvertrages Hoffmann-Becking, ZGR 1994, 442 ff.; Habersack, ZHR 164 (2000) S. 1, 2; Hüffer (Fn. 8), § 133 AktG Rz. 26. 43 Vgl. hierzu aus dem umfangreichen Schrifttum Karsten Schmidt, GesR (Fn. 6), § 21 II 4, S. 616 ff.; Ulmer (Fn. 41), § 717 BGB Rz. 22 f.; Zöllner, ZHR 155 (1991), 168, 170 ff.; Noack (Fn. 30), S. 66 ff.; Schröer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 136 Rz. 61; Hüffer (Fn. 8), § 133 AktG Rz. 27.

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typischer Weise auf lange und oft unbestimmte Dauer angelegt, wohingegen sich ein Minderheitskonsortium zumeist in der einmaligen Ausübung eines bestimmten Minderheitsrechts erschöpfen wird. Es handelt sich hier also um eine bloße Gelegenheitsgesellschaft, mag sich die Angelegenheit auch über eine gewisse Zeit hinziehen. Und während bei Stimmbindungsverträgen die Gesellschafter lediglich Rechte bündeln und verstärken, die sie ohnehin haben, wird durch die gemeinsame Ausübung eines Minderheitsrechts häufig überhaupt erst dessen Wahrnehmung ermöglicht, weil die Gesellschafter nur zusammen über das hierfür erforderliche Beteiligungsquorum verfügen. Das macht die Rechtsform einer lediglich schuldrechtlichen BGB-Innengesellschaft für die Beteiligten labil, weil deren Bindungen nicht dinglich und mit gleichsam verfügender Kraft verhindern können, dass sich einzelne Beteiligte nach außen hin gegenüber der Aktiengesellschaft und dem Gericht abweichend verhalten, und dass dadurch möglicherweise das Beteiligungsquorum als Grundlage des Minderheitsrechts zerfällt. 4. Rechtsverfolgung durch eine BGB-Außengesellschaft Wollen die Minderheitsaktionäre derartige Bruchstellen vermeiden und sicherstellen, dass das Minderheitsrecht auch wirklich nach außen hin einheitlich ausgeübt wird, so können sie ihre BGB-Gesellschaft als Außengesellschaft ausgestalten und die Aktien, aus denen heraus das Minderheitsrecht ausgeübt werden soll, in das Vermögen dieser Gesellschaft einbringen Dann kann man von einem Minderheitspool sprechen. Eine solche BGB-Außengesellschaft ist als eigenständige Rechtsträgerin selbst rechts- und parteifähig44, und sie ist insbesondere auch selbst Aktionärin der Aktiengesellschaft, so dass sie im eigenen Namen das Minderheitsrecht geltend machen und im gerichtlichen Verfahren als Antragstellerin oder Klägerin auftreten kann. Dies ist ihr gesellschaftsvertraglich vorgegebener gemeinsamer Zweck. Viele Minderheitsrechte können nur ausgeübt werden, wenn die Aktionäre die Aktien bereits eine bestimmte Zeit lang gehalten haben. So müssen beim Antrag auf gerichtliche Bestellung von Sonderprüfern die Antrag stellenden Aktionäre seit mindestens drei Monaten vor dem Tag der Hauptversammlung, die das Begehren nach Sonderprüfung abgelehnt hat, Inhaber der Aktien sein (§ 142 Abs 2 Satz 2 AktG). Und ein Antrag auf gerichtliche Zulassung einer derivativen Aktionärs-Haftungsklage setzt voraus, dass die Aktionäre die Aktien vor dem Zeitpunkt erworben haben, in dem sie vom Klagegrund Kenntnis erlangen mussten (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG). Damit soll verhindert werden, dass Aktien gezielt und vielleicht nur kurzfristig zu dem Zweck er-

__________ 44 Hierzu grundlegend BGHZ 146, 341, 344; Karsten Schmidt, GesR (Fn. 6), § 60 II und IV, S. 1771 ff., 1806 ff.; Ulmer (Fn. 41), § 705 BGB Rz. 301, 303. Zum Begriff der Außengesellschaft und ihrer Abgrenzung zur Innengesellschaft vgl. weitgehend übereinstimmend, wenngleich mit hier nicht wesentlichen Unterschieden, Karsten Schmidt, GesR (Fn. 6), § 58 II 2, S. 1695 ff.; Ulmer (Fn. 41), § 705 BGB Rz. 290 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. 2, 2004, § 1 II 1, S. 17 f.; Habermeier in Staudinger, BGB, 2003, § 705 BGB Rz. 58; H. P. Westermann (Fn. 30), vor § 705 BGB Rz. 28.

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worben werden, Minderheitsrechte auszuüben. In diesen Fällen kommt es bei Zwischenschaltung einer BGB-Außengesellschaft auf den Zeitpunkt an, in dem die hinter dieser Gesellschaft stehenden Aktionäre die Aktien erworben haben, nicht hingegen auf den späteren Zeitpunkt der Einbringung in die BGBGesellschaft, weil und wenn diese Gesellschaft lediglich den Rechtsdurchsetzungswillen der Aktionäre bündelt und verfolgt, und keine eigenen, hiervon unabhängigen Anliegen. Sie ist dann nur eine Vorrichtung, um die Rechtsverfolgung zu vereinheitlichen und das Verfahren zu begradigen45.

V. Vertragsgestaltung zur Ausübung von Minderheitsrechten 1. Der Gesellschaftsvertrag der Innengesellschaft Der Gesellschaftsvertrag der BGB-Innengesellschaft46 muss zunächst und wohl am besten in einer Vorbemerkung die einzelnen Gesellschafter (Konsorten) aufführen. Diese sollten gleich eingangs als Aktionäre der betroffenen Aktiengesellschaft bezeichnet werden, und es sollte auch der Aktienbesitz eines jeden Konsorten angegeben werden. Durch den Vertrag schließen sich die Konsorten zu einer BGB-Gesellschaft oder genauer zu einer Innengesellschaft des bürgerlichen Rechts zusammen. Diese muss durch ihren gemeinsamen Zweck definiert werden. Der Gesellschaftszweck besteht in der gemeinsamen Ausübung eines Minderheitsrechts (oder auch mehrerer Minderheitsrechte) in Bezug auf die Aktiengesellschaft. Das betreffende Minderheitsrecht sollte an Hand seiner Rechtsgrundlage benannt werden, und der Vertrag sollte auch den tatsächlichen Anlass für die Ausübung des Rechts nennen. Also zum Beispiel: „Zweck der Gesellschaft ist die gemeinsame Geltendmachung von Ersatzansprüchen der X-Aktiengesellschaft nach § 148 AktG im Wege eines Klagezulassungsverfahrens und einer anschließenden Aktionärs-Haftungsklage gegen die früheren Vorstandsmitglieder A und B sowie das gegenwärtige Aufsichtsratsmitglied C im Zusammenhang mit der Ausgabe neuer Aktien der X AG im September 2007 aus ihrem genehmigten Kapital unter Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre.“ Durch den Gesellschaftsvertrag verpflichten sich die Gesellschafter gegenseitig, die Erreichung dieses gemeinsamen Zwecks in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern. Der Vertrag muss also bestimmen, was die Gesellschafter tun müssen, um den Gesellschaftszweck zu erreichen. Je nach den Voraussetzungen für die Ausübung des Minderheitsrechts, das den Gegenstand der Gesellschaft bildet, müssen sich die Konsorten verpflichten, die hierfür erforderlichen Rechtshandlungen vorzunehmen und, so sollte man hinzu-

__________ 45 G. & T. Bezzenberger (Fn. 2), § 148 AktG Rz. 115, 169. Anders Mock (Fn. 25), § 148 AktG Rz. 37. 46 Vgl. hierzu und zum Folgenden das „Muster eines Vertrages für ein Gesellschafterkonsortium“ bei Noack (Fn. 30), S. 335 ff., sowie das Muster für einen „Konsortialvertrag (Schutzgemeinschaftsvertrag)“ von Volhard nebst Anm. in Hopt (Hrsg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 3. Aufl. 2007, II. A. 4 mit Anmerkungen, S. 382 ff.

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fügen, dies gegenüber den Mitkonsorten auch nachzuweisen. Das können sehr viele aufeinander folgende oder auch alternativ zu bedenkende Handlungen sein. Bei der derivativen Haftungsklage etwa haben die Aktionäre zunächst die Aktiengesellschaft gemeinsam aufzufordern, ihre Ersatzansprüche selbst geltend zu machen (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AktG). Im Falle einer abschlägigen Antwort der Gesellschaft müssen die Aktionäre einen Klagezulassungsantrag bei Gericht stellen und hierbei nachweisen, das sie die Aktien bereits hinreichend lange besitzen (§ 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG). Weist das Gericht den Antrag ab, so stellt sich die Frage, ob man Rechtsmittel einlegen soll. Lässt das Gericht dagegen die Aktionärsklage zu, kann diese nur binnen dreier Monate und nach nochmaliger erfolgloser Klageaufforderung an die Aktiengesellschaft von den Aktionären erhoben werden (§ 148 Abs. 4 Satz 1 AktG). Und je nach dem Ausgang des Klageverfahrens stellt sich dann wieder die Rechtsmittelfrage. Wie detailliert das alles im Konsortialvertrag geregelt werden soll, lässt sich nicht allgemein sagen. Man kann unmöglich alle Einzelheiten vorprogrammieren, denn die weitere Entwicklung ist offen. Der Vertrag eröffnet daher notwendig künftige Handlungsspielräume. Wie diese auszufüllen sind, unterliegt der nachfolgenden Willensbildung der Konsorten und ist eine Angelegenheit der Geschäftsführung. Nach dem gesetzlichen Leitbild des § 709 Abs. 1 BGB ist für jede solche Geschäftsführungsmaßname Einstimmigkeit aller Konsorten erforderlich. Dann kann jeder Einzelne die Willensbildung blockieren. Zumindest bei einer größeren Zahl von Konsorten kann es sich daher empfehlen, Mehrheitsbeschlüsse genügen zu lassen, durch die mit verpflichtender Kraft bestimmt wird, wie sich sämtliche Konsorten anschließend nach außen hin verhalten müssen. Dann stellt sich die Frage, wie die Mehrheit berechnet wird, nach der Zahl der Gesellschafter (§ 719 Abs. 2 BGB) oder besser wohl nach dem Umfang des jeweiligen Aktienbesitzes. Da die Gesellschaft nicht nach außen auftritt, erübrigen sich Vertragsbestimmungen über deren Vertretung im Rechtsverkehr. Wohl aber kann es bei größeren Konsortien nahe liegen, bestimmte Maßnahmen der Geschäftsführung einzelnen Konsorten zu übertragen, wie zum Beispiel die Vorbereitung, Einberufung und Leitung von Gesellschafterversammlungen. Dann müssen diese besonderen Maßnahmen der Geschäftsführung von den gemeinschaftlichen Geschäftsführungsbefugnissen aller Konsorten abgegrenzt werden, und das Verhältnis zwischen der Versammlung und den sonderbefugten Konsorten ist zu regeln. Die Ausübung von Minderheitsrechten ist in der Regel mit Gerichts- und Rechtsanwaltsgebühren verbunden, nicht selten auch mit Kosten für Sachverständige. Kostenschuldner sind bei der Innengesellschaft die einzelnen Konsorten in ihrer Eigenschaft als Aktionäre und gerichtliche Antragsteller oder Kläger. Hier zeigt sich, dass Mehrheitsbeschlüsse in solchen Konsortien nicht ganz unproblematisch sind, denn sie bergen für den Einzelnen die Gefahr, durch den Willen der Mitkonsorten mit unabsehbaren Kosten belastet zu werden. Man wird daher in solchen Fällen um ein Kündigungsrecht der einzelnen 118

Aktionärskonsortien zur Wahrnehmung von Minderheitsrechten

Konsorten schlecht herumkommen. Die Kündigungsmöglichkeit hängt in der BGB-Gesellschaft ganz wesentlich davon ab, ob diese auf unbestimmte Zeit oder für eine bestimmte Zeit eingegangen ist; im letzteren Fall ist eine ordentliche Kündigung während der Vertragsdauer ausgeschlossen und die Kündigung nur aus wichtigem Grund möglich (§ 723 Abs. 1 Satz 2 BGB). Ein kalendermäßiges Enddatum kann man bei Aktionärskonsortien zur Ausübung von Minderheitsrechten schlecht festschreiben, denn man weiß vorab nicht, wie lange die Angelegenheit dauert. Doch kann sich eine hinreichend bestimmte Festlaufzeit der BGB-Gesellschaft auch aus dem vereinbarten Gesellschaftszweck ergeben, namentlich bei einer Gelegenheitsgesellschaft zur gemeinsamen Durchführung bestimmter Geschäfte47. Dies gilt insbesondere auch für die hier erörterten Minderheitskonsortien, die daher bis zur endgültigen Durchsetzung des Minderheitsrechts nur aus wichtigem Grund gekündigt werden können. Der Gesellschaftsvertrag kann natürlich abweichende Regelungen treffen, und er sollte zumindest die Kündigungsgründe präzisieren, insbesondere im Hinblick auf die Kosten, und etwa die Kündigung zulassen, wenn diese ein bestimmtes Maß übersteigen. Folge der Kündigung durch einen Konsorten ist von Gesetzes wegen die Auflösung des Konsortiums und, da es sich um eine bloße Innengesellschaft handelt, die sofortige Vollbeendigung. Das wird dem Zweck der Sache meist nicht gerecht. Der Konsortialvertrag kann und sollte daher vorsehen, dass im Falle der Kündigung durch einen Konsorten das Konsortium unter den übrigen Konsorten fortbesteht; dann scheidet der Kündigende aus dem Konsortium aus (§ 736 Abs. 1 BGB). Auch das bereitet jedoch den übrigen Konsorten Probleme, wenn sie anschließend innerhalb der Aktiengesellschaft das Beteiligungsquorum für die Ausübung des Minderheitsrechts nicht mehr ausfüllen. Dann löst sich das Konsortium wegen Unmöglichkeit der Zweckerreichung auf (§ 726 BGB). Der Konsortialvertrag kann dem durch eine Bestimmung vorbauen, wonach der Kündigende seine Aktien den verbleibenden Konsorten zum Erwerb anbieten muss oder diesen ein Erwerbsrecht einräumt, so dass sie das Minderheitsverfahren fortführen können48. Eine solche Vertragsbestimmung kann sich auch für den Fall empfehlen, dass ein Konsorte seine Aktien an einen Dritten veräußern will und dadurch die erfolgreiche Fortsetzung des Minderheitsverfahrens gefährdet49. Das Minderheitskonsortium löst sich automatisch auf, sobald das Minderheitsrecht erfolgreich wahrgenommen und damit der Zweck des Konsortiums erreicht ist, oder wenn die Erfolglosigkeit der weiteren Rechtsverfolgung endgültig feststeht (§ 726 BGB). Da das Konsortium als bloße Innengesellschaft nicht über ein Gesellschaftsvermögen verfügt, findet eine Auseinandersetzung nicht statt, sondern die Auflösung führt ohne Weiteres zur Vollbeendigung.

__________ 47 Ulmer (Fn. 41), Vor § 723 BGB Rz. 16, § 723 BGB Rz. 22 ff. m. w. N. 48 Vgl. oben zu III.2. a. E. 49 Zur Zulässigkeit solcher Vertragsbestimmungen in einem Beteiligungskonsortium BGHZ 126, 226 (vgl. Fn. 41).

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2. Der Gesellschaftsvertrag der Außengesellschaft Die Gestaltungsprobleme und Gestaltungsmöglichkeiten, die vorstehend im Hinblick auf Aktionärskonsortien als BGB-Innengesellschaften erörtert wurden, bestehen ganz überwiegend auch dann, wenn sich die Minderheitsaktionäre zu einer BGB-Außengesellschaft zusammenschließen, zu einem Minderheitspool, so dass auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen werden kann. Beim Minderheitspool stellen sich aber noch weitere Fragen, nämlich hinsichtlich der Rechteübertragung auf die BGB-Gesellschaft, deren Vertretung nach außen, der Gesellschafterhaftung für Kostenschulden der Gesellschaft sowie im Hinblick auf die Auseinandersetzung im Falle der Auflösung, und auch das Ausscheiden eines Konsorten durch Kündigung zieht andere Folgen nach sich. Wenn die einzelnen Aktionäre ihre Aktien auf die von ihnen errichtete BGBGesellschaft übertragen, werden die Aktien Gesellschaftsvermögen (§ 718 BGB), und die Gesellschaft (der Pool) kann als eigenständiger Rechtsträger das Minderheitsrecht im eigenen Namen außergerichtlich und gerichtlich geltend machen. Dann muss der Gesellschaftsvertrag bestimmen, wer die Gesellschaft nach außen hin vertritt, also insbesondere gegenüber der Aktiengesellschaft und gegebenen Falls dem Gericht. Die Vertretungsmacht folgt von Gesetzes wegen der Geschäftsführungsbefugnis (§ 714 BGB) und steht daher nach dem gesetzlichen Leitbild den Gesellschaftern gemeinschaftlich zu (§ 709 Abs. 1 BGB). Schon im Hinblick auf Minderheitskonsortien als BGB-Innengesellschaften hat sich jedoch gezeigt, dass es sinnvoll sein kann, die Geschäftsführungsbefugnis aufzuspalten, nämlich in einen Grundlagenbereich, der die Abstimmung sämtlicher Gesellschafter über das gemeinsame Vorgehen umfasst, und in einen Sonderbereich von Verwaltungs- und Managementaufgaben, der einzelnen Gesellschaftern übertragen wird50. Beim Minderheitspool als Außengesellschaft liegt es dann nahe, diese sonderbefugten Gesellschafter auch mit der Vertretung nach außen zu betrauen. Im Falle der Auflösung des Minderheitspools durch Zweckerreichung oder Zweckunmöglichkeit (§ 726 BGB) oder auf andere Weise ist eine Auseinandersetzung erforderlich. Sie ist sinnvoller Weise dahin gehend zu regeln, dass nach Erfüllung der Gesellschaftsverbindlichkeiten (§ 733 Abs. 1 BGB) das Vermögen der Gesellschaft nicht in Geld umgesetzt und verteilt wird (wie in § 733 Abs. 2 und 3 BGB vorgesehen), sondern dass jeder Aktionär seine ursprünglich in die Gesellschaft eingebrachten Aktien zurückerhält. Eine solche Auseinandersetzung im Wege der Realteilung ergibt sich beim Minderheitspool richtiger Weise schon aus dem Sinn und Zweck der Gesellschaft, aber man sollte dies vorsorglich im Gesellschaftsvertrag festschreiben. Ist der Pool mit Gerichts- oder Anwaltskosten oder mit sonstigen Verbindlichkeiten belastet, so ist es in erster Linie Aufgabe des Pools als solchen, diese Verbindlichkeiten zu begleichen. Hierfür kann und sollte der Poolvertrag entsprechende Beitragspflichten festsetzen. Hat der Pool kein hinreichendes Geldvermögen, so müssen ihm bei der

__________ 50 Siehe oben zu 1. Absatz 4.

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Auseinandersetzung die Poolgesellschafter nach dem gesellschaftsvertraglichen Verlustverteilungsschlüssel für den Fehlbetrag aufkommen (§ 735 BGB). Darüber hinaus haften die Poolgesellschafter nach außen hin für die Verbindlichkeiten des Pools den Gläubigern entsprechend § 128 HGB51 persönlich als Gesamtschuldner, also jeder aufs Ganze (§ 421 BGB), mag die eigene Beteiligung auch noch so gering sein. Diese akzessorische Außenhaftung der Gesellschafter kann nicht durch den Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen oder beschränkt werden (§ 128 Satz 2 HGB), sondern grundsätzlich nur durch Individualvereinbarung mit dem einzelnen Gesellschaftsgläubiger52. Das macht die Rechtsform des Minderheitspools als BGB-Außengesellschaft für die einzelnen Poolmitglieder gefährlich. Besondere Probleme stellen sich bei der Kündigung des Minderheitspools durch einen Gesellschafter, wenn in diesem Falle der Pool unter den verbleibenden Mitgliedern fortgesetzt werden soll53. Von Gesetzes wegen erhält dann der kündigende und ausscheidende Poolgesellschafter als Abfindung nicht seine ursprünglich eingebrachten Aktien zurück, sondern nur den Geldwert seiner Beteiligung am Pool (§ 738 BGB). Das wird dem Ausscheidenden oft nicht recht sein, und auch den Verbleibenden nicht, denn sie stehen für diese Geldabfindungsschuld der Poolgesellschaft entsprechend § 128 HGB mit in der Haftung54. Der Gesellschaftsvertrag kann dem entgegenwirken, indem er dem Ausscheidenden als Abfindung seine eingebrachten Aktien in Natur zuspricht. Das kann dann aber dazu führen, dass der Pool fortan das für die Ausübung des Minderheitsrechts erforderliche Beteiligungsquorum nicht mehr ausfüllt. Als Ausweg kann eine gesellschaftsvertragliche Regelung in Betracht kommen, wonach der Ausscheidende zwar grundsätzlich seine eingebrachten Aktien zurückerhält, aber nach Wahl des Pools auch in Geld abgefunden werden kann.

VI. Zusammenfassende Schlussbetrachtung Minderheitsrechte in der Aktiengesellschaft sind an ein bestimmtes Beteiligungsquorum geknüpft. Das Quorum muss während der gesamten Dauer der Rechtsverfolgung bestehen, also sowohl bei der Geltendmachung des Minderheitsrechts gegenüber der Gesellschaft als auch in einem anschließenden Gerichtsverfahren bis zum Zeitpunkt der endgültigen gerichtlichen Entscheidung. Können mehrere Aktionäre das Beteiligungsquorum nur gemeinsam ausfüllen, so können sie das Minderheitsrecht auch nur gemeinsam ausüben und müssen daher ihr Verhalten koordinieren. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten, die alle mit Schwierigkeiten verbunden sind. Die Minderheits-

__________ 51 Zur entsprechenden Geltung dieser Norm für die BGB-Außengesellschaft BGHZ 146, 341, 358 f.; seither st. Rspr.; insbesondere BGHZ 154, 370, 371 f.; auch BGHZ 157, 361, 364 f.; BGHZ 154, 88, 94; ausführlich Ulmer (Fn. 41), § 714 BGB Rz. 31 ff. 52 BGHZ 142, 315, 317 ff.; BGHZ 150, 1, 3 f.; ausführlich Ulmer (Fn. 41), § 714 BGB Rz. 58 ff. 53 Vgl. hierzu schon oben zu 1. Absatz 6. 54 BGHZ 148, 201, 206 f.; Ulmer (Fn. 41), § 738 BGB Rz. 17.

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Gerold Bezzenberger/Tilman Bezzenberger

aktionäre können jeder für sich parallel vorgehen und ihr Zusammenspiel im gerichtlichen Verfahren den Prozessregeln über die Streitgenossenschaft unterstellen. Aber das ist nur eine sehr lockere Verbindung. Wollen die Aktionäre einen festeren Zusammenhalt, so können sie sich zu einer Innengesellschaft bürgerlichen Rechts (Minderheitskonsortium) zusammenschließen. Sie können auch noch einen Schritt weitergehen und ihre Aktien in eine Außengesellschaft bürgerlichen Rechts (Minderheitspool) einbringen, die dann als eigenständiger Rechtsträger das Minderheitsrecht im eigenen Namen verfolgt. Aber auch diese Gestaltungen können voller Fallstricke sein, und der Koordinationsaufwand ist hoch. An alledem zeigt sich, dass die Minderheitsrechte des deutschen Aktiengesetzes in erster Linie für einzelne, höher beteiligte Aktionäre geschaffen sind, und sich für einen Zusammenschluss von Kleinaktionären letzten Endes nur eignen, wenn deren Zusammenspiel von gegenseitigem Vertrauen und einer starken gemeinsamen Richtigkeitsüberzeugung getragen ist.

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Georg Bitter

Insolvenzanfechtung bei Weggabe unpfändbarer Gegenstände – Ansätze für einen normativen Begriff der Gläubigerbenachteiligung –

Inhaltsübersicht I. Der Jubilar, die Festschrift und das Insolvenzrecht II. Ein Urteil gibt Anlass zum Nachdenken III. Die potenzielle Insolvenzmasse im System der Insolvenzanfechtung 1. Fallgruppen fehlender Gläubigerbenachteiligung a) Weggabe schuldnerfremder Gegenstände b) Weggabe wertloser/wertausschöpfend belasteter Gegenstände c) Persönlichkeitsrechte

2. Vergleich mit der Weggabe unpfändbarer Gegenstände a) Abtretung des Pflichtteilsanspruchs b) Übertragung des Rechts auf ein Patent oder Geschmacksmuster c) Generelle Vermögensrealisierung durch Weggabe unpfändbarer Gegenstände 3. Sonstige Fälle potenzieller Insolvenzmasse 4. Konsequenzen für Zahlungen aus dem Überziehungskredit IV. Zusammenfassende Thesen

I. Der Jubilar, die Festschrift und das Insolvenzrecht Wer das Vergnügen hatte, an der Seite von Karsten Schmidt zu arbeiten, weiß, dass unser Jubilar mit besonderer Freude Festschriftbeiträge verfasst. Inhaltlich das Tagesgeschäft in den juristischen Zeitschriften hinter sich lassend und in der Form viel freier, hat der Festschriftbeitrag dem Rechtsgelehrten ein ums andere Mal die Gelegenheit geboten, mit schönem Federschwung Freunde und akademische Weggefährten zu ehren und dabei an grundlegenden Fragen des Handels-, Gesellschafts- und Insolvenzrechts, aber auch des Zivilprozess-, Kartell- und allgemeinen Zivilrechts zu rühren. Kennzeichnend für Karsten Schmidt ist dabei sein übergreifendes Denken: Jede einzelne seiner Veröffentlichungen passt sich in ein umfassend gedachtes rechtliches Modell ein. Er ist ein „Landschaftsbildner des Rechts“1. Seine „Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen“ aus dem Jahr 1990 prägten dieses Rechtsgebiet ganz maßgeblich. Nie scheute sich Karsten Schmidt, auch an allgemein anerkannten Grundsätzen zu rütteln. Erkannte er Fehlentwicklungen,

__________ 1 Siehe demnächst Bitter, Karsten Schmidt – Landschaftsbildner des Rechts, in Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band 2.

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Georg Bitter

prangerte er diese nachhaltig an, im Insolvenzrecht etwa mit seiner Glosse aus JZ 1992, 298: „Salut zum Thronjubiläum einer herrschenden Irrlehre – Einhundert Jahre höchstrichterliche Amtstheorie im Konkursrecht“. Für mich, seinen akademischen Schüler, ist es eine besondere Freude, Karsten Schmidt in einer Festschrift zu seinen Ehren zu gratulieren und zu diesem Zweck nun den Blick auf einen Grundsatz zu werfen, der ebenfalls beharrlich repetiert, doch nie ernsthaft auf seine Überzeugungskraft überprüft worden ist: Widerlegt werden soll die bislang ganz allgemein vertretene Ansicht, dass die Weggabe unpfändbarer Gegenstände durch den (späteren) Insolvenzschuldner mangels Gläubigerbenachteiligung nicht anfechtbar sei.

II. Ein Urteil gibt Anlass zum Nachdenken Anlass, über diesen hergebrachten Rechtsgrundsatz nachzudenken, gibt das in BGHZ 170, 26 veröffentlichte Urteil vom 11.1.2007. Darin hatte der IX. Zivilsenat des BGH ausgesprochen, die Befriedigung eines Gläubigers mit Mitteln, die der (spätere) Insolvenzschuldner aus einer lediglich geduldeten Kontoüberziehung schöpft, könne in der Regel mangels Gläubigerbenachteiligung nicht angefochten werden2. Basis dieser Entscheidung ist ebenjener Grundsatz, der überall in Urteilen, Kommentaren, Lehr- und Handbüchern – u. a. auch beim Jubilar3 – zu finden ist: Die Weggabe unpfändbarer Gegenstände soll mangels Gläubigerbenachteiligung nicht anfechtbar sein4. Der BGH kombinierte diesen scheinbar a priori

__________ 2 BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435 = NJW 2007, 1357; siehe auch die Folgeentscheidungen BGH, ZIP 2007, 601 = WM 2007, 695; BGH, ZIP 2008, 701 = WM 2008, 704; BGH, ZIP 2008, 747 = WM 2008, 842. 3 Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, KO/VglO/GesO, 17. Aufl. 1997, § 29 KO Anm. 13. 4 In der Rechtsprechung erstmals wohl OLG Braunschweig, MDR 1953, 741 mit Hinweis auf Böhle-Stamschräder, 1951, § 1 AnfG Anm. IV 2, und Jaeger, Gläubigeranfechtung, 1938, § 1 Anm. 57 f.; ferner BGH, ZIP 2001, 889, 890 = WM 2001, 1005, 1006 unter III.1.b) der Gründe; BGHZ 123, 183, 185 = ZIP 1993, 1662, 1663 unter II.2.a) der Gründe (zur Gläubigeranfechtung); BGHZ 155, 75, 82 = ZIP 2003, 1506, 1508 = NJW 2003, 3347, 3348 f. unter II.2.b) der Gründe; Henckel in Jaeger, Band 4, 2008, § 129 InsO Rz. 80; Kirchhof in MünchKomm.InsO, Band 2, 2. Aufl. 2008, § 129 InsO Rz. 84; Kreft in HK-InsO, 4. Aufl. 2006, § 129 InsO Rz. 50; Hirte in Uhlenbruck, 12. Aufl. 2003, § 129 InsO Rz. 98; Paulus in Kübler/Prütting, Stand: 4/2008, § 129 InsO Rz. 29; Nerlich in Nerlich/Römermann, Stand: 5/2007, § 129 InsO Rz. 68; Rogge in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2007, § 129 InsO Rz. 48; Dauernheim in FK-InsO, 4. Aufl. 2006, § 129 InsO Rz. 38; Huber in Graf-Schlicker (Hrsg.), 2007, § 129 InsO Rz. 25; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 21.20 (S. 547); Ehricke in Bork (Hrsg.), Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, 2006, Kap. 4 Rz. 10 (S. 82); Huber in Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2006, § 46 Rz. 55 und 64; differenzierend zwischen Insolvenzanfechtung und Einzelanfechtung nach dem AnfG Hess, Insolvenzrecht Großkommentar, Band II, 2007, § 129 InsO Rz. 98; das Urteil RGZ 21, 95, 99 ist – entgegen Hannich, Die Pfändungsbeschränkung des § 852 ZPO, 1998, S. 160 – nicht einschlägig, sondern betrifft die Fallgruppe der Weggabe wertausschöpfend belasteter Gegenstände (unten Fn. 41).

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vorgegebenen Grundsatz mit seiner seit langem vertretenen Ansicht, dass der (geduldete) Überziehungskredit nicht pfändbar sei5. Der logische Schluss lag damit auf der Hand: Ist der Überziehungskredit nicht pfändbar und liegt in der Weggabe unpfändbarer Gegenstände keine Gläubigerbenachteiligung, so ist die Befriedigung aus den Mitteln eines Überziehungskredits mangels Gläubigerbenachteiligung nicht anfechtbar6. Auf den ersten Blick leuchtet jener zur Basis der Entscheidung genommene Grundsatz durchaus ein7, und vielleicht ist er bislang nur wegen seiner vordergründigen Plausibilität nicht bestritten worden: Gemäß § 36 InsO gehören Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, nicht zur Insolvenzmasse. Stehen aber solch unpfändbare Gegenstände nicht zur Verteilung an die Gläubiger zur Verfügung, scheint es so, als könne deren Weggabe durch den Schuldner die Gläubiger nicht benachteiligen. Die hier vertretene These lautet demgegenüber: Bei unpfändbaren Gegenständen handelt es sich um potenzielle Insolvenzmasse, auf die der Insolvenzverwalter zwar gemäß § 36 InsO nicht zwangsweise zur Befriedigung der Gläubiger zugreifen kann, die aber dann anfechtungsrechtlich zu berücksichtigen ist, wenn der Schuldner die Verwertung zugunsten der Gläubiger selbst durch die Weggabe einleitet. Der Leser mag nun fragen: Wofür brauchen wir diese These und das Nachdenken darüber? Geht es um die Weggabe der nach § 811 Abs. 1 ZPO unpfändbaren Gegenstände, etwa der dem persönlichen Gebrauch oder dem Haushalt dienenden Sachen wie Kleidungsstücke, Wäsche, Betten etc., nimmt wohl niemand besonderen Anstoß an den Folgen jenes so allgemein formulierten Grundsatzes, also daran, dass ein einzelner Insolvenzgläubiger durch den Erhalt solcher Gegenstände bevorzugt ist und er sie gleichwohl mangels Gläubigerbenachteiligung nicht gemäß §§ 129 ff. InsO zur Befriedigung der Gläubigergesamtheit zurückgewähren muss. Ganz anders ist dies aber bei Zahlungen aus einem geduldeten Überziehungskredit. Die Unterscheidung zwischen der Weggabe pfändbarer und unpfändbarer Gegenstände führt bei Zahlungsverkehrsvorgängen, insbesondere Überweisungen, zu merkwürdigen Ergebnissen: Kann die Zahlung vom Schuldner noch aus einem Guthaben oder einem eingeräumten Dispositionskredit erbracht werden, ist sie gegenüber dem empfangenden Gläubiger anfechtbar. Befindet sich das schuldnerische Unternehmen hingegen soweit in der Krise, dass ein Guthaben längst verbraucht und der Dispositionskredit ausgeschöpft ist, können solche Gläubiger, die jetzt noch Zahlungen aus einem nur geduldeten Überziehungskredit erhalten, diese be-

__________ 5 BGHZ 93, 315 = WM 1985, 344 = NJW 1985, 1218. 6 Ob bei der Auszahlung der Darlehensvaluta tatsächlich über den unpfändbaren Gegenstand verfügt wird, lässt sich zwar bezweifeln (vgl. Bitter in FS Gero Fischer, 2008, S. 15, 33 mit Hinweis auf OLG Stuttgart, ZIP 2005, 1837, 1839). Doch soll dies hier einmal auf der Basis der BGH-Entscheidung unterstellt werden. 7 Siehe bereits Bitter (Fn. 6), S. 15, 24 f.

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halten und sind nicht gemäß §§ 129 ff. InsO zur Rückgewähr verpflichtet8. Der Anfechtung sollen nicht einmal Zahlungen unterliegen, die erst nach Stellung des Insolvenzantrags und Anordnung der vorläufigen Verwaltung geleistet werden9. Dieses Ergebnis lässt aufhorchen und es verwundert nicht, dass die Entscheidung vom 11.1.2007 ganz überwiegend Kritik erfahren hat10. Sogar Kirchhof, früher selbst Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des IX. Zivilsenats, formuliert scharf: „Dieses begriffsjuristisch begründete Urteil hat dazu geführt, dass gerade diejenigen Gläubiger anfechtungsfrei bleiben, die den Schuldner kurz vor dessen Insolvenz am stärksten bedrängen und ihn dazu bewegen, ihre Forderungen noch aus einem überzogenen Kredit zu tilgen. In der Praxis sind das meist Sozialversicherungsträger, die insbesondere mit Strafanzeigen gem. § 266a StGB drohen.“11 Ein Weg, dieses von vielen für unbefriedigend gehaltene Ergebnis des IX. Zivilsenats zu vermeiden, besteht darin, die im Bereicherungsrecht für Anweisungsfälle anerkannten Grundsätze zur Leistung im Drei-Personen-Verhältnis entsprechend heranzuziehen12: Die (faktische) Zahlung der angewiesenen Bank an den Gläubiger lässt sich in zwei Leistungsbeziehungen aufspalten: erstens die Leistung der Bank an den anweisenden Kontoinhaber im Deckungsverhältnis und zweitens die Leistung des Kontoinhabers an den Gläubiger zur Befriedigung der Forderung im Valutaverhältnis13. Die letztgenannte Befriedigung wäre dann anfechtbar, weil eine Gläubigerbenachteiligung anerkannt ist, wenn die Kreditmittel erst ins Schuldnervermögen fließen und von dort zum Gläubiger14. Der Verfasser15 hat diesen Ansatz an anderer Stelle näher verfolgt, ebenso Marotzke mit einem Plädoyer für einen normativen (Gläubiger-)Benachteiligungsbegriff16.

__________ 8 Dies mit Recht kritisierend Häsemeyer, KTS 2007, 423, 424 und 430. 9 Dies mit Recht kritisierend Spliedt, NZI 2007, 228, 229. 10 Kritisch insbesondere Bitter (Fn. 6), S. 15 ff.; Häsemeyer, KTS 2007, 423 ff.; Kirchhof, WuB VI A. § 129 InsO 3.08 (S. 556); Marotzke, ZInsO 2007, 897 ff.; Spliedt, NZI 2007, 228 f.; ferner Cranshaw, jurisPR-InsR 11/2007 Anm. 2; bereits vor dem BGHUrteil für die Anfechtbarkeit von Zahlungen aus dem geduldeten Überziehungskredit OLG Stuttgart, ZIP 2005, 1837 = ZInsO 2005, 942; Bitter, WuB VI A. § 129 InsO 3.05 unter Ziff. 4; Stiller, ZInsO 2005, 72 ff.; Zeuner, die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl. 2007, S. 43; dem BGH zustimmend hingegen LG Köln, ZIP 2007, 1547, 1550 f.; aus dogmatischen Gründen zustimmend auch Kummer, jurisPR-BGHZivilR 13/2007 Anm. 2 (trotz „Zufallsergebnissen“ und „Kollateralschäden“); jetzt auch Zeuner, DZWIR 2007, 250 ff. (trotz erkannter Abgrenzungsprobleme). 11 Kirchhof, WuB VI A. § 129 InsO 3.08 (S. 556). 12 Grundlegend zu Übereinstimmungen zwischen Anfechtung und Bereicherungsrecht Gerhardt, Die systematische Einordnung der Gläubigeranfechtung, 1969. 13 Siehe zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung in diesen Fällen nur Sprau in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 812 BGB Rz. 49; Lieb in MünchKomm.BGB, Band 5, 4. Aufl. 2004, § 812 BGB Rz. 39. 14 BGHZ 155, 75, 81 f. = ZIP 2003, 1506, 1508; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 78a; Ehricke (Fn. 4), S. 80; wohl auch Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 37. 15 Bitter (Fn. 6), S. 15 ff., insbes. S. 29 ff. 16 Marotzke, ZInsO 2007, 897 ff.

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Daran soll hier nicht angeknüpft, sondern das Urteil des IX. Zivilsenats zum Anlass genommen werden, grundsätzlicher über jene allgemein anerkannte, als Basis der Entscheidung dienende Ansicht nachzudenken, dass die Weggabe unpfändbarer Gegenstände nicht gläubigerbenachteiligend sei. Der Lösungsweg über die doppelte Leistungsbeziehung ist nämlich begrenzt; er verfängt nur in Anweisungsfällen. Gibt der Schuldner unmittelbar einen unpfändbaren Gegenstand aus seinem Vermögen zur Befriedigung eines einzelnen Gläubigers hin, kann mit dieser dogmatischen Begründung nicht mehr geholfen werden. Es wäre unrecht, die Fragestellung mit Blick auf die in § 811 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 4a bis 8, 10 bis 13 ZPO17 genannten Gegenstände für wirtschaftlich nicht bedeutsam zu halten, weil kein Insolvenzverwalter ernsthaft die Rückgabe von Haushaltsgegenständen, Nahrungsvorräten, Kleintieren sowie einer Milchkuh, Dienstkleidungsstücken, künstlichen Gliedmaßen, Brillen etc. verlangen würde. Die Kosten der Verwertung wären zwar oft höher als der erzielbare Erlös. Doch muss dies nicht immer der Fall sein. Die Rechtsprechung des BGH zeigt immer dann kreative Wege, von besagtem Grundsatz, dass die Weggabe unpfändbarer Gegenstände nicht anfechtbar ist, Ausnahmen zu machen, wenn es sich um erhebliche Vermögenswerte handelt, die ein Gläubiger bevorzugt im Vorfeld der Insolvenz erhalten hat. Zugelassen hat der BGH etwa die Anfechtung der Übertragung des Rechts auf ein Patent oder Geschmacksmuster, das zum Schutz der Entschließungsfreiheit des Erfinders oder Gestalters vor der Anmeldung unpfändbar ist18, sowie die Anfechtung einer Abtretung des Pflichtteilsanspruchs, der vor vertraglicher Anerkennung oder Rechtshängigkeit gemäß § 852 Abs. 1 ZPO unpfändbar ist (näher unten III.2.)19. Wie im Folgenden begründet wird, sollte die Ausnahme richtigerweise die Regel sein: Die Weggabe unpfändbarer Gegenstände ist generell anfechtbar.

III. Die potenzielle Insolvenzmasse im System der Insolvenzanfechtung Auszugehen ist im Insolvenzanfechtungsrecht von § 129 InsO. Dessen erster Absatz enthält das Erfordernis einer – objektiven – Gläubigerbenachteiligung (vgl. den Wortlaut: „… und die Insolvenzgläubiger benachteiligen …“). Es gilt für alle Anfechtungstatbestände20 und war schon zu Zeiten der Konkursord-

__________ 17 Sachen i. S. v. § 811 Abs. 1 Nr. 4 und 9 ZPO werden gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 InsO ausdrücklich zur Insolvenzmasse gezählt. 18 BGH, ZIP 1998, 830 = WM 1998, 1037 = NJW-RR 1998, 1057; Henckel in Jaeger, Band 1, 2004, § 35 InsO Rz. 58; Henckel (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 80; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 52. 19 BGHZ 123, 183 = NJW 1993, 2876 = ZIP 1993, 1662; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 85 f. und Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 51 f., die ferner auf die in § 852 Abs. 2 ZPO genannten Ansprüche des Schenkers auf Herausgabe des Geschenks (§ 528 BGB) und eines Ehegatten auf den Ausgleich des Zugewinns (§ 1378 BGB) verweisen (dazu unten bei Fn. 67; eingehend Hannich (Fn. 4), S. 159 ff., 167 ff.). 20 So BGH, ZIP 1989, 1611, 1613; BGHZ 155, 75, 80 = ZIP 2003, 1506, 1508; BGH, WM 2008, 1034, 1035; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 91; Ehricke (Fn. 4), S. 79.

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nung (KO) anerkannt21, obwohl dort eine entsprechende Formulierung fehlte. Zweiter Anknüpfungspunkt ist § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO: Der Anfechtungsgegner muss zur Insolvenzmasse zurückgewähren, was durch die anfechtbare Handlung „aus dem Vermögen des Schuldners“ veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist. Die Insolvenzordnung versteht mit diesen ausdrücklichen gesetzlichen Anknüpfungen den Begriff der Gläubigerbenachteiligung nicht anders als das bisherige Recht22. Nach der gängigen Definition der Rechtsprechung liegt eine Gläubigerbenachteiligung vor, wenn die Rechtshandlung die Schuldenmasse vermehrt23 oder die Aktivmasse verkürzt24 und dadurch den Zugriff auf das Schuldnervermögen vereitelt, erschwert oder verzögert hat, wenn sich also die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die fragliche Handlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise25 günstiger gestaltet hätten26. Das Rückgewährschuldverhältnis soll zugunsten der Gläubiger die Zugriffslage wiederherstellen, die ohne die anfechtbare Handlung des Schuldners bestanden hätte27. Gerade weil aber der Zweck der Anfechtungsvorschriften in der Erhaltung der den Insolvenzgläubigern zugewiesenen Haftungsmasse besteht, sollen nur solche Rechtshandlungen der Anfechtbarkeit unterliegen, die sich auf Vermögensgegenstände beziehen, die in die durch §§ 35, 36 InsO bestimmte Insolvenzmasse fallen28. Von einzelnen Autoren wird vor diesem Hintergrund besonders betont, die Gläubigerbenachteiligung sei entscheidend, während eine Bereicherung des Empfängers nicht erforderlich sei29, bzw. die Anfechtung sei nicht dazu da, der

__________ 21 Siehe nur Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Rz. 13 m. w. N. 22 Begr. zu § 144 RegE-InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 157; BGHZ 155, 75, 80 = ZIP 2003, 1506, 1508; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 36; Gerhardt/Kreft, Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung, 10. Aufl. 2006, Rz. 99 (S. 34). 23 BGH, ZIP 1991, 1014, 1018 = WM 1991, 1570, 1575 m. w. N. unter Ziff. C.II.b) der Gründe. 24 BGH, ZIP 2002, 489 = NJW 2002, 1574, 1575 m. w. N. unter Ziff. II. der Gründe. 25 Auf die Beurteilung nach wirtschaftlichen, nicht formalrechtlichen Gesichtspunkten wird besonders hingewiesen bei BGH, WM 1955, 405, 406 unter Ziff. 3. der Gründe; BGH, WM 1960, 381, 382 unter Ziff. 3.b) der Gründe; BGH, WM 1985, 733, 734 unter Ziff. II. der Gründe; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 93 m. w. N.; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 13; Ehricke (Fn. 4), S. 85; Zeuner (Fn. 10), S. 42; zu dieser „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ in der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats siehe jüngst das Interview mit Gero Fischer in INDat-Report 3/2008, S. 20, 26; kritisch Häsemeyer (Fn. 4), Rz. 21.19 (S. 546). 26 BGHZ 155, 75, 80 f. = ZIP 2003, 1506, 1508; BGH, ZIP 2001, 1248; siehe auch Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 36 m. w. N.; Henckel (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 76 f.; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 100; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 13; Zeuner (Fn. 10), S. 37 f. 27 Für die Anfechtung nach § 7 AnfG BGHZ 116, 222, 224 = ZIP 1992, 109, 110; BGH, ZIP 1992, 558, 560. 28 Ehricke (Fn. 4), S. 81; siehe auch Häsemeyer (Fn. 4), Rz. 21.20 (S. 546). 29 Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 100; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 16.

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Insolvenzanfechtung bei Weggabe unpfändbarer Gegenstände

Insolvenzmasse Vorteile zu verschaffen, die sie ohne die angefochtene Rechtshandlung nicht erlangt hätte30. Geht man hiervon aus, hat es zunächst den Anschein, als könne eine Gläubigerbenachteiligung nicht eintreten, wenn unpfändbare Gegenstände weggegeben werden. Da sie ohne die Weggabe gemäß § 36 InsO nicht vom Insolvenzverwalter verwertbar gewesen wären, ist eine Verminderung der Aktivmasse schwer begründbar. Es sieht vielmehr so aus, als führe die Zulassung einer Rückforderung gemäß § 143 InsO zu einem Vorteil für die Insolvenzmasse im Vergleich zu dem Zustand vor der anfechtbaren Rechtshandlung31. Gleichwohl lässt sich – wie nachfolgend näher begründet sei – zwischen der Weggabe unpfändbarer Gegenstände und den im Übrigen anerkannten Fällen fehlender Gläubigerbenachteiligung ein Unterschied feststellen, der es rechtfertigt, im Rahmen einer wertenden Betrachtungsweise die Insolvenzanfechtung bei der Weggabe unpfändbarer Gegenstände anzuerkennen. 1. Fallgruppen fehlender Gläubigerbenachteiligung Soweit in der Literatur die bislang in der Rechtsprechung anerkannten Fälle fehlender Gläubigerbenachteiligung bei Weggabe von Gegenständen systematisiert wurden, finden sich mindestens vier Gruppen genannt: (1) schuldnerfremde, (2) wertlose, (3) wertausschöpfend belastete und (4) unpfändbare Gegenstände32. Teilweise wird zusätzlich auf Persönlichkeitsrechte hingewiesen33. a) Weggabe schuldnerfremder Gegenstände An einer Gläubigerbenachteiligung fehlt es, wenn der Schuldner über fremde Gegenstände verfügt, die nicht Teil der Insolvenzmasse sind. Dies ist besonders deutlich, wenn der Schuldner eine Sache, die ohnehin der Aussonderung gemäß § 47 InsO unterliegt, vor der Insolvenz an den Rechtsinhaber herausgibt34. Da der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Verfahrens den Gegen-

__________ 30 Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 91; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 36; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 76 m. N. zur Rspr. 31 Dazu, dass der Insolvenzverwalter nicht nur einen Wertersatz in Geld (§ 143 Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 818 Abs. 2 BGB), sondern auch eine in Natur zurückerlangte Sache zugunsten der Masse verwerten darf, siehe noch unten II.2.c) a. E. 32 Siehe die Zusammenstellung bei Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 48 ff.; Ehricke (Fn. 4), S. 81 ff. 33 So bei Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 88 ff.; Rogge (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 42; Ehricke (Fn. 4), S. 82 f.; bisweilen wird noch der Fall hinzugefügt, dass die Masse zur Befriedigung aller Gläubiger ausreicht (vgl. Kreft [Fn. 4], § 129 InsO Rz. 59 f.; siehe dazu auch Hirte [Fn. 4], § 129 InsO Rz. 91; Kilger/Karsten Schmidt [Fn. 3], § 29 KO Anm. 16); da dieser Fall nicht nur in der Praxis äußerst selten vorkommt, sondern er zudem ohne Differenzierung für jeglichen weggegebenen Gegenstand gilt, liegt er auf anderer Ebene und soll deshalb hier nicht weiter betrachtet werden. 34 BGH, ZIP 1998, 830, 834; BGH, ZIP 2000, 1061, 1063, jeweils m. w. N.; Henckel (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 159; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 78b und 110; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 55; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 105; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 15; Ehricke (Fn. 4), S. 84; Zeuner (Fn. 10), S. 38.

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stand in gleicher Weise hätte herausgeben müssen, ist eine Veränderung der verteilungsfähigen Masse zum Nachteil der Insolvenzgläubiger nicht erkennbar. Eine Gläubigerbenachteiligung fehlt ebenfalls, wenn ein Absonderungsberechtigter im Umfang seines Absonderungsrechts wertausgleichend befriedigt wird35. Hat er durch die Befriedigung vor Verfahrenseröffnung nur exakt das erhalten, was ihm nach der Eröffnung aufgrund seines Absonderungsrechts ohnehin vorrangig zugestanden hätte, ist erneut kein Nachteil für die Insolvenzgläubiger erkennbar. Die fehlende Benachteiligung der Insolvenzgläubiger korrespondiert also mit einer fehlenden Bevorzugung des einzelnen Gläubigers. Dies gilt – jedenfalls wirtschaftlich – auch bei einem Austausch gleichwertiger Sicherheiten36, durch den der Gläubiger zwar einen Gegenstand aus der verteilungsfähigen Masse erhält, für den er aber im Gegenzug einen anderen Gegenstand in jene Masse entlässt, der stattdessen zur Verteilung an die Gläubigergesamtheit zur Verfügung steht. b) Weggabe wertloser/wertausschöpfend belasteter Gegenstände Bei Rechtshandlungen über wirtschaftlich wertlose Gegenstände fehlt es nach allgemeiner Ansicht ebenfalls an einer Gläubigerbenachteiligung, weil bei der Verwertung ohnehin kein Erlös für die Gläubigergesamtheit hätte erzielt werden können37. Als Beispiele werden genannt die Überlassung von Photographien mit reinem Affektionsinteresse38, die Übertragung von Anteilen an einer vermögenslosen Gesellschaft oder die Abtretung einer rechtlich nicht durchsetzbaren Forderung39. Der Bundesgerichtshof hat die Gläubigerbenachteiligung beispielsweise bei der Übertragung des Erbteils an einem überschuldeten Nachlass verneint40.

__________ 35 BGH, ZIP 1991, 1014, 1017 = WM 1991, 1570, 1574 m. w. N.; BGH, ZIP 1998, 830, 834 m. w. N.; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 13 und 15; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 105; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 58 (mit Hinweis in Rz. 57 auf eine gegenüber der KO allerdings geänderten Rechtslage, wenn der mit einem Absonderungsrecht belastete Gegenstand selbst an den Absonderungsberechtigten vor Verfahrenseröffnung herausgegeben wird; vgl. auch die differenzierte Darstellung bei Gerhardt/Kreft [Fn. 22], Rz. 154 ff. [S. 49 ff.]). 36 Zur fehlenden Gläubigerbenachteiligung in diesen Fällen Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 108d; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 37; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 120; Kilger/ Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 17; Ehricke (Fn. 4), S. 86. 37 BGH, ZIP 2001, 889, 890 = WM 2001, 1005, 1006; ZIP 2004, 671, 672 = WM 2004, 540 f. m. w. N.; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 108; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 36 und 49; Zeuner (Fn. 10), S. 44. 38 So Zeuner (Fn. 10), S. 44; siehe auch Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 111 (S. 37). 39 Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 108. 40 BGH, ZIP 1992, 558, 561 = WM 1992, 1199, 1202 (dazu auch Kirchhof [Fn. 4], § 129 InsO Rz. 108); siehe außerdem BGH, ZIP 1988, 1060, 1061 unter Ziff. II. 2. der Gründe, ferner S. 1062 unter Ziff. II. 4. der Gründe: Abtretung eines Kaufpreisanspruchs aus einem Grundstückskaufvertrag, der bestimmungsgemäß zur Ablösung von Grundschulden zu verwenden war. Da der Grundstückskäufer nur bei lastenfreiem

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Die Weggabe von Gegenständen, die wertausschöpfend belastet sind, wird regelmäßig als weiterer Fall fehlender Gläubigerbenachteiligung genannt41, doch handelt es sich dabei in Wahrheit nicht um eine gesonderte Fallgruppe, sondern um einen Unterfall der Rechtshandlung über wirtschaftlich wertlose Gegenstände. Ist nämlich ein Gegenstand wertausschöpfend belastet, und zwar nicht nur nominell42, dann hat dieser Gegenstand weder für die Insolvenzmasse43 noch für den Gläubiger, der ihn erhält, einen wirtschaftlichen Wert. Nicht anders als bei der Weggabe schuldnerfremder Sachen korrespondiert deshalb auch bei der Verfügung über wertlose, insbesondere wertausschöpfend belastete Gegenstände mit der fehlenden Gläubigerbenachteiligung die fehlende Bevorzugung jenes Gläubigers, der den Gegenstand erhält. Und eben weil dies so ist, nimmt an dem Ergebnis fehlender Anfechtbarkeit nach §§ 129 ff. InsO auch niemand Anstoß. c) Persönlichkeitsrechte Rechtshandlungen, die reine Persönlichkeitsrechte des Schuldners betreffen, werden ebenfalls für nicht anfechtbar gehalten, weil diese Rechte nicht Vermögensbestandteile sind und deshalb den Insolvenzgläubigern nicht haften44. So sind etwa Änderungen im Personenstand des Schuldners sogar dann nicht anfechtbar, wenn sie mittelbar wirtschaftliche Belastungen bewirken, z. B. die Eheschließung oder die Annahme an Kindes Statt mit dadurch begründeten Unterhaltspflichten45. Auch die Umwandlung des Güterstandes ist nicht anfechtbar, sondern Ausfluss persönlicher Selbstbestimmung46. Nicht anfechtbar ist weiterhin die Ausschlagung einer Erbschaft (§§ 1942, 1953 BGB) oder eines Vermächtnisses (§§ 2176, 2180 BGB) durch den Schuldner. § 83 Abs. 1 Satz 1

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Erwerb des Grundstücks zur Kaufpreiszahlung verpflichtet war, hatte der Kaufpreisanspruch für sich genommen keinen Wert; seine Abtretung benachteiligte deshalb die Gläubiger nicht. RGZ 21, 95, 99 (Belastung mit vorrangigen Pfändungspfandrechten); BGHZ 90, 207, 212 = ZIP 1984, 489, 491 unter Ziff. 3. der Gründe; BGH, ZIP 2006, 387 = WM 2006, 490, 491; Henckel (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 79; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 109 m. w. N., 152a und 175; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 53; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 103; Huber (Fn. 4), § 46 Rz. 60 ff.; Kayser, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2007, S. 194; Zeuner (Fn. 10), S. 42; Ehricke (Fn. 4), S. 83 und 87. Zu dem Fall, dass die Forderungen hinter dem Nominalwert der Belastung zurückbleiben, siehe BGHZ 90, 207, 214 ff. = ZIP 1984, 489, 491 f.; Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 41; Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 127 (S. 42) und Rz. 174 ff. (S. 55 ff.) m. w. N.; Ehricke (Fn. 4), S. 87. Zur Frage, ob allerdings im Verlust der Kostenbeiträge des § 171 InsO eine Gläubigerbenachteiligung zu sehen ist, vgl. Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 109a und Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 161 f. (S. 52) jeweils m. N. zur Rspr.; unklar Zeuner (Fn. 10), S. 44. Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 88; Rogge (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 42; Häsemeyer (Fn. 4), Rz. 21.20 (S. 547); Ehricke (Fn. 4), S. 82. Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 89; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 14. Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 89.

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InsO zeigt nämlich, dass diese Entscheidung weiterhin allein dem persönlichen Bereich des Schuldners zugerechnet werden soll47. Dasselbe gilt nach h. M. für den Erbverzicht nach § 2346 BGB48 und für das Unterlassen der Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs49 oder eines sonstigen höchstpersönlichen Erwerbs50. Dem Insolvenzbeschlag unterliegt weiterhin nicht die Arbeitskraft des Schuldners, weshalb die Aufgabe einer gut bezahlten Stellung ebenso wenig anfechtbar ist wie die Nichtaufnahme einer zumutbaren entgeltlichen Tätigkeit51. Bei all diesen Rechtshandlungen betreffend Persönlichkeitsrechte ist zwar – im Gegensatz zu den unter a) und b) genannten Fallgruppen – durchaus ein wirtschaftlicher Nachteil für die Insolvenzmasse vorhanden. Dieser Verlust wird jedoch hingenommen, um nicht in eine höchstpersönliche, oftmals das Verhältnis des Schuldners zu seinen Familienangehörigen betreffende Entscheidung einzugreifen. Das Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung tritt also hinter dem als höherrangig empfundenen Persönlichkeitsrecht zurück. 2. Vergleich mit der Weggabe unpfändbarer Gegenstände Bislang wird die Weggabe unpfändbarer Gegenstände den vorgenannten Fällen gleichgestellt, also ebenfalls eine (relevante) Gläubigerbenachteiligung verneint52. Der einzelne Gläubiger kann daher den übertragenen Gegenstand behalten und ist keinem Rückgabeverlangen des Insolvenzverwalters aus § 143 InsO ausgesetzt. Die Unpfändbarkeit eines Gegenstandes beruht oftmals – wie etwa in den Fällen der §§ 811 ff. ZPO – auf sozialen Gründen: Dem Schuldner soll die Basis für eine bescheidene Lebensführung nicht entzogen werden, insbesondere deshalb nicht, weil anderenfalls nach einer Kahlpfändung durch den Gläubiger der Staat im Wege der Sozialhilfe zur Sicherung des Existenzminimums eintreten müsste53. Die Gläubiger sollen nicht auf Kosten des Staates befriedigt werden. Die Unpfändbarkeit kann aber auch – z. B. in den eingangs bereits genannten Fällen der Übertragung des Anspruchs auf ein Patent oder Geschmacksmuster bzw. der Abtretung des Pflichtteilsanspruchs54 – dem Schutz der persönlichen Entscheidungsfreiheit des Schuldners dienen. Es zeigt sich dann eine Nähe zu der soeben unter 1.c) behandelten Fallgruppe. Der Unterschied besteht – bezo-

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47 So Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 90; Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 100; kritisch gegenüber der rechtspolitischen Entscheidung allerdings Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 182 (S. 59). 48 Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 100; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 90. 49 BGH, NJW 1997, 2384 = ZIP 1997, 1302; Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 141 (S. 45) und Rz. 182 (S. 58). 50 Siehe Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 90 mit weiteren Beispielen. 51 Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 91; Ehricke (Fn. 4), S. 11; Häsemeyer (Fn. 4), Rz. 21.20 (S. 547). 52 Siehe oben Fn. 4. 53 Siehe nur Stöber in Zöller, 26. Aufl. 2007, § 811 ZPO Rz. 1. 54 Siehe oben bei Fn. 18 und 19.

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gen auf die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unpfändbaren Gegenstände – nur in der konkret vom Schuldner vorgenommenen Rechtshandlung. Während es oben um Fälle ging, in denen der Schuldner auf die wertmäßige Realisierung der betreffenden Rechte verzichtet und der damit eingetretene Verlust für die Insolvenzmasse zum Schutz der höchstpersönlichen Entscheidung hingenommen wird, ist nunmehr die Frage zu entscheiden, ob Gleiches zu gelten hat, wenn der Schuldner derartige Gegenstände, auf die nicht zwangsweise zugegriffen werden kann, freiwillig zugunsten eines Gläubigers weggibt. Die Besonderheit gegenüber den beiden erstgenannten Fallgruppen der Weggabe schuldnerfremder bzw. wertloser, insbesondere wertausschöpfend belasteter Gegenstände55 besteht bei der Weggabe unpfändbarer Gegenstände darin, dass hier nicht festgestellt werden kann, es korrespondiere mit der fehlenden Gläubigerbenachteiligung eine ebenfalls fehlende Gläubigerbevorzugung. Vielmehr wird der Wert des beim Schuldner unpfändbaren Gegenstandes dem Vermögen des Gläubigers zugeführt. Man meint nun offenbar, diesen Vermögenszufluss hinnehmen zu müssen, weil sich die Befriedigungsmöglichkeit der Gläubigergesamtheit des Schuldners nicht verschlechtert hat: Der unpfändbare Gegenstand gehörte gemäß § 36 InsO ohnehin nicht zur verwertbaren Insolvenzmasse. Doch stellt sich die Frage: Soll die einseitige Gläubigerbevorzugung tatsächlich hingenommen werden, weil es auf den ersten Blick an einer Gläubigerbenachteiligung fehlt? Wie eingangs schon angedeutet, entscheidet die h. M. in Wahrheit immer dann anders, wenn erhebliche Werte vom Schuldner zum Gläubiger transferiert werden56. Dann werden im Ergebnis Ausnahmen von dem Grundsatz anerkannt, dass die Weggabe unpfändbarer Gegenstände nicht anfechtbar sei. Allerdings erzielt die Rechtsprechung das für sachgerecht gehaltene Ergebnis einer Rückgabeverpflichtung des einseitig bevorzugten Gläubigers, indem sie jeweils im Einzelfall doch eine Pfändbarkeit für den Moment der Weggabe begründet. So muss sie formal nicht von dem (angeblichen) hergebrachten Grundsatz abweichen. Wie nunmehr gezeigt werden soll, wäre es konsequenter und richtiger, den Grundsatz insgesamt aufzugeben. a) Abtretung des Pflichtteilsanspruchs Eine erste faktische Korrektur nahm der IX. Zivilsenat des BGH in einem 1993 nach dem AnfG zu entscheidenden Fall vor, dem die Abtretung eines Pflichtteilsanspruchs zugrunde lag. Das Berufungsgericht hatte die Voraussetzungen für eine Gläubigeranfechtung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AnfG verneint, weil durch die Abtretung des Pflichtteilsanspruchs kein pfändbares Vermögen entzogen worden sei, so dass es an einer Gläubigerbenachteiligung fehle. Nach § 852 Abs. 1 ZPO sei ein Pflichtteilsanspruch der Pfändung nur unterworfen, wenn

__________ 55 Siehe oben III.1.a) und b). 56 Siehe oben bei Fn. 18 und 19.

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er durch Vertrag anerkannt oder rechtshängig geworden sei. Beides sei vor der Abtretung nicht der Fall gewesen57. Das Berufungsgericht hatte sich also – in Übereinstimmung mit der h. M. im Schrifttum58 – auf jenen Grundsatz berufen, dass die Weggabe unpfändbarer Gegenstände keine Gläubigerbenachteiligung enthält. Der IX. Zivilsenat ließ das Ergebnis gleichwohl nicht gelten. Das in § 852 Abs. 1 ZPO angeordnete Pfändungsverbot sei in einem am Normzweck ausgerichteten eingeschränkten Sinn zu verstehen, weshalb der Pflichtteilsanspruch als ein durch die vertragliche Anerkennung oder Rechtshängigkeit aufschiebend bedingter Anspruch sogleich pfändbar sei. Durch eine derartige Pfändung werde nicht in die Entscheidungsfreiheit des Pflichtteilsberechtigten eingegriffen. Indem der Gesetzgeber die Abtretung des Pflichtteilsanspruchs zugelassen habe, bevor die Voraussetzungen für eine unbeschränkte Pfändbarkeit vorliegen, habe er nicht das Ziel verfolgt, es dem Berechtigten zu ermöglichen, den Pflichtteilsanspruch dem Zugriff seiner Gläubiger zugunsten des Zessionars und dessen Gläubiger zu entziehen59. Sei die Pfändung eines durch den Eintritt der Voraussetzungen des § 852 Abs. 1 ZPO aufschiebend bedingt verwertbaren Pflichtteilsanspruchs aber möglich, könne in der Abtretung des Pflichtteilsanspruchs eine Gläubigerbenachteiligung liegen. Insoweit hält es der IX. Zivilsenat sogar – auch wenn er die Frage letztlich offen lässt – für möglich, mit einer verbreiteten Ansicht in erweiternder Auslegung von § 852 Abs. 1 ZPO davon auszugehen, dass auch die Abtretung für sich genommen schon die unbeschränkte Pfändbarkeit des Pflichtteilsanspruchs begründet60. Diese Entscheidung zeigt, dass der BGH eine Gläubigerbenachteiligung auch bei der Weggabe potenziellen Vermögens des Schuldners anerkennt. Zwar können die Gläubiger nicht zwangsweise auf einen solchen potenziellen Vermögenswert wie den Pflichtteilsanspruch zugreifen. Vielmehr ist es dem Schuldner freigestellt, von seiner Entscheidungsfreiheit dergestalt Gebrauch zu machen, dass er den Anspruch nicht geltend macht61. Dies bedeutet aber nur, dass der Schuldner nicht gegen seinen Willen zur Realisierung des Wertes gezwungen werden kann. Macht er demgegenüber von seiner Entscheidungsfreiheit positiv Gebrauch und tritt er den Pflichtteilsanspruch ab, greift der Schutzzweck – Sicherung der Entscheidungsfreiheit – nicht mehr ein. Das bislang nur potenzielle Vermögen wird Bestandteil der den Gläubigern zur Verfügung stehenden Masse, weshalb seine Weggabe eine Gläubigerbenachteili-

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57 Vgl. die Wiedergabe in BGHZ 123, 183, 184 = ZIP 1993, 1662 = NJW 1993, 2876, 2877 unter Ziff. I. der Gründe. 58 Vgl. die Wiedergabe der Nachweise in BGHZ 123, 183, 185 = ZIP 1993, 1662, 1663 = NJW 1993, 2876, 2877 unter Ziff. II.2.a) der Gründe. 59 BGHZ 123, 183, 185 ff. = ZIP 1993, 1662, 1663 = NJW 1993, 2876, 2877 unter Ziff. II.2.b) der Gründe. 60 BGHZ 123, 183, 190 = ZIP 1993, 1662, 1664 = NJW 1993, 2876, 2878 unter Ziff. II.2.c) der Gründe. 61 BGH, NJW 1997, 2384 = ZIP 1997, 1302 und dazu oben III.1.c); zum Vergleich der beiden Urteile aus 1993 und 1997 auch Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 140 f. (S. 45).

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gung bewirkt. Der BGH beruft sich dabei ausdrücklich auf eine „wertende Betrachtungsweise“62. Diese verhindert im Ergebnis, dass trotz Gläubigerbevorzugung keine Gläubigerbenachteiligung anzuerkennen wäre. b) Übertragung des Rechts auf ein Patent oder Geschmacksmuster Ein zweiter in Rechtsprechung und Literatur behandelter Ausnahmefall ist die Übertragung des Rechts auf ein Patent oder Geschmacksmuster. Im Jahr 1998 hatte der IX. Zivilsenat des BGH über einen konkursrechtlichen Fall zu entscheiden, in dem die Anfechtung der Sicherungsübertragung von Geschmacksmusterrechten in Rede stand. Der BGH setzte sich in seinem Urteil mit einer seinerzeit im Schrifttum verbreiteten Auffassung auseinander, nach der das geschmacksmusterrechtliche Anwartschaftsrecht wegen der persönlichkeitsrechtlichen Bindungen des Gestalters an ein Werk, insbesondere der im Urheberrechtspersönlichkeitsrecht wurzelnden Entschließungsfreiheit zur Anmeldung als Muster, der Zwangsvollstreckung nur mit Zustimmung des Gestalters unterliegt und deshalb nur unter dieser Voraussetzung in die Konkursmasse fallen sollte63. Auch hier war also über die Frage zu entscheiden, ob die Unpfändbarkeit die Zugehörigkeit zu der den Gläubigern zur Verfügung stehenden Vermögensmasse hindert und deshalb eine Gläubigerbenachteiligung bei Übertragung des unpfändbaren Vermögenswertes auszuscheiden hat. Erneut sprach sich der BGH für die Anfechtbarkeit aus. Er verwies zunächst auf das zuvor ergangene Urteil zur Abtretung des Pflichtteilsanspruchs und bezweifelte im Hinblick auf die dort anerkannte Pfändbarkeit des durch die vertragliche Anerkennung oder Rechtshängigkeit aufschiebend bedingten Anspruchs, ob das durch die Anmeldung beim Patentamt bedingte Recht auf das Geschmacksmuster tatsächlich nicht zur Konkursmasse gehört. Im konkreten Fall bedürfe dies „keiner abschließenden Beantwortung“, weil die Gestalterin – eine Arbeitnehmerin der Insolvenzschuldnerin – das Anwartschaftsrecht zuvor zur Verwertung auf die Insolvenzschuldnerin übertragen und dieser das Recht eingeräumt hatte, die Anmeldung vorzunehmen. Damit habe sie ernstlich und mit hinreichender Deutlichkeit klargemacht, dass die von ihr geschaffenen Werke in das Musterregister eingetragen und einer gewerblichen Nutzung zugeführt werden sollten, weshalb sie aus dem Gesichtspunkt des geschmacksmusterrechtlichen Persönlichkeitsrechts keines Schutzes mehr bedürfe. Vielmehr seien die Anwartschaftsrechte bei der Insolvenzschuldnerin unbeschränkt pfändbar und gehörten mithin zur Konkursmasse64. Wenn auch die Frage letztlich nicht entscheidungserheblich war, deutete der IX. Zivilsenat in dieser Entscheidung zumindest an, dass auch bei einer Über-

__________ 62 BGHZ 123, 183, 191 = ZIP 1993, 1662, 1665 = NJW 1993, 2876, 2878 unter Ziff. II.2.d) der Gründe. 63 Vgl. die Wiedergabe der Nachweise bei BGH, ZIP 1998, 830, 831 = WM 1998, 1037, 1039 unter Ziff. II.1.c) der Gründe. 64 BGH, ZIP 1998, 830, 831 = WM 1998, 1037, 1039 unter Ziff. II.1.c) der Gründe.

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tragung des Geschmacksmusters durch den Urheber selbst die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes bestehende Unpfändbarkeit es nicht hindert, in der Übertragung eine Gläubigerbenachteiligung zu sehen. Demgemäß wird im Schrifttum die Ansicht vertreten, die Grundsätze aus der Entscheidung zur Abtretung des Pflichtteilsanspruchs seien auf die Übertragung des geschmacksmusterrechtlichen Anwartschaftsrechts übertragbar65. Gleiches gelte zudem für Patente. Auch hier liege in der Übertragung des Rechts auf das Patent die Kundgabe der Absicht zur Verwertung, welche die Pfändbarkeit begründet66. Nicht anders als beim Pflichtteilsanspruch wird damit auch beim Anspruch auf ein Patent oder Geschmacksmuster letztlich eine potenzielle Insolvenzmasse anerkannt: Zwar ist der zwangsweise Zugriff der Gläubiger untersagt, sodass der Schuldner nicht gegen seinen Willen zur Realisierung dieses Vermögenswertes gezwungen werden kann. Überträgt er jedoch das potenzielle Vermögen an einen Gläubiger, liegt in der Übertragung die Realisierung des Vermögens und damit zugleich eine die übrigen Gläubiger benachteiligende Rechtshandlung. c) Generelle Vermögensrealisierung durch Weggabe unpfändbarer Gegenstände Was aber für die Übertragung des Pflichtteilsanspruchs, Gebrauchsmusters und Patents anerkannt wird, ist bei Lichte besehen keine Ausnahme, sondern gilt generell: Die Weggabe unpfändbarer Gegenstände ist gläubigerbenachteiligend. Der frühere Vorsitzende und der frühere stellvertretende Vorsitzende des IX. Zivilsenats weisen bereits darauf hin, dass die vom BGH für die Abtretung des Pflichtteilsanspruchs anerkannte Ausnahme in gleicher Weise für die in § 852 Abs. 2 ZPO genannten Ansprüche des Schenkers auf Herausgabe des Geschenks (§ 528 BGB) und eines Ehegatten auf den Ausgleich des Zugewinns (§ 1378 BGB) zu gelten hätte67. Auch insoweit bleibt festzuhalten: Weil die Entscheidungsfreiheit des Schuldners als höherrangig gegenüber dem Ziel der Gläubigerbefriedigung angesehen wird, können die Gläubiger zwar nicht gegen den Willen des Schuldners auf den potenziellen Vermögenswert zugreifen, der im Rückgewähranspruch wegen Verarmung des Schenkers sowie im Anspruch auf Zugewinnausgleich liegt. Macht der Schuldner aber von seiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch und überträgt er diese Ansprüche auf einen seiner Gläubiger, ist in dieser Übertragung die Verwertungshandlung zu sehen, die den potenziellen Vermögenswert realisiert. Die Übertragung und die darin liegende einseitige Bevorzugung eines Gläubigers ist damit zugleich bei „wertender Betrachtung“68 als Gläubigerbenachteiligung anzusehen.

__________ 65 Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 52; in diesem Sinne wohl auch Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 102. 66 Henckel (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 80; siehe auch Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 102. 67 Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 52; Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 86; zustimmend Rogge (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 45; näher Hannich (Fn. 4), S. 167 ff.; zur Pfändbarkeit des Anspruchs aus § 528 BGB siehe BGHZ 169, 320 = NJW 2007, 60 (Rz. 25 f.). 68 Siehe oben Fn. 62.

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Dieser Gedankengang lässt sich nun aber auf jeden Fall der Weggabe unpfändbarer Gegenstände übertragen. § 36 InsO soll den Schuldner allein davor schützen, dass der Insolvenzverwalter zwangsweise Zugriff auf die – insbesondere aus sozialen Gründen69 – unpfändbaren Gegenstände nimmt. Gibt der Schuldner aber freiwillig einen unpfändbaren Gegenstand an einen seiner Gläubiger weg, ist dieser Schutzzweck nicht mehr betroffen. Mit der Weggabe gibt der Schuldner zu erkennen, dass er auf den Schutz des unpfändbaren Gegenstands freiwillig verzichtet und den darin liegenden Vermögenswert zugunsten seiner Gläubiger realisieren will. Dieser Anknüpfung an den Verzicht kann nicht entgegengehalten werden, dass jedenfalls der Pfändungsschutz aus § 811 ZPO nach h. M. unverzichtbar ist70. Dem Schuldner ist damit allein die Möglichkeit genommen, vor, bei oder nach71 einem zwangsweisen Zugriff des Gläubigers im Wege der Pfändung auf den Schutz aus § 811 ZPO zu verzichten, während ein Schuldner selbstverständlich nicht gehindert ist, einen unpfändbaren Gegenstand durch freiwillige Veräußerung zu verwerten72. Die Pfändungsschutzvorschriften begründen nämlich kein Veräußerungsverbot. Mit der hier zur Anfechtung vertretenen Lösung wird denn auch die unmittelbare Weggabe eines unpfändbaren Gegenstandes an einen Gläubiger zu dessen Befriedigung im Ergebnis genau so behandelt, als ob der Schuldner zunächst den Gegenstand durch Verkauf verwertet und er sodann den Erlös an seinen Gläubiger herausgibt. Da in letzterem Fall zunächst der Erlös in das Schuldnervermögen fließt, ist dessen spätere Weggabe in jedem Fall gläubigerbenachteiligend. Gleiches würde übrigens gelten, wenn der Schuldner den unpfändbaren Gegenstand seinem Gläubiger in Verkaufskommission überlässt mit der Bestimmung, den Erlös mit dem Anspruch des Gläubigers zu verrechnen. Da der Verkaufserlös in letzterem Fall wieder zunächst dem Schuldner – wenn auch nur wirtschaftlich – zusteht73, benachteiligt die Verrechnung die Gläubiger ebenfalls. Gibt aber der Schuldner den Gegenstand, statt ihn zunächst zu Geld zu machen oder ihn in Verkaufskommission zu geben, sogleich seinem Gläubiger, liegt in dieser Übertragung die Verwertungshandlung, die die potenzielle Insolvenzmasse dem anfechtungsrechtlich relevanten Vermögen des Schuldners zuführt. Eine Gläubigerbenachteiligung ist deshalb bei „wertender Betrachtung“ auch in diesem Fall anzuerkennen.

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69 Siehe oben bei Fn. 53. 70 Siehe dazu nur Stöber in Zöller (Fn. 53), § 811 Rz. 10; Gruber in MünchKomm. ZPO, Band 2, 3. Aufl. 2007, § 811 ZPO Rz. 13 ff.; Münzberg in Stein/Jonas, Band 7, 22. Aufl. 2002, § 811 ZPO Rz. 8. 71 Im Gegensatz zu der in Fn. 70 zitierten h. M. will Lüke in Wieczorek/Schütze, Band 4/2, 3. Aufl. 1999, § 811 Rz. 13 den Verzicht während oder nach der Pfändung gestatten; umfassende Nachweise zu dieser hier nicht relevanten Streitfrage auch bei Gruber (Fn. 70), § 811 ZPO Rz. 13. 72 Vgl. dazu auch Münzberg (Fn. 70), § 811 ZPO Rz. 8; Lüke (Fn. 71), § 811 ZPO Rz. 13. 73 Im Kommissionsrecht drückt sich diese wirtschaftliche Zuordnung in § 392 Abs. 2 HGB aus, eine Vorschrift, die von einem treuhandrechtlichen Grundgedanken getragen ist; vgl. Bitter, Rechtsträgerschaft für fremde Rechnung, 2006, S. 48 ff., 120 ff., 189 ff.

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Zur Begründung dieser Gläubigerbenachteiligung muss man aber nicht – wie der BGH – darauf abstellen, dass bereits der bedingte Anspruch pfändbar ist bzw. der Gegenstand mit der Übertragung pfändbar wird. Einer derartigen Begründung bedarf es nur, wenn man sich von einem angeblichen Grundsatz abzugrenzen sucht, nach dem die Weggabe unpfändbarer Gegenstände im Grundsatz nicht gläubigerbenachteiligend wirkt. Sieht man demgegenüber, dass jeder unpfändbare Gegenstand von vornherein potenziell zur Insolvenzmasse gehört, weil nur der zwangsweise Zugriff des Insolvenzverwalters durch § 36 InsO gehindert werden soll, lässt sich der Grundsatz selbst korrigieren. Da bei einer vom Schuldner selbst vorgenommenen Übertragung des unpfändbaren Gegenstandes der Sinn und Zweck des § 36 InsO – die Verhinderung zwangsweisen Zugriffs – nicht eingreift, kann die Norm insoweit teleologisch reduziert und so auf der Basis eines normativ wertenden Gläubigerbenachteiligungsbegriffs auch bei der Weggabe unpfändbarer Gegenstände eine Verkürzung der Insolvenzmasse anerkannt und damit die Anfechtbarkeit gemäß §§ 129 ff. InsO begründet werden. Diese Betrachtung verhindert bei der Weggabe unpfändbarer Gegenstände, dass es eine Gläubigerbevorzugung ohne Gläubigerbenachteiligung gibt. Ist der weggegebene Gegenstand beim Gläubiger nicht mehr in natura vorhanden, zieht der Insolvenzverwalter den Wertersatz zur Masse (§ 143 Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 818 Abs. 2 BGB). Aber auch dann, wenn der konkrete Gegenstand zurückgegeben werden kann, führt die Rückgewähr gemäß § 143 InsO nicht etwa dazu, dass der Gegenstand nun erneut der Unpfändbarkeit – etwa nach § 811 ZPO – unterfiele. Vielmehr kann der Insolvenzverwalter den Gegenstand zugunsten der Gläubigergesamtheit verwerten, wie auch der gemäß § 143 InsO zurückgewährte Erlös der Masse zugestanden hätte, den der Schuldner nach einer vorangegangenen Eigenverwertung an einen seiner Gläubiger gegeben hätte. Es wäre nicht gerechtfertigt, den Gegenstand nach der Rückgewähr wieder dem unpfändbaren Schuldnervermögen zuzuordnen, nachdem dieser Schuldner durch die Weggabe selbst zu erkennen gegeben hat, dass er ihn zugunsten seiner Gläubiger verwertet wissen will. 3. Sonstige Fälle potenzieller Insolvenzmasse Die hier entwickelte These, dass es eine potenzielle Insolvenzmasse gibt, die zwar nicht zwangsweise vom Insolvenzverwalter realisiert werden kann, deren Weggabe aber gleichwohl die Insolvenzanfechtung begründet, findet ihre Bestätigung auch in sonstigen in Rechtsprechung und Literatur diskutierten Fällen. a) Hinzuweisen ist zunächst auf ein Urteil des BGH aus dem Jahr 2003, dem die Insolvenzanfechtung einer unentgeltlichen Arbeitnehmerüberlassung durch den Insolvenzschuldner zugrunde lag74. Die Schuldnerin (eine GmbH) hatte,

__________ 74 BGH, ZIP 2004, 671 = WM 2004, 540; siehe dazu auch Kreft (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 36 und 37; Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 114 (S. 38); Huber (Fn. 4), § 46 Rz. 64 und § 49 Rz. 6.

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nachdem sie den Geschäftsbetrieb aufgegeben und deshalb keine Verwendung mehr für die bei ihr angestellten Arbeitnehmer hatte, diese unentgeltlich einer neu gegründeten Auffanggesellschaft überlassen. Die Arbeitnehmer waren damit einverstanden. Obwohl der Anspruch der Schuldnerin gegen ihre Arbeitnehmer auf Leistung der Dienste ihr nach Aufgabe des Geschäftsbetriebs keinen wirtschaftlichen Vorteil mehr einzubringen vermochte, sah der BGH in der Arbeitnehmerüberlassung eine anfechtbare Rechtshandlung. Er grenzte sich dabei ausdrücklich von den Fällen der Weggabe wertloser Gegenstände75 ab. Der arbeitsvertragliche Anspruch auf die Dienste eines Arbeitsnehmers besitze – so heißt es in dem Urteil – „im Allgemeinen einen … objektiven Verkehrswert“. Dies gelte auch dann, wenn der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer keine Verwendung mehr hat, dieser jedoch bereit ist, zugunsten eines Dritten tätig zu werden. Jeder Gegenstand, mit dem der Schuldner persönlich nichts anzufangen weiß, den er jedoch einem Dritten zur entgeltlichen Nutzung zur Verfügung stellen kann, besitze einen Vermögenswert im anfechtungsrechtlichen Sinne76. Die Gläubigerbenachteiligung sei auch nicht im Hinblick auf die Unpfändbarkeit des Anspruchs auf die Dienste des Arbeitnehmers (§§ 613 Satz 2, 399, 400 BGB, § 851 ZPO) zu verneinen, weil § 613 Satz 2 BGB allein dem Schutz des Arbeitnehmers diene. Nur die zum Schutz des Schuldners von der Pfändung ausgenommenen Ansprüche seien nicht Bestandteil der Insolvenzmasse77. In der Sache geht es auch in diesem Fall um die Realisierung einer potenziellen Masse. Ohne die Zustimmung der Arbeitnehmer zur Tätigkeit für die Auffanggesellschaft hätte der Anspruch auf die Dienste für die Schuldnerin keinen Wert gehabt. Konnte der Wert jedoch durch die Überlassung der Arbeitnehmer mit deren Zustimmung realisiert werden, liegt auf der Basis eines normativen Begriffs der Gläubigerbenachteiligung ein – wie der BGH formuliert – „Vermögenswert im anfechtungsrechtlichen Sinne“ vor. Nicht zu überzeugen vermag nur der Hinweis auf den Schutzzweck des § 613 Satz 2 BGB und die Behauptung, eine zum Schutz des Schuldners unpfändbare Sache gehöre nicht zur Insolvenzmasse. Erneut will der BGH einen angeblich immer noch existenten Grundsatz hochhalten, dass die Weggabe unpfändbarer Gegenstände nicht gläubigerbenachteiligend ist, und meint deshalb, (nur) hinsichtlich der Schutzrichtung des Pfändungsverbots eine Ausnahme anerkennen zu sollen. Wie die bereits dargestellten Entscheidungen zum Pflichtteilsanspruch und Gebrauchsmusterrecht sowie der daraus entwickelte allgemeine Gedanke ge-

__________ 75 Dazu oben III.1.b). 76 BGH, ZIP 2004, 671, 672 = WM 2004, 540 f. unter Ziff. II.1.b) der Gründe. 77 BGH, ZIP 2004, 671, 672 = WM 2004, 540, 541 unter Ziff. II.1.c) der Gründe; ebenso Huber (Fn. 4), § 49 Rz. 6; eine parallele Argumentation findet sich auch in BGH, ZIP 2001, 1248 f. = WM 2001, 1476 f. = NJW-RR 2001, 1490; BGHZ 170, 276, 282 f. = ZIP 2007, 435, 437 (Rz. 15) und BGH, ZIP 2008, 701, 702 (Rz. 9) für die Anfechtung der Auszahlung eines zweckgebundenen Kredits: Die Anfechtung soll zulässig sein, wenn die Zweckbindung nicht den Interessen des Schuldners, sondern denen der Bank und des mit dem Darlehen befriedigten Gläubigers diente; vgl. dazu auch Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 104 (S. 35).

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zeigt haben, liegt auch bei der Weggabe von Gegenständen, die aus Gründen des Schuldnerschutzes – zur Sicherung von dessen Entscheidungsfreiheit oder Lebensgrundlage – unpfändbar sind, eine Gläubigerbenachteiligung vor. Nicht die Schutzrichtung des Pfändungsverbots ist entscheidend, sondern allein, ob die potenzielle Insolvenzmasse bereits durch eine bewusste Weggabe seitens des Schuldners realisiert worden ist oder nicht. b) In der Literatur wird ferner auf die Veräußerung einer freiberuflichen Praxis hingewiesen. Für die Anfechtbarkeit der Übertragung sei unerheblich, ob der Verwalter selbst die Praxis hätte verwerten können, wenn sie bei Verfahrenseröffnung noch im Vermögen des Schuldners gewesen wäre78, denn tatsächlich habe der Schuldner die ihm zustehende Entscheidungsfreiheit durch die Veräußerung ausgeübt79. Ähnlich ist auch das Beispiel der Veräußerung einer Apotheke. Die Anfechtbarkeit der Weggabe des ggf. werthaltigen Apothekenzubehörs könne – so heißt es bei Gerhardt/Kreft – nicht mit dem Hinweis verneint werden, das Zubehör sei ohnehin gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO80 unpfändbar und damit dem Vollstreckungszugriff entzogen. Die beabsichtigte Geschäftsübertragung führe nämlich zu einer Betriebsstilllegung. Der Schuldner bringe damit seinen Willen zum Ausdruck, den Betrieb nicht weiter selbst zum Broterwerb zu nutzen. Folglich entfalle der Vollstreckungsschutz und damit auch das hieraus ableitbare Hindernis für eine Anfechtung. Auch hier liegt also in der freiberuflichen Praxis bzw. der Apotheke eine potenzielle Insolvenzmasse im Sinne des Anfechtungsrechts. Des Hinweises auf eine in der Veräußerung liegende Betriebsstilllegung bedarf es dabei m. E. zur Begründung der Anfechtbarkeit nicht, weil bereits ausreichend ist, dass der Schuldner mit der Veräußerung selbst zur Verwertung schreitet und es insoweit nicht um einen – durch § 36 InsO allein gehinderten – zwangsweisen Zugriff geht. 4. Konsequenzen für Zahlungen aus dem Überziehungskredit Der hier befürwortete normative Gläubigerbenachteiligungsbegriff, der bei Weggabe unpfändbarer Gegenstände die darin liegende einseitige Gläubigerbevorzugung im Wege der Insolvenzanfechtung zu korrigieren ermöglicht, führt auch in der zum Ausgangspunkt dieses Beitrags genommenen Konstellation zu sachgerechten Ergebnissen: Entgegen BGHZ 170, 276 ist die Zahlung an einen Gläubiger aus einem geduldeten Überziehungskredit trotz der Unpfändbarkeit des Kredits anfechtbar. Damit erübrigen sich die in der jüngeren Rechtsprechung des IX. Zivilsenats entwickelten Auffanglösungen, mit denen der BGH

__________ 78 Dazu Henckel (Fn. 18), § 35 InsO Rz. 14 m. w. N. 79 Kirchhof (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 93; für die Anfechtbarkeit der Übertragung einer freiberuflichen Praxis auch Hirte (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 97 m. w. N.; Rogge (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 43; a. A. Nerlich (Fn. 4), § 129 InsO Rz. 93; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 Anm. 14; nur referierend Ehricke (Fn. 4), S. 83; für die Konzession zum Betrieb einer Gaststätte auch BGH, WM 1964, 114, 115 f. 80 Gerhardt/Kreft (Fn. 22), Rz. 185 (S. 59).

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Insolvenzanfechtung bei Weggabe unpfändbarer Gegenstände

die eigentlich auch von ihm selbst für sachgerecht gehaltene Anfechtungsmöglichkeit dadurch schaffen will, dass er den Bereich des unpfändbaren Überziehungskredits zurückdrängt81. Eine wirkliche Befreiung aus dem dogmatischen Dilemma82 gelingt erst, wenn man anerkennt, dass die Unpfändbarkeit – hier des Kontokorrentkredits83 – die Anfechtbarkeit ganz generell nicht hindert.

IV. Zusammenfassende Thesen Die Ergebnisse dieses Beitrags lassen sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Die Weggabe unpfändbarer Gegenstände ist – anders als die Weggabe schuldnerfremder oder wertloser, insbesondere wertausschöpfend belasteter Gegenstände – kein Fall fehlender Gläubigerbenachteiligung. 2. Zwischen dem zwangsweise zugunsten der Gläubiger verwertbaren Schuldnervermögen und dem schuldnerfremden Bereich ist eine Zwischensphäre anzuerkennen: die potenzielle Insolvenzmasse. Zu dieser gehören die unpfändbaren Gegenstände. Auf die potenzielle Insolvenzmasse kann der Insolvenzverwalter zwar nicht zwangsweise Zugriff zur Befriedigung der Gläubiger nehmen (§ 36 InsO). Ihre Weggabe durch den (späteren) Insolvenzschuldner löst jedoch auf der Basis eines normativ verstandenen Begriffs der Gläubigerbenachteiligung gleichwohl die Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO aus. 3. Für die Anfechtbarkeit der Weggabe unpfändbarer Gegenstände ist die Schutzrichtung des Pfändungsverbots unerheblich.

__________ 81 Siehe den Leitsatz von BGH, ZIP 2008, 701 = WM 2008, 704 = ZInsO 2008, 374: „Veranlasst das Kreditinstitut, das für den Schuldner ein überzogenes Konto führt, die einer Kontopfändung zugrunde liegende Forderung durch Überweisung an den Pfändungsgläubiger zu begleichen, und erteilt der Schuldner hierauf einen entsprechenden Überweisungsauftrag, kommt in Höhe des überwiesenen Betrages ein Darlehensvertrag zustande; durch die Überweisung werden die Insolvenzgläubiger benachteiligt.“; dazu treffend Kirchhof, WuB VI A. § 129 InsO 3.08 (S. 556): „Wahrscheinlich wird dies nicht die letzte feinsinnige Abgrenzung und Auffanglösung sein, zu welcher BGHZ 170, 276 … noch nötigen wird. Rechtsklarheit erreicht man dagegen nur mit richtigen Ansätzen.“ 82 Dazu, dass sich der BGH in einem dogmatischen Dilemma sah, siehe Bitter (Fn. 6), S. 15, 24 ff. 83 Der Verfasser ist entgegen der Rechtsprechung der Ansicht, dass der Kontokorrentkredit allgemein unpfändbar ist, also nicht nur der geduldete Überziehungskredit; vgl. Bitter (Fn. 6), S. 15 ff.; ders. in Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), BankrechtsHandbuch, 3. Aufl. 2007, § 33 Rz. 82 ff.

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Die Zurechnung subjektiver Tatbestandsmerkmale in der Insolvenz Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Meinungsstand III. Der gutgläubige Erwerb vom Nichtberechtigten 1. Vertretertheorien 2. Organtheorie 3. Amtstheorie 4. Ergebnis zu III. IV. Leistung bei Kenntnis der Nichtschuld (§ 814 BGB) V. Hinterlegung (§ 372 BGB) 1. Vertretertheorien

2. Amtstheorie 3. Organtheorie 4. Ergebnis zu V. VI. Der Wille des Geschäftsherrn nach § 683 Satz 1 BGB 1. Vertretertheorien 2. Amtstheorie 3. Organtheorie 4. Ergebnis zu VI. VII. Ersitzung und Fruchtziehung VIII. Fazit

I. Einleitung Dieser Beitrag ist einem Wissenschaftler gewidmet, dessen analytischen Scharfsinn und schöpferische Kraft die Fachwelt immer wieder aufs Neue bewundernd zur Kenntnis nimmt. Karsten Schmidt hat auf vielen Rechtsgebieten Meilensteine gesetzt, auch und gerade im Insolvenzrecht. Zu den zahlreichen Impulsen, die er diesem Bereich gegeben hat, gehören seine Überlegungen zur zivilrechtlichen Stellung des Insolvenzverwalters. Die von ihm – wie immer unter tiefgründiger Durchdringung des zu behandelnden Themas und ohne falschen Respekt vor „herrschenden Meinungen“ – entwickelte „neue Vertretertheorie“1, die gleich noch näher gekennzeichnet werden soll, hat das Nachdenken über die dogmatische Verortung des Insolvenzverwalters weit voran gebracht. Sie hat verkrustete Argumentationslinien aufgebrochen, neue Blickwinkel eröffnet und die Diskussion enorm bereichert. Sie hat zahlreiche Anhänger gefunden2, auch wenn sich ihr die Rechtsprechung bisher nicht hat anschließen können und die Gegenstimmen in der Literatur, zu denen auch der Verfasser dieses Aufsatzes zu zählen ist3, nicht verstummt sind. In den nachfolgenden Überlegungen soll es nun nicht darum gehen, den Meinungsstreit noch einmal in allen Details nachzuzeichnen und auszutragen.

__________ 1 Erstmals wohl in KTS 1984, 345 ff. 2 Vgl. unten Fn. 10. 3 Vgl. vorerst nur Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2005, Rz. 63 ff.

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Vielmehr soll anhand einer praktisch relevanten Fallgruppe, nämlich der Zurechnung subjektiver Umstände, die auch dem Jubilar stets wichtige Frage beantwortet werden, welchen Beitrag die Theoriebildung zur Lösung ganz konkreter Rechtsprobleme leisten kann. Dass man den Meinungsstreit über die zivilrechtliche Stellung des Insolvenzverwalters nicht überbewerten sollte, weil in vielen Fällen alle Theorien zu demselben Ergebnis kommen, ist allgemein konsentiert, ändert aber nichts daran, dass es Grenzfälle gibt, an denen sich die Systembildung bewähren muss4. Angesichts dessen werden die sich anschließenden Gedanken, die durch die Beschäftigung mit zwei konkreten Fallbeispielen aus der Praxis ausgelöst wurden5, vielleicht das Interesse des Jubilars finden.

II. Meinungsstand Will man den Meinungsstand zur rechtsdogmatischen Verortung des Insolvenzverwalters in der hier gebotenen Kürze zusammenfassen, so lässt sich Folgendes sagen: Nach der sog. Organtheorie handelt der Insolvenzverwalter als Organ der Insolvenzmasse. Diese soll im Prozess als rechtsfähiges Rechtssubjekt selbst Partei und dabei vom Verwalter als Organ vertreten werden6. Nach der Theorie vom neutralen Handeln hingegen tritt der Insolvenzverwalter weder als Vertreter des Schuldners noch im eigenen Namen auf, sondern er handelt objektbezogen als Verwalter fremden Vermögens7. Im Prozess ist nach dieser Auffassung der Insolvenzverwalter Partei. Hingegen sieht die sog. Vertretertheorie den Insolvenzverwalter als den gesetzlichen (Zwangs-)Vertreter des Schuldners mit Vertretungsmacht (nur) für die Masse an8. Danach ist der Schuldner im Prozess Partei, die vom Insolvenzverwalter vertreten wird. Darauf aufbauend gelangt die neue Vertreter- bzw. neue Repräsentationstheorie9 zur selben Auffassung mit der Maßgabe, dass der Insolvenzverwalter in der Insolvenz juristi-

__________ 4 Exemplarisch Stürner, ZZP 94 (1981), 263, 286 ff. 5 In beiden Fällen ging es um die Frage, ob ein Insolvenzverwalter Gegenstände hinterlegen bzw. gem. §§ 383 ff. BGB veräußern darf, wenn zwar feststeht, dass diese Gegenstände zugunsten bestimmter Personen auszusondern sind, nicht aber, welcher Aussonderungsgläubiger zu welchem Anteil berechtigt ist; näher dazu unten V. Einer der Fälle hätte dem Jubilar ganz unabhängig von der rechtlichen Problematik schon deshalb Freude bereitet, weil es um die Einlagerung von Getreidesäcken in einem Lagerhaus in der Hamburger Speicherstadt ging. 6 Begründet von Hellwig, Anspruch und Klagerecht, 1900, S. 228; grundlegend dann Bötticher, ZZP 71 (1958), 314, 318 f.; ders., ZZP 77 (1964), 55 ff.; ders., JZ 1963, 582 ff.; ferner Erdmann, KTS 1967, 87 ff.; Hanisch, Rechtszuständigkeit der Konkursmasse, 1973, S. 23 ff., 275 ff.; Pawlowski, JuS 1990, 378, 380. 7 Grundlegend Dölle in FS Schulz, 1951, S. 268 ff.; zust. bis zur 15. Aufl. Kilger, § 6 KO Anm. 2. 8 Grundlegend Bley, ZZP 62 (1941), 111, 113 f.; Lent, ZZP 62 (1941), 129 ff.; zust. u. a. Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, § 45 I s. 9 Im Folgenden wird vereinfachend von der „neuen Vertretertheorie“ gesprochen.

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scher Personen deren Organ sein soll10. Schließlich handelt der Insolvenzverwalter nach der sog. Amtstheorie für die Insolvenzmasse im eigenen Namen als Inhaber eines privaten Amtes11. Prozesse führt er dabei als „Partei kraft Amtes“ in gesetzlicher Prozessstandschaft für den Schuldner, dessen Rechte er kraft der ihm durch § 80 InsO übertragenen Verfügungsbefugnis im eigenen Namen geltend machen kann. Von den genannten Theorien wird die vom „neutralen Handeln“ heute nicht mehr vertreten; sie soll daher im Folgenden außer Betracht bleiben. Hingegen finden die Amtstheorie, die Vertreter- bzw. neue Vertretertheorie sowie die Organtheorie weiterhin Gefolgschaft. Sie sollen hier darauf überprüft werden, zu welchen Ergebnissen sie führen, wenn es um die Zurechnung subjektiver Umstände geht. Solche Zurechnungsfragen stellen sich in den unterschiedlichsten Konstellationen: Kann bzw. muss dem gutgläubigen Insolvenzverwalter der böse Glauben des Schuldners zugerechnet werden? Kann der Insolvenzverwalter kondizieren, wenn der Schuldner bei der Leistung den Mangel des Rechtsgrundes kannte? Kann der Insolvenzverwalter hinterlegen, wenn die Unkenntnis über die Person des Gläubigers auf einem Verschulden des Schuldners beruht? Wessen Wille ist maßgeblich bei der Geschäftsführung ohne Auftrag und auf wessen Kenntnis kommt es an bei der Ersitzung? Es liegt auf der Hand, dass die unterschiedlichen Theorien hier unterschiedliche Wege beschreiten müssen, nicht aber, dass diese Wege auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

III. Der gutgläubige Erwerb vom Nichtberechtigten Beginnt man mit dem gutgläubigen Erwerb vom Nichtberechtigten, wie er insbesondere in §§ 892, 932 ff. BGB geregelt ist, so kann man die Problematik mit folgender Konstellation beschreiben: Ein nicht berechtigter Dritter veräußert an einen Insolvenzverwalter eine Sache, die der Verwalter für die Insolvenzmasse erwerben will. Der Insolvenzverwalter ist gutgläubig, kennt also die mangelnde Berechtigung des Veräußerers nicht. Der Schuldner hingegen weiß,

__________ 10 So vor allem Karsten Schmidt, der den Insolvenzverwalter in der Insolvenz natürlicher Personen als deren (Vertretungs-)Organ ansieht; vgl. grundlegend KTS 1984, 345, 362 ff., 370 ff.; NJW 1987, 1905, 1906 f.; ferner u. a. in NJW 1995, 911, 912 f.; KTS 1991, 211, 221; zust. u. a. LAG Hamm, ZInsO 2001, 234 (dagegen Bork, ZInsO 2001, 210 ff.; Fleddermann, ZInsO 2001, 359 ff.); Hess in Großkomm.InsO, 2007, § 80 InsO Rz. 106 ff.; Hüßtege in Thomas/Putzo, 28. Aufl. 2007, § 51 ZPO Rz. 29; Lindacher in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, vor § 50 ZPO Rz. 35 f.; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 16. Aufl. 2004, § 40 Rz. 16. 11 St. Rspr. seit RGZ 29, 29; vgl. nur BGHZ 100, 346, 351; BAG, ZIP 2002, 1412, 1414; BFH, ZIP 1997, 797, 798; ferner aus der Literatur Bork in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2004, vor § 50 ZPO Rz. 33 ff.; ders., ZInsO 2001, 210 ff.; ders. (Fn. 3), Rz. 68; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2008, Rz. 15.06; Ott/Vuia in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 80 InsO Rz. 35; Weth in Musielak, 6. Aufl. 2008, § 51 ZPO Rz. 19; Windel in Jaeger, Bd. 2, 2007, § 80 InsO Rz. 275; unter Betonung der notwendigen Trennung zwischen Amt und Amtswalter auch die „moderne Amtstheorie“ von Jacoby, Das private Amt, 2007, S. 281 ff., 298 ff.

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dass der Dritte nicht verfügungsbefugt ist. Für den gutgläubigen Erwerb (z. B.) nach § 932 Abs. 1 BGB kommt es grundsätzlich darauf an, dass der Erwerber zum Zeitpunkt der Übereignung nicht bösgläubig gewesen ist. Stellte man hier für die Gutgläubigkeit auf die Person des Insolvenzverwalters als Erwerber ab, wäre sie unproblematisch anzunehmen. In der Tat kommen alle Theorien zu diesem Ergebnis: 1. Vertretertheorien Folgt man der Vertreter- bzw. der neuen Vertretertheorie, so hat der Insolvenzverwalter im Zeitpunkt der Übereignung – noch genauer: im Zeitpunkt der dinglichen Einigung über den Eigentumsübergang – als gesetzlicher Vertreter des Schuldners gehandelt. Zwar ist die Konsequenz hieraus, dass der Schuldner das Eigentum an der Sache erwirbt; er ist also der „Erwerber“ i. S. v. § 932 BGB. Hinsichtlich der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens bestimmter Umstände stellt die Theorie jedoch allein auf die Person des Vertreters in Gestalt des Insolvenzverwalters ab. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, wird die Vorschrift des § 166 Abs. 1 BGB herangezogen12. Danach kommt es für die Frage der Kenntnis oder des Kennenmüssens gewisser Umstände nicht auf die Person des Vertretenen (hier: des Insolvenzschuldners), sondern auf die Person des Vertreters (hier: des Insolvenzverwalters) an. Eine Weisung des Insolvenzschuldners nach § 166 Abs. 2 BGB, die zu einer Ausnahme von diesem Prinzip führen würde, kommt beim Handeln durch Insolvenzverwalter nicht in Betracht, weil der Schuldner gemäß § 80 InsO mit der Verfahrenseröffnung seine Verfügungsmacht und damit auch jede Weisungsbefugnis verloren hat. Die Kenntnis des Insolvenzschuldners von der fehlenden Berechtigung des Veräußerers ist daher für den gutgläubigen Erwerb unschädlich, solange der Insolvenzverwalter zum Zeitpunkt der Vornahme des dinglichen Rechtsgeschäfts selbst im guten Glauben war. Für den gutgläubigen Eigentumserwerb durch einen Insolvenzverwalter kommt es somit nach den Vertretertheorien ausschließlich auf die Gutgläubigkeit des Insolvenzverwalters an. 2. Organtheorie Auch nach der Organtheorie wird hinsichtlich der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens von Umständen ausschließlich auf den Insolvenzverwalter als Organ der Masse abgestellt13. Das wird vielfach aus § 166 Abs. 1 BGB hergeleitet, ist aber richtigerweise an § 31 BGB anzuknüpfen14, ohne dass sich daraus Unterschiede im Ergebnis herleiten ließen.

__________ 12 Vgl. Hess (Fn. 10), § 80 InsO Rz. 145 f.; Binz/Hess, Der Insolvenzverwalter, 2004, Rz. 1269; Eickmann in HK.InsO, 4. Aufl. 2007, § 80 InsO Rz. 14; Karsten Schmidt, KTS 1984, 345, 392; referierend auch Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 64. 13 Vgl. etwa Erdmann, KTS 1967, 87, 112 f.; referierend Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 64. 14 Zutr. Jacoby (Fn. 11), S. 277 f.; vgl. auch Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2. Aufl. 2006, Rz. 1668.

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3. Amtstheorie Zu demselben Ergebnis kommt die Amtstheorie. Auch ihr zufolge ist hinsichtlich der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens von Umständen nach Eröffnung des Verfahrens allein auf die Person des Insolvenzverwalters abzustellen. Das folgt daraus, dass eine Partei kraft Amtes ihr Amt kraft eigenen Rechts im eigenen Namen, also unabhängig von dem Insolvenzschuldner als Rechtsträger, ausübt15. Auf die Kenntnis des Insolvenzschuldners kommt es somit nach dieser Theorie bei einem Erwerb durch den Insolvenzverwalter erst recht nicht an. Ein gutgläubiger Eigentumserwerb ist mithin auch nach der Amtstheorie unproblematisch möglich. Folglich wird ein Gegenstand im Wege des gutgläubigen Erwerbs durch den Insolvenzverwalter auch dann Massebestandteil, wenn der Schuldner oder der organschaftliche Vertreter des Schuldners Kenntnis von dem Mangel im Recht des Veräußerers hatte16. 4. Ergebnis zu III. Für den gutgläubigen Erwerb vom Nichtberechtigten ergibt sich somit unabhängig davon, welcher Theorie man folgt, dass es für die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen der fehlenden Berechtigung des Veräußerers im Zeitpunkt der Vornahme des dinglichen Erwerbsgeschäfts allein auf den Insolvenzverwalter ankommt. Der Schuldner ist an dem Rechtsgeschäft selbst nicht beteiligt und kann keinen Einfluss darauf ausüben17.

IV. Leistung bei Kenntnis der Nichtschuld (§ 814 BGB) Das vorstehende Ergebnis legt die Überlegung nahe, ob nicht generell auf die handelnde Person abzustellen ist, also auf den Insolvenzschuldner, wenn dieser gehandelt hat, hingegen auf den Insolvenzverwalter, wenn dieser tätig geworden ist18. So jedenfalls verfahren alle Theorien bei der Anwendung des § 814 BGB, und in diesem Fall ist es auch richtig. Hat der Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Leistung an einen Dritten erbracht in dem Bewusstsein, hierzu nicht verpflichtet zu sein, so wirkt der Kondiktionsausschluss aus § 814 BGB auch gegen den Insolvenzverwalter. Zahlt der Schuldner beispielsweise an einen Kunden aus „Kulanz“ einen Geldbetrag in Kenntnis des Umstandes, dass kein Anspruch, etwa aus Gewährleistung oder sonstigem Recht, besteht, so liegt zum Zeitpunkt der Leistungserbringung Kenntnis der Nichtschuld i. S. d. § 814 BGB vor, die zum Ausschluss eines Bereicherungs-

__________ 15 16 17 18

Jacoby (Fn. 11), S. 303; Ott/Vuia (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 36 f. Uhlenbruck, 12. Aufl. 2003, § 80 InsO Rz. 58. Ott/Vuia (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 37. Vgl. entsprechende Differenzierungen bei Jacoby (Fn. 11), S. 303; kritisch aber schon Karsten Schmidt, KTS 1984, 345, 392.

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anspruchs führt19. Dass dabei nach allen Theorien für die Kenntnis auf die Person des Insolvenzschuldners abgestellt werden muss, ergibt sich daraus, dass der maßgebende Zeitpunkt für den Ausschlusstatbestand des § 814 BGB eben der Zeitpunkt der Vornahme der Leistung durch den Schuldner ist20. Hat also der Schuldner in Kenntnis der Nichtschuld noch vor der Eröffnung des Insolvenzerfahrens und dem Amtsantritt des Insolvenzverwalters geleistet, so ist gar kein Bereicherungsanspruch entstanden21, der noch in die Masse und damit unter die Verfügungsgewalt des Insolvenzverwalters hätte fallen können. Dass hier alle Theorien zum selben Ergebnis kommen (Bereicherungsausschluss auch für den Insolvenzverwalter), folgt mithin nicht aus den Theorien, sondern aus dem BGB.

V. Hinterlegung (§ 372 BGB) Schwieriger ist die Rechtslage bei der Hinterlegung. Will etwa ein Insolvenzverwalter Aussonderungsgut für mehrere Aussonderungsberechtigte hinterlegen, weil zwar feststeht, dass die Gegenstände für diese Gläubiger ausgesondert werden können, nicht aber, welcher Gläubiger zu welchem Anteil berechtigt ist22, dann setzt die Hinterlegung nach § 372 Satz 2 BGB eine nicht auf Fahrlässigkeit beruhende Ungewissheit über die Person des Gläubigers voraus. In den angesprochenen Fällen beruht die Ungewissheit in aller Regel auf unsorgfältiger Buchführung, Lagerhaltung oder sogar auf manipulativem Verhalten des Schuldners, so dass sich die Frage stellt, ob die Hinterlegung durch den Insolvenzverwalter daran scheitert, dass die Ungewissheit über die Person des Gläubigers auf Verschulden des Insolvenzschuldners beruht. In dieser Fragestellung kommt bereits ein relevanter Unterschied zu den bisher behandelten Konstellationen zum Ausdruck: Es geht hier nicht um die Zurechnung von Wissen, sondern um die Zurechnung von Verschulden23. Nimmt man zunächst den Verschuldensbegriff des § 372 Satz 2 BGB in den Blick, so ist, wie sich daraus ergibt, dass Fahrlässigkeit genügt, erforderlich, dass der Schuldner – und gemeint ist hier nicht der Insolvenzschuldner, sondern der aus dem Schuldverhältnis Verpflichtete – die Sach- und Rechtslage

__________ 19 Zur – i. d. R. ausgeschlossenen – Korrektur im Wege der Insolvenzanfechtung nach Maßgabe des § 134InsO vgl. nur BGHZ 113, 98 = ZIP 1991, 35; OLG Frankfurt, ZIP 2007, 2426, 2427; Bork in Bork, Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, 2006, Kap. 6 Rz. 46 m. w. N. 20 Vgl. Sprau in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 814 BGB Rz. 3. 21 Bei § 814 BGB handelt es sich um eine rechtshindernde Einwendung; vgl. nur Sprau (Fn. 20), § 814 BGB Rz. 1. 22 Dazu, dass der Anteilszweifel ausreicht, vgl. nur BayObLG, SeuffA 58 (1903), Nr. 116 S. 220; Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl. 1994, § 15 II 8, S. 345; Olzen in Staudinger, Neubearb. 2006, § 372 BGB Rz. 20; Wenzel in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 372 BGB Rz. 11. 23 In der Literatur wird meist nur die Zurechnung des Verwalterverschuldens zur Insolvenzmasse bzw. zum Schuldner behandelt, während es hier um den umgekehrten Fall geht. Vgl. etwa Jacoby (Fn. 11), S. 302 f.; Karsten Schmidt, KTS 1984, 345, 393 f.; Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 53 ff. m. w. N.

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mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt prüft. Dabei richten sich die Sorgfaltsanforderungen danach, was dem Schuldner nach den Umständen des Einzelfalles zuzumuten ist24. Zu berücksichtigen ist, dass dem Schuldner die Erkenntnismöglichkeiten eines Gerichts nicht zur Verfügung stehen und billigerweise nur begrenzte Anstrengungen zur Ermittlung des Sachverhalts sowie zu einer Subsumtion unter das auf vielen Gebieten immer unübersichtlicher werdende geschriebene und ungeschriebene Recht verlangt werden können25. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ungewissheit über die Person des Gläubigers überwiegend auf unklare Abtretungsvorgänge zurückzuführen ist, die außerhalb des Einflussbereichs des Schuldners liegen und allein von den dadurch Beteiligten zu verantworten sind26. Daraus wird deutlich, dass für den Insolvenzverwalter selbst nie die Möglichkeit bestanden hat, eine Zuordnung der Gegenstände vorzunehmen und damit die Ungewissheit über die Person des Gläubigers zu vermeiden. Vielmehr lag ein das Hinterlegungsrecht hinderndes Verschulden bereits vor Verfahrenseröffnung vor, und zwar auf Seiten des Schuldners. Dieses Zwischenergebnis leitet über zu der eigentlichen Frage, ob sich das Verschulden des Insolvenzschuldners auf das Hinterlegungsrecht des Insolvenzverwalters auswirkt. Rekurriert man dazu zunächst auf den relevanten Zeitpunkt, so ist unbestritten, dass die Voraussetzungen des § 372 BGB im Zeitpunkt der Vornahme der Hinterlegung vorliegen müssen27. Das gilt auch für die Frage, ob die Ungewissheit auf Fahrlässigkeit beruht28. Dies bedeutet aber nur, dass durch spätere, der zulässigen Hinterlegung nachfolgende Erklärungen und Handlungen die befreiende Wirkung der Hinterlegung nicht beeinflusst wird. Dagegen wird keine Aussage darüber getroffen, ob die vor Verfahrenseröffnung eingetretene fahrlässige Unkenntnis des Schuldners nach Verfahrenseröffnung im Zeitpunkt der Hinterlegung durch den Insolvenzverwalter zu seinen Lasten fortwirkt. Weiter kommt man hingegen mit der Überlegung, dass § 372 Satz 2 BGB auf Ungewissheit und Verschulden des jeweils Leistungspflichtigen abstellt. Hat die Person des Leistungspflichtigen gewechselt (etwa durch Gesamtrechtsnachfolge), so kann es hinsichtlich der subjektiven Hinterlegungsvoraussetzungen nur auf die Person des jetzt Leistungspflichtigen bzw. Schuldners ankommen. Dieser muss zwar, um den Vorwurf der Fahrlässigkeit auszuschließen, alle zumutbaren Erkundigungsmöglichkeiten ausschöpfen, sich also beispielsweise bei seinem Vorgänger erkundigen. Ist aber von diesem keine Auskunft zu erhalten oder der Vorgang nicht mehr aufklärbar, so beruht die Ungewissheit des Nachfolgers nicht mehr auf (eigener) Fahrlässigkeit und für die Zurechnung des Vorgängerverschuldens fehlt es an einer Zurechnungsnorm.

__________ 24 25 26 27

BGHZ 7, 302, 307; BGH, NJW 1997, 1501, 1502. BGH, NJW-RR 2004, 656. BGHZ 145, 352, 356; BGH, NJW-RR 2004, 656, 657; 2005, 712. Vgl. exemplarisch Olzen (Fn. 22), § 372 BGB Rz. 23; Zeiss in Soergel, Bd. 2, 1990, § 372 BGB Rz. 8. 28 Zeiss (Fn. 27), § 372 BGB Rz. 8.

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Für die hier zu beantwortende Frage nach dem Hinterlegungsrecht des Insolvenzverwalters ist daher entscheidend, wer nach den verschiedenen Theorien als Leistungspflichtiger anzusehen ist. 1. Vertretertheorien Geht man mit den Vertretertheorien davon aus, dass der Insolvenzverwalter den Schuldner (lediglich) vertritt, stellt sich die Frage, ob dessen Verschulden dem Insolvenzverwalter „zugerechnet“ werden muss. Wenn es sich so verhält, lässt sich die Frage allerdings mit einer direkten oder analogen Anwendung von § 166 BGB nicht beantworten, weil diese Norm kein Verschulden, sondern nur Wissen zurechnet. Auch § 278 BGB kommt als Zurechnungsnorm nicht in Betracht, da diese Vorschrift zwar dem Schuldner das Verschulden seines gesetzlichen Vertreters zurechnet, es im vorliegenden Fall aber gerade umgekehrt um die Frage geht, ob das Verschulden des Schuldners seinem gesetzlichen Vertreter zugerechnet werden muss. Auf all dies kommt es aber letztlich nicht an, weil eine Zurechnung des Vertretenenverschuldens gar nicht notwendig ist, da es sich bei dem Vertreter um den Repräsentanten des Vertretenen handelt und somit ein vorheriges Verschulden des Vertretenen nicht durch die Bestellung eines Stellvertreters „erlischt“. Nach der Vertretertheorie müssen sich diese subjektiven Umstände daher auf die Rechtsstellung des Insolvenzverwalters auswirken. Zur Hinterlegung berechtigt ist der leistungsverpflichtete Schuldner. Ein Dritter darf zwar die geschuldete Leistung bewirken (§ 267 BGB). Er hat aber grundsätzlich kein eigenes Hinterlegungsrecht, und zwar auch dann nicht, wenn er aus Erfüllungsübernahme oder aus einem sonstigen Rechtsgrund zur Leistung verpflichtet ist (arg. e contrario aus § 268 Abs. 2 BGB)29. Spricht § 372 BGB also vom „Schuldner“ (i. S. d. Schuldrechts), so kann die Vorschrift in der hier erörterten Konstellation bei Zugrundelegung der Vertretertheorie nur den Insolvenzschuldner meinen, der bei der Geltendmachung seiner Rechte und der Erfüllung seiner Pflichten vom Insolvenzverwalter vertreten wird30. Denn der Insolvenzverwalter soll nach dieser Theorie gerade nicht im eigenen Namen für die Insolvenzmasse handeln. In dieser Konsequenz muss dann auch, wenn im Schuldrecht der Begriff des Schuldners erscheint, auf den Insolvenzschuldner als Vertretenen abgestellt werden.

__________ 29 Wenzel (Fn. 22), § 372 BGB Rz. 14. 30 Das muss auch dann gelten, wenn es um die Aussonderung beweglicher Sachen geht. Zwar ist dann jedenfalls in der Insolvenz einer natürlichen Person unmittelbarer Besitzer der Insolvenzverwalter, weil dieser die Gegenstände gemäß § 148 InsO in Besitz und Verwaltung genommen hat, während in der Insolvenz eines Verbandes dieser vermittelt durch den Organbesitz des Insolvenzverwalters selbst Besitzer sein soll; Karsten Schmidt, KTS 1984, 345, 387 f. Herausgabeverpflichtet bleibt dann jedenfalls der Schuldner. Wollte man das nämlich anders sehen, müsste man doch den Insolvenzverwalter als Herausgabepflichtigen einordnen, was auf der Basis der Vertretungstheorie kaum möglich sein dürfte. Insoweit zeigen sich allerdings Risse in der Konsistenz der Vertretertheorien. Umfänglich zu den besitzrechtlichen Aspekten Jacoby (Fn. 11), S. 303 ff.; Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 60 ff. m. w. N.

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Das heißt im Ergebnis, dass die subjektiven Merkmale von § 372 BGB zu Lasten wie zu Gunsten des Insolvenzverwalters fortwirken, soweit das Gesetz nicht etwas anderes vorschreibt. Wenn also der Vertretene (Insolvenzschuldner) durch sein Verschulden das Hinterlegungsrecht „verwirkt“ hat, kann dieses Recht nicht in der Person des Vertreters (Insolvenzverwalters) neu entstehen. Ein solches Vorgehen widerspräche dem Grundsatz der Stellvertretung. Ein Hinterlegungsrecht des Insolvenzverwalters müsste mithin nach den Vertretertheorien abgelehnt werden. 2. Amtstheorie Nach der Amtstheorie ist hingegen für ein etwaiges Verschulden ausschließlich auf die Person des Insolvenzverwalters abzustellen. Das lässt sich dogmatisch anschaulich herleiten. Die Lösung ergibt sich letztlich aus § 80 InsO, der den Insolvenzverwalter mit der Verfahrenseröffnung in die vermögensrechtlichen Rechtspositionen des Schuldners einweist31. Hinsichtlich des hier zunächst in Rede stehenden Anspruchs auf Aussonderung eines massefremden Gegenstandes hat insoweit ein Wechsel in der Passivlegitimation stattgefunden: War vor Verfahrenseröffnung der Insolvenzschuldner noch der richtige Anspruchsgegner für die Erfüllung der Herausgabeansprüche, so ist nach Verfahrenseröffnung der Insolvenzverwalter für die Erfüllung dieser Ansprüche rechtszuständig. Seine Aufgabe besteht darin, die vorhandene (Ist-)Masse durch Aussonderung der massefremden Gegenstände zu bereinigen. Er allein ist jetzt leistungspflichtig, so dass für die subjektiven Voraussetzungen des § 372 Satz 2 BGB allein auf seine Person abzustellen ist. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellt insofern eine Zäsur dar, die zum völligen Austausch der Leistungspflichtigen führt, ohne dass frühere Handlungen dem Insolvenzverwalter zugerechnet würden. Nach der Amtstheorie ist daher trotz der Fahrlässigkeit des Insolvenzschuldners ein Hinterlegungsrecht des Insolvenzverwalters anzunehmen. 3. Organtheorie Die Organtheorie gelangt zum selben Ergebnis wie die Amtstheorie, da nach der Organtheorie Schuldner i. S. v. § 372 BGB die Insolvenzmasse ist, diese aber durch den Insolvenzverwalter als ihr Organ handelt. Da sich aus dem Gesetz keine Zurechnungsregelung ergibt, wird man auch hier mit gleicher Argumentation die Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Zäsur sehen müssen, die ein vorheriges Verschulden des Insolvenzschuldners für die Rechte und Handlungsmöglichkeiten des Insolvenzverwalters bei der Hinterlegung unberücksichtigt lassen.

__________ 31 Uhlenbruck (Fn. 16), § 80 InsO Rz. 52.

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4. Ergebnis zu V. Damit kann festgehalten werden, dass es bei der Hinterlegung durch den Insolvenzverwalter für das Verschulden i. S. v. § 372 Satz 2 BGB nur auf dessen Person ankommt, nicht auf das des Insolvenzschuldners. Anders werden das die Vertretertheorien sehen müssen.

VI. Der Wille des Geschäftsherrn nach § 683 Satz 1 BGB In den vorliegenden Zusammenhang gehört ferner die Fallkonstellation, dass ein Dritter im Wege der Geschäftsführung ohne Auftrag eine Geschäftsbesorgung vornimmt und nun nach den Vorschriften der §§ 677 ff. BGB vom Insolvenzverwalter Ersatz seiner hierfür getätigten Aufwendungen verlangt. Für die Herleitung eines solchen Anspruchs erfordert § 683 Satz 1 BGB, dass die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht. Zwar hat bei § 683 Satz 1 BGB das praktisch größte Gewicht das Merkmal des Interesses, weil der wirkliche Wille des Geschäftsherrn vielfach nicht feststellbar ist und der mutmaßliche Wille nach allgemeiner Ansicht regelmäßig mit dem Interesse identisch ist32. Dennoch ist in jedem Fall der tatsächlich manifestierte oder aber der mutmaßliche Wille zu berücksichtigen, der nicht generell dem objektiven Interesse gleichgestellt werden kann und auf den es letztlich ankommt. Damit stellt sich die Frage, auf wessen Interesse und Geschäftswillen nach den verschiedenen Theorien abzustellen ist, genauer: wer ihnen zufolge Geschäftsherr i. S. d. § 683 Satz 1 BGB ist. Grundsätzlich ist diejenige Person als Geschäftsherr anzusehen, in deren Rechts- oder Interessenkreis die Geschäftsbesorgung liegt33. 1. Vertretertheorien Die Vertretertheorien müssen zunächst davon ausgehen, dass Geschäftsherr der Vertretene, also der Insolvenzschuldner ist. Denn ein Vertreter wird, wenn er als solcher handelt, nicht im eigenen Rechts- und Interessenkreis tätig, sondern in dem des Vertretenen. Folglich wäre auf den Willen und das Interesse des Insolvenzschuldners abzustellen. Da eine abweichende Zuweisungsnorm nicht besteht, muss nach den Vertretertheorien zugrunde gelegt werden, dass es sich bei dem vertretenen Insolvenzschuldner, in dessen Rechtskreis die Geschäftsbesorgung lag, um den Geschäftsherrn handelt und somit auch nur sein Wille zu berücksichtigen ist. Den Insolvenzverwalter hingegen als Geschäftsherrn zu sehen, wäre mit dem Grundgedanken der Stellvertretung nicht zu vereinbaren, da auch der Vertreter stets nur für den Rechtskreis des Vertretenen tätig wird. Das führt möglicherweise zu einer Kollision mit Grundprinzipien des Insolvenzrechts, ist aber wohl für die Vertretertheorie zunächst ein-

__________ 32 Seiler in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2005, § 683 BGB Rz. 3, 10. 33 Vgl. Fehrenbacher in Prütting/Wegen/Weinreich, 2. Aufl. 2007, § 677 BGB Rz. 16.

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mal unvermeidbar. § 166 Abs. 1 BGB kann jedenfalls nicht angewendet werden, weil es nicht um die Zurechnung von Wissen geht und auch gar kein Rechtsgeschäft vorliegt, so dass es für § 683 Satz 1 BGB auf den natürlichen Willen des Geschäftsherrn ankommt. Noch deutlicher wird das mit diesem Ergebnis verbundene Unbehagen bei dem Interesse des Geschäftsherrn nach § 683 Satz 1 BGB. Hier ist klar, dass die Interessen des Insolvenzschuldners und des Insolvenzverwalters regelmäßig auseinander gehen, da der Insolvenzverwalter vor allem die Aufgabe hat, das Schuldnervermögen zu verwerten und für eine gleichmäßige Erlösverteilung der Insolvenzgläubiger zu sorgen34. Die Verfolgung der persönlichen Vorteile des Insolvenzschuldners gehört nicht zu seinen Aufgaben. Hieran ändert sich auch nichts, wenn man berücksichtigt, dass sich die Vertretungsmacht des Insolvenzverwalters nach der Vertretertheorie lediglich auf die Insolvenzmasse beschränkt35. Auch die Fiktion eines „Insolvenzschuldner-Interesses“, welches dem Interesse des Insolvenzverwalters entspräche, erscheint nicht angemessen, da dies dem tatsächlichen Interesse des Insolvenzschuldners regelmäßig evident zuwider laufen und § 683 Satz 1 BGB somit ausgehebelt würde. Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch nicht über § 679 BGB. Diese Norm würde voraussetzen, dass die Erfüllung der Aufgaben des Insolvenzverwalters im öffentlichen Interesse liegt. Es ist aber unumstritten, dass das Amt des Insolvenzverwalters privater Natur ist und durch dessen Ausübung am Ende privatrechtliche Ansprüche von Gläubigern befriedigt werden36. Ein öffentliches Interesse kann also allein aufgrund der Stellung des Insolvenzverwalters nicht angenommen werden. Somit kommt man mit der Vertretertheorie an und für sich zu dem Ergebnis, dass für § 683 Satz 1 BGB auf den Willen (und das Interesse) des Insolvenzschuldners als Geschäftsherrn abgestellt werden muss. Ein Ausweg aus diesem ersichtlich systemwidrigen Resultat lässt sich hier allenfalls in §§ 115, 116 InsO finden. Diesen Normen liegt für den Auftrag und den Geschäftsbesorgungsvertrag die Wertung zugrunde, dass es beim Handeln für die Masse ab der Verfahrenseröffnung nur noch auf den Willen des Insolvenzverwalters ankommen soll37. Man kann diese Wertung auch auf die Geschäftsführung ohne Auftrag übertragen und dann in ihr eine die allgemeinen Regeln des § 683 Satz 1 BGB verdrängende gesetzgeberische Entscheidung sehen. 2. Amtstheorie Die Amtstheorie hat in dieser Frage ungleich geringere Schwierigkeiten. Da der Insolvenzverwalter ihr zufolge nicht als Vertreter, sondern als Partei kraft Amtes selbst für die Insolvenzmasse auftritt, kann und muss in Übereinstim-

__________ 34 35 36 37

Vgl. Bork (Fn. 3), Rz. 50. Vgl. Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 14. Vgl. Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 19. Statt aller Bork (Fn. 3), Rz. 171.

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mung mit der Wertung der §§ 115, 116 InsO auf sein Interesse und seinen Willen als Geschäftsherr abgestellt werden. Dies führt dazu, dass auch nur solche Geschäftsbesorgungen nach § 683 Satz 1 BGB zu einem Aufwendungsersatzanspruch gegen die Masse38 führen können, die der Insolvenzverwalter, hätte er selbst gehandelt, in Wahrnehmung seines Amtes vorgenommen hätte. Nur solche Geschäftbesorgungen entsprechen objektiv seinem Interesse sowie seinem mutmaßlichen Willen und eröffnen den Weg für seine Inanspruchnahme nach § 683 Satz 1 BGB. 3. Organtheorie Auch nach der Organtheorie kommt es auf das Interesse und den Willen des Insolvenzverwalters an, da dieser die Insolvenzmasse, die nach dieser Theorie einen selbstständigen Rechtsträger darstellt, als Organ vertritt. Somit ist Geschäftsherr i. S. v. § 677 BGB eigentlich die Masse, deren Willen aber vom Insolvenzverwalter artikuliert wird, während der tatsächliche oder mutmaßliche Wille des Insolvenzschuldners für § 683 Satz 1 BGB irrelevant ist. 4. Ergebnis zu VI. Damit lässt sich festhalten, dass es bei § 683 Satz 1 BGB wohl nach allen Theorien auf den Willen und das Interesse des Insolvenzschuldners nicht ankommen kann, was jedenfalls aus der Wertung der §§ 115, 116 InsO folgen dürfte.

VII. Ersitzung und Fruchtziehung Fraglich ist schließlich, in wessen Person die subjekiven Erwerbsvoraussetzungen für die Ersitzung (§§ 937 ff. BGB) und die Fruchtziehung (§ 955 BGB) vorliegen müssen. Wieder geht es hier um die Kenntnis des Verwalters davon, ob eine Sache zur Masse gehört oder nicht. Anders als im Falle des gutgläubigen Erwerbs lässt sich hier für die Vertretertheorien nicht auf eine analoge Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB abstellen, da es an einem rechtsgeschäftlichen Erwerb des Eigentums durch Abgabe einer Willenserklärung fehlt. Jedoch gelangt man auch ohne diese Norm nach allen Theorien39 zu dem Ergebnis, dass auf den Eigenbesitzwillen des Insolvenzverwalters abgestellt werden muss, da es sich bei diesem Willen um einen sog. natürlichen Willen handelt, der beim Handelnden selbst vorliegen muss40. Somit können Kenntnisse des Insolvenzschuldners nicht zugerechnet werden, sondern es muss unmittelbar auf die Vorstellung des Insolvenzverwalters über die Berechtigung abgestellt werden,

__________ 38 Es handelt sich um eine Masseverbindlichkeit analog § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO; vgl. nur BGH, NJW 1971, 1564; Hefermehl in MünchKomm.InsO, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 55 InsO Rz. 67; Henckel in Jaeger, Bd. 1, 2004, § 55 InsO Rz. 9. 39 Für die Organtheorie etwa Bötticher, ZZP 77 (1964), 55, 67. 40 Vgl. Baldus in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 937 BGB Rz. 28.

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unabhängig davon, welcher Theorie man folgt41. Diese Lösung folgt letztlich wieder aus dem materiellen Recht, nicht aus den Insolvenzverwaltertheorien.

VIII. Fazit Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der Theorienstreit für die Frage der Zurechnung subjektiver Tatbestandsmerkmale vielfach irrelevant ist, da man bei Anwendung der verschiedenen Theorien meistens zum selben Ergebnis gelangt. Dies liegt vor allem daran, dass in Fällen, in denen es auf die Kenntnis des Insolvenzverwalters ankommt, bei Zugrundelegung der Vertretertheorien § 166 Abs. 1 BGB als Zurechnungsnorm greift, bei Zugrundelegung der Organtheorie § 31 BGB. In anderen Fällen ergibt sich die Lösung bereits aus dem materiellen Recht, wie etwa bei der Ersitzung bzw. Fruchtziehung. Entsprechendes gilt für die „Kenntnis der Nichtschuld“ nach § 814 BGB, für die der Zeitpunkt der Leistungshandlung (i. d. R.: durch den Insolvenzschuldner) ausschlaggebend ist. Schwieriger wird es jedoch für die Vertretertheorien bei der Frage der Zurechnung von Verschuldenselementen wie bei § 372 BGB sowie beim Willen des Geschäftsherrn i. S. v. § 683 Satz 1 BGB. Hier gelangen die Theorien zu unterschiedlichen Ergebnissen, da es an einer Zurechnungsnorm fehlt und wesentlich ist, wer nach dem Gesetz als Schuldner bzw. Geschäftsherr anzusehen ist. In diesem Punkt unterscheiden sich die Theorien und machen die Entscheidung für eine von ihnen bei Ablehnung der anderen notwendig, sofern nicht insolvenzrechtliche Wertungen wie etwa die aus §§ 115, 116 InsO weiterhelfen.

__________ 41 Zu den weiteren Einzelheiten vgl. Windel (Fn. 11), § 80 InsO Rz. 62; ferner Karsten Schmidt, KTS 1984, 345, 387 f.

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Andreas Cahn

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise 1. Das Anliegen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise 2. Anwendungsfälle 3. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Vergleich wirtschaftlicher Ergebnisse 4. Mängel des Ergebnisvergleichs: Die Ausgangsfälle – genauer betrachtet

5. Das Erfordernis subjektiver Merkmale III. Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gesetzesumgehung IV. Die subjektiven Merkmale im Einzelnen V. Subjektive Merkmale und Beweisprobleme VI. Ergebnis

I. Einleitung In einer der Privatautonomie verpflichteten Gesellschaftsordnung stellt das Recht den Parteien häufig verschiedene Wege zur Verfügung, auf denen sie ihre wirtschaftlichen Ziele erreichen und zwischen denen sie frei wählen können. Selbst wenn Interessen Dritter betroffen sind, muss dies nicht notwendig zu einer Beschränkung der Gestaltungsfreiheit führen, sofern nur ausreichender Schutz der Drittinteressen gewährleistet ist. Bekanntes Beispiel dafür ist die Zulassung der Sicherungsübereignung, die gegenüber dem Pfandrecht aus Sicht der Parteien den Vorteil bietet, dass der der Sicherungsgeber die Sache auch während des Bestehens des Sicherungsverhältnisses weiter nutzen kann. Die mit dem pfandrechtlichen Übergabeerfordernis bezweckte Publizität wird dabei zwar umgangen1; den darin liegende Wertungswiderspruch2 innerhalb der Rechtsordnung kann man aber hinnehmen und den Parteien die Wahl der von ihnen bevorzugten Rechtsform freistellen3, weil Dritte durch die Bestimmungen über den gutgläubigen Erwerb weitgehend geschützt sind. Namentlich dann, wenn ein Schutz Dritter nicht hinreichend gewährleistet erscheint oder öffentliche Belange auf dem Spiel stehen, sollen aber gesetzliche Regelungen nicht selten einen bestimmten wirtschaftlichen Erfolg gänzlich unterbinden oder seine Herbeiführung nur auf einem bestimmten Weg unter Beachtung von Vorschriften zulassen, die von den Normadressaten als hinderlich empfunden werden. Im Interesse der Bestimmtheit belastender Tatbe-

__________ 1 Vgl. ausführlich dazu U. Huber, JurA 1970, 784, 796, 799. 2 U. Huber, JurA 1970, 784, 799. 3 U. Huber, JurA 1970, 784, 799 f., 804.

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stände wird der Gesetzgeber die regelungsbedürftige Gestaltung mit Hilfe spezifisch rechtlicher Merkmale umschreiben. Je präziser die Tatbestandsbildung ausfällt, desto mehr Möglichkeiten eröffnet sie indessen den Parteien, dasselbe oder zumindest ein wirtschaftlich vergleichbares Resultat auf einem anderen konstruktiven Weg zu erzielen, der vom Wortlaut der Norm nicht erfasst wird. Ein prominentes gesellschaftsrechtliches Beispiel für einen solchen Konflikt zwischen dem Regelungsanliegen des zwingenden Rechts und der Gestaltungsphantasie der Betroffenen ist die Kapitalaufbringung durch Sacheinlagen. Durch die im Vergleich zur Barkapitalaufbringung strengeren Anforderungen sollen die Gläubiger der Gesellschaft geschützt werden, denen allein das Gesellschaftsvermögen für die Befriedigung ihrer Ansprüche zur Verfügung steht. Besteht die Gesellschafterleistung in anderen Gegenständen als in Geld, stellt sich die Frage nach dem wirklichen Wert der Einlage. Um Manipulationen durch die Gesellschafter vorzubeugen und die Werthaltigkeit ihrer Leistungen sicherzustellen, schreibt das Gesetz die Offenlegung und Prüfung von Sacheinlagen vor. Die Einhaltung dieser Vorschriften wird von den Gesellschaftern häufig zumindest als lästig empfunden. Der Gesetzgeber hat zwar das dadurch bedingte Streben nach Umgehung des Sacheinlageverfahrens vorhergesehen. Der Wortlaut der §§ 27, 66 Abs. 1 AktG, 19 Abs. 2 und Abs. 5 GmbHG lässt aber Raum für eine Vielzahl von Gestaltungen, die sich zwar formal als Bareinzahlung darstellen, in denen jedoch der Sache nach andere Werte als Geld gegen Gesellschaftsanteile ausgetauscht werden. Wenn das Gesetz in derartigen Fällen – anders als bei der Sicherungsübereignung – den Beteiligten nicht verschiedene Wege zur Herbeiführung eines wirtschaftlichen Erfolges zur Verfügung stellen will, muss dafür gesorgt werden, dass das Regelungsanliegen nicht infolge der Diskrepanz zwischen den tatbestandlichen Grenzen der Norm einerseits und den wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten andererseits vereitelt wird.

II. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise 1. Das Anliegen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Eines der zu diesem Zweck eingesetzten Instrumente ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise. Sie ist im Steuerrecht entwickelt und 1934 in § 1 SteuerAnpG sogar gesetzlich normiert worden. Kennzeichnend für die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist das Bestreben, Rechtsfolgen nicht entsprechend einer bloß äußerlichen und formalen Gestaltung, sondern gemäß dem materiellen wirtschaftlichen Gehalt eines Sachverhalts anzuknüpfen. In diesem Sinne formuliert etwa § 21 der österreichischen BAO: „Für die Beurteilung abgabenrechtlicher Fragen ist in wirtschaftlicher Betrachtungsweise der wahre wirtschaftliche Gehalt und nicht die äußere Erscheinungsform des Sachverhaltes maßgebend.“ Wenngleich die wirtschaftliche Betrachtungsweise sich zunächst im Steuerrecht etabliert hat, beschränkt sich ihre Bedeutung doch keineswegs auf dieses 158

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise

Rechtsgebiet4. Wie ein Blick auf die geplante Änderung des § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG durch den Regierungsentwurf des MoMiG5, aber auch die Einbeziehung von Rechtshandlungen, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen, ins gegenwärtige (§ 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG) und künftige (§ 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 4 Satz 2 InsO-E) Kapitalersatzrecht belegt, greift man auch im Gesellschaftsrecht für die Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen zwingende Vorschriften auf Gestaltungen Anwendung finden müssen, die vom Wortlaut der betreffenden Norm nicht erfasst werden, auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zurück. Dieser Ansatz beansprucht ebenfalls Geltung für die Lösung des umgekehrten Problems, ob eine den Parteien günstige Vorschrift ohne weiteres angewendet werden darf, wenn ihre Voraussetzungen dem Wortlaut nach erfüllt sind (dazu unten 3.). 2. Anwendungsfälle Die Frage, welchen Beitrag eine wirtschaftliche Betrachtungsweise hier leisten kann, soll im Folgenden anhand einiger Beispielsfälle untersucht werden. Da es sich bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise um eine Methode handelt, deren Geltungsanspruch sich keineswegs auf das Gesellschaftsrecht beschränkt, sollen dabei auch andere Rechtsgebiete in die Betrachtung einbezogen werden. Fall 1: A und B sind jeweils zur Hälfte an der X-GmbH beteiligt. Im April 2007 fasst die Gesellschafterversammlung den Beschluss, das Stammkapital der Gesellschaft durch Bareinlagen von 100.000,– Euro auf 200.000,– Euro zu erhöhen; A und B übernehmen dabei jeweils Einlagen in Höhe von 50.000,– Euro. Die erforderliche Mindesteinzahlung von 12.500,– Euro erfolgt noch im selben Monat. Entsprechend dem Gewinnverwendungsbeschluss für das Jahr 2006 werden am 5. April 2007 je 40.000,– Euro an A und B ausgezahlt. Auf die Aufforderung des Geschäftsführers C der GmbH überweisen die beiden Gesellschafter am 3. Mai 2007 die ausstehenden 37.500,– Euro zur Tilgung ihrer noch offenen Resteinlage. Im Dezember 2007 wird das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet. Der Insolvenzverwalter verlangt von A und B Zahlung von jeweils 37.500,– Euro6. Der Form nach haben die Gesellschafter am 3. Mai 2007 eine Bareinlage geleistet und die Resteinlageschuld getilgt. Im Ergebnis ist jedoch der Anspruch auf Gewinnauszahlung gegen die zusätzlichen Gesellschaftsanteile ausgetauscht worden. Forderungen können aber nur als Sacheinlage eingebracht werden. Das gilt nach herrschender Auffassung auch für Ansprüche, die sich gegen die

__________ 4 Auch in anderen Bereichen greift der Gesetzgeber auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise zurück, etwa § 4 Abs. 3 Satz 2 KrW-/AbfG, wonach eine stoffliche Verwertung von Abfall dann vorliegt, wenn nach einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise der Hauptzweck der Maßnahme in der Nutzung des Abfalls und nicht in der Beseitigung das Schadstoffpotentials liegt. 5 Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.5.2007, BR-Drucks. 354/07. 6 In Anlehnung an BGHZ 132, 141 = NJW 1996, 1473.

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Gesellschaft selbst richten7. Die Auszahlung an die Gesellschafter, die den empfangenen Betrag alsbald wieder an die Gesellschaft zurückzahlen, scheint damit nur ein umständlicher Umweg zu sein, der gewählt wurde, um sich die Einhaltung der Schutzvorkehrungen und Formalitäten des Sacheinlageverfahrens zu ersparen. Wenn hier aber wirtschaftlich gesehen eine Sacheinlage geleistet wurde, scheint es nahezuliegen, die für Sacheinlagen geltenden Vorschriften anzuwenden und dementsprechend die Erfüllungswirkung der Forderungseinbringung zu verneinen. Nach § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG i. d. F. des Regierungsentwurfs zum MoMiG8 soll zwar das Vorliegen einer verdeckten Sacheinlage die Erfüllung der Einlageschuld künftig nicht mehr ausschließen, die Folge für den Inferenten sich vielmehr auf eine Differenzhaftung beschränken. Immerhin setzt aber auch diese im Einzelfall durchaus erhebliche Haftung ebenso wie eine Haftung der Gesellschafter nach § 9a Abs. 2 GmbHG bzw. der Geschäftsführer nach § 43 GmbHG für einen Schaden, der der Gesellschaft infolge der verdeckten Sacheinlage entstanden ist9, nach dem Wortlaut von … § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG-E voraus, dass „die Geldeinlage des Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung und aufgrund einer im Zusamenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede … als Sacheinlage zu bewerten (ist) …“ Fall 2: Die X-AG ist u. a. an der A-GmbH zu 100 % und an der B-GmbH zu 75 % beteiligt. Als die A-GmbH in finanzielle Schwierigkeiten gerät, gewährt ihr die B-GmbH ein Darlehen in Höhe von 5.000.000,– Euro. Darlehen, die ein Gesellschafter seiner GmbH in der Krise gewährt, werden wie Eigenkapital behandelt und dürfen folglich nicht zurückgezahlt werden, bis der finanzielle Engpass überwunden ist. Dabei wird für den Regelfall vorausgesetzt, dass es sich beim Darlehensgeber um einen Gesellschafter handelt, denn nur die Gesellschafter sind für die Finanzierung des Unternehmens verantwortlich. Im vorliegenden Fall ist der Kredit hingegen von einem Dritten, nämlich der B-GmbH gewährt worden. Die Besonderheit besteht hier darin, dass es sich bei der A-GmbH und bei der B-GmbH gleichermaßen um Unternehmen handelt, die von der X-AG abhängig sind (§ 17 Abs. 2 AktG) und von denen vermutet wird, dass sie gemeinsam mit ihr einen Konzern bilden (§ 18 Abs. 1 Satz 1 und 3 AktG). Konzernunternehmen sind zwar rechtlich selbständig; wirtschaftlich bilden sie jedoch nach herrschender, auch von der Recht-

__________ 7 BGHZ 15, 52, 60; 90, 370, 374; 110, 47, 60; 113, 335, 340 = NJW 1991, 1754, 1755; Winter in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 5 GmbHG Rz. 48; Hueck/Fastrich in Baumbach/ Hueck, 18. Aufl. 2006, § 5 GmbHG Rz. 28. 8 Begr. RegE eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.5.2007, BR-Drucks. 354/07, S. 7. 9 Vgl. Begr. RegE eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.5.2007, BR-Drucks. 354/07, S. 92.

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sprechung vertretener Auffassung eine Einheit10. Innerhalb dieser Einheit sind die einzelnen Konzernunternehmen als Akteure weitgehend austauschbar. Ist nicht dementsprechend das Darlehen der B-GmbH ebenso zu behandeln, als hätte es die X-AG, also der Gesellschafter, gewährt? Der BGH scheint das in der Tat so zu sehen, wenn er ausführt, Darlehen verbundener Unternehmen unterlägen den Regeln über Gesellschafterdarlehen11. Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für eine solche Gleichstellung des Schwesterdarlehens mit einem Gesellschafterdarlehen ist § 32a Abs. 3 Satz 1 GmbHG, wonach die Bestimmungen über kapitalersetzende Gesellschafterkredite sinngemäß für andere Rechtshandlungen eines Dritten gelten, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen. Im Beispielsfall hätte dies zur Folge, dass die B-GmbH ihr Darlehen nicht abziehen dürfte, bis die Krise der A-GmbH überwunden ist. An der Rückstufung von Krediten Dritter, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen, wird sich auch nach der Aufhebung des herkömmlichen Kapitalersatzrechts und seine Ersetzung durch ein insolvenzrechtliches Sonderregime im Zuge des MoMiG nichts ändern, denn nach §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 Abs. 1 InsO i. d. F. des Regierungsentwurfs12 soll es bei der Gleichstellung „wirtschaftlich entsprechender Rechtshandlungen“ bleiben. Fall 3: Im Juli 2007 schenkt M ihrem Ehemann V und ihrem 30jährigen Sohn S jeweils 400.000,– Euro. Im Januar 2007 schenkt V dem S 400.000,– Euro. Formal liegen hier drei Schenkungen vor: Je eine von M an V und S, sowie eine von V an S. Bliebe man dabei stehen, hätte dies zivilrechtlich etwa zur Folge, dass M bei grobem Undank des S (§ 530 BGB) allein die 400.000,– Euro zurückverlangen könnte, die sie ihm zugewandt hat. Der Zugriff auf die von V an S weitergegebenen 400.000,– Euro bliebe ihr verwehrt. Die steuerliche Konsequenz bestünde darin, dass der Schenkungsfreibetrag des § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG dem S zweimal zugute käme. Muss hier aber nicht eine wirtschaftliche Würdigung des Sachverhalts über die rechtliche Beurteilung entscheiden? Kommt man dann nicht zu dem Ergebnis, dass der Sache nach M dem S

__________ 10 Vgl. BGHZ 81, 311, 315 = NJW 1982, 383, 384; WM 1986, 237, 239; BGHZ 105, 168, 176 = NJW 1988, 3143, 3145 m. Anm. Karsten Schmidt; aus dem Schrifttum Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 18 AktG Rz. 10; Ulmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1988, Anh. § 105 HGB Rz. 32; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 18 AktG Rz. 17 ff., 19 m. w. N. auch zu anderen Auffassungen. 11 Vgl. etwa BGHZ 81, 311, 315 = NJW 1982, 383, 384; BGHZ 105, 168, 176 = NJW 1988, 3143, 3145 m. Anm. Karsten Schmidt; BGH, NJW 1984, 1036; BGH, NJW 1987, 1080, 1081; BGH, NJW 1991, 357, 358; BGH, NJW 1991, 1057, 1059; BGH, NJW 1992, 1167; BGH, NJW 1999, 2822 = NZG 1999, 939 m. Anm. Schlitt; einschränkend jetzt aber BGH, Der Konzern 2008, 360 für Darlehen einer SchwesterAG; aus dem Schrifttum beispielsweise Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, 2006, § 32a/b GmbHG Rz. 144 ff.; Hueck/Fastrich (Fn. 7), § 32a GmbHG Rz. 24. 12 Begr. RegE eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.5.2007, BR-Drucks. 354/07, S. 30 f.; vgl. zu der bereits im RefE enthaltenen Ersetzung der §§ 32a, 32b GmbHG durch ein rein insolvenzrechtliches Konzept des Nachrangs von Gesellschafterdarlehen Karsten Schmidt, ZIP 2006, 1925 ff.

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800.000,– Euro zugewendet hat und V lediglich als eine Art Beauftragter zwischengeschaltet wurde13, selbst aber nie einen Vermögensvorteil erhalten hat? Fall 4: V betreibt einen Kaffee-Import. Im Dezember 2005 schenkt er seiner 28jährigen Tochter T 250.000,– Euro. Im Juni 2006 gewährt T dem V für dessen Geschäftsbetrieb ein Darlehen in Höhe von 250.000,– Euro, das mit einer Frist von 3 Monaten zum Jahresende gekündigt werden kann und mit 8 % zu verzinsen ist14. Mit einer derartigen Gestaltung bezweckt der Schenker häufig, die Darlehenszinsen als Betriebsausgaben abzuziehen und dadurch seine Einkommensteuerschuld zu mindern15. Fehlt es hier aber nicht in Wahrheit an einer Zuwendung der 250.000,– Euro an T und dementsprechend auch an einem Darlehen an V aus eigenen Mitteln der T? Hatte die ursprüngliche Zuwendung nicht lediglich formalen Charakter, während der V in Wahrheit die 250.000,– Euro noch gar nicht weggeben wollte? Besteht der wirtschaftliche Gehalt der Transaktion nicht darin, dass erst die Zahlungen auf den sog. Darlehensvertrag, also die vermeintliche Rückgewähr der Darlehenssumme und die Zinszahlungen die beabsichtigte Schenkung darstellen, die ihrerseits nicht betrieblich veranlasst ist und dementsprechend auch nicht steuermindernd in Abzug gebracht werden kann16? Darf nicht aus diesem Grunde A seine Zinszahlungen jederzeit einstellen und im Kündigungsfall die Darlehensrückzahlung verweigern, weil es sich dabei um Schenkungen handeln würde, auf die T keinen Anspruch hat, weil es an einem formgerechten Schenkungsversprechen (§ 518 Abs. 1 BGB) fehlt17? Fall 5: An der X-GmbH sind T zu 95 %, ihre Mutter M zu 5 % beteiligt. Die GmbH hat von T ein Grundstück mit einer Lagerhalle gemietet, das sie zum Zweck der Untervermietung an ein Drittunternehmen in Stand setzen will. Die GmbH beauftragt den Handwerker H mit der Durchführung der erforderlichen Arbeiten. Als die GmbH in Vermögensverfall gerät, verlangt H von T, die Eintragung einer Bauhandwerkersicherungshypothek auf dem Grundstück zu bewilligen18. Wenn § 648 BGB dem Bauhandwerker gegen den Besteller einen Anspruch auf Einräumung einer Sicherungshypothek gewährt, geht die Vorschrift davon aus, dass es sich beim Besteller zugleich um den Grundstückseigentümer handelt. An dieser Identität von Besteller und Eigentümer fehlt es hier formal gesehen: T und die X-GmbH sind nicht dieselbe Person. Verweigerte man dem H mit dieser Begründung die Sicherungshypothek, dann hätte das zur Folge, dass er wegen seiner Ansprüche gegen die GmbH ungesichert bliebe, während T als Eigentümerin in den Genuss der Wertsteigerung des Grundstücks käme, die auf der Leistung des H beruht. Muss unter diesen Umständen nicht die nahezu

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So die Beurteilung von Knobbe-Keuk in FS Flume, Bd. II, 1978, S. 149, 167 f. In Anlehnung an BFHE 141, 308 = BStBl. II 1984, 705. Vgl. BFHE 141, 308 = BStBl. II 1984, 705; Knobbe-Keuk (Fn. 13), S. 149, 168. So BFHE 141, 308 und Knobbe-Keuk (Fn. 13), S. 149, 168. So Pawlowski, BB 1977, 253, 254 f. Nach BGHZ 102, 95 = NJW 1988, 255.

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vollständige wirtschaftliche Identität von T und der GmbH auch für die rechtliche Beurteilung maßgebend sein? Der BGH hat zwar entgegen der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte ein Lippenbekenntnis gegen eine solche Bestimmung des Bestellers nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise abgelegt19. Der Sache nach hat er jedoch nichts anderes getan, wenn er den vom Besteller personenverschiedenen Eigentümer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zur Grundschuldbewilligung für verpflichtet hält und dies damit begründet, T ziehe über die von ihr beherrschte X-GmbH in Gestalt der von dieser Gesellschaft erzielten höheren Mieteinnahmen tatsächlich den Vorteil aus der Werkleistung des H20. Fall 6: A, B und C sind Mitglieder einer im Jahr 2000 gegründeten Personengesellschaft, an der A und B zu je 47 %, C zu 6 % beteiligt sind. Im Juli 2007 veräußern und übertragen A und B durch privatschriftlichen Vertrag ihre Gesellschaftsbeteiligungen für insgesamt 3.000.000,– Euro an X und Y. Das Vermögen der Gesellschaft besteht zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich aus einem Grundstück. Der Kaufpreis soll am 1. August 2007 gezahlt werden. Für den Fall verspäteter Zahlung ist eine Schadensersatzpauschale von 30.000,– Euro pro Monat vereinbart. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Finanzierung zahlen X und Y den Erwerbspreis erst im Januar 200821. Knüpft man an die von den Beteiligten gewählte Gestaltung an, bestehen keine Bedenken dagegen, A und B den vereinbarten Schadensersatzanspruch für die Monate August 2007 bis Januar 2008 zuzuerkennen. Führt man sich jedoch vor Augen, dass wirtschaftlich gesehen der Erwerbspreis für das Grundstück entrichtet wurde, kommen Zweifel an diesem Ergebnis auf: Ein Vertrag, der auf den Erwerb oder die Veräußerung von Grundstückseigentum gerichtet ist, bedarf nach § 311b Abs. 1 BGB der notariellen Beurkundung. Wird diese Form nicht eingehalten, ist der Vertrag nach § 125 Satz 1 BGB nichtig. Wenn man diese Vorschriften auf den vorliegenden Fall anwenden würde, wäre der Kaufvertrag insgesamt unwirksam22. Damit bestünde auch kein Anspruch auf Zahlung der Schadensersatzpauschale. 3. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Vergleich wirtschaftlicher Ergebnisse In allen sechs Fällen stellt sich also die Frage, ob bestimmte Vorschriften anzuwenden sind die von mindestens einer Partei als nachteilig empfunden werden. Orientiert man sich an der äußeren Gestaltung, sind zwar nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Ihrem Sinn nach scheint die jeweilige Norm aber deswegen Geltung zu beanspruchen, weil das wirtschaftliche Ergebnis

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BGHZ 102, 95, 100 f. = NJW 1988, 255, 256. BGHZ 102, 95, 103 f. = NJW 1988, 255, 257. Nach BGHZ 86, 367 = NJW 1983, 1110; vgl. auch BFHE 130, 188 = BStBl. II 1980, 364. Heilung tritt in solchen Fällen erst mit Grundbuchberichtigung nach § 47 GBO ein, vgl. Ulmer in MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2004, § 719 BGB Rz. 37; Karsten Schmidt, AcP 182 (1982), 481, 512.

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demjenigen entspricht, auf das die Vorschrift zugeschnitten ist. Aus steuerrechtlicher Perspektive kommt in den Fällen 3 und 4 gleichsam spiegelbildlich das Problem hinzu, ob für die Parteien günstige Regelungen (zweifacher Steuerfreibetrag; Abzug der Darlehenszinsen als Betriebsausgaben) unangewendet bleiben dürfen. Äußerlich betrachtet erfüllt der Sachverhalt zwar alle Tatbestandsvoraussetzungen. Ihrem Sinn nach scheinen die betreffenden Vorschriften jedoch deswegen nicht eingreifen zu dürfen, weil das wirtschaftliche Ergebnis nicht demjenigen entspricht, auf das sie zugeschnitten sind. Das Urteil, der Zweck der jeweiligen Norm gebiete ihre Anwendung bzw. Nichtanwendung, stützt sich dabei auf den Vergleich des wirtschaftlichen Gehalts zweier Gestaltungen. Das im verwirklichten Sachverhalt erzielte Resultat wird mit dem Ergebnis verglichen, das die betreffende Vorschrift erfassen will. Diese Gegenüberstellung des wirtschaftlichen Gehalts zweier Gestaltungen erscheint als Methode zunächst plausibel. Das Problem rührt ja gerade daher, dass die Parteien handeln, um einen bestimmten wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen und dieses oder zumindest ein gleichwertiges Ziel sich auch auf einem anderen als dem gesetzlich geregelten Weg erreichen lässt. Überdies ermöglicht ein solcher Ergebnisvergleich offenbar eine rechtliche Beurteilung, ohne dass Absichten und Motive der Parteien erforscht werden müssten. Damit scheint die wirtschaftliche Betrachtungsweise den Vorzug der Objektivität zu bieten. Davon scheint auch der Gesetzgeber des MoMiG auszugehen, denn er stellt im Entwurf des neuen § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG die wirtschaftliche Betrachtung des Sachverhalts dem subjektiven Tatbestandsmerkmal der Parteiabrede gegenüber. 4. Mängel des Ergebnisvergleichs: Die Ausgangsfälle – genauer betrachtet Diese vermeintlichen Vorteile der wirtschaftlichen Betrachtungsweise erweisen sich jedoch bei näherem Hinsehen als trügerisch. Tatsächlich bliebe eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ohne Rückgriff auf die Absichten und Pläne der Beteiligten ihrerseits bloß äußerlich und formal. Das zeigt sich, wenn man die bislang nur sehr rudimentär geschilderten Ausgangsfälle entsprechend ergänzt. Wenn in Fall 1 bereits zum Zeitpunkt des Kapitalerhöhungsbeschlusses geplant war, die Einlageverbindlichkeiten aus künftigen Gewinnen zu tilgen, spricht allerdings vieles dafür, den Fall ebenso zu behandeln, als wäre das Einbringen der Gewinnauszahlungsansprüche vereinbart worden. Der konstruktive Umweg der Auszahlung und anschließenden Wiedereinzahlung soll unter solchen Umständen offenbar nur verschleiern, dass A und B ihre neuen Anteile durch Hingabe von Forderungen gegen die Gesellschaft, also einen anderen Wert als Geld, erkaufen wollten. Eine andere Beurteilung drängt sich jedoch auf, wenn A und B bei der Beschlussfassung gar nicht daran dachten, die übernommene Einlageschuld durch Rückführung von Gewinnen zu erfüllen. Wenn die Auszahlung künftiger Gewinne die Leistung der Resteinlage auch unter diesen Umständen mit dem Makel der verschleierten Sacheinlage infizieren würde, könnten A und B sich letztlich gar keinen Gewinn mehr auszahlen las164

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sen: Auch wenn sie zunächst die offenstehende Einlage leisten und erst anschließend die Gewinnauszahlung entgegennehmen würden, wären sie dem Einwand ausgesetzt, die Umkehrung der Zahlungsreihenfolge sei eine bloß formale Gestaltung, die am wirtschaftlichen Gehalt des Vorgangs als Tausch von Gewinnansprüchen gegen Beteiligungen nichts zu ändern vermöge. Wenn in Fall 2 die B-GmbH ihrer Schwestergesellschaft das Darlehen gerade wegen der gemeinsamen Konzernzugehörigkeit gewährt hat, liegt es nahe, den Kredit wie ein eigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen zu behandeln, obwohl die B-GmbH nicht an der A-GmbH beteiligt ist. Unter diesen Umständen beruhte die Darlehenshingabe nicht auf Erwägungen, die auch einen außenstehenden Dritten zur Kreditgewährung bewogen hätten. B hätte die Mittel vielmehr wegen der mittelbaren gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit zugeführt. Damit träfe aber der nach h. M. tragende Gedanke des Kapitalersatzrechts23 zu, dass mitgliedschaftliche Interessen – und um solche handelt es sich auch, wenn man den Konzern als Verband ansieht – nicht die Spekulation zu Lasten außenstehender Gläubiger rechtfertigen. Anders wäre der Fall dagegen zu beurteilen, wenn es sich bei der A-GmbH um den wichtigsten Geschäftspartner der B-GmbH handelt und B den Kredit gewährt, um durch Sanierung der A offenstehende Forderungen zu retten und eine existentielle Geschäftsbeziehung zu erhalten. Hier wären Erwägungen ausschlaggebend, die auch einen außenstehenden Dritten in der Lage der B zur Darlehensgewährung veranlasst haben könnten. Ein pauschales Abstellen auf die vermeintliche wirtschaftliche Einheit verbundener Unternehmen geht demgegenüber viel zu weit und steht geradezu im Gegensatz zu den Normen, die sich mit der „Wirtschaftseinheit Konzern“ befassen24. Sie sollen in erster Linie abhängige Unternehmen und deren Gläubiger vor Ausbeutung durch die Konzernspitze sichern25. Wollte man aus der vermeintlichen wirtschaftlichen Einheit verbundener Unternehmen die Folgerung ableiten, dass alle Konzerngesellschaften im Verhältnis zueinander Gesellschafterpflichten unterliegen, hätte dies geradezu paradoxe Folgen. Nicht nur das herrschende Unternehmen wäre für die Finanzierung seiner Beteiligungsgesellschaften verantwortlich, sondern auch umgekehrt diese für die Finanzierung ihres Gesellschafters. Darlehen, die sie ihm in der Krise gewährten, würden dort wie Eigenkapital gebunden und einer Rückzahlungssperre unterliegen. Aber auch eine Bindung von Krediten zwischen Schwestergesellschaften allein aufgrund ihrer mittelbaren gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit würde vernachlässigen, dass es sich bei der Kreditgebergesellschaft um ein abhängiges Unternehmen mit eigenen Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern handelt, deren Schutz das Konzernrecht bezweckt.

__________ 23 Vgl. zur Kapitalersatzfunktion ausführl. Karsten Schmidt, GesR, 4. Aufl. 2002, § 18 III 4 (S. 530 ff.). 24 Für eine differenzierende Betrachtung auch Karsten Schmidt in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 32a, b GmbHG Rz. 149. 25 Vgl. zur Schutzorientierung des Konzernrechts ausführl. Karsten Schmidt in FS Lutter, 2000, S. 1167, 1179 ff.

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Fall 3 ist zweifellos als einheitliche Schenkung der gesamten 800.000,– Euro von M an S zu beurteilen, wenn alle Beteiligten die Zuwendung dieses Betrages an S bereits ursprünglich geplant hatten. Unter dieser Voraussetzung ist weder im Verhältnis zwischen M und S die Anwendung von Schenkungsrecht betreffend die gesamte Summe ausgeschlossen noch darf S in den Genuss des zweifachen Freibetrages nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG kommen. Anders ist der Sachverhalt jedoch zu würdigen, wenn es an einem solchen Plan gefehlt hat und V seine 400.000,– Euro dem S aufgrund eines eigenen Entschlusses zugewandt hat, etwa weil S Ende 2007 in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist oder das Geld für die Gründung eines eigenen Unternehmens oder zum Erwerb einer Wohnung benötigt. In diesem Fall beruht der Erwerb der zweiten 400.000,– Euro auf eigener Freigebigkeit des V: Er ist folglich insoweit als Schenker anzusehen. Steuerlich kann daher S für diese Summe einen zweiten Steuerfreibetrag in Anspruch nehmen. Ebenso hängt die Beurteilung des 4. Falles davon ab, ob die Rückgewähr der überlassenen Mittel von T an V bereits anfänglich geplant war oder ob T erst aufgrund später eingetretener Umstände einen dahingehenden eigenen Entschluss gefasst hat. Wenn in Fall 5 die Besteller-GmbH eingeschaltet wurde, um die Pflichten nach § 648 BGB zu umgehen und die Bauhandwerker über die Aufspaltung von Besteller und Grundstückseigentümer im Unklaren gelassen wurden, spricht einiges dafür, der gewählten Konstruktion den Erfolg zu versagen und sich über die rechtliche Verschiedenheit von GmbH und T hinwegzusetzen. Ob man dies durch wirtschaftliche Betrachtungsweise, mit Hilfe von Durchgriffserwägungen oder gestützt auf § 242 BGB tut, ist dann im Ergebnis nicht von entscheidender Bedeutung. Anders ist der Fall jedoch trotz unveränderten wirtschaftlichen Ergebnisses zu beurteilen, wenn die GmbH dazu dient, die finanziellen Risiken des Bauprojektes zu begrenzen und der Bauhandwerker vor Vertragsschluss auf die Personenverschiedenheit von Besteller und Eigentümer hingewiesen wurde26. Unter diesen Umständen wäre es Sache des H gewesen, durch Vereinbarung mit T für die Sicherung seiner Ansprüche zu sorgen. Bei Fall 6 ist Ansatzpunkt für eine denkbare Anwendung des § 311b Abs. 1 BGB die Zusammensetzung des Gesellschaftsvermögens: Besteht es (nahezu) ausschließlich aus Grundbesitz, so dass sich die Übertragung der Gesellschaftsanteile wirtschaftlich betrachtet als Übertragung von Grundstückseigentum darstellt, liegt die Anwendung des Beurkundungserfordernisses nicht fern, denn die Übertragung von Miteigentumsanteilen muss ohne Rücksicht auf deren Größe nach § 311b Abs. 1 BGB beurkundet werden. Wenn der Zweck einer Personengesellschaft allein darin besteht, das Eigentum an einem Grundstück zu halten und zu verwalten oder wenn die Gesellschaft nur gegründet wurde, um Grundstückseigentum außerhalb des Grundbuchs ohne die damit verbundenen Formalitäten und Kosten übertragen zu können, bestehen kaum Bedenken dagegen, die Verpflichtung zur Anteilsübertragung

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26 In diesem Sinne wohl auch Fehl, BB 1988, 1000.

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dem Formzwang des § 311b Abs. 1 BGB zu unterwerfen27. Die Behandlung des Vertrages als Grundstücksgeschäft nimmt hier lediglich die Veräußerer beim Wort. Anders liegt der Fall jedoch, wenn es sich bei der Gesellschaft um eine OHG handelt, deren Vermögen sich (weitgehend) auf Grundbesitz reduziert hat28. Hier ist es durchaus denkbar, dass es den Parteien um die Übertragung des Unternehmens geht, zu dem in aller Regel zumindest in geringem Umfang auch andere Werte, wie etwa die Firma und ein damit verbundener goodwill gehören29. Wollte man auch unter solchen Umständen § 311b Abs. 1 BGB anwenden, müsste man den Beteiligten einen präzisen Maßstab für die Abgrenzung beurkundungsbedürftiger von formfreien Anteilsübertragungen an die Hand geben. Denn ob der schuldrechtliche Vertrag nur im Falle seiner Beurkundung wirksam ist, müssen sie im Vorhinein und nicht erst nach rechtskräftigem Abschluss einer gerichtlichen Auseinandersetzung beurteilen können. Einen solchen Maßstab für die Wertrelation von Grundbesitz einerseits und Restvermögen andererseits kann es aber vernünftigerweise schon deswegen nicht geben, weil den Parteien in einer der Privatautonomie verpflichteten Wirtschaft ein erheblicher Spielraum für die Bewertung von Vermögensgegenständen zusteht und daher eine Anknüpfung an objektive Werte jedenfalls bei Gütern ohne feststellbaren Marktpreis nicht in Betracht kommt. Wollte man dagegen die subjektive Bewertung durch die Vertragspartner für maßgeblich halten, würde man die Anwendbarkeit des zwingenden § 311b Abs. 1 BGB letztlich zu ihrer Disposition stellen. Ist danach aber für das Eingreifen des § 311b Abs. 1 BGB bei Anteilsübertragungen der Zweck von Bedeutung, den die Beteiligten mit der Gesellschaft verfolgen, entscheidet auch hier nicht allein die Vergleichbarkeit wirtschaftlicher Ergebnisse über die Normanwendung. Als Ergebnis einer näheren Betrachtung der Ausgangsfälle ist daher festzuhalten, dass die äußerliche Übereinstimmung des wirtschaftlichen Resultats eines Sachverhaltes mit demjenigen Ergebnis, das von einer bestimmten Vorschrift sanktioniert wird, regelmäßig nicht als Begründung dafür ausreicht, dass der Zweck der Norm ihre Anwendung auf die vom Wortlaut nicht erfasste Gestaltung gebieten würde. Auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise i. S. eines solchen Ergebnisvergleichs können Rechtsfolgen nicht gestützt werden. 5. Das Erfordernis subjektiver Merkmale Das kann auch nicht verwundern. Ohne Bezug auf Pläne, Absichten und Kenntnisse der Parteien lassen sich bei Vorgängen, die aus mehr als nur einer Handlung bestehen, die einzelnen Schritte kaum als zusammengehörige Teile eines Geschehens qualifizieren. So wird etwa bei der verschleierten Sacheinlage (Fall 1), bei der Kettenschenkung (Fall 3) oder bei der Rückgewähr des geschenkten Betrages als verzinsliches Darlehen (Fall 4) ein entsprechender Ge-

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27 Ebenso Karsten Schmidt, AcP 182 (1982), 511. 28 So etwa im Sachverhalt, der der Entscheidung BGHZ 86, 367 = NJW 1983, 1110 zugrunde lag. 29 Vgl. BGHZ 86, 367, 371 = NJW 1983, 1110, 1111.

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samtplan der Parteien stets als das einigende Band mitgedacht, das die einzelnen, für sich genommen neutralen Akte zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammenfasst, die erst in ihrer Zusammengehörigkeit dem Regelungsanliegen der jeweils in Frage stehenden Norm entspricht. Pläne und Motive der Parteien können zum anderen dort nicht zugunsten einer vermeintlich objektiv-wirtschaftlichen Normanwendung unbeachtet bleiben, wo die betreffende Vorschrift der Verhaltenssteuerung dient und den Beteiligten die Einhaltung bestimmter Verfahren vorschreibt, um einen wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen. Die gesetzliche Verhaltensanweisung kann sich sinnvollerweise nur an Adressaten richten, die bereits bei Vornahme der betreffenden Handlungen den von der Vorschrift erfassten Erfolg angestrebt hatten. So haben etwa in Fall 1 die Gesellschafter nur dann Anlass, die Vorschriften über die Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen einzuhalten, wenn sie die Verrechnung der Einlageschuld mit Gewinnauszahlungsansprüchen bereits bei Fassung des Kapitalerhöhungsbeschlusses geplant hatten. War das nicht der Fall, konnte die Einhaltung des Sacheinlageverfahrens von ihnen nicht verlangt werden. Auch ein überwiegendes Interesse an Rechtssicherheit kann einer Aufweichung von Tatbeständen durch wirtschaftliche Vergleichbarkeitserwägungen entgegenstehen. Das hat der BGH etwa im Hinblick auf die Anwendung der Beurkundungspflicht von Verpflichtungen zur Übertragung von Grundeigentum auf die Übertragung von Gesellschaftsanteilen angenommen (Fall 6). Ob die Rechtsordnung die von einem Beteiligten gewählte Gestaltung akzeptiert, kann schließlich auch von seinem Verhalten gegenüber der anderen Partei und deren Wissensstand abhängen. So ist in Fall 5 für den Anspruch des H gegen A auf Einräumung einer Sicherungshypothek entscheidend, ob H über die Aufspaltung von Grundstückseigentümer und Besteller irregeführt wurde oder nicht.

III. Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gesetzesumgehung Die Erstreckung von Normen auf Gestaltungen, die zwar nicht vom Wortlaut erfasst sind, im wirtschaftlichen Ergebnis aber den Fällen entsprechen, auf die die jeweilige Vorschrift zugeschnitten ist, hängt danach sehr weitgehend von subjektiven Merkmalen auf Seiten der Beteiligten ab. Dieses Ergebnis scheint hinter dem Stand zurückzubleiben, den die Lehre von der Gesetzesumgehung bei der Bekämpfung von Normvermeidungen oder Normerschleichungen erreicht hat. Unter dieser Überschrift werden häufig Gestaltungen diskutiert, mit denen sich auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise befasst. Es handelt sich um weitgehend austauschbare Instrumente, mit deren Hilfe das Recht sich gegenüber der Gestaltungsphantasie des Rechtsverkehrs Geltung verschafft30. Während früher die Umgehungsabsicht als konstitutives Merkmal

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30 Vgl. etwa Ulmer (Fn. 22), § 719 BGB Rz. 35 f., wo Umgehungsgesichtspunkte und wirtschaftliche Betrachtungsweise nebeneinander zur Lösung des Problems der Formbedürftigkeit der Übertragung von Gesellschaftsanteilen herangezogen werden.

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Die wirtschaftliche Betrachtungsweise

der Gesetzesumgehung angesehen wurde31, verzichtet die heute h. M. im Streben nach Objektivierung der Rechtsanwendung auf derartige subjektive Elemente. So heißt es meist, bei der Gesetzesumgehung handele es sich um ein Problem der Rechtsgeltung. Es gehe um die Durchsetzung einer Norm aus eigener Kraft, für die allein anhand objektiver Kriterien im Wege der Auslegung und der Analogiebildung zu sorgen sei32. Entscheidungen, in denen die Rechtsprechung Umgehungsbewusstsein oder gar Umgehungsabsicht verlangt33, stoßen insoweit im Schrifttum überwiegend auf Ablehnung34. Der Grund für diese ablehnende Haltung dürfte zum einen darin zu sehen sein, dass der Anknüpfung an subjektive Merkmale im Zivilrecht der Makel einer funktionswidrigen Ahndung persönlichen Unrechts oder gar einer Gesinnungsjurisprudenz anhaftet35. Zum anderen schrecken die Schwierigkeiten ab, die mit dem Nachweis innerer Tatbestände verbunden sind36. Diesen Bedenken wird indessen von den Vertretern einer objektiven Umgehungslehre nicht konsequent Rechnung getragen. Der Begriff der Gesetzesumgehung, den sie zugrundelegen, steht in auffälligem Gegensatz zur Ablehnung des Erfordernisses eines Umgehungsbewusstseins. So definiert etwa ein namhafter Vertreter des objektiven Umgehungsverständnisses: „Der Ausdruck Gesetzesumgehung soll folgenden Fall bezeichnen: Eine Handlung fällt nicht unter den Wortlaut einer bestimmten Norm; der Zweck der Norm würde allerdings ihre Anwendung auf die Handlung rechtfertigen; der Handelnde hat sein Verhalten bewußt gerade so eingerichtet, daß es vom Tatbestand der Norm nicht erfasst wird, weil die Norm ihm nachteilig ist; er sucht also, die Diskrepanz zwischen dem Wortlaut und dem Zweck der Norm zu seinem Vorteil auszunutzen.“37 Wer sein Verhalten bewusst so einrichtet, dass es vom Wortlaut einer Vorschrift nicht erfasst wird, um der Anwendung dieser Vorschrift zu

__________ 31 Vgl. etwa BGHZ 5, 133, 136 = NJW 1952, 623, 624; BGHZ 8, 23, 32 = NJW 1953, 182, 183; BGH, NJW 1959, 383, 384; BGH, NJW 1960, 524, 525; w. N. aus der älteren Rechtsprechung bei Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 67 f. Umgehungsabsicht wird in jüngerer Zeit noch als erforderlich angesehen von BGHZ 86, 367, 371 = NJW 1983, 1110, 1111; BFHE 146, 158, 161 = BStBl. II 1986, 496; BFH, BStBl. II 1992, 532, 536; Tipke/Kruse, Loseblatt, § 42 AO Rz. 44. 32 In diesem Sinne etwa BGHZ 56, 285, 289 = NJW 1971, 1658; BGHZ 110, 230, 234 = NJW 1990, 1473; BAGE 10, 65, 70 = NJW 1961, 798; BAGE 39, 67, 70 = NJW 1982, 2789; BAGE 79, 319, 358 = NJW 1996, 143, 151; BFH, BStBl. II 1989, 396, 399; BFH, BStBl. II 1993, 253, 255; Hefermehl in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 134 BGB Rz. 40; Armbrüster in MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, § 134 BGB Rz. 15 f.; Ulmer (Fn. 22), § 719 BGB Rz. 35; Teichmann (Fn. 31), S. 69 f.; Fischer in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Loseblatt, § 42 AO Rz. 62 f., 271; C. Möller, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Privatrecht, 1997, S. 124, 159 ff.; U. Huber, JurA 1970, 784, 797; Häsemeyer in FS der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, 1986, S. 163, 167. 33 Vgl. die Nachw. in Fn. 31. 34 Vgl. etwa die Kritik von Ulmer (Fn. 22), § 719 BGB Rz. 36 an der Entscheidung BGHZ 86, 367 = NJW 1983, 1110. 35 Vgl. etwa C. Möller (Fn. 32), S. 124; Häsemeyer (Fn. 32), S. 163, 167; v. Gamm, WRP 1961, 259, 260. 36 Vgl. Fischer (Fn. 32), § 42 AO Rz. 106. 37 U. Huber, JurA 1970, 784, 797.

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entgehen, handelt gerade mit Umgehungsbewusstsein und Umgehungsabsicht. In demselben Sinne heißt es im Schrifttum bei der Behandlung von Umgehungsfällen etwa, es gehe um den Versuch, der Subsumtion einer Handlung unter eine als lästig empfundene zwingende Norm auszuweichen38; die Partei suche nach einer Lösung, die jedoch die durch die Norm gesetzten Schranken vermeide39, oder die Parteien hätten eine Gestaltung zu dem Zweck gewählt, die Rechtsfolge der Unwirksamkeit zu verhindern40. In diesen Formulierungen kommt deutlich zum Ausdruck, dass von planvoller Normvermeidung, also von Handeln mit Umgehungsabsicht die Rede ist. Der innere Widerspruch zum erklärten Anliegen eines objektiven Umgehungsverständnisses dürfte auf die Diskrepanz zwischen dem Anschauungsmaterial, das die Umgehungspraxis bietet einerseits und dem selbstgestellten Anspruch an die Theoriebildung andererseits zurückzuführen sein. Gestaltungen, die die Frage nach dem Vorliegen einer Gesetzesumgehung aufwerfen, werden regelmäßig nicht zufällig, sondern bewusst zum Zweck der Normvermeidung gewählt. Wer mit ihrer Beurteilung befasst ist, hat also Fälle absichtlicher Umgehungen vor Augen. Um sich jedoch nicht dem Vorwurf aussetzen, verwerfliche Gesinnungen zu ahnden, begründet man die Erstreckung der umgangenen Vorschrift auf die betreffende Gestaltung rein objektiv unter Ausblendung des Umgehungsbewusstseins der Parteien. Durch eine auf diese Weise objektiv formulierte Regel werden allerdings zwangsläufig auch Fälle erfasst, in denen gar nicht geplant war, den von der Norm sanktionierten Erfolg auf einem konstruktiven Umweg zu verwirklichen. Objektiv gefasste Umgehungsverbote enthalten daher sehr häufig eine überschießende Tendenz, die durch Rückführung auf die eigentlich gemeinten Fälle korrigiert werden muss. Das zeigt plastisch die Entwicklung der Grundsätze über die verschleierte Sacheinlage. Während die Rechtsprechung zunächst darauf abgestellt hat, ob im Ergebnis ein Tausch von Gesellschafterforderung gegen Beteiligung vorlag41, hat sie sich angesichts der damit verbundenen untragbaren Konsequenzen darauf besonnen, das Umgehungsverbot auf seinen legitimen Anwendungsbereich zu begrenzen und nur solche Gestaltungen zu erfassen, in denen das Ergebnis einer Sacheinlage von vornherein abgesprochen war42.

__________ 38 Fischer (Fn. 32), § 42 AO Rz. 52. 39 Teichmann in FS Bartholomeyczik, 1973, S. 377, 386. 40 BGHZ 110, 230, 234 = NJW 1990, 1473, 1474; gemeint war dort wohl: die Unwirksamkeit herbeizuführen. 41 Vgl. etwa BGHZ 110, 47, 65 = NJW 1990, 982, 986 und BGHZ 125, 141, 143 = NJW 1994, 1477, wo die Frage nach dem Vorliegen eines entsprechenden Plans jeweils offen gelassen wurde. 42 BGHZ 132, 133, 139 f. = NJW 1996, 1473, 1474 f.; Henze, ZHR 161 (1997), 851, 852; vgl. auch Lutter/Zöllner, ZGR 1996, 164, 182 ff. sowie die geplante Legaldefinition der verdeckten Sacheinlage in § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG i. d. F. des RegE zum MoMiG, wonach eine verdeckte Sacheinlage dann vorliegen soll, wenn „eine Geldeinlage eines Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung und aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu bewerten“ ist (Hervorhebung d. Verf.); zur Ver-

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Die wirtschaftliche Betrachtungsweise

IV. Die subjektiven Merkmale im Einzelnen Die Übereinstimmung der wirtschaftlichen Ergebnisse zweier Gestaltungen reicht danach weder bei Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise noch nach den Regeln der Gesetzesumgehung aus, um sie auch rechtlich gleichzubehandeln. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, welche subjektiven Voraussetzungen auf Seiten der Handelnden zusätzlich erfüllt sein müssen. Wie die Ausgangsfälle gezeigt haben, ist jedenfalls eine Sachverhaltsgestaltungsabsicht in dem Sinne erforderlich, dass die Parteien von vornherein planen, den von der betreffenden Norm sanktionierten wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen43. Das gilt namentlich für mehraktige Vorgänge, deren wirtschaftlicher Gehalt sich erst aus ihrer Zusammenfassung erschließt (vgl. Fälle 1, 3 und 4). Eine Umgehungsabsicht, deren Notwendigkeit die h. M. verneint, setzt darüber hinaus voraus, dass der Umweg, auf dem die Parteien das gewünschte Ergebnis erzielen, gerade zu dem Zweck gewählt wurde, die Anwendung der betreffenden Regelung zu vermeiden. Bezogen auf den Fall der verschleierten Sacheinlage lauten die Alternativen etwa: Reicht es aus, dass die Beteiligten bereits anfänglich den Erfolg einer Sacheinlage erreichen wollten oder ist darüber hinaus erforderlich, dass die Wahl des dahin führenden Umwegs über die Hin- und Herzahlung gerade durch die Absicht motiviert war, die Sacheinlagevorschriften zu umgehen? Sachverhaltsgestaltungs- und Umgehungsabsicht werden allerdings regelmäßig zugleich vorliegen. Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gesetzesumgehung betreffen überwiegend Gestaltungen, in denen ein wirtschaftliches Ziel auf einem konstruktiven Umweg angestrebt wird44. Einen solchen Umweg und die damit verbundenen Erschwernisse nimmt man im allgemeinen nur in Kauf, wenn diese Nachteile durch Vorteile in anderer Hinsicht aufgewogen werden. Diese Vorteile bestehen in der (erhofften) Nichtanwendung einer nachteiligen Norm. Sachverhaltsgestaltungsabsicht ohne gleichzeitige Umgehungsabsicht wird also nur dann vorliegen, wenn eine Gestaltung „aus Rechtsunkenntnis, Unerfahrenheit, Naivität oder Rechtsblindheit gewählt wird“45. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Umgehungsabsicht spielt nur in derartigen Ausnahmefällen eine Rolle. Sie zeigen, dass die planvolle Gestaltung des Sachverhalts ausreicht. Bei mehraktigen Gestaltungen, die einen Gesamtplan der Parteien umsetzen, ist daher grundsätzlich nicht erforderlich, dass dieser Plan gerade von der Absicht getragen wird, die Anwendung einer Vorschrift zu ver-

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selbständigung und Ablösung der Dogmatik der verdeckten Sacheinlage von ihrem ursprünglichen Sinn, Manipulationen zum Nachteil der Gesellschaftsgläubiger zu verhindern bereits G. H. Roth, NJW 1991, 1913 ff. 43 In diesem Sinne auch Hefermehl (Fn. 32), § 134 BGB Rz. 40. 44 Vgl. nur die anschauliche Beschreibung bei Tipke/Kruse (Fn. 31), § 42 AO Rz. 15. 45 Fischer (Fn. 32), § 42 AO Rz. 106. Zu den Fällen der Rechtsunkenntnis wird man dabei auch solche zählen können, in denen die Parteien die Gestaltung mit Blick auf die Vermeidung einer bestimmten Norm gewählt, die mit dieser Gestaltung verbundene Ausschaltung einer anderen nachteiligen Regelung dabei aber nicht mitbedacht haben.

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meiden. Ebensowenig wie auch sonst schützen Rechtsunkenntnis oder Rechtsblindheit vor Gesetzesanwendung. Sachverhaltsgestaltungsabsicht allein reicht dagegen regelmäßig nicht aus, wo der zu beurteilende Vorgang aus einem einzelnen Akt besteht. Hier sind vielmehr zusätzliche subjektive Momente erforderlich, um der gewählten Gestaltung die Anerkennung zu versagen. Das zeigt etwa Fall 6: Es existiert kein präziser Maßstab, an dem man ablesen könnte, wann sich die Übertragung von Gesellschaftsanteilen ihrem wirtschaftlichen Gehalt nach einer Grundstücksübertragung so stark annähert, dass ein nach § 311b Abs. 1 BGB beurkundungspflichtiger Vorgang vorliegt. Selbst wenn es einen solchen Maßstab gäbe, könnten sich die Beteiligten wegen der subjektiven Einschätzungen, die mit der Bewertung des Gesellschaftsvermögens verbunden sind, nicht im vorhinein sicher sein, ob nicht objektiv-wirtschaftlich betrachtet die maßgebliche Grenze zur Beurkundungspflicht überschritten wäre. Diese Unsicherheiten sind im Interesse der Rechtssicherheit zugunsten gutgläubiger Parteien zu berücksichtigen. Die Anwendung des § 311b Abs. 1 BGB zu ihren Lasten ist daher regelmäßig ausgeschlossen. In den Grenzfällen, um die allein es der wirtschaftlichen Betrachtungsweise geht, können die Beurteilungsschwierigkeiten aber durch die Einschätzung der Parteien kompensiert werden, bei der Veräußerung gehe es der Sache nach nur um die Übertragung des Grundstücks. Dem BGH ist daher zuzustimmen, wenn er die Anwendung der Formvorschrift auf bewusste Umgehungen beschränken will46. Auch im Beispiel der Sicherungshypothek (Fall 5) hängt der Anspruch des Bauhandwerkers H gegen den Besteller T nicht allein von der bewussten Aufspaltung von Eigentümer und Besteller, sondern zusätzlich davon ab, ob H hinsichtlich dieses Umstandes irregeführt wurde und sich infolgedessen darüber nicht im klaren war. Weitergehende subjektive Anforderungen können schließlich zu stellen sein, wenn es um die Erstreckung von Vorschriften auf Dritte geht. Das lässt sich anhand des 2. Beispielsfalles, der Darlehensvergabe zwischen Schwestergesellschaften, zeigen. Vom Ausgangspunkt eines Verständnisses des Konzerns als wirtschaftliche Einheit liegt es nahe, die Darlehensvergabe an die notleidende A-GmbH durch ihre Schwestergesellschaft B einerseits und durch die herrschende Gesellschafterin X andererseits als wirtschaftlich gleichwertige Gestaltungen anzusehen. Wie sich gezeigt hat, reicht dies aber nicht aus, um den Kredit der Nichtgesellschafterin B als Eigenkapital der A zu binden. Entscheidend ist vielmehr, ob B das Darlehen gerade wegen der gemeinsamen Konzernzugehörigkeit oder aus geschäftlichen Erwägungen heraus gewährt hat, die auch einen außenstehenden Dritten unter sonst gleichen Umständen dazu bewegt haben könnten. Nur im ersten Fall kommt eine Anwendung der auf Gesellschafter zugeschnittenen Regeln über eigenkapitalersetzende Darlehen auf B in Betracht. Danach erfordert die Normerstreckung aber mehr als das bewusste Herbeiführen eines Ergebnisses, das den von §§ 30, 32a GmbHG gere-

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46 BGHZ 86, 367, 371 = NJW 1983, 1110, 1111 im Anschluss an Karsten Schmidt, AcP 182 (1982), 510 ff.

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Die wirtschaftliche Betrachtungsweise

gelten Fällen vergleichbar erscheint. Maßgeblich ist die Motivation, die dem Handeln der B zugrunde gelegen hat.

V. Subjektive Merkmale und Beweisprobleme Der zweite zentrale Einwand, den gegen das Erfordernis subjektiver Merkmale auf Seiten der Handelnden im Rahmen einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise oder für die Annahme einer Gesetzesumgehung vorzubringen naheliegt, ist eher praktischer Art: Absichten, Pläne und Motive seien nicht nachweisbar. Das trifft indessen nur insoweit zu, als der Blick in das Innenleben der Beteiligten nicht möglich ist und sie die Zielrichtung ihres Handelns nicht offenlegen werden, wenn ihnen daraus Nachteile entstehen können. Die daraus herrührenden Beweisprobleme lassen sich jedoch weitgehend bewältigen, wenn man sich vor Augen führt, dass sich wirtschaftliche Gestaltungen und deren Ergebnisse im rechtsgeschäftlichen Verkehr nicht zufällig aufgrund unvorhergesehener Umstände zu entwickeln pflegen, sondern regelmäßig von den Parteien zielgerichtet verwirklicht werden. Das gilt zumal dann, wenn Folge der rechtlichen Anerkennung des äußeren Sachverhalts die Nichtanwendung einer den Beteiligten nachteiligen Vorschrift wäre. Soweit die Sachverhaltsgestaltungsabsicht in Frage steht, rechtfertigt daher ein Erfahrungssatz die Vermutung, dass man es mit planvoll herbeigeführten Ergebnissen zu tun hat. Es ist folglich Sache der Beteiligten, diese Vermutung durch den Nachweis zu widerlegen, dass ein Ausnahmefall vorliegt, in dem das erzielte Resultat nicht Gegenstand eines ursprünglich gefassten Planes war. Nichts anderes gilt, wenn weitergehende subjektive Merkmale erforderlich sind, um wirtschaftlich gleichwertige Ergebnisse auch rechtlich gleich zu behandeln. Das lässt sich zunächst anhand des 2. Ausgangsfalls, der Darlehensgewährung zwischen Schwestergesellschaften, zeigen. Die Behandlung von Darlehen als haftende Eigenmittel und die daraus folgende Rückzahlungssperre setzen hier voraus, dass die Kreditnehmerin A aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten kreditunwürdig war und dementsprechend von dritter Seite kein Darlehen erhalten hätte. Wenn unter diesen Umständen ein verbundenes Unternehmen die benötigten Mittel zur Verfügung stellt, spricht eine Vermutung dafür, dass die gesellschaftsrechtliche Verbundenheit der beiden Unternehmen dafür ursächlich war. Hier obliegt daher der B-GmbH der Nachweis dafür, dass diese Annahme nicht zutrifft, die Darlehensgewährung vielmehr auf Erwägungen beruht, die auch einen Dritten an ihrer Stelle zur Kreditgewährung bewogen haben könnten. Ähnlich verhält es sich im Beispiel 6 (Anteilsübertragung): Gelangt man hier zu dem Schluss, der Erwerbspreis sei (nahezu) ausschließlich für das Grundstück entrichtet worden, weil das restliche Vermögen der Gesellschaft im Vergleich dazu völlig unbedeutend sei, ist die Vermutung gerechtfertigt, auch die Vertragsparteien seien sich dieses Umstandes und damit der Umgehung des § 311b Abs. 1 BGB bewusst gewesen47.

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47 Ähnl. Karsten Schmidt, AcP 182 (1982), 511 f.

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VI. Ergebnis Dass verschiedene Sachverhaltsgestaltungen zu vergleichbaren wirtschaftlichen Ergebnissen führen, rechtfertigt für sich genommen regelmäßig nicht die Anwendung einer Norm über ihren Wortlaut hinaus. Eine im Sinne des Vergleichs wirtschaftlicher Ergebnisse verstandene wirtschaftliche Betrachtungsweise kann daher nicht mit teleologischer Auslegung oder Analogiebildung gleichgesetzt werden48. Ebensowenig ist wirtschaftliche Betrachtungsweise eine Umqualifizierung von Sachverhalten dergestalt, dass für Zwecke der Rechtsanwendung an die Stelle der tatsächlich verwirklichten eine fiktive Gestaltung gesetzt würde, die sich unter den Wortlaut der in Frage stehenden Norm subsumieren lässt49. Der Begriff der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bezeichnet vielmehr die Ermittlung des – nicht immer offensichtlichen – wirtschaftlichen Gehalts einer Sachverhaltsgestaltung, wie er sich unter dem Blickwinkel einer bestimmten Rechtsnorm darstellt. Ergibt sich dabei, dass das von den Parteien erzielte Ergebnis dem von der betreffenden Rechtsnorm sanktionierten Resultat entspricht, ohne dass die Voraussetzungen der Vorschrift dem Wortlaut nach erfüllt wären, ist zu vermuten, dass die Handelnden dieses Ergebnis bewusst herbeigeführt haben. Wird diese Vermutung nicht widerlegt, bilden diese beiden Elemente – wirtschaftliche Gleichwertigkeit der Ergebnisse und zugehörige subjektive Merkmale – zusammen die Grundlage für die Anwendung der betreffenden Vorschrift im Wege der teleologischen Auslegung oder der Analogie. Die Anwendung des Gesetzes über seinen Wortlaut hinaus folgt allerdings nicht schon ohne weiteres aus dem Vorliegen der beiden genannten Elemente, sondern bedarf u. U. noch einer besonderen Begründung im Rahmen der teleologischen Auslegung oder der Analogiebildung. Das soll abschließend anhand des 2. Ausgangsfalles gezeigt werden: Dort geht es um die Frage, unter welchen Umständen Darlehen zwischen Schwestergesellschaften den Regeln des Eigenkapitalersatzrechts unterliegen, obwohl die beiden Unternehmen nicht aneinander beteiligt sind. Die Antwort lautet: Gemeinsame Konzernzugehörigkeit (objektive Komponente) und Motivation der Kreditvergabe gerade durch diese gesellschaftsrechtliche Verbundenheit (subjektive Komponente) eröffnen den Weg zur Anwendung der §§ 30, 32a GmbHG auf das Schwesterdarlehen. Problematisch ist das allerdings dann, wenn die hingegebenen Mittel ihrerseits aus dem gebundenen Vermögen der darlehensgewährenden Gesellschaft stam-

__________ 48 Für eine solche methodische Qualifikation der wirtschaftlichen Betrachtungsweise etwa Möller (Fn. 30), S. 133 ff. 49 In diesem Sinne im Zusammenhang mit § 42 AO etwa BFHE 130, 188, 190 = BStBl. II 1980, 364; BFHE 142, 347, 352 = BStBl. II 1985, 33; BFHE 154, 173, 176 = BStBl. II 1988, 916; Tipke/Kruse (Fn. 31), § 42 AO Rz. 8; Crezelius, Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 90; krit. etwa Fischer (Fn. 32), § 42 AO Rz. 79, 111; Beisse, StuW 1981, 1, 11.

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Die wirtschaftliche Betrachtungsweise

men. Die Vergabe eines Darlehens an einen Gesellschafter stellt nämlich eine unzulässige Auszahlung von Gesellschaftsvermögen dar, wenn der Rückgewähranspruch nicht hinreichend sicher und damit nicht vollwertig ist50. Bei Anwendung der Regeln über eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen und der daraus folgenden Subordination der Rechte des Darlehensgebers fehlt es an der Vollwertigkeit des Rückgewähranspruchs. Voraussetzung für die Anwendung dieser Regeln auf Schwesterdarlehen ist, dass die Kreditvergabe gerade wegen der gesellschaftsrechtlichen Verbundenheit der beiden Unternehmen, mithin causa societatis erfolgt. Unter eben dieser Voraussetzung stellt aber die Darlehensvergabe aus Sicht der Kreditgeberin eine unzulässige Auskehr von Gesellschaftsvermögen an einen dem herrschenden Unternehmen gleichstehenden Dritten dar. Stammt die Valuta aus dem gebundenen Vermögen der darlehensgewährenden Gesellschaft, kommt es folglich zu einer Kollision der für die beiden Schwestergesellschaften geltenden Kapitalerhaltungsvorschriften: Die Vermögensbindung der Darlehensgeberin gebietet die sofortige Rückgewähr des Kredits, während die Eigenkapitalersatzregeln aus Sicht der Darlehensnehmerin die Rückzahlung bis zur Überwindung der Krise ausschließen. Kapitalerhaltungsvorschriften und Eigenkapitalersatzrecht dienen gleichermaßen dem Schutz der Gesellschaftsgläubiger. Es lässt sich nicht begründen, dass die Gläubiger des einen Schwesterunternehmens stets schutzwürdiger oder weniger schutzwürdig wären als die der anderen Partei des Darlehensvertrages51. Das Kapitalersatzrecht kann hier also nicht unbesehen auf das Darlehen angewandt werden, sondern bedarf einer Anpassung an diese besondere, vom Gesetz nicht mitbedachte Interessenlage, die dem gesetzlichen Anliegen des Gläubigerschutzes für beide Gesellschaften so weit wie möglich Rechnung trägt.

__________ 50 Vgl. dazu ausführl. Cahn, Der Konzern 2004, 235 ff., weitergehend noch BGHZ 157, 72 = NJW 2004, 1111, der bei Kreditgewährung der Gesellschaft an Gesellschafter im Regelfall eine verbotene Auszahlung i. S. d. § 30 GmbHG annimmt, auch wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter im Einzelfall werthaltig ist, vgl. zu der Entscheidung ausführl. H. P. Westermann in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 30 GmbHG Rz. 19 ff. m. w. N.; wie hier jetzt aber ausdrücklich § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG i. d. F. des RegE zum MoMiG, BR-Drucks. 354/07, S. 8; zuvor bereits Mannheimer, Die Bedeutung des Steuerrechts für die Konzernfinanzierung, 1992, S. 80 f.; Weisser, Der Gewinn der Aktiengesellschaft im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Aktionären, 1962, S. 102; Stimpel in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 335, 349; Fleck, JbFStR 1984/85, 554; das übersieht Kühbacher, Darlehen an Konzernunternehmen. Besicherung und Vertragsanpassung, 1993, S. 93 ff., der die darlehensempfangende Schwestergesellschaft unter unzutreffendem Hinweis auf §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG ohne weiteres auf Rückzahlung haften lassen will. 51 Vgl. in diesem Sinne etwa Mertens/Cahn in FS Heinsius, 1991, S. 545, 552; Röhricht, WPg. 1992, 766, 775 zur vergleichbaren Frage der Schutzwürdigkeit der Minderheitsgesellschafter verschiedener Konzernunternehmen.

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Die Problematik der Minderung beim Dienstvertrag Inhaltsübersicht I. Problemstellung II. Die Unvereinbarkeit einer Minderung beim Dienstvertrag mit § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB 1. Die Rechtslage bei nicht zu vertretenden Schlechtleistungen 2. Die Rechtslage bei zu vertretenden Schlechtleistungen III. Minderungsähnliche Lösungen 1. Die grundsätzliche Unzulässigkeit eines Rücktritts nach §§ 323 Abs. 1, 326 Abs. 5 BGB 2. Der Verlust des Vergütungsanspruchs bei Fehlen des Gläubigerinteresses gemäß oder analog § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB a) Die Unterschiede zwischen der kündigungsrechtlichen Lösung nach § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB und der rücktrittsrechtlichen Lösung nach §§ 323, 326 Abs. 5 BGB b) Der Rückgriff auf das Lösungsmodell von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB als angemessener Kompromiss zwischen den Interessen des Dienstberechtigten und des Dienstverpflichteten c) Die Notwendigkeit einer Abstimmung zwischen dem Lösungsmodell von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB und dem Rücktrittsrecht

3. Die grundsätzliche Unzulässigkeit einer schadensersatzrechtlichen Minderungslösung IV. Dogmatische und teleologische Einordnung der dienstvertraglichen Minderungsproblematik 1. Das Bestehen einer „schwachen“ Form der Minderung beim Dienstvertrag bei funktionaler Sicht 2. Die möglichen Gründe für die Sonderbehandlung der Minderung im Dienstvertragsrecht 3. Die Problematik der Minderung als Figur des allgemeinen Leistungsstörungsrechts V. Die Unterscheidung und Abgrenzung von Schlechtleistung und teilweiser Nichtleistung 1. Die Unzulässigkeit einer Analogie zu §§ 434 Abs. 3 BGB, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB a) Die Unanwendbarkeit der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB b) Die Unanwendbarkeit der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB 2. Die Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Defiziten

I. Problemstellung Während zwischen dem Jubilar und seinem Gratulanten kontrovers ist, ob das Handelsrecht als Außenprivatrecht der Unternehmen einen gegenüber dem Bürgerlichen Recht weitgehend eigenständigen Gehalt aufweist oder überwiegend lediglich Variationen über bürgerlichrechtliche Themen enthält1, steht

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1 Vgl. einerseits Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 3; andererseits Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 1 Rz. 22, 30 ff., 47.

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außer Streit, dass das Handelsrecht auf der Basis des Bürgerlichen Rechts aufruht und bei zahllosen Problemen durch dieses ergänzt wird. Daher sei es erlaubt, dem Jubilar einen bürgerlichrechtlichen Beitrag zu widmen, in dessen Zentrum eine Problematik des Dienstvertragsrechts steht, zumal dessen Bezug zum Handelsrecht besonders eng ist, weil viele Verträge wie z. B. der Handelsvertreter- und der Kommissionsvertrag den Charakter von Dienstverträgen haben. Für das Dienstvertragsrecht hat durch die Schuldrechtsreform eine Problematik an Aktualität gewonnen und, wie sich zeigen wird, ein neues positivrechtliches Fundament erlangt, die zwar auch schon zum vorhergehenden Rechtszustand diskutiert wurde, aber bisher, soweit ersichtlich, keine voll befriedigende Lösung gefunden hat: die Frage, ob es auch beim Dienstvertrag die Möglichkeit einer Minderung gibt. Das Gesetz schweigt dazu auch heute noch. Gleichwohl enthält es einen Lösungsansatz. Dieser liegt in § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB. Nachdem das Gesetz in § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BGB den Wegfall und in Halbsatz 2 die – hier ipso iure eintretende – Minderung des Anspruchs auf die Gegenleistung bei einer Befreiung des Schuldners von seiner Pflicht zur Leistung nach § 275 BGB statuiert hat, fährt es fort: „Satz 1 gilt nicht, wenn der Schuldner im Falle der nicht vertragsgemäßen Leistung die Nacherfüllung nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu erbringen braucht“. Diese Vorschrift hat mehrere – z. T. sehr unterschiedliche – Funktionen und stellt geradezu ein Musterbeispiel für die außerordentliche Abstraktionshöhe und Komplexität des Allgemeinen Leistungsstörungsrechts dar. Was sie mit der Minderungsproblematik beim Dienstvertrag zu tun hat, erschließt sich deshalb vielleicht nicht jedermann auf den ersten Blick, wird jedoch bei genauerer Lektüre alsbald deutlich: Wenn der Anspruch auf die Gegenleistung bei einer „nicht vertragsgemäßen“ Leistung2 des Schuldners durch § 326 Abs. 1 BGB nicht berührt wird, bleibt er bei einer solchen eben bestehen, sofern sich nicht an anderer Stelle eine abweichende Regelung findet – und das ist für das Dienstvertragsrecht insoweit, als es um eine Minderung der Gegenleistung des Dienstberechtigten geht, bekanntlich nicht der Fall, da dieses anders als das Kauf-, Mietund Werkvertragsrecht keine Minderungsregelung enthält.

II. Die Unvereinbarkeit einer Minderung beim Dienstvertrag mit § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB 1. Die Rechtslage bei nicht zu vertretenden Schlechtleistungen In der Tat könnte § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB für die Beantwortung der Frage einschlägig sein, ob dem Gläubiger ein Recht zur Minderung auch bei Fehlen einer gesetzlichen Regelung zustehen kann. Dazu heißt es in der Regierungsbegründung: „Andernfalls (sc.: ohne Einschränkung von Satz 1 durch Satz 2) ergäbe sich die Folge, dass ein Minderungsrecht zwar allgemein nicht geregelt wird, sich dieselben Rechtsfolgen aber aus § 326 RE (gemeint: § 326 Abs. 1

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2 Vgl. zu diesem Begriff eingehend unten V.

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Satz 1 BGB) herleiten ließen“3. Diese Bemerkung wird flankiert durch eine Äußerung an anderer, jedoch im „inneren“ System des BGB verwandter Stelle, wo die Erwägung, „ob die Minderung als Rechtsbehelf in das allgemeine Leistungsstörungsrecht neben Rücktritt und Schadensersatz eingestellt werden soll“, mit der Begründung verworfen wird, dagegen spreche entscheidend, „dass die Minderung für einzelne Vertragstypen, insbesondere für den Dienstvertrag, als Rechtsbehelf ausgeschlossen bleiben muss“4. Daraus wird von der h. L. gefolgert, dass § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB der Anerkennung eines Minderungsrechts des Gläubigers im Dienstvertragsrecht entgegensteht5. Das trifft zwar im Ansatz durchaus zu, doch ist damit leider wenig gewonnen. Vor allem wird meist verkannt, dass sich die typische Problematik der Minderung als eines von Vertretenmüssen unabhängigen Rechtsbehelfs im Dienstvertragsrecht allenfalls äußerst selten stellt6. Denn weil der Dienstverpflichtete – sei er Arzt, Rechtsanwalt, Detektiv, Dolmetscher, Arbeitnehmer oder was auch immer – in aller Regel bei Auslegung des Dienstvertrages nach §§ 133, 157 BGB lediglich eine fachgerechte, d. h. dem Standard beruflicher Sorgfalt oder gar nur eine seinen eigenen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit verspricht7, ist auch dann, wenn der vom Dienstgläubiger angestrebte, jedoch nicht vertragsgegenständliche Erfolg wie z. B. seine Heilung als Patient, der Gewinn des von ihm angestrengten Prozesses, die Aufklärung eines Verbrechens oder die Herstellung eines verkaufsfähigen Produkts ausbleibt, bei Fehlen eines Vertretenmüssens in aller Regel schon der Tatbestand einer Schlechtleistung nicht erfüllt, so dass kein „Mangel“ vorliegt und aus diesem Grund für eine spezifisch gewährleistungsrechtliche Minderung von vornherein kein Raum besteht. Ein solcher ist bei einer derartigen Fallkonstellation sogar niemals gegeben, wenn man annimmt, dass bei tätigkeits- oder bemühensbezogenen Leistungspflichten mit der Bejahung der Verletzung der Leistungspflicht im Sinne von § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB zugleich die Verletzung einer Sorgfaltspflicht im

__________ 3 So BT-Drucks. 14/6040, S. 189. 4 So BT-Drucks. 14/6040, S. 223. 5 Vgl. Peukert, AcP 205 (2005), 454 ff., 463, 480, 484; Wendehorst, AcP 206 (2006), 275, 278 f.; Otto in Staudinger, 2004, § 326 BGB Rz. B 42 und B 52; Gsell in Soergel, 13. Aufl. 2005, § 326 BGB Rz. 33; Grothe in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 326 BGB Rz. 23; Looschelders, Schuldrecht B.T., 2007, Rz. 582; a. A. Schlechtriem/SchmidtKessel, Schuldrecht A.T., 6. Aufl. 2005, Rz. 556 f.; weitere Nachw. zum Meinungstand bei Tillmanns, Strukturfragen des Dienstvertrags, 2007, S. 386 Fn. 167 f. 6 Besonders pointiert Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2008, § 19 III, wo es geradezu kontradiktorisch heißt: „Anders (!) liegen die Dinge, wenn der Arbeitnehmer die Schlechtleistung zu vertreten hat“; eben das ist aber fast immer der Fall, wenn der Tatbestand einer Schlechtleistung überhaupt erfüllt ist, und daher besteht das wirklich relevante Problem in der Frage, ob auch dann eine Reduzierung bzw. zeitbezogene Verweigerung des Entgelts zulässig ist; ganz unbefriedigend daher insoweit auch Preis in ErfKomm.-ArbR, 7. Aufl. 2006, § 611 BGB Rz. 845; zutreffend demgegenüber Richardi, NZA 2002, 1011. 7 Das kann hier nicht näher ausgeführt werden, entspricht aber der Sache nach der vorherrschenden und zutreffenden Ansicht.

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Sinne von §§ 280 Abs. 1 Satz 2, 276 Abs. 2 BGB feststeht8. Anerkennt man dagegen die Möglichkeit von Fällen, in denen der Dienstverpflichtete zwar eine Leistungspflichtverletzung im Sinne von § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB begangen, gleichwohl aber nicht gegen eine Sorgfaltspflicht im Sinne von § 276 Abs. 2 BGB verstoßen und seine Schlechtleistung auch nicht aus einem anderen Grund wie z. B. wegen der Übernahme des betreffenden Risikos i. S. von § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB zu vertreten hat, so stellt sich in diesem – sehr schmalen – Bereich in der Tat die Frage nach der Möglichkeit einer spezifisch gewährleistungsrechtlichen, d. h. allein auf der Schlechtleistung beruhenden Minderung. Diese ist aufgrund der Vorschrift des § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB und der darin zum Ausdruck kommenden Wertung zweifellos zu verneinen. 2. Die Rechtslage bei zu vertretenden Schlechtleistungen Eine andere Frage ist, ob diese Wertung auch einer Minderung wegen einer vom Dienstnehmer zu vertretenden Schlechtleistung entgegensteht. Dagegen lässt sich zwar anführen, dass diese sich dogmatisch von der spezifisch gewährleistungsrechtlichen Minderung als einem von Vertretenmüssen unabhängigen Rechtsbehelf deutlich unterscheidet, doch stellt auch eine sorgfaltswidrige Dienstleistung eine „nicht vertragsgemäße Leistung“ im Sinne von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB dar, so dass es einer teleologischen Reduktion dieser Regelung bedürfte, um den Weg zur Minderungslösung von § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB wieder zu öffnen. Gegen eine solche spricht, dass dann für die Minderungssperre des § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB kaum noch ein praktischer Anwendungsbereich übrig bliebe. Außerdem sind weder die Vorstellungen und Intentionen der Verfasser des Regierungsentwurfs noch die objektiv-teleologischen Implikationen der Problematik deutlich genug konturiert, um das Urteil zu fundieren, dass die ratio legis von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB auf eine sorgfaltswidrige Dienstleistung nicht passt. In dem Gedanken, bei einer solchen doch auf § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB zurückzugreifen, liegt daher kein überzeugungskräftiger Lösungsansatz. Im Ergebnis ist somit die schon zur Rechtslage vor Inkrafttreten des SMG klar dominierende Ansicht, dass es im Dienstvertragsrecht wegen Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Regelung kein Minderungsrecht gibt9, durch § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB bestätigt und festgeschrieben worden. Dass das Minderungsrecht durch eine Gestaltungserklärung ausgeübt werden muss, während die in § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 441 Abs. 3 BGB angeordnete Minderung ipso iure eintritt, stellt einen so geringfügigen, ja fast nur rechtstechnischen Unterschied dar, dass darin kein triftiges Gegenargument gegen die Sperrwirkung von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB liegt.

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8 So z. B. Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 6. Aufl. 2005, § 20 Rz. 14; im Grundsatz auch St. Lorenz in E. Lorenz (Hrsg.) Karlsruher Forum 2005, 2006, S. 40 und ders., NJW 2005, 1890; ihm folgend und pointiert zuspitzend Wendehorst, AcP 206 (2006), 268; a. A. z. B. Riehm in FS Canaris, 2007, Band I, S. 1090. 9 Vgl. z. B. BGH, NJW 2002, 1521, 1522; 2004, 2817 m. w. N.; a. A. RGZ 113, 264, 269 in Überstrapazierung des Rechtsgedankens von § 654 BGB.

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III. Minderungsähnliche Lösungen Dieses Ergebnis bedeutet jedoch mitnichten, dass dadurch auch jeder andere Weg zu einer minderungsähnlichen Lösung versperrt ist10. Vielmehr ist auch in dieser Hinsicht die Vorschrift des § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB beim Wort zu nehmen, die ja nur den Rückgriff auf § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB ausschließt, den Zugang zu anderen Lösungen dagegen grundsätzlich offen lässt. 1. Die grundsätzliche Unzulässigkeit eines Rücktritts nach §§ 323 Abs. 1, 326 Abs. 5 BGB Zu denken ist insoweit zunächst an einen Rücktritt. Ist die schlecht erbrachte Dienstleistung nachholbar, kommt tatbestandlich ein Vorgehen des Dienstberechtigten nach § 323 Abs. 1 BGB in Betracht, was etwa in dem Schulbeispiel des schlechten Klavier-, Fahr- oder Tennisunterrichts auch von der Interessenlage her als durchaus angemessener Ansatz erscheint. Ist die Leistung nicht nachholbar wie z. B., wenn ein Dolmetscher einen Vortrag miserabel übersetzt hat, gelangt man über § 326 Abs. 5 BGB ebenfalls zu § 323 BGB11. Die dadurch ausgelöste Rückabwicklung nach § 346 BGB würde bei Dienstleistungen zu einem minderungsähnlichen Ergebnis führen12. Indessen steht dem Rückgriff auf § 323 BGB entgegen, dass das Rücktrittsrecht beim Dienstvertrag grundsätzlich durch das Kündigungsrecht nach §§ 626 f. BGB verdrängt wird13. Das gilt nicht nur für einen Gesamtrücktritt vom ganzen Vertrag, sondern folgerichtig auch für den – von § 323 BGB grundsätzlich zugelassenen – Teilrücktritt, der hier allein in Betracht kommen könnte; denn welchen Grund man auch immer für den Vorrang des Kündigungs- gegenüber dem Rücktrittsrecht beim Dienstvertrag für ausschlaggebend hält – er passt auch für den Teilrücktritt. 2. Der Verlust des Vergütungsanspruchs bei Fehlen des Gläubigerinteresses gemäß oder analog § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB Durch den Hinweis auf das Kündigungsrecht rückt zugleich eine weitere Vorschrift ins Blickfeld, die hier grundsätzlich einschlägig ist: Nach § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB steht einem Dienstverpflichteten, der durch „vertragswidriges Verhalten“ eine Kündigung veranlasst hat, ein Anspruch auf die Vergütung insoweit nicht zu, als seine bisherigen Leistungen für den anderen Teil kein Interesse haben.

__________ 10 Nicht überzeugend daher die rigorose Zurückweisung entsprechender Lösungsansätze durch Wendehorst, AcP 206 (2006), 278 f. 11 Ebenso i. E. Medicus, Schuldrecht II, 13. Aufl. 2006, Rz. 324, jedoch ohne Erörterung eines etwaigen Vorrangs der Kündigung (vgl. dazu sogleich im Text); wohl auch Ernst in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 326 BGB Rz. 32. 12 Das wird richtig gesehen von Wendehorst, AcP 206 (2006), 272 f. mit Nachw. 13 Vgl. nur Tillmanns (Fn. 5), S. 397 ff. mit Nachw., die letztlich mit ebenso scharfsinnigen wie komplizierten Überlegungen ebenfalls zum Ausschluss einer Minderungsmöglichkeit im Wege des Teilrücktritts gelangt, vgl. S. 393 ff., 423 f.

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a) Die Unterschiede zwischen der kündigungsrechtlichen Lösung nach § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB und der rücktrittsrechtlichen Lösung nach §§ 323, 326 Abs. 5 BGB Der Rückgriff auf die Regelung des § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB steht nicht etwa in Widerspruch zur Ablehnung der Anwendung von §§ 323, 326 Abs. 5 BGB, da gegenüber dieser (mindestens) zwei wesentliche Unterschiede bestehen. Der erste liegt darin, dass eine Rückabwicklung nach Abs. 5 Satz 2 dieser Vorschrift nur bei „Unerheblichkeit“ der Schlechtleistung ausscheidet und das eine weitaus niedrigere Schwelle als die des Interessewegfalls darstellt. Zum zweiten sind die Voraussetzungen von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB auch insofern enger als die von § 323 Abs. 1 und § 326 Abs. 5 BGB, als das „vertragswidrige Verhalten“ so gravierend sein muss, dass es eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB legitimieren würde, auch wenn der Dienstberechtigte nicht nach dieser Vorschrift, sondern nach § 627 BGB gekündigt hat14. Dieses erschöpft sich also inhaltlich nicht in der bloßen Abweichung von der vertraglichen Leistungspflicht wie bei der „echten“ Minderung und geht erst recht über ein Vertretenmüssen i. S. von § 276 BGB hinaus. Tatbestandlich liegt es auf der Ebene der Leistungs- und nicht der Sorgfaltspflicht15. b) Der Rückgriff auf das Lösungsmodell von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB als angemessener Kompromiss zwischen den Interessen des Dienstberechtigten und des Dienstverpflichteten Damit ist ein Lösungsmodell gefunden, das einen angemessenen Kompromiss zwischen den Interessen beider Parteien erlaubt. Zum einen wird nämlich durch das Erfordernis des Interessewegfalls den Besonderheiten von Dienstleistungen, die bei diesen einer am Vorbild von Kauf-, Werk- oder Mietvertrag orientierten Minderung entgegenstehen16, Rechnung getragen, da man dadurch in weitem Umfang zu ausgesprochen dienstnehmerfreundlichen Ergebnissen gelangt. Hat etwa – um gängige Beispiele aufzugreifen – der Klavier- oder Fahrlehrer schlecht unterrichtet, der Anwalt einen armseligen Schriftsatz verfasst, ohne dass das zum Verlust des Prozesses geführt hat, der Dolmetscher einen Vortrag miserabel übersetzt, diesen aber doch sprachlich irgendwie „über die Runden gebracht“, so erhält er sein volles Entgelt, weil seine Fehlleistung nicht einen solchen Grad erreicht hat, dass seine Tätigkeit für den Dienstberechtigten gänzlich ohne Wert ist. Zum anderen bietet das Kriterium des Interessewegfalls aber auch einen Ansatz, um den Dienstberechtigten wenigstens in den für ihn besonders herben Fällen einer vollständigen Frustration seines Leistungsinteresses zu schützen, sofern die Fehlleistung des Dienstnehmers so gravierend ist, dass sie eine

__________ 14 Vgl. z. B. OLG Brandenburg, NJW-RR 2001, 137, 138; Henssler in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2005, § 628 BGB, Rz. 14; Weidenkaff in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 628 BGB Rz. 4. 15 Vgl. zur Abgrenzung dieser beiden Kategorien oben II.1. a. E. 16 Vgl. zu diesen eingehend unten IV.2.

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außerordentliche Kündigung rechtfertigen würde. Wenn also z. B. ein Arzt durch ein gravierendes „vertragswidriges Verhalten“ i. S. von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB eine Fehldiagnose gestellt hat, kann er für diese kein Honorar verlangen, weil sie dem Patienten nicht das Geringste nützt17, oder wenn ein Rechtsanwalt nach einer verlorenen Instanz durch ein solches Verhalten die Einlegung eines Rechtsmittels versäumt hat und der Prozess in der nächsten Instanz gewonnen worden wäre, verliert er den Honoraranspruch für seine erstinstanzliche Tätigkeit, weil diese nunmehr für den Mandanten jeden Wert eingebüßt hat. Das Gerechtigkeitsgefühl revoltiert geradezu dagegen, dass der Dienstnehmer auch in solch krassen Fällen seinen Entgeltsanspruch behalten soll18. In der Tat ist es ein dringendes Gebot der vertraglichen Austauschgerechtigkeit und des Prinzips der subjektiven Äquivalenz, dem Dienstnehmer hier den Anspruch auf die Gegenleistung zu versagen. Denn seine eigene Leistung ist eben schlichtweg wertlos und entbehrt damit unter Partnern, die Leistungen tauschen (und nicht „milde Gaben“ erwarten oder verteilen), jeglicher Entgeltswürdigkeit; auch wäre es mit dem Austauschgedanken und dem Äquivalenzprinzip unvereinbar, dem Dienstleistungsgläubiger zusätzlich zu dem – ohnehin von ihm zu tragenden – Risiko, dass der angestrebte Erfolg ausbleibt, auch noch das Risiko aufzubürden, dass die Tätigkeit des Dienstverpflichteten wegen eines vertragswidrigen Verhaltens für ihn unbrauchbar ist. Demgemäß genügt hier als wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB19 grundsätzlich der Interessewegfall in Verbindung mit einem gravierenden Vertragsverstoß des Dienstverpflichteten – den der Gläubiger zu beweisen hat, weil es um den Tatbestand der Schlechtleistung geht –, so dass im Regelfall nicht etwa ein qualifiziertes Verschulden vorliegen muss. Ob das Interesse des Dienstberechtigten an der erbrachten Leistung erst durch die Kündigung weggefallen ist, wie der Wortlaut von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB zu fordern scheint, oder ob es schon durch die Schlechtleistung selbst wegge-

__________ 17 Ist sein Handeln medizinisch nicht indiziert – amputiert also z. B. ein Chirurg das falsche Bein oder zieht ein Zahnarzt aufgrund einer sorgfaltswidrigen Fehldiagnose den falschen Zahn –, so ist diese Leistung schon deshalb nicht entgeltspflichtig, weil sie nicht geschuldet war, oder in den Fällen, in denen gerade die Vornahme dieser Maßnahme ausdrücklich Gegenstand der vertraglich vereinbarten Leistungspflicht war wie etwa dann, wenn der Patient aufgrund einer Fehldiagnose in eine Operation eingewilligt hat, doch zumindest deshalb, weil der Arzt den Patienten von diesem Eingriff hätte abraten müssen, so dass er seinen Honoraranspruch nur durch einen zum Schadensersatz verpflichtenden Beratungsfehler erlangt hat und also nach § 249 Abs. 1 i. V. mit § 242 BGB (dolo facit qui petit quod redditurus est) nicht durchsetzen kann; i. E. übereinstimmend, jedoch allein mit Hilfe der schadensersatzrechtlichen Konstruktion, Schütz/Dopheide, VersR 2006, 1443. 18 Wertungsmäßig kaum nachvollziehbar ist die extrem restriktive Rechtsprechung des BGH zur Minderung des Honorars von Rechtsanwälten, der eine solche nur bei Vorliegen von Parteiverrat i. S. von § 356 StGB annimmt, vgl. NJW 2004, 2817, 2818; vgl. ferner BGH, NJW 1963, 1301, 1303; 1981, 1211, 1222. 19 Vgl. zu diesem Erfordernis oben bei und mit Fn. 14.

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fallen war, macht keinen Unterschied. Denn im letzteren Fall ist die Leistung des Dienstverpflichteten erst recht nicht entgeltswürdig. c) Die Notwendigkeit einer Abstimmung zwischen dem Lösungsmodell von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB und dem Rücktrittsrecht Was das Verhältnis zum Rücktrittsrecht nach § 323 Abs. 1, 326 Abs. 5 BGB betrifft, so bedarf dieses in mehrfacher Hinsicht der Präzisierung – und erst durch diese wird das hier vorgeschlagene Lösungsmodell „rund“. Ein erstes Problem ergibt sich dabei daraus, dass die Kündigung nach richtiger Ansicht den Rücktritt nur dann ersetzt, wenn der Dienstvertrag als Dauerschuldverhältnis zu qualifizieren ist. Daher bleibt die Anwendbarkeit von §§ 323 Abs. 1, 326 Abs. 5 BGB bei einem „projektbezogenen“ – im Unterschied zu einem „zeitbezogenen“ – Dienstvertrag grundsätzlich unberührt20, so dass diese Vorschriften bei Dienstverträgen mit einem Arzt, Rechtsanwalt, Architekten, Detektiv oder Dolmetscher durchaus als Grundlage für eine Rückabwicklung herangezogen werden können. Da indessen § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB auch für sie gilt, ist der Rechtsgedanke dieser Vorschrift auf den Rücktritt zu übertragen, so dass er hier eine Sperrwirkung entfaltet. Auch beim – nicht durch das Kündigungsrecht verdrängten – Rücktritt von einem „projektbezogenen“ Dienstvertrag entfällt der Entgeltsanspruch somit nur, wenn die Schlechtleistung als Vertragswidrigkeit im Sinne von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB zu qualifizieren und das Interesse des Dienstberechtigten weggefallen ist, so dass die – wertungsmäßig in der Tat nicht zu legitimierende – Konsequenz einer unterschiedlichen Lösung für „projekt“- und für „zeitbezogene“ Dienstverträge vermieden wird21. Umgekehrt sind gewisse rücktrittsrechtliche Elemente auch im Rahmen der Kündigung anzuerkennen. Demgemäß kann eine Kündigung mit den Folgen des § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB auch noch nach Durchführung des Vertrages erfolgen. Zwar wird im allgemeinen mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass eine Kündigung nach diesem Zeitpunkt nicht mehr in Betracht kommt22, doch kann das folgerichtig zumindest dann nicht gelten, wenn die Kündigung wie hier rücktrittsersetzende Funktion hat und dazu dient, die rechtlichen Konsequenzen aus einer erst nachträglich erkannten Schlechtleistung zu ziehen – nicht anders als beim Rücktritt von einem Kaufvertrag wegen eines nach Übereignung und Übergabe entdeckten Sach- oder Rechtsmangels. Darüber hinaus dürfte die Vorstellung, dass eine Kündigung nach Durchführung des Vertrages ausscheidet, ihren tieferen Grund darin haben, dass sie dann keine sinnvollen Wirkungen mehr zu entfalten vermag – und genau das trifft nicht zu, wenn sie wie im Falle von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB der Beseiti-

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20 Überzeugend Wendehorst, AcP 206 (2006), 274 f. 21 Zu einer solchen gelangt jedoch Wendehorst, AcP 206 (2006), 272 f. einerseits und 278 f. anderseits, die indessen die Problematik von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht thematisiert. 22 Vgl. aus jüngerer Zeit, jedoch jeweils ohne Begründung, etwa BGH, NJW 2004, 2817; Wendehorst, AcP 206 (2006), 275; Schütz/Dopheide, VersR 2006, 1441.

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gung der Entgeltspflicht dient. Im übrigen wäre es auch vom Ergebnis her ganz unbefriedigend, danach zu differenzieren, ob der Dienstberechtigte die Schlechtleistung zufällig noch während der Vertragsdurchführung oder erst nach deren Beendigung erkannt hat, und also z. B. die Möglichkeit zur Kündigung eines Arztvertrages abzulehnen, wenn der Patient den Fehler des Arztes erst nach dem Ende der Behandlung bemerkt23. Folgerichtig ist ferner eine Teilkündigung zuzulassen, da grundsätzlich auch ein Teilrücktritt zulässig wäre und diese Gestaltungsmöglichkeit nicht einfach nur deshalb wegfallen darf, weil der Rücktritt durch die Kündigung verdrängt wird. Daher kann z. B. ein Arbeitgeber sich im Wege der Teilkündigung von seiner Pflicht zur Entgeltzahlung befreien, soweit die Leistung des Arbeitnehmers aufgrund ihrer als Vertragswidrigkeit zu qualifizierenden24 Fehlerhaftigkeit für ihn ohne Interesse ist. Ob dabei die Sonderregeln über die Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers bei betrieblich veranlassten Tätigkeiten eingreifen25, kann hier nicht erörtert werden, weil die dafür erforderliche Einbeziehung der arbeitsrechtlichen Implikationen den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen würde. Schließlich sollte man bei nachholbaren Leistungen wie etwa einer vom Lehrer „verpatzten“ Klavier-, Fahr- oder Tennisstunde auch das Fristsetzungserfordernis des § 326 Abs. 1 BGB im Wege der Analogie auf das Kündigungsrecht übertragen. Zwar kann der Dienstberechtigte keine Wiederholung der Leistung verlangen, weil das mit der Versagung eines Minderungsrechts durch § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB unvereinbar wäre und er dann überdies mehr erhielte als geschuldet, doch darf deswegen dem Schuldner nicht die durch § 323 Abs. 1 BGB eröffnete Möglichkeit der „zweiten Andienung“ genommen werden26, bevor der Gläubiger die Konsequenz einer Kündigung des Vertrages zieht oder von diesem (soweit zulässig) zurücktritt. 3. Die grundsätzliche Unzulässigkeit einer schadensersatzrechtlichen Minderungslösung Ähnliche Ergebnisse wie mit Hilfe des Rechtsbehelfs der Minderung kann man mit Hilfe des Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung nach §§ 280 Abs. 3, 281, 283 BGB erreichen. Eine schadensersatzrechtliche Minderungslösung ergibt sich nämlich dann, wenn man den Mindestschaden des Dienstberechtigten darin sieht, dass „ihm die geldwerten Dienste nicht erbracht wer-

__________ 23 So aber Schütz/Dopheide, VersR 2006, 1441; ebenso für den Anwaltsvertrag BGH, NJW 2004, 2817. 24 Zu dem dabei anzulegenden Maßstab vgl. z. B. Richardi, NZA 2002, 1011; Peukert AcP 205 (2005), 462; Servatius, JURA 2005, 841 m. w. N. 25 Verneinend Richardi, NZA 2002, 1011; beiläufig auch Weidenkaff (Fn. 14), § 611 BGB Rz. 156; beiläufig bejahend dagegen z. B. Edenfeld in Erman, 12. Aufl. 2008, § 611 BGB Rz. 408 a. E. 26 Das scheint Wendehorst, AcP 206 (2006), 264 f., 267 f., 281 bei ihrer Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit des Fristsetzungsmodells im Dienstleistungsrecht zu verkennen.

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den“, und dessen Höhe nach dem marktüblichen Preis für derartige Dienste bestimmt27. Dieser Ansatz ist zwar schadensersatzrechtlich konsistent, da dabei an die Stelle der Leistung ihr marktübliches Äquivalent in Geld gesetzt wird – nicht anders als wenn statt einer Sache ihr Marktpreis geschuldet wird; auch lassen sich die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn die Leistung nicht gänzlich wertlos ist und dem Dienstgeber daher ein Vorteil verbleibt, überwinden – notfalls im Wege der Schätzung nach § 287 ZPO28. Jedoch erscheint dieses Vorgehen gewährleistungsrechtlich als unzulässig, weil dadurch die Sperre des § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB unterlaufen würde; denn mit dieser ist es nicht vereinbar, dass der Dienstnehmer sein Entgelt schon deshalb (ganz oder teilweise) verliert, weil er seine Schlechtleistung zu vertreten hat29. Zumindest aber steht die aus § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB folgende Sperre im Wege, weil man mit einer derartigen schadensersatzrechtlichen Lösung entgegen dem aus dieser Vorschrift zu ziehenden Umkehrschluss auch dann zu einem Entgeltsverlust käme, wenn das Interesse des Gläubigers an der Leistung nicht (vollständig) weggefallen ist.

IV. Dogmatische und teleologische Einordnung der dienstvertraglichen Minderungsproblematik 1. Das Bestehen einer „schwachen“ Form der Minderung beim Dienstvertrag bei funktionaler Sicht Blickt man zurück, so zeigt sich, dass es funktional gesehen – allerdings nur funktional und nicht auch dogmatisch gesehen – auch im Dienstvertragsrecht eine „schwache“ Form der Minderung gibt. Diese setzt in doppelter Abweichung von der „echten“ gewährleistungsrechtlichen Minderung sowohl voraus, dass die Schlechtleistung auf einem vertragswidrigen, zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigenden Verhalten des Schuldners beruht, als auch, dass das Interesse des Gläubigers an der Leistung weggefallen ist30. Hier gilt somit die verhältnismäßig hohe Schwelle des Interessewegfalls, wie sie sich auch in §§ 281 Abs. 1 Satz 2, 323 Abs. 5 Satz 1 BGB findet, während der

__________ 27 So BGH, NJW-RR 1988, 420 f. im Anschluss an Beuthien, BB 1973, 92, allerdings für einen Fall quantitativer, nicht qualitativer Teilunmöglichkeit; ähnlich BGH, NJW 1990, 2549, 2550; vgl. ferner z. B. Peukert, AcP 205 (2005), 461 f. m. w. Nachw. 28 Vgl. BGH, NJW 1990, 2549, 2550. 29 Vgl. oben II.2. 30 Die Skepsis von Wendehorst, AcP 206 (2006), 279 ff., gegenüber dem Problemlösungspotential der lex lata dürfte durch das hier entwickelte keineswegs „freihändige“, sondern ziemlich dicht am Gesetz bleibende Modell weitgehend entkräftet sein; denn die Hauptbedenken von Wendehorst, dass trotz Schlechtleistung des Dienstverpflichteten der vom Dienstberechtigen angestrebte Erfolg erreicht werden kann oder dass dieser auch bei vertragskonformer Leistung verfehlt worden wäre (vgl. a. a. O. S. 276 f.), sind vom hier vertretenen Standpunkt aus ausgeräumt, weil in derartigen Fällen die Leistung des Dienstverpflichteten eben nicht ohne Interesse für den Dienstberechtigten ist.

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Gläubiger bei der kauf- und der werkvertraglichen Minderung nach §§ 441 Abs. 1 Satz 2, 638 Abs. 1 Satz 2 BGB – übrigens in befremdlichem Gegensatz zur mietrechtlichen Minderung nach § 536 Abs. 1 Satz 3 BGB – nicht einmal die Schwelle der Erheblichkeit von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB zu überwinden braucht. Es ist zu wünschen, dass der Gesetzgeber die hier herausgearbeitete – im Grunde ja ziemlich einfache – Lösung gelegentlich klarstellend in das BGB aufnimmt. Denn dadurch würde deren argumentativ aufwändige Herleitung aus der Sperre des § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB und/oder aus dem Umkehrschluss zur Regelung bzw. aus dem Rechtsgedanken von § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB überflüssig gemacht und also die Rechtsfindung von vermeidbarem Ballast und der damit zwangsläufig verbundenen Rechtsunsicherheit entlastet. 2. Die möglichen Gründe für die Sonderbehandlung der Minderung im Dienstvertragsrecht Was die Gründe gegen die Anerkennung einer „echten“ Minderung beim Dienstvertrag angeht, so sind diese nicht leicht zu benennen. Ohne jede Überzeugungskraft ist vor allem das gängige Argument, beim Dienstvertrag schulde der Schuldner keinen Erfolg, sondern nur eine Tätigkeit. Denn in Betracht zu ziehen ist eine Minderung natürlich mitnichten wegen Ausbleibens des erwünschten, wenngleich eben nicht vertragsgegenständlichen Erfolges, sondern allenfalls wegen der Minderwertigkeit dieser Tätigkeit selbst31, die sich aus ihrer Abweichung von der Leistungspflicht ergibt32. Auch die These, die Fehlerlosigkeit der Leistung stünde nach dem Willen der Parteien nicht im konditionellen Synallagma33, geht fehl – zum einen schon deshalb, weil sie eine petitio principii darstellt, und zum anderen auch deshalb, weil der Dienstverpflichtete ja zweifellos eine pflichtgemäße und in diesem Sinne mangelfreie Tätigkeit schuldet, so dass eine mit §§ 433 Abs. 1 Satz 2, 633 Abs. 1 BGB vergleichbare Grundlage durchaus vorhanden ist34. Nicht aufrecht zu erhalten ist vor dem Hintergrund der „Sperre“ von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB schließlich die zum vorhergehenden Rechtszustand entwickelte Ansicht, dass das Leistungsdefizit des Dienstverpflichteten dann, wenn dieser es nicht im Sinne von § 276 BGB zu vertreten hat, grundsätzlich dem Organisations- und Betriebsrisiko des Dienstberechtigten zuzuordnen ist35. Daraus ergäbe sich nämlich folgerichtig die Konsequenz, dass bei Verträgen mit selbständigen Dienstnehmern oder zumindest mit freiberuflichen Unternehmern wie Ärzten, Rechtsanwälten, Architekten usw. im Regelfall eine gewährleistungsrechtliche Minderung zulässig sein müsste, und das ist mit § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zu vereinbaren, so erwägenswert eine solche Lösung de lege ferenda auch sein mag.

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Nicht konsistent daher Peukert, AcP 205 (2005), 458 ff. Vgl. oben II.1. So Peukert, AcP 205 (2005), 461. Verfehlt daher insoweit Peukert, AcP 205 (2005), 481. So Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 63 II 4; ein ähnlicher Ansatz findet sich jüngst bei Tillmanns (Fn. 5), S. 406 ff.

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Demgemäß lässt sich der Ausschluss einer Minderung im „starken“ Sinne nicht auf den typischen Parteiwillen stützen oder aus dem Gebot der Austauschgerechtigkeit erklären, sondern nur als mehr oder weniger kontingente Regelung des positiven Rechts hinnehmen und respektieren. Für diese dürfte es eine Rolle spielen, dass der Wert einer schlechten Dienstleistung weitaus schwerer zu ermitteln ist als der Wert einer mangelhaften Kauf- oder Mietsache oder eines mangelhaften Werkes36 und also ungleich häufiger bzw. auf wesentlich unsichereren Grundlagen als dort im Wege der Schätzung ermittelt werden müsste – es sei denn, der Wert beträgt wegen Wegfalls des Gläubigerinteresses null. Außerdem beunruhigt in der Tat die Schwierigkeit, dass der vom Gläubiger angestrebte Erfolg entweder trotz der Schlechtleistung erreicht worden sein kann oder auch bei korrekter Leistung nicht erreicht worden wäre37 – der Anwalt gewinnt den Prozess trotz indiskutabel schlechter Schriftsätze bzw. hätte ihn auch bei pflichtgemäß guten Schriftsätzen verloren –, zwei Eventualitäten, die ebenfalls nur bei Anwendung des Kriteriums des Wegfalls des Gläubigerinteresses nicht relevant werden. Das aus § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB zu entwickelnde Lösungsmodell des geltenden Rechts, in dessen Mittelpunkt ja der Wegfall des Gläubigerinteresses steht, ist somit keineswegs ohne Vernunft oder gar ohne teleologische Konsistenz, aber es könnte durchaus auch anders – nämlich weitaus weniger schuldnerfreundlich – aussehen, vor allem, soweit es um Schlechtleistungen von selbständigen Dienstverpflichten geht. 3. Die Problematik der Minderung als Figur des allgemeinen Leistungsstörungsrechts Die Regelung des § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB ist ihrem Wortlaut nach nicht auf den Ausschluss der Minderung beim Dienstvertrag beschränkt. Allerdings hat den Verfassern des Gesetzes ersichtlich nur diese Problematik einigermaßen klar vor Augen gestanden, doch genügt das nicht, um § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB in dem Sinne teleologisch zu reduzieren, dass bei allen Verträgen, die keinen dienstrechtlichen Charakter haben, eine Minderung auch ohne eine entsprechende Grundlage im Gesetz zulässig ist. Gegen eine solche teleologische Reduktion spricht vor allem, dass die Gründe für den Ausschluss einer „echten“ Minderung wie soeben dargelegt schwer greifbar sind, wodurch die Basis für eine teleologisch fundierte Rechtsfortbildung sehr schwach ist. Für die – bisher soweit ersichtlich wenig geklärte – Frage, ob sich der Rechtsbehelf der „echten“ Minderung für das „innere“ System des Gesetzes als eine Figur des Allgemeinen Leistungsstörungsrechts verstehen oder zumindest zu einer solchen im Wege der Rechtsfortbildung praeter legem ausbauen lässt, obwohl er in dessen „äußerem“ System, also den §§ 323 ff. BGB fehlt, bedeutet

__________ 36 Darauf abstellend z. B. Larenz, Schuldrecht II/1, 13. Aufl. 1986, § 52 II a; Schlechtriem, Schuldrecht B.T., 6. Aufl. 2006, Rz. 377 mit Fn. 53; vertiefend und weiterführend Tillmanns (Fn. 5), S. 402 ff.; kritisch Wendehorst, AcP 206 (2006), 276. 37 Darauf abstellend Wendehorst, AcP 206 (2006), 276 f.

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dies, dass hier erhebliche Skepsis angezeigt ist. Das System des geltenden Rechts kann nämlich nicht so verstanden werden, dass die Vorschriften über die Minderung Ausdruck eines verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedankens sind und nur für das Dienstvertragsrecht durch eine Ausnahme durchbrochen werden, sondern es beruht vielmehr auf einem fragilen Zusammenspiel zwischen der in § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB enthaltenen grundsätzlichen – wenngleich teleologisch nur schwach fundierten – Absage an einen allgemeinen Rechtsbehelf der Minderung einerseits und einer Reihe von – teleologisch durchweg gut fundierten – Minderungsvorschriften andererseits. Die Konsequenz daraus ist, dass diese zwar im Wege von Analogien ausgebaut werden dürfen und man dabei nicht allzu viel Rücksicht auf die Sperre von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB zu nehmen braucht, dass solche Analogien aber auch erforderlich sind, um eine „ungeschriebene“ Minderungsmöglichkeit zu begründen38. Außerdem ist auch die Möglichkeit im Auge zu behalten, das Lösungsmodell der „schwachen“ dienstvertragsrechtlichen Minderung auf andere Vertragstypen zu übertragen und eine solche also immerhin dann zuzulassen, wenn der Schuldner eine Vertragswidrigkeit begangen hat, die zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigen würde, und dadurch das Interesse des Gläubigers an der Leistung weggefallen ist. Das dürfte sich in der Regel auf eine Analogie zu oder ein argumentum a fortiori aus § 281 Abs. 1 Satz 2 BGB stützen lassen, da § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB insoweit keine Sperrwirkung entfaltet, ist aber ebenfalls für jeden Vertragstypus gesondert zu klären. Insgesamt handelt es sich somit nicht nur im Hinblick auf das äußere, sondern auch im Hinblick auf das „innere“ System des Gesetzes um eine Problematik des Besonderen Schuldrechts. Diese zu vertiefen, würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags überschreiten. Immerhin sei abschließend als Beleg dafür, dass der Rechtsbehelf der Minderung auch dort, wo der Rückgriff auf ihn zunächst scheinbar nahe liegt, keineswegs immer angemessen ist, auf das Beispiel des Gesellschaftsrechts hingewiesen. Hat sich z. B. ein Mitglied einer Personengesellschaft im Gesellschaftsvertrag (u. a.) zur Einbringung eines Grundstücks verpflichtet und ist dieses wegen Verseuchung, Unzulässigkeit der Nutzung zu gewerblichen Zwecken oder dgl. für die Gesellschaft unbrauchbar, so könnte man auf den ersten Blick meinen, dass die übrigen Gesellschafter darauf analog §§ 434, 441 BGB (auch) mit einer Minderung ihrer eigenen Beitragsleistungen (jedenfalls sofern diese auf Geld gerichtet sind) reagieren können, doch wäre diese Konsequenz gänzlich verfehlt39, weil durch ein solches Vorgehen das Vermögen der Gesellschaft verringert würde, ja sogar ihre Aktionsmöglichkeiten beeinträchtigt werden könnten, so dass dieses Vorgehen mit der Pflicht zur Förderung des

__________ 38 Anders Peukert, AcP 205 (2005), 480 ff., der allgemeine Kriterien für die Zulässigkeit einer Minderung zu entwickeln versucht, jedoch nicht zu einem überzeugungskräftigen Lösungsmodell gelangt, weil er die Leistungsfähigkeit des konditionellen Synallagmas weit überschätzt und teilweise sogar fehlinterpretiert, vgl. dazu im Text bei und nach Fn. 33. 39 Es wird denn auch allgemein als unzulässig angesehen, vgl. nur Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 706 BGB Rz. 27.

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gemeinsamen Zwecks nach § 705 BGB unvereinbar ist. Immerhin bricht sich die Durchschlagskraft des – auf dem Prinzip der subjektiven Äquivalenz beruhenden – Grundgedankens der Minderung dann doch wieder in dem Vorschlag Bahn, der Mangelhaftigkeit der Leistung des einbringungspflichtigen Gesellschafters (zwar nicht durch die Herabsetzung der Beitragspflichten der anderen Gesellschafter im Wege der Minderung, aber doch) durch eine proportionale Veränderung seiner Beteiligung am Ergebnis der Gesellschaft Rechnung zu tragen40.

V. Die Unterscheidung und Abgrenzung von Schlechtleistung und teilweiser Nichtleistung Die Regelung von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB und damit auch die darin enthaltene Sperre gegenüber einem Anspruch auf Minderung gelten nur für die Fälle der „nicht vertragsgemäßen Leistung“, während für die Fälle einer „Teilleistung“ in § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB die entsprechende Anwendung der Minderungsregelung von § 441 Abs. 3 BGB angeordnet wird. Das Gesetz unterscheidet also zwischen einer „nicht vertragsgemäßen Leistung“ und einer „Teilleistung“. Es liegt nahe, daraus zu schließen, dass die Minderungssperre des § 323 Abs. 1 Satz 2 BGB auf die „nicht vertragsgemäße Leistung“ beschränkt ist und dass also bei einer „Teilleistung“ die Möglichkeit einer Minderung nach §§ 323 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 441 Abs. 3 BGB unberührt bleibt. Sollte sich diese Hypothese als zutreffend erweisen, ergäbe sich die Notwendigkeit einer tatbestandlichen Präzisierung der Abgrenzung zwischen „nicht vertragsgemäßer Leistung“ und „Teilleistung“. 1. Die Unzulässigkeit einer Analogie zu §§ 434 Abs. 3 BGB, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB Nach §§ 434 Abs. 3 BGB, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB steht es einem Sachmangel gleich, wenn der Schuldner eine andere als die geschuldete Sache oder eine zu geringe Menge leistet. Diese Regelungen machen in ihrem Anwendungsbereich die Unterscheidung zwischen „nicht vertragsgemäßer Leistung“ – womit vor allem der Sachmangel gemeint ist – einerseits und Falsch- sowie Minderleistung andererseits überflüssig. Sollten sie den Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens darstellen und dieser auch für das Dienstvertragsrecht tragfähig sein, so wäre die soeben herausgearbeitete Unterscheidungs- und Abgrenzungsnotwendigkeit obsolet oder allenfalls für Sonderfälle relevant und die Minderungssperre von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht nur in den Fällen der Schlecht-, sondern auch in denen der Teilleistung von Diensten anzuwenden. Demgemäß bedarf die Problematik einer Analogie zu den §§ 434 Abs. 3 BGB, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB einer näheren Erörterung.

__________ 40 So Hüttemann in Dauner-Lieb u. a. (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 694; kritisch dazu, aber im hier relevanten Punkt gleichwohl i. E. übereinstimmend z. B. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2004, § 105 HGB Rz. 187 a. E.

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a) Die Unanwendbarkeit der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB Die Problematik einer Analogie zu den §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB wird vom allem im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB viel diskutiert. Diese Vorschrift unterscheidet danach, ob der Schuldner eine „Teilleistung“ bewirkt oder die Leistung „nicht vertragsgemäß“ bewirkt hat. Für die erste Konstellation macht Satz 1 die Möglichkeit eines Rücktritts vom ganzen Vertrag, also auch von der erbrachten Teilleistung, von der verhältnismäßig hohen Schwelle abhängig, dass der Gläubiger an dieser „kein Interesse“ hat, für die zweite Konstellation dagegen in Satz 2 nur von der weitaus niedrigeren Schwelle, dass die Pflichtverletzung des Schuldners „nicht unerheblich“ ist. Eine „Teilleistung“ liegt vor, wenn die Leistung quantitativ unvollständig ist, „nicht vertragsgemäß“ ist sie vor allem dann, wenn sie einen Sachmangel aufweist. Nun ist aus der Gleichstellung von Sachmangel und Minderleistung in §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB in der Regierungsbegründung geschlossen worden, dass eine mengenmäßige Minderleistung nicht unter Satz 1, sondern unter Satz 2 von § 323 Abs. 5 BGB fällt41, so dass der Gläubiger hier für einen Rücktritt nicht die Schwelle von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB, sondern nur die weitaus niedrigere Schwelle von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB zu überwinden braucht. Nach Protest aus den Reihen der „Kommission Leistungsstörungsrecht“42 hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags diese Äußerung in der Regierungsbegründung zurückgewiesen und die Klärung der Frage der Rechtsprechung überlassen43. Eine Vorgabe des „historischen“ Gesetzgebers gibt es somit nicht44. Daraus hat sich eine der heftigsten Kontroversen zum neuen Leistungsstörungsrecht entwickelt: Während zahlreiche Autoren die in § 434 Abs. 3 BGB angeordnete Gleichstellung der mengenmäßigen Minderleistung – auch Mankoleistung genannt – entsprechend dem systematischen Standort dieser Bestimmung auf die spezifisch gewährleistungsrechtlichen Folgen beschränken45, übertragen andere sie auf § 323 Abs. 5 BGB und damit in das all-

__________ 41 42 43 44

Vgl. BT-Drucks. 14/6040, S. 187. Vgl. Canaris, ZRP 2001, 334. Vgl. BT-Drucks. 14/7052, S. 185 (zum Parallelproblem im Rahmen von § 281 BGB). Unrichtig daher Müller/Mathes, AcP 204 (2004), 734, die eine Abweichung von der in der Regierungsbegründung geäußerten Ansicht als unzulässiges Contra-legem-Judizieren qualifizieren. 45 Vgl. Canaris, in ders. (Hrsg.), Schuldrechtsmodernisierung 2002, 2002, S. XXII f.; Grigoleit/Riehm, ZGS 2002, 115 ff.: Westermann, NJW 2002, 246; Kindl, WM 2002, 1320 f.; Windel, Jura 2003, 296 f.; Thier, AcP 203 (2003), 425 ff.; St. Lorenz (Fn. 8), S. 113; Heiderhoff/Skamel, JZ 2006, 388 f.; Grüneberg in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 323 BGB Rz. 24; Weidenkaff (Fn. 14), § 437 BGB Rz. 22; Stadler in Jauernig, 12. Aufl. 2007, § 323 Rz. 19; Westermann/Weber/Bydlinski, BGB Schuldrecht Allg. Teil, 6. Aufl. 2007, Rz. 7/56.

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gemeine Leistungsstörungsrecht46. Stellt sich z. B. heraus, dass der Verkäufer statt der geschuldeten 100 Flaschen Wein nur 80 geliefert hat und liefert er die fehlenden 20 trotz Fristsetzung gemäß § 323 Abs. 1 BGB nicht nach, so kann der Käufer nach der erstgenannten Ansicht vom ganzen Vertrag nur dann zurücktreten und also die erhaltenen 80 Flaschen zurückgeben, wenn er an diesen kein Interesse hat – etwa weil er für eine Einladung 100 Flaschen braucht und die fehlenden 20 Flaschen nicht anderwärts zum gleichen Preis unschwer nachkaufen kann –, während er nach der Gegenansicht auch bei Fehlen dieser Voraussetzung grundsätzlich das Recht zum Gesamtrücktritt hat, weil ein Defizit von 20 Flaschen nicht „unerheblich“ i. S. von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB ist. Angesichts des Fehlens einer Vorgabe des „historischen“ Gesetzgebers müssen – vorbehaltlich des alsbald noch zu erörternden Zusatz- und Sonderproblems der richtlinienkonformen Rechtsfindung – objektiv-teleologische und systematische Gesichtpunkte den Ausschlag geben. Gegen die Anwendung von §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB spricht dabei von vornherein mit großem Gewicht, dass diese zu einem weitgehenden Verlust des praktischen Hauptanwendungsbereichs der Vorschrift führen würde. Dann wäre nämlich für das Kauf- und das Werkvertragsrecht und damit für diejenigen Gebiete, in denen die Lieferung einer zu geringen Menge vor allem eine Rolle spielt, grundsätzlich nicht die Schwelle von Satz 1, sondern diejenige von Satz 2 maßgeblich. Das aber hätte die widersinnige Konsequenz, dass der Gesetzgeber in § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB eine Vorschrift als Regel geschaffen hätte, die er für ihre wichtigsten Anwendungsfälle als solche alsbald wieder außer Kraft setzt, und darin läge überdies eine weitgehende faktische Derogation von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB, die anerkanntermaßen grundsätzlich ein unzulässiges Contra-legem-Judizieren darstellt. Außerdem widerspricht die Anwendung von §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB der Grundtendenz des SMG, Besonderheiten des Gewährleistungsrechts so weit wie möglich zurückzudrängen und in das allgemeine Leistungsstörungsrecht aufzulösen; denn sie führt ja dazu, dass nun in dieses genau umgekehrt Regelungen des Besonderen Schuldrechts eindringen und die Einheitlichkeit des Lösungsmodells von § 323 Abs. 5 BGB sprengen47. Schließlich und nicht zuletzt spricht gegen die Gleichstellung der zu geringen Leistung mit dem Sachmangel im Rahmen von 323 Abs. 5 BGB, dass diese hier vollständig andere Auswirkungen als im Rahmen des Gewährleistungsrechts hat. Dort begünstigt sie nämlich vor allem den Verkäufer bzw. Werkunterneh-

__________ 46 Vgl. – bei erheblichen Divergenzen im Einzelnen – Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, Kap. 3 Rz. 164 und Kap. 5 Rz. 40; Otto (Fn. 5), § 323 BGB Rz. C 8; Ernst (Fn. 5), § 323 BGB Rz. 216 a. E.; Gsell (Fn. 5) § 323 BGB Rz. 203 f., 222; Grunewald in Erman, 12. Aufl. 2008, § 434 BGB Rz. 62; Dauner-Lieb in AnwKomBGB, 2. Aufl. 2007, § 323 BGB Rz. 40. 47 Der korrekte Argumentationsgang wird daher geradezu auf den Kopf gestellt, wenn Gsell (Fn. 5), § 323 BGB Rz. 203 behauptet, die Nichtanwendung von § 434 Abs. 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB widerspreche der mit der Schuldrechtsmodernisierung beabsichtigten Integration der Sachmängelgewährleistung ins allgemeine Leistungsstörungsrecht.

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mer, also den Schuldner der Sachleistung, indem sie u. a. die Anwendbarkeit der kurzen Verjährungsfrist der §§ 438, 634a BGB nach sich zieht, hier dagegen begünstigt sie genau umgekehrt den Käufer bzw. Besteller, also den Gläubiger der Sachleistung, indem sie die Schwelle für dessen Rücktritt absenkt – was die Anhänger dieser Ansicht nicht zu bemerken scheinen, geschweige denn teleologisch legitimieren. Damit hängt eng zusammen, dass die Anwendung der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB zu untragbaren Wertungswidersprüchen führen würde. So kommt sie z. B. bei der „offenen“ Minderleistung von vornherein nicht in Betracht48, also dann, wenn der Schuldner erkennbar nicht die Gesamtleistung, sondern nur eine Teilleistung erbringen will49, weil dann die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB tatbestandlich ohnehin nicht einschlägig sind50. Bleibt nun die restliche Leistung (trotz Fristablaufs) aus, so kann der Gläubiger nach § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an der erbrachten Teilleistung kein Interesse hat. Warum soll er demgegenüber bei der „verdeckten“ Minderleistung, also dann, wenn diese nach §§ 133, 157 BGB als Versuch einer Vollleistung zu interpretieren ist, unabhängig von dieser Voraussetzung zurücktreten können und also besser stehen, obwohl er doch glauben musste, die volle Leistung erhalten zu haben, und warum soll der Schuldner hier schlechter stehen, obwohl er doch glauben durfte, die volle Leistung erbracht zu haben?! Ähnlich ungereimt ist es, danach zu differenzieren, ob die Leistung uno actu oder in mehreren Teilen – also z. B. in Raten – erfolgen sollte51; zwar sind die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im letzteren Fall wiederum tatbestandlich nicht einschlägig und können daher auch nicht im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB herangezogen werden, doch bleibt auch hier rätselhaft, worin die teleologische Legitimation dieser Differenzierung liegen soll. Entsprechendes gilt schließlich, wenn die Teile ungleichartig sind, also etwa die Gebrauchsanweisung oder der Greifarm zu einer Maschine fehlt; hier kann man nicht von der Lieferung einer „zu geringen Menge“ i. S. der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB sprechen, so dass diese Vorschriften von vornherein unanwendbar sind52 und § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB daher mit Selbstverständlichkeit eingreift53, doch ist ganz unerfindlich, warum es bei gleichartigen Teilleistungen insoweit anders liegen und die höhere Schwelle von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB

__________ 48 Folgerichtig Otto (Fn. 5), § 323 BGB Rz. C 8; ähnlich Ernst (Fn. 11), § 323 BGB Rz. 216; Gsell (Fn. 5), § 323 BGB Rz. 204. 49 Genauer gesprochen: wenn es bei einer Auslegung seines Verhaltens nach §§ 133, 157 BGB an der Setzung einer Gesamttilgungsbestimmung fehlt, vgl. zu diesem Erfordernis näher Canaris, in E. Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2002, 2003, S. 66 ff.; St. Lorenz (Fn. 8), S. 113; Westermann in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 434 BGB Rz. 39. 50 Das wird im vorliegenden Zusammenhang mitunter verkannt oder zumindest nicht thematisiert, vgl. z. B. Huber/Faust (Fn. 40), Kap. 3 Rz. 164 und Kap. 5 Rz. 40. 51 So aber Gsell (Fn. 5), § 323 BGB Rz. 204; ähnlich Ernst (Fn. 11), § 323 BGB Rz. 204. 52 Vgl. nur Faust in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 434 BGB Rz. 112. 53 Sofern ein Gesamtrücktritt nicht ohnehin schon wegen Unteilbarkeit der Leistung zulässig ist.

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nun plötzlich durch die niedrigere von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB ersetzt werden soll, obwohl doch die Unterscheidung zwischen gleichartigen und ungleichartigen Teilleistungen für die Frage nach der angemessenen Schwelle offenkundig ohne Relevanz ist. Soweit § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB bei Anwendung der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB überhaupt noch einen praktischen Anwendungsbereich im Kauf- und Werkvertragsrecht hätte, würde diese folglich zu untragbaren Wertungswidersprüchen führen. Zusammenfassend ergibt die Analyse der Problematik somit, dass die Anwendung der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht ernsthaft in Betracht kommt. Das gilt schon deshalb, weil sie eine doppelte Spaltung und damit die Zerstörung des Lösungsmodells von § 323 Abs. 5 BGB zur Folge hätte: Sie würde zum ersten zu einer Differenzierung zwischen Kauf- und Werkverträgen einerseits und allen übrigen Verträgen andererseits führen, die in § 323 Abs. 5 BGB in keiner Weise angelegt ist und auch sonst jeder Plausibilität entbehrt; und sie zöge zum zweiten – was noch weitaus gravierender ist – innerhalb des Kauf- und Werkvertragsrechts völlig ungereimte Differenzierungen nach sich, weil die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB in wichtigen Konstellationen von vornherein tatbestandlich nicht einschlägig und daher auch im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB nicht anwendbar sind, andererseits aber die daraus zwangsläufig folgenden Differenzierungen sich für die vorliegende Problematik nicht einsichtig machen lassen. Darüber hinaus handelt es sich bei der These, dass die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB anzuwenden seien, geradezu um ein Musterbeispiel eines teleologisch unfundierten Rechtsdenkens. Dieses wirkt umso anachronistischer, als die Anhänger dieser Position nicht einmal den Versuch einer teleologischen Legitimierung machen, ja in deren Fehlen kein Defizit zu erblicken scheinen, sondern offenbar unter Verkennung der „Relativität der Rechtsbegriffe“ schlicht von der verfehlten Prämisse ausgehen, ein und derselbe Störungstatbestand sei grundsätzlich für die verschiedenen Regelungen, von denen er erfasst wird, gleich zu qualifizieren. Allerdings mag hinter der Ansicht, dass die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB anzuwenden seien, unausgesprochen das Bemühen stehen, die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Quantitäts- und Qualitätsmängeln auch hier gegenstandslos zu machen54 und so der ratio legis der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB auch im vorliegenden Zusammenhang Rechnung zu tragen. Indessen ist dieses Ziel nur im Gewährleistungsrecht ohne Friktionen zu erreichen, kollidiert dagegen im allgemeinen Leistungsstörungsrecht mit dem weitaus gewichtigeren gegenläufigen Bestreben, durch eine Anhebung der Rücktrittsschwelle unnötige Rückabwicklungslasten und -kosten zu vermeiden, weil bei bloßen Quantitätsdefiziten das Gläubigerinteresse typischerweise teilbar ist55, und ist überdies unvereinbar

__________ 54 Freilich ist davon in der Regierungsbegründung, auf die diese Ansicht zurückgeht, nicht einmal andeutungsweise die Rede, vgl. BT-Drucks. 14/6040, S. 187. 55 Zutreffend Grigoleit/Riehm, ZGS 2002, 120.

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mit der entgegengesetzten, weil gläubiger- statt schuldnerfreundlichen Schutztendenz von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB. Demgemäß hat es sein Bewenden dabei, dass bei der Lieferung oder Herstellung einer zu geringen Menge zwar die spezifisch gewährleistungsrechtlichen Vorschriften, insbesondere also die §§ 438, 634a BGB anzuwenden sind, nicht aber die Rücktrittsschwelle von § 323 Abs. 5 Satz 1 BGB durch die niedrigere Schwelle von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB zu ersetzen ist56. In dem oben gegebenen Beispiel kann der Käufer daher vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an den erhaltenen 80 Flaschen kein Interesse hat. Zum selben Ergebnis müssten die Anhänger der Gegenansicht kommen, sofern sie für die Anwendung von § 434 Abs. 3 BGB das Vorliegen einer Tilgungsbestimmung hinsichtlich der ganzen Leistung fordern57 und dieses hier verneinen, was letztlich eine Frage des Einzelfalles ist. Die Anwendung von § 434 Abs. 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB lässt sich auch nicht auf ein Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfindung stützen58. Allerdings darf das Recht zur Auflösung des Vertrages dem Käufer nach Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf nur bei einer „geringfügigen Vertragswidrigkeit“ versagt werden. Die Richtlinie regelt jedoch die quantitative Minderleistung gar nicht. Das ergibt sich klar aus Art. 3 Abs. 2, wonach der Verbraucher bei Vertragswidrigkeit „entweder Anspruch auf die unentgeltliche Herstellung des vertragsgemäßen Zustandes des Verbrauchsgutes durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung … oder auf angemessene Minderung des Kaufpreises oder auf Vertragsauflösung“ hat. Denn Nachbesserung und Ersatzlieferung kommen nur bei einem Mangel in Betracht, während beim Ausbleiben einer Teilleistung mit Selbstverständlichkeit deren Nachlieferung geschuldet wird, von der in der Richtlinie nirgendwo die Rede ist und auf die auch die Beschreibung der „Vertragsmäßigkeit“ des Verbrauchsgutes in Art. 2 Abs. 2 RL in keiner Weise passt. Dass die RL sich teilweise erkennbar an das UN-Kaufrecht anlehnt, bestätigt diese Sichtweise, da in Art. 35 Abs. 1 CISG die Menge ausdrücklich der Qualität gleichgestellt wird und eine entsprechende Bestimmung in der RL eben fehlt. Sollte aufgrund einer Entscheidung des EuGH die Erstreckung der niedrigen Rücktrittsschwelle von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB auf die quantitative Minderleistung erforderlich werden, wäre diese im Wege einer „gespaltenen“ Auslegung auf den Verbrauchsgüterkauf zu beschränken. Denn eine solche extrem käuferfreundliche Handhabung von § 323 Abs. 5 BGB könnte ihre teleologische Legitimation allenfalls im Gedanken des Verbraucherschutzes finden und lässt sich daher weder auf Verträge mit Unternehmern als Käufern noch auf solche von Privatleuten als Verkäufern übertragen.

__________ 56 Warum es dadurch zu einem „Durcheinander der Rechtsbehelfe“ kommen soll (so Dauner-Lieb – Fn. 46 – § 323 Rz. 40), ist unerfindlich. 57 Vgl. dazu bei und mit Fn. 49. 58 Ebenso Grigoleit/Riehm, ZGS 2002, 121; i. E. auch Müller/Mathes, AcP 204 (2004), 749 f., 754; a. A. offenbar Gsell (Fn. 5), § 323 BGB Rz. 205; Dauner-Lieb (Fn. 46), § 323 BGB Rz. 39.

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b) Die Unanwendbarkeit der §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB Manche Anhänger der Analogie zu den §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB erstrecken diese auf die Sperre von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB59 und ebnen dadurch auch die dort statuierte Unterscheidung zwischen „Teilleistung“ und „nicht vertragsgemäßer Leistung“ weitgehend ein. Damit sind wir wieder beim unmittelbaren Gegenstand dieses Beitrags, weil dann eine Abgrenzung der „nicht vertragsgemäßen Leistung“ von der „Teilleistung“ im Rahmen von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB und damit für die in dieser Vorschrift liegende Minderungssperre kaum noch praktische Bedeutung hätte. Folgt man indessen der soeben ausführlich begründeten Ansicht, wonach eine Analogie zu den §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB nicht in Betracht kommt, scheidet eine solche folgerichtig auch und erst recht im Rahmen von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB aus; denn nach dieser Ansicht ist der Anwendungsbereich dieser Vorschriften entsprechend ihrem Standort im „äußeren“ System des Gesetzes ja auf das Gewährleistungsrecht des Besonderen Schuldrechts zu beschränken und kann nicht auf das Allgemeine Leistungsstörungsrecht und damit auf § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB ebenso wenig wie auf § 323 Abs. 5 BGB erstreckt werden. Aber auch vom Boden der Gegenansicht aus, welche die Analogie im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB befürwortet, lässt diese sich in Wahrheit nicht auf § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB übertragen. Die Rechtslage ist hier nämlich noch komplexer als dort: Im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB sollen die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB zwar vom Gewährleistungs- auf das Allgemeine Leistungsstörungsrecht erstreckt, aber immerhin wenigstens nur auf Kauf- und Werkverträge angewendet werden, wie das ihrem unmittelbaren Geltungsbereich entspricht. Im Rahmen von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB soll die Analogie dagegen über diese beiden Vertragstypen hinaus auf Verträge aller Art, also insbesondere auch auf Dienstverträge ausgedehnt werden60. Damit hat die Analogie hier noch viel tiefgreifendere Folgen als im Rahmen von § 323 Abs. 5 BGB. Denn es soll nicht nur die Teilleistung dem Sachmangel gleichgestellt werden, sondern es sollen außerdem auch noch die §§ 434 Abs. 3, 633 Abs. 2 Satz 3 BGB grundsätzlich über Kauf- und Werkverträge hinaus auf Verträge aller Art ausgedehnt werden. Damit wird die Unterscheidung zwischen der Teil- und der Schlechtleistung, die der Gesetzgeber in § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB einerseits und § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB andererseits ausdrücklich statuiert hat, im Kern vollständig zerstört und die Möglichkeit der Minderung bei der Teilleistung jedenfalls für die praktisch besonders wichtigen Fälle, in denen eine wirksame Leistungsbestimmung vorliegt61, zunichte gemacht, obwohl der Gesetzgeber sie in § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB durch die Verweisung auf § 441 Abs. 3 BGB aus-

__________ 59 Vgl. z. B. Servatius, JURA 2005, 840; Gsell (Fn. 5), § 326 BGB Rz. 26 a. E. m. w. N. 60 So unmissverständlich z. B. Servatius, JURA 2005, 840; Gsell (Fn. 5), § 326 BGB Rz. 26 a. E. mw.N. 61 Vgl. zu dieser Einschränkung oben bei und mit Fn. 49.

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drücklich eröffnet hat. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Umgang mit dem Gesetz ein unzulässiges Contra-legem-Judizieren darstellen würde. 2. Die Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Defiziten Natürlich ist auch eine „Teilleistung“ i. S. von § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB nicht vertragsgemäß. Wenn das Gesetz also in § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB der „Teilleistung“ die „nicht vertragsgemäße Leistung“ gegenüberstellt, muss es diesen Ausdruck in einem engeren Sinne meinen. Wie insbesondere aus § 323 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 2 BGB zu erkennen ist, versteht es unter dem letzteren Terminus einen Mangel i. S. des Gewährleistungsrechts. Man kann daher sagen, dass es bei der „Teilleistung“ um ein quantitatives Defizit, bei der „nicht vertragsgemäßen Leistung“ um ein qualitatives Defizit geht. Für die Problematik der Minderung beim Dienstvertrag bedeutet das z. B., dass eine Teilleistung vorliegt und also Minderung des Entgelts nach §§ 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 441 Abs. 3 BGB möglich ist, wenn der Geschäftsführer einer GmbH statt der geschuldeten fünf Tage pro Woche nur drei Tage für diese tätig ist (und die anderen Tage für einen Dritten)62, oder wenn ein Detektiv einen falschen Ort überwacht und seine Tätigkeit daher für den Auftraggeber wertlos ist63. Gleiches gilt etwa, wenn ein Arbeitnehmer eine – vertraglich nicht vorgesehene – Kaffeepause einlegt oder seinen Arbeitsplatz für einen Einkauf vorübergehend verlässt (und zwar nach §§ 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 441 Abs. 3 Satz 2 BGB wohl auch, wenn die Pflichtverletzung „unerheblich“ i. S. von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB ist); „bummelt“ der Arbeitnehmer dagegen oder produziert er fehlerhafte Gegenstände, so handelt es sich um eine Schlechtleistung, so dass die Minderungssperre des § 326 Abs. 2 Satz 2 BGB eingreift. Eine Vertiefung dieses Teils der Problematik und eine genaue Justierung der Abgrenzung zwischen „Teilleistung“ i. S. von § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB und „nicht vertragsgemäßer Leistung“ i. S. von § 326 Abs. 1 Satz 2 BGB gehören indessen nicht zu den Zielen dieses Beitrags64.

__________ 62 Ebenso zum früheren Recht BGH, NJW-RR 1988, 420. 63 Ebenso zum früheren Recht BGH, NJW 1990, 2549, 2550. 64 Vertiefend und weiterführend Tillmanns (Fn. 5), S. 414 ff.

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Der Compliancebeauftragte – unternehmensinternes Aktienamt, Unternehmensbeauftragter oder einfacher Angestellter? –

Inhaltsübersicht I. Einleitung und Fragestellung II. Aufgaben einer Compliancefunktion III. Rechtsstellung des Compliancebeauftragten 1. Vorgaben der Richtlinie und der Verordnung 2. Vergleich mit anderen Unternehmensbeauftragten 3. Das Wirksamkeits- und Unabhängigkeitsgebot in § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG 4. Aktienrechtliche Wertungen a) Umfassende Leitungsbefugnis des Vorstandes b) Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats 5. Schlussfolgerung

IV. Einzelfragen 1. Weisungsfreiheit des Compliancebeauftragten? a) Rechtmäßige und rechtswidrige Weisungen des Vorstandes b) Weisungen durch nachgelagerte Führungskräfte (Bereichsleiter) 2. Kündigungsschutz und Abberufung 3. Berichts- und Meldepflichten V. Zum Konzept des Unternehmensbeauftragten 1. Ist der Compliancebeauftragte ein Unternehmensbeauftragter? 2. Rechtspolitische Würdigung des Konzepts des Unternehmensbeauftragten VI. Zusammenfassung in Thesen

I. Einleitung und Fragestellung Kaum ein anderer Gesellschaftsrechtler hat die gesellschaftsrechtliche Diskussion der letzten Jahrzehnte so maßgeblich geprägt wie Karsten Schmidt. Neben der Institutionenbildung und Grundsatzfragen ging es dem Jubilar immer wieder auch um die Begleitung aktueller Entwicklungen. Von einer jüngeren Neuerung im Grenzbereich von Kapitalmarkt- und Aktienrecht soll der nachfolgende Beitrag handeln. Seit der Umsetzung der Richtlinie über Finanzdienstleistungsmärkte (MiFID)1 durch das FRUG2 werden Wertpapierdienst-

__________ 1 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. Nr. L 145 v. 30.4.2004. 2 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (2004/39/ EG, MiFID) und der Durchführungsrichtlinie (2006/73/EG) der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz [FRUG]) v. 16.7.2007, BGBl. I 2007, 1330 v. 19.7.2007.

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leistungsunternehmen i. S. d. § 2 Abs. 4, § 2a WpHG verpflichtet, eine Compliancefunktion zu schaffen. Dies ist nichts revolutionär Neues, bestand doch bereits auf Basis des alten § 33 Abs. 1 WpHG die Pflicht, eine Complianceabteilung einzurichten3. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Verpflichtung zur Benennung eines Compliancebeauftragten (§ 12 Abs. 4 Satz 1 WpDVerVO)4. Er hat, um es in einem Satz zusammenzufassen, die Complianceabteilung zu leiten und die Einhaltung der Vorgaben des WpHG zu überwachen und gegebenenfalls dafür zu sorgen, dass Gesetzesverstöße abgestellt werden. Seine Rechtsstellung – auch im Vergleich zu anderen Unternehmensbeauftragten wie dem Geldwäsche-, dem Immissionsschutz- oder dem Datenschutzbeauftragten5 – wurde bisher wenig beleuchtet6. Soweit das Wertpapierdienstleistungsunternehmen – wie in aller Regel – als Aktiengesellschaft organisiert ist7, stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit des Compliancebeauftragten. Aus der Frühzeit des Aktienrechts, als der Übergang vom Konzessions- zum Normativsystem vollzogen wurde, ist die Forderung nach einen Aktienamt als staatliche Behörde bekannt geworden8. Es sollte u. a. darüber wachen, dass sich die Aktiengesellschaften gesetzeskonform verhalten. Gedacht war damals an eine Kontrolle der Einhaltung der Gründungs- sowie der Rechnungslegungsvorschriften, später auch der Publizitätsvorschriften. Derartige Forderungen haben sich für alle Aktiengesellschaften bekanntlich nicht durchgesetzt9, wenngleich mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eine sektorale Aufsichtsbehörde entstanden ist. Ist den Befürwortern eines Aktienamtes mit dem Compliancebeauftragten, der die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften bei Finanzdienstleistungsunternehmen überwachen soll, nun ein

__________ 3 Zur Organisationspflicht auf Grundlage des § 33 Abs. 1 WpHG a. F. vgl. etwa Eisele in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 109 Rz. 92 ff.; Koller in Assmann/Schneider, WpHG, 4. Aufl. 2007, § 33 WpHG Rz. 34 ff. 4 § 12 Abs. 4 Satz 1 Wertpapierdienstleistungs-,Verhaltens- und Organisationsverordnung (WpDVerOV) lautet: „Das Wertpapierdienstleistungsunternehmen muss einen Compliance-Beauftragten benennen, der für die Compliance-Funktion sowie die Berichte an die Geschäftsleitung und das Aufsichtsorgan nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 des Wertpapierhandelsgesetzes verantwortlich ist.“ 5 Vgl. näher zur Figur des Unternehmensbeauftragten Rehbinder, ZGR 1989, 305, 314 ff.; ders., ZHR 165 (2001), 1, 8 ff.; Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69 ff.; sowie monographisch Haouache, Unternehmensbeauftragte und Gesellschaftsrecht der AG und GmbH, 2003, S. 24 ff. 6 Erste Stellungnahmen vor allem bei Veil, WM 2008, 1093, 1095 ff.; Spindler, WM 2008, 905, 909 ff.; Lösler, WM 2008, 1098, 1100 ff. 7 Wertpapierdienstleistungsunternehmen in anderen Rechtsformen, insbesondere der GmbH, bleiben in der folgenden Darstellung außer Betracht. 8 Vgl. exemplarisch Wachtel in Verhandlungen des 11. DJT, 1873, S. 111; Wagner, Referat über Actiengesellschaftswesen, in Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. IV, Leipzig 1874, S. 56. 9 Zusammenfassend Richter, Die Sicherung der aktienrechtlichen Publizität durch ein Aktienamt, 1975, S. 245 ff.

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später, sektoral und sachlich begrenzter Siegeszug gelungen? Ist der Compliancebeauftragte mit anderen Worten ein unternehmensinternes Aktienamt, das in erster Linie – oder gar allein – dem öffentlichen Interesse verpflichtet ist? Hierauf will der nachfolgende Beitrag eine Antwort gegeben und dabei auch der Frage nachspüren, wie sich die Kompetenzen des Compliancebeauftragten zur umfassenden Leitungsbefugnis des Vorstandes (§ 76 AktG) und der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats (§ 111 AktG) verhalten. Nach einer Analyse der Aufgaben (sub II.) und der Rechtsstellung des Compliancebeauftragten (dazu III.) sollen diese Fragestellungen am Beispiel des Weisungsrechts des Vorstands gegenüber dem Compliancebeauftragten sowie dessen Kündbarkeit verdeutlicht werden, bevor zu fragen ist, ob der Compliancebeauftragte Gesetzesverstöße nur dem Vorstand oder auch der BaFin zu melden hat (sub IV.). Schließlich will die Untersuchung auch dazu beitragen, den Compliancebeauftragten mit dem Geldwäschebeauftragten, dem Datenschutzbeauftragen und weiteren sog. Unternehmensbeauftragten zu vergleichen. Sie schließt mit der Frage, ob es rechtspolitisch sinnvoll ist, mit Unternehmensbeauftragten, die dem öffentlichen Interesse verpflichtet sind, Aufgaben der staatlichen Aufsicht in die Unternehmen zu verlagern (vgl. V.).

II. Aufgaben einer Compliancefunktion Will man sich der Rechtsstellung des Compliancebeauftragten nähern, muss man sich zunächst die Aufgaben der Complianceabteilung – oder wie das Gesetz es nunmehr nennt – der Compliancefunktion vor Augen führen. § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG formuliert geradezu apodiktisch, dass die Compliancefunktion sicherstellen soll, dass das Wertpapierdienstleistungsunternehmen selbst und seine Mitarbeiter den Verpflichtungen des Wertpapierhandelsgesetzes nachkommen. Auch die WpDVerOV enthält keine Legaldefinition des Begriffs Compliance. Versucht man den schillernden Begriff der Compliance zu systematisieren, so sind drei Teilbereiche auszumachen. In materieller Hinsicht bedeutet Compliance nichts weiter als den bereits seit Jahrhunderten tradierten Grundsatz, dass geltendes Recht – sei es vom Gesetzgeber gesetzt oder als sog. Softlaw von der Wirtschaft selbst geschaffen – beachtet werden muss. § 33 WpHG und § 12 WpDVerOV begrenzen diese Befolgungspflicht auf die Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes. Daneben rückt zunehmend ein formeller Compliancebegriff in den Vordergrund. Hierunter sind all solche Normen zu subsumieren, die den Finanzdienstleister dazu anhalten, Vorrichtungen zu schaffen, die die Einhaltung von Gesetz und Satzung sicherstellen. Mit anderen Worten handelt es sich um Organisationsrecht, das Strukturen schafft, die neben das betriebsinterne Controlling, das Risikomanagement und die Überwachung durch den Aufsichtsrat treten. Zwischen dem formellen und dem materiellen Compliancebegriff stehen so genannte Vorfeldtatbestände. Hierbei handelt es sich um Normen, die auf die Einhaltung anderer gesetzlicher Vorschriften abzielen. Exemplarisch sei auf 201

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die in § 15b WpHG statuierte Pflicht zur Führung eines Insiderverzeichnisses verwiesen10. Versucht man sich der Funktion der Complianceabteilung weniger von der begrifflichen Seite, sondern mehr von ihren Aufgaben her zu nähern, so fällt bereits nach einem flüchtigen Blick in die Spezialliteratur zur Compliance auf, dass ein bunter Strauß gebunden wird11. Zu nennen sind in erster Linie die Gewährung von Reputationsschutz und Schadensprävention, eine Beratungsund Informationsfunktion sowie eine Überwachungs- und Frühwarnfunktion. Daneben werden auch allgemeine Aufgaben wie Risikomanagement oder die Qualitätssicherungs- und Innovationsfunktion genannt, die in Wirklichkeit aber Aufgaben des von der Complianceabteilung zu unterscheidenden Risikocontrollings bzw. der Innenrevision sind. Zumindest im Bereich der Wertpapierdienstleistungsunternehmen liegt der Schwerpunkt auf der Überwachungsfunktion. Compliance hat die Aufgabe, die Einhaltung der Vorgaben des WpHG zu kontrollieren. Dies kann und muss repressiv erfolgen, daneben besteht aber die Pflicht zur präventiven Vermeidung von Gesetzesverstößen durch Schaffung organisatorischer Strukturen wie sog. Vertraulichkeitsbereiche (im Jargon der Complianceszene gerne auch als Chinese Walls bezeichnet). Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Information und Beratung zu einem gesetzeskonformen Verhalten. Versucht man also die Aufgabe einer Complianceabteilung in einem Wertpapierdienstleistungsunternehmen in einem Satz zusammenzufassen, so kann man formulieren, dass sie das Unternehmen fortlaufend auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu kontrollieren hat und daneben bereits durch wirksame präventive Maßnahmen potentielle Verstöße zu vermeiden hat. Die Compliancefunktion stellt also ein institutionalisiertes Kontrollverfahren dar12.

III. Rechtsstellung des Compliancebeauftragten 1. Vorgaben der Richtlinie und der Verordnung § 12 Abs. 4 Satz 1 WpDVerOV setzt eine Vorgabe in Art. 6 Abs. 3 lit. b Durchführungsrichtlinie zur MiFID13 um, die fordert, dass ein Compliancebeauftragter benannt wird, der für die Compliancefunktion und die Berichte an die Geschäftsleitung verantwortlich ist. Weitere Anforderungen an den Compliance-

__________ 10 Vgl. dazu statt aller etwa Sethe in Assmann/Schneider (Fn. 3), § 15b WpHG Rz. 2 ff., 26 ff.; monographisch etwa v. Neumann-Cosel, Die Reichweite des Insiderverzeichnisses nach § 15b WpHG, 2008. 11 Vgl. exemplarisch Hauschka in Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance, 2007, § 1 Rz. 7; Lösler, NZG 2005, 104; Eisele (Fn. 3), § 109 Rz. 4. 12 Röh, BB 2008, 398, 400; Veil, WM 2008, 1093, 1096. 13 Durchführungsrichtlinie 2006/73/EG der Kommission zur Durchführung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die organisatorischen Anforderungen an Wertpapierfirmen und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit sowie in Bezug auf die Definition bestimmter Begriffe für die Zwecke der genannten Richtlinie v. 10.8.2006, ABl. L 241/26 v. 2.9.2006.

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beauftragten findet man nicht, insbesondere stellt die Vorschrift keine Anforderungen an die Unabhängigkeit des Compliancebeauftragten gegenüber dem Unternehmensinteresse und dem Vorstand auf. Vielmehr sind entsprechende Vorschläge im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens des Art. 6 DVO MiFID fallen gelassen worden14. Damit spricht eine historische Auslegung gegen eine unabhängige Stellung des Compliancebeauftragten. Für die Annahme einer überschießenden Regelung in § 33 Abs. 1 WpHG ist ebenfalls kein Raum, da sich der deutsche Gesetzgeber zur 1:1-Umsetzung, die derzeit politisch en vogue scheint, bekannt hat15. Auch finden sich im Wortlaut des § 12 WpDVerOV keine auf eine unabhängige Stellung hindeutenden Anhaltspunkte. Vielmehr deutet die Formulierung, dass ein Compliancebeauftragter zu benennen und nicht zu bestellen ist, darauf hin, dass es sich nicht um ein besonderes Amt handelt, dass unabhängig auszugestalten ist16. Es besteht deshalb zu Recht Einigkeit, dass der Compliancebeauftragte zumindest kein Organ der Aktiengesellschaft ist17. Allerdings spricht § 12 Abs. 2 WpDVerOV davon, dass Compliance auch die Aufgabe habe, der BaFin eine effektive Ausübung ihrer Aufsicht zu ermöglichen. Aber auch diese Anforderung ist nicht als Einfallstor für eine öffentliche Funktion der Compliancefunktion zu betrachten. Vielmehr wird nur zum Ausdruck gebracht, dass sich das Unternehmen so zu organisieren hat, dass die BaFin ihren Aufgaben nachkommen kann18. Wie dies geschieht, ist aber gerade dem Organisationsermessen des Unternehmens anheim gestellt. Mittelbar deutet diese Vorschrift vielmehr an, dass die Aufsicht im Interesse der Allgemeinheit gerade von der Organisation des Unternehmens und der Verpflichtung zur Schaffung eines Compliancebeauftragten getrennt ist. Eine janusköpfige Doppelfunktion des Compliancebeauftragten, wie sie namentlich von Veil vertreten wird19, der mit einer Gesichtshälfte auf das Unternehmensinteresse schaut und mit der anderen dem öffentlichen Interesse – insbesondere dem Kundeninteresse – verpflichtet ist, ließe sich somit nur aus dem telos des in § 33 Abs. 1 WpHG enthaltenen Wirksamkeits- und des Unabhän-

__________ 14 Vgl. Veil, WM 2008, 1093, 1097 unter Hinweis auf Harm, Compliance bei Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Emittenten von Finanzinstrumenten, Diss. Hamburg, im Erscheinen 2008, 2. Kapitel, Abschnitt G I 1c. 15 RegE FRUG, BT-Drucks. 16/4028, S. 52 (li. Sp.). 16 Zutreffend Lösler, WM 2008, 1098, 1101. 17 Statt aller zum Compliancebeauftragten Veil, WM 2008, 1093, 1096 f.; allg. für Unternehmensbeauftragte Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 71, 77, der zu Recht darauf hinweist, dass trotz der öffentlich-rechtlichen Pflicht zur Bestellung eines Unternehmensbeauftragten zwischen ihm und dem Unternehmen allein eine privatrechtliche Beziehung bestehe; ebenso Rehbinder, ZGR 1989, 305, 318, 321, 338, der aber von einem „anderen Organ der Unternehmensverfassung“ spricht, ohne damit aber auf den allgemeinen Organbegriff zurückzugreifen; zu letzterem nunmehr ausführlich Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, speziell zum Unternehmensbeauftragten S. 224 f. 18 Ähnlich Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 71 allg. zum Konzept des Unternehmensbeauftragten. 19 Veil, WM 2008, 1093, 1097.

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gigkeitserfordernisses (sub 3.) oder dem Vergleich mit anderen vorhandenen Unternehmensbeauftragten (s. sogleich unter 2.) herleiten. 2. Vergleich mit anderen Unternehmensbeauftragten Funktional am nächsten steht der Compliancebeauftragte dem Geldwäschebeauftragten, der nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 GwG den Strafverfolgungsbehörden und den zur Bekämpfung der Geldwäsche zuständigen Behörden als Ansprechpartner zur Verfügung stehen muss. Aber auch insoweit enthält das Gesetz keine Vorgaben hinsichtlich Unabhängigkeit, Unkündbarkeit oder einer Weisungsfreiheit gegenüber dem Vorstand. § 9 Abs. 2 Nr. 1 GwG fordert vielmehr nur, dass der Geldwäschebeauftragte dem Vorstand unmittelbar nachgeordnet sein muss. Demgegenüber schreibt § 4f Abs. 3 Satz 2 BDSG für den Datenschutzbeauftragten ausdrücklich vor, dass dieser seine Aufgabe für den Datenschutz weisungsunabhängig ausübt. Damit wird zumindest mittelbar eine unabhängige Funktion des Datenschutzbeauftragten zum Ausdruck gebracht. Die für den Datenschutz zuständige Aufsichtsbehörde kann gem. § 4f Abs. 3 Satz 4 BDSG sogar seine Abberufung verlangen. Diese Regelung dürfte wie die entsprechende Vorschrift in § 55 Abs. 2 Satz 2 BImSchG in erster Linie darauf abzielen, solche Beauftragte auszutauschen, die nicht über die erforderliche Sachkunde für ihre Aufgaben verfügen. Allein für den Betriebsbeauftragten für Immissionsschutz ordnet § 58 Abs. 2 BImSchG ausdrücklich einen Kündigungsschutz an. Vergleichbare Regelungen finden sich für den Compliancebeauftragten nicht. Dieser kursorische Überblick zu den Regeln anderer Unternehmensbeauftragter zeigt im Wege eines funktionalen Vergleichs, dass § 12 WpDVerOV keinerlei Vorgaben enthält, die in Richtung einer unabhängigen Stellung zu deuten sind. Im Gegenteil zeigen übergreifende Untersuchungen zu Unternehmensbzw. zum Betriebsbeauftragten, dass es sich bei diesen seit den 1970er Jahren verbreiteten Instituten nicht um betriebsinterne Aufpasser der Behörde oder gar um Staatskommissare handelt, sie also nicht mit öffentlichen Aufgaben betraut, sondern vielmehr Hilfsorgane der Unternehmensleitung sind, die öffentliche Pflichten an ihrer Stelle erfüllen (Repräsentanten) oder auf deren Erfüllung hinwirken bzw. sie fördern sollen20. Ob der Compliancebeauftragte als Unternehmensbeauftragter zu verorten ist, soll im abschließenden Abschnitt dieser Untersuchung ebenso wie die Frage geklärt werden, ob es überhaupt ein einheitliches Konzept des Unternehmensbeauftragten gibt und wie diese Tendenzen rechtspolitisch zu bewerten sind (sub V.).

__________ 20 Vgl. insbesondere Rehbinder, ZGR 1989, 305, 312 f., 318; ähnlich Haouache (Fn. 5), S. 24 ff., insbes. S. 44 f.

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3. Das Wirksamkeits- und Unabhängigkeitsgebot in § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG Aus der Vorgabe in § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG folgt ein Dreiklang hinsichtlich der Ausgestaltung der Compliancefunktion: sie muss unabhängig, wirksam und dauerhaft ausgestaltet sein. Mit dem Unabhängigkeitserfordernis ist aber noch nicht ausgesagt, dass die Complianceabteilung auch ein öffentliches Interesse verfolgt. Der Begriff der Unabhängigkeit ist vielmehr zunächst wie der gesamte § 33 WpHG organisationsrechtlich auszulegen. Damit soll zuvörderst zum Ausdruck gebracht werden, dass die Compliancefunktion organisatorisch zu verselbständigen ist. Hierin kommt auch eine Unabhängigkeit gegenüber den einzelnen operativen Unternehmensabteilungen zum Ausdruck, nicht aber zwingend gegenüber dem Vorstand. Vielmehr steht das Verbot der Teilnahme am operativen Geschäft in § 12 Abs. 4 Satz 3 WpDVerOV pars pro toto für das Unabhängigkeitserfordernis. Es soll dem Compliancebeauftragten und seiner Abteilung also die Möglichkeit gegeben werden, ihre Kontrollaufgabe wahrzunehmen. Eine Aufgabe im öffentlichen Interesse ist damit aber noch nicht gegeben. Auch das Wirksamkeitserfordernis zwingt nicht zur Annahme einer Weisungsfreiheit gegenüber dem Vorstand im öffentlichen Interesse. Das Wirksamkeitsgebot ist als Verpflichtung zu interpretieren, der Compliancefunktion Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Wie eine optimale Compliancestruktur aufgebaut und ausgestaltet wird, bleibt dem Unternehmen selbst überlassen und ist Bestandteil seiner Organisationsautonomie, die in der Grundstruktur zu der Leitungsaufgabe des Vorstands zählt21. Letzteres wird auf internationaler Ebene auch von dem Basel Committee on Banking Supervison und von der IOSCO betont22. Diese Aussage leitet unmittelbar zu den aktienrechtlichen Wertungen über. 4. Aktienrechtliche Wertungen a) Umfassende Leitungsbefugnis des Vorstandes § 76 AktG weist dem Vorstand bekanntlich seit 193723 die Leitungsverantwortung zu. Die Verpflichtung zur Schaffung einer reibungslosen Unternehmensstruktur, die dazu beiträgt, Gesetzesverstöße zu vermeiden bzw. aufzudecken und abzustellen, hat man als Ausfluss der Leitungsverantwortung, die mit einer unentziehbaren Leitungspflicht korrespondiert, einzuordnen. Sie ist Teil

__________ 21 Vgl. etwa Spindler, WM 2008, 905, 909. 22 Basel Committee on Banking Supervision: Compliance and the compliance function in banks, 2005, principle one, www.bis.org/publ/bcbs113.pdf; ähnlich The International Organization of Securities Commissions (IOSCO), Compliance Function at Market Intermediaries, Final Report, 2006, www.iosco.org/library/pubdocs/pdf/ IOSCOPD214.pdf, S. 10 f. 23 Der Vorgänger zu § 76 AktG 1965 befand sich in § 70 AktG 1937.

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der operativen Kontrollfunktion des Vorstandes24. Zwar kann an dieser Stelle die Frage, ob und inwieweit jede Aktiengesellschaft jenseits des § 33 WpHG eine Verpflichtung zur Einrichtung einer Compliancefunktion oder gar eines Compliancebeauftragten trifft25, nicht beantwortet werden. Man kann jedoch festhalten, dass sie, soweit man eine solche Pflicht bejaht bzw. sie wie in § 33 Abs. 1 WpHG gesetzlich vorgegeben werden sollte, aufgrund ihrer gesteigerten Bedeutung in ihren Grundzügen Teil der Leistungsaufgabe des Vorstands ist26. § 33 Abs. 1 Satz 3 WpHG enthält gerade keine näheren Anforderungen wie die Compliancefunktion im Einzelnen auszugestalten ist, vielmehr wird auf Art, Umfang, Komplexität und die Risikostruktur des jeweiligen Wertpapierdienstleistungsunternehmens verwiesen. Demgegenüber ist die konkrete Durchführung der Complianceaufgabe, also die Beratung der Mitarbeiter, die Überwachung und die Aufklärung von Gesetzesverstößen, eine delegierbare Aufgabe. Aus gesellschafts- aber auch aus kapitalmarktrechtlicher Sicht stellt die Verpflichtung zur Einrichtung einer Compliancefunktion und zur Benennung eines Compliancebeauftragten keine Einschränkung der Leitungsbefugnis des Vorstandes dar, sondern enthält lediglich die Verpflichtung, die konkrete Durchführung der Compliance auf eine dem Vorstand nachgelagerte Ebene zu delegieren. Der Vorstand trägt aber für die Einrichtung und die Durchführung der Compliance letztlich weiterhin die Verantwortung. b) Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats Rückt man die Überwachungsaufgabe der Compliancefunktion in den Vordergrund, so ist auch das Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Compliancebeauftragtem erklärungsbedürftig. Das Gesetz gibt insoweit in § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG allein vor, dass der Compliancebeauftragte neben dem Vorstand in regelmäßigen Abständen auch dem Aufsichtsrat berichtet. Überschneidungen zur Kontrollfunktion des Aufsichtsrats ergeben sich beim näheren Hinsehen aber nicht. Der Compliancebeauftragte ist kein kleiner Aufsichtsrat27. Dem Aufsichtsrat obliegt nach § 111 AktG vielmehr im Rahmen seiner allgemeinen Überwachungsaufgabe die Kontrolle, ob der Vorstand eine wirksame Compliancefunktion geschaffen hat. Um dies zu überprüfen und um kontrollieren zu können, ob die Compliancefunktion auch hinreichend effek-

__________ 24 Näher zum typologisch zu bestimmenden Leitungsbegriff vgl. etwa Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 76 AktG Rz. 16, 18, der ebenfalls unter Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Erkenntnisse die Organisation des Unternehmens der Leitungsaufgabe zuweist. 25 Ausführlich dazu jüngst Bachmann in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 65, 67 ff. 26 Ausführlich Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, 2003, S. 138 ff. 27 Und umgekehrt ist der Aufsichtsrat kein „Super-Compliance-Organ“, vgl. Bachmann (Fn. 25), S. 92 f., 101.

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tiv arbeitet28, sieht das WpHG regelmäßige gemeinsame Berichte an Vorstand und Aufsichtsrat vor29. Demgegenüber ist die Kontrollaufgabe des Compliancebeauftragten eine begrenzte. Er ist allein für die Überwachung des gesetzeskonformen Verhaltens verantwortlich. Eine weitergehende Überwachungsaufgabe hinsichtlich der Leitungsfunktion des Vorstandes steht dem Compliancebeauftragten gerade nicht zu. Besonders deutlich zeigt sich das Verhältnis zwischen Compliancebeauftragtem und Aufsichtsrat dann, wenn der Vorstand selbst in Gesetzesverstöße verwickelt ist, wie es die Fälle VW und Siemens in jüngerer Vergangenheit eindrücklich gelehrt haben. Grundsätzlich ist die Compliancefunktion dem Vorstand nachgeordnet, wie jede andere Betriebsabteilung auch. Jenseits der gemeinsamen Sitzung mit dem Aufsichtsrat (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG) kann sich der Compliancebeauftragte regelmäßig nicht unmittelbar an den Aufsichtsrat wenden, etwa wenn ihm die Verhinderung oder Verfolgung von Gesetzesverstößen im Einzelfall nicht sachgerecht erscheint30. Ist der Vorstand hingegen selbst involviert, hat der Compliancebeauftragte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, den Aufsichtsrat zu informieren, damit dieser geeignete Maßnahmen bis hin zu Abberufung des Vorstandes ergreifen kann. Aber auch diese Pflicht ist nicht Ausdruck einer öffentlichen Pflichtenstellung des Compliancebeauftragten, sondern Ausfluss seiner Verpflichtung, im wohlverstandenen Unternehmensinteresse zu handeln31. Deckt der Compliancebeauftragte Gesetzesverstöße im Unternehmen auf, so muss er diese grundsätzlich über die jeweiligen Hierarchiestufen (ggf. bis zum Vorstand) im Wege der sog. Eskalationspflicht zur Anzeige bringen32. Ist der Vorstand als letzte Instanz einer derartigen Eskalationspflicht hingegen selbst betroffen, so muss der Compliancebeauftragte den Aufsichtsrat als nächste Instanz und allgemeines Kontrollgremium informieren. Eine Information der Aktionäre als Eigentümer käme nur dann in Betracht, wenn neben dem Vorstand auch der Aufsichtsrat involviert ist. Insoweit müsste man ein Vorlagerecht der Complianceabteilung an die Hauptversammlung anerkennen, das sich

__________ 28 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Aufsichtsrat nur den Vorstand und nicht die Mitarbeiter des Unternehmens zu überwachen habe, da § 33 WpHG den Vorstand verpflichtet, eine im Kern originäre Leitungsaufgabe auf eine nachgelagerte Ebene zu übertragen; so im Erg. auch Bachmann (Fn. 25), S. 93. 29 Allg. zu den Informationsschwierigkeiten ohne eine § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG vergleichbare Norm Bachmann (Fn. 25), S. 93 m. w. N. 30 Vgl. zur h. M., die Direktkontakte zwischen Aufsichtsrat und Angestellten verneint, statt aller Fleischer (Fn. 24), § 90 AktG Rz. 44; dafür aber z. B. Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 191 ff.; Sven H. Schneider, Informationspflichten und Informationssystemeinrichtungspflichten im Aktienkonzern, 2006, S. 106 f. 31 Zutreffend bereits Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 76, 78 allg. zum Konzept des Unternehmensbeauftragten entgegen Ehrich, Handbuch des Betriebsbeauftragten, 1995, Rz. 1, der davon ausgeht, dass Unternehmensbeauftragte stets primär im Arbeitnehmer- bzw. Drittinteresse handeln würden. 32 Spindler, WM 2008, 905, 911; Lösler, WM 2008, 1098, 1102; so im Erg. auch Veil, WM 2008, 1093, 1098.

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jedoch mangels eines Anknüpfungspunktes im aktienrechtlichen Normengefüge nur im Wege der Rechtsfortbildung oder unter Rückgriff auf das allgemeine Notwehrhilferecht zugunsten der Allgemeinheit bzw. des Unternehmens (§ 227 BGB)33 entwickeln ließe. 5. Schlussfolgerung Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass der Compliancebeauftragte keine Aufgabe im öffentlichen Interesse wahrnimmt, sondern vielmehr allein im wohlverstandenen Unternehmensinteresse tätig wird. Der mit der Einrichtung einer Compliancefunktion verbundene Schutz der Kunden des Wertpapierdienstleistungsunternehmens ist lediglich ein Regelungsreflex des § 33 Abs. 1 WpHG. Die Organisationspflichten in § 33 Abs. 1 WpHG setzen nicht auf eine organisatorische Verschränkung von öffentlicher Aufsicht und unternehmensinterner Selbstkontrolle. Vielmehr sind die Organisationsvorgaben Mindestanforderungen an einen adäquaten Aufbau der Wertpapierdienstleistungsunternehmen, in deren Einzelausgestaltung die Unternehmen aber frei sind. Die BaFin kann überwachen, ob und inwieweit die organisationsrechtlichen Vorgaben eingehalten werden. Auch wenn die Complianceabteilung dabei in der Praxis ihr primärer Ansprechpartner ist, kommt dem Compliancebeauftragten keine Vertretungsmacht im Außenverhältnis zu. Es handelt sich bei ihm, um es bildlich ausdrücken, nicht um eine Außenstelle der BaFin im Unternehmen oder um ein unternehmensinternes Aktienamt.

IV. Einzelfragen 1. Weisungsfreiheit des Compliancebeauftragten? a) Rechtmäßige und rechtswidrige Weisungen des Vorstandes Damit bleibt die Frage zu klären, ob der Compliancebeauftragte gegenüber dem Vorstand weisungsunabhängig ist. Hierfür könnte das in § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG enthaltene Wirksamkeitsgebot sprechen34. Akzeptiert man aber wie oben dargelegt, dass die Einrichtung einer wirksamen Compliancefunktion im Grundsatz eine besondere Ausprägung der Leitungsaufgabe des Vorstandes darstellt, liegt es nahe, eine grenzenlose Weisungsfreiheit des Compliancebeauftragten abzulehnen35. Dies hängt schon damit zusammen, dass es sich insoweit um eine nicht delegierbare Leitungsaufgabe handelt. Indes wäre es denkbar, die konkrete, alltägliche Arbeit der Complianceabteilung, die der

__________ 33 Dafür Haouache (Fn. 5), S. 131. 34 In diesem Sinne Veil, WM 2008, 1093, 1097 und zum alten Recht Hausmaninger/ Ketzer, ÖBA 2002, 215, 217; grds. für Unternehmensbeauftragte im Umweltrecht wohl auch Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 13; dagegen vor allem Spindler, WM 2008, 905, 910 f.; Röh, BB 2008, 398, 403 mit Fn. 44; Lösler, NZG 2005, 104, 107 (zur alten Rechtslage); unklar Eisele (Fn. 3), § 109 Rz. 99: Weisungsfreiheit im Rahmen der delegierten Kompetenz, aber Kassationsrecht durch die Geschäftsleitung. 35 Ebenso auch Veil, WM 2008, 1093, 1096 f.

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Vorstand nicht nur auf nachgelagerte Ebenen delegieren darf, sondern nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG auf die Complianceabteilung verlagern muss, von dem Weisungsrecht des Vorstandes auszunehmen. Hiergegen spricht jedoch, dass die laufenden Aufgaben der Complianceabteilung aus der Leitungsaufgabe des Vorstandes abgeleitet sind und mit dieser korrespondieren. Es wäre also wenig einsichtig, warum der Vorstand die Struktur der Complianceabteilung auszugestalten hat, aber nicht auf die einzelnen neuralgischen Aufgaben Einfluss nehmen könnte, etwa die Besetzung einzelner Stellen in der Complianceabteilung oder die Entscheidung, wie die Aufklärung eines schweren Verdachtsfalls in concreto am einfachsten zu erfolgen hat. Auch das aus § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG abzuleitende Unabhängigkeitserfordernis der Complianceabteilung bezieht sich nur auf seine Stellung gegenüber den übrigen Unternehmensteilen, nicht auch gegenüber dem Vorstand36. Es fehlt gerade an einer für den Datenschutzbeauftragten in § 36 Abs. 3 BDSG ausdrücklich vorgenommenen Anordnung der Weisungsfreiheit37. Diese müsste explizit festgelegt werden38, für eine Analogie ist kein Raum. Selbst beim Strahlenschutzbeauftragten mit eigenen Entscheidungsrechten wird im Ergebnis eine Weisungsfreiheit bezweifelt39. Letztlich spricht auch eine historische Auslegung gegen eine Weisungsunabhängigkeit. Nr. 4.1. der früheren, norminterpretierenden Compliance-Richtlinie der BaFin, die mit Verabschiedung des FRUG ersatzlos entfallen ist, ordnete an: „Die Compliance-Stelle ist unmittelbar der Geschäftsleitung verantwortlich und im Übrigen im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung weisungsunabhängig“. Diese Formulierung ist nicht in die WpDVerOV übernommen worden. Soweit man in dieser Vorgabe überhaupt eine Weisungsfreiheit auch gegenüber dem Vorstand und nicht nur gegenüber nachgelagerten Hierarchieebenen sehen wollte40, läge die Schlussfolgerung nahe, dass eine Weisungsfreiheit gegenüber dem Vorstand bewusst nicht ins Gesetz aufgenommen worden ist. Die Wirksamkeit der Compliancefunktion wäre jedoch dann betroffen, wenn Weisungen grenzenlos zulässig wären, insbesondere, wenn der Vorstand sog. vertuschende Weisungen erteilen könnte, mit denen der Complianceabteilung untersagt werden soll, einem konkreten Verdachtsfall nachzugehen. Derartige Weisungen wären rechtswidrig und für den Compliancebeauftragten unbeacht-

__________ 36 Ebenso Lösler, WM 2008, 1098, 1104. 37 Zu weiteren Bespielen vgl. Rehbinder, ZGR 1989, 305, 325 f.: Tierschutzbeauftragter, Betriebsarzt sowie Fachkraft für Arbeitssicherheit. 38 Spindler, WM 2008, 905, 911; ausführlich zur alten Rechtslage bereits Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, 2003, S. 194 f. m. w. N. zur parallelen Diskussion beim Geldwäschebeautragten, für den ebenfalls keine Weisungsfreiheit ausdrücklich angeordnet wurde. Würde sie hingegen explizit angeordnet, wäre dies zu akzeptieren, Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 78. 39 Rehbinder, ZGR 1989, 305, 325 f.; großzügiger jetzt wohl ders., ZHR 165 (2001), 1, 13. 40 So z. B. Hausmaninger/Ketzer, ÖBA 2002, 215, 217; a. A. – eine Weisungsunabhängigkeit gegenüber dem Vorstand ablehnend – etwa Lösler, WM 2008, 1098, 1103; Eisele (Fn. 3), § 109 Rz. 99.

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lich. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn der Vorstand selbst von den Gesetzesverstößen betroffen ist, sondern vielmehr auch dann, wenn Verstöße systematisch verschleiert werden sollen, um kein schlechtes Licht auf das Unternehmen zu werfen. Akzeptiert man diese Schranke des Weisungsrechts im Einzelfall, so wird dem Wirksamkeitserfordernis und dem Unabhängigkeitsgebot in hinreichender Weise Rechnung getragen. Der Umgang mit aufgedeckten Verstößen obliegt jedoch in letzter Verantwortung dem Vorstand, soweit dieser im Einzelfall nicht selbst betroffen ist. Er hat zu entscheiden, welche disziplinarischen Konsequenzen im Einzelfall zu ziehen sind. Dabei kommt ihm ein weitgehendes Ermessen zu. Diese Aufgabe kann, muss aber nicht an die Complianceabteilung delegiert werden, weshalb auch in diesem Zusammenhang Weisungen möglich sind. Dieses Ergebnis bestätigt sich mittelbar auch aus § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG, wonach die Complianceabteilung in ihren mindestens jährlich vorzunehmenden Berichten an Vorstand und Aufsichtsrat nur darüber zu berichten hat, ob geeignete Maßnahmen ergriffen worden sind, damit Gesetzesverstöße beseitigt werden. Es zeigt sich also bereits aus der gesetzlichen Systematik, dass die Complianceabteilung nicht unabhängig und somit frei von Weisungen im Unternehmen agieren kann. b) Weisungen durch nachgelagerte Führungskräfte (Bereichsleiter) Demgegenüber ist eine Weisungsbefugnis durch dem Vorstand nachgelagerte Führungskräfte, insbesondere durch die sog. Bereichsleiter oder anderen Leiter von Fachabteilungen, nicht zulässig41. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass der Compliancebeauftragte unmittelbar dem Vorstand nachgeordnet sein muss und nur dem Vorstand verantwortlich ist42. Wichtiger ist aber das aus § 33 Abs. 1 WpHG abzuleitende Unabhängigkeitserfordernis, das mit dem Verbot der Teilnahme am operativen Geschäft in § 12 Abs. 4 WpDVerOV eine besondere Ausprägung erfährt. Es steht einer Weisungsbefugnis von nachgelagerten Führungsebenen entgegen. Weisungen durch die zu kontrollierenden Personen würden einen unauflösbaren Interessenkonflikt herbeiführen. Denkbar wäre indes, dass der Vorstand sein Weisungsrecht gegenüber der Complianceabteilung auf nachgelagerte Führungsebenen delegiert. Auch dieses wird man mit Blick auf das Unabhängigkeitserfordernis abzulehnen haben. 2. Kündigungsschutz und Abberufung Einen Kündigungsschutz sieht § 33 WpHG anders als § 4f Abs. 3 Satz 3 BDSG für den Compliancebeauftragten nicht vor43. Da der Compliancebeauftragte

__________ 41 Einh. M., vgl. etwa Röh, BB 2008, 398, 403; Spindler, WM 2008, 905, 911. 42 Ebenso Spindler, WM 2008, 905, 909 f.; Lösler (Fn. 26), S. 196. 43 Zu weiteren Kündigungserschwernissen – etwa bei Beauftragten im Umweltrecht – vgl. Haouache (Fn. 5), S. 41 f.; Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 14 m. w. N. der entsprechenden Vorschriften.

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nach dem oben Gesagten auch nicht im öffentlichen Interesse tätig wird, sondern allein dem Unternehmensinteresse verpflichtet ist, bleibt auch für einen ungeschriebenen Kündigungsschutz kein Raum44. Der Compliancebeauftragte und die Mitarbeiter der Complianceabteilung unterliegen folglich den allgemeinen Regelungen über die ordentliche und außerordentliche Kündigung. Entsprechendes gilt erst Recht für die übrigen Mitarbeiter innerhalb der Complianceabteilung. Allerdings ist eine Kündigung unwirksam, wenn sie eine Reaktion auf die Aufdeckung von Gesetzesverstößen ist, also den Compliancebeauftragten praktisch für eine gewissenhafte Aufgabenerfüllung abstrafen soll. Von der Kündigung des Dienstvertrages ist die Abberufung als Compliancebeauftragter zu unterscheiden45. Auch insoweit gilt das zur Kündigung des Anstellungsvertrages Gesagte entsprechend. Der Vorstand kann den Compliancebeauftragten jederzeit und nicht nur aus wichtigem Grund abberufen46. Allerdings bleibt auch insoweit die Möglichkeit der Unwirksamkeit der Abberufung, sofern der Compliancebeauftragte wegen unangenehmer Enthüllungen zum Schweigen gebracht werden soll. 3. Berichts- und Meldepflichten Abschließend bleibt die Frage zu klären, ob der Compliancebeauftragte beim Aufdecken von Gesetzesverstößen nicht nur dem Vorstand und im Rahmen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG dem Aufsichtsrat, sondern bei Missachtungen der Vorgaben des WpHG auch unmittelbar der BaFin Mitteilung zu machen hat. Der Bezug auf das Unternehmensinteresse und die oben getroffene Aussage, dass es letztlich dem Ermessen des Vorstands obliegt, wie er mit aufgedeckten Gesetzesverstößen innerhalb des Unternehmens umgeht, sprechen gegen eine automatische Anzeigepflicht des Compliancebeauftragten an die BaFin. Um es pointiert auszudrücken, der Compliancebeauftragte ist kein im Unternehmen ansässiger Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft47. Gegen eine Anzeigepflicht des Compliancebeauftragten spricht auch ein Umkehrschluss zu §§ 10 WpHG, 11 GwG. Nach § 10 WpHG ist die Anzeigepflicht bei Verdachtsfällen auf Verstöße gegen das Insiderhandelsverbot (§ 14 WpHG) und das Verbot von Kurs- und Marktpreismanipulationen (§ 20a WpHG) beschränkt. Diese Vorschrift bringt genauso wie § 11 GwG einen abschießen-

__________ 44 Spindler, WM 2008, 905, 910; Lösler, WM 2008, 1098, 1103; allg. zum Kündigungsschutz von Unternehmensbeauftragten Haouache (Fn. 5), S. 41 f. 45 Vgl. nur Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 14. 46 Ebenso Veil, WM 2008, 1093, 1097 unter Hinweis auf die abw. Ansicht von Harm (Fn. 14), 2. Kapitel, Abschnitt I 2. 47 Vgl. aber Bachmann (Fn. 25), S. 78 mit Fn. 71 für den hier interessierenden regulierten Bereich; wie hier aber Rehbinder, ZGR 1989, 305, 320 allg. für Unternehmensbeauftragte.

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den Charakter zum Ausdruck. Für eine darüber hinausgehende Anzeigepflicht ist kein Raum. Dagegen spricht nicht zuletzt die Verschwiegenheitspflicht des Compliancebeauftragten, die auch Ausfluss seiner weitreichenden Informationsrechte ist. Auch für das vereinzelt vorgeschlagene Anzeigerecht bei schwerwiegenden Gesetzesverstößen als einem Ausfluss des Nothilferechts ist kein Raum48. Dieses Ergebnis bestätigt sich letztlich auch aus einem Vergleich mit anderen Unternehmensbeauftragten. Lediglich für den Strahlenschutzverantwortlichen (§ 32 Abs. 2 Satz 2 StrlSchVO) ist eine Meldepflicht an die Aufsichtsbehörde für den Fall anerkannt, dass eine vom Unternehmensbeauftragten angeregte Maßnahme nicht aufgegriffen wird49. Dies geht noch über die Meldepflicht von Gesetzesverstößen hinaus, rechtfertigt sich aber allein aus dem viel größeren Gefahrenpotential beim Umgang mit radioaktiver Strahlung und aus dem eigenen Entscheidungsbereich, der dem Strahlenschutzbeauftragten im Gegensatz zum Compliancebeauftragten zuerkannt ist50.

V. Zum Konzept des Unternehmensbeauftragten 1. Ist der Compliancebeauftragte ein Unternehmensbeauftragter? Wäre der Compliancebeauftragte als Unternehmensbeauftragter zu qualifizieren51, so könnte man eher Rechtsgedanken einzelner Vorschriften bei anderen Beauftragten fruchtbar machen. Die Einordnung des Compliancebeauftragten hängt letztlich von der Begriffsbildung ab. Einen fest umrissenen Rechtsbegriff des Unternehmensbeauftragten kennt das deutsche Recht bisher nicht52. Unter Rückgriff auf Vorarbeiten von Rehbinder53 und Haouache54 kann man in Anschluss an Lösler55 drei typusbildende Merkmale für einen Unternehmensbeauftragen aufstellen. Erstens muss eine gesetzliche Anordnung existieren, einen Unternehmensbeauftragten zu bestellen. Zweitens muss das Gesetz den Beauftragten mit Pflichtaufgaben und Kompetenzen ausstatten und schließlich drittens die Tätigkeit auf den unternehmensinternen Schutz von Allgemeinwohlbelangen ausrichten, die der unternehmerischen Selbstverantwortung entzogen sind.

__________ 48 Ebenso Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 84 f., 88; Haouache (Fn. 5), S. 121. 49 Rehbinder, ZGR 1989, 305, 321 f. spricht insoweit von interventionistischen Unternehmensbeauftragten. 50 Rehbinder, ZGR 1989, 305, 322 f. 51 Dafür z. B. Veil, WM 2008, 1093, 1097 unter Hinweis auf Harm (Fn. 14), 2. Kapitel, Abschnitt E I ; dagegen vor allem Lösler, WM 2008, 1098, 1100 ff. 52 Besonders deutlich Rehbinder, ZGR 1989, 305, 315: Ausgestaltung folge den Zufälligkeiten im Gesetzgebungsverfahren der jeweiligen Rechtsgebiete; sowie ebda., S. 335: normativer Wildwuchs. 53 Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 8 ff.; ders., ZGR 1989, 305, 314 ff.; vgl. ferner Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69 ff. 54 Haouache (Fn. 5), S. 24 ff. 55 Lösler, WM 2008, 1098, 1100.

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Was zunächst die gesetzlich angeordnete Bestellung anbelangt, mag man Zweifel hegen, dass der Compliancebeauftragte nach § 12 Abs. 4 Satz 1 WpDVerOV nur benannt und nicht ernannt werden muss56. Dies allein scheint aber nicht ausreichend, um den Compliancebeauftragten aus dem bunten Reigen der Unternehmensbeauftragten zu verbannen, da nicht klar ist, ob mit dieser divergierenden Formulierung auch wirklich eine materiell abweichende Konzeption des Compliancebeauftragten zum Ausdruck gebracht werden soll. Spätestens aber bei der Zuordnung von gesetzlichen Pflichtaufgaben und Kompetenzen wird es schwierig. Zwar kann man die gesetzliche Aufgabenzuweisung in der repressiven und präventiven Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben des WpHG sehen. Diese Aufgabe ist aber in erster Linie eine Kernaufgabe der Leitungspflicht des Vorstandes. Die Verpflichtung zur Benennung eines Compliancebeauftragten besteht vor allem in der Anordnung, diese Kontrollaufgabe, soweit sie delegierbar ist, auf eine sachkundige nachgelagerte Ebene und nicht irgendwie innerhalb des Unternehmens zu delegieren. Auch weist das Gesetz dem Compliancebeauftragten keine unentziehbaren Kompetenzen zu. Wie gezeigt hat der Compliancebeauftragte keine Weisungsoder Untersagungsrechte, wenn er Gesetzesverstöße aufdeckt. Er ist vielmehr auf eine Eskalation innerhalb der Unternehmenshierarchie angewiesen, soweit ihm nicht der Vorstand sein Weisungsrecht delegiert hat. Die Gretchenfragen für die Einordnung des Compliancebeauftragten als Unternehmensbeauftragten sind die Zuweisung eines gewissen Maßes an Unabhängigkeit und eine Interessenwahrungspflicht im öffentlichen Interesse. Stellt man darauf ab, dass es für einen Unternehmensbeauftragten charakteristisch ist, dass ihm im Gesetz eine gewisse Unabhängigkeit oder explizit die Wahrung öffentlicher Interessen57 bzw. ein Kündigungsschutz zugewiesen werden, ist der Compliancebeauftragte nach der hier vertretenen Auslegung kein Beauftragter. Selbst wenn man die Ausrichtung auf den unternehmensinternen Schutz von Allgemeinwohlinteressen genügen lässt, bleibt die Frage des Rangverhältnisses. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Einhaltung der Vorschriften des WpHG in erster Linie im Interesse des Unternehmens geboten. Die damit verursachte Erleichterung der Aufsicht und die Einhaltung von Vorschriften im Interesse der Kunden oder des Kapitalmarkts als Institution sind aus Sicht des § 33 WpHG eher Regelungsreflex als unmittelbares Regelungsziel. Lässt man für die Rechtsfigur des Unternehmensbeauftragten einen funktionellen Außenkontakt gegenüber der Aufsichtsbehörde genügen, wie dies für den Geldwäschebeauftragten charakteristisch ist, scheitert eine Verortung als Unternehmensbeauftragter abermals. Auch wenn die Complianceabteilung in der Rechtswirklichkeit oft der primäre Ansprechpartner der BaFin ist, bleibt

__________ 56 Dies betonend Lösler, WM 2008, 1098, 1101. 57 Darauf abstellend Veil, WM 2008, 1093, 1097; demgegenüber sprechen Haouache (Fn. 5), S. 24 und Lösler, WM 2008, 1098, 110 lediglich von einer Ausrichtung auf den unternehmensinternen Schutz von Allgemeinwohlinteressen.

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hierfür nach der gesetzlichen Kompetenzzuweisung doch allein der Vorstand verantwortlich58. Dehnt man den Begriff des Unternehmensbeauftragten hingegen dahin aus, dass eine bloße gesetzliche Vorgabe zur personellen Verselbständigung einer Aufgabe des Managements genüge, so lässt sich der Compliancebeauftragte zwanglos unter den Begriff des Unternehmensbeauftragten subsumieren, für die praktische Rechtsanwendung wäre mit einer derart weiten Begriffsbildung freilich wenig gewonnen. Will man den Begriff des Unternehmensbeauftragten nicht zu einer konturlosen Figur degenerieren lassen, so ist der Compliancebeauftragte nicht als Unternehmensbeauftragter zu qualifizieren. 2. Rechtspolitische Würdigung des Konzepts des Unternehmensbeauftragten Ausgangspunkt der Analyse war die Frage, ob der Compliancebeauftragte einen späten, sektoral begrenzten Siegeszug der Befürworter eines Aktienamts darstellt. Der Übergang vom Konzessions- zum Normativsystem war Ausdruck der Selbstverwaltung und -verantwortung der Aktiengesellschaft. Unternehmensbeauftragte, die autark Aufgaben im öffentlichen Interesse im Unternehmen wahrnehmen, kollidieren mit dieser Errungenschaft des modernen Aktienrechts. Dies zeigt sich an einigen gesellschaftsrechtlichen Bruchstellen, die abschließend aus Raumgründen nur noch schlaglichtartig beleuchtet werden können. Werden dem Unternehmensbeauftragten eigene Entscheidungskompetenzen oder – wie dem Strahlenschutzbeauftragten – das Recht zur Divergenzvorlage (§ 32 Abs. 2 Satz 2 StrlSchVO) zugestanden, besteht die Möglichkeit von Inseln innerhalb der Leitungsmacht des Vorstandes ebenso wie bei einer Weisungsunabhängigkeit gegenüber dem Vorstand59. Erhält der Unternehmensbeauftragte das Recht, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs den Angestellten des Unternehmens Weisungen zu erteilen, besteht die Gefahr von Widersprüchen oder divergierenden Entscheidungen60. Derartige Friktionen mögen beim Umgang mit besonders gefahrträchtigen Stoffen im Interesse des Schutzes der Beschäftigten oder der Allgemeinheit hinnehmbar sein. Soweit es aber um die bloße Einhaltung von Vorschriften im Interesse des Kapitalmarkts geht, sind derartige Verwerfungen innerhalb der gesellschaftsrechtlichen Zuständigkeitsordnung kritisch zu beurteilen. Dies gilt umso mehr falls es in einigen Jahren zu einer allgemeinen Compliancepflicht für alle Unternehmen ab einer gewissen Größenordnung kommen sollte. Insoweit kann dem Gesetzgeber kaum geraten werden, an der diffusen Figur des Unternehmensbeauftragten Maß zu nehmen, der einen Fremdkörper in der Unternehmensverfassung darstellt61.

__________ 58 59 60 61

Ähnlich Lösler, WM 2008, 1098, 1101. Haouache (Fn. 5), S. 74 ff., 203 f. Haouache (Fn. 5), S. 82 ff., 203 f. Ähnlich Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 73.

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Weiterhin bleiben Bedenken mit Blick auf die Haftung. Der Unternehmensbeauftragte unterliegt mangels Organstellung bzw. öffentlicher Amtsstellung keiner besonderen Haftung, für ihn gelten die Regeln wie für jeden fehlerhaft handelnden Angestellten auch. Maßgeblicher Ansatzpunkt bleibt also die Haftung des Vorstands. Verlässt dieser sich bei Entscheidungen, etwa der Einführung von Grundsätzen zur bestmöglichen Ausführung von Kundenaufträgen, auf die sachlich fehlerhafte Stellungnahme des ansonsten qualifizierten und gewissenhaft arbeitenden Compliancebeauftragten, droht die Gefahr einer Haftungsentlastung des Vorstandes, der mit der Binnenhaftung des Compliancebeauftragten kein ausreichendes Substitut entgegensteht62. Allgemein gewendet befreit die Einsetzung eines Unternehmensbeauftragten den Vorstand zwar nicht davon, selbst für die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften zu sorgen, jedoch scheint es möglich, dass es nach zustimmender Anhörung des Beauftragten an einem Verschulden des Vorstandes fehlt63. Daneben kann die fehlerhafte Information von Mitarbeitern im Gefahrenbereich durch den Unternehmensbeauftragten anstelle des eigentlich verantwortlichen Vorstands haftungsbefreiend wirken. Andererseits wirkt sich ein Hinwegsetzen über ablehnende Stellungnahmen des Unternehmensbeauftragten haftungsverschärfend aus64. In der Gesamtschau ist vor dem Konzept des Unternehmensbeauftragten, der eine Erfindung des technokratischen Zeitalters der 1970er ist, als Allheilmittel zur Durchsetzung öffentlicher Interessen im Unternehmen zu warnen. Dies gilt namentlich, soweit es um die Einhaltung jeglicher gesetzlicher Pflichten geht, also dem Kernanliegen von Compliance. Die Achtung von Gesetz und Recht ist im Kern Leitungsaufgabe des Vorstandes und durch das wohlverstandene Unternehmensinteresse bereits vorgegeben. Eines – wenn auch nur verkappten – staatlichen Aufpassers im Unternehmen bedarf es hierfür nicht. Insoweit ist auf die Selbstverwaltung der Aktiengesellschaft und, soweit diese versagt, auf die Justiz zu vertrauen.

VI. Zusammenfassung in Thesen 1. Der Compliancebeauftragte (§ 12 Abs. 4 WpDVerOV) ist weder Organ noch Unternehmensbeauftragter. Letzteren kennzeichnen ein gesetzlich zugewiesener Kern von Befugnissen im öffentlichen Interesse, eigene Entscheidungsrechte oder eine weitgehende Weisungsunabhängigkeit auch gegenüber dem Vorstand. Hieran fehlt es jedoch für den Compliancebeauftragten; im Einzelnen:

__________ 62 Dies gilt umso mehr, wenn der Unternehmensbeauftragte gegenüber dem Vorstand weisungsunabhängig ist, vgl. Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 87; Haouache (Fn. 5), S. 154 ff. 63 Ebenso Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 73, 87; ausführlich Haouache (Fn. 5), S. 148 ff. 64 Haouache (Fn. 5), S. 151 f.; ähnlich Dreher in FS Claussen, 1997, S. 69, 87.

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2. Dem Compliancebeauftragten ist die Leitung der Complianceabteilung zu übertragen. Er ist unmittelbar dem Vorstand nachgeordnet. 3. Die umfassende Leitungsbefugnis des Vorstandes wird durch die Pflicht zur Ernennung eines Compliancebeauftragten nicht eingeschränkt. Dieser ist allein dem Unternehmensinteresse verpflichtet und nicht zugleich ein kleines, unternehmensinternes Aktienamt im öffentlichen Interesse. 4. Der Compliancebeauftragte berichtet allein dem Vorstand und dem Aufsichtsrat; soweit der Vorstand in Gesetzesverstöße involviert ist, allein dem Aufsichtsrat. Eine unmittelbare Meldung von Unredlichkeiten an die BaFin ist nicht veranlasst. §§ 10 WpHG, 11 GwG sind abschließend. 5. Anders als z. B. der Datenschutzbeauftragte (§ 4f Abs. 3 BDSG) ist der Compliancebeauftragte gegenüber dem Vorstand weisungsgebunden. Weisungen des Vorstandes, die eine Verstrickung einzelner Vorstandsmitglieder vertuschen sollen, sind rechtswidrig und dem Vorstandsvorsitzenden sowie dem Aufsichtsrat zur Kenntnis zu bringen. 6. Weisungsbefugnisse anderer Mitarbeiter unterhalb des Vorstandes gegenüber dem Compliancebeauftragten bzw. seinen Mitarbeitern sind hingegen unzulässig. 7. Stellt der Compliancebeauftragte Verstöße gegen das WpHG fest, so steht ihm grundsätzlich nur ein Eskalationsrecht zu, das mit der entsprechenden Berichtspflicht an den Vorstand (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 WpHG) korrespondiert. Weisungs- oder Untersagungsrechte stehen dem Compliancebeauftragten nur aus einem vom Vorstand abgeleiteten Recht zu, wobei der Vorstand dieses Recht dem Compliancebeauftragten aber antizipiert, beispielsweise im Rahmen einer Compliance Policy, übertragen kann. 8. Das Konzept des Unternehmensbeauftragten ist kein Königsweg für die Verbesserung der Einhaltung von Gesetzen durch Unternehmen. Es drohen Inseln, die von der Leitungsmacht des Vorstandes ausgenommen sind, und Haftungsfreiräume.

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Der Aktionär – das unbekannte Wesen Inhaltsübersicht I. Der Publikumsaktionär unter rechtlichem Aspekt II. Der Publikumsaktionär als ein Mengenproblem III. Der Aktionär als Kapitalinvestor IV. Der Aktionär und der Fiskus

VI. Aktionäre als eigennützige MichaelKohlhaase VII. Der Aktionär und die Machtfrage VIII. Der Aktionär und der Nutzen aus seiner Anlage IX. Schlusssatz

V. Der Aktionär und sein Bankenstimmrecht

Karsten Schmidt – einer Lichtgestalt im Juristenfirmament – verdanken wir – neben vielem anderen – auch eine Befassung mit der Rechtsfigur des Aktionärs1, stets juristisch präzise und am Gesetz orientiert. Deshalb soll hier diese Rechtsfigur des Aktionärs einmal pragmatisch und feuilletonistisch ausgeleuchtet werden in der Hoffnung, dass dieser Stil Karsten Schmidt amüsieren und erfreuen wird. Hier geht es im Folgenden speziell um die Figur, die man als Publikumsaktionär bezeichnet oder weniger höflich – schon beinahe vulgär – als „Kleinaktionär“ betitelt. So gilt das Interesse dieser Arbeit den natürlichen Personen, die Deutsche sind, jedenfalls hier leben, und ihre Ersparnisse ganz oder teilweise in Aktien anlegen. Dieser Aktionär oder Publikumsaktionär tätigt seine Anlage in der Erwartung, dass seine Ersparnisse in den deutschen Aktien wertbeständig angelegt sind, möglichst sichere Dividenden erwirtschaften, möglicherweise Kursgewinne bescheren. Dafür ist er bereit, auf Mitwirkungsrechte willentlich und wissentlich zu verzichten, die Alleinherrschaft über seine Finanzmittel auf Dritte zu übertragen, sich aber das Recht vorzubehalten, seine Mitgliedschaft in dem Verband „Aktiengesellschaft“ jederzeit durch Verkauf zu beenden. Die Rechtsfigur des „Publikumsaktionärs“ wollen wir unter vielerlei Aspekten diskutieren. Mit den rechtlichen Aspekten des Publikumsaktionärs befassen sich die juristischen Autoren. Sie sehen die Publikumsaktionäre als Teil einer Gesamtheit aller Aktionäre, die im System unseres Gesellschaftsrechts eine feste Position haben. Karsten Schmidt sieht den Aktionär, der seine ausschließliche Rechtsheimat in der Aktiengesellschaft hat, übergreifend als Mitglied des auf einen einheitlichen Zweck, dem Verbandszweck, ausgerichteten Gebildes2. Deut-

__________

1 Literaturübersicht aus historischer Sicht Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 758. 2 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 57, 61.

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licher wird er später, wo er herkömmliche Differenzierungen zwischen den einzelnen Formen des Gesellschaftsrechts überwindend feststellt, dass der Gegensatz zwischen der Körperschaft und der personenrechtlichen Gemeinschaft „nicht mehr unverändert anerkannt werden“, sondern die Aktionärsposition „als Mitgliedschaftsrechte artgleich“ festgemacht werden kann3. Obgleich wir von Karsten Schmidt gelernt haben, dass diese Sicht vom Gesellschafter als dem Inhaber eines allgemeinen Mitgliedschaftsrechts des Privatrechts nicht auf soziologische, sozialpolitische oder kapitalmarktpolitische Aspekte ausgedehnt werden kann, kann es Karsten Schmidt vielleicht zusagen, wenn man hier einige dieser Aspekte zusammenträgt und dabei das juristische Einblicksfeld gelegentlich verlässt und soziale, wirtschaftliche und pragmatische Gesichtspunkte mit einblendet.

I. Der Publikumsaktionär unter rechtlichem Aspekt Hier geht es um die Frage, was ein Publikums- oder Kleinaktionär eigentlich sei neben dem Mitglied in einem privatrechtlichen Verbund. Ist er mittelbarer Eigentümer einer AG oder nur temporärer Kapitalgeber für eine AG? Für den ersten Gedanken, nämlich die Leitidee vom Aktionär als Eigentümer, spricht die historische Rechtslage: Im 19. Jahrhundert hieß es in Art. 216 ADHGB, dass jeder Aktionär einen verhältnismäßigen Anteil am Vermögen der Gesellschaft hat. Aus dieser Ausdrucksweise, die auf direktes Eigentum hinzudeuten scheint, wurden keine direkten Konsequenzen gezogen, sondern das „Mitgliedsrecht“4 und das „Unternehmen an sich“ als Medium, das wirtschaftliches Eigentum vermittelt, gewählt. In Reaktion auf das vom Aktiengesetz 1937 gewählte „Führerprinzip“, das den Status der Aktionäre schwächte, wurde die Aktionärsposition durch die Aktienrechtsreform von 1965 aufgewertet und die Eigentümerposition wieder belebt5. Diese historischen Gründe sprechen für das wirtschaftliche Eigentum der Aktionäre6. Desgleichen spricht die Risikotragungsfunktion des Kapitals der Aktionäre für den Eigentumsgedanken. Denn es ist kennzeichnend für unternehmerisches Eigentum, das unternehmerische Auf und Ab bis hin zur Insolvenz aufzufangen und zu tragen. Dies ist die Elementarfunktion eines Eigentümers, er und ausschließlich er, muss die Risikotragungsfunktion tragen. Dies ist die Hauptlast, die der Aktionär trägt, eine Bürde, die die Belastung der Entfernung des Aktionärs von den Mitverwaltungsrechten, die dem Eigentum nach § 903 BGB eigen ist, deutlich übersteigt.

__________ 3 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 550. 4 Staub, HGB, 14. Aufl. 1933, § 178 HGB Anm. 19. 5 Strauß, Grundlagen und Aufgaben der Aktienrechtsreform, 1969, S. 14; Kropff, Begründung des RegE zum Aktiengesetz 1965, S. 14; hierzu auch Kropff, Aktienrecht im Wandel, 2007, Rz. 75. 6 Vgl. Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, 1984, S. 407 ff.; für wirtschaftliches Eigentum auch das AktG 1965, vgl. Kropff, AktG, 1965, S. 14.

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Aber es gibt auch Tendenzen, die dem Aktionär diese Eigentümerqualität absprechen. Zu diesen Stimmen zählen historische Quellen, die der Eigentümerstellung des Aktionärs kritisch gegenüberstehen. Hierzu gehören Walter Rathenau7 und Passow8, die zuerst die Idee von der Kapitalgesellschaft als „einem Unternehmen an sich“ vertraten9. Die Aktiengesellschaft, eine Einrichtung besonderer Eigenart und mit besonderen Aufgaben, sei wie „eine Einrichtung, der der Staat Schutz und Förderung auch insoweit nicht vorenthalten dürfe, als das Schutz- und Förderungsbedürfnis im Widerstreit mit den Sonderinteressen der Aktionäre gerät“10. In der neueren Literatur11 taucht der Begriff vom „Unternehmen an sich“ nicht mehr auf. In gewisser Weise wird jetzt anstelle des „Unternehmens an sich“ das „Unternehmensinteresse“ angeführt, dem der Vorstand und die Aktionäre zu entsprechen haben und das dem Vorstand in seiner Tätigkeit rechtliche Bindungen auferlegt12. Das nächste Argument gegen die Eigentümerstellung des Aktionärs verweist darauf, dass der Aktionär nicht im Sinne von § 903 BGB Eigentümer der Vermögensgegenstände der Aktiengesellschaft ist und sein könne, sondern höchstens wirtschaftlicher oder mittelbarer Eigentümer. Seine Aktionärsstellung als Eigentümer bezieht sich nur auf das Wertpapier, die Aktie, mit der er im Sinne eines Eigentümers schalten und walten kann wie er will, mit ihr kann er „nach Belieben verfahren“13. Handgreiflicher und praktischer ist das gegen den Aktionär als Eigentümer vorgetragene Argument, der Aktionär wäre ausschließlich ein Kapitalinteressent. Dieser Gedanke lautet, dass der Aktionär nicht einer speziellen Aktiengesellschaft sein Vermögen und sein Vertrauen widmet, sondern dass der Aktionär ein Anleger an einem globalen Kapitalmarkt ist und dort seinen Vermögenserhalt, seine Rendite und etwaige Kurschancen sucht. Diese Sicht vom Aktionär als entpersonalisiertem und ausschließlich nutzenorientiertem Kapitalmarktteilnehmer, kann weder die selbstverständlich hingenommenen Kursrisiken oder noch weitergehend die Gefahr der Insolvenz, der ein Aktionär ohne jeden Schutz von dritter Seite ausgeliefert ist, dogmatisch einordnen. Auch das Interesse des Aktionärs am Wirtschaftswachstum von einzelnen AGen spricht gegen diese Sichtweise. Aber für diese Sicht spricht die Praxis, z. B. der professionellen Anleger, jederzeit und ohne Mitwirkung und Rücksichtnahme auf Dritte ihre Rechtsposition in der Gesellschaft zu beenden. Dies ist nicht nur bei professionellen Aktionären so, sondern entspricht einem zu unterstellenden Aktionärsinteresse der meisten Publikumsaktionäre, sich

__________ 7 8 9 10

Rathenau, Vom Aktienwesen, 1920. Passow, Strukturwandel der Aktiengesellschaft 1930, 5 f. Laux, Die Lehre vom Unternehmen an sich, 1998. Entwurf eines Gesetzes über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien vom Reichsjustizministerium 1930, S. 94. 11 Z. B. bei Karsten Schmidt (Fn. 1), und Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008. 12 Vgl. die kritischen Positionen von Spindler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 76 AktG Rz. 58 ff.; Korth, GroßKomm.AktG, 4. Aufl. 2003, § 76 AktG Rz. 39; Hüffer (Fn. 11), § 76 AktG Rz. 15; Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 805. 13 Schön in FS Ulmer, 2003, S. 1359 ff.

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zu verabschieden, wenn es ihnen in der AG nicht mehr gefällt. Denn einer Treuepflicht unterliegt der kleine Publikumsaktionär nicht. Diese Debatte zwischen dem Eigentümeraktionär versus den Kapitalmarktanlegeraktionär14, kann hier nicht in ihren einzelnen Verästelungen nachvollzogen und um eine weitere Variante angereichert werden, wenn man sich nicht auf die Formel vom „gesellschaftsrechtlich vermittelten Eigentum“ des BVerfG15 als höchster Autorität zurückziehen will. Da diese Definition auch keine Lösung der aufgeworfenen praktischen Frage nach dem inneren Verständnis bietet, was der Publikumsaktionär denn sei, bleibt nur die Antwort auf die Diskussion zwischen den Kapitalanlegeraktionären und den Anhängern des Eigentumsgedankens, dass diese Frage offen ist und offen bleibt. Der Aktionär ist also für die Juristenwelt ein nicht einheitlich definierbares, ein unbekanntes Wesen.

II. Der Publikumsaktionär als ein Mengenproblem Der Aktionär ist in Deutschland auch zahlenmäßig ein unscheinbares und damit unbekanntes Wesen. Wenn Deutschland, wie die Ökonomen und die Politiker uns lehren, ein reiches Land ist, und dieses Deutschland von und für die Wirtschaft lebt, sollte man annehmen, dass wesentliche Teile der Bevölkerung, vielleicht die Hälfte, ihre Ersparnisse in Aktien anlegen würden, also 40 Millionen Deutsche Aktienbesitzer wären, wie das in anderen Kultur- und Industriestaaten der Fall ist. Die Gesamtzahl aller deutscher Aktionäre plus allen Fondsbesitzern macht aber gerade mal 10,5 Mio. Privatpersonen aus, das sind 12 % der Gesamtbevölkerung16. Es gibt in Deutschland also nicht die gewünschten 40 Mio. Aktionäre, sondern nur die erwähnten 10.535.000 in Aktien investierende Privatpersonen, die sich aufteilen in 2.538.000 Personen, die nur Aktionäre sind, 1.803.000 Aktionäre, die auch Fondsanteile haben, und die Mehrheit von 6.194.000 Personen, die nur Fondsanteile haben. Die Inhaber von Aktienfondsanteilen leisten den gleichen volkswirtschaftlichen Dienst der

__________ 14 Entschieden für diese Position Mülbert, Shareholder Value aus rechtlicher Sicht, ZGR 1997, 129 f.; auch Habersack/Mülbert, GesRZ 2004, 5; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 1995, S. 134 ff.; v. Randow, ZGR 1996, 603, 609. 15 BVerfGE 50, 90 ff. 16 Schweden hat mit 18 Mio. Einwohnern ebenso viele Aktionäre wie Deutschland mit 80 Mio. Einwohnern, nämlich 60 % der schwedischen Haushalte halten Aktien. Kanada ist mit 30 % der Bevölkerung ebenfalls aktienfreundlich. Auch die USA oder Großbritannien haben einen Prozentsatz, der doppelt so hoch ist wie in Deutschland. – Ein anderer Aspekt ist ebenfalls negativ: Die Bundesrepublik hatte ein Bruttosozialprodukt für 2006 von 2.322 Mrd. Euro, lt. Statistischem Bundesamt 2007, S. 10, und eine Börsenkapitalisierung von 1.672 Mrd. Euro, das sind als Teil des Bruttosozialproduktes nur 72 %. Das ist weniger, als die anderen Industriestaaten an Börsenkapital aufbringen: In den USA ist dieser Prozentsatz von Börsenkapitalisierung zu Bruttosozialprodukt nahezu doppelt so hoch, nämlich 120 % vom US-amerikanischen Bruttosozialprodukt; auch in Japan liegt die Börsenkapitalisierung über dem Bruttosozialprodukt.

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Kapitalaufbringung wie die Direktaktionäre, sorgen also ebenso für Risikound Haftungskapital für die deutsche Wirtschaft. Da uns hier vor allem die Person des Publikumsaktionärs interessiert, fassen wir diese reinen Aktienbesitzer und die Aktienbesitzer, die auch Fonds besitzen, zusammen und stellen fest, dass diese Direktaktionäre 6,7 % der Bevölkerung ausmachen17, was gegenüber dem Vorjahr 2006 eine kleine Erhöhung darstellt, aber weit entfernt ist von den 9,7 % unserer Bevölkerung, die schon im Jahr 2000 direkte Aktionäre waren. Von diesen rd. 4,3 Mio. direkten Aktionären sind 859.000 zugleich Belegschaftsaktionäre, haben also ihre Aktien nicht zum vollen Börsenwert erworben, sondern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Unternehmen zu günstigeren Konditionen und dem speziellen Anliegen, die Verbundenheit mit der arbeitgebenden AG und ihrer Ertragskraft zu demonstrieren. Belegschaftsaktionäre sind als Aktionäre hoch zu schätzen, aber eben eine eigene Kategorie. Alle vorgenannten Zahlen liegen im einstelligen Prozentbereich, was die Solitärstellung des deutschen Aktionärs in der Bevölkerung ausweist. Dass nur 12 % der Deutschen Aktionäre und Fondsbesitzer sind, ist eine Quelle für wirtschaftliche, soziale und politische Missstände. Denn wer keine Aktie besitzt hat keinen Anlass, sich mit wirtschaftlichen Fragen zu befassen, was in unserer Sozialordnung von Übel ist. Der Nichtaktionär ist auch anfälliger für Sozialneid, Klassenkampf und sonstigen Unfrieden. Materiell wird der Nichtaktionär belastet von der Sorge vor der Finanzierung seines Ruhestandes, wo ihm eine Komponente fehlt. Denn der Erhalt des Lebensstandards sollte nicht nur in Ansprüchen gegen die nächste Generation, die staatlich garantiert sind erfolgen, sondern sollte in einer sich stets ändernden Welt auch in der anpassungsfähigen, dynamischen Wirtschaft erfolgen. Hinzu kommt der nationale Aspekt: 50 % des Aktienkapitals der 30 DAXAGen liegen in ausländischen Händen. Dieser DAX „fremdelt“ also. Dies kann zur Folge haben, dass diese DAX-Konzerne an die Sitze des Eigentümers, also in das Ausland abwandern18. Ein Beispiel: Die Commerzbank ist in Deutschland die zweitgrößte Bank, also die zweitwichtigste Finanzinstitution der drittgrößten Industrienation der Welt. Diese Commerzbank hat eine Börsenkapitalisierung von 17.500 Mrd. Euro, die konkurrierende fernöstliche Bank HSBC ist nahezu zehnmal so viel wert. Mithin ist die Commerzbank in ihrer Unabhängigkeit gefährdet, sie kann leichter aufgekauft werden. Wird sie aufgekauft, steht sie für die deutschen Bedürfnisse nicht mehr vorrangig zur Verfügung. Ceterum censeo: Der deutsche Aktionär ist zahlenmäßig nicht überzeugend vertreten. Aktienbesitz ist in diesen Landen bei 90 % der Bürger unbekannt. Woher diese Abstinenz kommt, wird vielfach diskutiert. Erklärungsversuche gibt es viele, aber keine überzeugen vollkommen. Nicht nur der Aktionär, auch der Nichtaktionär ist ein unbekanntes Wesen.

__________ 17 Leven, AG 2007, Report R 399 ff. 18 Schroth, Das Wertpapier 3/2008, 3.

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III. Der Aktionär als Kapitalinvestor Wir haben in Deutschland nicht nur wenige Aktionäre, sondern auch wenige börsennotierte Aktiengesellschaften. Erstaunlich kontrastiert diese beschriebene geringe Zahl von Aktiengesellschaften mit der hohen Zahl von ca. 320.000 Derivaten19. Derivate sind von einem Primärartikel „Deutsche Aktie“ oder „Deutsche Aktien-Indices“ abgeleitete Kapitalmarktprodukte. Diese Derivate haben in den letzten 20 Jahren ein Volumen von 135 Mrd. Euro und einen Umsatz von 642 Mrd. Euro p. a. erreicht. Sie hören auf nichts aussagende, aber verheißungsvolle Namen wie Expresszertifikate, Discountzertifikate, Bonuszertifikate, Garantiezertifikate. Die Emittenten der „underlying“-Aktienwerte haben mit diesen Kapitalmarktprodukten nichts zu tun, insbesondere tragen sie keine Haftung für Prospekt- und Produktgerechtigkeit der Derivate auf ihre Aktien. Die Emittenten sind Investmentbanken, auch Finanzdienstleister. Diese Emittenten sind verbandsmäßig organisiert und betreiben über diesen Verband Interessenwahrungspolitik20. Die Erfinder und Vertreiber dieser zumeist komplizierten Konstrukte sind etwa 50 internationale Banken, die sich ihren innovativen Aufwand und ihre Placierungskraft bezahlen lassen, wobei eine erwünschte Entgelttransparenz häufig auf Heller und Pfennig dem Investor und Käufer nicht deutlich gemacht wird, wenngleich die Finanzrichtlinie MiFID einige Verdeutlichungen gebracht hat. Diese Banken emittieren jede für sich und mehrfach Derivate auf Aktienwerte, was zu der eingangs erwähnten Vielzahl von Emissionen führt. Denn die Anzahl der Primärartikel, also der deutschen Aktienwerte, liegt bei 1.000 AGen, aber nur ein Teil hiervon, nur die größeren, sind zertifizierungsfähig, was mit derivatfähig gleichzusetzen ist. Ob die Zertifikate einen sinnstiftenden Beitrag leisten, um der deutschen Industrie das notwendige Eigenkapital zuzuführen, oder ob diese Derivate ausschließlich für die Nutzung von Marktchancen geschaffen werden, ist fraglich. Zur Risikofrage ist Folgendes zu bedenken: Die Verzahnung des Derivatgeschäftes unter den diese Geschäftssparte betreibenden Banken ist beträchtlich; die Auswirkungen eines Ausfalls eines Emissionshauses sind nicht verlockend vorstellbar, sondern können das ganze System ergreifen, weil es in diesem Geschäft keinen „Lender of Last Resort“ gibt. Ein solches Systemrisiko sollte man nicht vernachlässigen, vor allem nicht in Zeiten, wo das Systemrisiko des Kollapses eines Marktes als Folge ungebremster Nutzung dieses Marktes bei den subprime-Verbriefungen deutlich in die Erscheinung trat. Hiermit haben die Derivate gemeinsam, dass sie Wertpapiere sind, dass sie im Wertpapiergeschäft gehandelt werden und dass ihnen ein ähnlicher Grad an Kompliziertheit der Konstruktion eigen ist.

__________ 19 El-Bahay/Schuster, Das Wertpapier 6/2008, 20. 20 Kritisch zu der Machtfülle dieser Emissionshäuser Straub, Going public, 4/2008; Hauck, Börsen-Zeitung Nr. 2 v. 4.1.2008, S. 12.

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Aber deutsche Aktionäre haben für 135 Mrd. Euro solche Emissionen gekauft – angesichts der vorgetragenen Risiken ist nicht so leicht einsehbar, warum sie dies taten. Aber der deutsche Aktionär ist auch in seinen Anlagevorlieben und Abneigungen ein unbekanntes Wesen.

IV. Der Aktionär und der Fiskus Auch dem steuereinnehmenden Staat ist der Aktionär ein unbekanntes Wesen. Anders ist es nicht erklärbar, dass der Aktionär von der ab 2009 geltenden Abgeltungssteuer buchstabengenau so behandelt wird wie beispielsweise ein Inhaber von festverzinslichen Wertpapieren, obgleich zwischen einer Aktie und einem festverzinslichen Titel Unterschiede liegen, die diese beiden Vermögensartikel unvergleichbar machen: Der eine – der Aktionär – trägt das unternehmerische Risiko, wird nur aus Bilanzgewinnen entlohnt, gewährt dafür Stimmrechte. Dem anderen – der Obligationär – ist nichts dergleichen zugeteilt, er trägt kein Risiko, er ist kein wie auch immer zu definierender Eigentümer der AG, er hat keine Stimmrechte, keinen Anspruch auf Unternehmensgewinne, sondern der Obligationär erfährt die Beschreibung seiner Rechte durch das Schuldrecht. Danach kann er von seiner schuldenden AG die Leistung von Zinsen und Rückzahlung verlangen, gegebenenfalls die Gewährung von Sicherheiten. Wo ist da die Übereinstimmung mit der Aktie? Die beiden Ersparnisanlagen – die Aktie und die Schuldverschreibung – verbindet nicht mal die Dokumentation, nämlich dass beide in Wertpapieren verbrieft sind. Das war wohl dereinst so. In der Vergangenheit gab es den Sammelbegriff der Wertpapiere, heute gibt es das stückelose Wertpapierwesen21. Vom Wertpapier im eigentlichen Sinne blieb nur übrig, dass die Rechtsinhaber den Anspruch auf Ausdruck einer Einzelurkunde haben – ein Recht, das kaum in Anspruch genommen wird. Worum es hier geht, ist darzustellen, dass die steuerrechtliche Gleichstellung, die die Abgeltungssteuer zwischen der Aktie und der Schuldverschreibung vorschreibt, verfehlt ist. Diese Gleichstellung von Aktien mit der Rente widerspricht dem inneren Wesen und vor allem dem volkswirtschaftlichen Nutzwert der beiden Anlageartikel. Der Steuergesetzgeber hat die Ungleichheit eines Eigentumstitels mit einem schuldrechtlichen Titel nicht erkannt, sondern aus Vereinfachungsgründen und aus anderen Gründen die beiden Anlageartikel gleich behandelt. Das nennt man Gleichbehandlung ungleicher Tatbestände. Auch dies ein weiteres Exempel dafür, dass der Aktionär ein unbekanntes Wesen ist – sogar beim Gesetzgeber.

V. Der Aktionär und sein Bankenstimmrecht Für den außen stehenden neutralen Beobachter ist auch die Art, wie die Aktionäre mit ihren Rechten umgehen, unklar und widersprüchlich. Auf der einen

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21 Claussen, Bank- und Börsenrecht, 4. Aufl. 2008, § 6 Rz. 119.

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Seite wurde für die Hauptversammlungsrechte der Aktionäre in der Aktienrechtsreform 1965 erhebliches Engagement aufgeboten22. Als Ergebnis wurde geltendes Recht, dass die Hauptversammlung auch über Tagesordnungspunkte diskussionsbedürftiger Bedeutung durch Beschlüsse entscheidet und diese Beschlüsse von der Mehrheit der abgegebenen Stimmen getragen sein müssen, sofern nicht Gesetz oder Satzung eine größere Mehrheit oder weitere Erfordernisse vorgibt23. Aber diese „Urrechte“ der Aktionäre werden im Regelfall nicht genutzt, sondern sie verfallen folgenlos. In den 1990er Jahren war die Hauptversammlungspräsenz zwischen 30 % und 40 %24, inzwischen ist sie wieder etwas bis 46 % angestiegen25. Fakt ist also, dass die Aktionäre bei einer jährlich wiederkehrenden und in den §§ 118–137 AktG streng formalisierten Veranstaltung der Hauptversammlung zur Hälfte kein Interesse entgegenbringen26, kaum eigene Aktivität einbringen können, dies von ihnen auch nicht erwartet wird. Von den Aktionären werden Beschlüsse zur Bilanzfeststellung und der Entlastung der Organe abgefordert, deren Sinnhaftigkeit ihnen nicht klar ist und deren Sinnhaftigkeit ihnen auch nicht erklärt werden kann. Eine breite Befragung der Deutsche Post AG bei ihren Aktionären, die 80.000 Fragebogen ausgefüllt haben, lässt erkennen, dass in der Hauptversammlung das Stimmrecht für einen Großteil der Aktionäre keine zentrale Rolle spielt. So machen über 30 % der Privataktionäre deutlich, dass sie nicht beabsichtigen, ihr Stimmrecht persönlich oder durch Vertretung je in Anspruch zu nehmen. Etwa die Hälfte der Investoren ist bereit, stimmrechtslose Aktien zu erwerben. Dieser Anteil liegt bei versierten Investoren sogar noch wesentlich höher. Der geforderte Aufschlag auf den Kurs, für den die Anleger bereit wären, ihr Stimmrecht zu veräußern, liegt bei 20 %. Wenig rational erscheint, dass Investoren ihr Stimmrecht nicht nutzen, obwohl sie offensichtlich recht große Befürchtungen hegen, dass sich andere Shareholder, hier vor allem Banken, Mehrheitsaktionäre und die Unternehmensleitung, auf ihre Kosten berei-

__________ 22 Engagiertes Engagement für die HV-Rechte der Aktionäre zeigt die DSW, Denkschrift 1952, S. 13 bis 17; auch BJM Dehler, nach Kropff, Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I, Rz. 61. Das in anderen Rechtsordnungen unbekannte Bilanzfeststellungsrecht wurde zum „Urrecht“ promoviert. Dieses „Urrecht“ einschließlich des Gewinnverteilungsrechtes wollten Kronstein/Claussen, Publizität und Gewinnverteilung in neuem Aktienrecht, 1960, S. 140 ff., reduzieren zu Gunsten besserer Transparenz, was ein erfolgreicher Rechtsgedanke war, der sich bis in das Gesetz durchsetzte, § 58 Abs. 1 Satz 2 und vor allem Abs. 2 Satz 1 AktG, wenngleich nur zu 50 %, was dem Wesen eines politischen Kompromisses entspricht; zust. partiell Gessler, BB 1961, S. 417; Muthesius, ZKW 1961, S. 67 mit der Formulierung: „Wende in der Aktienrechtsdebatte“. Dies sieht Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 16 anders. 23 Zum Ganzen und mit Literaturangabe Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 847; Claussen, AG 1996, 482. 24 Christians, AG 1990, 47. 25 Deutsches Aktieninstitut, Jahresbericht 2007, S. 19 ff.; Bericht des Bundesministeriums der Justiz über die Entwicklung der Stimmrechtsausübung, Seibert, AG 2004, 529; DSW unter www.dsw-info.de/Hauptversammlungspräsenzen.70.0.html. 26 Die deutsche Hauptversammlung wird auch als „Auslaufmodell“, als „Sinnkrise der Aktiengesellschaft“ bezeichnet, Lenz, AG 2006, 572; Fritzen, DB 1981, 277.

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chern könnten“27. Interessant ist aus dieser mit 80.000 Fragebogen im Rücklauf durchaus repräsentativen Befragung zur Stimmrechtsausübung, dass Aktionäre „ihr Stimmrecht wesentlich weniger intensiv zur Kontrolle einsetzen als andere Investoren“. Zu diesen Ergebnissen hat das Bankenstimmrecht in der Form des Depotstimmrechts nach § 135 AktG beigetragen, das vorsieht, dass die Stimmrechte der Einzelaktionäre von Kreditinstituten, von Aktionärsvereinigungen oder geschäftsmäßigen Vertretern ausgeübt werden können. Um dieses Depotstimmrecht hat es eine Jahrzehnte lange Diskussion gegeben mit dem Tenor, dass das Depotstimmrecht den Banken Macht ohne Eigentum verleihe, Interessenkollisionen fördere und die Machtstellung der Verwaltung festige28. Um diesem Verhalten zu begegnen, sieht das Gesetz vor, dass die Vollmacht des Aktionärs mit Weisung versehen sein soll. Wenn dies nicht der Fall ist, muss die Bank einen eigenen und den Aktionären zuvor mitgeteilten Vorschlag präsentieren, wie sie in seinem Namen abzustimmen die Absicht hat, es sei denn, „dass das Kreditinstitut den Umständen nach annehmen darf, dass der Aktionär bei Kenntnis der Sachlage abweichende Ausübung des Stimmrechtes billigen würde“, so § 135 Abs. 5 AktG. Das Ergebnis dieser Debatte, die zu einem Anschwellen der Literatur führte, hat wie nicht anders zu erwarten und von Sachkennern prognostiziert29, zu einem Rückzug der Bankwirtschaft aus dem Bankenstimmrecht geführt. Diese Debatte führte zu einer dauerhaften und nicht aufholbaren Verschlechterung der Hauptversammlungspräsenz, vielleicht hat dazu auch beigetragen, dass die aktienrechtliche Hauptversammlung ein periodisch wiederkehrendes jährliches Ereignis ist, das aus Gewohnheit an Interesse verliert. Dies konnte auch der Kontrahierungszwang, nämlich die Rechtspflicht zur Ausübung von Stimmrechten in der Hauptversammlung gem. § 135 Abs. 10 AktG nicht ändern, weil es die Flucht aus dieser Rechtspflicht nach § 135 Abs. 10 Satz 2 AktG gibt. Summa sumarum: Die 10 Mio. Aktionäre, zu deren Nutzen der Gesetzgeber das Gebäude des Bankenstimmrechts gebaut und die Wissenschaft breit diskutiert hat, scheint diese Anstrengungen nicht zu berühren. Die 1.000 Hauptversammlungen von börsennotierten Aktiengesellschaften werden von den Aktionären spärlich aufgesucht. Das langsame Dahinschwinden des Bankenstimmrechts und der Debatte hierüber hat jedenfalls keine Reaktionen von den Aktionären hervorgerufen. 57 % der Aktionäre wären auch zum Kauf von stimmrechtslosen Aktien bereit, wie oben dargestellt. Die Abhilfen gegen die schlechten HV-Präsenzen, über die nachgedacht wird, sind ohne merkliche

__________ 27 Ernst/Gassen/Pellens, Deutsches Aktieninstitut, Verhalten und Präferenzen deutscher Aktionäre, 2005, S. 9. 28 Karsten Schmidt (Fn. 1), bringt hierzu auf S. 854 eine Literaturübersicht; Kropff, Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, Rz. 78 und 415 bis 442; Mülbert, DJT 1996, E 18 ff. 29 Christians, AG 1990, 48; zust. Kropff (Fn. 5), Rz. 441; Marsch-Barner in FS Peltzer, 2001, S. 261.

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Reaktion geblieben. Dies gilt für den Bonus für Aktionäre, die in der Hauptversammlung erscheinen und ihr Stimmrecht in Persona ausüben30 und für die Entschlackung von Formalitäten bei dem Nachweis des Aktienbesitzes und der Anmeldung zur Hauptversammlung31. Ein Gesetz ist hierzu auf den Weg gebracht32. Schließlich wird gefordert, die Voraussetzungen der Vollmachterteilung und die Einholung von Stimmrechtsanweisungen zu entbürokratisieren und die Kosten der Ausübung des Stimmrechts zu senken33. Von all diesen Aktivitäten ist keine erkennbare Reaktion in Aktionärskreisen ausgegangen, vor allem kein rechtsänderndes Bewusstsein der Aktionäre. Die sich über Jahrzehnte erstreckende Debatte in Wissenschaft und Politik über das Depotstimmrecht – „eine schier unendliche Kontroverse“34 – versetzte dieses Thema in ein irreales Licht. Aber an dieser Entwicklung nahm unser unbekannter Aktionär nicht teil, sondern überließ diese Debatte dem Gesetzgeber, den Politikern und einigen Vertretern der Wissenschaft.

VI. Aktionäre als eigennützige Michael-Kohlhaase Hiermit kontrastiert diametral die Aktivität einiger Aktionäre, die entweder als bessere Unternehmer oder als Aufspürer von Fehlern der Vorstände/Aufsichtsräte für Bewegung im aktienrechtlichen Alltag sorgen. Von diesen Aktionären gibt es zwei Kategorien: Die erste Kategorie sind professionell geleitete Fonds, zumeist Hedge-Fonds, die drei Prozent oder etwas mehr des Aktienkapitals der Zielaktiengesellschaften halten, diesen Anteil durch Abreden mit den Managern von anderen Fonds erhöhen und aus ihrer Vollmachtstellung für ihre Anleger den Auftrag herleiten, sich intensiv um ihre Investitionen zu kümmern35. Solches Kümmern enthält die permanente Kontaktpflege mit den Vorständen der Gesellschaften, bei denen sie investiert sind, Informationen über das unternehmerische Ergehen einzuholen und auf dieser Basis mehr oder weniger mit Druck angereicherte Ratschläge zu erteilen. Das geschieht seltener in dem für den Austausch von Informationen vom Gesetz vorgesehenen Forum, der Hauptversammlung nach §§ 118 ff. AktG, speziell in der Form des Auskunftsrechtes nach § 131 AktG, sondern eher in Vier-Augen-Gesprächen oder Telefonaten zwischen dem Vorstand und dem Aktionärsvertreter. Solche informellen Direktkontakte sind nicht einfach mit §§ 53a, 131 AktG in Deckung zu bringen, wenngleich § 131 Abs. 4 AktG die erweiterte Auskunfts-

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30 Z. B. von Vetter, AG 2006, 32 ff., der diesen Bonus „Handgeld“ nennt und die dagegen stehenden Bedenken auflistet. 31 § 123 AktG wurde neu gefasst durch das UMAG v. 22.9.2005 (BGBl. I, S. 2802); hierzu Gätsch/Mimberg, AG 2006, 746. 32 Noch nicht veröffentlichter Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v. 6.5.2008, zur Richtlinie 2007/36/EG v. 11.7.2007. 33 Positionspapier des DSGV, Handelsblatt Nr. 21 v. 30.1.2006, S. 32; hierzu Lenz, AG 2006, 572. 34 Lenz, AG 2006, 572. 35 Beispiele hierfür sind die Fondsgesellschaft/Kapitalanlagegesellschaften DWS und Hermes mit jeweils einem Fondsvermögen von 50 Mrd. Euro und die Fondsgesellschaft der British Telecom mit 44 Mrd. Euro Fondsvermögen.

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pflicht regelt und damit erlaubt36, aber mit rechtlichen Konsequenzen ausstattet. Dessen ungeachtet sollte man diesen Aktivitäten aufgeschlossen begegnen und sie für unterstützungswürdig halten, weil sie einem übergesetzlichen Transparenzgebot folgen, nebenbei die immer wichtiger werdenden IR-Bemühungen unterstützen37 und die Hauptversammlungen für diffizile Aussprachen erwiesenermaßen nicht das rechte Milieu darstellen. Von anderem Kaliber sind die Aktionäre, die mehr oder weniger permanent Beschlussmängelklagen erheben, also gegen Beschlüsse der Hauptversammlungen Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklagen erheben. Diese häufig als unbegründet und eigennützig identifizierten Klagen haben zugenommen. Gab es Anfang des Jahrhunderts nur Klagen in zweistelliger Anzahl, nämlich zwischen 40 und 50 pro Jahr von Aktionären, erhoben Aktionäre 2006 357 Klagen und ebenso viel in 200738. Das UMAG39 hat diesen Klageifer von eigensüchtigen Aktionären nicht zu dämpfen vermocht, was dadurch bewiesen wird, dass die 2007 erhobenen 357 Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen von nur 11 Klägern stammen oder von diesen 11 Klägern gehaltenen oder geleiteten GmbHen. Die von den 11 Klägern erhobenen Klagen enden zumeist durch Vergleich, wobei die Vergleichsquote – also was der Kläger vom Beklagten für die Rücknahme der Klage erhält – doppelt so hoch ist, wie die handelsübliche, also die gewöhnliche Vergleichsquote in Zivilprozessen, weil der Höchststreitwert für Beschlussmängelklagen nach § 247 Abs. 1 AktG nicht angewandt sondern überboten wird. In allen Fällen hat die beklagte Gesellschaft ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussichten der Klagen die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten der Gegenseite übernommen, wobei vielfach die mit den Klägern vereinbarten Kostenerstattungsbeträge ein Vielfaches des Wertes ihres Aktienbesitzes ausmachen40. Diese Spezies von „räuberischen“ Aktionären gibt es also, die auf eigene Art ihre Süppchen kochen, die das Aktionärsrecht mit dem Beschlussmängelklagen bereithält und in einen konti-

__________ 36 Hüffer (Fn. 11), § 131 AktG Rz. 37 ff. 37 Beispiele für informelle Begegnungen zwischen Vorständen und Aktionären: Siemens sprach 2005 auf 40 Roadshows und 321 mal mit wichtigen Aktionären; die SAP führt jährlich über 500 Einzelgespräche mit Aktionären; so Deutsches Aktieninstitut, Shareholder Rights and Responsibilities, 2006, 32 und 39. Diese Zahlen weit übersteigende Anzahl von Analystenkonferenzen sind mit der Problematik aktienrechtlicher Einordnung, speziell dem Auskunftsrecht der Aktionäre, nicht zu konfrontieren, weil diese Analystenkonferenzen öffentlich sind, der Verbreitung von Wissen über die AG und auf diese Weise allen Aktionären dienen. Diese Analystenkonferenzen, z. B. der DVFA, sind eine Form der Publizität, die der allgemeinen und gleichmäßigen Verbreitung von Kenntnissen um die AG dient und das Ziel fördert, das auch § 131 AktG ansteuert. Missbräuche ahndet das Insiderrecht. 38 Deutsche Bundesbank, Kapitalmarktstatistik 6/2007; Karsten Schmidt hat sich im Rahmen seines Referats zur Corporate Governance auf dem 63. DJT mit der Thematik befasst; Baums/Keinath/Gajek, ZIP 2007, 16. 39 Gesetz zur Unternehmensintegration und Modernisierung des Anfechtungsrechtes v. 1.11.2005; vgl. Vetter, AG 2008, 179; Poelzig/Meixner, AG 2008, 196 und Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631. 40 Zum Ganzen Baums/Drinhausen, Weitere Reform des Aktienrechtes der Anfechtung von HV-Beschlüssen, Institut for Law and Finance, Working paper, number 70.

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nuierlich fließenden Geldstrom umfunktionieren. Diese Aktionäre haben den Negativeffekt, die Förderung der Aktie zu erschweren, nämlich Gesetzgeber und Öffentlichkeit vom volkswirtschaftlichen und staatspolitischen Nutzen dieser Einrichtung „Aktie“ nachhaltig zu überzeugen. Nachdem wir uns im vorherigen Kapitel mit dem HV-müden und passiven AR-Aktionär befasst haben, sind wir jetzt bei dem hyperaktiven räuberischen Aktionär gelandet – eine Spannweite, die so weit ist, dass eine einheitliche Definition unmöglich ist. Es bleibt bei „dem unbekannten Aktionär“.

VII. Der Aktionär und die Machtfrage Die eben geschilderten, vom Eigennutz getriebenen Aktionäre üben Einfluss aus. Solcher Einfluss kann bis zur Machtausübung gesteigert werden. Das führt zu der nächsten Frage, ob sich die Aktionäre der großen deutschen Aktiengesellschaften als ein Machtfaktor verstehen. Immerhin stellen sie ihre Ersparnisse der AG zur Verfügung, und normalerweise bestimmt der Geldgeber die Richtung, in der die AG zu gehen hat. Er übt Macht aus. Überdies ist der Aktionär der Eigentümer seiner Aktiengesellschaft. Aber wie wir oben gesehen haben und vom BVerfG bescheinigt bekamen, ist der Aktionär ein indirekter Eigentümer, ein Inhaber eines gesellschaftsrechtlich vermittelten Eigentums41. Diese Formel ist wohl zu kompliziert für Millionen von Aktionären, als dass sie die Frage nach der aus Eigentum und Kapitaleinsatz normalerweise fließenden Machtausübung beantwortet. Konkret heißt die Frage: Wollen Aktionäre über ihre passiven Rechte des Einblicks in das Unternehmensgeschehen, über die Stimmrechte usw., aktive Mitgestaltungsrechte in der AG für sich reklamieren? Wollen die Aktionäre Macht ausüben? Die Machtfrage ist aus der Interessensicht des Aktionärs in allen Aktienrechten der westlichen Industrieländer dahin entschieden, dass der Aktionär sich in folgenden Rechtsbereichen aktiv, machtbewusst und gestalterisch frei bewegen kann: 1. im Recht der Stimmabgabe, was das Recht der Ablehnung von Verwaltungsanträgen einschließt; 2. im Recht zur Klage gegen den Vorstand in Schadensfällen und 3. im Recht zum Verkauf seiner Aktie42. Darüber hinaus hat er einen eher passiven, reflexartigen Informationsanspruch, der sich im Rechnungslegungsrecht der Aktiengesellschaft niederschlägt und er hat den Corporate Governance Kodex an seiner Seite, der ihm zur Wahrung seiner Rechte und zur Ergänzung seiner aktienrechtlichen Ansprüche dienen mag. Dass auf der anderen Seite der Vorstand alle Macht, alle aktiven Führungsrechte, alle Informationsrechte auf sich vereinigt, obgleich er keinen dies rechtfertigenden Eigentumstitel sein eigen nennt – er hat „Power without property“ – ist nicht zu beklagen, schon gar kein Widerspruch zwischen der

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41 BVerfGE 50, 90 im ersten Mitbestimmungsurteil von 1979. 42 So Livingstone, The American Stockholder, S. 40 ff., zur US-amerikanischen Rechtslage, zur sog. „Wall-Street-rule“, die cum grano salis auch in Deutschland gilt. Das Recht auf Verkauf der Aktie gilt für Warren Buffet nicht, er sieht den Aktionär als Mitunternehmer, der ihm sein Kapital für den Rest seines Lebens anvertraut hat, so The Essays of Warren Buffet: Lessons for Corporate America, S. 46.

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Rechtstellung und der tatsächlichen Stellung des Aktionärs, sondern ist von den Aktionären willentlich und wissentlich so gewählt und gewollt. Die Aktionäre zahlen für die Ausübung der wirtschaftlichen Macht durch den Vorstand diesem Vorstand ein zumeist erkleckliches mitunter auch überhöhtes Honorar. Dies ist die sinnstiftende Idee der Aktiengesellschaft, „die List dieser Rechtsidee“, ein Eigentum ohne Macht und Einfluss zu schaffen, sondern Macht und Einfluss der Sachkunde zuzuordnen, davon ausgehend, dass diese Sachkunde im Vorstand jederzeit und immer auf neuestem Stand vorhanden ist. Diese „List der Rechtsidee“ ist dem Aktionär seit Generationen wohlvertraut, denn ein Aktionär zu sein ist kein Beruf43, was schon vor 100 Jahren geschrieben wurde und vielfältig bearbeitet wurde44. Dieser Tatbestand mag dem dogmatisch geprägten Vertreter eines Eigentumgedankens, der mehr Kontrolle und aktive Mitwirkung einschließt45, befremdlich erscheinen, ist aber gelebte Rechtswirklichkeit, die sich bewährt hat. Dabei sollte man es auch belassen. Der Eigentumsgedanke hat ausreichende Förderung durch den Gesetzgeber erfahren, was die anhaltende Existenz von Aktionärsrechten in der Hauptversammlung beweisen, für die es nur schwache sachliche Rechtfertigung gibt46, die aber ein langes Leben haben. Als Ergebnis können wir festhalten, dass die Einfluss- und Machtfrage sich für den hier im Mittelpunkt stehenden Aktionär nicht stellt: Er will den Ausschluss von wirtschaftlichen Einfluss, er will Zuschauer des aktienrechtlichen Geschehens sein. Das ist für ihn die Geschäftsgrundlage seines Aktienkaufs. Insoweit ist der Aktionär nicht unbekannt, sondern vergleichsweise eindeutig festzulegen.

VIII. Der Aktionär und der Nutzen aus seiner Anlage Der Aktionär erhält auf seine Kapitalanlage von seiner AG die Gewinnausschüttungen und den Liquidationserlös wenn es zur Abwicklung kommt. Im laufenden Geschäft, das von keiner Abwicklung bedroht ist, steht zur Verteilung der aus dem Jahresüberschuss nach § 275 Abs. 2 Nr. 2 und nach Abs. 3 Nr. 19 HGB sich weiter rechnende Bilanzgewinn nach § 158 Abs. 1 Nr. 5 AktG. Den Bilanzgewinn haben Vorstand und Aufsichtsrat die Kompetenz, nach der bereits erwähnten 50:50-Mittellösung zur Hälfte an die Aktionäre zu verteilen und zur anderen Hälfte einzubehalten. Die in § 58 AktG geregelte Verteilungsmechanik wird unter zwei Aspekten diskutiert: Von den Aktio-

__________ 43 Steinitzer, Ökonomische Theorie der Aktiengesellschaft, 1908, S. 172. 44 Aus der Literatur z. B. Berle/Means, Modern Corporation and Private Property; Mestmäcker, Verwaltung Konzerngewalt und Recht der Aktionäre, § 58, 21; Wiethölter, Interessen und Organisation der Aktiengesellschaft, 1961; bis zu Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 781. 45 Z. B. die angelsächsischen Hedgefonds. Bei diesen Geldgebern dominiert nicht der Eigentumsgedanke, sondern eher die Shareholder Value-Idee. 46 Z. B. das HV-Recht der Bilanzfeststellung; zum Ganzen Mertens, AG 1990, 49 ff.

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nären und den Juristen wird vornehmlich der Aspekt diskutiert, ob die Selbstfinanzierung der AG durch einbehaltenen Gewinn und zu Lasten der Dividende sachgerecht ist. Zum zweiten wird diskutiert, ob neben der Dividende auch der Kursgewinn in die Rendite von Aktien mit einzubeziehen ist. Letzteres wäre eine Diskussion für Ökonomen und Börsianer, die sie mit Aktionären führen. Zur ersten Frage hat der Gesetzgeber mit dem hälftigen Ausschüttungszwang in § 58 Abs. 2 Satz 1 AktG als Kompromiss zwischen dem Gewinnanspruch der Aktionäre und der Notwendigkeit zur Selbstfinanzierung sowie als Lösung der Kompetenzfrage sicher nicht das „Gelbe im Ei“ getroffen, weil solche Kompromisslösungen wissenschaftliche Autoren47 nur begrenzt befriedigen. Der fehlende Enthusiasmus mit diesem Kompromiss erklärt sich als logische Konsequenz eines jeden Kompromisses zwischen divergierenden Interessen und Auffassungen. Unzufriedenheit auf allen Seiten beweist Sinn für vernünftigen Pragmatismus. Überdies ist die Lösung des § 58 Abs. 2 Satz 1 AktG ein deutsches Unikat, im angelsächsischen Rechtskreis unbekannt, und wird von 80 % der institutionellen Aktionäre als sachfremd abgelehnt48. Der Gesetzgeber aber hält § 58 Abs. 2 Satz 1 AktG für gelungen und von grundsätzlicher Bedeutung49. Nun ist seit 1965 viel Zeit vergangen, die Ausschüttungspolitik hat sich seitdem verbessert, obgleich es ständiges Thema auf heutigen Hauptversammlungen ist. So stieg die Gesamtdividende aller deutscher AGen von 3,004 Mrd. DM auf 16 Mrd. Euro im Jahr 2000, auf 34 Mrd. Euro in 2007, nachdem es in 2006 schon mal 35,8 Mrd. Euro waren50. Bei den DAX-Werten stieg die Dividendensumme von 16 Mrd. Euro in 2001 auf 28 Mrd. Euro in 2007, ein Anstieg von 57 %, was eindrucksvoller ist als der Anstieg der Dividendensumme bei allen Aktiengesellschaften, weil dort neue AGen hinzugekommen sind, während die DAX-Werte mit 30 Aktiengesellschaften ein Closed Shop sind. Deshalb spielt in der das Rechtsbewusstsein prägenden Praxis diese Verteilungsproblematik des Bilanzgewinnes auf Einbehalt einerseits und Dividende andererseits nicht mehr die wesentliche Rolle wie 1965–1975. Ob der Sinneswandel in der Dividendenpolitik seit Verabschiedung des Aktiengesetzes 1965 von den kapitalmarktpolitischen Notwendigkeiten erzwungen wurde oder aus besserer Einsicht sich veränderte oder der Generationenwechsel in den Vorstandsetagen diesen Wandel hervorrief, ist Gegenstand von Spekulationen. Wenn es um Geld geht, zählen nur Fakten. Aber auch auf dem sprachlichen Sektor hat sich ein Wandel vollzogen: Die früher verwandten Vokabeln wie „stabile Dividende“ oder „Aushungerungsdividende“ gehören der Vergangenheit an und werden kaum noch verwandt. Geblieben ist die Diskussion, was für den Aktionär der interessantere Ertragsanteil ist, Dividende oder Kursgewinne. Zu diesem Thema hat sich Max

__________ 47 Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 58 AktG Rz. 20; Bayer in MünchKomm. AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 19. 48 So Ernst/Gassen/Pellens (Fn. 27), S. 36. 49 BT-Drucks. 12/6712, 8, linke Spalte, Begründung des AktG 1965. 50 Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1970–2007.

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Weber in seiner Schrift zum „Börsenwesen“ geäußert51. An Max Weber ist in einer Festschrift für Karsten Schmidt zu erinnern, weil Max Weber – obgleich als Soziologe hoch geachtet und weltberühmt – bei dem Juristen Levin Goldschmidt promovierte. Levin Goldschmidt war 1858 Gründer und Herausgeber der „Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht“. Einer seiner Nachfolger in dieser Herausgeberfunktion ist Karsten Schmidt, dem diese Festschrift zugeeignet ist. Max Weber also befasste sich mit dem Börsenwesen, er publizierte „Die Ergebnisse der deutschen Börsengesetze“ in Levin Goldschmidt’s Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, wie sich die ZHR damals nannte. Max Weber äußerte sich auch zu unserer Frage über Kursgewinne und deren Einrechnung in den Nutzen einer Anlage in Aktien. Max Weber kann eine wissenschaftliche Bedeutung von Kursgewinnen nicht ausmachen, weil Kursgewinne von so vielen Faktoren nicht berechenbarer Art abhängen, auch von Faktoren, die nicht am Schicksal des Einzelunternehmens angebunden sind, dass für ihn eine Kalkulations- und Einbeziehungsgrundlage in eine Nutzenrechnung von Aktienanlagen nicht besteht. Was für Max Weber 1894 richtig war, hat auch heute noch Überzeugungskraft, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass Max Weber seine Kritik gegenüber Kursgewinnen als Renditebestandteil ausdrücklich als „eine wissenschaftliche Position“ bezeichnet hat. Die Praxis der Vermögensanlage sieht die Kursgewinne – obgleich ungewiss, schwankend und ohne Rechtsgrund mitunter anfallend, mitunter in Kursverlusten umschlagend – als Teil des Anlageerfolges52. Besonderes Gewicht erhalten die Kursgewinne bei jungen, technologieorientierten Aktiengesellschaften mit solider Ertragskraft, die gut beraten sind, wenn sie in der Dividendenfrage Abstinenz üben, mit dem voll einbehaltenen Ertrag ihr Wachstum finanzieren und die Aktionäre nicht mit kostspieligen Schüttaus- und Holzurückpraktiken überziehen53. Es liegen empirische Daten für die Frage „Dividende und/oder Kursgewinne“ aus Befragungen vor, allerdings vor Einführung der Abgeltungssteuer, also aus einer Zeit, da die Kursgewinne noch steuerfrei waren. Ab 2009 ist die Steuerfreiheit nicht mehr geltendes Recht, Kursgewinne unterliegen dann der Abgeltungssteuer. Der Vorteil für die Kursgewinne fällt also in Zukunft weg, worauf bei Wertung der empirischen Daten der Befragung der Aktionäre der Deutsche Post AG zu achten ist54. Danach gibt es eine deutliche Mehrheit der befragten Aktionäre für eine mittlere Dividende und für eine mittlere Kurssteigerung. So waren die Präferenzen der Aktionäre im Jahr 2007. Dass für eine geringere

__________ 51 Reprint von Knut Borchardt, Max Webers Börsenschriften: Rätsel um ein übersehenes Werk, Jahrgang 2000, Heft 4. 52 Adelberger, Handbuch der Wertpapieranlage, 1982, S. 120. 53 Für solche Aktien wurde die Aktienbewertungsmethodik der „Price Earnings Ratio“ als Basiswert in „Price Earnings plus Groth Ratio“ aufgebaut, um diesem Gesichtspunkt des überdimensionalen Wachstums Rechnung zu tragen. 54 Ernst/Gassen/Pellens (Fn. 27), S. 25.

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Dividende bei höheren Kurssteigerungen 33 % der Befragten votierten, erscheint als eine von steuerlichen Gesichtspunkten vorgeprägte Ansicht. Da für die vorhersehbare Zukunft erhebliche Kursgewinne nicht sehr wahrscheinlich sind, Kursverluste aber nicht auszuschließen, wird das Thema „Dividende versus Kursgewinne“ eher im Sinne von Max Webers wissenschaftlicher Sichtweise, also zugunsten der Dividende, sich entwickeln. Die Mehrheit der Aktionäre wird in ihrer Erwartungshaltung enttäuscht, sofern sie Dividende plus Kursgewinne erhoffen. Ist deshalb der Aktionär ein für rationale Erwägungen weniger geeignetes Geschöpf? Gehören deshalb die 10 Millionen Bundesbürger, die in Aktien oder Aktienfonds investieren, in die Kategorie von Menschen, die vom Leben mehr erwarten, als es zu liefern imstande ist, ist der „Aktionär – auch wegen der offenen Nutzenfrage – ein unbekanntes Wesen“?

IX. Schlusssatz Wir haben einen Ausflug in die Denkweise des anonymen Aktionärs gemacht, haben versucht, seine Interessen, seine Vorlieben und Abneigungen zu ergründen. Ob dies gelungen ist, bleibt dem Leser überlassen. Wichtiger ist die hier herausgearbeitete Personalie von Max Weber über Levin Goldschmidt bis zu unserem Jubilar. Denn Max Weber schrieb für Friedrich Naumann und dessen „Göttinger Arbeiterbibliothek“ den nicht neuen aber wahren Spruch: „Auf die Person kommt es an“. Das hätte Max Weber auch für Karsten Schmidt geschrieben, wenn sie sich begegnet wären.

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Meinrad Dreher

Die Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Abfindung im Vergütungssystem und die Entscheidungszuständigkeit in Vergütungsfragen 1. Die Vorstandsvergütung 2. Die Aufsichtsratsvergütung III. Die Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG auf eine Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat 1. Das Problem 2. Das Erfordernis einer Zahlung an ein Mitglied des Aufsichtsrats

3. Das Erfordernis einer Zahlung für eine Aufsichtsratstätigkeit 4. Die Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Aufsichtsratsvergütung IV. Die Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG analog auf eine Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat 1. Das Problem 2. Die Frage der Gesetzeslücke 3. Die Frage der Vergleichbarkeit der Sachverhalte V. Zusammenfassung

I. Einleitung Abfindungen für Vorstandsmitglieder, die vorzeitig aus dem Organ ausscheiden, haben – ausgelöst u. a. durch den Fall Mannesmann – sowohl die Rechtsprechung beschäftigt1 als auch einen breiten Widerhall in der Literatur gefunden2 und zuletzt zu einer Neuregelung im Deutschen Corporate Governance Kodex3 geführt. Nach Ziff. 4.2.3 des Kodex in neuester Fassung vom 6. Juni 2008 „soll bei Abschluss von Vorstandsverträgen darauf geachtet werden, dass Zahlungen an ein Vorstandsmitglied bei vorzeitiger Beendigung der Vorstandstätigkeit ohne wichtigen Grund einschließlich Nebenleistungen den Wert von zwei Jahresvergütungen nicht überschreiten (Abfindungs-Cap) und nicht mehr

__________ 1 Vgl. dazu BGH, AG 2006, 110 = ZIP 2006, 72 und LG Düsseldorf, ZIP 2004, 2044 = AG 2004, 680 (nur Ls.) als Vorinstanz. 2 Vgl. z. B. Dreher, AG 2006, 213 ff.; ders. in RWS Forum Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 203 ff.; Leßmann, Abfindungsvereinbarungen mit Organmitgliedern deutscher Kapitalgesellschaften, 2006; Peltzer, ZIP 2006, 205 ff.; Spindler, ZIP 2006, 349 ff.; Fleischer, DB 2006, 542 ff.; Ransiek, NJW 2006, 814 ff.; Säcker/Boesche, BB 2006, 897 ff.; Zech, Untreue durch Aufsichtsratmitglieder einer Aktiengesellschaft, 2007, S. 209 ff.; Dittrich, Die Untreuestrafbarkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Festsetzung überhöhter Vorstandsvergütungen, 2007, S. 156 ff.; Martens in FS Westermann, 2008, S. 1191 ff. 3 Deutscher Corporate Governance Kodex vom 14.6.2007.

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als die Restlaufzeit des Anstellungsvertrages vergüten. Für die Berechnung des Abfindungs-Caps soll auf die Gesamtvergütung des abgelaufenen Geschäftsjahres und gegebenenfalls auch auf die voraussichtliche Gesamtvergütung für das laufende Geschäftsjahr abgestellt werden.“ Während sich die allgemeine Debatte um Abfindungen für Vorstandsmitglieder weiter fortsetzt4, hat eine spezielle, aber rechtsdogmatisch fordernde und auch durchaus praktische Facette des Themas in der deutschen Literatur bisher keine Beachtung gefunden5. Dabei geht es um die Gewährung von Abfindungen an Vorstandsmitglieder, die ihren Vorstandsvertrag vorzeitig aufheben, um in den Aufsichtsrat derselben Gesellschaft zu wechseln6. Der Fall Börsig veranschaulicht die damit verbundenen Rechtsfragen. Der frühere Finanzvorstand der Deutschen Bank AG Clemens Börsig schied im Jahr 2006 aus dem Vorstand der Gesellschaft aus. Ziel war es, in den Aufsichtsrat zu wechseln und dort die Nachfolge des zurückgetretenen Aufsichtsratsvorsitzenden zu übernehmen7. Anlässlich des Ausscheidens aus dem Vorstand wurden dem Vorstandsmitglied Börsig Zahlungen durch die Gesellschaft in Höhe von insgesamt 15 Mio. Euro durch den Aufsichtsrat bewilligt8. Daneben wurden 3 Mio. Euro in den Pensionsplan für den Betroffenen eingestellt. Dabei ist unklar, ob und inwiefern diese Summe auch Abfindungselemente dafür enthält, dass sich die vertraglichen Pensionsansprüche durch das vorzeitige Ausscheiden aus dem Vorstand verringern. Der Vorgang führte zu einer Strafanzeige gegen den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank AG9. Behauptet wurde, die Abfindungsleistungen seien weder mit den Grundsätzen für Abfindungsvereinbarungen nach der sogenannten Mannesmann-Rechtsprechung des BGH10 vereinbar noch hätte die Abfindung durch den Aufsichtsrat beschlossen werden dürfen. Allein zuständig sei nach § 113 AktG in einem solchen Fall des Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat nämlich die Hauptversammlung, da es um zusätzliche Vergütungen für die Übernahme und Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied gehe11.

__________

4 Vgl. aus jüngster Zeit z. B. Hohenstatt/Wagner, ZIP 2008, 945, 948 f. 5 Sie war dagegen nach Pressemeldungen – vgl. nur FAZ vom 21.10.2006, Nr. 245, S. 14: „Anzeige gegen Ackermann – Leo Kirch setzt Rachefeldzug gegen die Deutsche Bank fort“ – anlässlich des nachstehend geschilderten Falles Börsig Gegenstand von Rechtsgutachten; diese lagen dem Verfasser des Festschriftbeitrags, der keinen rechtsgutachterlichen Hintergrund hat, nicht vor. 6 Nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist das Für und Wider der rechtlichen Zulässigkeit oder Beschränkung des Wechsels ehemaliger Vorstandsmitglieder in den Aufsichtsrat derselben Gesellschaft, vgl. dazu nur die Hinweise in Fn. 39. 7 Vgl. den im Internet verfügbaren Geschäftsbericht der Deutschen Bank AG für das Jahr 2006, Finanzbericht S. 189 f. 8 Geschäftsbericht der Deutschen Bank AG für das Jahr 2006 (Fn. 7), Finanzbericht S. 37. 9 Vgl. z. B. FAZ (Fn. 5). 10 Vgl. oben Fn. 1. 11 Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat auf die Anzeige hin den Anfangsverdacht einer Untreuestraftat im Januar 2007 verneint. Die hiergegen eingelegte Dienstaufsichtsbeschwerde wurde von dem Generalstaatsanwalt beim OLG Frankfurt durch Entscheidung vom 3.8.2007 verworfen.

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Die Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat einer AG

Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden um die Frage, ob § 113 Abs. 1 AktG tatsächlich Abfindungen erfasst, die einem Vorstandsmitglied gezahlt werden, das unter vorzeitiger Beendigung seines Anstellungsvertrags in den Aufsichtsrat wechseln soll. Dazu ist zunächst kurz darauf einzugehen, wie Abfindungszusagen in das aktienrechtliche Vergütungssystem einzuordnen sind und welche Entscheidungszuständigkeiten dabei bestehen (unten II.). Sodann ist zu erörtern, ob § 113 Abs. 1 AktG auf die fraglichen Abfindungen beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat direkt (unten III.) oder analog (unten IV.) anwendbar ist. Nicht Gegenstand dieses Beitrags ist dagegen der umgekehrte Fall des Wechsels vom Aufsichtsrat in den Vorstand einer Gesellschaft. In diesem Fall ist eine „Abfindungslösung“ nämlich nicht möglich. Denn für eine Abfindung des Aufsichtsratsmitglieds fehlt es schon an einem Anstellungsverhältnis12, während im umgekehrten Fall der Abfindungsleistungen an Vorstandsmitglieder diese ihren Grund in der Existenz eines Vorstandsanstellungsvertrags haben13. Außerdem kann die Hauptversammlung die von ihr gewählten Aufsichtsratsmitglieder nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG grundsätzlich auch ohne wichtigen Grund und ohne Einhaltung von Fristen abberufen14. Demgegenüber kann der Aufsichtsrat die Bestellung eines Vorstandsmitglieds nur aus wichtigem Grund vorzeitig widerrufen.

II. Die Abfindung im Vergütungssystem und die Entscheidungszuständigkeit in Vergütungsfragen 1. Die Vorstandsvergütung Fragen der Vorstandsvergütung in der Aktiengesellschaft fallen nach §§ 84 Abs. 1 Satz 5, 87 Abs. 1 Satz 1 AktG in den Zuständigkeitsbereich des Aufsichtsrats. Dies gilt auch für Abfindungszahlungen an Vorstandsmitglieder, bei denen sich die vorliegend fragliche Besonderheit einer Abfindung mit dem Ziel, den Wechsel in den Aufsichtsrat zu ermöglichen, nicht findet. Zwar ist in der Literatur teilweise umstritten, ob die Bewilligung von Abfindungen aufgrund eines weiten, gesetzlich nicht abschließend definierten Abfindungsbegriffs überhaupt als Entscheidung über die Vorstandsvergütung bezeichnet werden kann15. Jedoch dienen Abfindungen der Abwicklung des Vorstandsanstellungsvertrags. Und zur Vergütung zählt alles, was ein Vorstandsmitglied aufgrund des Anstellungsverhältnisses von der Gesellschaft erhält16. Wird die Vorstandstätigkeit vorzeitig beendet, schließen die Aktiengesellschaft und das betroffene Vorstandsmitglied meist einen Vertrag über die Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags. In diesem Aufhebungsvertrag ver-

__________ 12 Vgl. statt Vieler nur Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit in der Aktiengesellschaft, 2000, S. 20. 13 Vgl. z. B. Leßmann (Fn. 2), S. 44 f. 14 Vgl. nur Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 103 AktG Rz. 3. 15 Siehe dazu unten Fn. 26 sowie ausf. zum Abfindungsbegriff z. B. Dittrich (Fn. 2), S. 62 ff., 150 ff. und Leßmann (Fn. 2), S. 46 ff., jew. m. w. N. 16 Vgl. z. B. Dreher in RWS Forum Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 208.

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pflichtet sich die AG zur Zahlung einer Abfindung. Nicht selten kommt es nur wegen solcher Abfindungen überhaupt dazu, dass die Vorstandstätigkeit im Einvernehmen zwischen der Gesellschaft und dem Vorstandsmitglied beendet wird. Besonders wenn die Beendigung der Vorstandstätigkeit auf die Initiative der Gesellschaft zurückgeht, ist diese Abfindungspraxis in den meisten Fällen auch überaus einleuchtend. Ist nämlich kein wichtiger Grund für den Widerruf der Bestellung des Vorstandsmitglieds gegeben, wäre ein Widerruf zwar zunächst wirksam, die Gesellschaft müsste aber das Risiko eingehen, dass sich das abberufene Vorstandsmitglied erfolgreich gerichtlich dagegen zur Wehr setzt. Aber selbst wenn im konkreten Fall ein wichtiger Grund für den Widerruf der Bestellung zum Vorstandsmitglied besteht, kann sich die Gesellschaft zur einvernehmlichen Aufhebung des Anstellungsvertrags gegen Zahlung einer Abfindung veranlasst sehen. Der Grund liegt darin, dass zwischen Bestellung und Anstellung des Vorstandsmitglieds zu unterscheiden ist. Ein wichtiger Grund zum Widerruf der Bestellung stellt nicht unbedingt auch einen wichtigen Grund zur Kündigung des Anstellungsvertrags dar17. Und sogar dann, wenn Bestellung und Anstellungsvertrag durch eine Kopplungsklausel im Anstellungsvertrag miteinander verbunden sind, würde der Anstellungsvertrag nicht zwangsläufig mit dem Widerruf der Bestellung enden, da für den Anstellungsvertrag auch im Falle der Koppelung die Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB aufgrund einer analogen Anwendung zu beachten ist18. Solange der Anstellungsvertrag noch fortbestünde, wäre die Gesellschaft wegen § 615 Satz 1 BGB trotz des Widerrufs der Bestellung auch noch zur Zahlung der im Anstellungsvertrag vereinbarten Vergütung verpflichtet19. Die im Aufhebungsvertrag vereinbarte Abfindung orientiert sich deshalb regelmäßig an dem Betrag der Bezüge, die das scheidende Vorstandsmitglied noch erhalten hätte, wenn die Vorstandstätigkeit nicht vorzeitig beendet worden wäre. Für Zahlungen, die nur diejenigen vertraglichen Ansprüche abgelten sollen, mit deren Erfüllung das scheidende Vorstandsmitglied für die ursprünglich vereinbarte Vertragslaufzeit sicher hätte rechnen können, hat sich der Begriff der ablösenden Abfindungen herausgebildet; Zuwendungen, die diese Summe übersteigen, werden als zusätzliche Abfindungen bezeichnet20. Insbesondere dann, wenn das Vorstandsmitglied lange vor dem eigentlichen Ende des Anstellungsvertrags ausscheidet, kann auch eine lediglich ablösende Abfindung eine beträchtliche Höhe erreichen. Dieses Phänomen gewinnt dadurch an Bedeutung, dass die Höchstbestelldauer für Vorstände deutscher Aktiengesellschaften mit fünf Jahren21 vergleichsweise lang ist und diese in

__________ 17 Vgl. nur Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2102; Bauer/Arnold, BB 2007, 1793, 1794; Dörrwächter/Trafkowski, NZG 2007, 846. 18 Vgl. Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2103. 19 Zu den Details siehe Bauer, DB 1992, 1413, 1416; Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2102; Fonk, NZG 1998, 408 f. begründet die Fortdauer des Vergütungsanspruchs nicht durch Annahmeverzug, sondern durch Unmöglichkeit. 20 Fonk in Semler (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 1999, I 326; Leßmann (Fn. 2), S. 71 ff.; Dittrich (Fn. 2), S. 63 f. 21 § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG.

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der Praxis im Regelfall voll ausgeschöpft wird22. In der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex setzte sich daher die Ansicht durch, dass die volle Abfindung der Vergütungsansprüche für eine so lange Restlaufzeit des Anstellungsvertrags in der Regel unangemessen sei und auch eine erhebliche Missbrauchsgefahr bestehe. Seit Juni 2008 enthält der Deutsche Corporate Governance Kodex deshalb die bereits angeführte Empfehlung, in Vorstandsanstellungsverträgen so genannte Abfindungs-Caps zu vereinbaren23. Demnach sollen die Anstellungsverträge künftig insbesondere vorsehen, dass bei vorzeitiger Beendigung der Vorstandstätigkeit ohne wichtigen Grund24 nicht mehr als zwei Jahresvergütungen als Abfindung gezahlt werden25. Solche Abfindungen, die vor allem für Vergütungen gezahlt werden, die dem Vorstand durch sein vorzeitiges Ausscheiden entgehen, sind von Sonderzahlungen wie beispielsweise Anerkennungsprämien streng zu unterscheiden. In der öffentlichen Diskussion und auch in der juristischen Literatur kommt es hingegen immer wieder dazu, dass diese Begriffe vermengt werden26. Für die Zuständigkeit des Aufsichtsrats ist es letztlich unerheblich, ob eine Abfindung als Vorstandsvergütung im Sinne des § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG zu werten ist. Die Abfindung wird im Rahmen des Vertrags über die Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags vereinbart. Für einen solchen Vertrag ist der Aufsichtsrat schon wegen § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG zuständig. 2. Die Aufsichtsratsvergütung Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG kann eine Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder nur aufgrund einer Festsetzung durch die Satzung oder durch die Hauptversammlung erfolgen. Bei jeder Entscheidung über die Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern ist daher diese Zuständigkeit einzuhalten. Sofern es

__________ 22 Vgl. z. B. Bauer/Arnold, BB 2007, 1793, 1794. Für die Erstbestellung enthält der Deutsche Corporate Governance Kodex in Ziff. 5.1.2 die Anregung, die Höchstbestelldauer nicht zum Regelfall zu machen. 23 Siehe oben I. 24 Die Anregung stellt leider nicht klar, dass es auf einen wichtigen Grund zur Beendigung des Anstellungsvertrags ankommen muss. Allein ein wichtiger Grund zum Widerruf der Bestellung würde die AG nämlich nicht zur Kündigung des Anstellungsvertrags berechtigen, so dass das Bedürfnis nach einem Aufhebungsvertrag mit Abfindungsregelung weiterhin bestehen könnte, vgl. dazu auch Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2105; Bauer/Arnold, BB 2007, 1793, 1794; Dörrwächter/Trafkowski, NZG 2007, 846, 848. 25 Auch die neue Literatur geht gleichwohl ohne weiteres davon aus, dass ablösende Abfindungen regelmäßig die bis zum Ablauf der Anstellungsperiode zu gewährenden Bezüge umfassen, vgl. z. B. Hohenstatt/Wagner, ZIP 2008, 945, 949 und Dittrich (Fn. 2), S. 151. 26 So bezeichnen z. B. Adams, ZIP 2002, 1325 und Käpplinger, NZG 2003, 573 sowie Körner, NJW 2004, 2697, 2699 auch die im Fall Mannesmann gezahlten Anerkennungsprämien als Abfindungen; mit missverständlichen Erwähnungen des Falles Mannesmann auch Bauer/Arnold, BB 2007, 1793. Auf solche begrifflichen Ungenauigkeiten weisen zu Recht hin Fonk (Fn. 20), I 326; Hoffmann-Becking, ZHR 169 (2005), 155, 168; Leßmann (Fn. 2), S. 46 f.; Lutter, ZIP 2006, 733, 736 f.

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sich bei einer Abfindungsleistung aus Anlass des Wechsels eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat um eine Vergütung für die Aufsichtsratstätigkeit handeln sollte, kann sie – bei Fehlen einer entsprechenden Satzungsbestimmung – nur von der Hauptversammlung bewilligt werden. Maßgeblich und im folgenden zu klären ist daher, ob derartige Leistungen, die als Abfindungen bezeichnet werden, als Vorstandsvergütung oder als Aufsichtsratsvergütung einzuordnen sind.

III. Die Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG auf eine Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat 1. Das Problem Wenn ein Vorstandsmitglied nur gegen Zahlung einer ablösenden Abfindung bereit ist, in den Aufsichtsrat einer Gesellschaft zu wechseln, könnte der Anlass der Zahlung dafür sprechen, sie nicht als Vorstands-, sondern als Aufsichtsratsvergütung anzusehen. Ob dies aus rechtlicher Sicht zutrifft, entscheidet sich nach § 113 AktG. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Regelung „kann den Aufsichtsratsmitgliedern für ihre Tätigkeit eine Vergütung gewährt werden.“ Um eine Abfindung als Aufsichtsratsvergütung einstufen zu können, muss sie also einerseits grundsätzlich einem Mitglied des Aufsichtsrats gewährt werden, d. h. der persönliche Anwendungsbereich der Regelung muss eröffnet sein. Andererseits muss die Abfindung eine Vergütung für die Aufsichtsratstätigkeit darstellen, d. h. sie muss auch im sachlichen Anwendungsbereich der Regelung liegen. 2. Das Erfordernis einer Zahlung an ein Mitglied des Aufsichtsrats § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG fordert die Zahlung an ein Aufsichtsratsmitglied. Abfindungsleistungen werden jedoch zu einem Zeitpunkt vereinbart, in dem der künftige Empfänger der Leistungen noch Mitglied des Vorstands und nicht des Aufsichtsrats ist. Eine gleichzeitige Mitgliedschaft in beiden Organen schließt § 105 Abs. 1 AktG aus. Dies gilt auch für den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat27. Infolgedessen muss ein Vorstandsmitglied, das in den Aufsichtsrat wechseln soll, vor der Bestellung beziehungsweise spätestens zeitgleich damit sein Amt niederlegen28. Da es in den fraglichen Fällen der Sache nach nicht um eine streitige, sondern nur um eine einvernehmliche Beendigung der Vorstandstätigkeit geht, wird zwischen dem scheidenden Vorstandsmitglied und dem Aufsichtsrat hinsichtlich der Bedingungen, unter denen der Anstellungsvertrag als Vorstandsmitglied zu beenden ist, ebenfalls immer Einigkeit bestehen. Im Beispielsfall der Deutschen Bank AG wurde die Tätigkeit des Vorstandsmitglieds Börsig am 3. Mai 2006 einvernehmlich beendet und der entsprechende Anstellungsvertrag aufgehoben. Am 4. Mai 2006 wurde das ausgeschiedene Vorstandsmitglied vom Registergericht zum Mit-

__________

27 BGH, NJW 1975, 1657, 1658. 28 Vgl. statt Vieler nur Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 105 AktG Rz. 26.

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glied des Aufsichtsrats bestellt und sodann vom Aufsichtsrat zu seinem Vorsitzenden gewählt29. Zu der fehlenden Eigenschaft des Zahlungsversprechensempfängers als Aufsichtsratsmitglied im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG kommt aber noch hinzu, dass im Zeitpunkt der Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags keine rechtliche Gewissheit darüber bestehen kann, dass der Empfänger der Abfindung tatsächlich nachfolgend zum Aufsichtsratsmitglied bestellt wird. Die Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied als Anteilseignervertreter erfolgt nach § 101 Abs. 1 AktG durch die Hauptversammlung oder – wie im Fall Börsig – nach § 104 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 Nr. 2 AktG durch das Gericht. Rechtliche Sicherheit für das Vorstandsmitglied, dass die in Aussicht genommene Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied tatsächlich erfolgt, besteht daher nicht. Zwar ist davon auszugehen, dass das Gericht bei einer Ergänzung des Aufsichtsrats üblicherweise die vom Antragsteller vorgeschlagene Person als Aufsichtsratsmitglied bestellt. Gleiches dürfte für eine Bestellung der in Aussicht genommenen Person durch die Hauptversammlung gelten. Gleichwohl ist das Gericht hinsichtlich der Person des zu bestellenden Aufsichtsratsmitglieds an den Vorschlag nicht gebunden, entscheidet also grundsätzlich frei30. Für die Hauptversammlung gilt dies ohnehin. Zwar könnte man einwenden, es würde in die Bestellungskompetenz der Hauptversammlung mittelbar eingegriffen, wenn der Aufsichtsrat insofern vollende Fakten schafft, als ein Vorstandsmitglied, das zur Bestellung in den Aufsichtsrat vorgesehen ist, abgefunden und ein neues Vorstandsmitglied bestellt wird. Würde die Hauptversammlung eigentlich einen anderen Aufsichtsratskandidaten favorisieren, könnte sie diesen nur um den Preis der „vergeblich“ gezahlten Abfindung bestellen. Entscheidend gegen einen solchen Einwand spricht aber bereits die Zuständigkeitsordnung. Jedes Organ nimmt seine Zuständigkeit aus rechtlicher Sicht unabhängig von der eines anderen Organs wahr. Die Hauptversammlung ist in ihrer Entscheidung über die Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds daher ebenso frei wie der Aufsichtsrat in derjenigen über die Aufhebung eines Vorstandsanstellungsvertrags. Dass einzelne Entscheidungen tatsächlich verwoben sind, ändert an dieser ausschließlichen rechtlichen Zuständigkeit zu einer ungebundenen Entscheidung nichts. Weiter könnte fraglich sein, ob Zahlungen, die entsprechend einem Vertrag zur Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags erst später, d. h. während der Mitgliedschaft des früheren Vorstandsmitglieds im Aufsichtsrat, erfolgen, insoweit schädlich sein können. So wurden im Fall Börsig „periodische Zahlungen, die über die Restlaufzeit seines ursprünglichen Vertrags gezahlt werden“, vereinbart31. Maßgeblich für den Vergütungscharakter einer Leistung im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG kann nur die Leistungsvereinbarung sein. Ihr Inhalt und der Zeitpunkt, zu dem sie abgeschlossen wird, entscheiden über ihre rechtliche Einordnung. Die Aufsplitterung in mehrere Leistungsteile, d. h.

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29 Geschäftsbericht der Deutschen Bank AG 2006 (Fn. 7), Finanzbericht S. 199. 30 Vgl. statt Vieler nur Hüffer (Fn. 14), § 104 AktG Rz. 5 m. w. N. 31 Geschäftsbericht der Deutschen Bank AG 2006 (Fn. 7), Finanzbericht S. 38.

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die Bestimmung einzelner späterer Fälligkeitszeitpunkte für Teilleistungen zur Erfüllung des Leistungsversprechens, betrifft nur Leistungsmodalitäten, nicht aber den Leistungscharakter. Im Fall Börsig war die Fälligkeitsbestimmung an die ursprüngliche Laufzeit des Vorstandsanstellungsvertrags gekoppelt. Auch wenn die Bestimmung von Fälligkeitszeitpunkten also ohnehin keinen Einfluss auf die Einordnung einer Abfindungsvereinbarung als Vergütung i. S. v. § 113 Abs. 1 haben kann, belegt auch diese sachliche Verknüpfung den Charakter der Abfindungsleistungen als Zahlungen allein für die Beendigung des Vorstandsanstellungsvertrags. Schließlich sind aber noch Fälle denkbar, in denen eine Leistung an eine Person erfolgt und diese unter § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG fällt, ohne dass die Person schon oder noch Mitglied des Aufsichtsrats ist. Der letztgenannte Fall läge etwa vor, wenn der Vorstand oder der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft eine – dann rechtswidrige – Leistung an ein bereits ausgeschiedenes Mitglied des Aufsichtsrats für die im Aufsichtsrat geleistete Arbeit beschließen würde32. Der erstgenannte Fall läge etwa in der – ebenfalls rechtswidrigen – kausalen vertraglichen Verknüpfung eines einmaligen „Antrittsgelds“ für eine Person im Fall der Übernahme eines Aufsichtsratsamts, die der Vorstand oder der Aufsichtsrat billigen würde33. Von beiden Fallgruppen vor- oder nachgelagerter Leistungen an ein – ehemaliges oder künftiges – Aufsichtsratsmitglied unterscheidet sich die vorliegend fragliche Fallgruppe einer Leistung zur Abfindung für einen vorzeitig beendeten Vorstandsanstellungsvertrag schon insoweit, als keine Verknüpfung der Leistung mit einer beendeten oder künftigen Aufsichtsratstätigkeit erfolgt und rechtlich keine Gewissheit für die tatsächliche Ausübung einer solchen Tätigkeit besteht. Im Ergebnis ist daher der persönliche Anwendungsbereich von § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG in dieser Fallgruppe nicht eröffnet. 3. Das Erfordernis einer Zahlung für eine Aufsichtsratstätigkeit Der sachliche Anwendungsbereich von § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG fordert, dass die Zahlung für eine Aufsichtsratstätigkeit erfolgt. Dagegen spricht in der vorliegend fraglichen Fallgruppe ebenfalls schon die bereits angeführte fehlende Verknüpfung von Leistung und Aufsichtsratstätigkeit sowie die Ungewissheit, ob es überhaupt zu einer solchen Tätigkeit kommt34. Jenseits dessen stellt sich gleichwohl die Frage, ob nicht allein die Bereitschaft zur Übernahme der Aufsichtsratsmitgliedschaft jede Leistung, die in diesem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang gewährt wird, als Aufsichtsratsvergütung qualifizieren kann. Immerhin besteht zum Beispiel auch bei verdeckten Sacheinlagen eine „Ver-

__________ 32 So auch Hopt/Roth in GK Aktiengesetz, 4. Aufl., 24. Lfg. 2005, § 113 AktG Rz. 71. 33 Derartige personenabhängige, d. h. individuelle Antrittsgelder wären auch bei der Gewährung durch die Hauptversammlung infolge der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gegenüber den Aufsichtsratsmitgliedern rechtswidrig; vgl. zur Gleichbehandlung bei der Aufsichtsratsvergütung z. B. Drygala in Karsten Schmidt/ Lutter (Hrsg.), AktG, 2008, § 113 AktG Rz. 14. 34 Siehe oben III.2.

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mutung“ dafür, dass der erforderliche Wille der Parteien, eine Bareinlage und ein Verkehrsgeschäft miteinander zu verbinden, besteht, wenn eine gewisse zeitliche Nähe zwischen den Vorgängen gegeben ist35. Auf § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG übertragen, würde dies bedeuten, die Notwendigkeit der Neubesetzung des Aufsichtsrats infolge des Rücktritts des Aufsichtsratsvorsitzenden, die Aufhebung eines fortdauernden Vorstandsanstellungsvertrags gegen Zahlung einer Abfindung und schließlich die Bestellung des ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat als einheitlichen Vorgang zu sehen, der auch rechtlich einheitlich zu bewerten wäre. Im Beispielsfall Börsig diente die Abfindung zwar offenbar dazu, die Wechselbereitschaft vom Vorstand in den Aufsichtsrat zu stärken und das dafür bestehende finanzielle Hindernis zu beseitigen. Dennoch stellt eine solche Abfindungsleistung – anders als das bereits angeführte, individuelle „Antrittsgeld“ – keine Gegenleistung für die Übernahme der Aufsichtsratstätigkeit dar. Entscheidend hierfür ist die Rückführung der Leistung auf den Vorstandsanstellungsvertrag. Der alleinige Rechtsgrund für die Abfindungsleistung liegt nämlich in diesem Vertrag. Rechtsgrund und tatsächlicher Anlass für Abfindungsleistungen sind strikt zu unterscheiden. Die Absicht, ein Vorstandsmitglied in den Aufsichtsrat zu bestellen, mag tatsächlich Anlass dafür sein, Abfindungsleistungen zu bewilligen. Rechtsgrund dafür ist sie jedoch nicht. Ohne Vorstandsanstellungsvertrag wären Zahlungen an ein einzelnes künftiges Aufsichtsratsmitglied im Sinne eines „Antrittsgelds“, wie bereits ausgeführt36, rechtswidrig. Der Anlass für Leistungen kann nahezu beliebig wechseln. Der Grund dafür hingegen nicht: Es ist nicht denkbar, dass einem jetzigen Vorstands- und künftigen Aufsichtsratsmitglied eine derartige Abfindung gezahlt wird, wenn nicht ein fortlaufender Vorstandsanstellungsvertrag besteht. So hatte der BGH im Mannesmann-Urteil sogenannte „kompensationslose Anerkennungsprämien“ für Vorstandsmitglieder zu beurteilen und sie „als treuepflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens“ bewertet37. Hingegen ist es durchaus möglich und völlig üblich, dass einem während des noch weiter laufenden Anstellungsvertrags auf Wunsch der Gesellschaft ausscheidenden Vorstandsmitglied eine Abfindung gezahlt wird, ohne dass die anschließende Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied beabsichtigt ist. Auch der Höhe nach richtet sich die Abfindung nicht nach dem Anlass, sondern nach dem Grund ihrer Zahlung, nämlich dem Vorstandsanstellungsvertrag. Entscheidend ist die Höhe der vertraglich vereinbarten Vergütung und die noch ausstehende Restlaufzeit des Vertrags. Verhandlungen zwischen Gesellschaft und scheidendem Vorstandsmitglied zur Höhe der Abfindungen betreffen nicht die Frage, ob die künftige Aufsichtsratsarbeit die Abfindungssumme auch wert ist. Im Hinblick auf den Anlass, also die beabsichtigte Bestellung des bisherigen Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat, bleibt der Gesellschaft

__________ 35 BGHZ 153, 107, 109 = NZG 2003, 168. 36 Siehe oben III.2. 37 BGH, AG 2006, 110, bei bb) (3).

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nur die Überlegung, ob dieser Anlass die Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags angesichts der damit verbundenen Abfindungszahlung überhaupt rechtfertigt. Nur die rechtliche Maßgeblichkeit der Unterscheidung von Grund und Anlass führt auch zu der notwendigen Rechtssicherheit bei der Beurteilung der vorliegend fraglichen Fallgruppe. Würde man dagegen den sachlichen Anwendungsbereich von § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG auch nach anlassbezogenen Erwägungen bestimmen, wären bei der Beurteilung von Abfindungsleistungen zahlreiche subjektive Kriterien auf Seiten der betroffenen Gesellschaft zu berücksichtigen. Diese wären nicht nur kaum dem erforderlichen Beweis zugänglich, sondern böten auch ein Einfallstor für manipulative Gestaltungen je nach dem Geschick, mit dem eine Gesellschaft ihre Motivationslage darstellen kann. Dass Abfindungsvereinbarungen anlässlich des Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat nicht im Sinne einer Gesamtbetrachtung Vergütungscharakter nach § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG beigemessen werden kann, zeigt auch folgendes Beispiel in seiner Einordnung in den vorliegenden Zusammenhang: Gewinnt der Aufsichtsrat einer AG während der Laufzeit eines Vorstandsanstellungsvertrags die Überzeugung, dass ein Vorstandsmitglied aus gesundheitlichen Gründen der Arbeitsbelastung möglicherweise nicht mehr voll gewachsen ist, ohne dass der Aufsichtsrat von einem „gerichtsfesten“ wichtigen Grund zur Kündigung des Anstellungsvertrags ausgehen kann, so bietet es sich an, Verhandlungen über die einvernehmliche Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags gegen Zahlung einer Abfindung zu führen. Gleichzeitig kann der Aufsichtsrat aber der Überzeugung sein, dass das betroffene Vorstandsmitglied den Aufgaben eines Aufsichtsratsmitglieds durchaus noch gewachsen wäre. Schließlich handelt es sich bei der Aufsichtsratstätigkeit im Gegensatz zur Vorstandstätigkeit noch immer um ein Nebenamt mit deutlich geringerer Arbeitsbelastung38. Eine Aktiengesellschaft kann im Einzelfall sogar ein großes Interesse daran haben, den Sachverstand und die Kenntnisse des betroffenen Vorstandsmitglieds über das Unternehmen künftig für den Aufsichtsrat nutzbar zu machen39. Wenn – wie in einem solchen Fall – bei dem Wechsel vom Vor-

__________ 38 Vgl. z. B. nur Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1995, § 116 AktG Rz. 18, auch wenn die Tendenz in Richtung einer Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit geht und immer wieder Stimmen laut werden, die hauptberufliche Aufsichtsratsmitglieder oder zumindest -vorsitzende fordern, vgl. dazu z. B. schon Dreher in Feddersen/Hommelhoff/Schneider (Hrsg.), Corporate Governance, 1996, S. 33, 39 f. sowie aus neuerer Zeit Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 766 ff. 39 Im Sinne der Corporate Governance ist der Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat derselben Aktiengesellschaft nicht unproblematisch. Der Deutsche Corporate Governance Kodex enthält in Ziff. 5.4.4 die These, dass der Wechsel des bisherigen Vorstandsvorsitzenden oder eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsratsvorsitz oder den Vorsitz eines Aufsichtsratsausschusses nicht die Regel sein soll und eine entsprechende Absicht der Hauptversammlung besonders begründet werden soll. Ziff. 5.4.2 Satz 3 enthält die Empfehlung, dass dem Aufsichtsrat nicht mehr als zwei ehemalige Mitglieder des Vorstands angehören sollen. Dazu sowie zu den Vor- und Nachteilen eines solchen Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat vgl. z. B. Rode, BB 2006, 341; Lieder, NZG 2005, 569, 572 f.; Lange, NZG 2004, 265 ff.

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stand in den Aufsichtsrat der Wunsch des Aufsichtsrats im Vordergrund steht, den Vorstandsposten neu zu besetzen, kann von einer verdeckten Aufsichtsratsvergütung von vornherein nicht die Rede sein. Im Fall Börsig war die Motivation des Aufsichtsrats der Deutschen Bank AG damals zwar genau umgekehrt. Ausschlaggebend für den Wechsel Börsigs in den Aufsichtsrat war nicht der Wunsch, den Posten des Finanzvorstands neu zu besetzen, sondern der Bedarf nach einem Nachfolger im Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden40. Auf den Anlass für die Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags kann es jedoch, wie zuvor ausgeführt, auch in dieser Fallkonstellation nicht ankommen. Die geschilderte Motivlage für einen Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat bildet lediglich den tatsächlichen Hintergrund für die Aufhebung des Vorstandsanstellungsvertrags. Die damit verbundene Abfindungsleistung hat ihren Rechtsgrund jedoch allein im Bestehen dieses Vertrags, der sich noch auf einen künftigen Zeitraum erstreckt. 4. Die Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Aufsichtsratsvergütung Nach § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG ist ausschließlich die Hauptversammlung für die Bewilligung einer Aufsichtsratsvergütung zuständig, sofern die Satzung keine entsprechenden Festlegungen trifft. Zweck dieser Regelungen ist zum einen der Schutz der Aktionäre und Gläubiger vor einer Entziehung des Gesellschaftskapitals und zum anderen die Vermeidung von Interessenkonflikten, die sich bei einer Zuständigkeit des Vorstands – oder gar des Aufsichtsrats selbst – für die Aufsichtsratsvergütung ergeben würden41. Fraglich ist vor diesem Hintergrund, ob die Bewilligung einer Abfindungszahlung an ein Vorstandsmitglied durch den Aufsichtsrat einen Interessenkonflikt bedeutet, wenn das Vorstandsmitglied in den Aufsichtsrat wechseln soll. Zwar ist das voraussichtlich künftige Aufsichtsratsmitglied an der Entscheidung des Aufsichtsrats über die Abfindung nicht selbst beteiligt. Dies kann für sich genommen die Gefahr einer Selbstbedienung jedoch nicht beseitigen. Das folgt schon aus der hypothetischen Parallele einer wechselseitigen Begünstigung von Teilen der Mitglieder eines Aufsichtsrats. Im Hinblick auf den Normzweck entscheidend ist vielmehr, dass die Aufsichtsratsmitglieder, die an der Entscheidung über die Abfindung beteiligt sind, weder davon auch nur mittelbar profitieren noch damit ein späteres komplementäres Vergütungswohlwollen des eventuell künftigen Aufsichtsratsmitglieds begründen können. Denn die eigene Vergütung der an der Entscheidung beteiligten Aufsichtsratsmitglieder kann durch das scheidende Vorstandsmitglied künftig nicht beeinflusst werden und in entsprechende, vergleichbare Abfindungssituationen können die Aufsichtsratsmitglieder schon aus strukturellen, zuvor dargelegten Gründen nicht kommen42.

__________ 40 Siehe Geschäftsbericht der Deutschen Bank AG 2006 (Fn. 7), Finanzbericht S. 189 f. 41 Vgl. statt Vieler z. B. Spindler in Spindler/Stilz, Aktiengesetz, 2007, § 113 AktG Rz. 4; Beater, ZHR 157 (1993), 420, 426; Mertens in FS Steindorff, 1990, S. 173, 174. 42 Vgl. oben I. a. E.

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Was schließlich den weiteren Normzweck von § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG angeht, den Entzug von Gesellschaftskapital zu verhindern, ergibt sich im vorliegenden Zusammenhang auch kein Widerspruch dazu. Denn diese Gefahr ist bei großzügiger Abfindung anlässlich des Ausscheidens aus dem Vorstand, das nicht mit einer Wechselabsicht in den Aufsichtsrat verbunden ist, nicht kleiner als bei der gleichen Ausgangssituation mit Wechselbereitschaft.

IV. Die Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG analog auf eine Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat 1. Das Problem § 113 Abs. 1 AktG ist nach § 23 Abs. 5 AktG zwingendes Recht. Auch aus § 114 AktG folgt, dass § 113 AktG nicht durch schuldrechtliche Vereinbarungen oder andere Gestaltungen umgangen werden darf43. Im vorliegenden Zusammenhang erfasst § 113 Abs. 1 AktG, wie zuvor dargelegt44, Abfindungszahlungen aus Anlass eines beabsichtigten Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat nach Wortlaut und Telos nicht. In entsprechenden Abfindungsvereinbarungen kann daher keine Umgehung von § 113 Abs. 1 AktG liegen. Ist es gesetzlich verboten, Aufsichtsratsmitglieder anders als nach § 113 Abs. 1 AktG Vergütungen zu gewähren und fällt ein Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich der zuvor nach den üblichen Maßstäben ausgelegten Norm, ist für eine Umgehung kein Raum45. Fraglich ist weiter aber, ob § 113 Abs. 1 AktG nicht analog auf die vorliegend fragliche Fallgruppe von Abfindungszahlungen anzuwenden ist46. Voraussetzung dafür wäre, dass der Normzweck unabhängig von der zuvor erfolgten Wortlautauslegung die Anwendung der Norm über ihren Wortlaut hinaus gebietet. Dies wiederum ist nach der allgemein anerkannten Methodenlehre nur möglich, wenn eine Gesetzeslücke besteht und die Sachverhalte, auf die die Norm direkt anwendbar ist, sowie diejenigen Sachverhalte, auf die sie analog angewendet werden soll, vergleichbar sind. So wurde § 113 AktG in der Literatur bisher vereinzelt47, wenn auch zu Unrecht48, analog angewendet, um eine Hauptversammlungszuständigkeit für den Abschluss gesellschaftsfinanzierter D&O-Versicherungen zu begründen.

__________ 43 Vgl. z. B. Spindler (Fn. 41), § 113 AktG Rz. 60. 44 Siehe oben III. 45 Vgl. allgemein zur fehlenden Umgehungsfähigkeit von Verbotsgesetzen z. B. Jauernig in ders. (Hrsg.), BGB, 12. Aufl. 2007, § 134 BGB Rz. 18. 46 Vgl. zur Rechtsfortbildung im Gesellschaftsrecht – auch zur „Ausfüllung von Lücken im unvollkommenen Normengefüge“ – Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 33. 47 So Pammler, Die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung im Spannungsfeld des Aktienrechts, 2006, S. 139, der mit der Analogie die Hauptversammlungszuständigkeit begründen will, auch wenn er gleichzeitig ausdrücklich festhält, dass eine gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung für Aufsichtsratsmitglieder kein Vergütungsbestandteil ist. 48 Vgl. z. B. Dreher, AG 2008, 429 ff.

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2. Die Frage der Gesetzeslücke Voraussetzung jeder Analogie ist also zunächst eine Gesetzeslücke, d. h. eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. Dabei ist das Schweigen des Gesetzes dazu, ob bestimmte Sachverhalte erfasst sein sollen, nur dann als planwidrig anzusehen, wenn die ratio legis dies fordert. Zu prüfen ist also auch im vorliegenden Zusammenhang, ob die fragliche Norm – hier § 113 Abs. 1 AktG – einen Sachverhalt nicht erfasst, den sie nach der ratio legis hätte regeln sollen. Auch wenn die Begründung zu § 113 Abs. 1 AktG selbst über die ratio legis keine Auskunft gibt49, lässt sich aus dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenhang doch der bereits angeführte Normzweck50 herleiten. Danach dient die Regelung dazu, Interessenkonflikte bei Vergütungsentscheidungen zu vermeiden und der Gefahr einer Entziehung des Gesellschaftsvermögens vorzubeugen. Beide Ziele sind, wie im Zusammenhang mit der Vergütungszuständigkeit der Hauptversammlung ebenfalls bereits zuvor dargelegt51, nicht dadurch berührt, dass die Entscheidung über Abfindungsleistungen anlässlich eines Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat dem Aufsichtsrat zukommt. Ist die ratio legis durch eine solche Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG nicht berührt, fehlt es konsequent bereits an einer planwidrigen Regelungslücke in Bezug auf die vorliegend fraglichen Sachverhalte. 3. Die Frage der Vergleichbarkeit der Sachverhalte Weitere Voraussetzung einer Analogie neben einer – vorliegend nicht bestehenden – Regelungslücke ist die Vergleichbarkeit der Sachverhalte. Die im Anwendungsbereich der Norm liegenden Sachverhalte und die Sachverhalte, auf die die Norm über ihren Wortlaut hinaus erstreckt werden soll, müssen also vergleichbar sein, um die Anwendung der Rechtsfolgen zu rechtfertigen, die die Norm vorsieht. Aufgrund der bloßen Vergleichbarkeit der Sachverhalte als Voraussetzung für eine Analogie muss die Andersartigkeit der Fallgruppe von Abfindungen aus Anlass des Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat im Verhältnis zu den einzelnen Fallgruppen, in denen Entscheidungen über Bestandteile der Aufsichtsratsvergütung getroffen werden, außer Betracht bleiben. Maßgeblich ist allein eine „Ähnlichkeit“52 der Fallgruppen. Aber auch unter diesem weiteren Blickwinkel fehlt es im vorliegenden Zusammenhang an einer Vergleichbarkeit. Die von § 113 Abs. 1 AktG erfassten Sachverhalte betreffen Vergütungsentscheidungen, die sich auf eine Aufsichtsratstätigkeit beziehen. Die Fallgruppe, dass Abfindungsleistungen beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat gewährt werden, betrifft dagegen Ver-

__________ 49 Vgl. nur den Abdruck der Begr. des RegE und des Ausschussberichts zu § 113 AktG bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 157 f. und, da diese auf § 98 AktG 1937 verweisen, die amtliche Begründung dazu, abgedr. bei Klausing, Aktien-Gesetz, 1937, S. 83 f. 50 Siehe oben III.4. 51 Siehe oben III.4. 52 So schon Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 288 f.

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gütungsentscheidungen, die sich auf eine – vorzeitig beendete – Vorstandstätigkeit beziehen. Der Bezugspunkt beider Sachverhaltsgruppen ist daher ein völlig unterschiedlicher. Selbst wenn man eine Ähnlichkeit der Sachverhalte dennoch bejahen wollte, fehlt es schließlich an der Wertungsgrundlage, die – vorliegend nur unterstellt – ähnlichen Sachverhalte rechtlich gleich zu behandeln. Denn die ratio legis von § 113 Abs. 1 AktG bedarf keiner Erstreckung auf Vergütungsentscheidungen, die Abfindungsleistungen für vorzeitig beendete Vorstandsanstellungsverträge zum Gegenstand haben. Für die jeweiligen Sachverhalte hat nämlich schon der Gesetzgeber eine ausdrückliche und eindeutige Zuständigkeitsordnung begründet. Während von § 113 Abs. 1 AktG erfasste Sachverhalte der Hauptversammlung zur Entscheidung überantwortet sind, weisen §§ 112, 87 Abs. 1, 84 Abs. 1 AktG Vergütungsentscheidungen, die Vorstandsmitglieder betreffen, zwingend dem Aufsichtsrat zu53. Würde § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG analog auf diese Sachverhalte mit dem Ergebnis angewendet, eine Zuständigkeit der Hauptversammlung zu begründen, würde in die eindeutige gesetzliche Zuständigkeitsordnung eingegriffen. Damit würde nicht die ratio legis von § 113 Abs. 1 AktG erweiternd verwirklicht, sondern in die ratio legis der Gesamtheit der zuständigkeitsbegründenden Normen und deren vom Gesetzgeber gewollte Austarierung eingegriffen. Mit anderen Worten würde entgegen der gesetzlichen Anordnung § 113 Abs. 1 AktG analog Vorrang vor der direkten Anwendung von §§ 112, 87 Abs. 1, 84 Abs. 1 AktG gegeben. Darin läge jedoch nicht nur eine widersprüchliche Gesetzesanwendung, sondern zugleich auch eine Zuständigkeitsbegründung contra legem. Nach §§ 112, 87 Abs. 1, 84 Abs. 1 AktG ist der Aufsichtsrat ausschließlich für sämtliche vorstandsbezogenen Vergütungsangelegenheiten zuständig. Dies gilt sogar für ausgeschiedene Vorstandsmitglieder, soweit es sich um vorstandsbezogene Vergütungsfragen handelt54. Normzweck ist hier ebenfalls die Abwendung von Interessenkonflikten55. Eine analoge Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG auf die vorliegend fraglichen Sachverhalte würde also nicht die vom Gesetzgeber gewollte ratio legis auf Sachverhalte ausdehnen, die der Gesetzgeber ungewollt ungeregelt gelassen hat, sondern von ihm mit der gleichen ratio legis in §§ 112, 87 Abs. 1, 84 Abs. 1 AktG erfasste Sachverhalte aus deren Anwendungsbereich herauslösen. Damit würde die analoge Anwendung von § 113 Abs. 1 AktG aber nicht mehr die wertungsmäßige Gleichbehandlung – vorliegend nur unterstellt – ähnlicher Sachverhalte, sondern die Begründung der vorrangigen Zuständigkeit eines Gesellschaftsorgans, d. h. der Hauptversammlung, für einen Bereich bedeuten, den der Gesetzgeber selbst der Zuständigkeit eines anderen Gesellschaftsorgans, d. h. dem Aufsichtsrat, zugewiesen hat. Im Ergebnis ginge es daher nicht mehr um eine analoge Anwendung von § 113 Abs. 1 Satz 1 AktG, sondern um dessen Anwendung contra legem.

__________ 53 Vgl. dazu näher Schüller, Vorstandsvergütung, 2002, S. 154 ff. 54 Vgl. nur BGHZ 130, 108, 111 f.; BGHZ 157, 151, 153 f.; Karsten Schmidt (Fn. 46), S. 821. 55 Vgl. z. B. Hüffer (Fn. 14), § 112 AktG Rz. 1 m. w. N.

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Die Abfindung beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat einer AG

V. Zusammenfassung Die Frage, welches Gesellschaftsorgan dafür zuständig ist, über die Abfindung zu entscheiden, wenn ein Vorstandsmitglied unter vorzeitiger Beendigung des Anstellungsvertrags in den Aufsichtsrat wechseln soll, ist zwar bereits praktisch bedeutsam geworden, in Rechtsprechung und Literatur jedoch noch nicht behandelt. Auch wenn der Anlass für eine Abfindungsentscheidung in derartigen Fällen der Wechsel in den Aufsichtsrat ist, liegt der Rechtsgrund für die Gewährung der Abfindung in der vorzeitigen Auflösung des Anstellungsvertrags des scheidenden Vorstandsmitglieds. § 113 Abs. 1 AktG, der eine Zuständigkeit der Hauptversammlung für aufsichtsratsbezogene Vergütungsentscheidungen begründet, die nicht in der Satzung geregelt werden sollen, ist daher nicht direkt anwendbar. Aufgrund einer fehlenden Regelungslücke und Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist die Norm auch nicht analog heranzuziehen. Im Gegenteil würde eine solche analoge Anwendung zu einer Rechtsanwendung contra legem führen. Im Ergebnis ist die Ausgangsfrage daher dahin zu beantworten, dass für eine Abfindungsentscheidung der Aufsichtsrat auch dann nach §§ 112, 87 Abs. 1, 84 Abs. 1 AktG ausschließlich zuständig ist, wenn sie ein Vorstandsmitglied betrifft, das unter vorzeitiger Aufhebung des Anstellungsvertrags in den Aufsichtsrat wechseln soll.

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Die Pflicht zur Halbwahrheit Über die Aporien organisationsrechtlicher Informationsansprüche anhand des Aktionärs-Auskunftsrechts1

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Aporien im Aktionärs-Informationsrecht 1. Die proprietarische (treuhänderische) und die funktionale Begründung 2. Relevanz 3. Kontrolle 4. Offenlegen, liefern, beraten – Das Problem der Informationsqualität 5. Das Problem des Watteboxens 6. Der Vorbehalt der Interessenabwägung

III. Die Teilung von Information 1. Die Problematik des Interessekriteriums 2. Die Problematik der Aussonderung von „Bereichen“ 3. Die Kriterien der Wichtigkeit und der Allgemeinheit IV. Das Recht als Prokrustes 1. Der bisherige Gang der Überlegung 2. Die Pflicht zur Halbwahrheit 3. Summa

I. Einführung Karsten Schmidt hat 1984 eine schlanke Monographie über Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden herausgebracht2. Obwohl er seine Wegbereiter hatte, darunter Herbert Wiedemann3, Wolfgang Zöllner4 und Marcus Lutter5, gilt hier wie anderswo, dass nach der Anfassung durch ihn keine Frage

__________ 1 Beiträge wie der vorliegende versuchen, aus der Not der verschiedenen nationalen Zugehörigkeit von Jubilar und Autor die Tugend einer übernationalen und überpositiven Betrachtungsweise zu machen. Der Leser als vornehmlich positivrechtlich orientierter Jurist muss um ein zusätzliches Stück Weg gebeten werden. Man möchte dem Leser auf diesem Weg von der allgemeinen in die rechtspositive Betrachtung aber auch entgegenkommen und stößt dabei, wenn man nicht die Bücher eines Max-PlanckInstituts um sich hat, ständig auf die Lücken der Bibliotheken und sodann auf die unglaubliche Langsamkeit des Fernleihverkehrs und Geschwindigkeit der novellierenden Gesetzgeber und der neu auflegenden Verleger. 2 Karsten Schmidt, Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden, Beiheft ZHR, 1984 (Recht und Wirtschaft). 3 Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 373–375; Wiedemann, Die Übertragung und Vererbung von Mitgliedschaftsrechten bei Handelsgesellschaften, 1965, insb. S. 34 f. 4 Zöllner in KölnKomm.AktG, 1. Aufl. 1981, zu § 131 AktG (dem Verfasser nicht greifbar!). 5 Lutter, Prolegomena zu einer Theorie der Mitgliedschaft, AcP 180 (1980), 84, 91 und 151.

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blieb, was sie vorher war. Er erkennt hinter den Technikalitäten etwa von Einsicht versus Auskunft die allgemeine Fragestellung der Information6, hinter den einzelnen Organisationsformen den allgemeinen Gesichtspunkt der Mitgliedschaft als Quelle von individuellen Informationsansprüchen7 und hinter dem Streit über Eigen- und Fremdnützigkeit des Informationsanspruchs die in aller Mitgliedschaft liegende Verbindung von beidem8. Anderseits, und vor allem, lässt er Besonderheiten von Information als Rechtsgegenstand ersehen, wie – der Sache nach – die Rechtsrelevanz des Gegensatzes von spontanen und reaktiven Informationspflichten9, die notwendige Beschränkung von Informationsrechten auf eine Hilfsfunktion10 und damit die Ausrichtung auf einen Rechtszweck, mithin auf eine inhärente Schranke in Gestalt der Voraussetzung eines entsprechenden Informationsbedürfnisses11. Der Jubilar erklärt eingangs, auf die „vielfältigen und schwierigen Detailfragen des Informationsflusses in den privaten Verbänden und den oft verwirrenden Interessenkonflikten“ zu Gunsten der Untersuchung der institutionellen Grundlagen und Grundlinien nicht eingehen zu wollen12. Hier will ich einsetzen. Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, dass der Versuch, die konkret maßgeblichen Kriterien zu bilden, sogar mehr als Schwierigkeiten zu Tage treten lässt, dass nämlich ein kohärentes System nur zu erreichen ist, wenn die Unmöglichkeit der Herleitung von Informationsnormen aus der Sache selbst in Rechnung gestellt wird. Information ist, frei nach Tucholsky, immer „anders, und zweitens als man denkt“. Was man als die Rechtsdisziplin des „Informationsrechts“ bezeichnen mag, ist im Grund eine einzige große Klagschrift gegen die Analogie, dagegen, dass Information als ein Gut behandelt wird, das rechtlich wie ein Sack Mehl herumgeschoben werden kann und nach irgendwelchen Kriterien auf irgendwelche Personen zu verteilen ist. Information kann aber nicht in Säcke abgefüllt werden, sondern hat ihren Wert immer aus dem Zusammenhang mit weiterer Information. Wenn das Recht dennoch – wie es seine Aufgabe ist – selektiv wirken soll, so bleiben nur die Palliative aller rechtlichen Inkonsistenzen: die Interessenabwägung oder das Missbrauchsverbot. Ich kann und möchte

__________ 6 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 39; das „Informationsrecht“ erscheint denn auch vorwiegend im Singular. 7 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), insb. S. 21. 8 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 24: die Frage gehöre zur „Ideologie der Informationsrechte“. 9 Karsten Schmidt sieht dort den Unterschied von kollektivem und individuellem Informationsrecht (s. S. 15 f.). Terminologie wie im Text etwa Eppenberger, Information des Aktionärs – Auskunfts- oder Mitteilungspflicht?, 1990, S. 64 und Druey, Information als Gegenstand des Rechts, 1995, S. 240 f. 10 Hier zur Wahrnehmung mitgliedschaftlicher Positionen (Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 23). 11 Dazu noch unten II.2. 12 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 13 f.

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diese Probleme hier nicht allgemein angehen13, sondern meinerseits in die Mitte das Informationsrecht des Gesellschafters14, noch spezifischer des Aktionärs setzen, und stelle auch da einen einzelnen, praktisch wichtigen und dogmatisch herausfordernden (und deshalb verdrängten) Aspekt heraus: die Halbwahrheit. Wenn ich die Halbwahrheit rechtlich legitimiere, ja zur Pflicht erkläre, so mag das zynisch wirken. Es ist es aber nicht; das möge aus dem Folgenden hervorgehen.

II. Aporien im Aktionärs-Informationsrecht 1. Die proprietarische (treuhänderische) und die funktionale Begründung Mit der Schaffung eines individuellen Aktionärs-Informationsrechts erstmals im Aktiengesetz von 193715 ist die Diskussion über die Grundlage des Anspruchs – eigentlich erstaunlicherweise angesichts der präziseren Determinierung16 – nicht abgeklungen. Angeführt nicht zuletzt durch die Schrift von Karsten Schmidt, ist die Ableitung unmittelbar aus der Mitgliedschaft zur verbreiteten Lehre geworden17. Damit bleibt allerdings noch offen, was diesen Zusammenhang ausmacht. Mit verschiedenen Schattierungen, zum Teil auch in Dreier-Schemata, stehen zwei Möglichkeiten im Vordergrund: Entweder leitet sich der Anspruch aus der Position des Aktionärs oder aus einer ihm eingeräumten Möglichkeit der Aktion ab. Die erste ist der Gedanke von „Other People’s Money“ (der Titel von Louis Brandeis), also der Risikoträgerschaft durch Mitteleinbringung, mithin Rechenschaft aus Verwaltung fremden Guts, die von den Geschäftsführern den Gesellschaftern als Geschäftsherren geschuldet sei. Die andere ist, dass Information den Empfänger in die Lage versetzt, auf die Entwicklungen in der Gesellschaft rechtlich zu reagieren – dies allenfalls verstanden nicht nur im formellen Sinn der Ausübung des Stimmrechts,

__________ 13 Dazu Druey, Information (Fn. 9), passim; auch Druey, Informationsrecht – Ein weiteres akademisches Gärtlein?, in FS Peter Gauch, 2004, S. 61–75; Druey, Der informationelle Ansatz im Gesellschaftsrecht, in FS Wiedemann, 2002, S. 809–826; auch Druey, Der Informations-Fetischismus, in FS Böckli, 2006, S. 589–610. 14 Dazu eine erste Auseinandersetzung mit dem Jubilar in Druey, Information (Fn. 9), S. 407–417; zudem Druey, Vom Informations- zum Kommunikationsrecht – Überlegungen anhand des Aktienrechts, in FS Forstmoser, 2003, S. 115–135, und Druey, Die Information des Outsiders in der Aktiegesellschaft, in von Büren/Hausheer/ Wiegand (Hrsg.), Grundfragen des neuen Aktienrechts (Symposium Rolf Bär), 1993, S. 69–84. 15 In der Schweiz gab es den Anspruch seit der ersten bundesweiten gesellschaftsrechtlichen Ordnung im Obligationenrecht von 1881 Art. 641 Abs. 4 im Sinne eines Rechts zur Erläuterung der Jahresrechnung, ebenso in der Gesetzesrevision 1936 Art. 697; umfassend im Sinne eines selbständigen, von den Traktanden der Aktionärsversammlung unabhängigen Rechts dann die Revision von 1991, ders. Art. 16 Dazu noch unten in diesem Abschnitt. 17 Siehe nur BVerfG, NJW 2000, 129 und 349; Übersicht bei Zetzsche, Aktionärsinformation in der börsennotierten Aktiengesellschaft, Abhandlungen zum deutschen und europäischen Handels- und Wirtschaftsrecht Bd. 153, 2006; Schäfers, Informationsrechte von Aktionären, 2007, S. 69 Fn. 237.

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sondern auch informell durch Protest, Austritt u. ä., und mithin auch ohne Stimmrecht („Ausübung der Aktionärsrechte“ im Vollsinn verstanden)18. Aus dieser Doppelheit der Wurzel resultiert nicht eine Kumulation von forderbaren Informationsinhalten, sondern eine Aporie, d. h. es kann keine richtige, aus den Grundlagen ableitbare Lösung geben. Denn die beiden Typen stehen nicht nebeneinander, sondern bezeichnen verschiedene Erscheinungsformen ein- und derselben Mitgliedschaft, wenn man so will eine statische, auf die Strukturen gerichtete (die Konstituenz) und eine dynamische, die Unternehmenstätigkeit betreffende Sicht (die Entscheidungsträgerschaft). Die gleiche Sache wird auf verschiedenen Ebenen betrachtet: Das Argument aus der Konstituenz, der „Eigentümerschaft“19, setzt gleichsam weiter unten an; es ist der Gedanke der „fiduciary duties“ der Exekutivorgane gegenüber den Aktionären, der keineswegs nur eine Informationspflicht umfasst, sondern etwa auch die Befolgung von Weisungen verlangt Das andere Argument erfasst mit den Aktionsmöglichkeiten und -obliegenheiten die positivrechtliche Ausgestaltung eines Asts dieser proprietarischen Vorstellung. Die Institution der Aktionärsversammlung erscheint auf beiden Ebenen: Auf der Ebene des „Eigentümer“-Gedankens verkörpert sie den kollektiven Weisungsgeber, während die organisatorische Sicht ihn aus seinem Kontext herauslöst und nur noch als Organ im internen Willensbildungsmechanismus in den Blick nimmt. Das Motiv von Informationsansprüchen aus „Eigentum“, „Treuhandschaft“, „Führung fremder Geschäfte“, „Rechenschaft“ u. a. kennt aus sich selber heraus keine Grenze. Als „Geschäftsherr“ bräuchte der Aktionär nicht einmal zu begründen, warum ihn der große Plan X oder das Detail Y interessiert. Die Formulierung von § 131 AktG macht den Willen deutlich, solcher Flut Dämme zu setzen, indem Abs. 1 Satz 1 klar den Bezug zur Hauptversammlung stipuliert, und lässt erkennen, warum Karsten Schmidt in der Hervorhebung des Informationsbedürfnisses als Anspruchsvoraussetzung auch später seine Kernthese sieht20. Erst recht die These vom abschließenden Charakter der Bestimmung21 lässt die Einsicht in die Gefahr der Uferlosigkeit und die Intention ersehen, den „Eigentümer“ ein für allemal in die Welt der Rhetorik zu verbannen. Doch fragt sich, ob eine Entscheidung zu Gunsten bloß der organisatorischen zweiten Sichtweise überhaupt möglich ist, ohne dass das andere zumindest „ungeschrieben“ mitschwingt. „Geschrieben“ steht in § 131 Abs. 2 AktG immerhin auch das Wort „Rechenschaft“. Und nicht nur gilt, offenbar unbe-

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18 Die üblichste Art der Einteilung ist diejenige zwischen Anlage- und Mitwirkungsinteressen des Aktionärs. Doch das Interesse ist im Informationsrecht keine taugliche Größe (s. unten noch III.1.). Wie soll man bestimmen, ob der fragende Aktionär wirklich seine Stimmabgabe von den erhaltenen Auskünften abhängen lassen oder (viel wahrscheinlicher) den Vorstandsvorsitzenden unmöglich machen will? Das Institut lebt aus seinen gedanklichen Wurzeln, nicht aus seinen Ausprägungen in den verschiedenen Interessenlagen. 19 Das Feldmühle-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 14 263. 20 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 3.Aufl. 1997, § 21 III 1a Fn. 121. 21 Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 131 AktG Rz. 2.

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stritten, in Österreich22 wie in der Schweiz23 auch das Anlegerinteresse, also das Kapitalgeberargument, sondern eine Durchsicht der Praxis und Literatur zu § 131 AktG erweckt den Eindruck, dass auch in Deutschland das Treuhandargument zwar vielfach in der Literatur durch das der Kapitalmarkttransparenz ersetzt, aber vor allem in der Judikatur zumindest nicht ausgetilgt ist24. Das liegt wohl letztlich daran, dass eben Mitgliedschaft nicht auf einzelne Aspekte reduziert werden kann. Mitgliedschaft ist von Natur aus ein RechtsBündel, ein Sowohl-als-auch.25, 26. So sehr also die Koppelung von Mitgliedschaft und Informationsrechten zu bejahen ist, so wenig sind deren Motive geeignet, die Inhalte solcher Rechte zu bestimmen. Es ist nötig „de trancher la question“, wie das französische Wort anschaulich sagt, mithin einen autoritären Schnitt zu legen. Das AktionärsInformationsrecht leidet deshalb, soweit ich (auch geographisch) blicken kann, an einem erheblichen Mangel an Präzision über den geschuldeten Gegenstand, weil Erwägungen, die nicht logisch herleitbar, sondern durch Billigkeit inspiriert sind, grundsätzlich Sache des Gesetzgebers sind. Diese Unsicherheit geht von dem unabdingbaren, durch seine Weite aber die andern Leitgedanken mit in den Nebel ziehenden proprietarischen Motiv aus. Das Folgende möchte jedoch zeigen, dass auch das Motiv aus Entscheidfunktion dem selben Problem begegnet.

__________ 22 Kalss, Anlegerinteressen, 2001, S. 274. 23 In der Schweiz stehen beide parallel (s. R.H. Weber in Basler Kommentar zum schweiz. Privatrecht, 2. Aufl. 2002, Art. 697 OR Rz. 6), wobei zumindest das rhetorische Potenzial der zweiten stark überwiegen dürfte (vgl. Gautschi am schweiz. Juristentag, Zschr. f. schweiz. R. 1966 II, 661–668). 24 Aus neuerer Zeit die Übersichten und Stellungnahmen von Casper, Informationsrechte der Aktionäre, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, S. 546–578, 20 f. et passim; Zetzsche, Aktionärsinformation (Fn. 17), S. 136–140, 164 Fn. 374, 168–170, 173–175; Kubis in MünchKomm.AktG, 2.Aufl. 2004, § 131 AktG Rz. 1; Decher in Großkomm.AktG, 2001, § 131 AktG Rz. 10–13. 25 Vgl. Lutter, Mitgliedschaft (Fn. 5), S. 86, 88 f., 91–93, 146–152, 158 f. Dem steht nicht entgegen, wenn BVerfG, NJW 2000, 129 und 349 die Reduktion auf Hauptversammlungsangelegenheiten für konform mit der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) erklärt. 26 Es sollte klar sein, dass im vorliegenden Kontext nur individuelle Informationsrechte im Blickfeld sind, und nicht die Gesamtheit von Rechtsvorkehren, die dem Aktionär Information vermitteln. „Mitgliedschaft“ soll deshalb nicht, einer neueren Tendenz entsprechend, auf Mitwirkungsrechte reduziert und neben die (kapitalmarktrechtlichen) Anlageinteressen gestellt werden. Das leugnet nicht den engen Zusammenhang, der zwischen Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht in dieser Hinsicht besteht (fokussierend auf das Verhältnis insb. die Monographien von Kalss, Anlegerinteressen (Fn. 22) und Zetzsche, Aktionärsinformation (Fn. 17); Hommelhoff, Anlegerinformation im Aktien-, Bilanz- und Kapitalmarktrecht, ZGR 2000, 748–775), sondern im Gegenteil geht es auch hier um die Existenzberechtigung des verbandsinternen Kommunikationsrechts neben dem Kapitalmarktrecht. Letztlich ist das Verständnis der Kapitalgesellschaften als Verband als solches im Spiel (vgl. Druey, Franz Klein weiterdenken, in Doralt/Kalss (Hrsg.), Franz Klein – Vorreiter des modernen Aktien- und GmbH-Rechts, 2004, S. 139 ff., insb. 158–160).

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2. Relevanz Auf der Suche nach den Grenzen von Gesellschafter-Informationsrechten hat der Jubilar das Requisit des Informationsbedürfnisses ins Zentrum gestellt27. Lehre und Praxis übernehmen dies, wenn auch nicht immer gleich streng, angesichts der „Erforderlichkeit“, die in § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG zum Tatbestandsmerkmal erklärt wird28. Dass ihm Andere dennoch nicht gefolgt sind29, spricht weder gegen ihn noch gegen die Andern, sondern für die „Gravitationslosigkeit“ des Gegenstands. Die Aporie, die sich darin ausdrückt, lässt sich etwa folgendermaßen formulieren. Bedürfnislose Geltendmachung von Rechten hat keinen Schutz. Dieser Satz des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots geht aber zu wenig weit für das, was Karsten Schmidt vorschwebt, wenn er das Informationsbedürfnis zur materiellrechtlichen und inhärenten Voraussetzung erklärt30. Ihm geht es um die ersichtliche Bindung der Aktionärsfrage an einen Tagesordnungspunkt und er kann wegen des mitgliedschaftlichen Fundamentalcharakters ohne weiteres der Übertragung des Erfordernis-Erfordernisses auf § 51a GmbHG das Wort reden31. Das leuchtet aus der gesellschaftsrechtlichen Perspektive ein. Doch anderseits ist das Informationsbedürfnis seiner Natur nach bodenlos. Wo hört die Relevanz auf, wenn etwa die Entlastungswürdigkeit der Geschäftsleitung oder die Angemessenheit der in der Gesellschaft zurückzubehaltenden Gewinne ansteht? Die Antwort drängt sich zunächst auf, dass das Maß nicht an den Schrullen eines querköpfigen Aktionärs-Populisten oder am Hass eines zurückgedrängten Familienmitglieds zu nehmen sei, sondern ein „objektives“ Maß, das Urteil eines „vernünftigen“, „durchschnittlichen“, „interessefreien“ „Drittmanns“ (Frauen werden hier nie genannt) zur Anwendung komme. Das dürfte in Literatur und Judikatur nicht nur Deutschlands als Meinung vorherrschen. Doch dahinter steht ein theoretisches Problem, das, wie immer, die praktischen generiert. Das Informationsbedürfnis ist, nicht nur faktisch sondern auch normativ, ein subjektiver Sachverhalt bzw. Tatbestand. Wo immer ein Recht eingeräumt wird, Fragen zu stellen, geschieht dies im Hinblick auf einen intellektuellen Vorgang bei der fragenden Person. Sie ist es, welche die Relevanzen bestimmt, wenn die zu fördernde Meinungsbildung frei sein soll.

__________ 27 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), insb. S. 35–39. 28 Zetzsche (Fn. 17), insb. S. 130–145 zur Gerichtspraxis. 29 Deutlich Lutter, Zum Informationsrecht des Gesellschafters nach dem neuen GmbH-Recht, ZGR 1982 1, wonach die Lehre vom Informationsbedürfnis „schnell wieder vergessen werden“ möge. Verneinend auch etwa Grunewald, ZHR 146 (1982), 222; Wohlleben, Informationsrechte des Aktionärs, Diss. München 1988, S. 70–72; Schäfers (Fn. 17), S. 179–183 m. Zit. Fn. 644; Zetzsche (Fn. 17), S. 104 f. 30 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 42 f., 58 f.; nicht so sicher freilich der Passus in Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 19), § 21 III 1a. 31 Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), insb. S. 38. So auch Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 18. Aufl. 2006, § 51a GmbHG Rz. 27; anders Lutter/ Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 16. Aufl. 2004, § 51a GmbHG Rz. 2.

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Eigener Wille heißt eigenes Setzen der Relevanzen32. Ob damit ein persönliches oder ein Gesellschaftsinteresse realisiert wird, ob also investiertes Vermögen oder interne Zuständigkeit der Grundgedanke sei, ist, wie Karsten Schmidt hervorhebt33, nicht von Bedeutung: Fragen entstehen aus individuellen gedanklichen Strukturen, und in sie muss die Antwort hineinpassen. Insofern soll gerade nicht ein leibhaftiger oder vorgestellter Dritter, und auch nicht der Richter, seine eigenen Relevanzen denjenigen des Informationsberechtigten substituieren. Ein Wahltraktandum ist vielleicht das herausforderndste Beispiel, weil Argumente, die a priori als unsachlich disqualifiziert werden können, praktisch nicht existieren: ob wegen Zugehörigkeit zu einer Partei, Religion, Heereseinheit, dem Rotary-Club, oder angesichts des Geschlechts, der Gesichtszüge oder einer Ehefrau, die drauskommt, für einen Kandidaten gestimmt wird, sind die Relevanzen des Wählenden, die zu bestimmen er frei ist. Und wenn er fragt, wann die Aufsichtsratssitzungen stattfinden, um zu wissen, wann die Sekretärin frei ist, so wird er selbstverständlich eine andere Begründung finden. Anderseits stellt Recht per se objektive Kriterien auf; Interessen sollen nach rechtlichen Maßstäben schutzwürdig sein. Es stehen sich die subjektive, freie Entscheidung als Motiv des Informationsanspruchs und die postulierte Objektivität der konkreten Würdigung unvereinbar gegenüber. Das führt zur Frage, ob die Basis des Anspruchs nicht ganz anders zu sehen wäre, ob es dabei nicht um einen Leistungsanspruch, sondern um einen solchen auf Kommunikation geht, auf den – eben freien – Informations-Verkehr. Das Informationsrecht wäre, so gesehen, ein prozedurales Recht34. In die Aporie gerät die Relevanz der Relevanz so oder anders, nicht nur aus wertend-freiheitlichen, sondern aus kognitiven Gründen. Wenn nicht der Richter bestimmen kann, wofür sich der Aktionär interessieren darf, so enthält das Informationsbedürfnis kein Begrenzungskriterium in sich. Das führt auf die Spur des Jubilaren zurück. Wenn die erfragte Information für den Aktionär auch nur ein Mosaiksteinchen in einem Bild ist, das er aufbauen möchte, so lässt sich nicht sagen, die Information sei irrelevant. Und dieses Herstellen von Mosaiken ist nun einmal das Gewerbe nicht nur von Sherlock Holmes, sondern auch von Aktionärs-Aktivisten; die Fragen sollen bereits bestehende Hinweise bestätigen oder ergänzen, oder der lange Fragenkatalog soll insgesamt gewisse Schlüsse ermöglichen. Das Problem ist also das der rational nicht begründbaren Grenze im Verfolgen eines Relevanzfadens, das den Amerikanern als the problem of stopping bekannt ist35. Dem Richter müsste also, selbst wenn ihm das Einschreiten kraft Objektivität zustehen soll, den Punkt finden, an welchem er die Frage autoritär für nicht mehr interessant erklären kann. Doch alles Wissen zieht seinen

__________ 32 33 34 35

Dazu Druey, Information (Fn. 8), S. 62–64. Siehe bei Fn. 8. Dazu noch kurz am Ende dieses Beitrags. Siehe Chow/Robbins/Siegmund, Great Expectations: The Theory of Stopping, New York 1971; Shyrayew, Optimal Stopping, New York 1978.

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Wert aus dem Kontext, und daraus ergibt sich das Interesse an Wissen. Wie soll der Richter erklären, eine Frage sei nicht interessant, wenn er nicht alles weiß, was der Frager und vielleicht andere Aktionäre schon wissen, wenn er also nicht alle im Aufbau befindlichen „Mosaiken“ kennt?36 Insofern führt selbst, und gerade, ein objektives Bemühen in die subjektive Zone zurück. So oder anders: den Maßstab aus der Sache selbst gibt es nicht. Unweigerlich taucht der Name „Prokrustes“ auf: „Drei Minuten pro Frage und Beantwortung; jeder Aktionär höchstens zwei Fragen“ – muss man sich so der Lösung nähern? 3. Kontrolle Die Informationsrechte des Aktionärs heißen traditionell vor allem „Kontrollrechte“. Nimmt man es nach heutigen Begriffen mit diesem Wort ernst, so ist noch sehr viel mehr darin enthalten als bloß die Lieferung von Grundlagen für die Stimmabgabe zu den Geschäften, die auf der Tagesordnung der Hauptversammlung stehen. „Kontrollieren“ ist ein Soll/Ist-Vergleich, eine Prüfung des vergangenen Geschehens in der Gesellschaft auf die Einhaltung bestimmter Normen hin. Gehört das ebenfalls zu den Funktionen der Hauptversammlung, mithin des Aktionärs? Die Schwäche der Antwort zur Grundsatzfrage vom „Eigentümer“-Status oder „Eigentümer“-Märchen, wie man will (oben II.1.), muss sich auch in dieser Frage auswirken. Sieht man sich um, so finden sich auch da klar verneinende Antworten37 neben praktisch inspirierten Kompromissvorschlägen38 bis zur uneingeschränkten Bejahung39. Verdachtsgründe und Erforderlichkeit werden bei Bejahung quantitativ gesehen und gekoppelt40. Der Eigentümer, der Handwerker im

__________ 36 Kubis in MünchKomm.AktG (Fn. 24), § 131 AktG Rz. 45 will, dass der Aktionär sein Sonderwissen offenzulegen habe, das seine Frage veranlasst. Dieses Wissen ist indessen wohl viel zu weit, wenn man etwa auch an Fachwissen, an bloße Hypothesen oder Hörensagen denkt. Auf dasselbe kommt die Forderung von Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 38 heraus, der Frager habe sein nicht ersichtliches Informationsbedürfnis nachzuweisen. Abgesehen vom praktischen Aspekt der großen thematischen Ausweitung der Auseinandersetzungen an der Hauptversammlung wird vom Aktionär damit verlangt, dass sein „Mosaik“ bis auf das eine Stück vollständig und solid sei, wo doch das erfragte Element wiederum Basis für anderweitige Informationsbeschaffung und die Ziehung von Schlüssen sein könnte. Natürlich sind zudem die Einschränkungen aus Motiven der Diskretion ein Thema. 37 BVerfG, NJW 2000, 349, 350 f. (Daimler-Benz). Erw. 1 a cc 3: Beschränkung des Auskunftsrechts in § 131 AktG auf den Entscheidungsbereich des Aktionärs und damit Ausklammerung der Geschäftsführung als Angelegenheit des Vorstands ist mit der Eigentumsgarantie von Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar. 38 Etwa Decher in Großkomm.AktG, § 131 AktG Rz. 13, 40, 213: „Plausibilitätskontrolle“. 39 Etwa BGHZ 101, 1, 4 f., 17 f. („Vertrauenswürdigkeit der Verwaltung“, gestützt also auf das Traktandum Entlastung der HV). Allerdings betreffen die Fälle meist vermutete Regelverstöße, die den Aktionär direkt treffen (verdeckte Ausschüttungen, Übergehung von Bezugsrechten), und nicht ungenügende Geschäftsführung. 40 Zetzsche (Fn. 17), S. 143 f.

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Haus hat, beobachtet diskret, wieviel Zeit sie an der Arbeit sind, wie häufig und wie lange die Mahlzeit-, Zigaretten-, Telefonier- und Witzerzähl-Pausen sind, er prüft, wie oft sie ein Werkzeug mitzubringen vergessen haben, usw. Er kontrolliert also, auch wenn primär ein Bauleiter dafür zuständig ist, die für ihn arbeiten; er schaut sich die Sache an und stellt Fragen. So auch der Aktionär? Trotz allen internen Kontrollinstanzen? 4. Offenlegen, liefern, beraten – Das Problem der Informationsqualität Ob das Recht in Einsichtnahme, Sitzungsteilnahme, Auskunft oder darin besteht, auf einer Verteilerliste für Versendungen zu figurieren: immer ist das Gesuchte Information und sprechen wir also von einem einheitlichen Problem. Das hindert aber nicht, dass Information auch als Vorgang zu sehen ist und rechtlich dessen Modalitäten zu beschreiben sind. Anders gesagt: was einheitliches Ziel auf der Empfängerseite ist, sieht komplexer aus auf der Seite dessen, der dieses Ziel zu verwirklichen hat – ob es nun eine Pflicht des Informations-Schuldners oder von Intermediären oder auch eine Obliegenheit des Berechtigten sei. Der Grundgedanke dabei ist die Offenlegung: Derjenige, der über die Information verfügt, lässt den Berechtigten hinzutreten. Die Pflicht, so gesehen, ist im Kern ein Unterlassen, es sollen keine Schranken gegen den Zutritt aufgebaut werden. Noch deutlicher in diesem auf das Tolerieren konzentrierten Sinn ist das Wort „Transparenz“. Das reicht aber meistens nicht. Sobald etwa das Auskunftsrecht nicht nur so verstanden wird, dass der Vorstand in der Hauptversammlung sagt, was er weiß, sondern noch Dossiers studiert, allenfalls Recherchen gemacht werden sollen41, kommt eine wesentliche aktive Pflicht des Schuldners hinzu. Die Vorstellung entspricht dann am ehesten derjenigen einer Lieferung bestimmter informationeller Gegenstände. Jedes Mal ist auch dann noch die Frage, ob das genügt. Information sollte nicht einfach „angeworfen“ werden, sondern es ergeben sich aus der Natur der Sache Sorgepflichten des Urhebers, die einen optimalen Nutzen für den Empfänger sichern (Wahl der Ausdrucksweise, Auswahl des Wichtigen, beschleunigte Übermittlung, usw.). Ganz skizzenhaft gesagt, geht es dann um den Informationstyp „Beratung“, also darum, sich bei der Bestimmung des Informierungsvorgangs in die Lage des Empfängers zu versetzen. Die Frage weitet sich aus in diejenige der Informationsqualität. Qualität ist mehrdimensional; hinsichtlich Information kann man verschiedene (taxonomische42 oder exemplarische43) Zieleigenschaften benennen, wie Richtigkeit, Vollständigkeit, Sicherheit, Verständlichkeit, Schlüssigkeit, Schnelligkeit

__________

41 Hüffer (Fn. 21), § 131 AktG Rz. 9 u. a. 42 Eingehend jetzt Zetzsche (Fn. 17), insb. S. 211–262. 43 Gasser (Hrsg.), Information Quality Regulation, 2004, insb. Gasser, Framing Information Quality Governance Research, S. 3–20; Gasser, Variationen über „Informationsqualität“, in FS Druey, 2002, S. 727–754; Zulauf, Informationsqualität, 2000, S. 99– 107; R. H. Weber, Information und Schutz Privater, Zschr. f. schweiz. Recht 1999 II, 1–86, insb. 42–60; Druey, Information (Fn. 9), S. 243–250.

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u. a. Ist Information obligatorisch wie im Fall der Aktionärsinformation, so sind zwei Schwellen festzulegen. Es fragt sich einerseits, was vom Gläubiger an Informationsqualität verlangt werden kann, und anderseits aber, was unter gewissen Aspekten so tief auf der Skala liegt, dass es nicht mehr als Information im Sinne der Vorschrift gelten kann. Wie steht es etwa, unter dem zweiten Gesichtspunkt, mit bloßen Vermutungen, die der weiteren Überprüfung und der Bestimmung der Konsequenzen im Fall des Zutreffens bedürfen? Ist das „Information“? Ist die Offenlegung nicht kontraproduktiv, weil irreführend?44 Auch zu all diesen Fragen haben wir keine aus der Natur der Sache sich ergebende Antwort, wenn und weil das Gesetz in die sozial gewachsene Natur der Kommunikationsvorgänge eingreift. Und gäbe es die Maßstäbe, so wäre das weitere Problem, dass der Gläubiger, Rechtsansprüche und Gerichtsprozesse hin oder her, auf die „Gnade“ des Schuldners angewiesen bleibt, weil nur er weiß, was er weiß (s. das Folgende). 5. Das Problem des Watteboxens Neben die konzeptuellen Aporien stellen sich solche der Durchsetzung. Nur der Schuldner kennt den Inhalt einer Informationsobligation, weil nur er weiß, was er zu einem erfragten Thema berichten kann. Das Vertrauen, dass der Schuldner alles Erfragte offenlegt, ist also nicht nur ein freiwilliges, sondern notwendiges, und dies im Gesellschaftsrecht wie anderswo meist in einem Kontext, der gerade von Misstrauen geprägt ist. Anderseits hat der Informationsgläubiger naturgemäß die Frage-Last, soweit nicht, wie etwa bei einer Bilanz, der Inhalt schon objektiv vorgegeben ist. Die Fragelast impliziert, dass für das Fragen bereits Wissen erforderlich ist, das indiziert, was zu fragen ist. Der Frager steht dann wegen der Unvollständigkeit dieses Wissens vor der Alternative, sehr präzise (und damit meist sehr zahlreiche) oder allgemeine, flächendeckende Fragen zu stellen. Ist er präzis, riskiert er am Ziel vorbeizuschießen; ist er zu allgemein und damit zu breit, so kann ihm mangelndes Basiswissen vorgehalten und die Frage als rechtsmissbräuchliche fishing expedition disqualifiziert werden. Und wie in den Wald gerufen wird, so tönt es zurück: Auch die Antworten werden entweder sehr präzis sein, damit aber verdecken, was unmittelbar links und rechts davon liegt, oder sie werden allgemeine Worte gebrauchen, wo das Interessante wo möglich darunter liegen bleiben kann. Wenn ich die Lewinsky-Affäre Präsident Clintons antöne, so weiß wohl noch heute jeder, was gemeint ist. Die Fragelast bringt also der Gegenseite eine Chance des Entschlüpfens. Dafür gibt es namentlich seitens von Unternehmen auch gezielte Strategien, etwa interne „Fluchtgänge“ im Unternehmen durch Konzentration heikler Informationen bei möglichst wenigen und just nicht in den obersten Rängen sitzenden

__________ 44 Das Problem ist besonders im Zusammenhang mit der ad hoc-Publizität bekannt. Ich kann hier nicht darauf eingehen.

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Mitwissern45 oder bei Konzerngesellschaften, oder die Vermeidung schriftlicher und elektronischer Spuren durch Beschränkung auf mündlichen Transfer, oder Gegenangriff durch Überflutung des Fragers, Diskreditierung bei andern Versammlungsteilnehmern46. Das alles kann bewirken, dass der Frager trotz formell bestehendem Recht und trotz irgendwo im Unternehmen vorhandenem Wissen „in die Watte boxt“47. Verletzen solche Vorkehrungen und Berufungen der informierenden Instanz auf formale Gesichtspunkte das Gebot von Treu und Glauben? Man mag das je nach Fall bejahen. Eine wertende Betrachtung wird aber auch einräumen müssen, dass Präsident Clinton mit seinen damaligen Windungen auf des Messers Schneide wohl weit größeren Schaden von seinem Land abgewendet hat. Unser Punkt hier ist, dass das Stichwort von Treu und Glauben in eine andere Welt hinüber deutet. Es ist die schon erwähnte und diesen ganzen Text durchziehende Frage, ob nicht das adäquate Modell statt der konfrontierenden Auflösung in Rechte und Pflichten das auf Kooperation gerichtete, primär außerrechtliche Kommunikationsverhältnis sei. 6. Der Vorbehalt der Interessenabwägung Es dürfte in Deutschland48 wie in der Schweiz49 anerkannt sein, dass Geheimhaltungsinteressen des Unternehmens gegenüber der Informationspflicht vorbehalten bleiben, wenn sie überwiegend50 sind. Interessenabwägung muss, wie alle Tätigkeit von Gerichten und auch von Unternehmen, normengeleitet sein. Die Gesichtspunkte, die zum Ergebnis führen, müssen ersichtlich sein. Wo aber finden wir diese Normen in der Konfrontation von Aktionärs- und Unternehmensinteressen? Die vorangehend be-

__________ 45 Dazu Druey, Ist Wissen delegierbar? Oder: das Recht, nicht zu wissen, in FS Nobel, 2005, S. 877–891. 46 Über solche Taktiken an französischen Hauptversammlungen Le Cannu, Des questions sans réponse, in Mélanges en honneur de Yves Guyon, Paris 2003, S. 602– 614. 47 Dazu Druey, Die Meldepflicht (Transparenz – eine verhüllte Göttin), Schweiz. Zschr. f. Wirtschaftsrecht (SZW) 1997, 36–43. 48 Bezüglich Auskunft zentral § 131 Abs. 3 Satz 1 Ziff. 1 AktG, wonach der Vorstand die Auskunft verweigern kann, „soweit die Erteilung der Auskunft nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung geeignet ist, der Gesellschaft einen nicht unerheblichen Nachteil … zuzufügen“. 49 In etwas anderem Gesetzgebungsstil, ebenfalls betr. Auskunft, Art. 697 Abs. 2 Satz 2 OR, wonach die Auskunft verweigert werden kann, „wenn durch sie Geschäftsgeheimnisse oder andere schutzwürdige Interessen der Gesellschaft gefährdet werden“. 50 Weder das deutsche noch das schweizerische Recht enthält einen expliziten Vorbehalt der Interessenabwägung und vorherrschend war denn auch ein Primat der Gesellschaftsinteressen verstanden, doch ist heute die prinzipielle Parität in Deutschland (s. Hüffer (Fn. 21), § 131 AktG Rz. 27) wie in der Schweiz (s. R. Weber in Basler Komm. 2. Aufl. 2002, OR 697 Rz. 6 f. und 9 f.) kaum mehr in Frage gestellt, freilich mit dem wichtigen Unterschied, dass in der Schweiz vom Aktionär nicht nur das Unternehmens-, sondern sein eigenes Bewertungsinteresse geltend gemacht werden kann.

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trachteten Aporien, die ein Defizit an Leitungskraft der Konzepte darstellen, müssen notwendig auf die Interessenabwägung durchschlagen. Soviel ist aber klar: Ein Kompromiss zwischen dem Aktionär und der Gesellschaft muss gefunden werden51. Der Richter wird je nach Inhalt der angeforderten Information urteilen, das Unternehmen könne die Preisgabe verkraften, oder sie gehöre zu dem internen Bestand, der nun einmal nicht für den Aktionär bestimmt sei. Davon soll nun die Rede sein. Es geht um die Eigenschaften, die Art der Kriterien einer solchen Demarkationslinie zwischen dem zugänglichen und dem unzugänglichen Teil des Unternehmenswissens. Von dem nachfolgenden Teil III. ist aber nicht die Lösung zu Teil II. zu erwarten; meine Ausführungen folgen also nicht dem klassischen Schema, dass zunächst alles kritisiert wird, um sodann die Welt auf Grund der eigenen Überlegungen neu erstehen zu lassen. Vielmehr ist unumgänglich, dass sich die Ungewissheit weiter potenziert, weil eben Aporie auch Aporie in den Folgefragen erzeugt. Umso schlichter wird dann die daraus zu gewinnende Erkenntnis sein, dass nämlich das 20. Jahrhundert die Macht des Rechts in der Zuerkennung von Information so überschätzt hat, dass das 21. die Erwartungen nur wird herunterschrauben können. Dann, wenn nicht mehr alles allen garantiert werden soll, wird auch die Entwicklung rechtlicher Leitlinien zur Konfliktlösung möglich sein. Doch wir sind noch nicht auf der Stufe der allgemeinen Befunde, und auch dann wollen wir uns vor Rundumschlägen hüten.

III. Die Teilung von Information 1. Die Problematik des Interessekriteriums Wenn zur Abgrenzung der zugänglichen und der unzugänglichen Information die jeweiligen Interessen abgewogen werden sollen (durch das Gericht oder schon durch den Gesetzgeber), so potenziert sich die bezüglich des Informationsbedürfnisses schon festgestellte Schranke der Wertungsfeindlichkeit. In der Interessenabwägung, wenn sie einen Interessenkonflikt lösen soll, sind zwei Interessen zu werten: nicht nur dasjenige, gewisse Informationen zu erhalten, sondern ebenso dasjenige, sie zurückzuhalten. Beide Male soll etwas Unbekanntes gewertet werden. Soweit bildet sich in der Interessenabwägung einfach die vorher schon betrachtete Problematik ab. In der Konfrontation erhält die Aporie aber noch ein neues Gesicht. Interessenabwägung (immer unterstellt, dass es ein an sich funktionsfähiger und rechtsstaatswürdiger Mechanismus sei) hat ihre Chance dann, wenn die beteiligten Interessen sich als verschieden gewichtig erweisen. Im Fall von Information sind sie indessen reflexiv aufeinander bezogen. Das bedeutet, dass das eine mit dem andern zu- und abnimmt. Das Informationsbedürfnis entsteht aus dem Eindruck, dass dem Aktionär etwas Wichtiges vorenthalten wird, und das Geheimhaltungsbedürfnis aktualisiert sich, wenn ein

__________

51 Zöllner in KölnKomm.AktG (Fn. 4), § 131 AktG Rz. 34, zit. nach und gefolgt von Karsten Schmidt, Informationsrechte (Fn. 2), S. 41.

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Interesse Außenstehender zu ersehen ist. Kurz: Je heißer das Faktum, desto größer die beidseitigen Bedürfnisse. Dagegen sind hundert Ordner mit Routinekorrespondenz für beide Seiten vorerst uninteressant. Sie werden es für den Außenstehenden erst dann, wenn beispielsweise das Unternehmen sie einer höheren Geheimhaltungsstufe unterstellt, und für das Unternehmen das Zurückhalten erst dann, wenn es etwa den Interessenten verdächtigt, die Geschäftsverbindungen dieser Firma systematisch ausspionieren zu wollen. Gewiss, die gegeneinander stehenden Interessen sind zu werten, nicht bloß nach Intensität zu messen. Doch gilt der Schutz beidseits eben der Wertungsfreiheit, so auch der Geheimnisschutz: Er sichert dem Unternehmen einen Bereich, in welchem es frei, ohne Rechenschaft, operieren kann. Es braucht den Aktionären nicht darzulegen, wie es zu einem bestimmten Großauftrag kam, nicht weil es dabei in der Optik der Rechtswertung auch Fragwürdiges gab (Schmiergelder, Kartellabreden), sondern obwohl auch solches dann der Debatte entzogen ist52. Im Informationsrecht stehen also Freiheitsbereiche gegeneinander. Information bietet dem Empfänger Entscheidgrundlagen, Nicht-Information dem Nicht-Sender einflussfreie Entscheidräume. Freiheit kann prinzipiell nicht durch Interessen determiniert sein, weil sie just das Fehlen externer Würdigung zum Inhalt hat. Sehr zu Recht auch unter diesem Aspekt kritisiert deshalb Karsten Schmidt die Sterilität der Frage nach der Eigen- oder Fremdnützigkeit der Aktionärsrechte53. Dabei stellt eine Grenze, wie sie für einen Bereich zu bestimmen ist, ein generelles Konzept dar. Auch die ohne Vorgaben, mithin nach Ermessen erfolgende Beurteilung des Einzelfalls kann sich deshalb nicht mit einer Analyse der konkreten Interessen begnügen, sondern muss die spezifische Sachlage mit dem Blick auf das Ganze des Systems beurteilen, dem die Informationsrechte und Geheimnisschutznormen angehören. Man wird also irgendwie einen „äußeren“ von einem „inneren“ Bereich abtrennen, ohne dass damit mehr getan ist als eine Neuformulierung des Problems. Es bleibt bei der intrinsischen Spannung, ja der radikalen Opposition der Tendenzen: Einerseits möchte der Aktionär eben ins Innere vordringen, um sich eine aussagefähige Beurteilungsgrundlage zu verschaffen. Anderseits möchte das Unternehmen die Grenzen selber setzen, geheim soll bleiben können, was die Geschäftsleitung in legitimer Wahrnehmung des Unternehmenswohls geheim halten möchte. Jeder hat Recht. Das Erfordernis der „Interessenabwägung“ ist nicht mehr als die Aussage, dass das Problem irgendwie vom Tisch muss.

__________ 52 Druey, Geheimsphäre des Unternehmens, 1977, S. 130–132; zur Abwägung Druey, Information (Fn. 9), insb. S. 208 f. Das besagt nichts gegen den Grundsatz, dass beanstandenswertes Verhalten von Organen sich nicht hinter der Informationsverweigerung soll verschanzen können (s. in unserem Kontext Zetzsche (Fn. 17), S. 143 f.). Wäre die objektive Billigung der Sachverhalte Voraussetzung, ginge die eigentliche Idee des Eigenbereichs verloren. Nicht die Billigung oder Nicht-Billigung, sondern die Würdigung oder Nicht-Würdigung ist das Kriterium. 53 Oben bei Fn. 8.

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Das Problem beginnt aber schon bei der Tauglichkeit des Begriffs „Bereich“ als Ziel der Grenzziehung. 2. Die Problematik der Aussonderung von „Bereichen“ Der Geheimnisschutz war lange von der Vorstellung von „Sphären“ beherrscht, welche innere von äußeren Bereichen abtrennen sollten. Diese am Persönlichkeitsschutz inspirierte Idee hat zum Glück nachhaltigen Widerspruch erfahren. Warum soll eine Abhör-Wanze im Schlafzimmer etwas entscheidend Anderes sein als in der öffentlichen Toilette? Denn der Ort, an welchem belauscht wird, ob es die Intim- oder wie immer zu bezeichnende Sphäre oder die Öffentlichkeit sei, tut nichts zur Sache. Die allfällige Verletzung geschieht durch das angewendete Mittel, und anderseits richtet sich das Informationsinteresse auf den jeweiligen Inhalt. Stehen sich Aktionär und Unternehmen gegenüber, so ist erst recht klar, dass der „Bereich“ nicht durch den Ort der Information bestimmt sein kann, ebenso wenig aber durch das Mittel. Immer geht es um Unternehmensangelegenheiten, welche offenzulegen sind oder aber nicht. In Frage kommt als Ausgangspunkt also von vornherein nur der Inhalt. Doch wie müsste man sich das vorstellen? Wäre also beispielsweise über die Finanzen Auskunft zu geben, über die Fabrikation dagegen nicht, über Juristisches, aber nicht über Personelles, über Entwicklung, aber nicht über Forschung? Das dient niemandem, und es lässt sich auch kaum ein Thema auf einen einzelnen derartigen Sektor beschränken. Alles hat einen finanziellen Aspekt, nicht weniger auch einen juristischen. Wäre nun die Investition in einen neuen Produktionsbetrieb oder ein Forschungsvertrag mit einem berühmten Spezialisten in unserm Beispiel auf die eine oder die andere Seite zu schlagen? Non liquet. 3. Die Kriterien der Wichtigkeit und der Allgemeinheit Durch die Gesamtmenge der Information betreffend (und verfügbar beim) Unternehmen lässt sich der Schnitt aber auch auf einer andern, auf der horizontalen statt der vertikalen Ebene legen. Das heißt, dass statt der Zuordnung von Themen eine thematische Universalität gelten und die Selektion aus der je verschiedenen funktionellen Stellung von Aktionariat und Unternehmensleitung hergeleitet würde. Das vermeidet den frontalen Zusammenstoß, indem die Differenz der Position für die Differenzierung der Information genutzt würde. Aktionärsinformation ist danach immer Orientierung in groben Zügen, weil seine Entscheide, gleichgültig ob eigen- oder fremdnützig, nach dem System der Aktiengesellschaft auf elementare Fragestellungen beschränkt sind. Doch was ist gewonnen, wenn ich anstelle von „X“ die Formel „in groben Zügen“ setze? Die moderne Rechtswelt, von den Parlamenten zu den Gerichten bis zu den Gelehrten, hat zwar mit derartigen Formeln, oder wie die Angelsachsen sagen: tests, virtuos zu spielen gelernt. Ihre Attraktivität ziehen sie daraus, dass sie einen Grundgedanken auszudrücken und das Problem auf marginale Unsicherheiten zu beschränken scheinen. Sieht man näher hin, so 262

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sind aber zumindest in unserem Kontext auch die Grundsatzfragen noch nicht beantwortet. Der Filter kann die Beschränkung auf das Wichtige oder aber auf das Allgemeine bedeuten. Im ersten Fall gelangt das Informationsbedürfnis des interessierten Aktionärs voll zum Zug, geboten wird ihm, was für ihn besonders bedeutsam ist. Er erfährt dann von einem bevorstehenden großen Durchbruch in der Forschung einschließlich etwa dem, was man über die Situation bei den Konkurrenzunternehmen weiß, was die Vermarktungsstrategie für die neue Produktelinie sein soll, usw. Ist die Information dagegen auf das Allgemeine beschränkt, so legt sich über die profilierte Information ein Schleier. Die Umrisse müssen jedoch erkennbar bleiben, der Aktionär wird etwa erfahren können, dass man dank Forschungstätigkeit auf interessante neue Produkte hoffen darf, aber die Details, die für die Quantifizierung wie auch für die Glaubwürdigkeit wichtig wären, bleiben ihm entzogen. Prima facie mag man zur Antwort neigen, dass nur das Erste in Frage kommt. Man wird in diesem Sinn erwägen: Gesucht sind ja Inhalte. Die Darstellung ist Sache der Information schuldenden Gesellschaft, soll also nicht zur Relativierung eines Informationsanspruchs führen. Ausgangspunkt ist indessen, dass eine Relativierung stattfinden muss und dass mithin die Interessen der Gesellschaft auf gleicher Ebene denjenigen des Aktionärs gegenüber zu stellen sind. Jede inhaltsbezogene Ausscheidung ist jedoch, wie dargelegt, eine zu vermeidende Verabsolutierung der Aktionärsseite, wo doch eben alles Wichtige ebenso aus der Perspektive der Gesellschaft wie derjenigen des Aktionärs wichtig ist. Dass zudem Information nicht auch die Information zu ihrer eigenen Überprüfung enthält, mithin das Glaubwürdigkeitsrisiko besteht, ist den befohlenen und damit thematisch eingeschränkten Informationstransfers inhärent. Prüfungen sind ihrerseits eine ins Unendliche reichende Relevanzenkette54. Vor allem aber nutzt nur die Unterteilung nach Allgemeinheit und Spezifizität eine Differenz in den Positionen von Aktionären und Geschäftsleitung und kann ihnen so das relative Maximum zuweisen. Will der Aktionär ein Bild vom Stand seiner Gesellschaft haben, so gibt es nicht Gebiete, die interessanter, und andere, die weniger interessant sind. Umgekehrt kann es schützenswerte Geheimnisse der Gesellschaften in allen Bereichen geben. Beide Interessen sollten übergreifend zum Zug kommen können. Dagegen reichen für den typischen Aktionär die elementaren Aspekte in der Regel aus, während die Geheimnisinteressen vor allem am Einzelnen haften. Das spricht für eine durch alle Materien hindurchgehende Grenzziehung im Sinne von allgemein/ spezifisch55.

__________ 54 Druey, Wo hört das Prüfen auf?, in FS Koppensteiner, 2001, S. 3 ff., 14. 55 Tendenzweise auch R. H. Weber in Basler Komm. (Fn. 23), Art. 697 OR Rz. 9.

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IV. Das Recht als Prokrustes 1. Der bisherige Gang der Überlegung Alles in allem ist das Merkwürdige und letztlich nicht Lösbare in der Konstellation von Informationsansprüchen als Hilfsmittel in der Steuerung von Organisationen, dass die gesteuerte Instanz gegenüber der steuernden einen Machtvorsprung hat, weil sie, und nur sie, das zu transferierende Wissen hat. Wer Information begehrt, kämpft bergauf. Anderseits werden beide Seiten doch auf die gleiche Ebene gestellt, wenn eine Abwägung zwischen Herausgabe und Zurückbehaltung von Information zu machen ist. Das funktioniert täglich in den Unternehmen unendlich oft, weil in allen Kontakten vom Werbetext bis zum diskreten Wortwechsel beim letzten Cognac, und auch in Binnenkontakten zwischen Kollegen oder Abteilungen, bestimmt wird, was in welcher Weise bekanntgegeben werden soll. Dann ist der Gesichtspunkt klar, aus welchem heraus diese Entscheide zu treffen sind: es ist immer und ausschließlich das Unternehmensinteresse. Doch alles wird anders, wenn das Gesetz meint, diese Vorgänge pflichtmäßig einbinden zu müssen. So im Fall des Aktionärs. Ordnungsgegenstand ist auch da die Organisation, die AG, welcher der Aktionär beigetreten ist. Doch die spezielle Formulierung der Regeln hat eine Verwischung der dahinter stehenden Motive zur Folge; die Doppelrolle des Aktionärs als Risikoträger und Organmitglied taucht zumindest als Frage auf. Damit aber, dass das Unternehmensinteresse nicht mehr als vereinigender Gesichtspunkt funktionieren kann – und dies ist schon durch die bloße Spezialität des Informationsanspruchs negativ indiziert – ist die Herleitung des Inhalts des Anspruchs aus dem Sinn prinzipiell, nicht nur marginal, verunsichert. Die wohl faktisch unter den meisten Rechtsordnungen erfolgende Abwägung von Aktionärs- gegen Gesellschaftsinteressen wird notwendigerweise von dieser Unsicherheit angesteckt; das bloße Wort „Abwägung“ bestätigt den Antagonismus der Gesichtspunkte56. Alle Information hängt zusammen. Bei der Bestimmung des zugänglichen und des nicht-zugänglichen Teils der Unternehmensinformation bringt deshalb die Bildung von thematischen Segmenten nicht die Lösung, es sei denn durch willkürliche, d. h. nicht sinngeleitete „Prokrustes“-Einteilungen. Das Optimum muss sich an der Rollendifferenzierung der Informationsgläubiger und -schuldner orientieren. Der Aktionär, ob er nun die Information für den Verkaufsentscheid oder für sein Verhalten in der Hauptversammlung benutzt, benötigt verhältnismäßig elementare Unterrichtung, anderseits solche aus allen Segmenten. Die Trennlinie muss deshalb horizontal, als Bildung von Schichten verstanden werden. Kriterium ist darum die Allgemeinheit der Darstellung.

__________ 56 Das französische Recht, das auch vom fragenden Aktionär verlangt, dass er im Unternehmensinteresse handelt (Code des sociétés v. 24.7.1966 Art. 162, jetzt L. 255– 108; Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 13. Aufl. 2000, Rz. 622 f.), überlässt das Geschehen faktisch einem recht freien (Kampf-)Spiel des Dialogs, Le Cannu (Fn. 46), S. 606–612.

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2. Die Pflicht zur Halbwahrheit Die Sprache der Aktiengesellschaft mit ihren Aktionären ist also wie es scheinen kann eine Sprache „ad usum delphini“ – „Wie sag ich’s meinem Kinde?“ Das hat aber mit fehlender Mündigkeit nichts zu tun, noch beleidigt es die „Souveränität“ des Aktionärs, sondern es ergibt sich (in unternehmerischorganisatorischer Sicht) aus der halbexternen Stellung des Aktionärs57. Das Motiv der Filterung liegt also nicht in seinem Wohl, sondern in demjenigen des Unternehmens. Für den Aktionär kann so die erhältliche Information ungenügend sein, wenn sich sein Wissensbedürfnis auf Einzelheiten richtet. Ist er der Meinung, die Errichtung eines Fabrikationsbetriebs in Indien sei ein Fehlentscheid gewesen, so wird er bedauern, wenn er Aufschlüsse über Produktmenge und -qualität einzelner Betriebsstätten nicht erhalten kann. Diese Abgabe von Information in Konzentratsform ist seit eh und je, was das bei weitem wichtigste Informationsinstrument des Unternehmens kennzeichnet: die Rechnungslegung und den Lagebericht. Der Grad der Spezifizität dieser (im Fall der Rechnungslegung: durchweg) standardisierten Information reflektiert immer mehr die Abwägung zwischen Unternehmensführung und Markt, in der Meinung, dass Rechnungslegung ein Publizitätsinstrument und nicht, oder nur ergänzt durch viele weiteren Informationen, die Grundlage für Leitungsentscheide sei. Rechnungslegungsnormen geben den Maßstab für den Auflösungsgrad des Bildes, das zu vermitteln ist. Die andern Informationsinstrumente zu Händen der selben Adressaten sollten in etwa die selbe Anzahl „Pixel“ aufweisen, wenn jedem seine eigene Funktion im Gesamtkonzept zukommen soll. Ein Auskunftsrecht des Aktionärs, das eine grundsätzlich weiter gehende Detaillierung vorsieht als die Rechnungslegung, würde aus diesen Instrumenten eine bloße Einstiegstelle und das Auskunftsrecht zur Hauptquelle machen, wo sie doch im System eindeutig Sekundärcharakter hat. Es ergibt sich ebenso aus der Tradition wie aus der Aufwandökonomie und der Funktion einer breiten Streuung der Unternehmenspublizität, dass das Soll primär und idealerweise vollständig durch Spontaninformation und somit vor allem durch generelle Information des Unternehmens erfüllt wird, wozu Rechnungslegung, Lagebericht und bei Publikumsgesellschaften die ad hoc-Publizität gehören. Der Teufel, vielleicht auch einmal ein Engel, sitzt aber im Detail. Was der Aktionär erfahren kann, bleibt an der Oberfläche. Dass der Produktbereich X chronisch schlecht arbeitet und auch weiterhin in der Verlustzone verharrt, wird durch Saldierung in der Rechnung und allgemeine verbale Aussagen von „zufriedenstellendem Geschäftsgang“ übergangen. Er erhält also nur Halbwahrheiten. Halbwahrheiten können aber nicht nur halbe, sondern volle

__________ 57 Auffällig ist die von der kapitalzentralen juristischen Sicht abweichende managementzentrale Darstellung der Konstellation in der Betriebswirtschaftslehre, in welcher die Kapitalgeber, aufgeteilt nach Fremd- und Eigenkapital, als ein Produktionsfaktor neben andern erscheinen (etwa Müller-Stewens, Strategisches Management, 2001, Ziff. 1.2.1).

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Lügen sein, weil es dem menschlichen Denken entspricht, sich aus den vorhandenen, ohnehin nie vollständigen Angaben ein Gesamtbild zu machen. Völlig legitimerweise ist beispielsweise aus den Unterlagen nicht zu ersehen, dass der geniale Produkteschöpfer des Unternehmens voraussichtlich die Stelle wechseln wird. Der Leser wird bei allem, wozu er nichts Besonderes erfährt, annehmen, es gehe weiter wie bisher. Und diese „Lügen“ sollen noch Pflicht des Vorstands sein? Die Gesetzesvorschriften räumen zwar, zumindest in Deutschland und der Schweiz, nur ein Recht zur Geltendmachung von Geheimhaltungsinteressen an, und sprechen wir, wie dargelegt, eher von Kompetenzen als von Interessen, so ist erst recht der Vorstand frei, was er mit der gesetzlich vorbehaltenen Information macht. Statt sie zurückzubehalten, kann er sich freimütig geben und auch detaillierte Darstellungen präsentieren. „Freiheit“ ist insoweit aber nur ein Verfügungsrecht; die Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse steht darüber. Wo ein Geheimhaltungsinteresse besteht, muss er es vorbehalten. Hier nun erhält aber entscheidende Bedeutung, dass die dem Aktionär zu gebende Information normiert ist. Das vorgegebene Schema, die vorgegebenen Grundsätze in der Abbildung der Wirklichkeit sind ihrerseits ein Teil der Aussage. Der Empfänger erfährt daraus auch, was er nicht erfährt. Das ist allgemein so; die unendliche Anzahl Pixel zur nicht-selektiven Wiedergabe eines Objekts gibt es nicht. Darum war das Gebot der true and fair view, großer Gegenstand der europäischen Auseinandersetzung, als selbständiges Prinzip der Rechnungslegung zu keinerlei Erhellung geeignet, sondern bloß im Gegenteil zur Verdunkelung der Vorstellungen der unverständigen Juristen: Maßgebend sind die Umsetzungsnormen, das unerreichbare Endziel hat selber keine Anleitungskraft. So muss auch für die Findung der Grenzen der Aktionärsinformation insgesamt, einschließlich der individuellen, gelten: Je klarer die Grenze, desto wahrer der Inhalt. Das Paradox lässt sich noch gröber ausdrücken. Dem Aktionär wird „der Speck durchs Maul gezogen“; die „juicy stories“ kann er ahnen, ohne sie kosten zu dürfen. Aber er weiß, dass er nur die Hälfte weiß – alles endet in Philosophie … Die oben diskutierte Schichtenbildung von allgemein/speziell stellt das relativ optimale Kriterium dar. Das Wahrheitsgebot wird dem Unternehmen in keiner Weise abgenommen und das Gewicht der Worte und Zahlen durch die Allgemeinheit der Darstellung noch wesentlich vermehrt. Jedes Bild konzentriert und fokussiert, weil es sich auf die Sicht- und Denkweise seiner Adressaten einstellt. Gerade auch in den obersten exekutiven Chargen bedarf es eines in dem Sinn grob unvollständigen Bilds, weil ein großer Bereich zu überblicken ist. Aber wenn auch das Bild unvollständig ist, kann es dennoch wahr sein, wahr im Sinn einer in ihren Prinzipien konsequenten und erkennbaren Art der Umsetzung. Auch die Malerei des 20. Jahrhunderts ist wahr – hier gebe ich das Wort an den Jubilaren zurück.

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3. Summa Informationsrechte sind Hilfsrechte, wie es Karsten Schmidt für den gesellschaftsrechtlichen Bereich hervorhebt58. Dabei bleibt es. Aber die Erkenntnis von den enormen Defiziten dieser Hilfe durch Information muss bedeuten, dass in der Festlegung der Bedürfnisse und damit der Auslegung der Normen eine Wechselwirkung besteht. Zuständigkeiten begründen Informationsansprüche, aber die Frage der Informationsverteilung muss ihrerseits die sinnvolle Bestimmung der Zuständigkeiten inspirieren. So verlangt sie auch, dass die dem Aktionär zukommende Kontrollfunktion im Hinblick auf das Gleichgewicht der Kräfte in der Gesellschaft präzisiert wird. Kontrolle im Vollsinn müsste heißen, dass das ganze Wissen des Kontrollierten plus das für den Beurteilungsmaßstab nötige Wissen verfügbar ist. Davon kann allgemein, und erst recht im Fall des Aktionärs, keine Rede sein. Andere, namentlich auch unternehmensinterne Instanzen müssen im Wesentlichen die Kontrollfunktionen in einem effizienten System von checks and balances übernehmen, und diejenige des Aktionärs ist als eine bloß summarische erkennbar zu machen. Besonders die formellen Kompetenzen der Hauptversammlung, die einen umfassenden Einblick erfordern würden, wie die Genehmigung der Jahresrechnung und die Entlastung der Verwaltung, müssen organisatorisch im Licht der beschränkten Informationsbasis verstanden werden. Es kann nicht umgekehrt daraus eine unumschränkte Unterrichtung hergeleitet werden Das will heißen, dass Zuständigkeit und Informationsversorgung sich decken müssen. Unterversorgung ist inadäquat, aber auch Überversorgung schadet. Ein Großaktionär, der zur Verarbeitung einer großen Informationsmenge eher bereit und zur Durchsetzung weiterer Aufschlüsse in der Lage ist, soll seine Stimmrechtsmacht nicht dadurch potenzieren und die zuständigen Organe aushebeln können. Auch so ist indessen kein rationaler Schluss von Funktionen auf die zu beanspruchende Information möglich – das ist der Punkt, wo ich die Diskussion mit Karsten Schmidt aufnehmen möchte. Die Vorgabe muss mithin normativ erfolgen. Die Gesamtversorgung muss aber ein einheitliches Konzept besitzen. Das bedeutet, dass die Chance, ja die Notwendigkeit besteht, das Maß an der praktisch im Vordergrund stehenden und durch ein differenziertes Normensystem geregelten Rechnungslegung, aber auch am vorgegebenen Raster des Lageberichts und der Praxis dazu zu nehmen59.

__________ 58 Oben bei und in Fn. 9. 59 Eppenberger (Fn. 9), S. 142–152; Druey, Outsider (Fn. 14), S. 80 f.; zu eng für R. H. Weber in Basler Komm. (Fn. 50), OR 697 Rz. 12. In Deutschland hat trotz Präsenz des Gedankens eines Gesamtsystems der Aktionärsinformation das Argument offenbar wenig Anhänger gefunden. Es wird etwa darauf hingewiesen, dass Entwicklungen nach dem Bilanzstichtag dadurch ausgeschlossen wären (BGHZ 86, 1, 16). Immerhin gibt es auch deutliche Anpassungstendenzen, indem z. B. stille Reserven ebenso strikt vom Auskunftsrecht ausgeschlossen sein sollen, wie sie in der Bilanz berechtigt sind (BGHZ 86, 1, 18; entsprechend im Ergebnis das schweizerische Bundesgericht, BGE 82 II 216). S. auch OLG Hamm, AG 1977 233, 234 betr. Vorstandsgehälter; Übersicht

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Alle hier dargelegten Probleme resultieren aus dem obligatorischen Charakter des Aktionärs-Informationsrechts. Hier liegt die Frage, die ich stellen möchte. Dabei ist zu unterscheiden: Es gibt die Gesetze der Sprache und es gibt die Gesetze des Rechts. Die Gesetze der Sprache sind unverzichtbar; um verstanden zu werden, müssen alle Botschaften Normen folgen, die dem Emittenten und dem Empfänger gemeinsam sind. Auch die Gesetze des Rechts sind insoweit unverzichtbar, als sie Gewähr für eine kontinuierliche und den verschiedenen Emittenten gemeinsame Sprache leisten, damit sie vergleichbar sind60. Wenn der Aktionär mehr wissen will, als was die so standardisierte Information ihm bietet, warum soll er nicht einfach mit der Unternehmensleitung ins Gespräch treten? Die Frage wird zwar bestärkt, aber keineswegs veranlasst dadurch, dass die angelsächsischen Rechtsordnungen diese zusätzlichen individuellen Rechte nicht kennen. Vielmehr liegt darin die These vom freien „Markt“ der Kommunikation61. Vermutlich gibt es für diesen ebenso gute, ja noch mehr Gründe als für den freien Waren- und Dienstleistungsmarkt. Und es gibt durchaus auch, wenngleich meist ungeschrieben, die Gesetze der Kommunikation. Funktioniert nicht auch unser System der befohlenen Information vor allem durch taktische Momente? Der Vorstand informiert, weil er Vertrauen gewinnen will, weil er Gerüchten entgegentreten will, weil er auf schlechte Zeiten vorbereiten will. Sollen wir Juristen ihn nicht überhaupt machen lassen? Großzügigkeit kann sich lohnen.

__________ bei Zetzsche (Fn. 17), S. 152–154. Richtig ist, dass das individuelle Recht sich nicht auf die bloße Erläuterung und die Füllung von Lücken in den Unterlagen beschränken kann. Das hindert aber nicht, dass die in den regulären Instrumenten wirksamen Wertungsgesichtspunkte beigezogen werden sollen. Zutreffend bemerkt dazu Decher in Großkomm.AktG, dass diese von ihm grundsätzlich bejahte Koppelung durchaus auch eine Ausweitung der individuellen Information bei entsprechender Entwicklung der anderweitigen Gesetzgebung mit sich bringen kann (§ 131 AktG Rz. 37 betr. UmwG). 60 Christian J. Meier-Schatz, Wirtschaftsrecht und Unternehmenspublizität, 1989, hat diesen Schluss aus einer eingehenden Analyse namentlich des amerikanischen Rechts gezogen. 61 Dazu Druey, Das Kommunikationsverhältnis – Ein Gang an den Grenzen des Rechts (in Vorbereitung).

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Zuwendungen an Unternehmensorgane bei Umwandlungen und Übernahmen – unethisch, aber wirksam? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das normative Umfeld 1. Umwandlungsrecht a) Die angabepflichtigen Umstände b) Normzweck und rechtsethischer Gehalt der Vorschrift c) Die gesellschaftsrechtliche Parallelfrage 2. Übernahmerecht a) Angabepflicht nach § 11 WpÜG b) Ergänzende materielle Regelung aa) „Ungerechtfertigte“ Vorteile (1) Konsequenzen der überwiegenden Ansicht (2) Indiziert der Tatbestand die Rechtswidrigkeit? (3) Verbot oder Offenlegung mit Genehmigungsoption?

(4) Vorrang des Transparenzmodells bb) Besondere Bedeutung der Transparenz III. Übertragbarkeit auf das Umwandlungsrecht 1. Nebeneinander von Inhaltsgrenzen und Publizitätspflicht 2. Aktienrechtliche Grenzen der Zuwendung a) Retention-Prämie und Beteiligung des Managements an der aufnehmenden Gesellschaft b) Leistungen an ausscheidende Organmitglieder IV. Rechtsfolge intransparenter Vergütungen V. Ergebnisse

I. Einleitung Die rechtlichen Anforderungen an das Verhalten des Führungspersonals der Kapitalgesellschaften steigen – das zeigt schon die zunehmende Normendichte, vor allem im Bereich des Kapitalmarktrechts, aber auch im Bereich der Corporate Governance, wo mit dem BilMoG die Pflichten des Aufsichtsrats im Bereich der Rechnungslegung erweitert werden und zudem erstmals eine fachliche Mindestqualifikation für eines seiner Mitglieder ausdrücklich im Gesetz normiert werden wird1. Gleichzeitig verdeutlicht die zunehmende Zahl von Haftungsprozessen, dass die Pflichten nicht nur auf dem Papier stehen, son-

__________ 1 Nach § 107 Abs. 4 AktG des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (BilMoG, BR-Drucks. 344/08, S. 42, BT-Drucks. 16/10067, S. 42) muss mindestens ein Mitglied des Prüfungsausschusses eine in Fragen der Rechnungslegung und Abschlussprüfung erfahrene Person sein. Wird die Aufgabe vom Gesamtaufsichtsrat wahrgenommen, so muss nach dem geplanten § 101 Abs. 5 AktG eine entsprechend qualifizierte Person dem Gremium angehören.

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dern auch durchgesetzt werden – wenn nicht von den Gesellschaftern, dann notfalls in der Insolvenz von der Insolvenzverwaltern, die in diesen Fragen zunehmend sensibilisiert sind. Hinzu kommt eine intensive gesellschaftliche Diskussion über das ethische Verhalten von Vorständen und Aufsichtsräten, die sich vor allem an der sehr emotional geführten Gehalts- und Abfindungsdebatte entzündet und durch das Bekanntwerden zum Teil gravierender Rechtsverstöße in Unternehmen2 oder durch das Fehlverhalten Einzelner im privaten Bereich weiter angeheizt wird3. Gerade in den letztgenannten Fällen liegen die rechtliche und die ethisch-moralische Dimension eng beieinander. Aber auch dort, wo es nicht um Rechtsverstöße geht, ist die Öffentlichkeit sensibilisiert, wie etwa bei der gleichzeitigen Ankündigung von Rekordgewinnen und einem massiven Stellenabbau4 oder die Beschäftigung der Ehefrau des Vorstandsvorsitzenden als dessen persönliche Referentin5. Noch wenig diskutiert sind in diesem Zusammenhang Vorgänge, die mit der Annahme von Vorteilen bei Mergers & Acquisitions zu tun haben – also etwa Verschmelzungen oder auch Unternehmensübernahmen. Bei derartigen Maßnahmen ist es nicht selten, dass der bisherige Vorstand Vorteile für den Fall zugesagt bekommt, dass er geräuschlos geht6 – oder aber auch gerade dafür, dass er dem neu formierten Unternehmen erhalten bleibt7. Nicht selten geht es dabei nicht nur um rein monetäre Anreize, sondern auch um die gesellschaftsrechtliche Beteiligung des Managements im neuen Unternehmen8. Diese Fragen werden im Umwandlungsrecht bisher vor allem in Bezug auf die Formvorschrift des § 5 Nr. 8 UmwG diskutiert, wobei die gesellschaftsrechtliche Ebene weitgehend ausgespart bleibt. Das WpÜG ist hier mit seinen §§ 11 Abs. 3 Nr. 3 einerseits und 33d andererseits einen erheblichen Schritt weiter. Dieser Beitrag möchte daher versuchen, nach einer Problemdarstellung (II.) Parallelen zwischen den beiden Rechtsbereichen aufzuzeigen und zu einer einheitlichen Beurteilung der gesellschaftsrechtlichen Organpflichten in derartigen Konstellationen zu kommen (III.). Weiterhin sollen die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die einschlägigen Bestimmungen näher beleuchtet werden (IV.).

__________ 2 Zu den schwarze Kassen der Siemens AG vgl. Börsenzeitung v. 23.8.2007, S. 11; Börsenzeitung v. 10.4.2008, S. 10; Die Zeit Nr. 14/2007, S. 22; Die Zeit Nr. 52/2006, S. 25; zur Bespitzelungs-Affäre der Deutschen Telekom AG Börsenzeitung v. 29.5.2008, S. 9; Die Zeit Nr. 24/2008, S. 21. 3 Fall Zumwinkel, dazu Börsenzeitung v. 15.2.2008, S. 1; Die Zeit Nr. 9/2008, S. 22. 4 Fall Deutsche Bank, hierzu Der Spiegel Nr. 9/2005, S. 92; Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4.2.2005, S. 15; Börsenzeitung v. 4.2.2005, S. 1; Financial Times Deutschland v. 28.2.2005, S. 18 sowie Forstmoser in FS Simon, 2005, S. 207 ff. 5 Fall Lydia Schrempp, vgl. Börsenzeitung v. 26.2.2008, S. 7. 6 Vgl. Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 5 Rz. 47; Stratz in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, UmwG, 4. Aufl. 2006, § 5 Rz. 74; Kort, AG 2006, 106; HoffmannBecking, ZHR 169 (2005), 155, 170. 7 Vgl. Hopt in FS Lutter, 2000, S. 1361, 1380. 8 Besonders deutlich ist dies im Fall des sog. Management-Buy-outs, vgl. hierzu Calbe, DB 2001, 2362 ff.; Fleischer, AG 2000, 309 ff.; Weitnauer, Management Buy-Out, 2003.

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Zuwendungen an Unternehmensorgane bei Umwandlungen und Übernahmen

II. Das normative Umfeld 1. Umwandlungsrecht Eine Regelung, die sich mit besonderen Vorteilen für Unternehmensorgane bei Mergers & Acquisitions beschäftigt, ist § 5 Nr. 8 UmwG. Die Vorschrift verlangt, dass jeder besondere Vorteil, der einem Mitglied eines Vertretungsorgans oder eines Aufsichtsorgans der an einer Verschmelzung beteiligten Rechtsträger, einem geschäftsführenden Gesellschafter, einem Partner, einem Abschlussprüfer oder einem Verschmelzungsprüfer in diesem Zusammenhang gewährt wird, im Verschmelzungsvertrag anzugeben ist. Die Norm gilt kraft Verweisung auch für die Spaltung (§ 125 UmwG). Für die Verschmelzungsgründung einer SE sowie für die grenzüberschreitende Verschmelzung finden sich entsprechende Vorschriften in Art. 20 Abs. 1 lit. g der SE-VO und in § 122c Abs. 2 Nr. 8 UmwG. a) Die angabepflichtigen Umstände Über die inhaltliche Reichweite der Normen besteht dabei weitgehende Einigkeit. In die Dokumente aufgenommen werden müssen bei den umwandlungsrechtlichen Maßnahmen besondere Vorteile, die aus Anlass der Umwandlungsmaßnahme gewährt werden. Erforderlich ist also, dass es sich um Vorteile handelt, die aus Anlass der Umwandlung gewährt wurden, während Vorteile, auf die ohnehin bereits Anspruch bestand, aus dem Anwendungsbereich der Norm ausscheiden9. Bei Abfindungen für Vorstandsmitglieder kommt es also darauf an, ob sie aus Anlass der Umwandlung neu zugesagt wurden, oder ob sich bereits ein Anspruch auf die Abfindung (in bestimmter Höhe) aus dem bestehenden Anstellungsvertrag ergibt. Ist Letzteres der Fall, gilt die Abfindung die bisher erbrachte Arbeitsleistung mit ab. Daher ist sie Teil der ohnehin geschuldeten Vergütung und gerade kein besonderer Vorteil. Ähnlich ist es bei der Ausübung von Aktienoptionen eines ausscheidenden Vorstandsmitglieds: Sofern die Ausübung zum fraglichen Zeitpunkt ohnehin möglich gewesen wäre, handelt es sich nur um das, was dem betreffenden Mitglied zusteht; anders ist es dann, wenn etwa der Fälligkeitszeitpunkt vorgezogen oder sonst eine Vergünstigung aus besonderem Anlass gewährt wird10. Erbringt die betroffene Person im Zusammenhang mit der Gründung eine besondere Leistung, etwa als Sachverständiger, so kommt es zusätzlich auf die Angemessenheit der Gegenleistung an. Ein angemessenes Sachverständigenhonorar kann ohne besondere Angabe im Vertrag gezahlt werden, und nur unüblich hohe Vergütungen sind angabepflichtig11. Aus diesem Grunde ist auch das übliche Honorar des Verschmelzungsprüfers nicht angabepflichtig: Es wird zwar aus Anlass der

__________ 9 OLG Hamburg, ZIP 2004, 906, 908 f.; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2008, § 5 UmwG Rz. 52; Mayer in Widmann/Mayer, UmwG, 2005, § 5 UmwG Rz. 172 m. w. N. 10 Schröer in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 5 UmwG Rz. 67; Lutter/Drygala (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 52. 11 Mayer (Fn. 9), § 5 UmwG Rz. 173; Stratz (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 76.

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Tim Drygala

Verschmelzung vereinbart und gezahlt, ist aber kein besonderer Vorteil, solange es sich im üblichen Rahmen hält. b) Normzweck und rechtsethischer Gehalt der Vorschrift Der unternehmensethische Gehalt der Vorschrift ist leicht zu erkennen: Verhindert werden soll ganz offenbar, dass den Leitungsorganen und den sonst an dem betreffenden Vorgang beteiligten Personen ein besonderer Vorteil von dem Partner der Umwandlung oder der Gesellschaft selbst verdeckt zugewandt wird. Der Normzweck geht also ersichtlich auf die Herstellung von Transparenz; er wird ganz einhellig darin gesehen, dass die Anteilsinhaber die von der Vorschrift geschützten Personen sind12. Sie sollen beurteilen können, in welchem Umfang Personen aus dem in § 122c Abs. 2 Nr. 8 UmwG genannten Kreis von der Umwandlung profitieren und deshalb u. U. in ihrer Objektivität beeinträchtigt sind. Es geht mithin um die Bewältigung eines Interessenkonfliktes durch Verfahren: Ähnlich wie bei § 181 BGB kann auch hier der Geschäftsherr dem von Gesetz an sich als bedenklich eingestuften Vorgang zustimmen. Dabei ist allerdings, insofern anders als bei § 181 BGB, eine Zustimmung in Kenntnis der konkreten Umstände erforderlich. Die Angabe muss gerade im Verschmelzungsvertrag erfolgen, damit die Anteilsinhaber in Anschauung der konkreten Transaktion ihre Zustimmung erteilen oder verweigern können. Eine vorherige Generaleinwilligung, wie sie bei § 181 BGB möglich ist, wäre hier unwirksam. Sieht man den Normzweck, wie hier vertreten, in der Herstellung von Transparenz, wäre es allerdings konsequent, die Berufung auf einen Formmangel nach § 242 BGB als unbeachtlich anzusehen, wenn alle Gesellschafter außerhalb des Verschmelzungsvertrages über die Vorteilsgewährung informiert waren, was bei den in der Norm ebenfalls angesprochenen personalistischen Rechtsformen immerhin nicht ausgeschlossen erscheint. c) Die gesellschaftsrechtliche Parallelfrage Bisher zuwenig diskutiert wird aber, ob es mit der formalen Betrachtung in § 5 Nr. 8 UmwG sein Bewenden hat, oder ob zusätzlich zu fragen ist, ob die Annahme des Vorteils gesellschaftsrechtlich überhaupt zulässig ist. Gerade im Hinblick auf die Vorstände und Aufsichtsräte der Aktiengesellschaften erscheint dies problematisch. Denn hier gilt an sich die Regel, dass der Vorstand von Dritten im Hinblick auf seine Tätigkeit keine Vorteile annehmen darf13, weil er damit gegen seine Pflicht zu loyaler und ausschließlich an den Interessen der AG ausgerichteter Amtsführung verstoßen würde.

__________ 12 Lutter/Drygala (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 51; Mayer (Fn. 9), § 5 UmwG Rz. 171; Schröer (Fn. 10), § 5 UmwG Rz. 71; weitergehend Stratz (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 43: auch Gläubigerschutz. 13 Vgl. OLG Düsseldorf, NZG 2000, 933; OLG Naumburg, NZG 1999, 353 (jeweils zur Annahme von Schmiergeldern); Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 176 f.; allgemein zur Loyalitätspflicht Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 9 Rz. 13; ders., WM 2003, 1045, 1050; Kort, ZIP 2008, 717, 718.

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Bei einer Vorteilsgewährung, die durch die AG selbst erfolgt, gilt diese Einschränkung zwar nicht. Aber hier stehen, soweit der Aufsichtsrat anlässlich der Umwandlung etwas derartiges entscheidet, die Grundsätze des Mannesmann-Urteils im Raum, wonach der Aufsichtsrat dem Vorstand nachträgliche Anerkennungsprämien nur gewähren darf, wenn dadurch ein zukunftsbezogener Nutzen für das Unternehmen bewirkt wird14. Das könnte vor allem bei Vorteilen für Vorstände, die das Unternehmen anlässlich der Umwandlung verlassen, gesellschaftsrechtliche Probleme hervorrufen, denn es wird nicht einfach sein, zu begründen, inwieweit das Unternehmen davon noch einen zukünftigen Nutzen haben wird. Das gilt besonders, wenn es sich um Vorstände des übertragenden Rechtsträgers handelt, die im Zuge der Umwandlung ihr Amt verlieren15. Denn wenn der Rechtsträger alsbald untergeht, ist kaum vorstellbar, welchen zukünftigen Nutzen er von der Zahlung noch haben soll. Bei Vorteilen für den Aufsichtsrat, die von der Gesellschaft gewährt werden, kann nach § 113 AktG ohnehin nur die Hauptversammlung entscheiden, und eine Vorteilsannahme von einem Dritten könnte man beim Aufsichtsrat nach allgemeinen Kriterien ebensowenig billigen wie bei Vorstandsmitgliedern16. Diese Frage nach der gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit von Sonderzuwendungen wird durch § 5 Nr. 8 UmwG eher verdunkelt als erhellt. Denn fehlt schon die Angabe im Verschmelzungsvertrag, liegt es nahe, den gesellschaftsrechtlichen Überlegungen mit einem Hinweis auf die ohnehin vorliegende Formnichtigkeit auszuweichen17. Aber dieser Hinweis ist kurzsichtig, denn der Formmangel wird durch die Eintragung ins Handelsregister geheilt, und dann liegt der Schluss nahe, dass dann auch mit der Gewährung der Vergütung alles seine Ordnung habe18, wenn weder Aktionäre noch Registerrichter den Verstoß bemerken – und wie sollten Sie das, wenn ihnen die Information darüber, dass etwas bezahlt wurde, gerade vorenthalten wird? Aber auch dann, wenn die Angabe im Verschmelzungsvertrag korrekt erfolgt, ist die hier gestellte Frage nicht müßig. Denn dann fragt es sich, ob § 5 Nr. 8 UmwG eine Wertung dahin entnommen werden kann, dass eine ordnungsgemäß publizierte und von der Versammlung der Anteilsinhaber gebilligte Zu-

__________ 14 BGH, NJW 2006, 522, 523; dazu Fleischer, DB 2006, 542; Kort, NZG 2006, 131; Peltzer, ZIP 2006, 205. 15 Zu dieser Rechtsfolge der Umwandlung und den Auswirkungen des Amtsverlustes auf den Anstellungsvertrag Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 38 GmbHG Rz. 11 und Hockemeier, Die Auswirkungen der Verschmelzung von Kapitalgesellschaften auf die Anstellungsverhältnisse der Geschäftsleiter, 1990. 16 Zwar sind die Loyalitätspflichten der Aufsichtsratsmitglieder in bestimmten Bereichen geringer ausgeprägt als die des Vorstands, vgl. Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 116 AktG Rz. 56; Drygala in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 116 AktG Rz. 17. Doch diese Ausnahmen beruhen auf dem nebenamtlichen Charakter der Aufsichtsratstätigkeit, und dieser Gedanke ist bei der Annahme vom Vorteilen nicht einschlägig. 17 So LAG Nürnberg, ZIP 2005, 398 ff. 18 Dafür Schröer (Fn. 10), § 5 UmwG Rz. 74; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 5 UmwG Rz. 46a; Graef, GmbHR 2005, 908, 909 f.

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satzvergütung auf jeden Fall wirksam ist, so dass sich mit der Einhaltung der Transparenzvorschrift die hier angedeuteten materiellen Bedenken erledigen. Das soll nach einem Blick auf die übernahmerechtliche Lage näher erörtert werden. 2. Übernahmerecht a) Angabepflicht nach § 11 WpÜG Im Übernahmerecht ist die Frage der besonderen Zuwendungen aus Anlass der Transaktion zweispurig geregelt. Zum einen findet sich in § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 WpÜG die Verpflichtung, geldwerte Vorteile, die Vorstands- oder Aufsichtsratsmitgliedern der Zielgesellschaft gewährt oder in Aussicht gestellt werden, in die Angebotsunterlage aufzunehmen. Die Norm deckt sich in vielen Punkten mit § 5 Nr. 8 UmwG. Zwar ist der Personenkreis der Begünstigten enger gefasst, aber das ist durch den engen Anwendungsbereich des WpÜG bedingt, das ja von vornherein nur auf die börsennotierte AG zielt. Ausdrücklich mit erwähnt ist bei § 11 WpÜG das In-Aussicht-Stellen der Vorteile, aber dieses Merkmal findet sich bei sachgemäßer Auslegung auch in § 5 Nr. 8 UmwG. Denn auch dort beginnt sich die Ansicht durchzusetzen, dass eine zivilrechtlich endgültig wirksame Zusage nicht erforderlich ist, sondern dass schon die (mangels Zustimmung der zuständigen Organe) unverbindliche Zusage einer Weiterbeschäftigung in der übernehmenden Gesellschaft angabepflichtig ist19. Gleiches gilt von einer Pensionsregelung, die noch einer Konkretisierung durch einen nach der Verschmelzung abzuschließenden Vertrag bedarf20. Alles dies sind Vorgänge, bei denen der Vorteil ebenfalls nur in Aussicht gestellt wird. Auch der Normzweck der beiden Regelungen ist identisch: Ebenso wie § 5 Nr. 8 UmwG soll auch die Angabepflicht im WpÜG sicherstellen, dass Zuwendungen, die die Entscheidungsträger im Unternehmen in ihrer Haltung zu der fraglichen Transaktion beeinflussen können, den Anteilsinhabern gegenüber offen gelegt werden, damit diese die Tatsache, dass Vorstand und/oder Aufsichtsrat ein finanzielles Eigeninteresse an deren Zustandekommen haben, bei ihrer Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung des Übernahmeangebots berücksichtigen können21. Zwar besteht insoweit ein rechtstechnischer Unterschied dahingehend, dass die Aktionäre über ein Übernahmeange-

__________ 19 Lutter/Drygala (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 53; Schröer (Fn. 10), § 5 UmwG Rz. 73; Mayer (Fn. 9), § 5 UmwG Rz. 172. 20 Schröer (Fn. 10), § 5 UmwG Rz. 73; Mayer (Fn. 9), § 5 UmwG Rz. 172; Grunewald in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1994, § 340 AktG Rz. 26; a. A. Hockemeier, Die Auswirkungen der Verschmelzung von Kapitalgesellschaften auf die Anstellungsverhältnisse der Geschäftsleiter, 1990, S. 27. 21 Vgl. dazu den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen, BTDrucks. 14/7034, S. 41.

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bot im Regelfall22 keinen Beschluss fassen, sondern individuell über die Annahme des Angebots entscheiden. Aber das ist ebenso wie die Stimmabgabe in der Hauptversammlung nach § 13 UmwG ein individueller Willensentschluss, für den die Angaben nach § 5 Nr. 8 UmwG einerseits und § 11 WpÜG andererseits die Grundlage schaffen sollen. b) Ergänzende materielle Regelung Ein erheblicher Unterschied zum UmwG besteht allerdings darin, dass das WpÜG eine ausdrückliche Aussage zum materiellen Gehalt der gewährten Vorteile trifft. Nach § 33d WpÜG23 ist dem Bieter und mit ihm gemeinsam handelnden Personen verboten, Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft ungerechtfertigte Geldleistungen oder andere geldwerte Vorteile zu gewähren oder in Aussicht zu stellen. Damit ist hier eine Regelung auch hinsichtlich des Inhalts der Vergütungsregelung getroffen, nämlich dahingehend, dass diese nicht „ungerechtfertigt“ sein darf. Die Regelung klingt streng, wird als Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB verstanden und erinnert in ihrem sachlichen Gehalt an die Strafvorschriften der Vorteilsgewährung und Bestechung bzw. der Bestechung im geschäftlichen Verkehr24. Damit liegt dem Gesetz – und der EG-Übernahmerichtlinie, auf der die Vorschrift beruht25 – einerseits die Vorstellung zugrunde, dass Zahlungen oder sonstige Vorteile auch dann verboten sein können, wenn sie nach § 11 WpÜG ordnungsgemäß publiziert sind und die Anteilsinhaber sich trotzdem für die Transaktion entschieden haben. Auf der anderen Seite ist den Vorschriften auch ein positiver Gehalt dahingehend zu entnehmen, dass unter Einhaltung der formalen Erfordernisse und des Gebots der Angemessenheit überhaupt etwas gezahlt bzw. zugewendet werden darf. Die Regelung spricht also dafür, dass jedenfalls im Übernahmerecht ein generelles Verbot für den Vorstand, sich anlässlich eines Übernahmeangebots Vorteile zuzusagen oder gewähren zu lassen, nicht anzuerkennen ist. Diese Wertung muss sich dann konsequenterweise auch gegenüber dem Loyalitätsgebot aus § 93 AktG durchsetzen. Denn es wäre widersinnig, wenn das WpÜG diese Zuwendungen – wenn auch unter Beschränkungen – erlauben würde, man aber zugleich dem Vorstand aus dem Aktienrecht heraus verbieten würde, sie anzunehmen.

__________ 22 Die Ausnahme besteht dann, wenn eine außerordentliche Hauptversammlung der Zielgesellschaft über Abwehrmaßnahmen beschließt, § 33 Abs. 2 WpÜG, was allerdings in der Zeit seit In-Kraft-Treten des Gesetzes noch nie vorgekommen ist. 23 Früher § 33 Abs. 3 WpÜG, die Norm wurde im Jahre 2005 durch das Gesetz zur Umsetzung der Übernahmerichtlinie aus systematischen Gründen in eine eigene Vorschrift verlagert, ohne eine inhaltliche Änderung zu erfahren; vgl. Kiem in Baums/ Thoma, 2007, § 33d WpÜG, Rz. 2. 24 Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 333 StGB Rz. 3, 5 und § 334 StGB Rz. 3 f.; Heine in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 333 StGB Rz. 1 f. sowie § 334 StGB Rz. 1 ff.; Schlitt in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 33 WpÜG Rz. 292; Hirte in KölnKomm.WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 184; Fastrich in FS Heldrich, 2005, S. 143, 147. 25 Zur Geschichte Schlitt (Fn. 24), § 33 WpÜG Rz. 13 ff.; Hirte (Fn. 24), § 33 WpÜG Rz. 12 ff.

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aa) „Ungerechtfertigte“ Vorteile Während die Publizitätsanforderungen nach § 11 WpÜG vergleichsweise unproblematisch sind, macht die Konkretisierung des § 33d WpÜG erhebliche Probleme, soweit es um die Abgrenzung gerechtfertigter und ungerechtfertigter Zuwendungen geht. Die Regierungsbegründung spricht sich dafür aus, dass Vorteile ungerechtfertigt sein sollen, die das Management dazu bewegen sollen, entgegen dem Interesse der Zielgesellschaft zu handeln. Hingegen seien Zusagen gerechtfertigt, die auch aus Sicht der Zielgesellschaft und ihrer Aktionäre auf nachvollziehbaren Erwägungen beruhen26. Dieser Ansatz, der auf die Interessen der Zielgesellschaft in der Übernahmelage abstellt, hat in der Literatur wenig Anklang gefunden. Diese spricht sich überwiegend dafür aus, auf das Unternehmensinteresse der Zielgesellschaft unter Ausblendung der Übernahmelage abzustellen, also nur solche Vorteile zuzulassen, die die Zielgesellschaft dem Vorstand auch hätte selbst gewähren können. Begründet wird das mit der Erwägung, dass eine darüber hinausgehende Leistung durch den Bieter bereits den Anschein der unsachlichen Beeinflussung erwecke27. (1) Konsequenzen der überwiegenden Ansicht Diese letztgenannte Ansicht führt zu einer sehr restriktiven Auslegung des § 33d WpÜG, vor allem, wenn man sie vor dem Hintergrund der Mannesmann-Entscheidung anwendet. Denn danach gilt zwischen Vorstand und Gesellschaft zunächst einmal der Grundsatz „pacta sunt servanda“, so dass jede Zuwendung über den bestehenden Vertrag hinaus einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Blendet man dann aber die Übernahmelage aus der Betrachtung aus, wird unklar, wodurch eine Rechtfertigung überhaupt noch möglich sein soll. Denn will der Vorstand etwa die Übernahmelage zum Anlass nehmen, sich vorzeitig zur Ruhe zu setzen, so wäre allein dieser Wunsch kein rechtfertigender Grund, über die im jeweiligen Anstellungsvertrag hinaus vorgesehenen Leistungen weitere Zuwendungen zu gewähren. Rechtfertigen kann man das, wenn überhaupt, nur mit dem Gedanken, dass mit einem Vorstand, der die neue Unternehmensstrategie des Übernehmers nicht aktiv mittragen kann oder will, eine erfolgreiche Zusammenarbeit nicht möglich sein wird, und dass es dann im Interesse der Zielgesellschaft vernünftiger ist, für eine rasche einvernehmliche Trennung zu sorgen. Dafür muss aber die besondere Lage der Gesellschaft mit in die Abwägung einbezogen werden. Noch deutlicher ist das in dem umgekehrten Fall, dass ein Vorstand, der für das Unternehmen unentbehrliche Kenntnisse etwa im Bereich des Vertriebs oder der Technologie verfügt, durch Zuwendung eines besonderen Vorteils zum

__________ 26 Vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen, BT-Drucks. 14/7034, S. 59. 27 Schlitt (Fn. 24), § 33 WpÜG Rz. 298; Röh in Haarmann/Schüppen (Hrsg.), Frankfurter Komm.WpÜG, 2. Aufl. 2005, § 33 WpÜG Rz. 225; Schüppen, WPg 2001, 958, 972; Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003, § 33 WpÜG Rz. 122.

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Bleiben bewegt werden soll („Retention-Prämie“). Auf eine solche Prämie hätte er bei regulärem Geschäftsgang keinen Anspruch, weil die Nutzung seiner Kenntnisse für die gesamte Vertragslaufzeit mit der einmal vereinbarten Vergütung abgegolten ist. Daher dürfte die Zielgesellschaft sie auch nicht über das im Vertrag vorgesehene Maß hinaus vergüten. Trotzdem besteht aus Sicht der Zielgesellschaft in der Übernahmelage ein Interesse an der Kontinuität des Managements, denn diese vermeidet den mit dem Personalwechsel verbundenen Umbruch im Unternehmen. Die Aktionäre profitieren zudem davon in Gestalt eines höheren Übernahmeangebots, denn der Bieter wird eine Retention-Prämie nur dann bewilligen, wenn er den Wert des Unternehmens mit dem bisherigen Management (oder Teilen davon) höher einschätzt als ohne diese Personen. Das wird sich aber regelmäßig auch in einem besseren Angebot niederschlagen, so dass die engere Auffassung geeignet ist, einen Wertzuwachs bei den Aktionären zu verhindern. Das gilt verstärkt in den Fällen, in denen dem Management im Zuge der Übernahme die Möglichkeit eingeräumt wird, sich (zu günstigen Konditionen) an der Zielgesellschaft zu beteiligen. (2) Indiziert der Tatbestand die Rechtswidrigkeit? Daher erweist sich schon der Grundansatz der engeren Auffassung als problematisch28. Sie geht davon aus, dass ein grundsätzliches Verbot besteht, dass durch rechtfertigende Ausnahmen im Einzelfall durchbrochen werden kann. Das ist ein Grundverständnis, das an das Verhältnis von Rechtsgutsverletzung und Rechtswidrigkeit in § 823 Abs. 1 BGB und von objektivem Tatbestand und Rechtswidrigkeit im Strafrecht erinnert. Die argumentative Anlehnung an die Straftatbestände der §§ 299, 331 ff. StGB zeigt an dieser Stelle offenbar Wirkung. Ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis ist aber nicht anzuerkennen. Das Erfordernis der „ungerechtfertigten“ Vorteile ist in § 33d WpÜG ersichtlich Tatbestandsmerkmal, und zugleich beruht die Indizwirkung der Tatbestandserfüllung für die Rechtswidrigkeit auf dem Umstand, dass es sich bei den Verbotsnormen des Strafgesetzes und den Rechtsgütern des § 823 Abs. 1 BGB um absolut geschützte Rechte handelt, deren unmittelbare Verletzung bei Abwesenheit besonderer Rechtsfertigungsgründe rechtswidrig ist29. Gerade das kann von einer Vergütung im Zuge einer Übernahmetransaktion aber nicht angenommen werden. Schon § 11 WpÜG spricht dagegen, weil er impliziert, dass es auch angemessene und zulässige Transaktionsvergütungen gibt, bei denen es mit der Publizität in der Angebotsunterlage sein Bewenden hat. Zudem besteht bei allen Unterschieden im Detail Einigkeit darüber, dass die Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Vorteilen letztlich anhand des Unternehmensinteresses zu treffen ist. Das Unternehmensinteresse ist aber ein ausgesprochen schillernder Tatbestand, der in erheblichem Maße der Kon-

__________ 28 Kritisch auch Kiem (Fn. 23), § 33d UmwG Rz. 4; Weber, Transaktionsboni für Vorstandsmitglieder, 2006, S. 336 f.; Hopt in FS Lutter, 2000, S. 1361, 1379. 29 Vgl. zum Meinungsstand Wagner in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 823 BGB Rz. 7 m. w. N.

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kretisierung im Einzelfall bedarf30. Er ähnelt eher den in § 823 Abs. 1 BGB mit enthaltenen Rahmenrechten wie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Für diese Art von Rechten ist aber anerkannt, dass die Rechtswidrigkeit nicht vermutet werden darf, sondern im Einzelfall positiv festgestellt werden muss31. Gleiches sollte man auch für der Begriff der „ungerechtfertigten“ Vorteile in § 33d WpÜG annehmen. (3) Verbot oder Offenlegung mit Genehmigungsoption? Insgesamt sprechen also die rechtspraktischen Gründe dafür, eine Berücksichtigung der Übernahmelage zuzulassen, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob die zugesagten Vorteile gerechtfertigt sind. Damit wird allerdings die Möglichkeit zur Vergütung des Vorstands über das aktienrechtlich zulässige Maß hinaus eröffnet, und das ist nicht unproblematisch. Denn bereits die Tatsache, dass der Vorstand der Zielgesellschaft Vorteile von der Transaktion hat, ist geeignet, die Transaktion ins Zwielicht zu rücken und den gegenwärtig häufig zu hörenden Vorwurf der „Selbstbedienung“ auf den Plan zu rufen. Die strengere Auslegung der überwiegenden Meinung kann damit für sich in Anspruch nehmen, den unternehmensethischen Anspruch an eine uneigennützige Amtsführung des Vorstands im Sinne einer vorbeugenden „Verhaltenshygiene“32 konsequenter zu verwirklichen. Insgesamt wird man wohl sagen können, dass es zur Bewältigung von Interessenkonflikten dieser Art stets die sauberste Lösung ist, bereits das Entstehen der Konfliktlage konsequent zu verhindern33. Die Diskussion um eine Inkompatibilität von Aufsichtsratsmitgliedern, die Verbindungen zu Konkurrenzunternehmen aufweisen, hat jedoch gezeigt, dass sich dieser Anspruch nicht immer durchsetzen lässt34, und auch in der Diskussion um die Drittvergütung von Vorstandsmitgliedern überwiegen die differenzierenden Lösungen gegenüber den gänzlich ablehnenden Ansichten35. Auch das geschriebene Recht weist darauf hin, dass es neben dem reinen Verbot noch eine weiteres Lösungskonzept gibt. Denn sowohl § 181 BGB als auch § 88 AktG kennen die Möglichkeit, dass derjenige, der von der Norm ge-

__________ 30 Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 16), § 76 AktG Rz. 24 ff.; 31; ders. in Hommelhoff/ Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 129, 134; Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2003, § 76 AktG Rz. 59; Seibt in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 16), § 76 AktG Rz. 12, jeweils m. w. N. 31 BGHZ 24, 72; BGHZ 45, 296, 307; BGHZ 138, 311; Sprau in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 823 BGB Rz. 25 m. w. N. 32 Plakativ Kiem (Fn. 23), WpÜG, § 33d Rz. 5. 33 Dafür BGH, NJW 1980, 1626, 1639; Ulmer, NJW 1980, 1603, 1605 f.; Möllers, ZIP 2006, 1615. 34 OLG Schleswig, ZIP 2004, 1143; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 30), § 100 AktG Rz. 73; Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 24), § 100 AktG Rz. 58; differenzierend Drygala (Fn. 16), § 100 AktG Rz. 16 f. 35 Wiesner in Münch.Hdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 21 Rz. 3; Martens in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 437, 442; Bauer/Arnold, DB 2006, 260, 265 f.; krit. Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 24), § 84 AktG Rz. 66.

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schützt werden soll, das vom Gesetz für bedenklich angesehene Verhalten des betroffenen Akteurs gestattet, was wiederum eine entsprechende Information desjenigen voraussetzt, in dessen Händen die Zustimmungsbefugnis liegt. Das Gesetz setzt an diesen Stellen nicht auf Verbote, sondern auf die informierte Entscheidung desjenigen, der durch die Norm geschützt werden soll – aber auf den Schutz auch verzichten kann. Im Unternehmensrecht ist häufig zu lesen, dass im Umgang mit Interessenkonflikten die erste Möglichkeit Vorrang vor der zweiten habe, dass also Interessenkonflikte besser von vornherein unterbunden als durch Information und eventuelle Genehmigung aufgelöst werden sollten36. Ob das in dieser Allgemeinheit richtig ist, kann hier nicht untersucht werden und bedürfte auch einer vertieften rechtsvergleichenden Betrachtung37. Im Hinblick auf das hier diskutierte Problem wird die Entscheidung jedenfalls dadurch erschwert, dass in den untersuchten Gesetzen neben dem Verbot (§ 33d WpÜG) auch das Prinzip der informierten Entscheidung angelegt ist (§ 11 WpÜG und § 5 Nr. 8 UmwG). (4) Vorrang des Transparenzmodells Neben der Verankerung des Informationsprinzips im Gesetz bestehen aber auch inhaltliche Bedenken gegen eine Lösung, die auf ein weitgehendes Zuwendungsverbot hinausläuft. Schränkt man die Zulässigkeit von Vorteilen im Rahmen des § 33d WpÜG stark ein, so kann der Vorstand nur verlieren, wenn die Übernahme Erfolg hat. Im besten Fall bleibt die Lage für ihn unverändert, aber realistischer ist, dass er sich mit einem neuen, starken Großaktionär konfrontiert sieht, der seine eigenen Interessen in der Gesellschaft durchsetzen will. Dazu gehört naturgemäß auch die personelle Neubesetzung des Vorstands. In dieser Situation ist es für den Vorstand am vernünftigsten, sich gegen die Übernahme auszusprechen, denn sie bedeutet für ihn Risiken, denen keine Chancen gegenüberstehen. Schränkt man daher die Möglichkeit ein, den Vorstand durch ein für ihn attraktives Vergütungsmodell mit ins Boot zu holen, so riskiert man, wirtschaftlich sinnvolle Transaktionen von vornherein zu verhindern. Die höheren moralischen Anforderungen an das Handeln der Beteiligten lassen sich hier also nicht, wie etwa in den Fragen der Corporate Social Responsibility oder der ökologischen Nachhaltigkeit mit der Erwägung überspielen, dass die Einhaltung hoher Standards zumindest langfristig auch

__________ 36 BGH, NJW 1980, 1629, 1630; Hopt in FS Lutter, 2000, S. 1361, 1369; Lutter, ZHR 145 (1981), 224, 239 ff.; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, Rz. 769; Dreher, JZ 1990, 896, 904; vorsichtiger R. Fischer in GS Duden, 1982, S. 55, 62; Fleck in FS Heinsius, 1991, S. 89, 90 f. 37 Gegen die Verbotsthese spricht insoweit, dass der englische Companies Act von 2006 massiv die Möglichkeit des Board erweitert hat, bei einem Interessenkonflikt eines Directors dessen Handeln nach entsprechender Information zu genehmigen; für eine entsprechende Lösung im deutschen GmbH-Recht auch U.H. Schneider in Scholz (Fn. 15), § 43 GmbHG Rz. 190 ff.; näher zum Ganzen Torwegge, GmbHR 2007, 195 ff.

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dem Unternehmen zugute kommt38. Im Gegenteil: Die moralisch über alle Zweifel erhabene Lösung ist die wirtschaftlich weniger erfolgreiche. Hinzu kommt der Zweifel, ob man die Betroffenen mit der strengen Lösung nicht auch moralisch und rechtlich überfordert. Für den Vorstand geht es in der Übernahmelage um den Bestand seiner Anstellung, aus der er Sozialprestige und Einkommen bezieht. Beides ist durch die Übernahme gefährdet. Es erscheint zweifelhaft, ob man den Vorstand in dieser Lage tatsächlich als uneigennützigen Wahrer des Gesellschaftsinteresses ansehen kann, oder ob es für ihn nicht auch um die Wahrung seiner eigenen Belange geht. Dann aber würde auch seine Loyalitätspflicht zurückgedrängt, denn bei der Wahrung eigennütziger Rechte ist der Betreffende an die Treupflicht nicht gebunden39. Mit anderen Worten: Dort, wo es um Bestand und Inhalt des Organschaftsverhältnisses und des zugehörigen Anstellungsvertrages geht, steht der Vorstand der Gesellschaft nicht in seiner Rolle als Organ, sondern schlicht als Vertragspartner gegenüber40. Das gilt verstärkt, wenn, wie in letzter Zeit nicht unüblich, die Übernahmelage vertraglich in einer Change-of-Control-Klausel vorgeordnet ist. Denn dann führt die Übernahmelage ohnehin dazu, dass über ein Bleiben des Vorstands neu verhandelt werden muss, und dabei kann man es ihm nicht verwehren, seine eigenen Interessen zu wahren. Das gilt dann aber nicht nur im Hinblick auf Zahlungen durch die Gesellschaft, sondern die Lage ist die gleiche, wenn der Bieter eine besondere Vergütung zusagt. Es fragt sich daher, ob sich nicht ein milderes Mittel finden lässt, mit dem die genannten Bedenken im Hinblick auf die Uneigennützigkeit der Amtsführung ausgeräumt werden können, ohne unnötige Hindernisse für die Transaktion als Ganze aufzubauen. Kiem hat insoweit für den Management-Buy-Out eine Kombination von Transparenz-, Gleichbehandlungs- und Transparenzpflichten vorgeschlagen, die geeignet sind, auch das hier diskutierte Problem zu lösen41. Danach muss ein Vorstand, der beabsichtigt, eine nur aus der besonderen Übernahmelage heraus zu rechtfertigende Vergütung anzunehmen, die Vergütung nach Art und Höhe den Aktionären gegenüber offenlegen. Das betrifft nicht nur die Angebotsunterlage nach § 11 WpÜG, sondern gemeint ist eine fortlaufende Information – die Angaben sind also zu ergänzen, wenn sich nach

__________ 38 So etwa das von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vorgelegte Grünbuch Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen, KOM(2001) 366, Rz. 21; vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zur Stärkung der sozialen und ökologischen Verantwortung von Unternehmen, BT-Drucks. 16/5844, S. 9 sowie die Studie von Bird/Hall/Momenté/ Reggiani, 76 J. Bus. Eth. 186 (2007). 39 Aus diesem Grund ist der Vorstand auch nicht gehalten, selbst auf eine Mäßigung seines Gehalts hinzuwirken, jedenfalls soweit es sich nicht um einen erkennbaren Verstoß gegen § 87 AktG handelt, vgl. dazu Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 24), § 87 AktG Rz. 79; Fleischer in Spindler/Stilz, § 87 AktG Rz. 29; Peltzer in FS Lutter, 2000, S. 571, 578. 40 Das spricht entscheidend gegen die These von Ziemons, der Vorstand müsse selbst auf eine Mäßigung seiner Bezüge hinwirken (so Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035, 1043 ff.). 41 Kiem (Fn. 23), § 33d WpÜG Rz. 20 ff.

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der Publikation der Angebotsunterlage eine Veränderung ergibt oder wenn es überhaupt erst nach Publikation der Angebotsunterlage zu einer Verständigung zwischen Bieter und Vorstand kommt42. Zudem unterliegt der Vorstand einer verstärkten Gleichbehandlungspflicht im Fall von konkurrierenden Übernahmeangeboten, und er ist gehalten, etwaige Verhandlungen über die Konditionen des Angebots anderen, von der Vorteilsgewährung nicht betroffenen Kollegen zu überlassen, jedenfalls soweit dies möglich ist. Mit diesen Maßnahmen lässt sich verhindern, dass im Hinblick auf die Konditionen des Angebots ein Misstrauen entsteht, und gewährleisten, dass die Maßnahme den Geboten der Transparenz und Fairness entspricht. Hinzu kommt der Gedanke, dass der Vorstand das Privileg der eingeschränkten Nachprüfbarkeit seiner Entscheidungen aus § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG verliert, wenn er eine transaktionsaktionsbezogene Zusatzvergütung annimmt, denn das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Norm, dass der Vorstand unbeeinflusst von Eigeninteressen gehandelt haben muss, ist dann nicht mehr gegeben43. bb) Besondere Bedeutung der Transparenz Von besonderer Bedeutung ist in diesem Modell naturgemäß das Gebot der Transparenz, denn nur dieses stellt sicher, dass die eigentlichen Entscheidungsträger, also die Aktionäre, umfassend von dem Vorgang informiert werden und im Lichte dieser Information ihre Entscheidung treffen können. Es ist Grundvoraussetzung dafür, dass eine besondere Vergütung im Sinne des § 33d WpÜG als gerechtfertigt angesehen werden kann. Denn erfährt der Entscheidungsträger nichts von dem Interessenkonflikt, kann er die vorgebrachten Argumente für und gegen die Vornahme des Geschäfts nicht im Lichte dieser Information würdigen44. Damit ergibt sich aber auch, dass das bisher überwiegend angenommene Verhältnis zwischen §§ 11 und 33d WpÜG nicht richtig sein kann. Es handelt sich nicht um getrennte Anforderungen, sondern Transparenz ist integraler Bestandteil der Rechtfertigung im Rahmen des § 33d WpÜG. Daraus folgt, dass eine intransparent, d. h. verdeckt gezahlte Vergütung nie eine gerechtfertigte Vergütung sein kann, selbst wenn sich materiell Gründe für ihre Gewährung finden lassen. Da zugleich die Transparenzanforderungen im Rahmen des § 33d über die des § 11 WpÜG hinausgehen, stellt das vollständige Verschweigen der Vergütung den denkbar schwerwiegendsten Transparenzverstoß dar. Daher ist bei einem Verstoß gegen § 11 WpÜG auch die Rechtsfolge eine andere, als bisher gemeinhin angenommen wird: Es ist nicht nur die Angebotsunterlage fehlerhaft, so dass Aktionäre theoretisch einen Schadensersatzanspruch geltend machen können – wenn sich in einem Fall dieser Art denn ein Schaden dar-

__________ 42 Kiem (Fn. 23), § 33d WpÜG Rz. 21. 43 Str., wie hier Lutter in FS Canaris, Band II, 2007, S. 245, 250 f.; a. A. Bauer/Arnold, DB 2006, 260, 266; Hohaus/Weber, DStR 2008, 104, 107. 44 Lutter in FS Canaris, Band II, 2007, S. 245, 248.

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legen ließe45. Vielmehr schlägt die Intransparenz auf die Rechtfertigung nach § 33d WpÜG durch: Es handelt sich bei der intransparenten Vergütung stets um eine nicht gerechtfertigte Vergütung, unabhängig von ihrer sonstigen Art und Höhe.

III. Übertragbarkeit auf das Umwandlungsrecht Fraglich bleibt, ob und inwieweit sich die hier gewonnenen Erkenntnisse auf das Umwandlungsrecht übertragen lassen, in dem eine besondere materielle Regelung nach Art des § 33d WpÜG fehlt. Soweit es dabei um die reine Angabepflicht nach § 5 Nr. 8 UmwG geht, decken sich die Vorschriften weitgehend, wenn man davon absieht, dass von § 5 Nr. 8 UmwG nicht nur Zahlungen und Vorteile durch eine Partei, sondern durch alle beteiligten Gesellschaften erfasst sind. Im Übrigen ist das Verhältnis der Vorschrift zum Aktienrecht weitgehend offen. 1. Nebeneinander von Inhaltsgrenzen und Publizitätspflicht Dabei kann sicherlich nicht die Regel gelten, dass unter Beachtung von § 5 Nr. 8 UmwG jede transaktionsbezogene Zusatzvergütung rechtlich möglich ist. Dafür könnte zwar sprechen, dass hier, anders als bei der regulären Vergütung, nicht der Aufsichtsrat, sondern letztlich die Hauptversammlung entscheidet, und das sogar mit qualifizierter Mehrheit (§ 13 UmwG). Aber die Aktionäre können nicht über die Vergütungsfrage getrennt abstimmen, sondern nur die vorgeschlagene Umwandlung insgesamt billigen oder ablehnen. In der Gesellschaft ohne festen Mehrheitsblock müsste daher eine hinreichende Anzahl der Aktionäre gegen das Gesamtprojekt stimmen, um eine übermäßige Zusatzvergütung zu verhindern. Das würde sie, wenn sie das Vorhaben insgesamt für vernünftig halten und nur mit der Vergütung Probleme haben, dazu zwingen, gegen ihr eigentliches Interesse abzustimmen. Die Aktionäre bedürfen daher, auch wenn die Vergütung pflichtgemäß im Verschmelzungsvertrag publiziert wird, eines Schutzes gegen eine überhöhte Vergütung. In der Gesellschaft mit festem Mehrheitsblock kommt die Gefahr hinzu, dass die 75 %-ige Mehrheit den Vorstand mit der Vergütungszusage dahingehend beeinflusst, sich auf Vertragsgestaltungen einzulassen, die die Aktionärsminderheit benachteiligen. Auch das belegt, dass Publizität alleine nicht genügt, sondern inhaltlich Grenzen der Vereinbarung hinzukommen müssen. Solche rechtlichen Grenzen ergeben sich zum einen sicherlich aus § 87 AktG. Auch eine aus Anlass einer bestimmten Transaktion gewährte Vergütung muss angemessen sein, sofern sie von einer der beteiligten Gesellschaften an ihre Organe gewährt wird oder sofern die getroffene Regelung die Vergütung des

__________ 45 Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten Möllers in KölnKomm.WpÜG (Fn. 24), § 12 WpÜG Rz. 89 f. m. w. N.; Steinhard in Steinmeyer/Häger, WpÜG, 2. Aufl. 2007, § 12 WpÜG Rz. 36 ff.; Wackerbarth in MünchKomm.AktG (Fn. 24), § 12 WpÜG Rz. 14 ff.

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Zuwendungen an Unternehmensorgane bei Umwandlungen und Übernahmen

Organs in der übernehmenden Gesellschaft betrifft. § 87 AktG ist jedoch nicht einschlägig, wenn nicht eine der beteiligten Gesellschaften den Vorteil gewährt, sondern ein Dritter, z. B. ein Gesellschafter oder auch die andere an der Umwandlung beteiligte Gesellschaft, zu der kein Organverhältnis besteht46. Zudem regelt § 87 AktG die Frage nicht abschließend. Gerade das Mannesmann-Verfahren hat gezeigt, dass der Aufsichtsrat unabhängig von den Grenzen des § 87 AktG gehindert ist, Vergütungen zu gewähren, von denen die Gesellschaft keinen Vorteil hat. Dieses Verbot der Verschleuderung von Gesellschaftsmitteln kann Relevanz vor allem für Leistungen an Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gewinnen, die aus Anlass der Umwandlung aus dem Amt scheiden. Weiterhin ist zu beachten, dass, soweit die Leistung nicht von der Gesellschaft gewährt wird, deren Organ der Empfänger ist, besondere Grenzen auch für die Annahme von Zuwendungen durch Dritte gelten. 2. Aktienrechtliche Grenzen der Zuwendung Die in Betracht kommenden Fallgestaltungen sind ausgesprochen vielfältig; ihnen kann in diesem Beitrag nicht erschöpfend nachgegangen werden. Für einige praktisch relevante Gestaltungen lassen sich jedoch Leitlinien entwickeln. a) Retention-Prämie und Beteiligung des Managements an der aufnehmenden Gesellschaft Wie bereits oben zum Übernahmerecht dargestellt, dienen transaktionsbezogene Sondervergütungen häufig dazu, das bisherige Management der übertragenden Gesellschaft auch nach der Transaktion zum Verbleib im Amt bzw. zur Fortführung der Organfunktion in der neuen Gesellschaft zu bewegen. Das kann durch direkte finanzielle Zuwendungen erfolgen, aber auch dadurch, dass man den Betroffenen die Möglichkeit einräumt, sich zu günstigen Bedingungen an der neuen Gesellschaft zu beteiligen47. Solche Zusagen werden freilich kaum von der übertragenden Gesellschaft ausgehen, sondern von der übernehmenden Gesellschaft und/oder ihren Gesellschaftern. § 87 AktG steht von daher nur insoweit im Wege, als sich die Gehaltshöhe in der übernehmenden Gesellschaft als angemessen darstellen muss. Da § 87 AktG auf die Gesamtvergütung bezogen ist48, muss die Sonderzahlung, die erfolgt, um den Vorstand für die aufnehmende Gesellschaft zu gewinnen, dabei mit in die Betrachtung einbezogen werden. Der Zuwendende ist dabei jedoch Dritter, und von daher könnte der Vorstand der übertragenden Gesellschaft mit der Annahme des Vorteils von einem Drit-

__________ 46 Das folgt aus dem Schutzzweck des § 87 AktG, die AG, ihre Gesellschafter und Gläubiger vor einem übermäßig hohen Abfluss an finanziellen Mitteln zu schützen, vgl. Seibt in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 16), § 87 AktG Rz. 1. 47 Kiem (Fn. 23), § 33d WpÜG Rz. 17. 48 Statt aller Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 87 AktG Rz. 5 m. w. N.

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ten gegen seine Loyalitätspflichten verstoßen. Es besteht insoweit ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der es dem Vorstand verbietet, aus Anlass eines Vertragsschlusses von einem Dritten Provisionen, Schmiergelder oder ähnliche Vorteile entgegenzunehmen49. Dieser Grundsatz ist in allgemeinerer Form auch im DCGK enthalten (Ziff. 4.3.2), jedoch nicht als Anregung oder Empfehlung, sondern als Wiedergabe der geltenden Rechtslage. Die Funktion der betreffenden Ziffer besteht also darin, den ungeschriebenen, aus der Loyalitätspflicht hergeleiteten Rechtsgrundsatz zu verdeutlichen, ohne an der geltenden Rechtslage etwas zu ändern50. Fraglich ist, ob in transaktionsbedingten Leistungen Dritter an Organmitglieder der übertragenden Gesellschaft tatsächlich ein derartiger Loyalitätsverstoß gesehen werden kann. Das wird zum Teil unter Hinweis auf das aus der Loyalitätspflicht entwickelte Annahmeverbot behauptet51. Diese Annahme erscheint jedoch überprüfungsbedürftig. Denn das Verbot, Leistungen im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss von dritter Seite anzunehmen, wurde in Bezug auf Verträge im Rahmen des regulären Geschäftsverkehrs zwischen der Gesellschaft und dem Dritten entwickelt. Hier ist der Vorstand in der Tat verpflichtet, den Vorteil der Gesellschaft zu mehren und eigene Verdienstinteressen zurückzustellen, da die Gesellschaft seine Leistung bereits mit der Vorstandsvergütung angemessen abgegolten hat. Hinzu kommt die Gefahr, dass der Dritte die dem Vorstand gewährte Provision oder Sonderzahlung auf den Preis des Vertragsgegenstandes aufschlägt, so dass letztlich die Gesellschaft diesen in Gestalt überhöhter Preise bezahlt52. Beide Aspekte sind bei der Umwandlung nicht unmittelbar einschlägig. Es handelt sich um einen nur selten vorkommenden, außerplanmäßigen Vorgang, so dass schwerlich behauptet werden kann, dass die Bemühungen des Vorstands um das Zustandekommen der Umwandlung bereits mit der regulären Vergütung abgegolten seien. Und auch die Gefahr eines Preisaufschlags besteht nicht, da der Partner der Umwandlung eine Transaktionsprämie – sei es in bar, sei es in Geschäftsanteilen zu Vorzugspreisen – nur gewähren wird, wenn er den Wert des Gesamtunternehmens bei fortgesetzter Tätigkeit des betreffenden Organmitglieds höher einschätzt als ohne dieses. Von daher kann, wie bereits oben zum Übernahmerecht ausgeführt, die Sicherstellung der Kontinuität im Management für alle Beteiligten werterhöhend wirken. Und selbst wenn man unterstellt, dass dies nicht immer so ist, hat den Nachteil nicht die Gesellschaft, zu der die Loyalitätspflicht besteht, sondern er trifft die Aktionäre. Insofern erweist sich dann aber der bereits oben zum Übernahmerecht geäußerte Gedanke der Transparenz als milderes und zugleich ausreichendes

__________ 49 Vgl. OLG Düsseldorf, NZG 2000, 933; OLG Naumburg, NZG 1999, 353 (jeweils zur Annahme von Schmiergeldern); Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 24), § 93 AktG Rz. 142; Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 176 f. 50 Bauer/Arnold, DB 2006, 260, 266; Vetter, DNotZ 2003, 748, 752. 51 Hopt in FS Lutter, 2000, S. 1361, 1379 unter Verweis auf seine Kommentierung in Großkomm.AktG (Fn. 49), § 93 AktG Rz. 176 ff. 52 So auch Hopt in Großkomm.AktG (Fn. 49), § 93 AktG Rz. 181.

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Mittel auch hier als weiterführend. Denn sind die Aktionäre über die Sonderzahlung informiert, so können sie bei der Entscheidung über die Umwandlung den vorgelegten Vertrag im Lichte dieser Information würdigen. Gegen einen zustimmenden Beschluss stehen der Minderheit hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung, wobei im Rahmen etwaiger Schadensersatzverlangen gegen die Vorstände des übertragenden Unternehmens wiederum der Grundsatz zu berücksichtigen sein wird, dass sich auf das Privileg der Business Judgement Rule nicht berufen kann, wer am Zustandekommen des betreffenden Vertrages ein finanzielles Eigeninteresse hatte53. Der Interessenkonflikt kann daher auch hier durch Offenlegung gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den Aktionären, verbunden mit der Lenkungswirkung eventueller Haftungssanktionen, angemessen bewältigt werden. Eines aktienrechtlichen Verbotes der hier diskutierten Zuwendungen bedarf es nicht. Für die Richtigkeit dieser Lösung lässt sich auch auf die Parallele zu § 88 Abs. 1 Satz 1 AktG verweisen. Das Loyalitätsgebot hat in seiner hier diskutierten Ausprägung durchaus Rechtsähnlichkeit mit dem in § 88 AktG normierten Wettbewerbsverbot, vor allem aber mit der Geschäftschancenlehre. Denn indem der Vorstand anlässlich der Vorbereitung einer Umwandlung darauf hinwirkt, dass auch für ihn ein entsprechender Vorteil abfällt, nutzt er durchaus eine Geschäftschance der Gesellschaft für sich aus. Geht man zudem davon aus, dass der Vorteil für den Vorstand sich in einem Nachteil für die Gesellschaft bzw. ihre Aktionäre niederschlägt, wird auch die wettbewerbsähnliche Lage deutlich. Sowohl das Wettbewerbsverbot als auch die Geschäftschancenlehre gelten aber nicht absolut, sondern kennen die Möglichkeit, dass der Träger des geschützten Interesses auf den eingeräumten Schutz verzichtet. Das ist in § 88 Abs. 1 Satz 1 AktG ausdrücklich normiert und bei der Geschäftschancenlehre ganz allgemein anerkannt54. Das spricht dafür, dass auch im hier diskutierten Zusammenhang die Offenlegung des Interessenkonflikts und die Billigung durch den Träger des geschützten Interesses – hier also die Aktionäre – die richtige Lösung ist. b) Leistungen an ausscheidende Organmitglieder Als besonders problematisch stellen sich unter dem Gesichtspunkt des Unternehmensinteresses Leistungen an ausscheidende Organmitglieder dar. Hier liegt der Einwand nahe, dass an der Gewährung kein Interesse mehr bestehe, da eine Anreizwirkung im Hinblick auf den Ausscheidenden nicht mehr erreicht werden kann und seine Leistungen in der Vergangenheit bereits mit dem ohnehin geschuldeten Gehalt abgegolten seien. Eine Anreizwirkung könnte allenfalls im Hinblick auf die verbleibenden Organmitglieder zu bejahen sein, wenn sie aus der Gewährung den Schluss ziehen könnten, dass eine besonderes gute Leistung beim Ausscheiden aus dem Amt noch einmal eine besondere

__________ 53 Siehe schon oben II.2.b) aa) (4) Fn. 27. 54 BGH, WM 1976, 77; BGH, NJW 1989, 2687, 2688; Michalski/Haas, GmbHG, 2002, § 43 GmbHG Rz. 125; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 137 m. w. N.

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Belohnung nach sich ziehen könnte, oder wenn die Tätigkeit des Ausscheidenen so erfolgreich gewesen ist, dass die ursprüngliche Vergütung im Nachhinein nicht mehr angemessen erscheint55. Eine solche Argumentation setzt allerdings voraus, dass solche besonderen Leistungen bei dem Empfänger der Zuwendungen auch tatsächlich vorliegen und die Vergütung nicht allein aus Anlass der Umwandlung erfolgt.

IV. Rechtsfolge intransparenter Vergütungen Zu den Rechtsfolgen des Verstoßes gegen die Transparenzvorschrift des § 11 WpÜG wurde oben bereits Stellung genommen. Sie besteht in der Unwirksamkeit der Vergütungsabrede, da eine intransparente Vergütung zugleich stets ein ungerechtfertigter Vorteil i. S. d. § 33d WpÜG ist und § 33d WpÜG wiederum ein gesetzliches Verbot der Zuwendung solcher Vorteile enthält56. Das Gleiche wurde lange Zeit unwidersprochen im Hinblick auf § 5 Nr. 8 UmwG angenommen. Zum Teil wurde ohne nähere Begründung die Unwirksamkeitsfolge vertreten57, zum Teil wurden §§ 32 Abs. 358 und 26 Abs. 3 AktG59 entsprechend angewendet. Dieser Ansicht ist in jüngerer Zeit mit dem Argument widersprochen worden, dass sich im Hinblick auf § 5 Nr. 8 UmwG eine zivilrechtliche Nichtigkeitsfolge nicht begründen lasse60. Diese Auffassung kommt zu dem Ergebnis, dass ein Verschmelzungsvertrag, der entgegen § 5 Nr. 8 UmwG eine Angabe bezüglich transaktionsbezogener Zuwendungen nicht enthalte, zwar zunächst formnichtig und durch die Aktionäre auch anfechtbar sei, dass die Mängel aber nach Eintragung in das Handelsregister geheilt würden, § 20 UmwG. Der begünstigte Vorstand sei zum Schadensersatz verpflichtet, sofern sich aus dem Verstoß gegen § 5 Nr. 8 UmwG ein Schaden nachweisen lasse61. Im Übrigen könne er den Vorteil jedoch behalten. Zumindest die letzte Annahme kann nicht richtig sein. Denn eine intransparente Vergütung verstößt, wie oben dargelegt, nicht nur gegen § 5 Nr. 8 UmwG, sondern auch gegen das Loyalitätsgebot gegenüber der Gesellschaft. Dann muss aber auch die Rechtsfolge gelten, dass die Gesellschaft Vorteile, die der Vorstand entgegen dem Loyalitätsgebot erlangt, ähnlich wie bei einer Verletzung des Wettbewerbsverbots nach Auftragsregeln an sich ziehen kann62. Denn soweit der Vorstand für die Gesellschaft tätig wird – und das ist bei der

__________ 55 Hüffer (Fn. 48), § 87 AktG Rz. 4; Fonk, NZG 2005, 248, 250 f.; enger freilich BGH, AG 2006, 110, 112 – Mannesmann. 56 Siehe oben II.2.bb). 57 Vgl. Mayer (Fn. 9), § 5 UmwG Rz. 175. 58 So Grunewald in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1994, § 340 AktG Rz. 27. 59 So Bermel/Hannappel in Goutier/Knopf/Tulloch, Umwandlungsrecht, 1996, § 5 UmwG Rz. 64. 60 Schröer (Fn. 10), § 5 UmwG Rz. 56; Marsch-Barner in Kallmeyer (Fn. 18), § 5 UmwG Rz. 46a; Graef, GmbHR 2005, 908, 909 f. 61 So namentlich Graef, GmbHR 2005, 908, 909 f.; dem folgend Marsch-Barner in Kallmeyer (Fn. 18), § 5 UmwG Rz. 46a; Stratz (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 73. 62 Richtig Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 16), § 93 AktG Rz. 143 m. w. N.

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Zuwendungen an Unternehmensorgane bei Umwandlungen und Übernahmen

Vorbereitung einer Umwandlung sicher der Fall, hat er das, was er aus der Tätigkeit erlangt, an den Geschäftsherrn herauszugeben. Die Konsequenz, dass der Vorstand die intransparent zugewendete Vergütung behalten dürfte, kann daher keinesfalls zutreffend sein. Darüber hinaus sprechen die besseren Gründe auch dafür, an der bisher vertretenen Ansicht festzuhalten, nach der die verdeckt gewährte Vergütung bzw. die entsprechende Zusage unwirksam ist. Zwar ist der Kritik zuzugeben, dass die Analogie zu §§ 26 und 32 AktG insoweit auf schwachen Füßen steht, als die beiden Normen aus dem Gründungsrecht vor allem auf Gläubigerschutz abzielen, der im hier diskutierten Zusammenhang jedenfalls keine entscheidende Rolle spielt. Immerhin lässt sich aus den beiden Vorschriften aber ableiten, dass besondere Vergütungen an Organmitglieder anlässlich der Gründung einer Gesellschaft veröffentlicht werden müssen, um wirksam zu sein. Dieser Gedanke wird durch §§ 11 und 33d WpÜG weiter verstärkt und liegt auch § 5 Nr. 8 UmwG zugrunde. Dass er im Umwandlungsgesetz nicht vollkommen durchgeführt ist, liegt allein an der weitgehenden Heilungswirkung des § 20 UmwG, die der von einem Verstoß gegen § 5 Nr. 8 UmwG ausgelösten Formunwirksamkeit ihre praktische Wirksamkeit nimmt. Fraglich ist allerdings, ob es erforderlich ist, den Verstoß gegen § 5 Nr. 8 UmwG an dieser Heilungswirkung überhaupt teilnehmen zu lassen. Der Normzweck des § 20 UmwG liegt darin, die Wirksamkeit der Umwandlung als solcher sicherzustellen und etwaigen Verlangen auf Rückabwicklung den Boden zu entziehen63. § 5 Nr. 8 UmwG betrifft jedoch ein ganz anderes Rechtsgeschäft, nämlich das zwischen dem Vorstand und dem Zuwendenden. Auch dieses ist formnichtig, wenn es nicht nach § 5 Nr. 8 UmwG im Vertrag aufgeführt ist. Es ist in keiner Weise ersichtlich, warum die Eintragung in das Handelsregister auch diesen Mangel heilen soll. Eine solche Konsequenz ist durch den Normzweck des § 20 UmwG nicht geboten und läuft dem Normzweck des § 5 Nr. 8 UmwG, für eine Offenlegung solcher Abreden zu sorgen, diametral zuwider. Richtigerweise sollte man daher den Verstoß gegen § 5 Nr. 8 UmwG an der Heilungswirkung des § 20 UmwG nicht teilnehmen lassen, so dass zwar der Vertrag als solcher trotz seines defizitären Inhalts wirksam wird, jedoch die Abrede zwischen Vorstand und Zuwendendem formunwirksam bleibt64. Damit ergibt sich auch hier, wie im WpÜG, eine Unwirksamkeit der intransparenten Transaktionsvergütung.

V. Ergebnisse 1. Zuwendungen an Unternehmensorgane aus Anlass von Umwandlungen und Übernahmen sind geeignet, in der Person des Zuwendungsempfängers einen Interessenkonflikt zu begründen. Es besteht die Gefahr, dass der Begünstigte

__________ 63 Vgl. Kübler in Semler/Stengel (Fn. 10), § 20 UmwG Rz. 2; Kallmeyer in Kallmeyer (Fn. 18), § 20 UmwG Rz. 1. 64 So bereits Lutter/Drygala (Fn. 6), § 5 UmwG Rz. 54.

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die Interessen der Gesellschaft und der Aktionäre hinter seine eigenen Interessen am Erhalt der Zuwendung zurückstellt. 2. Zur Auflösung derartiger Interessenkonflikte kommt neben einem strikten Verbot der Verfolgung von Eigeninteressen auch eine Information des geschützten Personenkreises sowie dessen Zustimmung in Betracht. Welche Lösung die zutreffende ist, kann nicht generell, sondern nur für jede Fallgruppe des Interessenkonflikts einzeln beantwortet werden. 3. In Bezug auf Sonderzahlungen aus Anlass von Unternehmensübernahmen wird die Entscheidung dadurch erschwert, dass sowohl das Informationsprinzip als auch das Verbotsprinzip im Gesetz angelegt sind (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 WpÜG einerseits, § 33d WpÜG andererseits). Im Umwandlungsgesetz ergibt sich ein ähnliches Spannungsverhältnis aus § 5 Nr. 8 UmwG einerseits und der aktienrechtlichen Loyalitätspflicht des Vorstands andererseits. 4. In beiden Rechtsgebieten wäre ein generelles Verbot der Gewährung von Sondervergütungen aus Anlass der Transaktion eine Übermaßreaktion, die zudem geeignet wäre, den Aktionären eher zu schaden als zu nutzen. Ihren Belangen kann vielmehr weitgehend schon durch die Offenlegung der Vergütung Rechnung getragen werden. Ferner müssen die Zahlungen mit dem Unternehmensinteresse vereinbar sein. Dabei kann die besondere Lage, in der sich die Gesellschaft befindet, bei der Abwägung berücksichtigt werden. 5. Ein Verstoß gegen das Offenlegungsgebot hinsichtlich solcher Vergütungen führt sowohl im Übernahme- als auch im Umwandlungsrecht zu einer Unwirksamkeit der Vereinbarung zwischen Zuwendendem und Empfänger.

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Ausgleich und Abfindung der außenstehenden Aktionäre bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen zwischen nicht börsennotierten Aktiengesellschaften Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Sicherung der außenstehenden Aktionäre 1. Angemessener Ausgleich 2. Barabfindung III. Grundsätze zur Ermittlung von Unternehmenswerten 1. Ertragswertmethode 2. IDW S 1 a) Intertemporales Recht b) Rückblick c) IDW S 1 (2008)

3. Zwei Phasen 4. Kapitalisierungszinssatz a) Basiszinssatz b) Risikozuschlag c) Abschläge d) Ertragsteuern 5. Nichtbetriebsnotwendiges Vermögen a) Betriebsnotwendigkeit b) Rechtsprechung 6. Vergleichswerte IV. Schluss

I. Einleitung Unternehmensbewertung gilt als „Königsdisziplin der Betriebswirtschaftslehre“1. Vielen Juristen erscheint die Unternehmensbewertung nach wie vor als Buch mit sieben Siegeln, als eine Thematik, die schwer zugänglich oder schwer verständlich ist. Theorie und Praxis der Unternehmensbewertung waren in der Tat lange Zeit von der Betriebswirtschaftslehre maßgeblich geprägt. Juristen hatten die Materie weitgehend den Betriebswirten überlassen. In den letzten Jahren hat die Rechtswissenschaft die Unternehmensbewertung aber wieder „entdeckt“2. Anlass dazu bot nicht zuletzt die steigende Zahl gerichtlicher Entscheidungen im In- und Ausland zu Fragen der Unternehmensund Anteilsbewertung. Die richterlichen Entscheidungen bestärkten die Erkenntnis, dass viele Fragen der Unternehmensbewertung genuine Rechtsfragen sind3. Der Jubilar hat deshalb mit Recht darauf hingewiesen, dass bei der Lösung von Fragen der Unternehmens- und Anteilsbewertung Jurisprudenz und Betriebswirtschaftslehre eng zusammenarbeiten müssen4. Ob eine Unter-

__________ 1 Ballwieser, Der neue IDW S 1, WPg 2008 Heft 12, S. I; Wagner, Unternehmensbewertung – Theorie und Praxis im Dialog, WPg 2008 Heft 17, S. I. 2 Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung im Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1. 3 Hüttemann, Unternehmensbewertung als Rechtsproblem, ZHR 162 (1998), 563. 4 K. Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 70–71.

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nehmens- bzw. Anteilsbewertung im Einzelfall mit den gesetzlichen Bestimmungen im Einklang steht oder vertraglichen Vereinbarungen der Parteien entspricht, unterliegt allerdings letztlich der Kontrolle staatlicher Gerichte, bisweilen auch der Entscheidung privater Schiedsgerichte5. Bewertungsanlässe gibt es viele. Unternehmens- und Anteilsbewertungen erfolgen häufig aufgrund gesellschaftsrechtlicher Vorschriften. Besonders hervorgehoben seien Unternehmens- und Anteilsbewertungen aufgrund der aktienrechtlichen Bestimmungen über den Abschluss von Unternehmensverträgen (§§ 304, 305 AktG), die Eingliederung (§ 320b AktG) und den Ausschluss von Minderheitsaktionären (Squeeze-out, §§ 327a, 327b AktG) sowie aufgrund der umwandlungsrechtlichen Vorschriften über Barabfindungen (vgl. §§ 29, 126 UmwG). Anlass zu Unternehmensbewertungen ergeben sich außerdem bei einer Reihe von unternehmerischen Maßnahmen (z. B. Kauf oder Verkauf von Unternehmen in Gestalt von Asset Deals oder Share Deals, Zuführung von Eigen- oder Fremdkapital, Sacheinlagen, Börsengang oder Management Buyout). Unternehmen sind ferner für Zwecke der externen Rechnungslegung sowie aus steuerlichen Gründen zu bewerten. Bewertungen von Unternehmen können aber auch auf vertraglicher Grundlage erfolgen, etwa bei dem Eintritt oder Austritt von Gesellschaftern aus einer Personengesellschaft (§ 738 Abs. 1 Satz 2 BGB), bei Erbfällen oder im Familienrecht; dabei sind die allgemeinen Grundsätze des Privatrechts (§§ 138, 242, 241 Abs. 2 BGB) zu beachten. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen, die dem Jubilar in kollegialer Verbundenheit gewidmet sind, stehen Ausgleich bzw. Abfindung zur Sicherung der außenstehenden Aktionäre bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen (§§ 304, 305 AktG). Karsten Schmidt bemerkt dazu in seinem großen Werk zum Handelsrecht: „Bei der hierbei anzustellenden Unternehmensbewertung ist mit krassen Abweichungen unter den Gutachtern zu rechnen. Das Recht kann solche Abweichungen nicht verhindern. Trotzdem kann eine Unternehmensbewertung rechtlich fehlerfrei oder rechtlich fehlerhaft sein“6. Theorie, Praxis und Rechtsprechung haben eine Reihe von Grundsätzen entwickelt, nach denen Unternehmen und Gesellschaftsanteile bewertet werden, wenn sich eine Aktiengesellschaft vertraglich der Leitung eines anderen Unternehmens unterstellt (Beherrschungsvertrag)7 oder sich verpflichtet, ihren ganzen Gewinn an ein anderes Unternehmen abzuführen (Gewinnabführungsvertrag)8.

__________ 5 Vgl. Schiedsspruch vom 4.11.2005 – DIS-SV-B 710/97, SchiedsVZ 2007, 219 (per Ebke). 6 K. Schmidt (Fn. 4), S. 71. 7 Vgl. § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG. Stellen sich Unternehmen, die voneinander nicht abhängig sind, durch Vertrag unter einheitliche Leitung, ohne dass dadurch eines von ihnen von einem anderen Vertrag schließenden Unternehmen abhängig wird, so ist dieser Vertrag kein Beherrschungsvertrag (§ 291 Abs. 2 AktG). 8 Vgl. § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG. Als Vertrag über die Abführung des ganzen Gewinns gilt auch ein Vertrag, durch den eine Aktiengesellschaft es übernimmt, ihr Unternehmen für Rechnung eines anderen Unternehmens zu führen (§ 291 Abs. 1 Satz 2 AktG).

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Die einschlägigen Bewertungsgrundsätze werden infolge der Unternehmensteuerreform 2008 zum Teil weitreichende Veränderungen erfahren. Aufgrund der vorgesehenen einheitlichen Belastung der Zins-, Dividenden- und Kursgewinneinkünfte mit pauschal 25 % (zzgl. Solidarzuschlag) wird die Belastung von Zinseinkünften ab dem Planjahr 2009 sinken, während die Besteuerung der Aktienrendite deutlich steigen wird. Gleichzeitig sinkt die Belastung mit Unternehmensteuern infolge der Senkung der Gewerbe- und Körperschaftsteuer. Da für Zwecke der Unternehmensbewertung in der Regel historische Renditen zur Schätzung erwarteter künftiger Renditen verwendet werden, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen es hat, wenn die historischen Renditen in einem zukünftig anderen steuerlichen Umfeld angewandt werden sollen. Es ist kaum zu bestreiten, dass die persönliche Einkommensteuer Investitionsentscheidungen von Anlegern beeinflusst. Fraglich ist jedoch, ob dieser Einfluss in jedem Fall so wesentlich ist, dass er im Rahmen der Unternehmensbewertung in dem Bewertungskalkül zu erfassen ist. Die Praxis geht neuerdings von der grundsätzlichen Relevanz der persönlichen Ertragsteuern für die Ermittlung des objektivierten Unternehmenswertes aus, bejaht aber gleichzeitig die Möglichkeit, Anlass bezogen auch ein Bewertungsmodell zu verwenden, in dem persönliche Ertragsteuern explizit nicht vorkommen. In einem solchen Modell erfolgt eine Typisierung der steuerlichen Verhältnisse der Anteilseigner mittelbar durch eine entsprechende Modellierung der Parameter, insbesondere der Marktrisikoprämie. Es fragt sich, welche Auswirkungen solche Anlass bezogene Typisierungen auf die Ermittlung von Abfindung und Ausgleich gemäß §§ 304, 305 AktG haben können.

II. Sicherung der außenstehenden Aktionäre Das Aktiengesetz schützt die Interessen der außenstehenden Aktionäre bei Unternehmensverträgen insbesondere durch Anordnung eines angemessenen Ausgleichs (§ 304 AktG) und einer Abfindung (§ 305 AktG)9. 1. Angemessener Ausgleich Außenstehende Aktionäre haben gemäß § 304 Abs. 1 Satz 1 AktG Anspruch auf einen angemessenen Ausgleich durch eine auf die Anteile am Grundkapital bezogene wiederkehrende Geldleistung (Ausgleichszahlung). Die Ausgleichszahlung dient dazu, den außenstehenden Aktionären einen Ausgleich dafür zu bieten, dass ihr Dividendenanspruch künftig seiner Höhe nach nicht mehr allein durch die im eigenen Unternehmen getroffenen Entscheidungen bestimmt wird, sondern von den Dispositionen des herrschenden Unternehmens abhängt10. Die Ausgleichsregelung des § 304 Abs. 1 AktG ist zwingend. Ein

__________ 9 Künftige Aktionäre werden durch § 307 AktG geschützt. 10 Vgl. BGHZ 119, 1, 10; OLG Frankfurt a. M., AG 2002, 404; OLG Hamburg, AG 2002, 406, 408.

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Unternehmensvertrag, der entgegen § 304 Abs. 1 AktG überhaupt keinen Ausgleich vorsieht, ist nichtig (§ 304 Abs. 3 Satz 1 AktG). Die Angemessenheit des in dem Unternehmensvertrag bestimmten Ausgleichs kann im Spruchverfahren durch das in § 2 SpruchG bestimmte Gericht überprüft werden. Die Regelung des § 304 AktG ermöglicht es den außenstehenden Aktionären der Sache nach, in der Gesellschaft zu verbleiben. Die außenstehenden Aktionäre laufen nämlich nicht Gefahr, „ausgehungert“ zu werden11. 2. Barabfindung Die außenstehenden Aktionäre können aber auch von der Abfindungsregelung des § 305 AktG Gebrauch machen, also den Wert ihrer Aktien realisieren und aus der Gesellschaft ausscheiden. § 305 Abs. 1 und 2 AktG gewähren den außenstehenden Aktionären Anspruch auf eine angemessene Barabfindung. Wie § 304 AktG bezweckt auch § 305 AktG die Sicherung der außenstehenden Aktionäre – und zwar gegen die Beeinträchtigung ihrer aus der Mitgliedschaft folgenden Herrschaftsrechte12. Die Höhe der Abfindung ist deshalb so zu bestimmen, dass sie für den außenstehenden Aktionär wirtschaftlich eine gleichwertige Alternative zu dem Ausgleich darstellt. Ausgleich und Abfindung müssen also wertäquivalent sein13.

III. Grundsätze zur Ermittlung von Unternehmenswerten Das Gesetz sieht für die Ermittlung der Ausgleichszahlungen eine zukunftsorientierte Betrachtung vor. Als Ausgleich ist nach § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG „mindestens die jährliche Zahlung des Betrags zuzusichern, der nach der bisherigen Ertragslage der Gesellschaft und ihren künftigen Ertragsaussichten unter Berücksichtigung angemessener Abschreibungen und Wertberichtigungen, jedoch ohne Bildung anderer Gewinnrücklagen, voraussichtlich als durchschnittlicher Gewinnanteil auf die einzelne Aktie verteilt werden könnte“. Eine bestimmte Bewertungsmethode wird von dem Gesetz nicht vorgeschrieben.

__________ 11 Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 304 AktG Rz. 1. 12 Vgl. BGHZ 135, 374, 379; BGHZ 138, 136, 139. 13 Abweichungen zwischen Ausgleich und Abfindung ergeben sich in der unterschiedlichen Art und Weise der Berücksichtigung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens. Bei der Ermittlung des Ausgleichs ist – anders als bei der Ermittlung der Abfindung – nicht von einer fiktiven Veräußerung und Ausschüttung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens auszugehen. Vgl. Hötzel/Beckmann, Zur Ermittlung des angemessenen Ausgleichs gemäß § 304 AktG nach Einführung des Halbeinkünfteverfahrens, WPg 2001, 1249, 1250 mit Fn. 6.

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1. Ertragswertmethode Den gesetzlichen Vorgaben entspricht – jedenfalls bei nicht börsennotierten Gesellschaften14 – die Ertragswertmethode. Die Ertragswertmethode wurde vom Bundesgerichtshof schon in der Rechtssache Kali+Salz15 als zulässige Bewertungsmethode anerkannt und kommt in nahezu allen aktienrechtlichen Spruch(stellen)verfahren zur Anwendung16. Hinsichtlich der bisherigen Ertragslage der beherrschten Gesellschaft ist der Zeitraum der vergangenen drei bis fünf Jahre heranzuziehen17. Die künftige Ertragsentwicklung erfordert eine wertende Betrachtung. Es ist eine Ertragsprognose zu erstellen, bei der nur solche (positiven wie negativen) Entwicklungen berücksichtigt werden dürfen, die in dem fraglichen Zeitraum zumindest in ihrem Kern bereits angelegt und absehbar sind18. Das bedeutet, dass die Ertragsaussichten der abhängigen Gesellschaft rückblickend („ex ante“) von einem längst vergangenen Zeitraum aus zu beurteilen sind, ohne dass zwischenzeitliche Entwicklungen berücksichtigt werden dürfen19. Als Bewertungsstichtag ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Beherrschungsvertrag auf Grund der Zustimmung durch die Hauptversammlung des beherrschten Unternehmens im Sinne des § 293 Abs. 1 Satz 1 AktG wirksam geworden ist20. Die Prognose des Barwertes zukünftiger Überschüsse der Einnahmen über die Ausgaben ist zwangsläufig mit erheblichen Unsicherheiten belastet. Das zeigt sich in der (schieds-)gerichtlichen Praxis an den regelmäßig vielfältigen Einwendungen der Parteien gegen die Annahmen und Schlussfolgerungen der meist zahlreichen Bewertungsgutachten. Die Parteien können für sich aber ebenfalls nicht in Anspruch nehmen, den „wahren“ Wert des Unternehmens und damit den angemessenen Ausgleich oder die angemessene Abfindung mathematisch exakt bestimmen zu können. Die im Ertragswertverfahren ermittelten Werte stellen vielmehr einen Näherungswert mit einer gewissen Bandbreite dar21. Im Rahmen seiner Beurteilung hat das (Schieds-)Gericht zu

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14 Zur Bedeutung des Börsenkurses bei der Ermittlung des Unternehmenswertes siehe BVerfGE 100, 189; BGHZ 147, 108; OLG Stuttgart, BB 2008, 580; OLG Stuttgart, AG 2007, 705; OLG Stuttgart, AG 2004, 43. Siehe ferner IDW S 1 (2008) Tz. 14–16, FNIDW 7/2008, 271, 274–275. Zu Einzelheiten siehe zuletzt Adolff, Unternehmensbewertung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007. 15 BGH, WM 1978, 401, 405. 16 Vgl. nur BGH, BB 2003, 2083, 2084–2085; OLG Hamburg, AG 2002, 563, 564; OLG Stuttgart, NZG 2007, 112, 114; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 44–45. Weitere Rechtsprechungsnachweise in Wüstemann, BB-Rechtsprechungsreport Unternehmensbewertung 2007/08, BB 2008, 1499, 1499 li. Sp. 17 OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 44; OLG Frankfurt a. M., AG 2002, 404 unter Hinweis auf Hüffer (Fn. 11), § 304 AktG Rz. 9. 18 OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 44; BayObLG, DB 2001, 1928, 1929. 19 Vgl. BGH, NZG 1998, 379, 380; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 44. Siehe auch IDW S 1 (2008) Tz. 23, FN-IDW 7/2008, 271, 275. 20 Vgl. BGH, BB 2003, 2083, 2085; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 44; OLG Hamburg, AG 2003, 583, 585; LG Hannover, AG 1979, 234. 21 Vgl. OLG Stuttgart, AG 2007, 705, 706; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45. Das OLG Stuttgart, BB 2008, 580, spricht von einer „typisierenden und damit fiktiven Betrachtung“.

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prüfen, ob die in den Gutachten der Sachverständigen und ggf. den ergänzenden Wertfindungsberechnungen zugrunde gelegten Annahmen, Einschätzungen und Prognosen, die angewandten Methoden sowie die Ergebnisse im Lichte der Ziele, die der Gesetzgeber mit dem angemessenen Ausgleich außenstehender Aktionäre verfolgt, im Einklang stehen. 2. IDW S 1 Bei seiner an dem Normzweck der §§ 304, 305 AktG orientierten Überprüfung hat das Gericht in erster Linie die in der deutschen Rechtsprechung anerkannten Grundsätze der Unternehmens- und Anteilsbewertung zu berücksichtigen. Darüber hinaus beziehen die Gerichte den – rechtlich zwar nicht verbindlichen22, in die Bewertungspraxis aber tief hinein wirkenden23 – IDW Standard Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1) in ihre Überlegungen regelmäßig mit ein. Die Unternehmensbewertungsgrundsätze des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. (IDW) sind in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren mehrfach überarbeitet worden. Für besondere Bewertungsanlässe bestehen außerdem spezielle IDW-Standards, die z. T. auf die Grundsätze des IDW S 1 zurückgreifen24. a) Intertemporales Recht Die intertemporale Geltung der verschiedenen Fassungen des IDW S 1 ist im Einzelnen noch nicht abschließend geklärt25. In der Rechtsprechung fehlt ins-

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22 Die Unternehmensbewertungsgrundsätze des IDW S 1 sind keine Rechtsnormen (so auch BayObLG, DB 2006, 39, 40). Als Privatrechtssubjekt steht dem IDW keine originäre Rechtsetzungsbefugnis zu. Eine abgeleitete Rechtsetzungsbefugnis liegt mangels staatlicher Anerkennung ebenfalls nicht vor. Bei den Grundsätzen des IDW S 1 handelt es sich auch nicht um Gewohnheitsrecht. Vielmehr bindet IDW S 1 allein die Mitglieder des IDW. Die Grundsätze des IDW S 1 sind mit anderen Worten verbandsinterne Regeln ohne rechtliche Verbindlichkeit im Außenverhältnis. Für die Gerichte sind die Unternehmensbewertungsgrundsätze des IDW S 1 (z. B. bei der Auslegung und Anwendung der §§ 304, 305 AktG) nicht verbindlich, sondern lediglich eine wichtige Erkenntnisquelle und Entscheidungshilfe („persuasive, but not conclusive evidence“). Zu der vergleichbaren Frage der rechtlichen Verbindlichkeit der vom HFA des IDW verabschiedeten IDW Prüfungsgrundsätze (IDW PS) siehe Ebke in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2008, § 323 HGB Rz. 31–32 m. w. N. 23 Vgl. Großfeld/Stöver/Tönnes, Neue Unternehmensbewertung, BB 2005, BB-Special 7, S. 2 li. Sp. 24 Siehe z. B. IDW RS HFA 10 Zur Anwendung der Grundsätze des IDW S 1 bei der Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensanteilen für die Zwecke eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses, WPg 2003, 1257, redaktionelle Änderung in WPg 2004, 434, weitere redaktionelle Änderung in WPg 2005, 1322; IDW RS HFA 16 Bewertungen bei der Abbildung von Unternehmenserwerben und bei Werthaltigkeitsprüfungen nach IFRS, WPg 2005, 1415; IDW S 5 Grundsätze zur Bewertung immaterieller Vermögenswerte, WPg Supplement 4/2007. Zu Einzelheiten des IDW S 5 siehe Beyer/Mackenstedt, Grundsätze zur Bewertung immaterieller Vermögenswerte (IDW S 5), WPg 2008, 338; Catsedello/Schmusch, Markenbewertung nach IDW S. 5, WPg 2008, 350. 25 Großfeld (Fn. 2), S. 105–106.

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besondere zu der Frage der rückwirkenden Anwendung geänderter Methoden der Unternehmensbewertung eine einheitliche Linie26. Uneinheitlich beurteilt wird ferner die Möglichkeit einer Vorwirkung von Methodenänderungen durch Anwendung des Entwurfs eines neuen IDW Standards (IDW ES)27. In der Literatur finden sich inzwischen wegweisende Lösungsansätze, deren Übernahme durch die Gerichte allerdings nicht gesichert ist28. b) Rückblick Den Anfang der berufständischen Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen bildet die Stellungnahme HFA 2/1983: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen29, die aus dem im Jahre 1980 veröffentlichten Entwurf einer Verlautbarung des Arbeitskreises Unternehmensbewertung: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen hervorgegangen war30. HFA 2/1983 wurde abgelöst von IDW S 1 vom 28.6.200031. Wesentliche Neuerungen des IDW S 1 (2000) im Vergleich zu der vorher gehenden Stellungnahme HFA 2/1983 sind die Anwendung des Ertragswertverfahrens oder des Discounted Cash Flow-Verfahrens (DCF-Verfahren), die Einbeziehung persönlicher Ertragsteuern der Unternehmenseigner bereits bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes32 sowie die einheitliche Risikobehandlung. Im Jahre 2005 wurde IDW S 1 i. d. F. vom 28.6.2000 überarbeitet. Wesentliche Neuerungen des neuen IDW S 1 i. d. F. vom 18.10.200533 sind die Annahme von Aktien als Alternativanlage, die Ver-

__________ 26 LG Bremen, AG 2003, 214; LG Frankfurt a. M., AG 2007, 42 (beide rückwirkungsfreundlich); eine Rückwirkung dagegen ablehnend BayObLG, NZG 2006, 156; OLG München, AG 2007, 411; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.9.2006 – I-26 W 8/2006, www.juris.de; LG Dortmund, AG 2007, 792; offen gelassen in dem Schiedsspruch vom 4.11.2005 – DIS-SV-B 710/97, SchiedsVZ 2007, 219, 221 (per Ebke). 27 Siehe einerseits BayObLG, NZG 2006, 156, 157, andererseits Bungert, Rückwirkende Anwendung von Methodenänderungen bei der Unternehmensbewertung, WPg 2008, 811, 820–821. 28 Siehe zuletzt etwa Bungert, WPg 2008, 811; Hüttemann, Zur „rückwirkenden“ Anwendung neuer Bewertungsstandards bei der Unternehmensbewertung, WPg 2008, 822; Lenz, Gesellschaftsrechtliches Spruchverfahren: Die Rückwirkung geänderter Grundsätze zur Unternehmensbewertung auf den Bewertungsstichtag – Zugleich Besprechung der Beschlüsse des BayObLG vom 28.10.2005 und des LG Bremen vom 18.2.2002 –, WPg 2006, 1160; Dörschell/Franken, Rückwirkende Anwendung des neuen IDW-Standards zur Durchführung von Unternehmensbewertungen, DB 2005, 2257. 29 Abgedruckt in WPg 1983, 468. 30 Abgedruckt in WPg 1980, 409. 31 Abgedruckt in WPg 2000, 825. Siehe dazu den Einführungsaufsatz von Siepe/ Dörschell/Schulte, Der neue IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1), WPg 2000, 946. 32 Siehe dazu Hennrichs, Unternehmensbewertung und persönliche Ertragsteuern aus (aktien-)rechtlicher Sicht, ZHR 164 (2000), 453. 33 Abgedruckt in WPg 2005, 1303. Siehe dazu den Einführungsaufsatz von Wagner/ Jonas/Ballwieser/Tschöpel, Unternehmensbewertung in der Praxis – Empfehlungen und Hinweise zur Anwendung von IDW S 1, WPg 2006, 1005.

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wendung des aus dem Capital Asset Pricing Model (CAPM)34 abgeleiteten Tax CAPM35 und die Abkehr von der Vollausschüttungshypothese36. c) IDW S 1 (2008) Am 2.4.2008 hat der Fachausschuss für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft (FAUB) des IDW den jüngsten IDW S 1 verabschiedet37. Der Hauptfachausschuss (HFA) des IDW hat den vom FAUB verabschiedeten IDW S 1 (2008) auf seiner 212. Sitzung am 30.5.2008 billigend zur Kenntnis genommen. Die Neufassung des IDW S 1 (2008) dient unter anderem der Anpassung der Grundsätze zur Ermittlung von objektivierten Unternehmenswerten an die Neuregelungen des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008. Eine wichtige Neuerung in IDW S 1 (2008) ist die Annahme, dass wegen der Wertrelevanz der persönlichen Ertragsteuern zur Ermittlung des objektivierten Unternehmenswertes Anlass bezogene Typisierungen der steuerlichen Verhältnisse erforderlich sind38. Bei gesellschaftsrechtlichen oder vertraglichen Bewertungsanlässen (z. B. Abfindungen, Squeeze-out) wird der objektivierte Unternehmenswert im Einklang mit der langjährigen deutschen Bewertungspraxis und Rechtsprechung aus der Perspektive einer inländischen unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Person als Anteilseigner ermittelt39. Bei dieser Typisierung sind demgemäß zur unmittelbaren Berücksichtigung der persönlichen Ertragsteuern sachgerechte Annahmen zu deren Höhe sowohl bei den finanziellen Überschüssen als auch bei dem Kapitalisierungszinssatz zu treffen40. Wird der objektivierte Unternehmenswert für andere Zwecke, insbesondere im Zusammenhang mit unternehmerischen Initiativen (z. B. für Kaufpreisverhandlungen, Fairness Opinions, Kreditwürdigkeitsprüfungen) ermittelt, ist nach IDW S 1 (2008) davon auszugehen, dass die Nettozuflüsse aus dem Bewertungsobjekt und

__________ 34 Grundlegend Sharpe, Capital Asset Prices – A Theory of Market Equilibrium under Conditions of Risk, Journal of Finance 19 (1964), 425. 35 Grundlegend Brennan, Taxes, Market Valuation and Corporate Financial Policy, National Tax Journal 23 (1970), 417. Zu Einzelheiten des CAPM bzw. des Tax CAPM im Hinblick auf die Anwendung bei Unternehmensbewertungen nach IDW S 1 (2008) siehe WP-Handbuch 2008, Bd. II, 13. Aufl. 2008, Abschn. A.VI 2. 36 Siehe dazu die einführenden Darstellungen von Kunowski, Änderung des IDWStandards zu den Grundsätzen zur Durchführung von Unternehmensbewertungen, DB 2005, 569; Reuter/Lenz, Unternehmensbewertung nach der Neufassung des IDWStandards S 1 – Modifikation für aktienrechtliche Zwecke, DB 2006, 1689; Dörschell/Franken, DB 2005, 2257. 37 Abgedruckt FN-IDW 7/2008, 271 (WPg Supplement 3/2008). Siehe dazu die Einführung von Wagner/Saur/Willershausen, Zur Anwendung der Neuerungen der Unternehmensbewertungsgrundsätze des IDW S 1 i. d. F. 2008 in der Praxis, WPg 2008, 731. IDW ES 1 vom 5.9.2007 ist abgedruckt in FN-IDW 10/2007, 508, WPg Supplement 3/2007. Siehe dazu Hommel/Pauly/Nagelschmitt, IDW ES 1 – Neuregelungen beim objektivierten Unternehmenswert, BB 2007, 2728. 38 IDW S 1 (2008) Tz. 29, FN-IDW 7/2008, 271, 276. 39 IDW S 1 (2008) Tz. 31, FN-IDW 7/2008, 271, 276 („unmittelbare Typisierung“). 40 IDW S 1 (2008) Tz. 31, FN-IDW 7/2008, 271, 276.

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aus der Alternativinvestition in ein Aktienportfolio auf der Anteilseignerseite einer vergleichbaren persönlichen Besteuerung unterliegen41. Im Bewertungskalkül wird dann auf eine explizite Berücksichtigung persönlicher Ertragsteuern bei der Ermittlung der finanziellen Überschüsse und des Kapitalisierungszinssatzes verzichtet42. 3. Zwei Phasen IDW S 1 (2008) hält für die Unternehmensbewertung an dem herkömmlichen Phasenmodell fest43. Aufbauend auf der Analyse der Vergangenheitsergebnisse sind die zukünftigen finanziellen Überschüsse zu prognostizieren. Der Unternehmenswert (Zukunftserfolgswert) wird nach dem Ertragswertverfahren ermittelt und auf den Bewertungsstichtag abgestellt. Das Ertragswertverfahren ermittelt den Unternehmenswert durch Diskontierung der künftigen finanziellen Überschüsse auf den Bewertungsstichtag. Bei unterstellter unbegrenzter Lebensdauer des zu bewertenden Unternehmens entspricht der Unternehmenswert dem Barwert der künftigen finanziellen Überschüsse aus dem betriebsnotwendigen Vermögen zuzüglich des Barwerts der künftigen finanziellen Überschüsse aus dem nicht betriebsnotwendigen Vermögen. Bei der zwangsläufig mit Unsicherheiten belasteten Prognose des Barwertes zukünftiger Überschüsse der Einnahmen über den Ausgaben wird regelmäßig die Phasenmethode – sachgerecht modifiziert nach Maßgabe der branchenspezifischen Besonderheiten des zu bewertenden Unternehmens – zugrunde gelegt44. In der – bewertungsrechtlich zulässigen – Praxis ist es üblich, zwischen zwei Phasen, nämlich der näheren Phase I (Detailplanungsphase) und der ferneren Phase II („Ewige Rente“) zu unterscheiden45. Welcher Referenzzeitraum für die nähere erste Phase zugrunde zu legen ist, ist im Gesetz nicht vorgeschrieben. Das Zugrundelegen eines überschaubaren Zeitraums von drei bis fünf Jahren ist in der Bewertungspraxis üblich46 und bewertungsrechtlich nicht zu beanstanden47. Investitionsplanungen und eine Bereichsergebnisrechnung mit hinreichend detaillierten Informationen können dabei wertvolle Hilfestellung leisten. Die Planungsjahre der ferneren zweiten Phase beruhen in der Regel – ausgehend von der Detailplanung der ersten Phase – auf langfristigen Fortschreibungen von Trendentwicklungen48. Wegen des starken Gewichts der finanziellen Überschüsse in der zweiten Phase kommt der kritischen Prüfung der zugrunde liegenden Annahmen eine besondere Bedeutung zu49.

__________ 41 42 43 44 45 46 47 48 49

IDW S 1 (2008) Tz. 30, FN-IDW 7/2008, 271, 276 („mittelbare Typisierung“). IDW S 1 (2008) Tz. 30, FN-IDW 7/2008, 271, 276. IDW S 1 (2008) Tz. 75–80, FN-IDW 7/2008, 271, 280–281. Vgl. BGH, BB 2003, 2083, 2084. Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 77, FN-IDW 7/2008, 271, 281. Vgl. nur IDW S 1 (2008), Tz. 77, FN-IDW 7/2008, 271, 281 („drei bis fünf Jahre“). Vgl. OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45. Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 78, FN-IDW 7/2008, 271, 281. Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 79, FN-IDW 7/2008, 271, 281.

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4. Kapitalisierungszinssatz Für die Phase I und die Phase II ist jeweils ein Basiszinssatz anzusetzen. Der Basiszinssatz ist Bestandteil des Kapitalisierungszinssatzes. Durch den Kapitalisierungszinssatz werden die zukünftigen, nacheinander anfallenden Erträge auf eine Größe zum Bewertungsstichtag reduziert50. Dadurch wird der Betrag ermittelt, der bei Wiederanlage mit einem realistischen Zins (Kapitalisierungszins) Erträge bringt, die den zu erwartenden Unternehmensüberschüssen entsprechen51. Nach der Rechtsprechung setzt sich der Kapitalisierungszinssatz im Allgemeinen nachvollziehbar aus dem Basiszins genannten landesüblichen Zins für eine (quasi-)risikolose Anlage am Kapitalmarkt und verschiedenen Zuschlägen (z. B. für das Unternehmerrisiko) bzw. Abschlägen (z. B. wegen eines geringen Geldentwertungsrisikos bei Beteiligungspapieren) zusammen52. a) Basiszinssatz Bei der Ermittlung des Basiszinssatzes gehen die Gerichte und die Praxis von der üblichen Effektivverzinsung inländischer öffentlicher Anleihen (unterschiedlicher Laufzeiten) aus53, wobei allerdings nicht auf die Höhe des Basiszinssatzes am Stichtag, sondern auf die aus der Sicht des Stichtags auf Dauer zu erzielende Verzinsung abzustellen ist54. In der Praxis wird hierzu häufig die Zinsstrukturkurve für Anleihen der öffentlichen Hand zugrunde gelegt55, deren Trend für den darüber hinausgehenden, nicht durch empirische Daten belegbaren Zeitraum als Prognose weiter extrapoliert werden kann. Die Parameter lassen sich aus der Kapitalmarktstatistik der Deutschen Bundesbank entnehmen56. Seit einiger Zeit kann auch auf methodisch vergleichbare Daten der Europäischen Zentralbank zurückgegriffen werden57.

__________ 50 Großfeld (Fn. 2), S. 114; Wagner/Saur/Willershausen, WPg 2008, 731, 737. 51 OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45; OLG Stuttgart, NZG 2000, 744, 747. 52 BGH, AG 1978, 196, 199; OLG Celle, AG 1979, 230, 232; OLG Düsseldorf, ZIP 1988, 1555, 1559; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45; OLG Stuttgart, NZG 2000, 745, 747. Allgemein zur Berücksichtigung von Geldentwertung in der Unternehmensbewertung Meitner, Die Berücksichtigung von Inflation in der Unternehmensbewertung – Terminal-Value-Überlegung (nicht nur) zu IDW ES 1 i. d. F. 2007, WPg 2008, 248. 53 BGH, WM 1982, 17, 18; OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45; OLG Stuttgart, NZG 2000, 745, 747; vgl. Großfeld (Fn, 2), S. 117–118; Neuhaus, Unternehmensbewertung und Abfindung, 1990, S. 124–126. Siehe auch IDW S 1 (2008) Tz. 116, FN-IDW 7/2008, 271, 285. 54 OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 45; ebenso Großfeld (Fn. 2), S. 119. 55 Wagner/Saur/Willershausen, WPg 2008, 731, 737. Zur möglichen Orientierung an der Zinsstrukturkurve nach der Nelson/Siegel/Svensson-Methode siehe Wüstemann, BB 2008, 1499, 1500 (mit Rspr.-Nachw.). 56 Kruschwitz/Löffler, Kapitalkosten aus theoretischer und praktischer Perspektive, WPg 2008, 803, 806. 57 Vgl. http://www.ecb.int/stats/money/yc/html/index.en.html#data.

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b) Risikozuschlag Der Basiszinssatz ist nach der Rechtsprechung regelmäßig um einen Risikozuschlag zu erhöhen58. Der Risikozuschlag soll der Tatsache Rechnung tragen, dass die Investition in ein Unternehmen mit einem höheren Risiko als mit dem Kauf einer (quasi-)risikolosen Staatsanleihe verbunden ist59. Hierher gehören nicht nur solche Umstände, die bei der Ertragsprognose grundsätzlich berücksichtigt werden können, sondern auch außergewöhnliche Umstände wie Betriebsstörungen durch höhere Gewalt, Substanzverluste infolge Betriebsstilllegungen, Aufwendungen für Umstrukturierungsmaßnahmen, Insolvenz wichtiger Abnehmer, Veränderungen der Belegschaft und Ähnliches sowie das stets vorhandene Insolvenzrisiko60. In Bewertungsgutachten wird oft eine einheitliche Marktrisikoprämie zugrunde gelegt, was methodisch vertretbar ist, falls die Annahmen des Gutachters nachvollziehbar und plausibel sind. Risikoprämien aus der Vergangenheit ist zwar mit Vorsicht zu begegnen61 (für die Vergangenheit beobachtete Risikoprämien müssen angepasst werden, wenn für die Zukunft z. B. andere innere oder äußere Einflüsse erwartet werden)62; die konkrete Höhe des Risikozuschlages lässt sich aber insbesondere hinsichtlich des Grades der Risikoaversion in der Regel nur mit Hilfe von Typisierungen festlegen. Am Markt beobachtete Risikoprämien können dabei zumindest als Anhaltspunkte dienen, die an die Besonderheiten des konkreten Falles anzupassen sind63. Jedenfalls bei – methodisch zulässigem – Zugrundelegen eines längeren Beobachtungszeitraums wurde bislang die Annahme einer einheitlichen Marktrisikoprämie von 5 % als vertretbar angesehen64. Dem Grundsatz der Laufzeitäquivalenz folgend müsste grundsätzlich eine an den zukünftigen Erwartungen orientierte Risikoprämie zur Abzinsung zukünftig erwarteter Ausschüttungen herangezogen werden. Die zur Schätzung zukünftiger Risikoprämien bekannten Verfahren sind nach Ansicht einiger Unternehmensbewertungssachverständiger aber nicht ausgereift. Sie greifen deshalb auf empirische, vergangenheitsorientierte Markrisikoprämien zurück, was methodisch und bewertungsrechtlich im Grundsatz nicht zu beanstanden ist. Zur Bestimmung der Marktrisikoprämie greifen Gutachter u. a. auf einen aktuellen Renditevergleich zwischen Aktien und festverzinslichen Wertpapieren zurück. Danach beläuft sich die durchschnittliche Marktrisikoprämie für den deutschen Kapitalmarkt un-

__________ 58 Vgl. OLG Stuttgart, AG 2004, 43, 46 m. w. N.; OLG München, Beschluss vom 31.3.2008 – 31 Wx 88/06, BBL2008-937-2; siehe auch Großfeld (Fn. 2), S. 122. 59 Siehe nur Kruschwitz/Löffler, WPg 2008, 803, 806; IDW S 1 (2008) Tz. 88, FN-IDW 7/2008, 271, 282. 60 Vgl. OLG Düsseldorf, NZG 2000, 323, 325. 61 Siehe Großfeld (Fn. 2), S. 128. 62 Kruschwitz/Löffler, WPg 2008, 803, 806–807. 63 Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 91, FN-IDW 7/2008, 271, 282. 64 Vgl. Großfeld/Stöver/Tönnes, BB 2005, BB-Special 7, S. 2, 4; Wüstemann, BB 2008, 1499, 1501–1502 (mit Rspr.-Nachw.); vgl. Schiedsspruch vom 4.11.2005 – DIS-SV-B 710/97, SchiedsVZ 2007, 219, 222 (per Ebke).

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ter Zugrundelegung möglichst langer Zeiträume auf ca. 5 %65. Empirische Untersuchungen über Zeiträume vor der Steuerreform 2000 haben überwiegend Marktrisikoprämien zwischen 5 und 6 % ermittelt66. Stehle hat auf Grund einer langfristigen Betrachtung für den deutschen Kapitalmarkt Marktrisikoprämien vor Einkommensteuer in Höhe von 4 % bis 5 % und unter Berücksichtigung des Halbeinkünfteverfahrens Marktrisikoprämien nach Einkommensteuer von 5 % bis 6 % (Inländer, Steuersatz 35 %) als sachgerecht erachtet67. Die bislang gebräuchliche Bandbreite der Marktrisikoprämie kann sich aufgrund der Unternehmensteuerreform 2008 nach den Berechnungen von Wagner/Saur/Willershausen jedoch leicht verschieben68. Für notwendige Anpassungen aufgrund des unternehmensspezifischen operativen Risikos aus der Art der betrieblichen Tätigkeit oder dem vom Verschuldungsgrad beeinflussten Kapitalstrukturrisiko muss die darlegungs- und beweisbelastete Partei im (schieds-)gerichtlichen Verfahren das Notwendige vortragen. Die in (schieds-)gerichtlichen Verfahren bisweilen vertretene Ansicht, wegen der Verlustausgleichsverpflichtung auf Grund des Beherrschungsvertrages bestehe für das zu bewertende Unternehmen überhaupt kein Risiko, demzufolge sei kein Risikozuschlag anzusetzen, überzeugt nicht. Wenn die Bewertung anlässlich des Abschlusses eines Beherrschungsvertrages erfolgt, sind die materiellrechtlichen Folgen dieses Vertrages nicht bereits in der Unternehmensbewertung selbst abzubilden. Vielmehr hat die Bewertung auf „stand alone“-Basis zu erfolgen. Im Übrigen trifft es nicht zu, dass sich bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages für das abhängige Unternehmen keinerlei Risiken mehr ergeben können. Zwar besteht eine Verlustübernahmeverpflichtung des herrschenden Unternehmens; Aufhebungs-, Kündigungs- und Ausfallrisiken bestehen aber weiter69. c) Abschläge Für die ewige Rente ist u.U. ein Wachstumsabschlag anzusetzen70. Angesichts der Unwägbarkeiten globaler Märkte ist der Wachstumsabschlag jedoch eher zurückhaltend anzusetzen71. Der Wachstumsabschlag bildet nicht nur Überlegungen zur Überwälzbarkeit von Preissteigerungen ab, sondern auch Über-

__________ 65 Vgl. Deutsches Aktieninstitut, Aktie versus Rente, 2004. 66 Siehe WP-Handbuch, Bd. II (Fn. 35), S. 73 Fn. 430. 67 Stehle, Die Festlegung der Risikoprämie von Aktien im Rahmen der Schätzung des Wertes von börsennotierten Kapitalgesellschaften, WPg 2004, 906, 910. Zur Reaktion auf die Studie von Stehle siehe etwa Reese, Schätzung von Eigenkapitalkosten für die Unternehmensbewertung, 2007, S. 33–34. 68 Wagner/Saur/Willershausen, WPg 2008, 731, 737–741. Siehe auch Jonas, Relevanz persönlicher Steuern?, WPg 2008, 826, 831–832. 69 Zur Beendigung von Unternehmensverträgen und zu den Folgen einer Insolvenz siehe nur Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 8. Aufl. 2005, S. 246–266. 70 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23.1.2008 – I-26 W 6/06, BBL2008-1503-6; OLG München, Beschluss vom 31.3.2008 – 31 Wx 88/06, BBL2008-937-2. 71 Vgl. Großfeld (Fn. 2), S. 143–145 m. w. N.; vgl. Schiedsspruch vom 4.11.2005 – DISSV-B 710/97, SchiedsVZ 2007, 219, 223 (per Ebke).

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legungen zu Mengen- und Strukturveränderungen, wie sie etwa durch Umsatzausweitungen bzw. Umsatzeinbrüche sowie Kosteneinsparungen bzw. Kostenerhöhungen hervorgerufen werden können. Die Annahme einer vollständigen Überwälzbarkeit von Preissteigerungen auf die Beschaffungsseite ist als eher unrealistisch einzuschätzen; die Annahme moderater Mengen- und Strukturveränderungen wird in vielen Fällen eher wahrscheinlich sein72. Bei hohen Wachstumsannahmen wird es außerdem erforderlich sein, in dem Bewertungsmodell zusätzlich die Finanzierung des Wachstums abzubilden. Im Ergebnis wären daher bei der Ableitung der ewigen Rente Thesaurierungsannahmen zu treffen, die sich Wert mindernd auswirken würden. d) Ertragsteuern Nach IDW S 1 (2008) werden die vorgenannten Größen je nach Art der Typisierung entweder vor oder nach persönlichen Ertragsteuern angesetzt73. Ob die persönliche Einkommensteuer (ggf. mit Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag) bei der Unternehmensbewertung überhaupt zu berücksichtigen ist, war lange Zeit umstritten74. Die Grundsätze in der Stellungnahme HFA 2/1983, in IDW S 1 (2000) sowie in IDW S 1 (2005) wichen voneinander ab75. IDW S 1 (2008) folgt der heute unter Juristen und Betriebswirten verbreiteten Ansicht, dass wegen der Wertrelevanz der persönlichen Ertragsteuern zur Ermittlung des objektivierten Unternehmenswertes Anlass bezogene Typisierungen der steuerlichen Verhältnisse der Anteilseigner erforderlich sind76. Konzeptionell und methodisch unterscheidet IDW S 1 (2008) in diesem Zusammenhang zwischen mittelbarer und unmittelbarer Typisierung der persönlichen Ertragsteuer77. Die mittelbare Typisierung der persönlichen Ertragsteuer, die in der Praxis insbesondere bei Bewertungen für Zwecke einer (Kapitalmarkt orientierten) Information und Kommunikation bei unternehmerischen Initiativen als sach-

__________ 72 Vgl. Wüstemann, BB 2008, 1499, 1502 unter Hinweis auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23.1.2008 – I-26 W 6/06, BBL2008-1503-6, und OLG München, Beschluss vom 31.3.2008 – Wx 88/06, BBL2008-937-2. 73 IDW S 1 (2008) Tz. 30 und 31, FN-IDW 7/2008, 271, 276. 74 Siehe etwa BGH, AG 1983, 188, 190 (verneinend, weil zur „Privatsphäre“ des Anteilseigners gehörend); siehe auch OLG Düsseldorf, DB 2000, 81, 84. A. A. aus betriebswirtschaftlicher Sicht schon Engels, Betriebswirtschaftliche Bewertungslehre im Lichte der Entscheidungstheorie, 1962, S. 122 ff.; Wagner, Der Einfluß der Einkommensteuer auf die Entscheidung über den Verkauf einer Unternehmung, DB 1972, 1637. Aus US-amerikanischer Sicht siehe Koller/Goedhart/Wessels, Valuation, 4. Aufl. 2005, S. 586 und 587. 75 Jonas, WPg 2008, 826, 827; Laas, Einkommensteuerwirkungen bei der Unternehmensbewertung, WPg 2006, 290. 76 Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 29 und 43, FN-IDW 7/2008, 271, 276 und 277–278. Siehe dazu näher Heintzen/Kruschwitz/Löffler/Maiterth, Die typisierende Berücksichtigung der persönlichen Steuerbelastung des Anteilseigners beim squeeze-out, ZfB 2008, 275; Maiterth/Müller/Broekelschen, Anmerkungen zum typisierten Ertragsteuersatz des IDW in der objektivierten Unternehmensbewertung, DBW 2008, 239. 77 IDW S 1 (2008) Tz. 30 und 31, FN-IDW 7/2008, 271, 276.

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gerecht angesehen wird, stellt zur Berücksichtigung der persönlichen Ertragsteuer auf die steuerlichen Verhältnisse der Gesamtheit aller Kapitalmarktteilnehmer ab78. Dies geschieht durch den Rückgriff auf beobachtbare Vorsteuerrenditen, in denen die steuerlichen Verhältnisse der Kapitalmarktteilnehmer in Form der Renditeforderungen vor Ertragsteuern implizit bzw. mittelbar zum Ausdruck kommen. Auf eine explizite Berücksichtigung persönlicher Ertragsteuern kann deshalb verzichtet werden79. Bei der unmittelbaren Typisierung im Rahmen objektivierter Unternehmensbewertungen, die vor allem bei gesetzlichen oder vertraglichen Bewertungsanlässen zum Zuge kommt, wird bei dem Ansatz der persönlichen Ertragsteuern im Zähler und im Nenner des Bewertungskalküls auf die steuerlichen Verhältnisse eines näher bestimmten Typs von Anteilseigner abgestellt80. Bei aktien- und umwandlungsrechtlichen Bewertungsanlässen ist dabei nach der Rechtsprechung typisierend von einer unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Person mit Wohnsitz im Inland und Halten der Beteiligung im Privatvermögen auszugehen81. Bei der Ermittlung des risikofreien Basiszinssatzes führt die Unternehmensteuerreform 2008 für die unmittelbare Typisierung zu einer wesentlichen Änderung: Wegen der ab dem 1.1.2009 geltenden Abgeltungssteuer auf Anteilskursgewinne wird bei unmittelbarer Typisierung der Basiszinssatz nach persönlicher Ertragsteuer um die dann geltende Steuerbelastung gekürzt82. 5. Nichtbetriebsnotwendiges Vermögen Bei der Bewertung des gesamten Unternehmens zum Zukunftserfolgswert müssen die nicht betriebsnotwendigen Vermögensgegenstände einschließlich der dazu gehörigen Schulden unter Berücksichtigung ihrer bestmöglichen Verwertung gesondert bewertet werden. Unter nicht betriebsnotwendigem Vermögen versteht man Vermögensgegenstände, die deswegen nicht als betriebsnotwendiges Vermögen einzustufen sind, weil sie frei veräußert werden können, ohne dass die eigentliche Unternehmensaufgabe berührt wird (funktionales Abgrenzungskriterium)83. Nicht betriebsnotwendige Vermögensgegenstände sind im Rahmen der Ertragswertmethode mit ihrem Veräußerungserlös anzusetzen. a) Betriebsnotwendigkeit Die „Betriebsnotwendigkeit“ beurteilt die Betriebswirtschaftslehre vom Standpunkt einer „bestmöglichen“ Verwertung der Vermögensgegenstände des Un-

__________ 78 79 80 81 82 83

IDW S 1 (2008) Tz. 30, FN-IDW 7/2008, 271, 276. Wagner/Saur/Willershausen, WPg 2008, 731, 733–734. IDW S 1 (2008) Tz. 31, FN-IDW 7/2008, 271, 276. Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 31, FN-IDW 7/2008, 271, 276. Wagner/Saur/Willershausen, WPg 2008, 731, 737; vgl. Großfeld (Fn. 2), S. 141. Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 59, FN-IDW 7/2008, 271, 279. Ebenso Hüttemann, Rechtsfragen der Unternehmensbewertung, in: Heintzen/Kruschwitz (Hrsg.), Unternehmen bewerten, 2003, S. 150, 163–164.

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ternehmens danach, ob der Liquidationserlös bei Veräußerung höher ist als der Barwert der finanziellen Überschüsse bei Verbleib im Unternehmen84. Sofern der Liquidationswert der betreffenden Vermögensgegenstände den Barwert ihrer finanziellen Überschüsse bei Verbleib im Unternehmen übersteigt, stellt nicht die andernfalls zu unterstellende Fortführung der bisherigen Nutzung, sondern die Liquidation die vorteilhaftere Verwertung dar. Für die Ermittlung des Gesamtwertes ist dann der Liquidationswert des nicht betriebsnotwendigen Vermögens dem Barwert der finanziellen Überschüsse des betriebsnotwendigen Vermögens hinzuzufügen85. Bei der Bewertung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens mit dem Liquidationswert sind die Kosten der Liquidation von den Liquidationserlösen abzusetzen86. Soweit den nicht betriebsnotwendigen Vermögensteilen Verbindlichkeiten zuzurechnen sind, müssen die aus der Veräußerung der Vermögensteile zu erzielenden Liquidationserlöse um die bei der Ablösung der zugehörigen Schulden anfallenden Ausgaben gekürzt werden87. b) Rechtsprechung Der – auch juristisch sinnvolle – betriebswirtschaftliche Ansatz hat sich in der Rechtsprechung in dieser Deutlichkeit allerdings noch nicht durchgesetzt. So hat das BayObLG in der Paulaner-Entscheidung hinsichtlich der Betriebsnotwendigkeit der Pächtergaststätten einer Brauerei auf die „Üblichkeit“ solchen Grundbesitzes in der Brauereibranche abgestellt88. Das OLG Düsseldorf hat sich bei der Feststellung der Betriebsnotwendigkeit von Unternehmensbeteiligungen mit einem Hinweis auf deren allgemeine betriebliche Funktion begnügt89. Das OLG Stuttgart90 hat unter Hinweis auf zwei jüngere Entscheidungen des OLG Düsseldorf91 betont, dass betriebsnotwendig jedenfalls solche Grundstücke sind, auf denen das Unternehmen sein Kerngeschäft betreibt. Noch weiter gehend ist im Schrifttum sogar die Ansicht vertreten worden, dass die Gerichte überhaupt nur auf die tatsächliche Unternehmenspolitik abstellen92. In Anbetracht des gesetzlichen Ziels der Ermittlung einer angemessenen Abfindung (§ 305 AktG) müssen sich außenstehende Aktionäre an den konkreten Entscheidungen der Unternehmensleitung aber nicht festhalten lassen.

__________ 84 In diesem Sinne auch IDW S 1 (2008), Tz. 60, FN-IDW 7/2008, 271, 279; vgl. Schiedsspruch vom 4.11.2005 – DIS-SV-B 710/97, SchiedsVZ 2007, 219, 223 (per Ebke). 85 Vgl. OLG Stuttgart, BB 2008, 580. 86 Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 61, FN-IDW 7/2008, 271, 279 (dort auch zur Berücksichtigung von Steuern auf Eigentümerebene). 87 Vgl. IDW S 1 (2008) Tz. 62, FN-IDW 7/2008, 271, 279. 88 BayObLG, AG 1995, 126, 128–129; siehe dazu Hüttemann, ZHR 162 (1998), 563, 592. 89 OLG Düsseldorf, AG 1999, 321, 324. 90 OLG Stuttgart, BB 2008, 580. 91 OLG Düsseldorf, AG 2003, 688; OLG Düsseldorf, AG 2002, 398. 92 Vgl. etwa Aha, Aktuelle Aspekte der Unternehmensbewertung im Spruchstellenverfahren, AG 1997, 26, 35.

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6. Vergleichswerte Der im Bieterverfahren zustande gekommene Kaufpreis, den die herrschende Unternehmung der beherrschten Gesellschaft für den Erwerb von Gesellschaftsanteilen gezahlt hat, kommt als Anhaltspunkt für eine Plausibilitätsbeurteilung im Rahmen der Unternehmensbewertung nur in sehr beschränktem Maße in Betracht93. Der nach dem Ertragswertverfahren ermittelte Unternehmenswert bzw. Wert der Gesellschaftsanteile beruht auf detailliert analysierten Daten zum Bewertungsobjekt, wohingegen der sich am Markt im Bieterverfahren gebildete Wert von Gesellschaftsanteilen Produkt der Nutzenschätzungen von Anbieter und Nachfragendem ist. Der Unternehmenswert repräsentiert den Barwert sämtlicher prognostizierter finanzieller Überschüsse. Die Kaufpreisbildung am Markt hängt dagegen in der Regel von vielfältigen weiteren Einflussfaktoren ab.

IV. Schluss Der vorstehende Beitrag hat einige zentrale Aspekte der komplexen Regeln und Grundsätze der Unternehmensbewertung und deren Auswirkungen auf Abfindungs- und Ausgleichsansprüche außenstehender Aktionäre nach §§ 304, 305 AktG aufgezeigt. Herausgearbeitet wurde ferner die Bedeutung der Grundsätze des IDW zur Durchführung von Unternehmensbewertungen. Die Vorläufer des unlängst in Kraft getretenen IDW S 1 (2008), also IDW S 1 (2005), IDW S 1 (2000) und HFA 2/1983, haben nicht nur in der Bewertungspraxis, sondern auch in der deutschen Rechtsprechung tiefe Spuren hinterlassen. IDW S 1 (2008) wird in der Bewertungspraxis sowie in der Rechtsprechung in Deutschland vermutlich ähnlich große Bedeutung erlangen. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie die Gerichte auf die zur Ermittlung des objektivierten Unternehmenswertes vorgeschlagenen Anlass bezogenen Typisierungen der ertragsteuerlichen Verhältnisse der Anteilseigner reagieren werden. Schwer einzuschätzen sind außerdem die Einflüsse der zunehmenden Internationalisierung der Rechnungslegung94 – und zwar sowohl der börsennotierten als auch der börsenunabhängigen Unternehmen95 – auf die Grundsätze der Unternehmensbewertung.

__________ 93 Vgl. Schiedsspruch vom 4.11.2005 – DIS-SV-B 710/97, SchiedsVZ 2007, 219, 224 (per Ebke). 94 Siehe auch Ballwieser, WPg 2008 Heft 12, S. I. 95 Siehe dazu zuletzt Ebke/Luttermann/Siegel (Hrsg.), Internationale Rechnungslegungsstandards für börsenunabhängige Unternehmen?, 2008.

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Insolvenzrechtliche Ausschüttungssperren Inhaltsübersicht I. Problemstellung II. Teleologie der Insolvenzanfechtung 1. Regelungsproblem a) Vermögensverschiebungen zulasten Dritter aa) Entziehung von Nettovermögen des Schuldners bb) Erfüllung einer Verbindlichkeit des Schuldners b) Bewertung von Vermögensverschiebungen aa) Aufgrund der Vermögensverschiebung drohender Schaden bb) Gegenläufige Interessen 2. Lösung durch das Anfechtungsrecht III. Insolvenzrechtliche und gesellschaftsrechtliche Ausschüttungssperren 1. Teleologie gesellschaftsrechtlicher Ausschüttungssperren 2. Gesellschaftsrechtliche Ausschüttungssperren als spezielle Regelung? 3. Übernahme der gesellschaftsrechtlichen Wertungen in das Insolvenzrecht? 4. Insbesondere: Verhältnis zur Existenzvernichtungshaftung

IV. Anfechtung von Ausschüttungen 1. Allgemeine Voraussetzungen a) Rechtshandlung b) Gläubigerbenachteiligung 2. Ausschüttungen als unentgeltliche Leistung (§ 134 InsO) 3. Ausschüttungen als vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung a) Grundtatbestand (§ 133 Abs. 1 InsO) aa) Vorsatz des Schuldners (1) Gläubigerbenachteiligung als Gegenstand des Vorsatzes (2) Anforderungen an den Benachteiligungsvorsatz bei Ausschüttungen bb) Kenntnis des anderen Teils b) Unmittelbar benachteiligende Verträge (§ 133 Abs. 2 InsO) 4. Analoge Anwendung des § 135 InsO auf Ausschüttungen? V. Kollisionsrechtlicher Epilog VI. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

I. Problemstellung Das Recht des Gläubigerschutzes bei Kapitalgesellschaften erlebt derzeit einen tief greifenden Wandel. Dessen beherrschendes Thema hat Karsten Schmidt vor wenigen Jahren kritisch auf den Nenner einer „Flucht aus dem Gesellschaftsrecht“ gebracht1. So verschiebt das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)2 unter anderem das bisherige Recht der kapitalersetzenden Gesellschafterkredite vollstän-

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1 Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 493, 496. 2 BT-Drucks. 16/6140 (Regierungsentwurf) und BT-Drucks. 16/9737 (Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses).

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dig in die Insolvenzordnung und schneidet zugleich den gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutz zurück. Zu denken ist auch an die Rechtsprechung zur Haftung von GmbH-Gesellschaftern. Vom Konzernrecht kommend ist sie zunächst als Durchgriffshaftung weiterhin gesellschaftsrechtlich begründet worden, um schließlich 2007 ihre neue Heimat in § 826 BGB und damit im Deliktsrecht zu finden3. Für die schleichende Abwanderung des Gläubigerschutzes aus dem Gesellschaftsrecht sind vor allem zwei Entwicklungen verantwortlich: Erstens werden die gesellschaftsrechtlichen Schutzkonzepte zunehmend in Frage gestellt. Insbesondere das System des gesetzlichen Nennkapitals mit seinen vorwirkenden Prüfungen und starren Verboten wird als kostenträchtig, aber auch lückenhaft kritisiert. Zweitens hat der EuGH über die Niederlassungsfreiheit im internationalen Gesellschaftsrecht (faktisch) eine Rechtswahl ermöglicht. Unternehmensgründer können mit dem deutschen Gesellschaftsrecht auch dessen Gläubigerschutzvorschriften aus dem Weg gehen. Ein Mindestschutzniveau ist daher nur noch außerhalb des Gesellschaftsrechts zu gewährleisten. Die folgenden Überlegungen loten ein wesentliches Element des außergesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes aus. Bei haftungsbeschränkten Rechtsformen stellt sich durchweg die Aufgabe, Ausschüttungen aus dem Gesellschaftsvermögen an die Anteilseigner zu kontrollieren. Bislang geschah dies vor allem über den gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutz. Im Folgenden soll demgegenüber untersucht werden, ob sich nicht auch das Recht der Insolvenzund Gläubigeranfechtung dazu eignet, Ausschüttungen sachgerecht zu begrenzen. Bedeutung hat dies zum einen für den Gläubigerschutz gegenüber ausländischen Kapitalgesellschaften mit faktischem Inlandssitz. Zum anderen wird zu zeigen sein, dass sich namentlich aus der Vorsatzanfechtung (§ 133 InsO4) schon nach geltendem Recht eine solvenzbezogene Ausschüttungssperre ergibt, die wesentliche Schwächen des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes vermeidet. Die Anwendung der Gläubiger- und Insolvenzanfechtung auf Ausschüttungen ist in Deutschland wenig untersucht5. Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu fragen, ob eine solche Ausweitung des Anfechtungsrechts nicht zu einer Zweckentfremdung führt. In einer ersten Annäherung wird daher die Teleologie der Anfechtungsregeln herausgearbeitet. Es erweist sich, dass die Kontrolle von Ausschüttungen ohne weiteres von der Zwecksetzung des Anfechtungsrechts umfasst ist (Abschnitt II.). Obwohl es dabei naturgemäß zu einer Überschneidung mit den gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren kommt,

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3 BGHZ 173, 246, Tz. 23 ff. (Trihotel). 4 Die Untersuchung bezieht sich sowohl auf die Anfechtung im Insolvenzverfahren als auch auf die Gläubigeranfechtung nach dem AnfG. Der Einfachheit halber werden nur die §§ 129 ff. InsO diskutiert. 5 Siehe aber Ehricke, Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, 1998, S. 15 ff.; Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, S. 153 ff.; Haas, ZIP 2006, 1373; allgemeiner Thole, KTS 2007, 293; im Zusammenhang kreditfinanzierter Unternehmenskäufe (leveraged buyouts) Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 669 ff., 681 f.

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werden die Anfechtungstatbestände nicht verdrängt. Stattdessen schließen die insolvenzrechtlichen Ausschüttungssperren eine bedeutende Lücke zwischen dem überkommenen, bilanzorientierten Kapitalschutz und der solvenzbezogenen, aber weitreichenden Haftung für existenzvernichtende Eingriffe (Abschnitt III.). Die Anfechtbarkeit richtet sich nach den einzelnen gesetzlichen Tatbeständen. Von entscheidender Bedeutung ist die Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung. Demgegenüber erweist sich die Anfechtung von Ausschüttungen als unentgeltliche Leistungen (§ 134 InsO) als wenig ergiebig. Nicht begründbar ist schließlich eine Analogie zur Anfechtung von Leistungen auf Gesellschafterdarlehen nach § 135 InsO (Abschnitt IV.). Anders als gesellschaftsrechtliche Ausschüttungssperren gelangen die Anfechtungstatbestände grundsätzlich auch bei der Inlandsinsolvenz von Auslandsgesellschaften zur Anwendung. Dabei sind allerdings Besonderheiten zu beachten (Abschnitt V.). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung seiner wesentlichen Ergebnisse (Abschnitt VI.).

II. Teleologie der Insolvenzanfechtung Ob sich die Insolvenzanfechtung zur Ausschüttungskontrolle eignet, hängt entscheidend vom gesetzlichen Zweck der Anfechtungstatbestände ab. Anders als das dogmatisch-konstruktive „Wesen“ der Anfechtung6 bleibt ihre teleologische Begründung bislang allerdings wenig greifbar7. Keinen eigenständigen Erklärungswert hat das mitunter genannte Ziel, die Insolvenzmasse anzureichern8. Ihm ist nicht zu entnehmen, wer – und aus welchem Grund – für eine solche Massemehrung aufkommen sollte. Genannt werden darüber hinaus zum einen die Gleichbehandlung der Gläubiger und zum anderen die Abwehr zu missbilligender Verhaltensweisen des Schuldners. Indes wird regelmäßig nicht näher erläutert, weshalb die anteilsmäßig gleiche Befriedigung der Gläubiger bereits vor dem Insolvenzverfahren eingreifen sollte9 und unter welchen Umständen vom Schuldner veranlasste Vermögensverschiebungen zu missbilligen sind10. Über allgemeine Formeln gelangt man nur hinaus, wenn man näher bestimmt, welches ökonomische Problem die Anfechtungsregeln lösen sollen (Abschnitt 1.). Erst auf dieser Grundlage lässt sich ihr Zweck umschreiben. Hieraus ergibt sich insbesondere, ob die Anfechtung zur Ausschüttungskontrolle taugt (Abschnitt 2.).

__________ 6 Zum Streit zwischen Dinglichkeitstheorie, schuld- und haftungsrechtlicher Theorie etwa Biehl, KTS 1999, 313; Bork in Bork (Hrsg.), Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, 2006, Kap. 1 Rz. 5 ff.; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 21.11 ff. 7 Ähnlich bereits Koziol, Grundlagen und Streitfragen der Gläubigeranfechtung, 1991, S. 2 f. 8 Vgl. Henckel in Jaeger, § 129 InsO Rz. 2; Kirchhof in MünchKomm.InsO, 2. Aufl. 2008, Vor §§ 129–147 InsO Rz. 3. 9 Vgl. aber Kirchhof (Fn. 8), Vor §§ 129–147 InsO Rz. 2. 10 Vgl. Thole, KTS 2007, 293, 300; Hirte in Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 129 InsO Rz. 1.

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1. Regelungsproblem Zur Analyse des Regelungsproblems der Insolvenzanfechtung empfiehlt es sich, in zwei Schritten vorzugehen. Zunächst ist zu beleuchten, unter welchen Umständen mit Vermögensverschiebungen zulasten außenstehender Dritter – nämlich der (anderen) Gläubiger des Schuldners – zu rechnen ist (Abschnitt a)). Hiervon zu trennen ist die weitere Frage, wie eine derartige (Selbst-)Begünstigung zu bewerten ist. Erst dieser zweite Analyseschritt entscheidet darüber, ob eine Transaktion der Anfechtung unterliegen sollte (Abschnitt b)). a) Vermögensverschiebungen zulasten Dritter Verteilungskonflikte treten im Wirtschaftsleben beinahe überall auf. Es kennzeichnet eine Marktwirtschaft, dass der Einzelne bei seinen Geschäften mit anderen einen möglichst hohen Gewinn für sich selbst anstrebt. Sofern die Betroffenen dabei ihre Interessen selbst wahrnehmen können, entsteht kein besonderer Regelungsbedarf. Vermögensverschiebungen vom Schuldner zu einer anderen Person sind für das Anfechtungsrecht nur von Interesse, wenn sie außenstehende Dritte belasten11. Unter gewöhnlichen Umständen ist das nicht der Fall, weil jedem Zugewinn des Empfängers eine entsprechende Werteinbuße des Schuldners (bzw. seiner Eigentümer) gegenübersteht. Schuldner und Begünstigter haben an der Verschiebung aber dann ein besonderes Interesse, wenn die Vermögensminderung wenigstens teilweise von Dritten getragen wird. Dabei lässt sich danach unterscheiden, ob das Nettovermögen des Schuldners verringert (Abschnitt aa)) oder eine gegen ihn gerichtete Forderung erfüllt wird (Abschnitt bb)). aa) Entziehung von Nettovermögen des Schuldners Das Nettovermögen des Schuldners wird gemindert, wenn er ohne vollwertige Gegenleistung Teile seines Aktivvermögens weggibt oder zusätzliche Verbindlichkeiten eingeht. Eine solche Vermögensverschiebung belastet im Ausgangspunkt den Schuldner selbst (bzw. seine Eigentümer). Dennoch kann dabei auch die Position Dritter beeinträchtigt werden: Zum einen kann das Nettovermögen unter Null sinken. Haften die Eigentümer des Schuldners beschränkt, treffen alle weiteren Eingriffe in das Nettovermögen die Gläubiger. Zum anderen nimmt die Ausfallgefahr der Gläubiger zu, wenn das (positive) Nettovermögen als Risikopuffer des Unternehmens sinkt. In diesem Sinne geht ein gemindertes Nettovermögen regelmäßig zumindest partiell zulasten der Gläubiger. Dass ein Teil der Einbuße des Schuldners von außenstehenden Dritten getragen wird, kann die Vermögensverschiebung für die an ihr Beteiligten interessant machen. Der Verlagerungsanreiz ist gering, solange sich die Ausfallgefahr

__________ 11 Zur Unmöglichkeit, einen Schutz vor solchen Transaktionen mit vertraglichen Mitteln zu erreichen Heaton, J. Fin. Intermed. 9 (2000), 169, 170 f.

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der außenstehenden Gläubiger nur wenig erhöht. Dies ändert sich in der Krise, wenn der Schuldner sein weniges noch verbliebenes Eigenkapital weggibt oder das Nettovermögen sogar schon negativ ist, so dass die Vermögensverschiebung ganz zulasten der Gläubiger geht. bb) Erfüllung einer Verbindlichkeit des Schuldners Erfüllt der Schuldner eine gegen ihn gerichtete Forderung, so mindert sich sein Nettovermögen nicht, weil mit den abfließenden Vermögenswerten zugleich die Verbindlichkeiten sinken. Bei einem gesunden Unternehmen besteht für einen Gläubiger grundsätzlich kein besonderes Interesse an sofortiger Befriedigung: Der wirtschaftliche Wert der Forderung entspricht ihrem Nominalwert. Dies ändert sich, wenn das Unternehmen in eine Krise gerät. Eine (vereinbarte) Verzinsung genügt dann zumeist nicht, um die gestiegene Ausfallgefahr aufzuwiegen. Folglich sinkt der wirtschaftliche Wert der Forderung unter ihren Nennbetrag. Wird ein Gläubiger unter solchen Umständen befriedigt, so erzielt er einen Gewinn in Höhe der Differenz zwischen wirtschaftlichem Wert und Nominalwert. Zugleich bleiben das Nettovermögen und damit die Position des Schuldners (bzw. seiner Eigentümer) unverändert12. Der Unterschiedsbetrag geht zulasten der anderen Gläubiger, deren Befriedigungsaussichten sich entsprechend verschlechtern. b) Bewertung von Vermögensverschiebungen Wenn sich die Beteiligten einer Transaktion zulasten Dritter einen Vermögensvorteil verschaffen, ist dies gesamtwirtschaftlich noch nicht mit einem Schaden gleichzusetzen, der ein rechtliches Eingreifen erforderlich machen würde. Ein Regelungsproblem ergibt sich vielmehr nur, wenn es zu gesamtwirtschaftlichen Einbußen kommt (Abschnitt aa)). Diesen können wiederum andere Interessen gegenüberstehen, die es geboten erscheinen lassen, eine mögliche Vermögensverschiebung dennoch zuzulassen (Abschnitt bb)). aa) Aufgrund der Vermögensverschiebung drohender Schaden Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Vermögenseinbuße der betroffenen Gläubiger als Schaden anzusehen. Vom wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterium ist dies jedoch nicht gedeckt: Die bloße (Um-)Verteilung von Vermögenswerten wirkt sich auf den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand nicht aus. Eine ökonomische Begründung muss daher bei den Nebenfolgen der Vermögensverschiebung ansetzen. Allgemein sind Konflikte über die Verteilung von wirtschaftlichen Werten mit erheblichen Kosten verbunden13. Im Zu-

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12 Allerdings wird die Befriedigung des Gläubigers dem Unternehmen häufig dringend benötigte Mittel entziehen. Die verschlechterten Fortführungsaussichten gehen auch zulasten des Schuldners bzw. seiner Eigentümer. 13 In der ökonomischen Theorie bringt man dies auf den Begriff eines kostspieligen „Rentenstrebens“ (rent seeking), grundlegend Tullock, W. Econ. J. 5 (1967), 224; Krueger, Am. Econ. Rev. 64 (1974), 291.

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sammenhang mit der drohenden Insolvenz eines Unternehmens können sich gesamtwirtschaftliche Einbußen daraus ergeben, dass ein Streben nach Sondervorteilen das gemeinsame Interesse der Gesellschafter, Gläubiger und anderer Beteiligter an einer Erhaltung bzw. Mehrung des Unternehmenswertes unterminiert. So sind insbesondere die maßgeblichen Kreditgeber als Sachwalter der Gläubigergesamtheit in der Lage, auf die Unternehmensführung einzuwirken und nötigenfalls einen Wechsel der Geschäftsleitung oder ein Insolvenzverfahren auszulösen, um den Abbruch einer verfehlten Unternehmensstrategie zu erzwingen. Das Anfechtungsrecht erschwert es dem Schuldner, seine Überwacher in der Krise gleichsam zu bestechen, um eine riskante Geschäftspolitik fortsetzen zu können14. Damit fördert es die Ausrichtung einflussreicher Kreditgeber auf das gemeinschaftliche Gläubigerinteresse. Ähnliches gilt für andere Unternehmensbeteiligte, insbesondere die Gesellschafter. Auch sie werden stärker auf die Mehrung des (verbliebenen) Unternehmenswertes festgelegt, wenn ihnen die Möglichkeit abgeschnitten wird, den Schuldner in letzter Minute auszuplündern15. Die Gefahr einer Selbstbegünstigung einflussreicher Unternehmensbeteiligter kann ferner zu schädlichen Abwehrmaßnahmen außenstehender Gläubiger führen. Um sich gegen eine (vermeintlich) drohende Ausbeutung durch „Insider“ zu sichern, werden sie versuchen, den eigenen Kredit möglichst schnell zurückzuführen. Ausgelöst wird damit ein zerstörerischer Wettlauf der Gläubiger auf das verbliebene Schuldnervermögen, den das Insolvenzrecht gerade verhindern sollte16. Auch insoweit rückt das Anfechtungsrecht das gemeinsame Interesse an der Erhöhung des Unternehmenswertes in den Vordergrund, indem es das Vertrauen in das Verhalten der „Insider“ stärkt. bb) Gegenläufige Interessen Selbst wenn eine gewisse Gefahr von kostspieligen Verteilungskämpfen besteht, brauchen Vermögensverschiebungen nicht in jedem Falle wertmindernd zu sein. Für gewöhnlich werden die Beziehungen zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigern nicht kollektiv in einem Insolvenzverfahren, sondern individuell abgewickelt. Dies ist nicht nur einfacher, sondern erfüllt auch eine

__________ 14 Vgl. Adler, U. Chi. L. Rev. 62 (1995), 590 ff. (Bereitschaft zur Finanzierung wertmindernder, riskanter Investitionen im Gegenzug für Nachbesicherung bestehender Kredite); vgl. auch Engert, Die Haftung für drittschädigende Kreditgewährung, 2005, S. 115 f. 15 Hierzu gehört auch, dass die Anteilseigner umso eher zu einer sorgfältigen Unternehmensführung neigen werden, je mehr Eigenkapital die Gesellschaft noch hat, grundlegend Alchian/Demsetz, Am. Econ. Rev. 62 (1972), 777, 782 f.; zum Risikoanreiz bei geringem Eigenkapital ferner Jensen/Meckling, J. Fin. Econ. 3 (1976), 306, 334 ff. 16 Zu dieser Begründung des Anfechtungsrechts bei Gläubigerbevorzugung (preference) Jackson, The Logic and Limits of Bankruptcy Law, 1986, S. 124 ff. Zur Rationalisierung des Insolvenzrechts als Instrument zur Bewältigung eines common poolProblems der Gläubiger vgl. Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, 1999, S. 17 ff.

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disziplinierende Funktion: Der Schuldner muss jeden einzelnen seiner Gläubiger bei Fälligkeit entweder auszahlen oder davon überzeugen, dass er weiterhin kreditwürdig ist. So kann ein wichtiger Kreditgeber den Schuldner an einer übermäßig riskanten Geschäftspolitik hindern, indem er sich für diesen Fall ein Kündigungsrecht einräumen lässt. Die individuelle Durchsetzung von Gläubigerrechten erhöht so den Unternehmenswert insgesamt. Diese Möglichkeit würde geschwächt, wenn ein Kreditgeber in jeder Lage damit rechnen müsste, eine erlangte Befriedigung zugunsten einer gleichen Verteilung herausgeben zu müssen. Ähnliche Überlegungen gelten nicht nur für die Erfüllung von Ansprüchen, sondern auch bei anderen Geschäften und namentlich bei Ausschüttungen. Obwohl Eigenkapital die Insolvenzwahrscheinlichkeit verringert, kann eine zu großzügige Ausstattung den Wert des Unternehmens beeinträchtigen17. Der Schuldner sollte daher unter gewöhnlichen Umständen Teile seines Nettovermögens an seine beschränkt haftenden Eigentümer auskehren dürfen, auch wenn damit zwangsläufig die Ausfallgefahr der Gläubiger steigt. Das paradigmatische Beispiel ist die Zahlung von Dividenden, mit der ein schleichendes Überhandnehmen der Eigenkapitalfinanzierung verhindert wird. 2. Lösung durch das Anfechtungsrecht Der Zweck des Anfechtungsrechts lässt sich nach alledem wie folgt zusammenfassen: Geschützt werden soll die Ausrichtung der Unternehmensbeteiligten – insbesondere des Schuldners selbst bzw. seiner Eigentümer und wichtiger Gläubiger – auf das Ziel einer Erhöhung des Unternehmenswerts. Indem bestimmte Sondervorteile rückgängig gemacht werden können, verringert sich der Anreiz zu selbstbegünstigendem Verhalten; der Einsatz für das gemeinsame Interesse an Wertsteigerung wird relativ lohnender18. Die im Schrifttum bisher genannten Schutzrichtungen – Gleichbehandlung der Gläubiger und Abwehr gläubigerschädigender Handlungen – lassen sich auf diese einheitliche Teleologie zurückführen. Dabei erweist sich die Gewährleistung der par conditio creditorum als ein besonderer Anwendungsfall, näm-

__________ 17 Zum einen lohnen sich für die Gesellschafter bei geringerem Kapitaleinsatz größere persönliche Anstrengungen, zu diesem „Hebeleffekt“ stv. Ross/Westerfield/Jaffe, Corporate Finance, 7. Aufl. 2005, S. 405 ff. Zum anderen zügelt ein gewisses Insolvenzrisiko die Begehrlichkeiten und den Eigensinn anderer Unternehmensbeteiligter, insbesondere von Fremdgeschäftsleitern und Arbeitnehmern, vgl. nur Jensen, Am. Econ. Rev. 76 (1986), 323, 324. 18 Die Anfechtbarkeit erscheint zwar als schwache Sanktion, weil der Betroffene schlimmstenfalls nur das Erlangte herausgeben muss, während er immerhin eine gewisse Chance hat, der Anfechtung zu entgehen und den Vorteil behalten zu können, vgl. Adler, U. Chi. L. Rev. 62 (1995), 575, 578 ff.; in diesem Sinne bereits McCoid, Va. L. Rev. 67 (1981), 249, 264 f. („much to gain and little to lose“); vgl. auch Jackson (Fn. 16), S. 137 f. Gerade einflussreiche Unternehmensbeteiligte verringern mit einer Ausplünderung des Schuldners aber zugleich die Chance, eine Insolvenz abzuwenden. In einer Gesamtbetrachtung kann das Anfechtungsrisiko durchaus den Ausschlag für das erwünschte Verhalten geben.

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lich bei Vermögensverschiebungen durch die Erfüllung von Verbindlichkeiten19. Betrachtet man die einzelnen Anfechtungstatbestände, so beschränkt sich zwar die Deckungsanfechtung der §§ 130, 131 InsO auf diese Konstellation. Andere Tatbestände, insbesondere die Vorsatzanfechtung, spiegeln die dargelegte Teleologie aber in voller Breite wider20. Es erscheint daher überzeugender, von einer einheitlichen Teleologie auszugehen, die in einzelnen Tatbeständen ausdifferenziert wird21. Diese (einheitliche) Zwecksetzung des Anfechtungsrechts umfasst auch die Anteilseigner des Schuldners. Die Kontrolle von Ausschüttungen bildet damit ein selbstverständliches Anwendungsfeld der Anfechtungstatbestände.

III. Insolvenzrechtliche und gesellschaftsrechtliche Ausschüttungssperren Auch der gesellschaftsrechtliche Kapitalschutz dient der Ausschüttungsbegrenzung (Abschnitt 1.). Da er das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Anteilseignern besonders erfasst, liegt es nahe, in ihm eine spezielle und abschließende Regelung zu sehen. Richtigerweise verdrängt er die Insolvenzanfechtung aber nicht (Abschnitt 2.). Die beiden Regelungskomplexe sind auch nicht in der Weise aufeinander abzustimmen, dass den gesellschaftsrechtlichen Wertungen eine Führungsrolle zufallen müsste (Abschnitt 3.). Stattdessen füllen die insolvenzrechtlichen Ausschüttungssperren eine Lücke zwischen dem gesetzlichen Kapitalschutz und der von der Rechtsprechung entwickelten Existenzvernichtungshaftung (Abschnitt 4.). 1. Teleologie gesellschaftsrechtlicher Ausschüttungssperren Das Gesellschaftsrecht regelt eingehend, in welchem Umfang, auf welche Weise und in welchem Verfahren eine Gesellschaft ihren Anteilseignern Vermögensvorteile zuwenden darf. Besonders hervorzuheben sind die Kapitalerhaltung und – bei der Aktiengesellschaft – die umfassende Vermögensbindung (§ 30 Abs. 1 GmbHG, § 57 AktG)22. Die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren dienen maßgeblich (auch) dem Schutz der Gläubiger und entsprechen insoweit der oben herausgearbeiteten Stoßrichtung der Insolvenzanfechtung gegen die Entziehung von Nettovermögen23. Die beiden Rege-

__________ 19 Oben II.1.a) bb). Hierunter fällt natürlich auch die Besicherung einer Forderung. 20 Vgl. BGHZ 162, 143, 150 (Bevorzugung einzelner Gläubiger als vorsätzliche Benachteiligung). Abw. wohl Thole, KTS 2007, 293, 299 f. mit der Aussage, der Gleichbehandlungsgrundsatz erkläre die Vorsatzanfechtung „allenfalls in ihrer Rechtsfolge“. 21 Für einen grundlegenden Unterschied zwischen Bevorzugung und (sonstiger) Gläubigerbenachteiligung aber Foerste, NZI 2006, 6, 7; Thole, KTS 2007, 293, 299 f.; Häsemeyer (Fn. 6), Rz. 21.05 ff.; aus Sicht des US-amerikanischen Rechts Jackson (Fn. 16), S. 149 f. 22 Vergleichbare Regelungen für andere beschränkt haftende Gesellschafter enthalten § 172 HGB, § 22 Abs. 4 Satz 1 GenG. 23 Oben II.1.a) aa).

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lungskomplexe unterscheiden sich nicht etwa dadurch, dass die Kapitalerhaltung der Insolvenzvorbeugung dient, während die Anfechtung nur die Insolvenzmasse vergrößern soll24. Wäre der Zweck der Anfechtung so eingeengt, müsste die angegriffene Rechtshandlung die Insolvenzmasse wirklich geschmälert haben. Gerade eine solche Voraussetzung enthalten die Anfechtungstatbestände aber (zu Recht) nicht25, eben weil ihre ratio legis auch darin liegt, ein durch die Weggabe erhöhtes Insolvenzrisiko zu sanktionieren. Im Ergebnis erfassen die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren somit dasselbe Regelungsproblem wie die Insolvenzanfechtung. 2. Gesellschaftsrechtliche Ausschüttungssperren als spezielle Regelung? Die „teleologische und rechtstechnische Verwandtschaft“26 zwischen gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren und Insolvenzanfechtung wirft die Frage auf, ob einer der beiden Regelungskomplexe von dem anderen verdrängt wird. Dabei könnte sich nur das Gesellschaftsrecht durchsetzen, weil es sich auf Ausschüttungen beschränkt und damit die speziellere Regelung bildet. Dem geltenden Recht lässt sich ein solcher Vorrang indes nicht entnehmen. Gegen eine Verdrängung der Anfechtungstatbestände spricht § 138 Abs. 2 Nr. 1 InsO, der Gesellschafter mit einer Kapitalbeteiligung von mehr als einem Viertel als „nahe stehende Personen“ erfasst. Die Anfechtung von Transaktionen der Gesellschaft mit einem solchen Anteilseigner würde einen großen Teil ihres Anwendungsbereichs verlieren, wenn (verdeckte) Ausschüttungen nur an § 30 Abs. 1 GmbHG, § 57 AktG zu messen wären27. Entscheidend ist aber eine teleologische Überlegung: Eine Verdrängung der Insolvenzanfechtung könnte nur den Sinn haben, die Anteilseigner in ihrem Vertrauen auf die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit der Ausschüttung zu schützen. Dies wäre jedoch fragwürdig. Zum einen würde es nicht einleuchten, die Gesellschafter auf diese Weise gegenüber anderen Unternehmensbeteiligten zu privilegieren. Während die Anteilseigner ihre Entnahmen mit der handelsbilanziellen Vermögensmessung rechtfertigen könnten, auch wenn die Gesellschaft bereits in unruhiges Fahrwasser geraten ist28, müssten sich Banken bereits die Inkongruenz einer Sicherung entgegenhalten lassen29. Zum anderen sind die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren in der Sache ergänzungsbedürftig. Ein Beispiel ist deren eben erwähnte Bilanzorientierung, in der sich die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft nur unvollkommen wider-

__________ 24 So aber wohl Haas, ZIP 2006, 1373, 1374. 25 Unten Fn. 54 und zugehöriger Text. 26 Grigoleit (Fn. 5), S. 153. Vgl. auch Wilhelm in FS Flume, 1978, S. 337, 388 („anfechtungsrechtliche[r] Charakter der Rückgewährregelung“). 27 BGHZ 58, 20 betrifft eine Vorsatzanfechtung (bzw. seinerzeit „Absichtsanfechtung“) in einem Fall, dem eindeutig eine verdeckte Ausschüttung zugrunde lag. 28 Beispiele für die Unvorsichtigkeit der handelsbilanziellen Bewertung bei Schön, ZHR 168 (2004), 268, 285; Engert, ZHR 170 (2006), 296, 312 f. 29 Zur Inkongruenz als Beweisanzeichen im Rahmen der zehnjährigen Vorsatzanfechtung unten Fn. 71 f. und zugehöriger Text.

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spiegelt. Ein anderer Mangel besteht darin, dass bestimmte Vermögensverlagerungen nicht als Auszahlungen (§ 30 Abs. 1 GmbHG) bzw. als Einlagenrückgewähr (§ 57 Abs. 1 AktG) angesehen werden30. Dies gilt etwa, wenn die Gesellschaft ihren Kundenstamm überträgt oder ein vorteilhaftes Dauerschuldverhältnis kündigt, damit ein Anteilseigner den Vertrag „übernehmen“ kann. Die vom BGH entwickelte Gesellschafterhaftung wegen existenzvernichtender Eingriffe wird unter anderem mit dieser Lücke begründet31. Hier könnte bereits die Insolvenzanfechtung eine Pflicht zur Rückgewähr oder zum Wertersatz (§ 143 Abs. 1 Satz 2 InsO) begründen32. Schließlich sind die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren noch in einer weiteren Hinsicht ergänzungsbedürftig, nachdem sich im internationalen Gesellschaftsrecht die Gründungsanknüpfung durchgesetzt hat. Zumindest manche kleine Vertragspartner und gesetzliche Gläubiger können sich nicht wehren, wenn ein ausländisches Gesellschaftsrecht ihre Belange nicht ausreichend berücksichtigt. Ein Wettbewerb der Gesellschaftsrechte erfordert einen Mindestschutz für solche „nicht anpassungsfähigen“33 Unternehmensbeteiligten. Das nationale Insolvenzrecht kann einen solchen Ordnungsrahmen bereitstellen, weil es – anders als das Gesellschaftsrecht – grundsätzlich nicht zur Disposition der Gesellschafter, Geschäftsleiter und anderer mächtiger Akteure steht34. Gegen eine Spezialität der gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren spricht daher auch, dass sich die Anfechtungstatbestände nur zurückziehen sollten, wenn das Gesellschaftsrecht ihre Aufgabe vollwertig übernimmt. Dies ist spätestens seit dem Übergang zur Gründungstheorie nicht mehr gewährleistet. 3. Übernahme der gesellschaftsrechtlichen Wertungen in das Insolvenzrecht? Auch wenn die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren die Insolvenzanfechtung nicht verdrängen, könnten doch immerhin ihre Wertungen im Insolvenzrecht zu berücksichtigen sein. Zwingend ist das wenigstens in dem Sinne, dass die Anfechtungstatbestände die gesellschaftsrechtlichen Regelungen nicht auf den Kopf stellen dürfen. Dies wirkt sich insbesondere auf die

__________ 30 Allerdings dürfte die h. M. den gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsbegriff zu eng fassen, indem sie ihn an der Bilanzwirkung ausrichtet, stv. Grigoleit (Fn. 5), S. 87 ff. m. w. N. 31 Vgl. BGHZ 151, 181, 187 (KBV) und BGHZ 173, 246, Tz. 16, 24 (Trihotel), jeweils mit Verweis auf Röhricht in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 83, 93 ff.; vgl. ferner nun die Begründung zu § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG n. F. in BT-Drucks. 16/6140, S. 46. 32 Vgl. Nassall, ZIP 2003, 969, 974 ff.; Rubner, DStR 2005, 1694, 1695. Zur Existenzvernichtungshaftung sogleich unter III.4. 33 Zu diesem Begriff Bebchuk/Fried, Yale L.J. 105 (1996), 857, 864. 34 Das Zuständigkeitskriterium des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO ist allerdings manipulationsanfällig, vgl. Eidenmüller, ZGR 2005, 467, 474 ff.; Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 669; Klöhn, KTS 2006, 259, 272 ff.; Thole, KTS 2007, 293, 297. Gegebenenfalls kann das inländische Insolvenzrecht aber über ein Sekundärinsolvenzverfahren zur Anwendung gebracht werden, Art. 27 Abs. 1 Satz 1, Art. 3 Abs. 2 EuInsVO. Zur besonderen Anknüpfung der Anfechtung noch unten V.

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Auslegung des § 134 Abs. 1 InsO aus: Auf den ersten Blick könnte man offene oder verdeckte Ausschüttungen generell als unentgeltliche Leistungen ansehen. Damit wären sie bis zu vier Jahre vor dem Insolvenzantrag ohne Rücksicht auf ihre gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit anfechtbar. Dies wäre schwerlich damit zu vereinbaren, dass sich der Gesetzgeber mit dem Kapitalschutz um eine differenzierende Regelung bemüht hat35. Darüber hinausgehend könnte man die Anfechtung sogar umfassend an gesellschaftsrechtlichen Wertungen ausrichten36. Hiergegen sprechen indes ähnliche Gründe wie gegen eine Verdrängung der Insolvenzanfechtung. Es erscheint widersprüchlich, einerseits ein Bedürfnis nach rechtsfortbildender Ergänzung des Kapitalschutzes anzuerkennen37, andererseits aber eine (Teil-)Lösung auf Grundlage des geltenden Normenbestandes – einschließlich der Anfechtungstatbestände – zu verhindern, indem man die als defizitär erkannten Wertungen über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus ausstrahlen lässt. Angesichts einer (faktischen) Rechtswahlfreiheit ist zudem fraglich, ob das anwendbare (ausländische) Gesellschaftsrecht eine abschließende Regelung überhaupt anstrebt oder ob es sich – vielleicht im Vertrauen auf insolvenzrechtliche Sicherungen – auf einen Minimalschutz zurückzieht. Zu einer Rahmenordnung für den Wettbewerb der Gesellschaftsrechte trägt das Insolvenzrecht nur bei, wenn es eigenständige Entscheidungsmaßstäbe entwickelt. Nach der Geschäftsverteilung der Senate beim BGH gehört die Insolvenz- und Gläubigeranfechtung zur Zuständigkeit des IX. Zivilsenats38. Es empföhle sich, die Ausschüttungskontrolle beim II. Zivilsenat zu bündeln, der bereits über die entsprechenden gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten zu befinden hat.

4. Insbesondere: Verhältnis zur Existenzvernichtungshaftung Bekanntlich versucht der BGH, die Lücken des Kapitalschutzes über eine Haftung für existenzvernichtende Eingriffe zu schließen. Seit 2007 geht er dabei von einem Schadensersatzanspruch der Gesellschaft gegen die Anteilseigner auf der Grundlage von § 826 BGB aus39. Funktional handelt es sich um eine Ausschüttungssperre: Erfasst werden nicht Schädigungen durch die Gesellschafter überhaupt, sondern nur Vermögensverlagerungen zum eigenen Vor-

__________ 35 Vgl. Grigoleit (Fn. 5), S. 165 f.; Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 671 f. Den Wertungswiderspruch zum Gesellschaftsrecht übersieht Ehricke (Fn. 5), S. 46 ff., 62 f. 36 Diesen Lösungsansatz verfolgt Grigoleit (Fn. 5), S. 165 f., 170 ff., insbesondere S. 171 („Gefahr, die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben zu überspielen, ohne dass den allgemein für alle Insolvenzschuldner geltenden Anfechtungsregeln insoweit eine klare Regelungsabsicht und sachgerechte Unterscheidungskriterien entnommen werden könnten“). 37 So auch Grigoleit (Fn. 5), S. 186 ff. und passim. 38 Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs für das Jahr 2008, unter A.I., IX. Zivilsenat, Nr. 6 Buchst. d, abrufbar unter (Stand: 15.7.2008). 39 BGHZ 173, 246, Tz. 23 ff. (Trihotel).

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teil40. Dabei wird man die Existenzvernichtungshaftung sicherlich nicht als Spezialregelung auffassen können, die der Insolvenzanfechtung vorginge. Vielmehr gilt umgekehrt, dass Wertverschiebungen aus dem Vermögen des Schuldners grundsätzlich über die Anfechtung zu sanktionieren sind41. Die weiter reichende Haftung nach § 826 BGB ist nur unter zusätzlichen Voraussetzungen zu bejahen42. Der II. Zivilsenat hat dies im Zusammenhang mit der Existenzvernichtungshaftung bisher nicht berücksichtigt. Dabei könnte gerade hier der Schlüssel zu einem ungelösten Problem dieser Rechtsprechung liegen. Dem ursprünglichen Begründungsansatz einer Durchgriffshaftung entsprach es, dass der betroffene Gesellschafter für sämtliche Gläubigerausfälle einstehen musste. Schon 2004 ließ der BGH allerdings den Nachweis zu, dass der Eingriff nur zu einem begrenzten, gesondert auszugleichenden Nachteil geführt habe43. Der Schwenk zu § 826 BGB liefert nun die dogmatische Grundlage für eine solche Beschränkung auf die konkret verursachten Schäden44. Gleichwohl kann es weiterhin zu einer Haftung für alle Gläubigerausfälle kommen, wenn der Eingriff die Insolvenz erst verursacht45. Letzteres wird sich häufig nicht mit Gewissheit aufklären lassen. Schon das Risiko einer vollen Ausfallhaftung trifft den Gesellschafter aber hart46, was dazu nötigt, die Haftung wegen Existenzvernichtung nur unter engen Voraussetzungen zu bejahen. Die Insolvenzanfechtung zeichnet sich demgegenüber durch ihre milde Rechtsfolge aus und kann deshalb großzügiger eingesetzt werden, um die Defizite des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes auszugleichen. Dem entspricht die herkömmliche Abstufung zwischen Anfechtung und der Haftung nach § 826 BGB: Eine „anfechtungstypische“ Vermögensverschiebung bildet noch keine sittenwidrige Schädigung. Die Schwelle zur Existenzvernichtung wird erst erreicht, wenn der Eingriff über den Wertentzug hinaus eine erhebliche und für den Gesellschafter

__________ 40 So bereits BGHZ 151, 181, 186 f. (KBV); noch deutlicher BGH, NZG 2005, 214, 215 (Handelsvertreter) (Erfordernis eines „gezielten, betriebsfremden Zwecken dienenden Entzug[s] von Vermögenswerten“ zum eigenen Vorteil); zuletzt BGH, ZIP 2008, 1329, Tz. 10. 41 Für „Gesetzeskonkurrenz“ BGHZ 130, 314, 330 f.; BGH, NJW 1996, 2231, 2232; RGZ 74, 224, 225 f.; Oechsler in Staudinger, 2003, § 826 BGB Rz. 134, 336. Stattdessen nur für höhere tatbestandliche Anforderungen bei § 826 BGB Wagner in MünchKomm. BGB, § 826 BGB Rz. 41, 72. 42 Bsp.: planmäßiges Beiseiteschaffen aller wesentlicher Vermögenswerte, BGHZ 130, 314, 331; RGZ 74, 224, 227, 229. 43 BGH, NZG 2005, 177, 178 (BMW-Vertragshändler). 44 BGHZ 173, 246, Tz. 20 f., 27, 32 (Trihotel); Dauner-Lieb, ZGR 2008, 34, 38 f. m. w. N. 45 A. A. wohl Gehrlein, WM 2008, 761, 765 f. 46 Wie hart, hängt von Beweismaß und -last ab. Da die Verursachung der Insolvenz nicht zur Haftungsbegründung gehört (weil auch eine „Vertiefung“ ausreicht, vgl. BGHZ 173, 246, Tz. 16 (Trihotel)), kommt § 287 ZPO zur Anwendung. Die Beweislast könnte der Gesellschaft, aber auch (als Einwand eines rechtmäßigen Alternativverhaltens) dem Schädiger zuzuweisen sein. Für Ersteres Osterloh-Konrad, ZHR 172 (2008), 274, 286; Paefgen, DB 2007, 1907, 1909; J. Vetter, BB 2007, 1965, 1968; für Letzteres Altmeppen, NJW 2007, 2657, 2660. Vgl. auf der Grundlage seines Haftungskonzepts auch Grigoleit (Fn. 5), S. 450 ff.

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deutlich erkennbare Gefahr weiterer (Kollateral-)Schäden – nicht zuletzt durch Verursachung der Insolvenz – hervorruft47.

IV. Anfechtung von Ausschüttungen Ob sich Ausschüttungen mit Hilfe der Insolvenzanfechtung sachgerecht begrenzen lassen, hängt von den genauen tatbestandlichen Voraussetzungen und ihrer Konkretisierung ab. Dabei ist zunächst auf die allgemeinen Voraussetzungen der Anfechtbarkeit nach § 129 InsO einzugehen (Abschnitt 1.). Sodann werden drei Einzeltatbestände daraufhin untersucht, ob und unter welchen Umständen sie sich für die Ausschüttungskontrolle fruchtbar machen lassen: die Anfechtung unentgeltlicher Leistungen nach § 134 InsO (Abschnitt 2.), die Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO (Abschnitt 3.) und schließlich – aufgrund eines denkbaren Analogieschlusses – die Anfechtung von Leistungen auf Gesellschafterforderungen nach § 135 InsO (Abschnitt 4.). Nicht behandelt werden die besonderen Insolvenzanfechtungstatbestände der §§ 130– 132 InsO. Sie erscheinen wegen der kurzen dreimonatigen Anfechtungsfristen von vergleichsweise geringem praktischen Interesse. 1. Allgemeine Voraussetzungen § 129 Abs. 1 InsO verlangt als allgemeine Voraussetzungen jeder Anfechtung, dass eine Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Abschnitt a)) zu einer Benachteiligung der Insolvenzgläubiger geführt haben muss (Abschnitt b)). a) Rechtshandlung Gegenstand der Anfechtung sind „Rechtshandlungen“. Hierunter versteht man umfassend jedes Handeln, das rechtliche Wirkungen hervorbringt und damit das Vermögen des Schuldners beeinflussen kann48. Vermögensverschiebungen zu den Anteilseignern lassen sich durchweg auf Rechtshandlungen zurückführen. Erfasst werden nicht nur offene Ausschüttungen auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage, sondern sämtliche Vorteile, die ein Anteilseigner wegen seiner Mitgliedschaft zulasten des Gesellschaftsvermögens erhält49. Im Vergleich mit der gesellschaftsrechtlichen Kapitalerhaltung ist dabei hervorzuheben, dass sich die Rechtshandlung nicht auf die bilanzielle Vermögensbewertung auszuwirken braucht50.

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47 Nach Gehrlein, WM 2008, 761, 763 soll „eine bloße Bestands- oder Liquiditätsgefährdung“ (!) nicht genügen. 48 Kreft in Heidelberger Kommentar InsO, 4. Aufl. 2006, § 129 InsO Rz. 10; Kirchhof (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 7. 49 Auch wenn die Gesellschaft eine Aneignung von Vermögenswerten nur duldet, kann darin ein bewusstes Unterlassen und damit eine Rechtshandlung liegen (§ 129 Abs. 2 InsO), zutr. Haas, ZIP 2006, 1373, 1376. 50 (Verdeckte) Ausschüttungen werden also unabhängig davon erfasst, ob sie eine Unterbilanz vertiefen können, vgl. oben Fn. 30 und zugehöriger Text.

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b) Gläubigerbenachteiligung Jede Anfechtung setzt voraus, dass die Rechtshandlung die Insolvenzgläubiger benachteiligt (§ 129 Abs. 1 InsO). Benachteiligt werden die Gläubiger immer dann, wenn ihr statistisch erwarteter Ausfallbetrag ansteigt. Dieser ist das Produkt aus der Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz und dem Ausfallbetrag im Falle der Insolvenz. Die Belange der Gläubiger sind also beeinträchtigt, wenn eine Rechtshandlung die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz erhöht oder die Befriedigungsaussichten im Falle der Insolvenz schmälert. Ein zentrales, häufig nicht erkanntes Auslegungsproblem der §§ 129 ff. InsO besteht darin, dass das Vorliegen einer Gläubigerbenachteiligung je nach Zusammenhang aus unterschiedlichen Perspektiven zu beurteilen ist. Im Rahmen des § 129 Abs. 1 InsO dient die Gläubigerbenachteiligung als ein erster Filter: Ob ein Vermögensabfluss die Gläubigerinteressen so stark beeinträchtigt, dass nach Abwägung mit den gegenläufigen Interessen eine Anfechtung geboten erscheint, entscheiden erst die Einzeltatbestände der §§ 130 ff. InsO. Die objektive Gläubigerbenachteiligung als allgemeine Voraussetzung soll nur vermeiden, dass die Gläubiger Vorteile erhalten, die ihnen auch ohne die Rechtshandlung keinesfalls zugestanden hätten51. Im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO sind die Gläubiger daher benachteiligt, wenn die Insolvenzmasse (§ 35 Abs. 1 InsO) verkürzt worden ist52. Das Merkmal wird also auf die Befriedigungsaussichten der Gläubiger im Falle der Insolvenz eingeengt53. Dem liegt eine spezifische Sichtweise zugrunde: Die Auswirkungen der Rechtshandlung werden rückblickend mit dem Wissen um die wirklich eingetretene Insolvenz beurteilt, obwohl sich diese zum Zeitpunkt der Rechtshandlung regelmäßig nur als möglich darstellte. Die objektive Gläubigerbenachteiligung des § 129 Abs. 1 InsO erfasst damit den Erfolgsunwert (im Gegensatz zum Handlungsunwert): Unabhängig von ihrer Wahrscheinlichkeit ist die Insolvenz eingetreten, und bezogen auf diese Situation sind die Befriedigungsaussichten der Gläubiger geschmälert. Allerdings kommt diese objektive Betrachtung nicht ohne Korrektur aus: Nicht selten ist zweifelhaft, ob eine Rechtshandlung die Insolvenzmasse wirklich gemindert hat. Häufig wären die fraglichen Vermögenswerte auch ohne die Rechtshandlung verwirtschaftet worden und hätten deshalb den Insolvenzgläubigern nicht zur Verfügung gestanden. Derartige Kausalverläufe blendet man als „hypothetisch“ aus54. In der Sache geht es darum, dass die Anfechtung nach ihrer Teleologie eben nicht nur die Befriedigungsaussichten der Gläubiger im Falle der Insolvenz schützt, sondern

__________ 51 Kirchhof (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 76. 52 Vgl. Henckel (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 77; BGH, NJW 2007, 1357, Tz. 12 m. w. N.; BTDrucks. 12/2443, S. 157. 53 Dementsprechend scheidet eine Gläubigerbenachteiligung aus, wenn die Insolvenzmasse wider Erwarten ausreicht, um alle Gläubiger zu befriedigen, BGHZ 105, 168, 187; Kirchhof (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 107 m. w. N. 54 BGHZ 123, 320, 325 f.; 128, 184, 192; BGH, NJW 2002, 1574, 1576; Henckel (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 130 ff.; vgl. auch Paulus in Kübler/Prütting, § 129 InsO Rz. 26; Hirte (Fn. 10), § 129 InsO Rz. 123.

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Insolvenzrechtliche Ausschüttungssperren auch die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz verringern soll55. Wenn eine Rechtshandlung die Insolvenzwahrscheinlichkeit unangemessen erhöht, muss sie unabhängig davon angefochten werden können, ob sie bei der schließlich eingetretenen Insolvenz die Masse verkürzt hat.

Im Ergebnis ist eine Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO regelmäßig anzunehmen, wenn Verbindlichkeiten aus dem Vermögen des Schuldners getilgt werden oder sein Nettovermögen sinkt56. Bei einer Ausschüttung ist diese Voraussetzung stets erfüllt. 2. Ausschüttungen als unentgeltliche Leistung (§ 134 InsO) Auf den ersten Blick liegt es nahe, Ausschüttungen als unentgeltliche Leistung einzuordnen. In diesem Falle unterlägen sie durchweg bis zu vier Jahre vor dem Insolvenzantrag der Anfechtung nach § 134 Abs. 1 InsO. Die differenzierten gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren würden damit ihrer praktischen Bedeutung weitgehend beraubt57. Unabhängig von dieser Konsequenz erfolgen Ausschüttungen in der Sache zumeist nicht unentgeltlich. Die Anteilseigner erbringen nämlich sehr wohl eine Gegenleistung. Diese besteht in dem der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Kapital; daneben können die Gesellschafter zur Führung und Überwachung des Unternehmens beitragen58. Hierfür erhalten sie keine feste Vergütung, sondern sind über Gewinnausschüttungen am Erfolg der Gesellschaft beteiligt. In ähnlicher Weise werden häufig Fremdgeschäftsleiter und andere Beschäftigte entlohnt, ohne dass solche erst nachträglich festgesetzten Leistungen als unentgeltlich anzusehen wären59. Darüber hinaus steht den Anteilseignern das vorhandene Eigenkapital der Gesellschaft zu. Soweit Ausschüttungen nicht aus Gewinnen gespeist werden, sind sie als Rückzahlung des aufgebrachten und stehen gelassenen Kapitals aufzufassen. Unentgeltlich ist eine Ausschüttung daher zunächst nur, wenn die Gesellschaft tatsächlich über kein den Anteilseignern zustehendes (positives) Nettovermögen verfügt60. Darüber hinausgehend mag man berücksichtigen, dass die Gesellschaft bestimmte gesellschaftsrechtliche Anforderungen einhalten muss, wenn sie ihr Vermögen an die Anteilseigner verteilen möchte. Soweit rechtliche Schranken die Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zugunsten der

__________ 55 Vgl. oben Fn. 24 f. und zugehöriger Text. 56 Vgl. de Bra in Braun, 3. Aufl. 2007, § 129 InsO Rz. 23 (Verringerung der Aktiva, Vermehrung der Passiva oder Zugriffserschwerung); Kreft (Fn. 48), § 129 InsO Rz. 36; Grigoleit (Fn. 5), S. 156. 57 Der Entreicherungsvorbehalt des § 143 Abs. 2 InsO würde zumindest dort nicht helfen, wo die empfangenen Ausschüttungen reinvestiert werden; ein solcher Kapitalgeber müsste dauerhaft für Rückforderungen vorsorgen, wenn Ausschüttungen nach § 134 Abs. 1 InsO anfechtbar wären. 58 Vgl. Grigoleit (Fn. 5), S. 165; ähnlich wohl auch Haas, ZIP 2006, 1373, 1378. 59 Vgl. BGH, NJW 1997, 866, 867 (Weihnachtsgratifikation). 60 Vgl. BGHZ 113, 98, 101 ff. (Auszahlung von Scheingewinnen aus Termingeschäften als unentgeltliche Leistung); OLG Jena v. 11.3.2008 – 5 U 551/07 (ebenso).

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Gläubiger gewährleisten61, ist eine unzulässige Ausschüttung ebenfalls als unentgeltlich zu werten, weil die Gesellschafter sie auch als Gegenleistung für das zur Verfügung gestellte Kapital nicht beanspruchen können62. 3. Ausschüttungen als vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung Die vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung bildet die zentrale General- und Auffangklausel im System der Anfechtungsgründe. Neben dem Grundtatbestand des § 133 Abs. 1 InsO (Abschnitt a)) gewährt § 133 Abs. 2 InsO dem anfechtenden Insolvenzverwalter unter engen Voraussetzungen eine Beweislastumkehr (Abschnitt b)). a) Grundtatbestand (§ 133 Abs. 1 InsO) Der objektive Tatbestand der Vorsatzanfechtung stellt denkbar geringe Anforderungen: Der Schuldner muss eine Rechtshandlung innerhalb von zehn Jahren vor dem Insolvenzantrag vorgenommen haben. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt daher ganz bei den subjektiven Merkmalen des Benachteiligungsvorsatzes des Schuldners (Abschnitt aa)) und der darauf bezogenen Kenntnis des Anfechtungsgegners (Abschnitt bb)). aa) Vorsatz des Schuldners Der Vorsatz des Schuldners, seine Gläubiger zu benachteiligen, bildet die zentrale Voraussetzung der Anfechtbarkeit nach § 133 Abs. 1 InsO63. Umso schwerer wiegt es, dass das Tatbestandsmerkmal in Rechtsprechung und Lehre bisher kaum dogmatische Struktur gewonnen hat64: Festzustehen scheint nur, dass dolus eventualis ausreicht. Darüber hinaus fehlen allgemeingültige Aussagen. Stattdessen konzentriert man sich unmittelbar auf einzelne Fallkonstellationen. So soll eine inkongruente Deckung grundsätzlich ein Beweisanzeichen für den Benachteiligungsvorsatz liefern65. Bei kongruenten Sicherungen oder Befriedigungen stellt die Rechtsprechung (nunmehr66) darauf ab, ob es dem Schuldner vorrangig um die Erfüllung seiner vertraglichen oder gesetz-

__________ 61 Jenseits von Auflösung und Liquidation also die § 30 Abs. 1 GmbHG, § 57 AktG. 62 Eidenmüller, RabelsZ 70 (2006), 474, 500; Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 671 f.; Grigoleit (Fn. 5), S. 165 f.; Haas, ZIP 2006, 1373, 1378; vgl. OLG Düsseldorf, GmbHR 2006, 535, 536 f. 63 Vgl. Kirchhof (Fn. 8), § 133 InsO Rz. 12; Bork, ZIP 2004, 1684, 1687. 64 Kritisch etwa auch Bork, ZIP 2008, 1041, 1046. 65 Zur Fortgeltung dieses Grundsatzes unter der Insolvenzordnung BGHZ 157, 242, 251; zusammenfassend BGH, NJW 2006, 1348; a. A. nur Henckel in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl. 2000, S. 813, 836 ff.; Paulus (Fn. 54), § 133 InsO Rz. 6. 66 Unter der Konkursordnung hatte der BGH insoweit ein „unlauteres“ Verhalten des Schuldners verlangt, so zuletzt BGHZ 121, 179, 185; kritisch Kirchhof in FS Gero Fischer, 2008, S. 285.

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lichen Pflichten geht, oder aber um die Bevorzugung des Empfängers vor den übrigen Gläubigern67. Im Dunkeln bleibt dabei allerdings, wie sich solche besonderen Anforderungen und Beweisanzeichen aus dem Merkmal des Benachteiligungsvorsatzes gewinnen lassen sollen68. Zunächst gilt es daher, die Anforderungen an den Schuldnervorsatz allgemein genauer zu umreißen (Abschnitt (1)). Erst auf dieser Grundlage kann versucht werden, die konkreten Anforderungen bei Ausschüttungen zu bestimmen (Abschnitt (2)). (1) Gläubigerbenachteiligung als Gegenstand des Vorsatzes Zusätzliche Einsichten sind vor allem von der Gläubigerbenachteiligung als dem Gegenstand des Vorsatzes zu erwarten. Dabei bestünde ein naheliegender Fehler darin, die besondere Blickrichtung der objektiven Gläubigerbenachteiligung des § 129 Abs. 1 InsO auf den Benachteiligungsvorsatz des § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO zu übertragen. Wie festgestellt, ist eine Gläubigerbenachteiligung im Rahmen des § 129 Abs. 1 InsO bereits dann anzunehmen, wenn eine Rechtshandlung das Nettovermögen des Schuldners verringert oder ihm haftendes Aktivvermögen entzieht69. Richtete sich der Benachteiligungsvorsatz des § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO auf eine solche Vermögensverschiebung, so wäre er bei jeder – kongruenten oder inkongruenten – Erfüllung einer Verbindlichkeit stets in der Form des dolus directus gegeben70. Das wäre ein offenbar unsinniges Ergebnis. Richtigerweise ist von dem oben definierten, allgemeinen Begriff der Gläubigerbenachteiligung auszugehen: Die Gläubiger werden benachteiligt, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz zunimmt oder sich die Befriedigungsaussichten im Falle einer Insolvenz verschlechtern. Anders als im Rahmen des § 129 Abs. 1 InsO geht es nicht nur um den objektiven Eintritt der Benachteiligung, sondern um die Beschreibung des missbilligten Verhaltens. Die Vorsatzanfechtung folgt also in ihrer Tatbestandsstruktur der alten Trennung zwischen objektivem Erfolgsunwert (§ 129 Abs. 1 InsO) und Handlungsunwert, der allein im Verschulden (Vorsatz) angesiedelt ist. Die Gläubigerbenachteiligung ist deshalb nicht im Lichte der eingetretenen Insolvenz zu beurteilen, sondern aus dem Blickwinkel des Schuldners in der Entscheidungssituation.

__________ 67 BGH, NJW 2003, 3560, 3561; BGH, ZIP 2004, 1512, 1513; BGHZ 155, 75, 84; zust. Bork, ZIP 2004, 1684, 1687 f.; kritisch Foerste, NZI 2006, 6, 10; Thole, DZWIR 2006, 191, 194 f. 68 Für eine offene Korrektur des gesetzlichen Tatbestands denn auch Foerste, NZI 2006, 6, 8; Jacoby, KTS 2005, 371, 397 f.; ähnlich Bork, ZIP 2008, 1041, 1046 („normative Betrachtungsweise“). 69 Oben Fn. 56 und zugehöriger Text. 70 Das Begleichen einer Forderung bildet grundsätzlich eine Gläubigerbenachteiligung i. S. d. § 129 Abs. 1 InsO, stv. Kirchhof (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 123. Auszunehmen wäre nur der Fall, dass das Vermögen des Schuldners (trotz Insolvenz) zur vollständigen Befriedigung der Gläubiger ausreicht (oben Fn. 53). Eventualvorsatz läge aber wohl in jedem Fall vor, vgl. Foerste, NZI 2006, 6; Thole, DZWIR 2006, 191, 195.

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Dabei steht die spätere Insolvenz regelmäßig gerade noch nicht fest. Dementsprechend darf der Schuldner sein Handeln nicht allein an dem Ziel ausrichten, die höchstmögliche Befriedigung für den Fall einer Insolvenz zu erreichen. Da den Gläubigern am besten gedient ist, wenn die Insolvenz vermieden wird, muss der Schuldner auch die Wahrscheinlichkeit der Insolvenz berücksichtigen. Ein Benachteiligungsvorsatz ist daher nur anzunehmen, wenn er erkennt und billigend in Kauf nimmt, dass er die Gefahr einer Insolvenz unangemessen erhöht oder – sofern eine solche Gefahr bereits besteht – die zu erwartende Insolvenzmasse schmälert. Die von der Rechtsprechung entwickelten Leitlinien lassen sich aus diesem Verständnis ableiten: Mit Recht sieht der BGH in einer inkongruenten Deckung dann kein Beweisanzeichen mehr, wenn der Schuldner zweifelsfrei liquide war oder jedenfalls davon ausgehen durfte, seine Gläubiger in absehbarer Zeit befriedigen zu können71. Ist die Insolvenzwahrscheinlichkeit nämlich gering, so fällt eine Verschlechterung der Befriedigungsaussichten für den Fall der Insolvenz nicht ins Gewicht. Anders verhält es sich, wenn die Insolvenzwahrscheinlichkeit bereits angestiegen ist. Um nicht die Insolvenzgefahr durch den Abfluss dringend benötigter Mittel weiter zu vergrößern, sollte der Schuldner in einer solchen Lage seine Verbindlichkeiten grundsätzlich nur gerade so weit erfüllen oder sichern, wie er dazu verpflichtet ist; eine inkongruente Deckung wird daher mit Recht als Anzeichen für einen Benachteiligungsvorsatz gedeutet. Seine fälligen Verbindlichkeiten muss der Schuldner hingegen erfüllen, um nicht durch Zahlungseinstellung die Vermutung der Zahlungsunfähigkeit zu begründen (§ 17 Abs. 2 Satz 2 InsO). Kongruente Deckungen sind daher zunächst unverdächtig. Die Beurteilung schlägt erst um, wenn die Insolvenz unabwendbar erscheint. Für die Gläubigergesamtheit zählen dann vorwiegend die Befriedigungsaussichten in dem zu erwartenden Insolvenzverfahren, und diese verschlechtern sich auch durch die Erfüllung fälliger Verbindlichkeiten72. Wiederum andere Überlegungen sind anzustellen, wenn sich der Schuldner um eine Sanierung bemüht. Auch wenn er dabei (teilweise) inkongruente Sicherheiten gewährt, um im Gegenzug weiteren Kredit zu erhalten, spricht das Sanierungsziel gegen den Benachteiligungsvorsatz73. Den schlechteren Befriedigungsaussichten im Falle der Insolvenz steht nämlich – nach Vorstellung des Schuldners – ein Sinken der

__________ 71 BGHZ 138, 291, 308; 157, 242, 251; BGH, NZI 1999, 152, 153; NJW 2000, 957, 958; NZI 2004, 372, 373. 72 Vgl. BGHZ 155, 75, 84 f.; BGH, NJW 2003, 3560, 3561; ZIP 2004, 1512, 1513; NZI 2004, 87, 88. Über die Unvermeidbarkeit der Insolvenz hinaus verlangen die angeführten Urteile, dass die Deckung unter dem Druck des Gläubigers – durch Drohung mit Zwangsvollstreckung oder einem Insolvenzantrag – erfolgt ist (anders nun offenbar BGH, NZI 2008, 231, Tz. 19, 32). Diese zusätzliche Anforderung lässt sich zum einen mit der Abgrenzung zu § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO erklären (dazu Bork, ZIP 2004, 1684, 1692), zum anderen mit dem Gedanken, dass der Schuldner gut informierte Gläubiger nicht „bestechen“ können sollte, dazu oben Fn. 14 und zugehöriger Text. 73 Tendenziell großzügig BGH, NJW 1998, 1561, 1564; NJW-RR 1993, 238, 241; vgl. auch BGH, NZI 2004, 376, 378.

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Insolvenzrechtliche Ausschüttungssperren Insolvenzwahrscheinlichkeit gegenüber, so dass sich die wirtschaftliche Position der Gläubiger insgesamt sogar verbessern kann.

§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO bestätigt die hier vorgeschlagene Konzeption. Danach wird die Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners vermutet, wenn der Anfechtungsgegner wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit drohte und die Handlung die Gläubiger benachteiligte. Mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 Abs. 2 InsO) umschreibt das Gesetz eine bestimmte Insolvenzwahrscheinlichkeit, nämlich eine solche größer als 50 %74. Diese ist also offenbar für den Vorsatz des Schuldners von Bedeutung, wohingegen sie für die objektive Gläubigerbenachteiligung in § 129 Abs. 1 InsO keine Rolle spielt, weil die Ereignisse dort mit Blick auf die eingetretene Insolvenz bewertet werden75. Der hier entwickelte Ansatz hat den Vorteil, dass dem voluntativen Element des Eventualvorsatzes keine entscheidende Bedeutung mehr zukommt. Indem die Gläubigerbenachteiligung als Gegenstand des Vorsatzes – insbesondere des intellektuellen Elements – genauer spezifiziert wird, kann auf vage und letztlich nicht begründbare Behauptungen über die Motive des Schuldners verzichtet werden76. Stattdessen baut der Benachteiligungsvorsatz vorwiegend auf dem Bewusstsein des Schuldners auf, die Ausfallrisiken der Gläubiger unangemessen erhöht zu haben. (2) Anforderungen an den Benachteiligungsvorsatz bei Ausschüttungen Der Vorsatz der Gläubigerbenachteiligung setzt nach alledem voraus, dass der Schuldner wissentlich und willentlich den erwarteten Ausfallbetrag der Gläubigergesamtheit unangemessen erhöht. Ausschüttungen verringern das Nettovermögen der Gesellschaft, wodurch sowohl die Insolvenzwahrscheinlichkeit zunimmt als auch die Befriedigungsaussichten im Falle der Insolvenz vermindert werden. Die Anfechtbarkeit hängt somit davon ab, ab welcher Schwelle von einer unangemessenen Erhöhung der Gläubigerrisiken auszugehen ist. Einen ersten Anhaltspunkt liefert die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO. Wenn bei drohender Zahlungsunfähigkeit von einer Vermögensminderung in der Regel auf den Benachteiligungsvorsatz (bzw. die Kenntnis von ihm) zu schließen sein soll, dann ist damit zugleich eine äußerste Grenze für anfech-

__________ 74 Vgl. BT-Drucks. 12/2443, S. 115. 75 Neben der drohenden Zahlungsunfähigkeit muss der Anfechtungsgegner nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO die gläubigerbenachteiligende Wirkung erkannt haben. Da mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit bereits ein Schwellenwert für die Insolvenzwahrscheinlichkeit gegeben ist, geht es insoweit nur noch darum, ob die Rechtshandlung des Schuldners die Insolvenzmasse schmälert. In diesem Sinne wohl BGH, NZI 2007, 512, Tz. 26; NZI 2008, 231, Rz. 37; Kirchhof (Fn. 8), § 133 InsO Rz. 24d. 76 Berechtigte Kritik an der Verwendung des voluntativen Vorsatzelements in der Rechtsprechung bei Foerste, NZI 2006, 6, 9 f.; Jacoby, KTS 2005, 371, 397 f.; Thole, DZWIR 2006, 191, 194 f.

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tungsrechtlich zulässige Ausschüttungen gezogen77. Richtigerweise muss die insolvenzrechtliche Ausschüttungssperre aber noch deutlich früher eingreifen, weil anderenfalls ein Wertungswiderspruch zur Behandlung inkongruenter Deckungen entstünde78: Dort ist ein Benachteiligungsvorsatz bereits anzunehmen, wenn ernsthafte Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Schuldners bestehen79. Solche Zweifel kann es schon bei einer Insolvenzwahrscheinlichkeit kleiner als 50 % geben. Ist der Schuldner in diesem Stadium aber bereits gehalten, nur noch seine fälligen Verpflichtungen zu erfüllen, dann sollte er auch auf Ausschüttungen verzichten müssen, bis sich seine Lage wieder gebessert hat80. Selbstverständlich muss das Gleiche gelten, wenn die Solvenz erst durch die Ausschüttung ernsthaft in Zweifel gerät. Die Vorsatzanfechtung erweist sich somit als eine im geltenden Recht verankerte, solvenzbezogene Ausschüttungssperre. Der größte Schwachpunkt eines solchen „Solvenztests“ liegt darin, dass er für die Betroffenen und die Gerichte weniger eindeutig anzuwenden ist als die bilanzbezogenen Ausschüttungsgrenzen der herkömmlichen Kapitalerhaltung81. Es lassen sich kaum allgemeingültige Kriterien aufstellen, unter welchen Umständen von ernsthaften Zweifeln an der Solvenz einer Gesellschaft auszugehen ist. Gewisse Hinweise gibt die übliche Finanzierungspraxis82. Die Beurteilung bleibt aber stark einzelfallabhängig83. Bei der Vorsatzanfechtung wiegt die Unsicherheit allerdings weniger schwer, als dies bei einer solvenzbezogenen Ausschüttungssperre im Gesellschaftsrecht der Fall wäre: Zum einen liegen die subjektiven Anforderungen höher (Vorsatz des Schuldners, Kenntnis des Empfängers), zum anderen beschränkt sich die Rechtsfolge auf die Rückgewähr der Ausschüttung. Weder sind die Geschäftsleiter wie bei § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG n. F. Schadensersatzansprüchen ausgesetzt, noch droht den Anteilseignern eine Haftung für sämtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten wie beim existenzvernichtenden Eingriff. Die geringe Bestimmtheit ist daher bei der Vorsatzanfechtung besser erträglich – und zudem von der Anfechtung inkongruenter Deckungen her bekannt. Im Ergebnis handelt die Gesellschaft bei Ausschüttungen mit Benachteiligungsvorsatz, wenn sie ernstlichen Anlass hat, an ihrer künftigen Solvenz zu

__________ 77 Vgl. Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 673 ff. 78 Zum Grenzfall einer auf Weisung des Alleingesellschafters bewirkten inkongruenten Deckung BGH, NZI 2004, 376, 377 f. 79 BGHZ 157, 242, 251; BGH, NZI 1999, 152, 153; NZI 2004, 372, 373. 80 Es überzeugt daher nicht, wenn Grigoleit (Fn. 5), S. 171 f. gesellschaftsrechtlich zulässige Ausschüttungen mit kongruenten Deckungen gleichsetzt. 81 Veil in Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 91, 106 ff.; Engert, ZHR 170 (2006), 296, 320 f., 333. 82 So im Zusammenhang mit leveraged buyouts Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 675 f. 83 Zur Konkretisierung von Solvenztests vgl. Jungmann, ZGR 2006, 638, 658 ff.; Engert, ZHR 170 (2006), 296, 325 ff.; zur US-amerikanischen Praxis Engert in Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 743, 774 ff.

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zweifeln. Vom Vorsatz umfasst sein muss ferner das Vorliegen einer Ausschüttung, was bei verdeckten Ausschüttungen mitunter problematisch sein kann84. bb) Kenntnis des anderen Teils Als zweites subjektives Tatbestandsmerkmal verlangt § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO, dass der Anfechtungsgegner den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners erkannt haben muss. Weiß der Anteilseigner, dass die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft droht, so ist seine Kenntnis aufgrund § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO zu vermuten. Schon zuvor kann es dem Insolvenzverwalter helfen, dass die Rechtsprechung eine inkongruente Deckung bei ernsthaften Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit als Beweisanzeichen auch für die Kenntnis des Anfechtungsgegners ansieht85. Dies lässt sich auf Ausschüttungen übertragen: Sofern ein Anteilseigner ernsthafte Zweifel an der Solvenz hegt, ist daraus auf seine Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz der Gesellschaft zu schließen86. b) Unmittelbar benachteiligende Verträge (§ 133 Abs. 2 InsO) Der Nachweis des Schuldnervorsatzes und der Kenntnis des Anfechtungsgegners bildet keine unüberwindbare, aber doch eine erhebliche Hürde für den Insolvenzverwalter. Seine Aufgabe wird maßgeblich erleichtert, wenn er sich auf die Beweislastumkehr nach § 133 Abs. 2 InsO stützen kann. Die Voraussetzung eines entgeltlichen Vertrags ist bei Ausschüttungen regelmäßig gegeben, sofern nicht bereits eine unentgeltliche Leistung vorliegt und die Anfechtung nach § 134 Abs. 1 InsO greift87. Eine spürbare Einschränkung liegt in dem Erfordernis einer nahe stehenden Person (§ 138 InsO). Erfasst werden nur Anteilseigner, die mit mindestens einem Viertel am Kapital beteiligt, Mitglied des Vertretungs- oder Aufsichtsorgans oder persönlicher Gesellschafter sind oder in einer vergleichbaren Stellung zu der Gesellschaft stehen (vgl. im Einzelnen § 138 Abs. 2 Nr. 1, 2 InsO). Das Hauptanwendungsfeld liegt also bei kleinen bzw. personalistischen Gesellschaften und in Konzernfällen. Entscheidende weitere Voraussetzung ist, dass der „Vertrag“ die Gläubiger der Gesellschaft unmittelbar benachteiligt. Einmal mehr weicht die Beurteilungsperspektive dabei von der des § 129 Abs. 1 InsO ab: Unmittelbar ist ein Nachteil nur, wenn er sich bereits im Zeitpunkt der Vornahme aus der Rechtshandlung ergibt, ohne dass weitere Umstände hinzutreten müssen88. Hieraus folgt, dass die Rechtshandlung nicht aus dem Blickwinkel der nachträglich eingetretenen Insolvenz beurteilt werden darf. Maßgeblich ist vielmehr die situations-

__________ 84 Vgl. BGH, NJW 1998, 1561, 1563 (unmittelbare Gläubigerbenachteiligung kein festes Beweisanzeichen für Benachteiligungsvorsatz). 85 BGHZ 123, 320, 326; 138, 291, 308; 157, 242, 250 f.; BGH, NJW 2000, 957, 958; BGH, NZI 2004, 372, 373 f. 86 Darüber hinaus muss er erkannt haben, dass es sich um eine (verdeckte) Ausschüttung handelt. 87 Grigoleit (Fn. 5), S. 167 f.; Haas, ZIP 2006, 1373, 1379. 88 Stv. Kreft (Fn. 48), § 129 InsO Rz. 39.

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bezogene Sicht ex ante89. Die Betrachtung ähnelt insoweit der beim Benachteiligungsvorsatz in § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO, muss aber objektiv erfolgen. In Bezug auf Ausschüttungen liegt zunächst auf der Hand, dass die Gesellschaft für ihre Leistung keinen Gegenwert erhält. Da für eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung auf den Zeitpunkt der Rechtshandlung (bzw. des „Vertrags“) abzustellen ist, muss die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz dabei so hoch gewesen sein, dass der Vermögensabfluss die Interessen der Gläubiger in unangemessener Weise beeinträchtigte. Hierfür kann derselbe Maßstab herangezogen werden wie beim Benachteiligungsvorsatz in § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO, wobei aber die Sicht eines objektiven Beobachters zugrunde zu legen ist. Eine Ausschüttung führt somit zu einer unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung, wenn die Solvenz der Gesellschaft objektiv ernsthaft zweifelhaft ist oder durch den Vermögensabfluss wird90. Ist das der Fall, und hat die Ausschüttung weniger als zwei Jahre vor dem Eröffnungsantrag stattgefunden, so obliegt es dem betroffenen Anteilseigner, die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung zu widerlegen. 4. Analoge Anwendung des § 135 InsO auf Ausschüttungen? Trotz Beweiserleichterungen kann die Vorsatzanfechtung den Insolvenzverwalter vor erhebliche Schwierigkeiten stellen. Man mag daher fragen, ob nicht bei Ausschüttungen an die häufig gut informierten Gesellschafter zumindest innerhalb eines Verdachtszeitraums vor der Insolvenz auf subjektive Anforderungen ganz zu verzichten ist. In diesem Lichte lässt sich die Anfechtung der Befriedigung oder Sicherung von Gesellschafterdarlehen nach § 135 InsO betrachten: Die Interessenlage ist mit der bei Ausschüttungen vergleichbar, weil die anfechtbaren Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz zurückgestuft werden (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) und regelmäßig ebenso verloren sind wie das Eigenkapital91. Wenn sogar Leistungen der Gesellschaft auf Forderungen der Anteilseigner innerhalb eines Jahres vor dem Insolvenzantrag ohne weitere Voraussetzungen zurückzugewähren sind, dann läge dasselbe an sich auch bei Ausschüttungen nahe, auf die ein Gesellschafter grundsätzlich keinen Anspruch hat. Um § 135 InsO allerdings auf Ausschüttungen analog anwenden zu können92, bedürfte es einer planwidrigen Regelungslücke. Gemessen an der Konzeption des Gesetzgebers liegt eine solche indes nicht vor: Nach dem MoMiG sind die

__________ 89 Nur so lässt sich begründen, dass Verträge mit Sanierungsberatern die Gläubiger nicht unmittelbar benachteiligen, auch wenn die Rettung der Gesellschaft letztlich fehlschlägt. Instruktiv (auch zur Abgrenzung vom Benachteiligungsvorsatz) BGH, NJW 1998, 1561, 1563 f.; grundlegend BGHZ 28, 344, 347 f.; 77, 250, 252 ff.; Überblick bei Kirchhof (Fn. 8), § 129 InsO Rz. 163 ff. 90 Vgl. oben IV.3.a) aa) (2). Ähnlich wohl Haas, ZIP 2006, 1373, 1379; a. A. (zu Unrecht unter Berufung auf Haas) Kirchhof (Fn. 8), § 133 InsO Rz. 44. 91 Grundsätzlich ablehnend zu dieser Behandlung von Gesellschafterdarlehen Eidenmüller in FS Canaris, 2007, S. 49 ff. 92 Hierfür de lege ferenda Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 682.

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gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren ausdrücklich nicht mehr auf die Deckung von Gesellschafterforderungen anzuwenden93. An die Stelle des Eigenkapital ersetzenden Charakters des Kredits (vgl. § 32a Abs. 1 GmbHG a. F.) tritt künftig die Anfechtungsfrist von einem Jahr94. Diese besondere Funktion des Anfechtungstatbestandes erklärt, weshalb er sich auf Gesellschafterdarlehen beschränkt. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollten Ausschüttungen über die gesellschaftsrechtliche Kapitalerhaltung, Leistungen auf Gesellschafterforderungen hingegen über § 135 InsO geregelt werden. Die Sonderbehandlung von Gesellschafterforderungen lässt sich aber auch innerhalb des Systems der Anfechtungstatbestände rechtfertigen. Während Ausschüttungen weitgehend im Ermessen der Gesellschaft stehen95, muss sie fällige Verbindlichkeiten erfüllen, nicht zuletzt um eine Zahlungseinstellung (§ 17 Abs. 2 Satz 2 InsO) zu vermeiden. Hierauf ist es zurückzuführen, dass eine kongruente Deckung grundsätzlich nicht auf einen Benachteiligungsvorsatz hindeutet96. Nachdem der Gesetzgeber des MoMiG das gesellschaftsrechtliche Rückzahlungsverbot beseitigt hat97, gilt dies auch für die Erfüllung fälliger Verbindlichkeiten gegenüber Gesellschaftern98. Die erleichterte Anfechtung nach § 135 InsO gleicht somit aus, dass Leistungen auf Gesellschafterforderungen im Rahmen des § 133 InsO schwieriger anzufechten sind als Ausschüttungen. In Summe ist es nachvollziehbar, dass das Gesetz § 135 InsO auf die Erfüllung oder Sicherung von Gesellschafterforderungen beschränkt. Es fehlt eine hinreichende Legitimation, diese Entscheidung im Wege einer Rechtsfortbildung zu korrigieren.

V. Kollisionsrechtlicher Epilog Die insolvenzrechtlichen Ausschüttungssperren sind auch und gerade in Insolvenzfällen mit internationaler Dimension von Bedeutung. Wird über das Vermögen einer Auslandsgesellschaft ein Insolvenzverfahren eröffnet, so rich-

__________ 93 § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG, § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG i. d. F. des MoMiG. Schon die GmbH-Reform des Jahres 1980 hatte angestrebt, die analoge Anwendung der §§ 30, 31 GmbHG auf kapitalersetzende Kredite verzichtbar zu machen. 94 Vgl. BT-Drucks. 16/6140, S. 42; Huber/Habersack in Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 370, 405; Huber/Habersack, BB 2006, 1, 2; Bork, ZGR 2007, 250, 255; kritisch Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1077. 95 Zu offenen Ausschüttungen vgl. § 29 Abs. 2 GmbHG, § 58 Abs. 1–3 AktG. 96 Oben IV.3.a)aa)(1). 97 Vgl. BT-Drucks. 16/6140, S. 42: „Als Konsequenz […] kann künftig die Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens nicht mehr […] verweigert werden.“ 98 Vor der Änderung durch das MoMiG durften kapitalersetzende Gesellschafterforderungen aufgrund § 30 Abs. 1 GmbHG nicht befriedigt werden, stv. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, § 32a GmbHG Rz. 95. Insoweit hätte es sich um eine inkongruente Deckung gehandelt, OLG Koblenz, NZG 2006, 865, 866. Entsprechend wurde überwiegend angenommen, dass kapitalersetzende Forderungen bei der Zahlungsunfähigkeit nicht zu berücksichtigen seien, so etwa Uhlenbruck in Uhlenbruck (Fn. 10), § 17 InsO Rz. 7; abl. H.-F. Müller in Jaeger, InsO, 2004, § 17 InsO Rz. 12.

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tet sich der gesellschaftsrechtliche Gläubigerschutz nach dem Gründungsrecht99. Demgegenüber unterliegt die Anfechtung im Ausgangspunkt gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Buchst. m EuInsVO bzw. § 335 InsO der lex fori concursus100. Deren Reichweite schränken Art. 13 EuInsVO bzw. § 339 InsO allerdings wieder ein. Danach steht dem Begünstigten der Nachweis offen, dass die Handlung dem Recht eines anderen Staats unterliegt und nach diesem Transaktionsstatut101 in keiner Weise angreifbar ist102. Durch dieses zusätzliche Erfordernis sollen kollidierende staatliche Regelungsinteressen ausgeglichen und ein berechtigtes Vertrauen des Anfechtungsgegners in die Rechtsbeständigkeit des Erwerbs geschützt werden. Während bei offenen Ausschüttungen das auf die Gesellschaft anwendbare Recht Transaktionsstatut ist, führen Art. 13 EuInsVO bzw. § 339 InsO bei verdeckten Ausschüttungen häufig zum Vertragsstatut (Bsp.: Verkauf eines Vermögensgegenstands an einen Gesellschafter unter Wert). Dies gilt gleichermaßen für deutsche und ausländische Gesellschaften. Ausschüttungen sind also nur anfechtbar, wenn sie auch nach Maßgabe eines von der lex fori concursus abweichenden Transaktionsstatuts (einschließlich seines Insolvenzrechts) keinen Bestand haben. Ein Sonderproblem stellt sich bei der Anwendung des § 134 InsO103: Wie festgestellt, ist von einer unentgeltlichen Leistung auszugehen, wenn gesellschaftsrechtliche Ausschüttungsgrenzen verletzt werden104. Bei Auslandsgesellschaften führt dies zum Gesellschaftsrecht des Heimatstaats105.

VI. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Der Schutz der Gläubiger vor Ausschüttungen wurde in Deutschland lange Zeit ausschließlich als eine gesellschaftsrechtliche Problemstellung angesehen. Mit der faktischen Rechtswahlfreiheit im Gesellschaftsrecht haben sich die Akzente seit einigen Jahren verschoben. Das Insolvenzrecht hat für den Gläubigerschutz an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Beitrag die bisher wenig erforschte Thematik insolvenzrechtlicher Ausschüttungssperren in den Blick genommen. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

__________ 99 Vgl. stv. Eidenmüller in Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 3 und § 4. 100 Europarechtlich ist dies unbedenklich, vgl. Eidenmüller in FS Canaris, 2007, S. 49, 68. Der lex fori concursus sind auch etwaige Beweisanzeichen oder Beweislastregeln (vgl. oben IV.3.b)) zu entnehmen, zutr. Thole, KTS 2007, 293, 331 f. 101 Zu dessen Bestimmung vgl. allgemein etwa Huber in FS Heldrich, 2005, S. 695. 102 „Angreifbar“ heißt: Anfechtbar oder nach sonstigen Regelungen, die im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren stehen, nichtig, vernichtbar oder rückgängig zu machen, vgl. Reinhart in MünchKomm.InsO, 2. Aufl. 2008, Art. 13 EuInsVO Rz. 7. 103 Vgl. Eidenmüller, RabelsZ 70 (2006), 474, 500 f. 104 Vgl. oben IV.2. 105 Kollisionsrechtlich geht es um eine versteckte Vorfrage.

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Insolvenzrechtliche Ausschüttungssperren

1. Der Zweck des Anfechtungsrechts besteht darin, die Ausrichtung der Unternehmensbeteiligten – insbesondere des Schuldners selbst bzw. seiner Eigentümer und wichtiger Gläubiger – auf das Ziel einer Erhöhung des Unternehmenswerts zu schützen. Indem bestimmte Sondervorteile rückgängig gemacht werden können, verringert sich der Anreiz zu selbstbegünstigendem Verhalten; der Einsatz für das gemeinsame Interesse an Wertsteigerung wird relativ lohnender. Diese einheitliche Teleologie umfasst ohne weiteres auch die Kontrolle von Ausschüttungen. 2. Der gesellschaftsrechtliche Kapitalschutz ist zwar auf die Regelung von Ausschüttungen spezialisiert, verdrängt die Anfechtungstatbestände aber nicht. Seine Wertungen verhindern auch nicht eine eigenständige anfechtungsrechtliche Beurteilung: Es erschiene widersprüchlich, einerseits ein Bedürfnis nach rechtsfortbildender Ergänzung des Kapitalschutzes anzuerkennen, andererseits aber eine (Teil-)Lösung auf Grundlage des geltenden Normenbestandes zu verhindern. Tatsächlich schließen die insolvenzrechtlichen Ausschüttungssperren eine bedeutende Lücke zwischen dem überkommenen, bilanzorientierten Kapitalschutz und der (ebenfalls) solvenzbezogenen, aber weitreichenden Haftung für existenzvernichtende Eingriffe. 3. Die Anforderungen der insolvenzrechtlichen Ausschüttungssperren im Einzelnen richten sich nach den gesetzlichen Anfechtungstatbeständen: a) Eine Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO als allgemeine Voraussetzung jeder Anfechtung liegt bei einer Ausschüttung stets vor. b) Für die Kontrolle von Ausschüttungen wenig ergiebig ist die Anfechtung von unentgeltlichen Leistungen (§ 134 InsO). Diese greift nur, wenn die Gesellschaft kein positives Nettovermögen mehr hat oder die gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen zulässiger Ausschüttungen verletzt wurden. c) Im Zentrum der insolvenzrechtlichen Ausschüttungskontrolle steht die Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung (§ 133 InsO). Benachteiligungsvorsatz ist anzunehmen, wenn der Schuldner erkennt und billigend in Kauf nimmt, dass er mit seinem Verhalten die Gefahr einer Insolvenz unangemessen erhöht oder – sofern eine solche Gefahr bereits besteht – die zu erwartende Insolvenzmasse weiter schmälert. Bei einer Ausschüttung handelt die Gesellschaft danach mit Benachteiligungsvorsatz, wenn ernsthafte Zweifel an ihrer Solvenz bestehen oder durch die Ausschüttung hervorgerufen werden. Weiß der Anteilseigner, dass sich die Gesellschaft in einer solchen Lage befindet, so begründet dies seine Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz. d) Mangels planwidriger Regelungslücke nicht begründbar ist eine analoge Anwendung der Anfechtbarkeit von Leistungen auf Gesellschafterdarlehen nach § 135 InsO. 4. Anders als gesellschaftsrechtliche Ausschüttungssperren gelangen insolvenzrechtliche Anfechtungstatbestände grundsätzlich auch bei der Inlands329

Horst Eidenmüller/Andreas Engert

insolvenz von Auslandsgesellschaften zur Anwendung. Allerdings muss die Handlung zusätzlich nach der ihr zugrunde liegenden Rechtsordnung insolvenzrechtlich oder in sonstiger Weise angreifbar sein (Art. 13 EuInsVO bzw. § 339 InsO). Bei offenen Ausschüttungen führt dies zur Heimatrechtsordnung der Gesellschaft, bei verdeckten Ausschüttungen häufig zum Vertragsstatut.

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Raimond Emde

Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters Inhaltsübersicht I. Der Versicherungsvertreter II. Bestandsaufnahme und Ausgleichszweck III. Tatbestandsvoraussetzungen des Ausgleichsanspruchs 1. Beendigung des Vertrages (Tatbestandsmerkmal 1) 2. Neue oder erweiterte Versicherungsverträge (Tatbestandsmerkmal 2) a) Neue Versicherungsverträge b) Vermittlung c) Erweiterung von nicht vermittelten Versicherungsverträgen 3. Vorteile (Tatbestandsmerkmal 3) 4. Provisionsverluste (Tatbestandsmerkmal 4) a) Provisionsverzichtsklausel b) Wirksamkeit der Provisionsverzichtsklausel

c) Keine Provisionsverluste bei Einmalprovisionen d) Erweiterungsrechtsprechung e) Abschluss während der Laufzeit des VV-Vertrages f) Prognosedauer 5. Billigkeit (Tatbestandsmerkmal 5) 6. Ausgleichshöchstgrenze (Tatbestandsmerkmal 6) IV. Die „Grundsätze“ der Versicherungswirtschaft V. Ausgleichsberechnung nach § 89b HGB direkt 1. Einleitung 2. Eigener Ansatz zur Ausgleichsberechnung

Karsten Schmidt und Vertriebsrecht? Sicherlich ist es nicht die erste Assoziation, dieses Rechtsgebiet mit dem Namen des Geehrten zu verbinden. Tatsächlich hat Karsten Schmidt schon früh zum Vertriebsrecht Maßstabsetzendes publiziert1, und der BGH hat sich im Jahre 1996 mit seinen Ausführungen in einer vielfach zitierten Grundsatzentscheidung eingehend auseinandergesetzt2. Aber auch in seinem Standardwerk „Handelsrecht“ hat Karsten Schmidt Grundsätzliches zum Handelsvertreterrecht (§ 27) sowie zu den besonderen Vertriebssystemen (§ 28) ausgeführt. Mir hat Karsten Schmidt Gelegenheit gegeben, auf seinen Themenvorschlag hin eine von ihm betreute Dissertation zu einer Fragestellung aus dem Schnittfeld zwischen Vertriebs- und Gesellschaftsrecht fertigen zu dürfen3. Vertriebsrecht ist also auch ein Thema des Jubilars. Wie der eingangs zitierte Beitrag des Geehrten aus DB 1979, 2357 zum Ausgleichsanspruch des Vertragshändlers dokumentiert, zeigt sich Karsten

__________ 1 Karsten Schmidt, Kundenstammüberlassung und „Sogwirkung der Marke“, DB 1979, 2357. Dieser Beitrag wird auch heute noch viel zitiert; siehe etwa Prasse, MDR 2008, 122, 123 Fn. 4. 2 NJW 1996, 2159 = NJW-RR 1997, 390. 3 Emde, Die Handelsvertreter-GmbH, 1994.

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Raimond Emde

Schmidt insbesondere am Ausgleichsanspruch der Vertriebsmittler interessiert. Zu Recht: Der 19534 in das HGB eingeführte § 89b ist die forensisch5 sowie wissenschaftlich bedeutsamste Vorschrift des Vertriebsrechts und zudem eine Norm, so Karsten Schmidt, „deren Rechtsunsicherheit den Ausgang jeden Prozesses im Ungewissen lässt“6. Als Schöpfung des 20. Jahrhunderts kann sie auf keine eingehende rechtshistorische Evolution zurückblicken. Ihr Charakter als Kompromiss der Interessenverbände erschwert eine dogmatische Einordnung. Die daraus resultierende Unsicherheit trifft gerade das im Vergleich zum Recht des Warenvertreters weniger entwickelte Versicherungsvertreterrecht. Die Dogmatik zur Ausgleichsberechnung des Versicherungsvertreters (VV) unmittelbar aus § 89b Abs. 5 HGB folgt angesichts der jeden anderen Berechnungsweg in den Hintergrund weisenden Bestimmung nach den Grundsätzen der Versicherungswirtschaft der Rechtsentwicklung zum Ausgleich des Warenvertreters rund drei Jahrzehnte nach7. Aufgabe des Ausgleichsrechts bleibt die Entwicklung einer § 89b HGB, § 287 ZPO ausfüllenden Formel, die eine Deduktion der Ausgleichshöhe aus vergleichsweise unstrittigen Daten zulässt und es erlaubt, Ausgleichsstreitigkeiten mit Vermutungen und Beweislastverteilungen ohne vermeidbare Beweiserhebungen zu entscheiden8. § 89b HGB fordert keine Beweiserhebung bis zur letzten Ecke des Sachverhaltes und auch keine mathematische Präzision9. Gerechte Entscheidungen entziehen sich Zahlenspielereien.

I. Der Versicherungsvertreter Wenn es im Vertriebsrecht weiße Flecken geben sollte, finden sie sich außer im Franchiserecht am ehesten im VV-Recht. Die Rechtsverhältnisse des VV wurden vorrangig in § 92 HGB normiert: VV ist gemäß § 92 Abs. 1 HGB, wer als Handelsvertreter (HV) damit betraut ist, Versicherungsverträge zu vermitteln oder abzuschließen. Außer in den §§ 42a ff. VVG sowie jetzt in § 34d GewO10 finden sich zu den VV weitere Sondervorschriften in § 89b Abs. 5 HGB (Ausgleichsanspruch), § 92a Abs. 2 HGB (Mindestarbeitsbedingungen für arbeitnehmerähnliche HV) sowie § 92b Abs. 4 HGB (VV im Nebenberuf). Hier interessiert allein § 89b Abs. 5 HGB, dessen rudimentärer Regelungsansatz trotz entgegenlaufender Tendenzen im Verlauf der Beratungen zur Novelle 1953 nicht durch eine über seinen Abs. 5 reichende Sonderregelung ergänzt wurde11. Die Bedeutung des Ausgleichs des VV wird – nicht anders als die des

__________ 4 5 6 7 8 9 10 11

Gesetz zur Änderung des HGB v. 6.8.1953, BGBl. I S. 771. Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 27 V 2 lit. g. Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 27 V 2 lit. g. Siehe Emde, VersVerm 2001, 440 ff. Emde, BB Heft 34/2004, S. X. Thume, BB-aktuell 3/2005, S. IV. Vgl. Jacobs, VersR 2007, 1164. Siehe etwa Küstner/Thume, Handbuch des gesamten Außendienstrechts, Band II: Der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters, 8. Aufl. 2007, Rz. 4; Hopt, NJW 2005, 3123.

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Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters

Ausgleichs des Warenvertreters – durch dessen Unabdingbarkeit hervorgehoben (§ 89b Abs. 5 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 HGB). Der nationale Gesetzgeber wäre jedoch – wie es in Ungarn geschehen ist12 – europarechtlich nicht daran gehindert, den Ausgleich des VV gänzlich entfallen zu lassen: Die den Ausgleich in Art. 17 ff. zwingend ausgestaltende HV-Richtlinie 1986 gilt nur für den im Fokus des europäischen Normgebers sowie der deutschen Rechtsanwendung stehenden Warenvertreter.

II. Bestandsaufnahme und Ausgleichszweck Der Ausgleichsanspruch des VV ist ein durch Billigkeitsgesichtspunkte modifizierter Vergütungsanspruch, welcher – nur – bereits verdiente und nach Vertragsende fällige Ansprüche auf Vermittlungsprovision ersetzen soll13. Anders als der Ausgleich des Warenvertreters bildet er keine zusätzliche Vergütung für den Aufbau des Kundenstammes, sondern soll zuvor begründete und infolge der Vertragsbeendigung entfallende Ansprüche möglichst weitgehend auffangen14. Der Ausgleich stellt hiernach die Rest-Gegenleistung für die Vermittlungsdienste des HV dar, die sich in pauschalierter Form unter Einbeziehung der Vorteile des Versicherers und der Billigkeit bemisst. Um seine Höhe zu bemessen ist also zu diagnostizieren, inwieweit infolge der Vertragsbeendigung Provisionen entgehen. Nur insoweit entsteht der Ausgleich. Auf den ersten Blick bleibt undeutlich, warum § 89b Abs. 5 HGB nur etwas substituieren soll, worauf ohnehin ein Recht besteht. Mittels des Ausgleichs wäre dem VV 1953 nichts gewährt worden, worauf er in Form nachvertraglicher Provisionen nicht schon zuvor Anspruch besaß. Für die prima vista erstaunliche Meinung des Substitutionszweckes spricht jedoch der Wortlaut des § 89b Abs. 5 HGB: Der Vorteil des Unternehmers muss aus vom VV vermittelten neuen Versicherungsverträgen (etwa durch weitere Provisionseinnahmen) und nicht, wie beim Warenvertreter, aus der Geschäftsbeziehung zu neuen Kunden entstehen. Der Gesetzeswortlaut stellt für die Vorteile mithin auf die vermittelten Verträge und nicht auf die Kunden ab. Ein nachvertraglicher Vorteil aus einem weiteren, seperaten Vertrag mit demselben Kunden gilt – anders als beim Warenvertreter – nicht als ausgleichsrelevanter Vorteil. Die für Warenvertreter maßgebliche 2. Alt. des § 89b Abs. 1 Nr. 2 HGB, derzufolge Provisionsverluste des HV auch aus künftig zustande kommenden Geschäften mit den vom HV geworbenen Kunden entstehen können, hat keine Entsprechung in § 89b Abs. 1 Nr. 1 HGB gefunden: Den in Abs. 1 Nr. 2 apostrophierten Provisionsverlusten des HV aus nachvertraglich zustande kommenden Geschäften gleichen keine korrespondierenden Vorteile. Für die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des § 89b Abs. 5 HGB müssen aber alle über Abs. 5 auf den VV „umgeschriebenen“ Voraussetzungen des Abs. 1 gegeben sein. Wenn also § 89b Abs. 1 Nr. 1 HGB nur auf den vermittelten Vertrag und nicht wie beim Waren-

__________ 12 Pajor-Bytomski, RIW 2005, 263, 269. 13 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 51. 14 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 1579 f.

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vertreter auf den geworbenen Kunden abstellt, lässt sich konstatieren, dass aus dem einzelnen Vertrag grundsätzlich keine künftig zustande kommenden Geschäfte – und damit keine Provisionsverluste – entstehen können. Jener enge Anwendungsbereich des § 89b Abs. 5 HGB hat die Rechtsprechung zur Nothilfe in Form der „Erweiterungsrechtsprechung“ bestimmt. So betrachtet ist der VV ausgleichsrechtlich das „Aschenputtel“ des Vertriebsrechts. Die gegenüber dem Warenvertreter auf das dreifache angehobene Höchstgrenze des Ausgleichs verschleiert dies eher. Sie wird fast nie erreicht. Die Gründe für diese reduzierte Bedeutung des Ausgleichs mögen in den tatsächlichen Verhältnissen zu finden sein: Stammkunden können vom VV nicht geworben werden. Die Tätigkeit des VV führt regelmäßig – anders als jene des Warenvertreters – nicht zu laufenden Nachbestellungen15 und damit zu entfallenden Folgeprovisionen aus solchen Nachbestellungen. Versicherungsverträge pflegen für das selbe versicherte Risiko nur einmal geschlossen zu werden: Entweder wird der vermittelte Altvertrag verlängert – dann handelt es sich um keine „Nachbestellung“ – oder es wird ein neues Risiko versichert, was ebenfalls nicht als Nachbestellung der gleichen Art, sondern als – provisionspflichtiger – Neuabschluss angesehen werden muss. Vielmehr sind neue Vermittlungsbemühungen des VV erforderlich, um ein in der Regel abweichendes Risiko zu versichern16. Vorstehenden Besonderheiten trägt § 89b Abs. 5 HGB in wenig transparenter Weise17 Rechnung18. Die Bezifferung des VV-Ausgleichs ist selbst nach den „Grundsätzen der Versicherungswirtschaft“ äußerst kompliziert. Seine Berechnung erfolgt PCgestützt meist durch die Versicherer. Wegen der weitgehenden Kontrollunfähigkeit – auf die am Markt angebotene Hilfe der Verbände der VV bei der Überprüfung verzichten VV oft, ein Buchauszugsrecht zur Berechnung des Ausgleichs steht dem VV nach h. M. nicht zu19 – werden die vergleichsweise niedrigen Ausgleichssummen akzeptiert.

__________ 15 Höft, VersR 1976, 205; VersR 1966, 104 ff.; VersR 1967, 524; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 26. 16 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 26. 17 Höft, VersR 1966, 105. 18 Siehe hierzu im Grundsätzlichen Bruck/Möller, Kommentar zum VVG, 8. Aufl. 1961, Vor § 43 Anm. 370; Sieg, VersR 1964, 789; OLG Stuttgart, VersR 1957, 329, 332 ff.; OLG Frankfurt, BB 1978, 728. 19 BGH, NJW 1996, 2100; OLG Celle, r+s 2004, 349, 350 (Buchauszug); LG Hamburg, Beschl. v. 10.11.1998 – 325 O 257/98, n. v.; LG Hannover, VersR 2001, 764 = EWiR 2001, 731 (Emde); KG, Urt. v. 15.5.2006 – 23 U 95/05, n. v. (Abrechnung); Wolff, BB 1978, 1246; Emde, MDR 1999, 1108, 1111; Emde, NJW 2000, 796; Eberstein, Der Handelsvertreter-Vertrag, 8. Aufl. 1999, S. 125; Westphal, Vertriebsrecht I, 1998, Rz. 1224; Löwisch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 89b HGB Rz. 164; Schröder in Schlegelberger, HGB, 1973, § 87c HGB Rz. 4; a. A. OLG Hamburg, Urt. v. 19.6.1991 – 5 U 12/90, n. v.; Löwisch a. a. O., § 87c HGB Rz. 4; einschränkend Rz. 10: nur ergänzender Auskunftsanspruch gem. § 87 Abs. 3 HGB.

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III. Tatbestandsvoraussetzungen des Ausgleichsanspruchs Es müssen sechs positive und zwei negative Tatbestandsmerkmale erfüllt sein, damit eine Anspruchsberechtigung des VV besteht. Positive Merkmale sind: (1) der HV-Vertrag muss beendet sein, (2) der HV muss dem Versicherer neue Versicherungsverträge vermittelt oder bereits bestehende Versicherungsverträge wesentlich erweitert haben (siehe § 89b Abs. 5 HGB), (3) es ist erforderlich, dass der Unternehmer aus diesen neu vermittelten Versicherungsverträgen voraussichtlich nach Auflösung des HV-Vertrages erhebliche Vorteile zieht, (4) der HV muss infolge der Beendigung des VV-Vertrags Ansprüche auf Provision verlieren, die er bei Fortsetzung des Vertrages aus jenen Versicherungsverträgen hätte, (5) die Zahlung eines Ausgleichs hat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem HV entstehenden Provisionsverluste, der Billigkeit zu entsprechen, (6) der HV muss den Ausgleich innerhalb eines Jahres seit Beendigung des Vertrages gefordert haben, wobei dieses Merkmal gelegentlich auch als „negatives“ begriffen wird. Darüber hinaus gibt es zwei negative Tatbestandsmerkmale, nach deren Eintritt der Ausgleich nicht oder nur in reduzierter Höhe entsteht: (7) der zu leistende Ausgleich darf die Höchstgrenze des § 89b Abs. 5 Satz 2 HGB nicht übersteigen, (8) keiner der Ausschlussgründe des § 89b Abs. 3 HGB darf vorliegen. 1. Beendigung des Vertrages (Tatbestandsmerkmal 1) Der VV-Vertrag muss beendet sein. Die Art der Beendigung ist irrelevant, solange es sich um eine rechtliche Vertragsbeendigung oder eine ihr vergleichbare Situation handelt. Der Beendigungsgrund hat nur Bedeutung für die Prüfung der Ausschlussgründe gem. § 89b Abs. 3 HGB, ggf. für die Billigkeitsabwägung. Meist endet der Vertrag durch eine Kündigung, gleich welcher Art, auch eine Änderungskündigung20. Weitere Fälle sind der Aufhebungsvertrag21, die auflösende Bedingung, Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Unternehmers (§ 116 Satz 1 i. V. m. § 115 Abs. 1 InsO)22, Beendigung eines Kettenvertrages23, Nichtverlängerung eines HV-Vertrages24, Umwandlung des Vertrages in einen solchen anderer Rechtsnatur25, der Tod des HV26 oder Zeitablauf, z. B. durch Eintritt eines vertraglichen Endigungszeit-

__________ 20 BGH, BB 2000, 60, 62 m. Anm. Emde (zum Vertragshändlerrecht); OLG Köln, VersR 1989, 1148; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 285; Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 45. 21 BGH, BB 1998, 390; BGHZ 52, 12 = NJW 1969, 1023. 22 Emde/Kelm, ZIP 2005, 58. 23 English Court of Appeal, Urt. v. 18.3.2004, (1) Cooper, (2) Watkins, (3) Bartle v. Pure Fishing (UK) Ltd., (2004) EWCA Civ. 375; zitiert nach RIW 2005, 67; a. A. wohl BGH, BB 1996, 235; OLG Hamburg v. 7.5.1993 – 1 U 164/92, n. v., die allerdings einen begründeten Anlass des HV zur ausgleichserhaltenden Kündigung annahmen. 24 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 347. 25 Fall BAG, NJW 1958, 1365; Winterberg, DB 1958, 521, 1163; Neflin, DB 1958, 579. 26 BGHZ 24, 214 = NJW 1957, 1020; BGH, NJW 1958, 1966; BGH, BB 1964, 328; OLG Hamm, NJW 1956, 350; OLG Frankfurt/Main, NJW 1961, 514; Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 40.

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punkts27. Selbst nach einer Teilkündigung ist ein Ausgleich zu zahlen28. Beispiele der Teilkündigung sind die Kündigung des Vertriebs eines bestimmten Versicherungsproduktes oder die Wegnahme einzelner Kunden29. Die bloße Tätigkeitseinstellung ohne Vertragsbeendigung steht der rechtlichen Vertragsbeendigung nicht gleich30. Diskutiert wird aber, ob ihr Fälle entsprechen, in denen der VV-Vertrag fortbesteht, jedoch eine der Vertragsbeendigung ähnelnde Situation eintritt. Im VV-Recht wird jene Diskussion vor allem im Zusammenhang mit der Wegnahme von Versicherungsbeständen geführt. Der BGH hat die Ausgleichsklage eines VV, dessen Bestand Verträge entzogen wurden, mit der Begründung abgewiesen, der Ausgleichsanspruch knüpfe an die rechtliche und nicht die faktische Vertragsbeendigung an31. Wirtschaftliche Erwägungen rechtfertigten keine abweichende Betrachtung. Die Frage einer Entschädigung für die Wegnahme des Bestandes sei schadenersatzrechtlich zu lösen32. Dieser Auffassung ist nur zu folgen, sofern durch einen auch den Ausgleichsanspruch erhöhenden Schadensersatzanspruch verhindert wird, dass kurz vor Vertragsende Bestände entzogen werden, aus welchen ggf. ausgleichsbegründende Provisionen entstehen würden. Der Entzug vertraglich zugewiesener Bestände bildet eine Pflichtverletzung, selbst wenn er durch AGB gestattet sein sollte. Derartige AGB sind unwirksam: Eine einseitige Vertragsänderung mittels Bestandsentzug widerspricht dem gesetzlichen Leitbild und daher § 307 BGB33. 2. Neue oder erweiterte Versicherungsverträge (Tatbestandsmerkmal 2) a) Neue Versicherungsverträge „Neu“ ist jeder Versicherungsvertrag, welcher ein neues Wagnis deckt. Wegen der hohen Produktbreite des Angebots der Versicherer und der theoretischen Grenzenlosigkeit versicherbarer Risiken bezieht sich die Neuheit des Vertrages i. S. d. § 89b Abs. 5 HGB, anders als bei Warenvertretern, nicht personenbezogen auf den Kunden (Versicherungsnehmer)34 sondern sachbezogen auf das zu versichernde Risiko oder präziser: den abzuschließenden Vertrag35. Dies ist nicht unbedingt eine Privilegierung gegenüber dem Warenvertreter. Denn auch

__________ 27 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 39. 28 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 45; von Hoyningen-Huene in MünchKomm.HGB, 1. Aufl. 2001, § 89b HGB Rz. 52; Koller/Roth/Morck, HGB, 6. Aufl. 2007, § 89b HGB Rz. 3; Niebling, Vertragshändlerrecht, 1999, Rz. 232; Emde, VersR 2001, 148, 153. 29 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 45. 30 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 266. 31 BGHZ 124, 10; BGHZ 24, 214 = NJW 1957, 1020; BGH, NJW 1958, 1966; BGH, BB 1964, 328; BGH, BB 1994, 99 = ZIP 1994, 31; OLG Hamm, NJW 1956, 350; VersR 1993, 933; OLG Frankfurt/Main, NJW 1961, 514; Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 40, 45; von Hoyningen-Huene (Fn. 28), § 89b HGB Rz. 53. 32 Hübsch/Hübsch, WM Sonderbeil. Nr. 1/2005, S. 12. 33 Vgl. BGH, ZIP 2005, 1785 = WM 2005, 2002 = EWiR 2005, 815 (Emde); BGH, GRUR 2005, 62 = EWiR 2004, 1177 (Herbertz). 34 Vgl. BGHZ 59, 125, 131. 35 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 144; Schröder (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 41.

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Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters

bei jenem wird die Umwerbung auf neue Produkte als Neuwerbung begriffen. Ob bereits vor Abschluss des Versicherungsvertrages Geschäftsbeziehungen zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer bestanden, bleibt für die Einordnung als Neuvertrag unerheblich36. Ausgleichspflichtig ist auch die Vermittlung eines Vertrages mit einem Altkunden über ein anderes Risiko als das bisher versicherte. Selbst falls der VV den erneuten Abschluss eines abgelaufenen Versicherungsvertrages zu den gleichen Bedingungen ermöglicht, hat er einen „neuen“ Vertrag vermittelt37. Denn der alte war rechtlich beendet. Neu ist ferner ein Vertrag über ein bisher unversichertes Risiko, welcher erst nach Beendigung des HV-Vertrages abgeschlossen, jedoch so vom ausgeschiedenen VV eingeleitet und vorbereitet wurden, dass der nach Vertragsbeendigung erfolgte Abschluss überwiegend auf die Tätigkeit des VV zurückzuführen ist und innerhalb angemessener Frist nach der Beendigung des HV-Vertrages zustande kommt (siehe III.4.d)38. b) Vermittlung Gemäß § 89b Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 HGB muss der VV den neuen Versicherungsvertrag „vermittelt“ haben, damit eine Ausgleichsberechtigung entsteht. Diese Vermittlung muss auf einer „Tätigkeit“ des VV i. S. d. § 92 Abs. 3 HGB beruhen39, wobei – wie auch sonst im HV-Recht – Mitverursachung genügt40. Das Erfordernis der „Tätigkeit“ folgt zum einen aus dem Tatbestandsmerkmal „Vermittlung“ des Abs. 5 und vor allem aus § 92 Abs. 3 HGB. Denn der VV erhält nach § 92 Abs. 3 HGB lediglich Tätigkeitsprovision, jedoch keine Provision ohne Tätigkeit, etwa für Folgeprovisionen i. S. d. § 87 Abs. 1 HGB oder Bezirksprovision gemäß § 87 Abs. 2 HGB. Wegen des Erfordernisses der „Tätigkeit“ bilden auf den VV übertragene Bestände bei einer Ausgleichsberechnung unmittelbar nach § 89b HGB keine Neuverträge41. Ausgleichspflichtig werden solche Verträge nur, soweit sie der VV wesentlich erweitert hat (hierzu unter c) oder ihre Einbeziehung in die Ausgleichsberechnung vereinbart wurde. Außerdem sollten solche Bestände nach einer bestimmten Zeitspanne Neukunden gleichstehen. Angeblich hat der VV zu beweisen, welcher Teil der in die Ausgleichsberechnung eingeflossenen Beträge auf übertragenen Beständen beruht42. Diese Allokation der Beweislast ist zweifelhaft. Denn der Unternehmer verfügt diesbetreffend über eine Informationshoheit.

__________ 36 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 607. 37 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 608; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 89b HGB Rz. 88; Schröder (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 40; a. A. Geßler, Der Ausgleichsanspruch der Handels- und Versicherungsvertreter, Diss. jur., Hamburg 1953, S. 88. 38 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 610. 39 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 607. 40 BGH, BB 2006, 1301; BAG, BB 1971, 492; BGH, NJW 1980, 1793; Löwisch (Fn. 19), § 84 Rz. 36; Hopt (Fn. 37), § 84 HGB Rz. 22. 41 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 611. 42 OLG München, VersR 2006, 1123, 1125.

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c) Erweiterung von nicht vermittelten Versicherungsverträgen § 89b Abs. 5 Satz 1 HGB regelt, dass die wesentliche Erweiterung eines bestehenden Versicherungsvertrages durch den VV der Vermittlung eines neuen Vertrages gleichsteht. Wesentlich ist die Vertragserweiterung, sofern sie sich wirtschaftlich für den Versicherer aufgrund des zusätzlichen Beitrags- oder Prämienaufkommens wie der Neuabschluss eines Vertrages auswirkt43. Beispiele bilden die Vertragserweiterung, z. B. durch Erhöhung der Versicherungssumme, Einbeziehung weiterer Risiken44, Ausweitung der Versicherungsleistungen oder Einbeziehung verwandter Risiken45. Generelle Aussagen dazu, wann eine Erweiterung wesentlich ist, lassen sich nicht treffen. Der Feststellung46, eine Erhöhung der Prämieneinnahmen um mehr als 25 % sei wesentlich, darf allenfalls Indizwirkung beigemessen werden. Beim Warenvertreter wird für die „Wesentlichkeit“ sogar eine Erhöhung um 100 % für erforderlich gehalten47 – inflationsbereinigt48. 3. Vorteile (Tatbestandsmerkmal 3) Ein ausgleichsrelevanter Vorteil des Unternehmers ist weitere Anspruchsvoraussetzung. Der Unternehmervorteil ist weit zu fassen. Es genügt jeder wirtschaftliche Vorteil im umfassendsten Sinne. Der Vorteil muss sich daraus ergeben, dass der VV während des Vertragsverhältnisses neue Versicherungsverträge vermittelt hat49. Nicht anders als beim Warenvertreter sind die Vorteile im Wege einer Prognose bei Vertragsende anhand der zu diesem Zeitpunkt erkennbaren Tatsachen zu bestimmen. Vorteile des Versicherers liegen in den Gewinnen aus dem einzelnen Vertrag sowie der Erweiterung der Gewinnchancen durch den höheren Bestand an Versicherungsverträgen dank der damit verbundenen besseren Streuung der einzelvertraglichen Risiken auf eine größere Zahl von Versicherungsnehmern50. Nicht anders als beim Waren-HV ist allein auf die aus vermittelten Neuverträgen hergeleiteten Vorteile abzustellen, nicht auf einen Vergleich zwischen dem Volumen des Versicherungsbestandes zu Beginn und bei Beendigung des HV-Verhältnisses51, die Gesamt-

__________ 43 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 145; Sonnenschein/Weitemeyer in Heymann, HGB, 1988–1990, § 89b HGB Rz. 106; von Hoyningen-Huene (Fn. 28), § 89b HGB Rz. 239. 44 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 612; Küstner, VersR 2002, 980. 45 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 145. 46 Möller, Recht und Wirklichkeit der Versicherungsvermittlung, 1944, S. 859; von Hoyningen-Huene (Fn. 28), § 89 HGB Rz. 239. 47 BGHZ 56, 242 = NJW 1971, 1611 = BB 1971, 843 = DB 1971, 1298 = VW 1971, 1388 = HVR Nr. 444 = VersR 1971, 737; OLG Hamm, OLGR 1993, 78; OLG Celle, NJW 1968 1141; Kiene, VersR 2006, 1024, 1025; Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 81; von Hoyningen-Huene (Fn. 28), § 89b HGB Rz. 65. 48 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 81. 49 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 615. 50 OLG Stuttgart, VersR 1957, 329, 330; OLG Nürnberg, BB 1962, 155; Geßler (Fn. 37), S. 89; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 617. 51 OLG Stuttgart, VersR 1957, 329.

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Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters

lage des Unternehmens, den Gesamtschadensverlauf oder die Entwicklung des Gesamtbestandes aller HV52. Einen üblichen Abgang im Versicherungsbestand muss der Versicherer hinnehmen; nur einen überdurchschnittlichen, vom HV durch schlechte Bestandspflege verschuldeten Rückgang könnte er im Billigkeitswege oder durch Aufrechnung mit einem Schadenersatzanspruch dem Ausgleich entgegensetzen. Keine Unternehmervorteile und damit wegen des Tatbestandsmerkmals „desselben“ in § 89b Abs. 1 Nr. 2 HGB, übersetzt in den VV-Vertrieb „derselben“, keine Provisionsverluste entstehen infolge des vermöge Abs. 5 in § 89b Abs. 1 Nr. 1 HGB hineingelesenen Merkmals „Vermittlung“ aus verwaltenden Tätigkeiten des VV53. Klassischerweise wird die Abgrenzung der verwaltenden von werbenden Provisionen allein unter dem gemäß der Aneinanderreihung der Tatbestandsmerkmale nachrangigen Titel „Provisionsverluste“ geführt, was bei der Betonung der entgehenden ausgleichsrechtlich relevanten Leistung des Unternehmers – der Provision – Berechtigung haben mag. Verwaltende Provisionen werden nicht für Vermittlungsbemühungen geleistet. Wegen des Wegfalls der laufenden Verwaltungstätigkeit nach Vertragsende und des damit entfallenden Leistungs-Gegenleistungsverhältnisses mangelt es zudem an Provisionsverlusten: Verwaltungsprovisionen werden als Gegenleistung für vertragsbegleitende Tätigkeiten gewährt, entfallen also nicht mit Vertragsende. Werbende Provisionen entgelten hingegen – fortwährend über die Jahre geleistet – die Bestandskraft der einmaligen Vermittlungstätigkeit und werden häufig nach Vertragsende fortgezahlt. Der HV hat während seiner Vertragszeit bei der Bestandspflege dasselbe getan wie es sein Nachfolger tun muss und wofür die Verwaltungsprovision an jenen weitergeleistet wird54. Die Ausgleichsunfähigkeit trifft alle Arten von Verwaltungsprovisionen, etwa solche für die Betreuung und Erhaltung des Bestandes55, das Inkasso, die Schadensregulierung, die Stornoabwehraufgaben56, die Kontaktpflege sowie die Kundenbetreuung. Superprovisionen, welche einem VV für die Überwachung ihm unterstellter echter oder unechter Untervertreter gewährt werden, sind als werbende Provision ausgleichsfähig, soweit sie nicht verwaltende und organisatorische Aufgaben entgelten57. Eine vollständige Derogation des Anspruchs

__________ 52 53 54 55

Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 618. OLG München, BB 1993, 1754; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 40, 828. BGHZ 30, 98, 102; BGH, DB 1971, 185. BGH, VersR 2005, 1283, 1284; BGHZ 30, 98; BGHZ 34, 310 – Bausparkassenvertreter; BGH, VersR 1963, 556; DB 1971, 185; OLG Celle, Urt. v. 11.3.1961 – 3 U 116/60, n. v.; BAG, BB 1986, 1017 = DB 1986, 919; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 966; Höft, VersR 1966, 104 ff.; Bruck/Möller (Fn. 18), Vor § 43 VVG Anm. 377; Hoffmann, Der Ausgleichsanspruch der Handelsvertreter, 1966, S. 55 ff. Gegenteiliger Meinung sind Schröder (Fn. 19) § 92 Rz. 11, 41c ff. und in FS Nipperdey, 1965, S. 715 ff.; Leuze, Recht des Versicherungsvertreters, 1953, S. 22 ff.; Karl Peer Günther, Der Versicherungsvertreter und sein Ausgleichsanspruch, 2004, S. 108; hierzu Emde, NJW 2005, 3694. 56 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 828. 57 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 957.

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auf Vermittlungsprovision bzw. deren gänzliche Ersetzung durch Verwaltungsprovisionen wäre mit der zwingenden Natur des Ausgleichs unvereinbar58. Maßgeblich für die Aufteilung zwischen verwaltendem und werbendem Teil der Folgeprovision bleiben Art und Höhe des Risikos59, Höhe des Jahresbeitrages60, Umfang der Verwaltungstätigkeit61 bzw. Inkassotätigkeit des VV62 oder die Relation zwischen aufgewendeter Zeit für verwaltende und werbende Tätigkeit63. Anhand einer Analyse des Tatrichters64 kann festgestellt werden, in welchem zeitlichen Verhältnis der Verwaltungsaufwand zum werbenden Aufwand steht. Allerdings hilft eine solche Untersuchung in der Praxis wenig. Denn meist wird streitig sein, ob die jeweils vorgenommene Tätigkeit der werbenden oder verwaltenden Tätigkeit zufällt, zumal häufig verwaltende Tätigkeit die werbende vorbereitet. Außerdem brauchen die Verhältnisse bei einem VV nicht die eines anderen zu treffen. Unerheblich für die Zuweisung zu Vermittlungs- oder Verwaltungsprovisionen bleibt die Bezeichnung der Provision. Sie besitzt keinen genügenden Unterscheidungswert, da es in manchen Versicherungszweigen üblich ist, dass in der als Verwaltungsprovision bezeichneten Vergütung Teile eines Entgelts für Vermittlungs- und Abschlusstätigkeiten enthalten sind65. Ebenso wenig darf aus der das Zivilrecht nicht determinierenden steuerlichen Behandlung der Provision ein Rückschluss auf ihre Einordnung als werbende oder verwaltende gezogen werden66. Nach § 4 Nr. 11 UStG sind die Umsätze der VV insoweit steuerfrei, als sie tätigkeitsbezogen und für den Beruf charakteristisch sind. Im Versicherungsvertrieb sind Verwaltungs- und Bestandspflegeleistungen des VV berufstypisch67. § 87b Abs. 3 HGB, demzufolge bei Gebrauchs-, Überlassungs- und Nutzungsverträgen von bestimmter Dauer die Provision vom Entgelt für die gesamte Vertragsdauer und bei unbestimmter Dauer vom Entgelt bis zu dem Zeitpunkt zu berechnen ist, zu dem erstmals von dem geworbenen Kunden gekündigt werden kann, lässt sich gleichfalls kein Hinweis entnehmen, ob die nach dem ersten Jahr gezahlten Folgeprovisionen vermittelnden oder verwaltenden Charakter tragen. Die Neigung der VV geht dahin, in den Folgeprovisionen nur geringe Anteile verwaltender Provisionen zu erblicken, die der Versicherer dahin, den Anteil vermittelnden Entgelts eher zu reduzieren68. Unsicherheiten bei der Terminologie durch die begriffsbestimmenden Unternehmer gereichen

__________ 58 BGH, DB 2006, 1953 im Anschluss an BGH, WM 2006, 1788; BGH, DB 2002, 2321 = WM 2003, 491. 59 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 881. 60 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 881. 61 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 881. 62 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 881. 63 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 962. 64 BGH, VersR 2005, 1283. 65 BGH, VersR 2005, 1383, 1285. 66 BGH, VersR 2005, 1283, 1284. 67 BGH, VersR 2005, 1383, 1284; BGH, DB 1961, 1603; HFR 1963, 68; FG Hannover, DStR 1999, 219. 68 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 858.

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Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters

nicht zu ihrem Vorteil. Im Zweifel ist die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB anzuwenden. Für das VV-Recht hat der BGH mit Urteilen vom 22.12.200369 sowie vom 1.6.200570 geklärt, wem die Beweislast für die Höhe des verwaltenden Anteils obliegt. In seinem Urteil vom 22.12.200371 hatte der BGH ausgeführt, sofern der VV-Vertrag gesonderte Provisionen für werbende und verwaltende Provisionsteile vorsehe und diese Aufteilung plausibel sei, trage der HV für eine vom Vertragstext abweichende Verteilung werbender und verwaltender Provisionsteile die Beweislast. Fehle eine solche Aufteilung und werde lediglich eine „Einheitsprovision“ gewährt, liege jene beim Versicherer. Denn ihm sei auf der Grundlage von Erfahrungswerten zumutbar, anzugeben, zu welchen Teilen die einheitliche Provision zur Abgeltung einerseits werbender Vertragsvermittlung und andererseits verwaltender Tätigkeit bestimmt sein solle72. Paradigma der Verwaltungsprovision ist die oft unpräzise als „Bestandspflege-“73 oder „Inkassoprovision“ titulierte Vergütung. Auch wenn der VV wegen der Beschränkung der Provisionspflicht auf Tätigkeitsprovision keine provisionspflichtigen Folgeprovisionen i. S. d. § 87 Abs. 1 (§ 92 Abs. 3 Satz 1) HGB erhält, werden von Versicherern als Folgeprovisionen apostrophierte Vergütungen geleistet. Bei ihnen handelt es sich um die Gegenleistung für die an die Vermittlung anschließende, fortlaufende Betreuung von Versicherungsverträgen. Der Begriff der Folgeprovision bezieht sich also auf die zeitliche Folge nach der Erstprovision. Synonym werden sie auch als Abschlussfolgeprovisionen74 bezeichnet, d. h. Provisionen, welche der Erstprovision folgen. Folgeprovisionen werden insbesondere im Sachbereich gezahlt, aber auch als Provisionen für dynamisierte Lebensversicherungsverträge, bei denen sich das Vertragsvolumen durch Anpassung an die Geldentwicklung automatisch erhöht oder für die Erweiterung eines früher abgeschlossenen Versicherungsvertrages. Folgeprovisionen sind mit einem jeweils durch Schätzung zu bestimmenden Teil Vergütung für der Werbung nachgehende verwaltende Tätigkeiten, etwa das Inkasso der Versicherungsprämien, die Beratung des Versicherungskunden, Mitarbeit bei der Abwicklung eintretender Versicherungsfälle etc., welche dem VV – ein Unterschied zum Warenvertreter – obliegen. Als werbender Provisionsteil ausgleichsfähig sind von jenen Folgeprovisionen nur für die Neuvermittlung dem VV geschuldete Abschluss- bzw. Vermittlungsprovisionen,

__________

69 BGH, MDR 2004, 402 = NJW-RR 2004, 469 = ZIP 2004, 1319 = EWiR 2004, 387 (Küstner) = WM 2004, 1483. 70 BGH, VersR 2005, 1283. 71 BGH, MDR 2004, 402 = NJW-RR 2004, 469 = ZIP 2004, 1319 = EWiR 2004, 387 (Küstner) = WM 2004, 1483. 72 BGH, VersR 2005, 1283, 1286. 73 BGH, VersR 2005, 1283, 1284; BGHZ 30, 98; BGHZ 34, 310 – Bausparkassenvertreter; BGH, VersR 1963 556; DB 1971 185; OLG Celle, Urt. v. 11.3.1961 – 3 U 116/60, n. v.; BAG, BB 1986, 1017 = DB 1986, 919; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 966; Höft, VersR 1966, 104 ff.; Bruck/Möller (Fn. 18), Vor § 43 VVG Anm. 377; Hoffmann (Fn. 55), S. 55 ff. A. A. sind Schröder in FS Nipperdey, 1965, S. 715 ff., und Leuze (Fn. 55), S. 22 ff. 74 Zutreffend die Terminologie des OLG Stuttgart, VersR 1972, 44.

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soweit sie durch die Vertragsbeendigung entfallen. Da viele Folgeprovisionen keinen75 oder nur einen geringen Anteil werbender Vergütung enthalten, und nur Folgeprovisionen mit werbendem Charakter nach Vertragsende entgehen können, fehlen oft Vorteile des Unternehmers und korrespondierende Provisionsverluste des VV. Der werbende Anteil wird zum Teil mit 95 % bemessen76. Bei gleich hohen Erst- und Folgeprovisionen soll in jeder einzelnen Provisionsrate anteilig eine Abschlussvergütung enthalten sein, was allerdings kaum auf den in § 354 Abs. 1 HGB enthaltenen Grundsatz, ein Kaufmann erbringe seine Dienste nicht umsonst77, sondern eher auf den Erfahrungssatz, dass der Unternehmer den Abschluss besonders langfristiger Verträge zeitanteilig honorieren will, gestützt werden darf. Bei erhöhter Erstprovision und niedrigeren Folgeprovisionen vertritt der BGH, die Folgeprovision sei ausschließlich Verwaltungsprovision78. Diese Aussage kann jedoch nicht für alle Fälle richtig sein. Vielfach enthalten Folgeprovisionen weitere Vergütungsteile für die Vermittlung. Ist die Erstprovision gegenüber den Folgeprovisionen nur geringfügig höher, muss in den Folgeprovisionen ein Vermittlungsprovisionsanteil inbegriffen sein, falls der Versicherer die Erstprovision normalerweise nicht erhöht, sondern sie als höhere nur in Anbetracht des besseren Risikos im konkreten Falle gewährt hat. Insbesondere in der Schadensversicherung besteht die Vermutung, dass bei erhöhter Erstprovision die im zweiten Jahr gewährte Provision einen Teil Vermittlungsentgelt enthält79. Dies gilt, obwohl die Verwaltungstätigkeit des VV in der Schadensversicherung aufgrund der Bearbeitung von Schadensfällen ausgeprägter als in der Lebensversicherung ist80. Tendenziell weist eine höhere Erstprovision, und namentlich eine deutlich höhere, auf den Charakter als Einmalprovision für den Abschluss hin, welche die Folgeprovisionen eher als reine Verwaltungsprovisionen erscheinen lässt81. Gegen einen Anteil von Abschlussprovision in der Folgeprovision spricht die Tatsache, dass die Folgeprovision in derselben Höhe wie dem Altvertreter einem den Bestand übernehmenden VV geleistet wird82. Wird an den Nachfolgevertreter eine reduzierte Folgeprovision gezahlt, besteht die Vermutung, die zuvor gewährte Vergütung enthalte werbende Provision. Bestimmt der VVVertrag hingegen, ein nicht verdienter Provisionsteil müsse vom VV zurückgezahlt werden, falls die der Bemessung der Erstprovision zugrunde gelegte Versicherungsdauer nicht erreicht wird, spricht dies für einen Anteil werbender

__________ 75 76 77 78 79 80 81 82

Hopt (Fn. 37), § 89b HGB Rz. 91. Vgl. Küstner, VersR 2002, 520; Küstner, VW 2003, 61, der selbst a. A. ist. So aber Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 868. BGHZ 30, 98 = NJW 1959, 1430 für die Krankenversicherung; ebenso OLG Stuttgart, VersR 1957, 329 für die Krankenversicherung bei einer Erstprovision von 40 % des Jahresbeitrages und einer Folgeprovision von 15,5 % des Jahresbeitrages. Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 885. Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 888. BGHZ 30, 98, 106. LG Berlin, JRPV 1933, 30; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 901.

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Provision in den Folgeprovisionen83. Regelt der Vertrag, dass der VV bereits im ersten Versicherungsjahr keine Abschluss- oder Verlängerungsprovision, sondern nur Verwaltungsprovision erhält, so müssen in diesen „Verwaltungsprovisionen“ Entgelte für die Vermittlung enthalten sein, die ggf. geschätzt werden. Mit den Worten des BGH84 wäre diese Aufteilung nicht plausibel. Diskutiert wird, ob die Folgeraten mit zunehmendem Abstand von der Vermittlungstätigkeit allmählich mehr dem Charakter der Verwaltungsprovision zuneigen85. Dafür spricht der zeitliche Abstand zur Vermittlungstätigkeit, dagegen, dass sich der Wert dieser Vermittlungstätigkeit mit wachsender Vertragsdauer erhöht, also mit jeder Folgeprovision auch ein erhöhter Satz werbender Provision gezahlt wird. 4. Provisionsverluste (Tatbestandsmerkmal 4) a) Provisionsverzichtsklausel Wie beim Warenvertreter ist auch beim VV Anspruchsvoraussetzung, dass ihm infolge der Vertragsbeendigung Provisionsverluste in Form der für werbende Tätigkeit gezahlten Provisionen entstehen (§ 89b Abs. 1 Nr. 2 HGB). Provisionsverluste treten hinsichtlich aller Provisionen ein, die nach dispositivem Recht oder Vertrag infolge des Vertragsendes entfallen. Verbleiben dem VV nach Vertragsende verdiente Provisionen, mangelt es an Provisionsverlusten als Tatbestandsmerkmal des Ausgleichsanspruchs86. Beispiele nach Vertragsende fortlaufender Provisionen bilden nachvertragliche Provisionen gem. § 87 Abs. 3 Nr. 1 oder § 87 Abs. 3 Nr. 2 HGB. Dem VV wird jene Provision ohne Rücksicht auf eine zwischenzeitlich eingetretene Vertragsbeendigung fortgewährt. Der VV erleidet einen Provisionsverlust auf Grund der Vertragsbeendigung nur dann, wenn er im Vertrag auf die nach Vertragsende anfallenden Folgeprovisionen verzichtet hat. Folglich ist eine solche Provisionsverzichtsklausel die Grundlage für den Ausgleichsanspruch. Das gleiche gilt, sofern im System der Einmalprovision eine Provisionsverzichtsklausel ausbedungen worden ist und im Zeitpunkt der Vertragsbeendigung die Provision noch nicht fällig war. Bei Vermittlung langfristiger Verträge würde der VV ohne Provisionsverzichtsklausel noch jahrelang Folgeprovisionen erhalten. Dies soll durch die Verzichtsklausel und ihre kausale Folge, die einmalige Zahlung des Ausgleichs, verhindert werden. Eine Parallele zum Sukzessivliefervertrag des Warenvertreters, bei welchem der HV infolge fortlaufender Provisionszahlungen nach Vertragsende ebenfalls keinen Anspruch auf Provisionen verliert, ist gegeben87.

__________ 83 Trinkhaus, Handbuch der Versicherungsvermittlung, Bd. I, Provision und Abfindung des Versicherungsvermittlers, 1955, S. 253 ff.; a. A. Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 896. 84 BGH, MDR 2004, 402 = NJW-RR 2004, 469 = ZIP 2004, 1319 = EWiR 2004, 387 (Küstner) = WM 2004, 1483. 85 In diese Richtung Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 882. 86 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 144. 87 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 45.

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Der Ausgleichsanspruch tritt damit infolge der Provisionsverzichtsklausel als Surrogat an die Stelle der bereits dem Grunde nach aufgrund der erfolgreichen Vertragsvermittlung verdienten zukünftigen Provisionsansprüche, deren Entstehen durch die Provisionsverzichtsklausel gehindert wird88. Die Höhe der entgehenden nachvertraglichen Provision ist unsicher. Sie muss prognostiziert (§ 287 ZPO) werden. Eine Provisionsverzichtsklausel enthalten heute praktisch alle VV-Verträge89. Ohne diese Klausel wäre die Abwicklung des HV-Vertrages bei langjährigem Fortlaufen der vermittelten Versicherungsverträge, insbesondere nach Dynamisierungen, zu kompliziert, jedenfalls aus der Warte der Versicherer. b) Wirksamkeit der Provisionsverzichtsklausel Die Wirksamkeit der Provisionsverzichtsklausel ist umstritten. Die überwiegende Ansicht befürwortet sie90. Zweifel werden geäußert, weil der VV nach § 92 Abs. 4 HGB einen Provisionsanspruch erwirbt, sobald der Versicherungsnehmer die Prämie gezahlt hat, aus welcher die Provision nach dem Vertragsverhältnis berechnet wird. Eine Abweichung von dieser Norm soll den VV unangemessen i. S. d. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB benachteiligen. Zum Teil wird die Provisionsverzichtsklausel als sittenwidrig angesehen91, was die Situation überzeichnet. Der auf die Unwirksamkeit zielenden Auffassung wird entgegnet92, der Gesetzgeber sei in § 89b Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 HGB selbst von der Wirksamkeit einer Provisionsverzichtsklausel ausgegangen. Denn ohne sie gäbe es jedenfalls dann, wenn der Vermittlungserfolg durch nachvertraglich fortlaufende Provisionen in Abhängigkeit von der Laufzeit des vermittelten Versicherungsvertrages vergütet wird, mangels Provisionsverlusten keinen Ausgleichsanspruch des VV. Dabei ist allerdings zu fragen, ob sich diese Einsicht nicht eher gegen die Substitutionstheorie (Ausgleich substituiert Provisionen) wendet. Denn der Gesetzgeber begründet keinen gesetzlichen Ausgleich, der nur infolge vertraglicher Einigung entstehen kann. § 89b Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 HGB lässt sich schon vom Wortlaut her keine Aussage über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Provisionsverzichtsklausel entnehmen. Umgekehrt kann die Wirksamkeit nicht aus der gegenüber dem Warenvertreter auf das dreifache angehobenen Ausgleichshöchstgrenze hergeleitet werden93, weil sie zum ersten selten erreicht wird, zum zweiten eine gesetzliche Entscheidung ist, die mit der Frage der Wirksamkeit einer Provisionsverzichtsklausel keinerlei Verbindung hat und drittens ein ausnahms-

__________ 88 Vgl. Küstner, VersR 2002, 517. 89 OLG Düsseldorf, DB 1956, 1132; Hopt (Fn. 37), § 92 HGB Rz. 5. 90 BGHZ 30, 107; OLG Frankfurt, DB 1986, 1174 = BB 1986, 697; Sieg, VersR 1964, 789; Hopt (Fn. 37), § 92 HGB Rz. 5; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 28; a. A. Graf von Westphalen, DB 2000, 2256. 91 Siehe Nachweise bei Möller in Bruck/Möller (Fn. 18), vor §§ 43–48 VVG Anm. 369 (S. 849); Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 818. 92 Fuchs-Baumann, DB 2001, 2133, 2135; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 817. 93 So aber Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 817.

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weise ausgleichsbegrenzendes Tatbestandsmerkmal kaum Anlass sein kann, andere den VV benachteiligende Regelungen zu rechtfertigen. Teilweise wird die Unwirksamkeit auch aus dem Missverhältnis zwischen dem infolge der Provisionsverzichtsklausel zu zahlenden Ausgleich und der ohne Provisionsverzichtsklausel fälligen Provision hergeleitet94. Da Prüfungsmaßstab der Unwirksamkeit in VV-Verträgen – die immer AGB sind – vor allem § 307 BGB bleibt, fragt sich zunächst, ob die Höhe des immerhin eine Hauptleistung ersetzenden Ausgleichs kontrollfreie Preisnebenabrede ist. Dies ist nicht der Fall, da sich die Ausgleichshöhe aus dem Gesetz ergibt und einschränkende Abreden unwirksam sind. Das gleiche gilt aber nicht für die Provisionen, deren Umfang als Hauptleistung innerhalb der individualvertraglichen Grenzen des § 138 BGB kontrollfrei ist. Daraus ist zu schließen: Die Provision – auch eine nachvertragliche – darf infolge der Provisionsverzichtsklausel begrenzt werden. Das gilt nach dem BGH95 jedenfalls, sofern die Beschränkung plausibel bleibt. § 92 Abs. 4 HGB ist nur anwendbar, falls überhaupt eine Provision versprochen wurde und kann angesichts der dispositiven Natur der Provision, ebenso wenig wie das gesetzliche Leitbild der Üblichkeitsschranke des § 87b HGB, zur Kontrollfähigkeit einer Hauptleistung führen. Der Ausgleich wird nicht beschränkt, sondern es werden durch die Provisionsverzichtsklausel erst seine Tatbestandsvoraussetzungen hervorgerufen. Allenfalls liegt eine mittelbare Betroffenheit des Ausgleichs vor, die aber keinesfalls im Widerspruch zur zwingenden Natur des Ausgleichs (§ 89b Abs. 4 HGB) steht96. Die Provisionsverzichtsklausel dürfte daher in aller Regel wirksam sein. Eine gegenteilige Ansicht könnte man nur einnehmen, falls die nachvertragliche Fortzahlung trotz kompensierenden Ausgleichs als in AGB dispositionsfestes gesetzliches Leitbild angesehen würde. Hiervon ist nicht auszugehen, weil die Provisionshöhe zur Disposition in AGB steht97 und auch Einmalprovisionen zulässig wären. c) Keine Provisionsverluste bei Einmalprovisionen Ausgleichspflichtige Provisionsverluste reduziert der Umstand, dass Versicherungsprovisionen oft als Einmalprovisionen bei Zahlung der ersten Prämie geleistet werden. Nur wenn die Provision nicht in einer, sondern in mehreren Raten entrichtet wird, können dem VV infolge des Vertragsendes Provisionen entgehen98. Wie der BGH ausführt, ist es gestattet, Provisionen für die Vermittlung eines Dauerschuldverhältnisses mit einer Einmalprovision abzugelten und zu vereinbaren, dass die nach dem ersten Jahr erzielten Folgeprovisio-

__________ 94 Siehe Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 143; Küstner, VersR 2001, 513, 519; FuchsBaumann, DB 2001, 2131, 2133. 95 BGH, NJW-RR 2004, 469. 96 BGH, DB 2003, 1568, 1569 = MDR 2003, 1122 = WM 2003, 2110. 97 Schröder, BB 1963, 567; Löwisch (Fn. 19), § 87 Rz. 60; Sonnenschein/Weitemeyer (Fn. 43), § 87 HGB Rz. 4; Schröder (Fn. 19), § 87 HGB Rz. 55; a. A. wegen der erforderlichen Konformität mit der EG-Richtlinie 1986 Schmidt, ZHR 156 (1992), 512, 519. 98 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 863.

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nen allein für die Betreuung und Bestandspflege, also verwaltende Tätigkeiten, gewährt werden99. Bei Vertragsende ist die gesamte Einmalprovision bereits verdient; die Vertragsbeendigung führt zu keinem Provisionsverlust. Einmalprovisionen werden insbesondere im Bereich bestandskräftiger, langfristiger Verträge gewährt, bei denen der Versicherer das Risiko eingehen mag, die Provision für die vollständige Laufzeit im Vorwege zu leisten100. Vermittelt der VV wenig bestandsfeste Verträge, muss der Versicherer die Provisionsbelastung auf die gesamte Vertragsdauer in Form von Folgeprovisionen verteilen101. Die letztgenannte Provisionsform hat den Vorteil besserer Planbarkeit. Die erstgenannte belohnt den Unternehmer mit ihrer Ausgleichsunfähigkeit. Weniger bestandskräftig sind tendenziell die industrielle Feuer-, die Transport-, Maschinen- und Kfz-Versicherung102. Auch im Bausparwesen herrscht das System der Einmalprovision vor. d) Erweiterungsrechtsprechung Die in der Praxis bedeutendste Fallgruppe entgehender Provisionen bilden solche für Fortsetzungen, Vertragserweiterungen, -ergänzungen und Summenerhöhungen, die in engem wirtschaftlichem Zusammenhang mit dem Ursprungsvertrag stehen, nach Beendigung des Vertragsverhältnisses vorausschaubar anfallen und dann provisionspflichtig gewesen wären („Erweiterungsrechtsprechung“). Solche Anschlussgeschäfte (Zweitverträge) im Nachgang zu einem vom VV vermittelten und abgeschlossenen Erstgeschäft lösen trotz des Grundsatzes, dass der VV nur für eigene Tätigkeit Provision erhält (§ 92 Abs. 3 HGB), einen Provisionsanspruch des VV ohne neues Tätigwerden aus, sofern die Anschlussverträge mit dem Erstgeschäft in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen103. Die Anschlussgeschäfte führen zu einer Provisionsberechtigung, weil sie als noch auf der Tätigkeit des VV für den Urabschluss beruhend angesehen werden104. Die Tätigkeit des Erstgeschäfts färbt auf das Zweitgeschäft ab. Der Begriff der „Erweiterungsrechtsprechung“ wurde gebildet, weil trotz prima vista fehlender – gemäß § 92 Abs. 3 HGB allein provisionspflichtiger – Tätigkeit des VV beim Zustandekommen des Anschlussvertrages (besonders deutlich wird dies, falls der Zweitvertrag nach Beendigung des VV-Vertrages zustande kam) Tätigkeitsprovision zu leisten ist. In der Sache handelt es sich um eine Billigkeitsrechtsprechung. Es werden aber keinesfalls sämtliche Zweit- und weiteren Folgeverträge mit einem Kunden provisionspflichtig – und damit bei nachvertraglichem Provisionsverlust ausgleichs-

__________ 99 BGH, VersR 2005, 1283, 1285. 100 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 848, BGHZ 30, 98, 106; OLG Stuttgart, VersR 1957, 329, 332. 101 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 848. 102 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 849. 103 BGHZ 59, 125, 130 (für Bausparverträge); BGHZ 34, 310, 319; BGHZ 55, 45, 46 = NJW 1971, 462; BGH, MDR 1996, 696; von Hoyningen-Huene (Fn. 28), § 92 HGB Rz. 16; Koller/Roth/Morck (Fn. 28), § 92 HGB Rz. 4; a. A. Löwisch (Fn. 19), § 92 HGB Rz. 7. 104 Hopt (Fn. 37), § 92 HGB Rz. 4.

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fähig –, sondern nur solche, welche die vom BGH festgelegten Voraussetzungen erfüllen105. Entscheidendes Abgrenzungskriterium zwischen Ergänzungsvertrag und bloßem Zweitvertrag ist nicht die äußere Form der Vertragsgestaltung, sondern das Vorliegen eines engen wirtschaftlichen Zusammenhangs106. Ob die Fortsetzung oder Erweiterung in Form eines äußerlich selbständigen Vertrages erfolgt, ist unerheblich107. Der enge wirtschaftliche Zusammenhang wird angenommen, falls sich die ggf. nach Ausscheiden des VV geschlossenen Versicherungsverträge bei natürlicher Betrachtungsweise als Fortsetzung (Verlängerung) oder Erweiterung (Summenerhöhung) der vom VV zuvor vermittelten Verträge darstellen, jene Erweiterungen sowie Summenerhöhungen aus diesen Verträgen hervorgegangen sind und das gleiche Versicherungs- bzw. Bausparbedürfnis bedienen108. Die Chance solcher Folgeverträge war, den Nachbestellungen eines Stammkunden vergleichbar, mit der Vermittlung des Erstvertrages verbunden und hätte ohne Beendigung des HV-Verhältnisses beiden Teilen zur Nutzung offen gestanden. Erforderlich ist aber immer, dass der neue Versicherungsvertrag „automatisch“ aufgrund des Erstvertrages zum Folgevertrag leitet. Nur dann wirkt die provisionsbegründende (§ 92 Abs. 3 HGB) Tätigkeit des VV, welche zum Abschluss des Erst- und damit mittelbar zum Abschluss des Zweitvertrages führte, fort. Dies betrifft etwa echte Gruppenversicherungen, Vertragserweiterungen, Vertragsverlängerungen, Ergänzungsverträge und Dynamikprovisionen. e) Abschluss während der Laufzeit des VV-Vertrages Diskutiert wird, ob der VV für solche in wirtschaftlichem Zusammenhang stehenden Verträge nur während des bestehenden VV-Vertrages Provisionen verlangen kann109. Wäre dies anzunehmen, müsste insoweit selbst ohne Provisionsverzichtsklausel ein Ausgleich entstehen. Denn jene Provisionen entfallen infolge des Vertragsendes. Gegen den nachvertraglichen Anfall der für einen Anschlussabschluss entstehenden Provisionen spricht, dass der Anschlussvertrag ein neues Geschäft bildet, welches nur während der Vertragslaufzeit provisionspflichtig ist. Andererseits werden die Voraussetzungen des § 87 Abs. 3 HGB regelmäßig erfüllt sein. Denn der VV hat das Geschäft vorbereitet und das Anschlussgeschäft ist meist überwiegend auf seine Tätigkeit zurückzuführen. Voraussetzung ist, dass das Geschäft innerhalb einer gemäß den Verhältnissen des Einzelfalls angemessenen Frist nach Beendigung des Vertragsverhältnisses abgeschlossen wurde110. Es sind keine zu kurzen Fristen

__________ 105 OLG Celle, VersR 2002, 976. 106 BGHZ 34, 310, 319; BGHZ 59, 125, 130; von Hoyningen-Huene (Fn. 28), § 89b HGB Rz. 241. 107 BGHZ 34, 310, 319. 108 BGHZ 34, 310 = BB 1961, 381; OLG Celle, VersR 2002, 976 m. Anm. Küstner, VersR 2002, 980 und Thume, VersR 2002, 981; siehe auch Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 923. 109 Schröder (Fn. 19), § 92 HGB Rz. 7c. 110 Schröder (Fn. 19), § 92 HGB Rz. 7c.

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anzusetzen111. Man kann sogar zu dem Ergebnis gelangen, dass die angemessene Frist die volle Laufzeit der Rahmenverträge bildet112. Wahrscheinlich ist die Relation der seit Vertragsende vergangenen Dauer zur Gesamtlaufzeit des betreffenden Ursprungsvertrages entscheidend. f) Prognosedauer Nicht anders als beim Warenvertreter muss zur Ermittlung der Provisionsverluste und des Unternehmervorteils im Wege einer Prognose die künftige Laufzeit der vom VV vermittelten Versicherungsverträge abgeschätzt werden113. Ein kurzer Prognosezeitraum führt dazu, dass der VV kein ausreichendes Äquivalent für die entgehenden Provisionen erhält; ein zu langer dazu, dass fiktive Provisionszahlungen in die Ausgleichsberechnung einfließen würden, obwohl die entgehenden Provisionen längst abgegolten sind114. Letztgenanntes Risiko wird durch die Ausgleichshöchstgrenze begrenzt. Die Prognose richtet sich darauf, welche Bestandsdauer bei den ausgleichspflichtigen Versicherungsverträgen als wahrscheinlich zugrunde zu legen ist. Viele Faktoren, wie etwa das versicherte Risiko oder Alter und Beruf der Versicherungsnehmer, können bei jener Prognose eine Rolle spielen. Auf diese Weise lassen sich konkrete Anhaltspunkte für jeden einzelnen Vertrag finden, die in die Ermittlung der Restlaufzeit einfließen. Aber auch generelle Gesichtspunkte, wie die durchschnittliche Dauer von Versicherungsverträgen in den einzelnen Sparten, die Lebenserwartung der versicherten Personen etc. stellen berücksichtigungsfähige Faktoren dar. Da die Verhältnisse des Einzelfalls im jeweils ausgleichspflichtigen Bestand kaum feststellbar sind, wird die Prognose am treffendsten durch gem. § 287 ZPO verwertbare statistische Erhebungen zu führen sein. Das gilt auch für die Prognose hinsichtlich der zu erwartenden ausgleichsfähigen Fortsetzungen und Erweiterungen. Das OLG Stuttgart115 hat den Jahresdurchschnitt der Provisionseinnahmen des HV aus Zweitverträgen für die letzten drei Jahre des HV-Verhältnisses zugrunde gelegt und, nachdem es den Anteil der ausgleichsfähigen unter den Zweitverträgen mit 50 % geschätzt hatte, die darauf entfallenden Provisionen mit dem Faktor 4 multipliziert, indem es die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Anfalles solcher ausgleichsfähigen Zweitverträge auf die Dauer von vier Jahren nach Ende des HVVerhältnisses begrenzte116. Den gleichen Zeitraum billigten die Entscheidungen LG München I, BB 1981 513 und LG Heilbronn, BB 1980 1819. Die Regelprognosedauer sollte daher – nicht anders als im Warenvertrieb – auch im Ver-

__________ 111 112 113 114 115 116

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Schröder (Fn. 19), § 92 HGB Rz. 7c. Schröder (Fn. 19), § 92 HGB Rz. 7c. Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 882. Küstner, VersR 2002, 519. Hierzu OLG Stuttgart, VersR 1972 44 m. Anm. Höft. OLG Stuttgart, VersR 1972 44 m. Anm. Höft. Der BGH hat dieses Verfahren im Revisionsurteil BGHZ 59, 125, 130 gebilligt.

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sicherungsvertrieb vier Jahre betragen117. Teilweise werden sogar Prognosezeiträume von 12, 15 bis 43 Jahren118 oder 12 Jahren119 vertreten. Dem widerspricht, dass die Vertragsfortsetzung nur für eine überschaubare und in ihrer Entwicklung noch abschätzbare Zeitspanne unterstellt werden darf120. 5. Billigkeit (Tatbestandsmerkmal 5) Gemäß § 89b Abs. 1 Nr. 3 HGB muss die Zahlung eines Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände der Billigkeit entsprechen. Der bei der Auslegung aller Tatbestandsmerkmale des § 89b HGB zu beachtende121 Billigkeitsgrundsatz dient als Auffangkriterium dazu, sämtlichen Umständen Rechnung zu tragen, welche bei der abstrakten Berechnung der Höhe des dem Unternehmer verbleibenden Vorteils und der dem VV entstandenen Verluste nicht verwertet werden können122. Der nach § 89b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 HGB berechnete Ausgleich trägt die Vermutung seiner Billigkeit in sich123. Demjenigen, der eine Erhöhung oder Reduzierung unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit behauptet, obliegt folglich die Darlegungs- und Beweislast für die Billigkeitserwägungen (Regel-/Ausnahmeverhältnis). Streitpunkt ist meist die vom Versicherer gewährte Altersversorgung: Da für den Ausgleichsanspruch keine Rückstellungen vorgenommen werden dürfen, für die Altersversorgung jedoch Pensionsrückstellungen gem. § 6a EStG124, haben sich viele Versicherer entschieden, eine steuerlich vorteilhafte Altersversorgung125 zu gewähren. Das macht wirtschaftlich nur Sinn, wenn diese Altersversorgung nicht zusätzlich zum Ausgleich sondern an seiner Stelle gezahlt wird. Deshalb hat die Diskussion um den Abzug des Anwartschaftsbarwertes der Altersversorgung von dem zu leistenden Ausgleich im Versicherungsvertrieb eine besondere Bedeutung erlangt. Löwe/Schneider126 vertreten etwa, eine die Anrechnung gebietende, unbillige Doppelbelastung des Unternehmers mit Ausgleich und Altersversorgung fehle in Höhe der steuerlichen Ersparnis des Unternehmers durch Pensionsrückstellungen gem. § 6a EStG127. Das OLG Celle128 hingegen sprach sich gegen die Berücksichtigung steuerlicher Vorteile aus. Entscheidend sei lediglich, was dem Versicherer durch die Versorgungsbezüge an Vorteilen zufließe. Deren Umfang werde durch die Steuervergünstigungen nicht berührt. Diese

__________

117 Längere Prognosezeiträume wurden in den Entscheidungen des BGH, BB 1975, 1409 = WM 1975, 931 sowie des OLG Bamberg v. 24.10.1983 – 4 U 186/82, n. v., zit. nach Küstner, VersR 2002, 519, angenommen. 118 Küstner, VersR 2002, 518. 119 Küstner, VersR 2002, 518. 120 OLG München, VersR 2006, 1123, 1125. 121 Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 102. 122 BGH, BB 1957 1161 – insoweit in NJW 1958, 23 nicht abgedruckt. 123 BGH, DB 1977, 720, 721; Schneider, MDR 1970, 976; Saenger, DB 2000, 129, 132; Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 103; Schröder (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 17. 124 BFH, DB 2001, 1227 = BB 2001, 1241; Löwe/Schneider, ZIP 2003, 1129, 1130. 125 Siehe Löwe/Schneider, ZIP 2003, 1129. 126 ZIP 2003, 1129; VersR 2004, 1518. 127 Löwe/Schneider, ZIP 2003, 1129, 1130. 128 OLG Celle, VersR 2002, 976, 979.

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Ansicht teilt das OLG München: Ein durch Steuervorteile erreichter „gewisser Selbstfinanzierungseffekt“ sei hinzunehmen129. Welcher Ansicht zuzustimmen ist, ist schwer zu bestimmen. Stellt man auf den Erfüllungsgedanken ab, wird man auf das vom HV tatsächlich Erhaltene rekurrieren. Sieht man dagegen die Leistung des Unternehmers im Vordergrund, kommt es auf dessen tatsächlichen Vermögensverlust an. Wahrscheinlich sind beide Elemente zu berücksichtigen, da es das eine nicht ohne das andere gäbe130. Es entspricht i. d. R. der Billigkeit, dass der Kapitalwert der Altersversorgung mit dem Ausgleichsanspruch des HV verrechnet wird, sofern Ausgleichsanspruch und Altersversorgung gleichzeitig fällig werden131. Tritt die Fälligkeit der Altersversorgung zwölf Jahre nach Vertragsende ein, bestehen gegen die Anrechnung ebenfalls keine Bedenken132. In seinem Urteil vom 17.11.1983133 hatte der BGH die Anrechnung des Anwartschaftsbarwertes einer Altersversorgung, die erst 24 Jahre nach Vertragsbeendigung fällig wurde, nicht beanstandet. 1994 verneinte der BGH die Anrechnung bei einer Fälligkeitsdifferenz von 21 Jahren134. Die Substitution des Ausgleichs durch eine betriebliche Altersversorgung kann risikoreich sein. Derartige Altersversorgungen könnten unter das BetrAVG fallen. Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung sind grundsätzlich gemäß § 1b BetrAVG unverfallbar. Zwischen selbstständigen Kaufleuten gelten arbeitsrechtliche Grundsätze aber nicht ohne weiteres. Möglicherweise wird man daher den Widerruf einer Versorgungszusage in einem HV-Vertrag unter den Bedingungen zulassen müssen, unter denen auch ein Ausgleich gemäß § 89b Abs. 3 Nr. 2 HGB entfallen würde135. Was das Gesetz leitbildartig für den Fall der Ausgleichszahlung als billig ansieht, muss entsprechend für die ausgleichsvertretende Leistung gelten. Nur auf diese Weise kann die nötige Konkordanz zwischen dem Ausgleichsrecht und dem Substitut des Ausgleichs, der Versorgungszusage, hergestellt werden. Für diese Diagnose dürfte die Entscheidung des BGH vom 21.5.2003136 sprechen. Dort hat der BGH ausgeführt, die AGB „mit der Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs verzichte der HV auf die unternehmerfinanzierte Altersversorgung“ verstoße nicht gegen die zwingende Natur des Ausgleichs oder § 307 BGB. Der Ausgleich bleibe unberührt und lediglich die Altersversorgung entfalle. Der Unternehmer habe eine Gestaltung gewählt, welche die Altersversorgung unter der auflösenden Bedingung der Nichtgeltendmachung des Ausgleichs begründe. In dieser Entscheidung hat der BGH die auflösende Bedingung nicht an den Regelungen des BetrAVG gemessen. Also wird er in jenen kein Problem gesehen haben.

__________ 129 OLG München, VersR 2006, 1123 = DB 2006, 1371. 130 Emde, BB 2005, 389, 397. 131 OLG München, VersR 2006, 1122 ff. bestätigt durch Nichtzulassung der Revision durch den BGH am 30.5.2006 – VIII ZR 201/05. 132 OLG München, VersR 2006, 1123, 1126. 133 BGH, DB 1984, 556. 134 BGH, NJW 1994, 1350. 135 So LG Potsdam, Urt. v. 9.4.2008 – 52 O 9/07, n. v. 136 BGH, VersR 2002, 1253 = DB 2003, 1568.

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6. Ausgleichshöchstgrenze (Tatbestandsmerkmal 6) Gemäß § 89b Abs. 5 i. V. m. Abs. 2 HGB beträgt der Ausgleichsanspruch des VV höchstens drei Jahresprovisionen oder Jahresvergütungen. Bei kürzerer Vertragsdauer ist der Durchschnitt während der Tätigkeitsdauer maßgebend. Da der Ausgleich des VV hauptsächlich die Funktion hat, eine bereits verdiente, nur infolge Provisionsverzichts nicht mehr entstehende Vermittlungsprovision abzugelten, erschien dem Gesetzgeber das vom Warenvertreter bekannte Modell der Begrenzung des Ausgleichs auf den einfachen Jahresbetrag des Provisionseinkommens (§ 89b Abs. 2 HGB) als zu starker Einschnitt. Denn die Laufzeit der vom Verzicht betroffenen Folgeprovisionen wäre in den meisten Fällen erheblich länger. Für die Höchstgrenze des Ausgleichs des VV sind die gesamten Bruttoprovisionen maßgebend, die ihm in den letzten fünf Tätigkeitsjahren zugeflossen sind. Maßgebend ist das Dreifache der nach dem Modus des § 89b Abs. 2 HGB zu errechnenden Jahresbruttoprovision (Einjahresprovision nach dem Durchschnitt der letzten fünf Vertragsjahre, nicht etwa die Summe der Bruttoprovisionen aus den letzten drei Jahren vor Vertragsbeendigung)137. In die Ausgangsmasse für diese Berechnung sind alle Provisionen des HV einzurechnen, eingeschlossen Verwaltungsprovisionen138 sowie Provisionen aus bei Vertragsbeginn übernommenen Beständen139. Allgemeine Kosten des VV sind nicht abzuziehen, es sei denn sie sind durchlaufende Posten, etwa Provisionen, die an Untervertreter weiterzuleiten sind140.

IV. Die „Grundsätze“ der Versicherungswirtschaft Angesichts der umständlichen und wenig transparenten Ausgleichsberechnung haben sich die beteiligten Verkehrskreise auf Grundsätze zur Ausgleichserrechnung geeinigt, welche die Schwierigkeiten der Ausgleichsbezifferung reduzieren sollten. Tatsächlich ist eine solche Vereinfachung und vor allem Standardisierung Folge der Einführung der Grundsätze geworden. Gleichfalls ist es aber Folge der Grundsätze, dass sich – anders als etwa beim Warenvertreter – kaum Standards etabliert haben, wie der Ausgleich des VV aus § 89b Abs. 5 HGB direkt zu ermitteln wäre. Insbesondere die Abgrenzung zwischen verwaltenden und werbenden Provisionsanteilen bei der Ausgleichsberechnung wurde wenig fortgebildet, weil es auf diese Differenzierung im Rahmen der Grundsätze nicht ankommt141.

__________ 137 Hopt (Fn. 37), § 89b HGB Rz. 94. 138 BGH, DB 1971, 185. 139 Leuze (Fn. 55), S. 27; Möller, Recht und Wirklichkeit der Versicherungsvermittlung, 1944, Anm. 384, S. 873; Geßler (Fn. 37), S. 81; Schröder (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 42. 140 Möller (Fn. 139), Anm. 384, S. 873; Schröder (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 23c; Küstner/ Thume II (Fn. 11), Rz. 1582; Lohmüller, VW 1955, 151. 141 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 1853.

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Die Grundsätze sind empfehlende Regelungen142. Kein VV oder Versicherer kann ohne wirksame Vereinbarung gezwungen werden, den Ausgleich nach den Grundsätzen zu berechnen. Eine vor Vertragsende getroffene Vereinbarung der Grundsätze wäre wegen Verstoßes gegen § 89b Abs. 4 HGB unwirksam143. Denn es lässt sich nicht im Voraus bestimmen, was ein „angemessener“ Ausgleich ist144. Nur nachvertraglich darf die Ausgleichsberechnung nach den Grundsätzen vereinbart werden145, auch konkludent146 durch stillschweigende Akzeptanz147, etwa mittels rügeloser Einlassung auf die Ausgleichsberechnung nach den Grundsätzen. Folglich handelt es sich bei den Grundsätzen allenfalls um eine Option zur Berechnung. Eine Ausgleichsberechnung aus § 89b HGB direkt bleibt möglich. Faktisch bildet sie die Ausnahme148. Wegen des Vereinfachungseffekts der Ausgleichsberechnung fragt sich, wer sich angesichts der Schwierigkeiten der Berechnung außerhalb der Grundsätze über die Unwirksamkeit der Grundsätze und die Wahlfreiheit der Berechnungsansätze mehr freuen kann, die Versicherer oder der darlegungs- und beweisbelastete VV. Die Grundsätze sind aus wirtschaftlichen Erwägungen gefasst worden. Sie geben keine Rechtsauffassung der beteiligten Verbände wieder und können weder Rechtsanwender noch Gerichte binden. Sie bilden auch keinen Vertrag zugunsten der VV als Dritte, und zwar bereits deshalb nicht, weil die empfehlenden Verbände Verbandsmitgliedern keine Rechte und Pflichten zuweisen können149. Ferner fehlt den Grundsätzen die Qualifikation als Handelsbrauch150. Denn Handelsbräuche bilden sich nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht, hier: das Verbot des Vorausverzichts nach § 89b Abs. 4 Satz 1 HGB. Zwar mochte lange Zeit angesichts der Häufigkeit der Ausgleichsberechnung auf Basis der Grundsätze noch von einer allgemeinen, nahezu ausnahmslos erfolgten tatsächlichen Übung gesprochen werden. Zumindest die freiwillige Anerkennung der maßgeblichen Handelskreise ist jedoch infolge der Diskus-

__________

142 OLG Köln, BB 1974, 1093 = VersR 1974, 995; OLG Frankfurt, NJW-RR 1996, 548 und v. 30.6.2000 – 10 O 217/99, n. v.; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 1854. 143 OLG Celle, VersR 2002, 976, 977. 144 OLG München, VersR 2006, 1124, 1125; siehe auch BGH, VersR 2003, 368 = DB 2003, 144 = EWiR 2003, 231 (Emde); BGH, VersR 2003, 323 = ZIP 2003, 264 = MDR 2003, 278 = EWiR 2003, 229 (Küstner). 145 OLG München, VersR 2006, 1124, 1125 = DB 2006, 1371. 146 OLG München, VersR 2006, 1123, 1125 = DB 2006, 1371. 147 Vgl. OLG München, VersR 2006, 1123, 1125 = DB 2006, 1371. 148 Nach Ansicht von Küstner in Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 1852 sollte eine Ausgleichsberechnung außerhalb der Grundsätze die absolute Ausnahme darstellen. 149 Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 1854; Schröder (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 43; a. A. BAG, DB 1996, 919, 920 (Ausgleichsberechtigung aus dem Gesichtspunkt des Vertrags zu Gunsten Dritter). 150 A. A. OLG München, VersR 1974, 288; LG München, VersR 1976, 467; LG München, VersR 1975, 736; LG Wiesbaden, VersR 1975, 145; LG Frankfurt, VW 1974, 1280; LG München, VersR 1975, 81; LG München v. 22.3.1973 – 4 HK O 292/72, n. v.; LG Hamburg, VersR 1972, 742; gegen einen Handelsbrauch OLG Frankfurt, DB 1970, 228 = NJW 1970, 418 = VersR 1970, 271 und BB 1986, 896 = VersR 1986, 388; Thume, BB 2002, 1325; Martin, VersR 1970, 796; Oswald, VersR 1979, 509; Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 1856; offen gelassen von OLG München, VersR 2006, 1124, 1125.

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sion um die Wirksamkeit der Grundsätze zweifelhaft. Eher könnte es sich um im Rahmen des § 287 ZPO maßgebliche Schätzwerte anerkannter Sachkenner handeln151 bzw. um einen Ausdruck der Vorstellungen der beteiligten Wirtschaftskreise zur Höhe eines angemessenen Ausgleichs152. Das Problem der Anerkennung als gemäß § 287 ZPO maßgebliche Schätzwerte ist das Spannungsverhältnis zur zwingenden Natur des Ausgleichs. Wie oben dargestellt darf niemand gezwungen werden, den Ausgleich nach den Grundsätzen zu berechnen. Würden sie wider Willen einer der Parteien als Schätzgrundlage herangezogen, widerspräche dies möglicherweise § 89b Abs. 4 HGB153. Die Einordnung der Grundsätze als „antizipiertes Sachverständigengutachten“ i. S. d. § 287 ZPO könnte eine unzulässige geltungserhaltende Reduktion darstellen. Die Grundsätze haben ihre Maßgeblichkeit als unparteiische Schätzgrundlage durch ihre regelmäßige, im Interesse der Versicherer liegende Einfügung in deren AGB verloren. Sie können nach Feststellung ihrer Unwirksamkeit gem. § 307 BGB nicht mehr als Schätzgrundlage unter den Mantel einer Berechnung nach § 89b Abs. 5 HGB schlüpfen.

V. Ausgleichsberechnung nach § 89b HGB direkt 1. Einleitung Nicht sicher geklärt ist, wie die Ausgleichsberechnung nach § 89b Abs. 5 HGB direkt erfolgt. Teils wird sie analog den Grundsätzen zur Ausgleichsberechnung des Warenvertreters vorgenommen: Aus den Provisionen des letzten Vertragsjahres wird nach Abzug eines verwaltenden Anteils und einer Abwanderungsquote auf die Provisionsverluste geschlossen. Daraus errechnet sich der Ausgleichsrohbetrag. Jener wird dann abgezinst, etwa nach Gillardon154 oder Hoffmann155. Der Unternehmervorteil soll dem so errechneten Provisionsverlust entsprechen. Eine solche Berechnung trage die Vermutung der Billigkeit in

__________ 151 BAG, DB 1986, 919, 920; OLG Düsseldorf, VersR 1979, 837; VersR 1981, 979; VersR 1980, 186; VersR 1979, 837; OLGR 1996, 259; OLG München, VersR 1988, 1069; OLG Frankfurt a. M., VersR 1986, 815; VW 1986, 894; VW 2001, 1048; OLG Hamburg, VersR 1993, 476 und OLG Saarbrücken, VW 1988, 1375; LG Hannover, VW 1979, 1270; VW 1978, 558 und BB 1976, 664 mit Anm. Küstner; LG Bielefeld, VW 1983, 251; LG Dortmund, Urt. v. 25.8.1999, – 10 O 95/99, n. v.; LG Düsseldorf, VersR 1980, 186; VersR 1981, 979; LG Frankfurt a. M. v. 2.5.2001 – 3/9 O 47/99, n. v.; LG Hamburg, VersR 1972, 742; LG Köln, VW 1983, 250; v. 9.1.2003 – 2 O 305/99, n. v.; LG München I, VersR 1988, 1069; LG Osnabrück v. 4.12.2001 – 14 O 366/00, n. v.; LG Stuttgart, VersR 1975, 1005; LG Wiesbaden, VW 1985, 411; LG Wiesbaden v. 29.7.1999 – 2 O 235/97, n. v.. Das OLG Düsseldorf, VersR 1979 831 betont, dass die Grundsätze „auf kompetentester Sachkunde beruhen und deshalb die Vermutung der Gerechtigkeit und Billigkeit für sich haben“. 152 Martin, VersR 1970, 796. 153 Emde, BB 2006, 1121, 1122. 154 Gillardon, Multifaktoren, Bretten 1976; s. etwa für den Kfz-Bereich OLG Saarbrücken, NJW-RR 2003, 900 = EWiR 2003, 825 (Emde). 155 BGHZ 115, 307, 310 = NJW 1991, 3274; Löwisch (Fn. 19), § 89b HGB Rz. 128.

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sich und der derart bestimmte Rohausgleich werde lediglich durch die Ausgleichshöchstgrenze des § 89b Abs. 5 Satz 2 HGB verkürzt. Es ist fraglich, ob so gerechnet werden darf. Wie ausgeführt fehlen beim VV regelmäßig durch die Vertragsbeendigung eintretende Provisionsverluste. Ausgleichspflichtig sind nur die nach den obigen Maßstäben bestimmten, infolge der Provisionsverzichtsklausel entgehenden nachvertraglichen Folgeprovisionen. Die beim Warenvertreter existierende Vermutung, von den Provisionen der Vergangenheit könne auf entgehende zukünftige Provisionen geschlossen werden, ist beim VV unangebracht, weil die Provisionen der Vergangenheit erhebliche Anteile nicht ausgleichspflichtiger Einmalprovisionen enthalten. Ausgleichsfähig sind in erster Linie Abschlussprovisionen aus nach dem Ausscheiden des VV zustande gekommenen Versicherungsverträgen, wenn sich diese Verträge als Fortsetzung oder Erweiterung der von ihm zuvor vermittelten Verträge darstellen (s. o.)156. Die Ausgleichsberechnung würde also verfälscht, falls man aus den in der Vergangenheit erzielten auf die entgehenden Provisionen der Zukunft schließen würde. Eine recht plastische Darstellung der Ausgleichsberechnung nach § 89b Abs. 5 HGB gibt das Urteil des OLG Celle vom 16.5.2002157. 2. Eigener Ansatz zur Ausgleichsberechnung Ziel der Ausgleichsberechnung ist die Bestimmung der vermutlich dem VV in Zukunft entgehenden Provisionen. Das sind die oben dargestellten nachvertraglichen Provisionen. Ohne eine Schematisierung wäre die Ausgleichsberechnung nicht handhabbar. Nach der hier vorgeschlagenen Formel sind Ausgleichsbemessungsgrundlage alle Folgeprovisionen des letzten Vertragsjahres aus neu vermittelten oder wesentlich erweiterten Versicherungsverträgen. Verlief das letzte Vertragsjahr untypisch, ist auf den Durchschnitt dieser Provisionen aus einem längeren Zeitraum, etwa einem Fünfjahreszeitraum, abzustellen. Übertragene Bestände bleiben außer Betracht, es sei denn, die einzelnen Verträge sind vom VV so erweitert worden, dass dies wirtschaftlich der Vermittlung eines neuen Versicherungsvertrages entspricht (§ 89b Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 HGB)158. Entsprechend der an anderer Stelle zum Warenvertreter dargelegten Vermutung159 sollte nach sechsmonatiger Vertragsdauer von einem Neukundenanteil von 5 % der Folgeprovisionen, nach dem ersten Vertragsjahr von 10 %, nach dem zweiten Vertragsjahr von 20 %, dem dritten Vertragsjahr von 30 %, dem vierten Vertragsjahr von 40 % und ab dem fünften Vertragsjahr von 50 % ausgegangen werden. Bei Anwendung dieser Vermutung ist auch der Anteil erwei-

__________ 156 BGHZ 34, 310 = BB 1961, 381; OLG Celle, VersR 2002, 976 m. Anm. Küstner, VersR 2002, 980 und Thume, VersR 2002, 981; s. a. Küstner/Thume II (Fn. 11), Rz. 923. 157 OLG Celle, VersR 2002, 977. 158 OLG München, VersR 2006, 1124, 1125. 159 Emde, VersR 2006, 1592, 1600.

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Der Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters

terter Altverträge abgegolten. Streit über den Neuanteil wird es oft nicht geben, weil nur für „neue“ Versicherungsverträge Folgeprovision geleistet wird. Der Anteil der ausgleichspflichtigen, in engem wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem Ursprungsvertrag stehenden und damit ausgleichspflichtigen Verträge sollte mit 50 % der gesamten Folgeprovisionen des nach vorstehenden Maßstäben bestimmten Ausgleichsbemessungsjahres vermutet werden160. Der verwaltende Anteil ist im VV-Recht wegen des hohen Anteils an Bestandspflegeprovisionen als Vermutung mit weiteren 50 % anzusetzen161. Deshalb muss von dem bis hierher errechneten Zwischenergebnis ein nicht ausgleichsfähiger, verwaltender Anteil von 50 % abgezogen werden. Der verbleibende Betrag ist mit der Zahl 4 für den vierjährigen Prognosezeitraum zu multiplizieren (siehe III.4.f) und mit insgesamt 10 % abzuzinsen. Das OLG Celle162 hat eine Abzinsung von jährlich 4 % für angemessen gehalten. Der so bestimmte Rohausgleich begründet für sich die Vermutung der Billigkeit. Im Anschluss ist zu überprüfen, ob der errechnete Betrag die Ausgleichshöchstgrenze des § 89b Abs. 5 HGB überschreitet. Der Gegenbeweis einer unangemessenen Ausgleichshöhe ist zulässig. Allerdings trägt diejenige Partei die Beweislast, die einen höheren oder niedrigen Ausgleich als nach dieser Vermutung errechnet behauptet.

__________ 160 BGHZ 59, 125, 130; OLG Stuttgart, VersR 1972, 44 m. Anm. Höft; LG Heilbronn, BB 1980, 1819 (hiergegen Küstner, Beiheft 12 zu BB 1981 Heft 10, S. 8); das OLG Celle (VersR 2003, 976, 977) geht von einem Anteil von 45 % der zu berücksichtigenden Folgeverträge an den gesamten Folgeverträgen aus und vereinfacht die Ausgleichsberechnung, indem es eine Quote von Folgeverträgen von 20,25 % an den gesamten jährlichen Abschlussprovisionen annimmt. Dies entspricht der Abwanderungsquote nach den Grundsätzen im Bausparbereich. Nach Ansicht von Höft (VersR 1972, 74) besteht gegenüber der Vermutung von prozentualen Anteilen der Folgeverträge am gesamten Neugeschäft Skepsis. 161 OLG Hamm, VersR 1995, 658 = VersVerm 1995, 376 m. Anm. Hoheisel/Wesemann = r+s 1995, 279; VersR 1987, 155; LG München I, VW 1994, 708; AG München, BB 1993, 2270; LG Hagen, VersR 1986, 144 (zum Makler). 162 OLG Celle, VersR 2002, 976, 978.

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Der Regress gegen Mitgesellschafter bei Personenhandelsgesellschaften Inhaltsübersicht I. Problem II. Die Anwendbarkeit von § 128 HGB auf Ansprüche aus § 110 HGB 1. Die Beschränkung der Haftung der Mitgesellschafter durch § 707 BGB a) Die Reichweite von § 707 BGB b) Vergleich mit der Haftung für Gesellschaftsschulden 2. Das Zufalls-Argument 3. Das Anreiz-Argument 4. Die Wahrung der gesellschaftsinternen Kompetenzverteilung a) Der Grund für die Haftung der Mitgesellschafter im Rahmen von Drittgläubigerbeziehungen

b) Die geringen Anforderungen von § 110 Abs. 1 HGB 5. Zwischenergebnis III. Anknüpfungspunkte für die Haftung der Mitgesellschafter aus § 128 Satz 1 HGB 1. Vertragliche Ansprüche gegen die Gesellschaft 2. Ansprüche gegen die Gesellschaft aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683, 684 BGB) IV. Zusammenfassung 1. Fallbeispiel 2. Thesen

I. Problem Nach §§ 128, 129 HGB haften die Gesellschafter einer OHG akzessorisch für deren Schulden. Gemäß § 161 Abs. 2 HGB gilt dasselbe für die Komplementäre einer KG, und gemäß § 171 Abs. 1 HGB für die Kommanditisten bis zum Betrag ihrer Einlage, soweit diese nicht geleistet ist. Diese Haftung der Gesellschafter wird wesentlich eingeschränkt, wenn Gläubiger der Forderung gegen die Gesellschaft ein anderer Gesellschafter ist. Art und Ausmaß der Einschränkung hängen dabei wesentlich davon ab, worauf die Forderung des Gesellschafters gegen die Gesellschaft beruht. Ich möchte das Problem anhand von drei Fällen veranschaulichen. Fall 1: Die X-KG hat drei Komplementäre. Komplementär A betreibt neben seiner Tätigkeit für die KG einen Büromaschinenhandel. Er verkauft einen Kopierer an die KG und will wissen, von wem er Bezahlung der Rechnung verlangen kann.

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A steht der KG hier wie ein fremder Verkäufer – als sogenannter Drittgläubiger – gegenüber. Er hat gegen sie Anspruch auf Kaufpreiszahlung aus § 433 Abs. 2 BGB1. Die Komplementäre haften für diesen Anspruch ganz normal nach §§ 128 Satz 1, 161 Abs. 2 HGB. Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht setzt der Inanspruchnahme der Mitgesellschafter allerdings Grenzen; insbesondere ist die Haftung der Mitgesellschafter gegenüber der Haftung der Gesellschaft subsidiär, d. h. der Gesellschafter-Gläubiger kann die Mitgesellschafter nur in Anspruch nehmen, soweit eine Befriedigung aus dem Gesellschaftsvermögen nicht zu erwarten ist2. Keine Einigkeit besteht darüber, in welcher Höhe jeder Mitgesellschafter haftet. Der Gesellschafter-Gläubiger muss sich jedenfalls seinen eigenen Verlustanteil anrechnen lassen, da er diesen letztlich selbst tragen muss (dolo facit qui petit quod redditurus est)3. Umstritten ist nun, ob die Mitgesellschafter bezüglich des Rests gesamtschuldnerisch haften, wie es § 128 Satz 1 HGB vorsieht4, oder nur anteilig5. Die h. M. nimmt – entgegen Karsten Schmidt, aber meiner Ansicht nach zu Recht – eine gesamtschuldnerische Haftung an. Für die Mitgesellschafter, die durch die Subsidiarität ihrer Haftung ohnehin im Vergleich zur Haftung gegenüber Fremden bevorzugt werden, ist die gesamtschuldnerische Haftung mit dem Zwang, gegebenenfalls untereinander Regress zu nehmen, nicht so belastend, dass eine Einschränkung des § 128 HGB unter dem Aspekt der Treuepflicht geboten wäre. Umgekehrt könnte eine nur anteilige Haftung den Gesellschafter-Gläubiger erheblich belasten, wenn er z. B. ermitteln müsste, in welcher Höhe Kommanditisten ihre Einlagen erbracht oder Rückzahlungen erhalten haben6. Fall 2: Komplementär A wird von Gläubiger G auf Bezahlung einer Schuld der KG in Anspruch genommen und möchte Rückgriff nehmen.

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1 Aufgrund der Gesellschafterstellung des A unterliegt die Geltendmachung dieses Anspruchs der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht. Diese ist hier allerdings sehr schwach ausgeprägt, da der geltendgemachte Anspruch vom Gesellschaftsverhältnis unabhängig ist. Sie verbietet nur eine Geltendmachung des Anspruchs zur Unzeit, wenn er durch Zuwarten nicht gefährdet wäre (Walter, JuS 1982, 81, 85). 2 Einer vorherigen Klage gegen die Gesellschaft bedarf es nicht, es genügt, dass sie auf Aufforderung nicht zahlt (BGH, NJW-RR 2002, 455, 456; Habersack in Großkomm. HGB, 4. Aufl. 1997, § 128 HGB Rz. 26; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2006, § 128 HGB Rz. 20). Gegen Subsidiarität RGZ 153, 305, 313 f. 3 RGZ 153, 305, 311; BGH, NJW 1983, 749; Emmerich in Heymann, HGB, 2. Aufl. 1996, § 128 HGB Rz. 15; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 25; Hillmann in Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 128 HGB Rz. 10, 20; Hopt in Baumbach/ Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 128 HGB Rz. 24; Koller in Koller/Roth/Morck, HGB, 6. Aufl. 2007, § 128 HGB Rz. 2. 4 BGH, NJW 1983, 749 f.; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 25; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 20; Hopt (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 24; Koller (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 2; Koller in FS Georgiades, 2006, S. 671, 685 f. 5 Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 12, 18 („jedenfalls bei übersehbaren Verhältnissen“); Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 49 I 2b (S. 1413); Karsten Schmidt, JuS 2003, 228, 231; Walter, JuS 1982, 81, 86 f. 6 Koller in FS Georgiades (Fn. 4), S. 671, 673.

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Regress gegen Mitgesellschafter bei Personenhandelsgesellschaften

Hier kommen für den Regress gegen die Gesellschaft zwei unterschiedliche Wege in Betracht. Nach einhelliger Auffassung kann der Gesellschafter, der eine Gesellschaftsschuld begleicht, von der Gesellschaft Ersatz nach § 110 Abs. 1 Alt. 1 HGB verlangen7. Man könnte insofern allenfalls das Vorliegen einer Aufwendung, also eines freiwilligen Vermögensopfers, bezweifeln, da der Gesellschafter zur Begleichung der Gesellschaftsschuld nach § 128 Satz 1 HGB verpflichtet ist. Doch ist für die Freiwilligkeit nicht das Verhältnis des Gesellschafters zum Gesellschaftsgläubiger maßgeblich, sondern sein Verhältnis zur Gesellschaft, und insofern besteht keine Pflicht zur Begleichung der Schuld8. Außerdem geht nach inzwischen wohl überwiegender Ansicht, der sich der BGH bislang allerdings nicht angeschlossen hat9, die Forderung des Gesellschaftsgläubigers, die der Gesellschafter erfüllt hat, kraft Gesetzes auf ihn über10. Das lässt sich zwar nicht mit § 426 Abs. 2 BGB begründen, denn da die Gesellschafter für Gesellschaftsschulden nur akzessorisch haften, besteht mangels Gleichstufigkeit zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft keine Gesamtschuld11. Doch wie erstmals Karsten Schmidt in der 1. Auflage seines „Gesellschaftsrecht“ dargelegt hat12, folgt die Legalzession aus einer Gesamtanalogie zu denjenigen Vorschriften, die bei den anderen Formen der akzessorischen Haftung eine Legalzession vorsehen: bei der Bürgschaft (§ 774 Abs. 1 Satz 1 BGB), der Hypothek (§ 1143 Abs. 1 Satz 1 BGB) und dem Pfandrecht (§ 1225 Satz 1 BGB)13. Von praktischer Bedeutung ist die Legalzession, weil sie im Gegensatz zum Anspruch aus § 110 HGB dem regressberechtigten Gesellschafter ermöglicht, einen gegen die Gesellschaft ergangenen Titel nach § 727 ZPO auf sich umschreiben zu lassen und auf die Sicherheiten zuzugreifen, die

__________ 7 Eingeschränkt wird der Anspruch wiederum durch die Treuepflicht, und zwar – da es sich um eine Sozialverbindlichkeit, also um eine Schuld aus dem Gesellschaftsverhältnis handelt – etwas gravierender als bei Drittgläubigerbeziehungen: Die Treuepflicht verbietet die Geltendmachung, wenn mit ihr eine unverhältnismäßige Schädigung der Gesellschaft verbunden wäre (von Gerkan/Haas in Röhricht/Graf von Westphalen, HGB, 3. Aufl. 2008, § 110 HGB Rz. 3). 8 Goette in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 110 HGB Rz. 10, 12; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 3; Ulmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1988, § 110 HGB Rz. 12, 16. 9 BGHZ 39, 319, 323 f. 10 Auch der übergegangene Anspruch unterliegt den Beschränkungen aus dem Innenverhältnis, insbesondere also der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht (vgl. § 774 Abs. 1 Satz 3 BGB). 11 BGHZ 39, 319, 323; Ensthaler in Ensthaler, GK-HGB, 7. Aufl. 2007, § 128 HGB Rz. 17; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 20; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 21, 30; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 19. A. A. Flume, Die Personengesellschaft, 1977, § 16 II 2a (S. 286 ff.); Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 16 (§ 426 Abs. 2 BGB analog). 12 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 1986, § 49 V 1 (S. 1063). 13 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2005, 1.B. Rz. 48; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 43; Koller (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 8; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 31; Karsten Schmidt (Fn. 5), § 49 V 1 (S. 1436); Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, § 3 III 3d cc (S. 236). A. A. Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 30; Hopt (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 25; von Gerkan/Haas (Fn. 7), § 128 HGB Rz. 10.

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für die Gesellschaftsschuld gegenüber dem Dritten bestanden (§§ 401 Abs. 1, 412 BGB). Die Gesellschafter haften nach ganz h. M. für die Verbindlichkeit der Gesellschaft aus § 110 HGB nicht gemäß § 128 HGB14 – darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. Da sie aber im Hinblick auf die Forderung gegen die Gesellschaft, die erfüllt wurde, nach § 128 Satz 1 HGB Gesamtschuldner waren, kann der Gesellschafter, der gezahlt hat, die anderen im Wege des Gesamtschuldnerregresses in Anspruch nehmen15. Er hat also einen Ausgleichsanspruch aus § 426 Abs. 1 BGB und erwirbt nach § 426 Abs. 2 BGB die Forderungen des Gesellschaftsgläubigers gegen seine Mitgesellschafter16. Die Treuepflicht führt allerdings wiederum dazu, dass diese nur subsidiär haften17. Außerdem haften sie – wie stets beim Gesamtschuldnerregress – nur anteilig, also nicht wiederum als Gesamtschuldner18. Fall 3: Komplementär A unternimmt für die KG eine Geschäftsreise. Dabei entstehen ihm Kosten in Höhe von 3.000 Euro. Er will wissen, ob er Ersatz verlangen kann. Auch hier folgt der Anspruch des A gegen die KG aus § 110 Abs. 1 Alt. 1 HGB. Ein Rückgriff gegen die Mitgesellschafter wird von der ganz h. M. abgelehnt19.

__________ 14 BGHZ 37, 299, 301 f.; BGH, NJW-RR 2002, 455; Drygala in FS Raiser, 2005, S. 63, 65 f.; Emmerich (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 14, § 128 HGB Rz. 14; Ensthaler (Fn. 11), § 110 HGB Rz. 4, § 124 HGB Rz. 21; Flume (Fn. 11), § 16 II 2c (S. 298); Goette (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 29; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 12; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 11; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 5, § 128 HGB Rz. 22; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 3, § 128 HGB Rz. 2; Koller in FS Georgiades (Fn. 4), S. 671, 674; Langhein in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2006, § 110 HGB Rz. 10; Lindacher in FS Hadding, 2004, S. 529, 531; Karsten Schmidt (Fn. 5), § 47 II 4d (S. 1380); Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 29, 31; von Gerkan/Haas (Fn. 7), § 110 HGB Rz. 4; Walter, JuS 1982, 81, 82 f. A. A. RGZ 153, 305, 314; Buchner, AcP 169 (1969), 483, 506; Grunewald (Fn. 13), 1.B. Rz. 48; Martens in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1992, § 110 HGB Rz. 8 f.; Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 713 BGB Rz. 15; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, § 5 III 2a (S. 271), Gesellschaftsrecht II, 2004, § 3 III 3d cc (S. 237 f.). 15 Anders im Jahr 1893 RGZ 31, 139, 141 (während des Bestehens der Gesellschaft kein Regress gegen Gesellschafter). 16 Für die Anwendung von §§ 401, 412, 774 Abs. 2 BGB statt § 426 Abs. 2 BGB Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 48; Koller (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 8. Dagegen Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 34. 17 BGHZ 37, 299, 303; BGH, NJW-RR 2002, 455, 456; Emmerich (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 15; Ensthaler (Fn. 11), § 128 HGB Rz. 18; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 49; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 12, 33; Hopt (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 27; Koller (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 8; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 34; Karsten Schmidt (Fn. 5), § 49 V 2 (S. 1437); Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 32; von Gerkan/ Haas (Fn. 7), § 128 HGB Rz. 11. 18 Emmerich (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 15; Ensthaler (Fn. 11), § 128 HGB Rz. 18; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 49; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 32; Hopt (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 27; Koller (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 8; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 34; Karsten Schmidt (Fn. 5), § 49 V 2 (S. 1437); Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 32; von Gerkan/Haas (Fn. 7), § 128 HGB Rz. 11. 19 Siehe oben Fn. 14.

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Regress gegen Mitgesellschafter bei Personenhandelsgesellschaften

Ist nun die unterschiedliche Behandlung auf der einen Seite der Fälle 1 und 2, in denen die Mitgesellschafter haften, und auf der anderen Seite des Falles 3, in dem sie das nicht tun, gerechtfertigt?20 Soll der Gesellschafter als Drittgläubiger und bei der Begleichung von Gesellschaftsschulden wirklich besser stehen, als wenn er sonstige Aufwendungen für die Gesellschaft macht? Wo verläuft die Grenze zwischen der Stellung als Drittgläubiger und der Stellung als Gesellschafter, der für die Gesellschaft Aufwendungen macht? Diesen Fragen will ich in den folgenden Überlegungen nachgehen, die Karsten Schmidt in Dankbarkeit und mit herzlichen Glückwünschen gewidmet seien.

II. Die Anwendbarkeit von § 128 HGB auf Ansprüche aus § 110 HGB 1. Die Beschränkung der Haftung der Mitgesellschafter durch § 707 BGB Als Grund dafür, dass Verbindlichkeiten der Gesellschaft aus § 110 HGB nicht als Verbindlichkeiten i. S. v. § 128 HGB angesehen werden, wird allgemein und recht lapidar auf § 707 BGB verwiesen21, der gemäß §§ 105 Abs. 3, 161 Abs. 2 HGB auch für Personenhandelsgesellschaften gilt: „Zur Erhöhung des vereinbarten Beitrags oder zur Ergänzung der durch Verlust verminderten Einlage ist ein Gesellschafter nicht verpflichtet.“22 Eine Mindermeinung wendet § 128 HGB dagegen auch auf Ansprüche aus § 110 HGB an. Denn auch wenn man einen Regress gegen die Mitgesellschafter ausschließe, müsse ein Gesellschafter mehr als geplant für die Gesellschaft aufwenden und somit seinen Beitrag erhöhen, nämlich derjenige, der die Aufwendungen gemacht habe. Angemessener, als ihm die ganzen Aufwendungen aufzubürden, sei es, sie mit Hilfe des Regresses entsprechend der vereinbarten Verlustbeteiligung auf alle Gesellschafter zu verteilen23. a) Die Reichweite von § 707 BGB § 707 BGB schließt nach h. M. den Rückgriff gegen Mitgesellschafter wegen Forderungen aus § 110 HGB nur während des Fortbestehens des Gesellschafts-

__________ 20 Verneinend Wiedemann, Gesellschaftsrecht I (Fn. 14), § 5 III 2a (S. 271), Gesellschaftsrecht II (Fn. 14), § 3 III 3d cc (S. 237 f.). 21 BGHZ 37, 299, 301 f.; Drygala in FS Raiser, 2005, S. 63, 65 f.; Emmerich (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 14, § 128 HGB Rz. 14; Ensthaler (Fn. 11), § 110 HGB Rz. 4; Flume (Fn. 11), § 16 II 2c (S. 298); Goette (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 29; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 12; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 11; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 5, § 128 HGB Rz. 22; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 3, § 128 HGB Rz. 2; Koller in FS Georgiades, S. 671, 674; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 10; Karsten Schmidt (Fn. 5), § 47 II 4d (S. 1380); Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 31; Walter, JuS 1982, 81, 83. 22 Die hohe Bedeutung, die dem Schutz der Gesellschafter vor einer unfreiwilligen Vermehrung ihrer Beitragspflichten zukommt, zeigt sich daran, dass § 707 BGB auch als mitgliedschaftliches „Grundrecht“ bezeichnet wird (BGH, NJW-RR 2007, 757 Rz. 12; Ulmer [Fn. 14], § 707 BGB Rz. 1 unter Verweis auf Wiedemann, Gesellschaftsrecht I [Fn. 14], § 7 I 1 und IV 1a [S. 357 f., 393 f.]). 23 Grunewald (Fn. 13), 1.B. Rz. 48; Martens (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 8 f.

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verhältnisses aus. Kommt es zur Auflösung der Gesellschaft oder scheidet ein Gesellschafter aus, findet ein Ausgleich unter den Gesellschaftern auch hinsichtlich von Forderungen aus § 110 HGB statt. Die Auflösung ändert zwar nichts daran, dass Sozialansprüche der Gesellschafter nicht Drittforderungen gleichstehen und deshalb nicht gemäß § 149 Satz 1 Hs. 1 HGB vorab zu befriedigen sind24. Sie fließen jedoch in die Schlussbilanz ein, die die Grundlage für die Verteilung des verbleibenden Gesellschaftsvermögens ist (§ 155 Abs. 1 HGB). Ergeben sich für einige Gesellschafter passive Kapitalanteile, so dass das Gesellschaftsvermögen nicht zur Auszahlung aller Gesellschafter ausreicht, findet zwischen den Gesellschaftern ein Ausgleich statt, für den die Sperre des § 707 BGB nicht gilt25. Scheidet ein Gesellschafter aus der Gesellschaft aus, ohne dass diese aufgelöst wird (§ 131 Abs. 3 HGB), erwirbt er einen Abfindungsanspruch gegen die Gesellschaft26 (§§ 738 Abs. 1 Satz 2 BGB, 105 Abs. 3 HGB). Für diesen Abfindungsanspruch haften die verbleibenden Gesellschafter subsidiär nach § 128 HGB, da die Schranke des § 707 BGB gegenüber dem ausgeschiedenen Gesellschafter nicht mehr gilt27. Die aufgezeigte Ungleichbehandlung der Beispielfälle 1 und 2 einerseits und 3 andererseits ist damit stark relativiert. Zum einen stellt sich das Problem ohnehin nur, wenn der Gesellschafter aus dem Gesellschaftsvermögen keinen Ersatz zu erlangen vermag. Und zum anderen ist er am Vorgehen gegen die Mitgesellschafter nur gehindert, solange er in der Gesellschaft verbleibt. Dennoch ist die Frage des Regresses gegen Mitgesellschafter nicht nur von erheblicher dogmatischer, sondern auch von praktischer Bedeutung.

__________ 24 Karsten Schmidt (Fn. 2), § 149 HGB Rz. 44. 25 Dabei ist umstritten, ob der Ausgleich inner- oder außerhalb des Liquidationsverfahrens durchzuführen ist. Die h. M. nimmt letzteres an: Die Liquidation beschränke sich auf die Verteilung des Reinvermögens unter Befriedigung der Gläubiger, während Ausgleichspflichten unter den Gesellschaftern allein deren Angelegenheit seien und nur Forderungen der Gesellschafter untereinander begründeten (BGH, NJW 1984, 435; Hillmann [Fn. 3], § 155 HGB Rz. 23; Hopt [Fn. 3], § 155 HGB Rz. 2; Koller [Fn. 3], § 155 HGB Rz. 4). Nach der von Karsten Schmidt begründeten Gegenmeinung haben die Gesellschafter mit passiven Kapitalanteilen dagegen im Rahmen der Liquidation gemäß §§ 735 BGB, 105 Abs. 3 HGB den Fehlbetrag einzuzahlen (Karsten Schmidt [Fn. 2], § 155 HGB Rz. 17, 21, 46; Habersack in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1998, § 149 HGB Rz. 24, § 155 HGB Rz. 9). Beide Auffassungen ermöglichen allerdings den Gesellschaftern, die Befugnisse der Liquidatoren entsprechend zu erweitern oder zu beschränken. 26 § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB spricht zwar von einem Anspruch gegen die Gesellschafter, dieser Wortlaut beruht aber auf der Annahme fehlender Rechtsfähigkeit der GbR, die inzwischen überholt ist und in Bezug auf Handelsgesellschaften ohnehin nicht einschlägig war. 27 Emmerich (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 13a; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 12; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 12; Koller (Fn. 3), § 131 HGB Rz. 10; Schäfer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2004, § 131 HGB Rz. 138; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 131 HGB Rz. 128. Zweifelnd Flume (Fn. 11), § 12 I (S. 173 f.).

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b) Vergleich mit der Haftung für Gesellschaftsschulden Es ist heute allgemein anerkannt, dass bei Begleichung einer Gesellschaftsschuld ein Regress gegen die Mitgesellschafter nach den Regeln über den Gesamtschuldnerausgleich stattfindet28. § 707 BGB soll nicht tangiert sein, weil die Erstattungspflicht mittelbare Folge der persönlichen Haftung sei, die von vornherein neben der gesellschaftsvertraglich festgelegten Beitragspflicht stehe29. Hier betont also auch die h. M., § 707 BGB bilde keine Sperre dagegen, einen Verlust, den sonst ein Gesellschafter allein tragen müsste, nach Maßgabe der internen Verlustbeteiligung auf alle Gesellschafter zu verteilen. Warum das anders sein soll, wenn der Verlust nicht auf der Haftung gegenüber einem Gesellschaftsgläubiger beruht, begründet die h. M. nicht. Doch genau das ist die entscheidende Frage. Die Außenhaftung nach § 128 HGB zeigt, dass § 707 BGB nicht jedem „Nachschießen“ entgegensteht. Sie ist deshalb keine nach § 707 BGB unzulässige Erhöhung des vereinbarten Beitrags, weil die Gesellschafter sich ihr im Gesellschaftsvertrag unterworfen haben, sie also von vornherein Teil des vereinbarten Beitrags ist. Die h. M. muss daher darlegen, warum diese Haftungsunterwerfung gerade Verbindlichkeiten aus § 110 HGB nicht umfasst. Der bloße Verweis auf § 707 BGB ist dazu ungeeignet. 2. Das Zufalls-Argument Dass ein Gesellschafter, der gezwungenermaßen eine Gesellschaftsschuld begleicht, nach den Regeln über den Gesamtschuldnerausgleich Regress gegen seine Mitgesellschafter nehmen kann, wird außer mit dem Wortlaut von § 128 Satz 1 HGB damit gerechtfertigt, es sei Zufall, welchen Gesellschafter der Gesellschaftsgläubiger in Anspruch nehme, und die Gerechtigkeit erfordere es daher, einen Ausgleich vorzunehmen30. Das erinnert an die Begründung, mit der die Mindermeinung die Haftung der Mitgesellschafter für Forderungen aus § 110 HGB rechtfertigt31. Doch ist das Zufalls-Argument in den Fällen des § 110 HGB wesentlich schwächer. Für die erste Alternative von § 110 Abs. 1 HGB – den Aufwendungsersatz – ist es nicht einschlägig, denn Aufwendungen sind definitionsgemäß freiwillige Vermögensopfer. Sie treffen einen Gesellschafter daher nicht zufällig, sondern er kann sie unterlassen, wenn er bezweifelt, dass die Gesellschaft hinreichend solvent ist, ihm nachträglich Ersatz zu leisten. Er ist daher weniger schutzwürdig als bei der Inanspruchnahme wegen Gesellschaftsschulden. Besser scheint das Argument für die zweite Alternative von § 110 Abs. 1 HGB zu passen, also für die Fälle, in denen ein Gesellschafter aus Gefahren, die untrennbar mit der Geschäftsführung verbunden sind, Schä-

__________ 28 Siehe oben bei Fn. 15 ff. 29 BGHZ 37, 299, 302. Um der Gefahr solcher mittelbarer Nachschusspflichten zu begegnen, wird angenommen, Geschäfte, für die das Gesellschaftsvermögen voraussichtlich nicht aufkommen kann, seien nicht von der Geschäftsführungsbefugnis des § 116 Abs. 1 HGB gedeckt. Siehe BGH, NJW 1980, 339, 340; Wertenbruch, DStR 2007, 1680, 1683. 30 BGHZ 37, 299, 302. 31 Siehe oben bei Fn. 23.

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den erleidet. Zwar geht er hier das Schadensrisiko normalerweise bewusst ein, indem er z. B. eine Geschäftsreise in ein Land mit besonders hoher Kriminalität unternimmt. Doch ob dieses Risiko sich dann realisiert, hängt vom Zufall ab. Allerdings bezieht das Zufalls-Argument im Hinblick auf die Zahlung von Gesellschaftsschulden seine Überzeugungskraft gerade aus der Tatsache, dass die Belastung jeden Gesellschafter hätte treffen können. Das ist in Bezug auf Schäden nur dann der Fall, wenn mehrere Gesellschafter Risiken eingehen, die sich dann nur bei einem verwirklichen, etwa wenn zwei Gesellschafter gemeinsam auf Geschäftsreise in einem Land mit besonders hoher Kriminalität sind und einer von beiden ausgeraubt wird. Gesellschafter, die nicht für die Gesellschaft tätig sind und es nach dem Gesellschaftsvertrag auch nicht sein müssen, können dagegen von vornherein keine Verluste i. S. v. § 110 Abs. 1 Alt. 2 BGB erleiden. Das Zufalls-Argument rechtfertigt es daher nicht, ihnen solche Verluste über § 128 HGB teilweise aufzuerlegen. Somit ist das Zufalls-Argument eher geeignet, die von der h. M. vorgenommene Differenzierung zwischen der Inanspruchnahme wegen Gesellschaftsschulden und anderen Aufwendungen und Verlusten i. S. v. § 110 HGB zu rechtfertigen als die Anwendbarkeit von § 128 HGB auf Gesellschaftsverbindlichkeiten aus § 110 HGB zu begründen. 3. Das Anreiz-Argument Die Funktion des § 110 HGB liegt nicht nur darin, dem in Gesellschaftsangelegenheiten tätigen Gesellschafter ex post Ersatz zu gewähren. Vielmehr erfüllt § 110 HGB ex ante eine wichtige Anreizfunktion: Weil die Gesellschafter wissen, dass sie Aufwendungen, die sie aus ihrem Privatvermögen in Gesellschaftsangelegenheiten machen, und Schäden, die sie bei der Tätigkeit für die Gesellschaft erleiden, ersetzt bekommen, können sie im Interesse der Gesellschaft tätig werden, ohne dabei Rücksicht auf ihr Privatvermögen nehmen zu müssen. Insofern ist von besonderer Bedeutung, dass § 110 HGB nach allgemeiner Ansicht nicht nur für geschäftsführende Gesellschafter gilt, sondern für alle Gesellschafter32. Es soll also auch für solche Gesellschafter ein Anreiz gesetzt werden, sich für die Gesellschaft zu engagieren, die zu solchem Engagement nicht ohnehin schon aufgrund ihrer Stellung als Geschäftsführer verpflichtet sind, also etwa für Kommanditisten (§ 164 HGB). Wenn man eine Haftung der Mitgesellschafter für Ansprüche aus § 110 HGB ablehnt, wird dieser Anreiz in Krisenzeiten – nämlich dann, wenn die Gesellschafter sich nicht darauf verlassen können, Ersatz von der Gesellschaft zu erhalten – ganz wesentlich vermindert. Das ist schwerlich im Interesse der Gesellschaft. Der Anreiz-Gedanke spricht daher dafür, die Haftung der Gesellschafter auf Ansprüche aus § 110 HGB auszudehnen.

__________ 32 BGH, NJW-RR 2002, 455; Goette (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 3, 6 f.; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 6; Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 6.

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4. Die Wahrung der gesellschaftsinternen Kompetenzverteilung Während das Anreiz-Argument nahelegt, die Mitgesellschafter nach § 128 HGB auch für Forderungen aus § 110 HGB haften zu lassen, spricht ein anderer Gesichtspunkt entscheidend dagegen: Eine solche Haftung würde dazu führen, dass der Schutz der Mitgesellschafter durch die gesellschaftsinterne Kompetenzverteilung unterlaufen würde. Das wird deutlich, wenn man Ansprüche eines Gesellschafters aus § 110 HGB mit Ansprüchen aus Drittgläubigerbeziehungen vergleicht. a) Der Grund für die Haftung der Mitgesellschafter im Rahmen von Drittgläubigerbeziehungen Die Haftung der Mitgesellschafter für Forderungen aus Drittgläubigerbeziehungen ist heute allgemein anerkannt33. Warum? Das gebräuchliche Argument, der Gesellschafter stehe hier der Gesellschaft wie ein Dritter gegenüber, ist allenfalls eine scheinbare Begründung. Denn der Gesellschafter ist eben nicht Dritter, und das Zufalls-Argument kommt hier auch nicht zum Tragen, da eine Drittgläubigerbeziehung stets auf dem Willen des betreffenden Gesellschafters beruht. Doch die Privilegierung von Drittgläubigerbeziehungen ist durch einen anderen Umstand gerechtfertigt: Das Charakteristische der Drittgläubigerbeziehung ist, dass sie auf einem besonderen Vertrag beruht34. Und bei Abschluss dieses Vertrags kommen die Schutzmechanismen zum Tragen, mit denen Gesetz und Gesellschaftsvertrag die Gesellschaft und die Gesellschafter vor Schaden zu bewahren suchen. So muss der Vertrag von den zur Vertretung der Gesellschaft zuständigen Organen geschlossen werden; der künftige Drittgläubiger selbst ist dabei prinzipiell gemäß § 181 BGB von der Vertretung ausgeschlossen. Im Gegensatz zu Dritten kann sich ein Gesellschafter nach herrschender – von Karsten Schmidt allerdings nicht geteilter – Meinung überdies nicht auf § 126 Abs. 2 HGB berufen, muss also Beschränkungen der Vertretungsmacht, insbesondere aufgrund des Gesellschaftsvertrags, gegen sich gelten lassen35. In gewissem Grad sind die haftenden Mitgesellschafter natürlich den vertretungsberechtigten Gesellschaftern ausgeliefert – doch das gilt ebenso bei Geschäften mit Fremden36.

__________ 33 Anders noch RGZ 77, 102 ff. m. w. N. 34 Bei Drittgläubigerbeziehungen aufgrund Gesetzes werden die Gesellschafter im Rahmen der Voraussetzungen der betreffenden Ansprüche geschützt, im Deliktsrecht etwa durch § 31 BGB. Zur Geschäftsführung ohne Auftrag siehe unten III.2. 35 Emmerich (Fn. 3), § 126 HGB Rz. 18 f.; Habersack (Fn. 2), § 126 HGB Rz. 28; Hillmann (Fn. 3), § 126 HGB Rz. 14; Hopt (Fn. 3), § 126 HGB Rz. 6; von Gerkan/Haas (Fn. 7), § 126 HGB Rz. 7. A. A. Karsten Schmidt (Fn. 2), § 126 HGB Rz. 17 (nur Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht). 36 Neben dem Anspruch aus der Drittgläubigerbeziehung besteht kein Anspruch aus § 110 HGB, da es aufgrund der Drittgläubigerbeziehung einerseits an der Freiwilligkeit des Vermögensopfers fehlt und andererseits kein Sonderopfer des Gesellschafters vorliegt, das ihm nach § 110 HGB abgenommen werden müsste. Vgl. Goette (Fn. 8),

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b) Die geringen Anforderungen von § 110 Abs. 1 HGB Im Gegensatz zu Ansprüchen aus Drittgläubigerbeziehungen hängt der Aufwendungsersatzanspruch aus § 110 Abs. 1 Alt. 1 HGB nur von zwei einschränkenden Merkmalen ab: Erstens muss es sich um eine Aufwendung „in Gesellschaftsangelegenheiten“ handeln. Dieses Merkmal ist denkbar weit zu verstehen und soll lediglich Aufwendungen im eigenen Interesse des Gesellschafters, auch wenn sie mit seiner Mitgliedschaft zusammenhängen, aus dem Anwendungsbereich von § 110 HGB ausnehmen37. Zweitens muss der Gesellschafter die Aufwendung den Umständen nach für erforderlich halten dürfen. Mit anderen Worten: Er darf nicht schuldhaft handeln. Die Bedeutung dieser Voraussetzung wird dabei erheblich dadurch abgeschwächt, dass sich das Verschulden nach §§ 708 BGB, 105 Abs. 3 HGB richtet38. Ein Aufwendungsersatzanspruch ist danach schon dann gegeben, wenn der Gesellschafter diejenige Sorgfalt anwendet, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt, sofern die Schwelle grober Fahrlässigkeit nicht überschritten wird (§ 277 BGB). Dass der Gesellschafter objektiv zum Handeln befugt ist, ist nach ganz h. M. gerade nicht erforderlich39. Müssten die Mitgesellschafter für Aufwendungsersatzansprüche nach § 110 HGB haften, könnten sie also in Fällen zu Zahlungen aus ihrem Privatvermögen verpflichtet sein, in denen die betreffende Aufwendung weder objektiv im Gesellschaftsinteresse lag noch auf einer Entscheidung der dafür zuständigen Organe beruhte, sondern lediglich von irgendeinem Gesellschafter – eventuell leicht fahrlässig – als erforderlich angesehen wurde. Mit dem Beitritt als persönlich haftender Gesellschafter übernimmt ein Gesellschafter aber nur das Risiko der Haftung für Forderungen, die im Rahmen der gesellschaftsinternen Kompetenzverteilung gegen die Gesellschaft begründet wurden und denen er daher zumindest mittelbar – nämlich indem er sich dieser Kompetenzverteilung unterworfen hat – zugestimmt hat. Dass die persönlich haftenden Gesellschafter darüber hinaus für Aufwendungen sämtlicher – also auch nicht geschäftsführungsbefugter und vertretungsberechtiger – Mitgesellschafter haften

__________ § 110 HGB Rz. 8, 10; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 3, 21; Koller in FS Georgiades, S. 671, 674; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 8; Karsten Schmidt, JuS 2003, 228, 230; Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 8. 37 Nicht erfasst werden daher insbesondere Aufwendungen für die Wahrnehmung eigennütziger Informations- und Kontrollrechte (Goette [Fn. 8], § 110 HGB Rz. 13; Hopt [Fn. 3], § 110 HGB Rz. 3; Langhein [Fn. 14], § 110 HGB Rz. 14; Ulmer [Fn. 8], § 110 HGB Rz. 7; von Gerkan/Haas [Fn. 7], § 110 HGB Rz. 5). 38 Emmerich (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 6; Ensthaler (Fn. 11), § 110 HGB Rz. 2; Goette (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 15; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 9; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 16; Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 14; von Gerkan/Haas (Fn. 7), § 110 HGB Rz. 8. 39 Goette (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 7; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2; Koller in FS Georgiades, S. 671, 673; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 6, 13; von Gerkan/Haas (Fn. 7), § 110 HGB Rz. 6. A. A. Emmerich (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 5. Zweifelhaft ist, ob sich der Gesellschafter zumindest schuldlos für befugt halten muss. Dafür: Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 4; Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 9 f. Dagegen: Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2.

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wollen, sofern diese nur die Aufwendung nach dem Maßstab der §§ 708 BGB, 105 Abs. 3 HGB für erforderlich halten durften, kann nicht angenommen werden. Ihnen kraft dispositiven Rechts eine derartige Haftung aufzuerlegen wäre mit dem Anliegen des § 707 BGB, dem Schutz der Gesellschafter vor einer unfreiwilligen Vermehrung ihrer Beitragspflichten besonderes Gewicht zu geben40, nicht vereinbar. In Bezug auf den Ersatz von Verlusten (§ 110 Abs. 1 Alt. 2 HGB) sind die Voraussetzungen des § 110 HGB nicht strenger als in Bezug auf den Aufwendungsersatz. Erforderlich ist, dass ein enger objektiver Zusammenhang zwischen dem Verlust und der für die Gesellschaft übernommenen Tätigkeit besteht und der Verlust aufgrund einer tätigkeitsspezifischen Gefahr eingetreten ist, also nicht dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen ist41. Außerdem muss der Gesellschafter schuldlos (§§ 708 BGB, 105 Abs. 3 HGB) zumindest angenommen haben, dass das Eingehen des Risikos im Interesse der Gesellschaft lag42. § 110 Abs. 1 Alt. 2 HGB umfasst damit auch Schäden aus der Verwirklichung von Risiken, die der betreffende Gesellschafter einging, ohne dass das im objektiven Interesse der Gesellschaft lag oder von den zuständigen Gesellschaftsorganen gebilligt wurde. Der Rechtsgedanke des § 707 BGB steht daher einem Ersatz von Verlusten ebenso entgegen wie einem Ersatz von Aufwendungen. 5. Zwischenergebnis Der h. M. ist folglich im Ergebnis zuzustimmen: Für Ansprüche eines Gesellschafters aus § 110 HGB haften seine Mitgesellschafter nicht. Dies beruht jedoch nicht darauf, dass sonst den Mitgesellschaftern überhaupt zusätzliche Belastungen auferlegt würden. Die Haftung scheitert vielmehr daran, dass sie die Mitgesellschafter belasten würde, ohne dass diese durch die gesellschaftsinterne Kompetenzverteilung geschützt würden. Daraus folgt, dass einer Haftung der Mitgesellschafter immer dann nichts entgegensteht, wenn ihnen dieser – oder ein anderer – Schutz zugute kommt. Im Rahmen von § 110 HGB ist das – wie gezeigt – nicht gewährleistet. Soweit der Anspruch des Gesellschafters jedoch auf einer anderen Grundlage beruht, durch deren Voraussetzungen die Mitgesellschafter ausreichend geschützt werden, ist ihre Haftung gemäß § 128 Satz 1 HGB angebracht. Wann dies der Fall ist, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.

__________ 40 Habermeier in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 2003, § 707 BGB Rz. 1; Ulmer (Fn. 14), § 707 BGB Rz. 1. 41 Goette (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 21 ff.; Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 12 f.; Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 4; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 18; Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 22. 42 Koller (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 4; Langhein (Fn. 14), § 110 HGB Rz. 20. Wie in Bezug auf Aufwendungen wird auch in Bezug auf Verluste teilweise verlangt, dass der Gesellschafter zur Geschäftsführung befugt war oder sich zumindest schuldlos für befugt hielt; so Hopt (Fn. 3), § 110 HGB Rz. 2, 4; Ulmer (Fn. 8), § 110 HGB Rz. 23.

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III. Anknüpfungspunkte für die Haftung der Mitgesellschafter aus § 128 Satz 1 HGB 1. Vertragliche Ansprüche gegen die Gesellschaft Der Schutz der Mitgesellschafter durch die gesellschaftsinterne Kompetenzverteilung ist immer dann gewährleistet, wenn dem Gesellschafter, der seine Mitgesellschafter in Regress nehmen will, ein vertraglicher Anspruch gegen die Gesellschaft zusteht. Denn da ein Vertrag nur gegen die Gesellschaft wirkt, wenn die Voraussetzungen der Stellvertretung erfüllt sind, setzt ein vertraglicher Anspruch gegen die Gesellschaft einen entsprechenden Willensentschluss der zuständigen Gesellschaftsorgane voraus. Die Lage für die Mitgesellschafter ist nicht anders, als wäre der Vertragspartner ein Dritter, und deshalb ist ihre Haftung nach § 128 Satz 1 HGB für den Anspruch aus dem geschlossenen Vertrag angemessen. Eine Drittgläubigerbeziehung – und kein Fall des § 110 Abs. 1 Alt. 1 HGB – liegt damit immer dann vor, wenn das Handeln des betreffenden Gesellschafters auf einer vertraglichen Vereinbarung mit der Gesellschaft beruht. Warum er diese Vereinbarung einging, ist demgegenüber belanglos. Insbesondere scheidet eine Drittgläubigerbeziehung nicht aus, wenn er mit dem Ziel der Förderung des Gesellschaftszwecks handelte, also causa societatis43; eine derartige Abgrenzung wäre viel zu vage und würde den relevanten Wertungsgesichtspunkt verfehlen. Selbst wenn er aufgrund des Gesellschaftsvertrags zum Abschluss des betreffenden Vertrags verpflichtet war, liegt eine Drittgläubigerbeziehung vor, in deren Rahmen die Mitgesellschafter gemäß § 128 Satz 1 HGB in den Grenzen der Treuepflicht44 haften45. Deshalb ist typischerweise der (konkludente) Abschluss eines solchen Vertrags anzunehmen, wenn der Gesellschafter sein Tätigwerden für die Gesellschaft mit dem zuständigen Organ abgesprochen hat. Zwar verliert er im Rahmen einer Drittgläubigerbeziehung die Privilegierung des § 708 BGB, doch wird ihm in der Regel wichtiger sein, gegen die Mitgesellschafter Regress nehmen zu können46. Unerheblich ist meiner Ansicht nach, ob der Vertrag einem Drittvergleich standhält. Denn anders als bei Kapitalgesellschaften geht es hier nicht um den Schutz Dritter durch Kapitalaufbringung und -erhaltung, sondern um den Schutz der Gesellschaft und der Mitgesellschafter. Dieser wird bereits durch die Regeln des Vertretungsrechts gewährleistet, insbesondere durch das Verbot des Selbstkontrahierens (§ 181 BGB) und die Möglichkeit, die Vertretungs-

__________ 43 So aber Lindacher in FS Hadding, 2004, S. 529 f. Wie hier RGZ 153, 305, 310 f., 312 f.; Koller in FS Georgiades (Fn. 4), S. 671, 678 ff. 44 Siehe oben bei Fn. 2 ff. 45 Drygala (Fn. 14), S. 63, 68; Emmerich (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 17; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 13; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 10; Koller in FS Georgiades, S. 671, 680; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 12. A. A. Ulmer (Fn. 8), § 105 HGB Rz. 216. 46 Vgl. Koller in FS Georgiades, S. 671, 681.

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macht gegenüber Gesellschaftern beliebig zu beschränken (vgl. § 126 Abs. 2 HGB)47. Bei Schäden, die der Gesellschafter in Gesellschaftsangelegenheiten erleidet, kommt es darauf an, ob hinsichtlich der Tätigkeit, bei der er den Schaden erlitten hat, ein Vertrag vorliegt. Falls ja, ist die Inanspruchnahme der Mitgesellschafter gerechtfertigt. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für die Haftung aus § 128 HGB ist ein Anspruch aus § 670 BGB, der nach herrschender Ansicht auf bei der Auftragsausführung erlittene Schäden direkt48 oder analog49 anzuwenden ist. 2. Ansprüche gegen die Gesellschaft aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683, 684 BGB) Wenn die Aufwendung des Gesellschafters oder die Tätigkeit, bei der er einen Schaden erleidet, nicht vorab von den zuständigen Gesellschaftsorganen gebilligt wurde, scheint dem handelnden Gesellschafter ein Vorgehen gegen seine Mitgesellschafter verwehrt. Dieses Ergebnis wird jedoch dann fragwürdig, wenn man einen Vergleich mit dem Fall zieht, dass ein Dritter ohne Absprache mit den Gesellschaftsorganen im Gesellschaftsinteresse tätig wird, etwa die Ehefrau eines Kommanditisten ein Grundpfandrecht zur Sicherung einer Gesellschaftsschuld bestellt. Dieser Dritte kann gegen die Gesellschaft nach den Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag vorgehen, und für diesen Anspruch haften die Gesellschafter nach § 128 HGB50. Der Schutz, den bei rechtsgeschäftlichen Verpflichtungen das Vertretungsrecht bietet, wird dabei durch die besonderen Voraussetzungen der Geschäftsführung ohne Auftrag ersetzt, nämlich entweder das Handeln im Interesse der Gesellschaft und entsprechend dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen der zuständigen Organe (§ 683 Satz 1 BGB)51 oder die (nachträgliche) Genehmigung durch die zuständigen Organe (§ 684 Satz 2 BGB) oder die Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Pflicht der Gesellschaft (§ 679 BGB) oder eine Bereicherung der Gesellschaft (§ 684 Satz 1 BGB). Diese Voraussetzungen sind wesentlich strenger

__________ 47 Siehe Fn. 35. 48 BGHZ 33, 251, 257; BGHZ 38, 270, 277. 49 RGZ 98, 195, 200; Martinek in Staudinger, BGB, Neubearb. 2006, § 670 BGB Rz. 17 ff. auch mit Nachweisen zur Herleitung aus dem Gedanken der Risikozurechnung bei schadensgeneigter Tätigkeit in fremdem Interesse. 50 Emmerich (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 13; Ensthaler (Fn. 11), § 128 HGB Rz. 4; Habersack (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 10; Hillmann (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 9; Hopt (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 2; Karsten Schmidt (Fn. 2), § 128 HGB Rz. 10. 51 Primär maßgeblich ist der wirkliche Wille, unabhängig davon, ob der Geschäftsführer ihn erkennen kann und ob er dem objektiven Interesse des Geschäftsherrn entspricht. Nur wenn ein wirklicher Wille nicht vorhanden ist, kommt es auf den mutmaßlichen Willen an. Dieser wird regelmäßig dem objektiven Interesse des Geschäftsherrn entsprechen, sofern nicht entgegenstehende Anhaltspunkte vorliegen. Siehe Bergmann in Staudinger, BGB, Neubearb. 2006, § 683 BGB Rz. 30 f.; zweifelnd Seiler in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2005, § 683 BGB Rz. 13.

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als diejenigen des § 110 Abs. 1 HGB, nach dem es ausreicht, dass die betreffende Aufwendung den Umständen nach für erforderlich gehalten werden darf. Es besteht nun keinerlei Grund, warum bei Vorliegen dieser strengeren Voraussetzungen ein Gesellschafter schlechter stehen sollte als ein Dritter. Vertragliche Drittgläubigerbeziehungen, in denen ein Gesellschafter der Gesellschaft wie ein Dritter gegenübersteht, sind allgemein akzeptiert. Es ist nur konsequent, solche Drittgläubigerbeziehungen auch im Bereich der Geschäftsführung ohne Auftrag anzuerkennen52. Schützenswerte Interessen der Mitgesellschafter werden dadurch wegen der strengen Voraussetzungen der Geschäftsführung ohne Auftrag nicht beeinträchtigt. Direkt werden §§ 683, 684 BGB freilich zumindest bei geschäftsführungsbefugten Gesellschaftern regelmäßig nicht anwendbar sein, weil es am Handeln „ohne Auftrag“ fehlt. Doch angesichts der Tatsache, dass ein vertraglicher Anspruch an der fehlenden Zustimmung der vertretungsberechtigten Organe scheitert, ist eine analoge Anwendung geboten. Dadurch werden sinnvolle Anreize für die Gesellschafter gesetzt, sich auch dann für die Gesellschaft einzusetzen, wenn eine vorherige Absprache mit den zuständigen Organen nicht möglich ist, dabei aber genau zu prüfen, ob das Handeln wirklich im Interesse der Gesellschaft liegt. Nicht zu verkennen ist freilich, dass die Heranziehung der Geschäftsführung ohne Auftrag es den Gesellschaftern ermöglicht, sich über die interne Geschäftsverteilung in der Gesellschaft hinwegzusetzen. Jedoch lässt sich die Eigenmächtigkeit des Vorgehens im Rahmen der Voraussetzungen des § 683 BGB berücksichtigen, und im übrigen stellt die Wahrnehmung von Geschäften durch einen dafür Unzuständigen gerade das Charakteristikum der Geschäftsführung ohne Auftrag dar. Es wäre nicht schlüssig, einem Außenstehenden, der ohne entsprechende Befugnis in Gesellschaftsangelegenheiten tätig wird, Ersatzansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag zu gewähren, einem Gesellschafter dagegen nicht. Der Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag gegen die Gesellschaft und – über § 128 HGB – gegen die Mitgesellschafter besteht gegebenenfalls neben dem nur gegen die Gesellschaft gerichteten Anspruch aus § 110 HGB. Denn § 110 HGB stellt eine Privilegierung der Gesellschafter dar: Um ihnen einen Anreiz zu geben, sich für die Gesellschaft zu engagieren, können sie Aufwendungsersatz auch dann verlangen, wenn ein Dritter es nicht könnte53. Zum Schutz der Mitgesellschafter ist der Anspruch nur gegen die Gesellschaft gerichtet. Er bietet aber keinerlei Legitimation dafür, die Haftung der Mitgesellschafter in Fällen auszuschließen, in denen sie einem Dritten aus Geschäfts-

__________ 52 Ebenso Koller (Fn. 3), § 128 HGB Rz. 2. 53 Siehe oben II.3.

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führung ohne Auftrag haften würden. § 110 HGB ist gegenüber den §§ 677 ff. BGB daher nicht lex specialis54.

IV. Zusammenfassung 1. Fallbeispiel Die hier gefundenen Ergebnisse können anhand eines Falls veranschaulicht werden, den der BGH im Jahr 2001 entschieden hat. Er zeigt auch, dass offensichtlich ein gewisses praktisches Bedürfnis nach einer Haftung der Mitgesellschafter für Aufwendungsersatzansprüche besteht, hat doch der BGH eine solche Haftung mit einer Begründung statuiert, die Karsten Schmidt als „ebenso verwunderlich wie gewalttätig“ bezeichnet hat55. Der Kläger war atypischer stiller Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft. Nach dem Gesellschaftsvertrag sollte er im Innenverhältnis wie ein Kommanditist behandelt werden; die bedungene Einlage hatte er vollständig geleistet. Als die KG in finanzielle Schwierigkeiten geriet, bestellte der Kläger eine Grundschuld an einem ihm gehörenden Grundstück als Sicherheit für einen Kontokorrentkredit, den eine Sparkasse der KG gewährte. Zur Abwendung der Zwangsvollstreckung zahlte der Kläger über 200.000 DM an die Sparkasse und verlangte vom beklagten Komplementär der KG Ersatz. Der BGH legte zunächst dar, dass hinsichtlich des Regresses der Kläger wie ein „echter“ Kommanditist zu behandeln sei und seine Zahlung auf die Grundschuld einer Zahlung auf die Gesellschaftsschuld gleichstehe, weil die Gesellschaft durch diese Zahlung eine dauernde Einrede gegen ihre Inanspruchnahme aus dem Kontokorrentkredit erworben habe. Gegen die KG konnte der Kläger nach § 110 HGB Regress nehmen; der beklagte Komplementär haftete insofern nicht nach §§ 128 Satz 1, 161 Abs. 2 HGB. Der BGH ließ jedoch einen Regress nach § 426 BGB zu, obwohl es mangels Außenhaftung des Klägers gerade an einer Gesamtschuld fehlte: „Obwohl die Anwendung [von § 426 BGB] voraussetzt, dass die mehreren Gesellschafter im Außenverhältnis den Gesellschaftsgläubigern gesamtschuldnerisch haften, hält es der Senat für geboten, die für mehrere persönlich haftende Gesellschafter geltenden Grundsätze auch dann heranzuziehen, wenn einer der Gesellschafter, ohne … hierzu im Außenverhältnis verpflichtet zu sein, freiwillig Schulden der Gesellschaft tilgt und

__________ 54 A. A. Koller in FS Georgiades, S. 671, 682 f. (soweit § 110 HGB einen Aufwendungsersatzanspruch gewähre, sei er lex specialis); Wiedemann, Gesellschaftsrecht II (Fn. 14), § 3 III 3d aa (S. 233 f.: § 110 HGB sei eine abschließende Regelung, die jeden Rückgriff auf die Regeln über die Geschäftsführung ohne Auftrag versperre). Im Ergebnis unterwirft Wiedemann die Mitgesellschafter aber einer weitergehenden Haftung als hier befürwortet, weil er annimmt, dass sie nach § 128 Satz 1 HGB auch für den Anspruch aus § 110 HGB haften (siehe oben Fn. 14). 55 Karsten Schmidt, JuS 2003, 228, 230.

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sich dadurch von sich aus einem persönlich haftenden Gesellschafter gleichstellt.“56 Lindacher hat hierzu bemerkt: „Die Entscheidung manifestiert Judiz, lässt indes dogmatisch nachgerade alle Wünsche offen.“57 In der Tat überzeugt die Anwendung des § 426 BGB ohne Vorliegen eines Gesamtschuldverhältnisses nicht, zumal sie der BGH in keiner Weise – etwa durch eine ausdehnende Auslegung oder eine Analogie – methodisch abzusichern sucht. Sie würde dazu führen, dass jedem Dritten, der eine fremde Schuld tilgt, der Regress nach Gesamtschuldregeln offensteht. Richtigerweise ist von der Frage auszugehen, ob der Kläger die Forderung der Sparkasse aufgrund einer vertraglichen Abrede mit der KG tilgte58. Dies setzt eine wirksame Vertretung der KG voraus. Lag sie vor, hätte der Kläger aufgrund eines Auftrags gehandelt und könnte nach § 670 BGB Regress gegen die KG und nach §§ 670 BGB, 128 Satz 1, 161 Abs. 2 HGB Regress gegen den Komplementär nehmen, jeweils beschränkt durch die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht. Mehrere Komplementäre würden – anders als bei Anwendung des § 426 BGB – nicht nur anteilig, sondern gesamtschuldnerisch haften59. Falls keine Vereinbarung vorlag, käme es darauf an, ob die Voraussetzungen der §§ 683, 684 BGB gegeben waren. Wenn die Tilgung der Gesellschaftsschuld dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen der vertretungsberechtigten Organe entsprach60 oder diese die Tilgung (nachträglich) genehmigten, könnte der Kläger wie ein Beauftragter Ersatz verlangen, also gemäß § 670 BGB sowohl von der KG als auch vom Komplementär. War dies nicht der Fall, etwa weil die KG durch die Tilgung eine Aufrechnungsmöglichkeit verlor, würde die Gesellschaft gemäß § 684 Satz 1 BGB bereicherungsrechtlich haften, und auch dafür müsste der Komplementär einstehen. Mehrere Komplementäre würden wiederum gesamtschuldnerisch haften. Nur soweit es auch an einer Bereicherung der KG fehlte, müsste der Kläger sich mit dem Anspruch aus § 110 Abs. 1 HGB gegen die KG begnügen61, ohne sich an den Komplementär halten zu können.

__________ 56 BGH, NJW-RR 2002, 455, 456. Zustimmend Schöne, EWiR § 110 HGB 1/02, 627, 628. Ablehnend Koller in FS Georgiades, S. 671, 676 f. Siehe auch Grunewald (Fn. 13), 1.C. Rz. 48. 57 Lindacher in FS Hadding, 2004, S. 529, 530. 58 Ebenso Karsten Schmidt, JuS 2003, 228, 229 ff. A. A. für Krisen- und Sanierungsdarlehen Drygala in FS Raiser, 2005, S. 63, 71 f. mit dem Argument, dass der Darlehensgeber nicht die Möglichkeit haben dürfe, während der fortwährenden Krise der Gesellschaft die Mitgesellschafter nach § 128 HGB in Anspruch zu nehmen. Doch wird dabei verkannt, dass es insofern schon an der Fälligkeit fehlt (§ 129 Abs. 1 HGB). 59 Siehe oben Text nach Fn. 5. 60 Vgl. oben Fn. 51. 61 Dann wäre freilich fraglich, ob der Kläger die betreffende Aufwendung für erforderlich halten durfte.

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Regress gegen Mitgesellschafter bei Personenhandelsgesellschaften

2. Thesen 1. Muss ein Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft einen Gesellschaftsgläubiger befriedigen, kann er gegen die Gesellschaft nach § 110 Abs. 1 Alt. 1 HGB und mit Hilfe des Anspruchs des Gesellschaftsgläubigers, der im Wege einer Legalzession (analog § 774 Abs. 1 BGB) auf ihn überging, Rückgriff nehmen. Gegen die Mitgesellschafter kann er nach § 426 BGB vorgehen. 2. Die persönlich haftenden Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft haften für Forderungen, die einem Gesellschafter aus Drittgläubigergeschäften gegen die Gesellschaft zustehen, nach § 128 HGB. 3. Ein Drittgläubigergeschäft liegt vor, wenn der Anspruch des Gesellschafters seine Rechtsgrundlage in einem vom Gesellschaftsverhältnis verschiedenen Rechtsverhältnis hat. Dass der Gesellschafter mit dem Geschäft den Interessen der Gesellschaft dienen will, schadet nicht. 4. Der Grund dafür, dass die Mitgesellschafter für Forderungen aus Drittgläubigergeschäften haften, liegt darin, dass Drittgläubigergeschäfte auf einem Willensentschluss der zuständigen Gesellschaftsorgane beruhen. 5. Liegt kein Drittgläubigergeschäft vor, kann ein Gesellschafter Ersatz von Aufwendungen, die er in Gesellschaftsangelegenheiten gemacht hat62, und von Schäden, die er infolge seiner Tätigkeit für die Gesellschaft erlitten hat, in analoger Anwendung der §§ 683, 684 BGB verlangen. Für diese Ansprüche haften die Mitgesellschafter nach § 128 HGB. Denn ein Gesellschafter soll insofern nicht schlechter stehen als ein Außenstehender, der in Geschäftsführung ohne Auftrag für die Gesellschaft tätig wird. Die Mitgesellschafter werden durch die Voraussetzungen der §§ 683, 684 BGB hinreichend geschützt. 6. Auch soweit die Voraussetzungen der §§ 683, 684 BGB nicht gegeben sind, kann der Gesellschafter nach § 110 HGB Ersatz von der Gesellschaft fordern. Für diesen Anspruch haften die Mitgesellschafter nicht gemäß § 128 HGB.

__________ 62 Zu Aufwendungen für die Tilgung von Gesellschaftsschulden, für die der Gesellschafter haftet, siehe These 1.

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Juristische Entdeckungen im Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Juristische Entdeckungen und verwandte Begriffe 1. Juristische Entdeckungen 2. Juristische Erfindungen 3. Juristische Innovation 4. Juristischer Fortschritt II. Vorbedingungen und Verlauf juristischer Entdeckungsprozesse 1. Juristisches Einfühlungsvermögen 2. Juristische Entdecker III. Konstitutive Merkmale juristischer Entdeckungen 1. Vorfindliches Normenmaterial 2. Schöpferischer Erkenntnisakt 3. Gewisse Erkenntnishöhe 4. Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft IV. Einzelstudien juristischer Entdeckungen im Gesellschaftsrecht 1. Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts

a) Entdeckungsprozess und Entdecker b) Konstitutive Merkmale einer Entdeckung c) Entdeckung und Paradigmenwechsel 2. Rechtsnatur der Vorgesellschaft im GmbH-Recht a) Entdeckungsprozess und Entdecker b) Konstitutive Merkmale einer Entdeckung c) Entdeckung und Rechtsfortbildung 3. Mitgliedschaftliche Treuepflicht unter Aktionären a) Entdeckungsprozess und Entdecker b) Konstitutive Merkmale einer Entdeckung c) Entdeckung und Wertewandel

„Es lohnt sich, die Entdeckungen anderer so zu studieren, dass für uns selbst eine neue Quelle für Erfindungen entspringt.“ Gottfried Wilhelm Leibniz

I. Juristische Entdeckungen und verwandte Begriffe Einfallsreichtum und Originalität gehören zu den wissenschaftlichen Markenzeichen des Forschungsstils von Karsten Schmidt. In vielen Bereichen des Privatrechts, vom klassischen Bürgerlichen Recht über das Handels- und Gesellschaftsrecht bis hin zur Insolvenz- und Zivilprozessordnung, hat er neue Perspektiven aufgezeigt, kreative Lösungen vorgeschlagen und fragmentarische Gesetzesregelungen fortgedacht. Das ermuntert den Verfasser dieser Zeilen, sich mit einigen vorläufigen Gedanken zum Phänomen juristischer Entdeckungen in den Reigen der Gratulanten einzureihen. Der Rückzug auf die Vorläufigkeit gestattet es, die methodische und wissenschaftstheoretische Literatur nur in begrenzter Auswahl beizuziehen. 375

Holger Fleischer

1. Juristische Entdeckungen Die sprachschöpferische Wortprägung „juristische Entdeckung“ verbindet man mit dem Namen von Hans Dölle. In einem Festvortrag vor dem 42. Deutschen Juristentag 1957 hat er für den Gedanken geworben, dass man nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in der Rechtswissenschaft von echten Entdeckungen sprechen dürfe1. Dabei sind ihm die beträchtlichen Unterschiede der Erkenntnisgewinnung in beiden Wissenschaftszweigen nicht verborgen geblieben2. Gemeinsamkeiten hat er aber in dem schöpferischen Erkenntnisakt ausgemacht, zu dem sowohl bei natur- wie bei geisteswissenschaftlichen Entdeckungen ein gewisses Maß an Spontaneität und Wirkungskraft hinzutreten müsse3. Zur Veranschaulichung seiner Thesen hat Dölle einige Beispiele aus dem Bürgerlichen Recht und dem Internationalen Privatrecht herausgegriffen: die Trennung von Vollmacht und Grundverhältnis (Laband), die culpa in contrahendo (Ihering), die kollisionsrechtliche Lehre vom Sitz des Rechtsverhältnisses (Savigny) und das Problem der Qualifikation im Internationalen Privatrecht (Kahn und Bartin)4. Dölles reizvolle Studie wurde in der Folgezeit zwar gelegentlich zitiert, hat aber keine Nachfolgearbeiten inspiriert. Neuerdings hat man seinem Denkansatz sogar vorgehalten, er erscheine bei aller rhetorischen Brillanz als Relikt einer vergangenen Zeit5. Dieses geringschätzige Urteil wird indes weder der Geisteshaltung Dölles noch der Bedeutung seiner Fragestellung gerecht. Vielmehr ist das von ihm aufgeworfene Entdeckungsthema unverändert fruchtbar, weil es auf fast spielerische Art zu Grundfragen unseres Faches vordringt: Wie schreitet die Rechtsentwicklung im Zeitablauf voran?6 Woran erkennt man geistige Höchstleistungen von Juristen?7 In welcher Hinsicht unterscheidet sich die rechtswissenschaftliche Arbeitsweise vom methodischen Vorgehen der Naturwissenschaften; worin liegt ihr Proprium?8 Mir erscheint es daher vielversprechend, Dölles Gedankenfaden genau ein halbes Jahrhundert nach

__________ 1 Vgl. Dölle in Verhandlungen des 42. Deutschen Juristentages 1957, Band II (Sitzungsberichte), 1959, B 1 unter der Überschrift „Juristische Entdeckungen“. 2 Vgl. Dölle (Fn. 1), B 2 und B 3: „Allerdings sind diese Phänomene von anderer Art als die Gegebenheiten der sog. Natur. Sie sind sämtlich normativen Charakters, d. h., das gesamte Reich der rechtswissenschaftlichen Daten ist ein Erzeugnis menschlichen Wollens und Sollens […]. Es leuchtet ein, dass sich Entdeckungen in den Provinzen eines so beschaffenen Reiches etwas anders darstellen müssen als im Reich der Natur.“ 3 Vgl. Dölle (Fn. 1), B 3. 4 Vgl. Dölle (Fn. 1), B 3 ff. 5 So Hoeren in Hoeren (Hrsg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, S. 1, 3. 6 Vgl. am Beispiel des Gesellschaftsrechts Fleischer in Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 485, 486 ff. 7 Vorüberlegungen dazu bei Fleischer in Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band 1, 2007, S. 167, 179 ff. 8 Näher Fleischer in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 50, 51 ff.

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Juristische Entdeckungen im Gesellschaftsrecht

der Veröffentlichung seines Festvortrages aufzunehmen und fortzuspinnen. Als Referenzgebiet soll hier das Gesellschaftsrecht dienen, in dem der Jubilar – zusammen mit dem Handelsrecht – die tiefsten Spuren hinterlassen hat. 2. Juristische Erfindungen Es entspricht dem rechtswissenschaftlichen Denken, Grundbegriffe über Gegensatzbildungen zu erschließen. Alltagssprachlich unterscheidet man Entdeckungen und Erfindungen9. Das trifft sich mit dem internationalen Sprachgebrauch in der Wissenschaftstheorie, der discovery und invention auseinander hält10. Wirtschaftsjuristen kennen dasselbe Gegensatzpaar aus dem Patentrecht: Nach § 1 Abs. 1 PatG werden Patente nur für Erfindungen erteilt, während Entdeckungen – ebenso wie wissenschaftliche Theorien11 – nach § 1 Abs. 3 PatG nicht patentfähig sind12. Unter einer Entdeckung verstehen Patentrechtler das Auffinden oder Erkennen bisher unbekannter, aber objektiv schon vorhandener Gesetzmäßigkeiten, Wirkungszusammenhänge, Eigenschaften oder Erscheinungen13. Demgegenüber stellt die Erfindung die zweckgerechte Lösung eines bestimmten Problems mit technischen Mitteln dar14. Sie ist mit anderen Worten angewandte im Gegensatz zur reinen Erkenntnis15. Für unsere Fragestellung sind die genannten Abgrenzungsmerkmale in zweifacher Hinsicht wertvoll. Zum einen zieht das (Entdeckungs-)Merkmal der Vorfindlichkeit eine Grenzlinie zwischen zulässiger und unzulässiger Rechtsfortbildung: Was im gesetzlichen System nicht einmal angelegt ist, lässt sich de lege lata nicht begründen16. Nicht als Entdeckung, sondern als juristische Erfindung anzusehen ist daher die Rechtsform der GmbH17, die eine „Kunstschöpfung“18 des Gesetzgebers ohne historisches oder rechtsvergleichendes

__________ 9 Zur alltagssprachlichen Unterscheidung zwischen Entdeckung und Erfindung, die sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet hat, Hügli in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976, Stichwort: Invention, Erfindung, Entdeckung, Sp. 544, 545. 10 Dazu Piscopo/Birattari in Lange/Satoh/Smith (Hrsg.), Discovery Science, 5th International Conference, 2002, S. 457 unter der Überschrift „Invention vs. Discovery. A Critical Discussion“. 11 Vgl. aus patentrechtlicher Sicht Beier/Straus, Der Schutz wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, 1982, S. 13 ff. 12 Näher Bacher/Melullis in Benkard, PatG, 10. Aufl. 2006, § 1 PatG Rz. 96 ff.; Kraßer, Patentrecht, 5. Aufl. 2004, § 11 II 1, S. 122; Osterrieth, Patentrecht, 3. Aufl. 2007, Rz. 112 ff. 13 Vgl. Beier/Straus (Fn. 11), S. 14; Bacher/Melullis in Benkard (Fn. 12), § 1 PatG Rz. 96; Jestaedt, Patentrecht, 2005, Rz. 204; Kraßer (Fn. 12), § 11 II 1, S. 122. 14 Vgl. Beier/Straus (Fn. 11), S. 14; Bacher/Melullis in Benkard (Fn. 12), § 1 PatG Rz. 40; Jestaedt (Fn. 13), Rz. 201; Osterrieth (Fn. 12), Rz. 105. 15 Vgl. Jestaedt (Fn. 13), Rz. 204; Kraßer (Fn. 12), § 11 II 1, S. 122. 16 Näher dazu unter III. 1. 17 So auch die Einordnung von Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 21. Aufl. 2008, § 20 Rz. 13: „gesetzliche Erfindung“; gleichsinnig Kober, GmbHR 1992, 403; Roth/ Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, Einl. Rz. 1; Schippel, GmbHR 1992, 414; Zöllner, JZ 1992, 381. 18 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 33 II 1, S. 986.

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Vorbild darstellt. Gleiches gilt für das Prinzip der Haftungsbeschränkung19, das zu den wichtigsten Erfindungen20 des modernen Korporationsrechts gehört. Zum anderen verweist das (Erfindungs-)Merkmal des Anwendungs- oder Praxisbezugs auf die Kunst der Kautelarjurisprudenz, aus allgemein bekannten Bauelementen neue Gestaltungs- und Verwendungsformen zu zimmern21. So lassen sich etwa die GmbH & Co. KG22 oder die Strohmanngründung23 als juristische Erfindungen bezeichnen. Bei allen Unterschieden darf freilich nicht aus dem Blick geraten, dass Entdeckungen und Erfindungen gemeinsame Züge tragen24. Für die Naturwissenschaften hat Thomas Kuhn in seiner einflussreichen Schrift über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen dargelegt, dass die Unterscheidung zwischen Entdeckung und Erfindung, Faktum und Theorie, sich schnell als höchst künstlich herausstellen könne25. Auch im Patentrecht sind die Übergänge zwischen Entdeckung und Erfindung trotz der scheinbar eindeutigen Abgrenzung in § 1 Abs. 3 Nr. 1 PatG fließend26. Auf geistigem Gebiet27 gilt dies erst recht: Entdecker und Erfinder sind gleichermaßen Wegbereiter zu etwas Neuem, und es ist manchmal nur eine Frage des eigenen Standpunkts, ob sich der Neuerer als Urheber ansieht, der etwas Originäres erschafft, oder als Finder, der etwas Präexistentes ans Licht bringt28.

__________ 19 Vgl. BGHZ 142, 315, 322 zur GbR mbH: „Eine Haftungsbeschränkung durch einseitigen Akt der Gesellschaft würde entgegen dem System des geltenden Rechts im Ergebnis wie die Schaffung einer neuen Gesellschaftsform wirken, bei der den Gläubigern nur das – ungesicherte – Gesellschaftsvermögen haftet. Hierfür besteht für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts kein Bedürfnis.“ 20 Ähnlich die Einordnung des Präsidenten der Harvard University, Eliot, zitiert bei Cook, 13 Mich. L. Rev. 583 n. 4 (1921); und in Note, 76 Yale L.J. 1190 (1967): „by far the most effective legal invention […] made in the nineteenth century“; im Anschluss daran auch J. Meyer, Haftungsbeschränkung im Recht der Handelsgesellschaften, 2000, S. 2: „die effektivste rechtliche Erfindung des 19. Jahrhunderts“. 21 Schon Dölle (Fn. 1), B 16 sprach von den „Erfindungen der Kautelarjurisprudenz“ und nannte als Beispiel das Treuhandgeschäft als eine für praktische Ziele sinnreich erdachte Konstruktion von Rechtsbeziehungen unter Benutzung wohlbekannter juristischer Elemente. 22 Eingehend zu ihrer Herausbildung Karsten Schmidt (Fn. 18), § 56 I 2 und 3, S. 1623 ff.; zuletzt Karsten Schmidt, JZ 2008, 425. 23 Dazu Karsten Schmidt (Fn. 18), § 40 II 1 b, S. 1246. 24 Dies betonend auch Hügli (Fn. 9), Sp. 544, 545; klassisch die Formulierung des großen französischen Enzyklopädisten D’Alembert, wiedergegeben bei Malapert/Forni, Nouveau commentaire des lois sur les brevets d’invention, 1878: „Découverte, invention, synonymes“. 25 Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 65 und S. 79 („Entdeckung und Erfindung nicht grundsätzlich und dauerhaft verschieden“). 26 So ausdrücklich Bacher/Melullis in Benkard (Fn. 12), § 1 PatG Rz. 96a. 27 Zwischen Entdeckungen idealer und realer Natur unterscheidend Snell, Die Entdeckung des Geistes, 8. Aufl. 2000, S. 7: „Das Entdecken des Geistes ist ein anderes, als wenn wir sagen, Kolumbus habe Amerika ‚entdeckt‘. […] Trotzdem gebrauchen wir das Wort ‚entdecken‘ hier zu Recht.“ 28 So ausdrücklich Schütz, Die Entdeckung. Ein Grundphänomen der europäischen Geschichte – seine Entstehung und seine Strukturen, 1997, S. 26 f.

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Juristische Entdeckungen im Gesellschaftsrecht

3. Juristische Innovation Neutraler gefasst als der naturwissenschaftlich vorgeprägte Begriff der Entdeckung ist jener der Innovation29. Er wirft eine Reihe von Folgefragen auf, die sich um die Entstehungsbedingungen korporativer Innovation ranken30: Wie geht die Rechtsevolution im Zeitalter globaler Finanzmärkte und transnationalen Wirtschaftsrechts voran?31 In welchen institutionellen Bahnen vollzieht sich der gesetzliche Reformprozess im In- und Ausland?32 Inwieweit verträgt sich Rechtsinnovation gerade im Gesellschaftsrecht mit der gegenläufigen idée directrice der Rechtssicherheit?33 Welche Rolle spielt die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts?34 Besonders spannungsgeladen ist das Verhältnis von Innovation und Tradition innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Rahmens. Wie die Erfahrung lehrt, bevorzugen Juristen nicht radikale, sondern inkrementale Neuerungen35. Das hat seinen guten Grund, weil die überkommene Rechtsdogmatik eine wertvolle Stabilisierungs- und Entlastungsfunktion erfüllt36. Neuerungen sind daher in der Jurisprudenz – wie allgemein in der Wissenschaft37 – kein Wert an sich. Wer in allzu großer Bereitschaft einen gesicherten dogmatischen Konsens vorschnell preisgibt, wird von der Juristenzunft mit Recht argwöhnisch beäugt38. Vor diesem Hintergrund sind juristische Innovatoren klug beraten, ihre

__________ 29 Für eine Umschreibung zuletzt Duffy, Inventing Invention: A Case Study of Legal Innovation, 86 Tex. L. Rev. 1, 3 (2007): „True [legal] innovation here means not any change (like a change in social values or a mere change in fashion) but rather a change that is an intellectual advance and is objectively better in accomplishing the purposes of the law.“ 30 Zu folgendem bereits Fleischer, ZGR 2007, 500, 507. 31 Allgemein dazu v. Wangenheim, Die Evolution von Recht, 1995; unter einem spezifisch wirtschaftsrechtlichen Blickwinkel Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001; aus der US-amerikanischen Literatur etwa Elliott, The Evolutionary Tradition in Jurisprudence, 85 Colum. L. Rev. 38 (1985); Roe, Chaos and Evolution in Law and Economics, 109 Harv. L. Rev. 641 (1996). 32 Näher die Symposionsbeiträge Company Law and Corporate Governance in Europe – Interim Report and Reflections on the Ongoing Reforms in the European Union and in Selected Member States, RabelsZ 69 (2005), 611–794. 33 Allgemein dazu Arnauld, Rechtssicherheit. Perspektivische Annäherungen an eine ‚idée directrice‘ des Rechts, 2006. 34 Näher Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998. 35 Vgl. Fleischer, ECFR 2005, 378, 393. 36 Dazu und zu weiteren Dimensionen der Rechtsdogmatik Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 326 ff.; außerdem Basedow in Zimmermann u. a. (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, S. 79, 88 ff. 37 Vgl. Kuhn (Fn. 25), S. 181: „Neuheit um ihrer selbst willen ist in der Wissenschaft kein Desideratum, wie in so vielen anderen kreativen Bereichen.“ 38 Vgl. Esser, AcP 172 (1972), 97, 125 mit dem Zusatz: „Das ist eine Malaise, die wir uns mit unserer zunehmenden Ungeduld in der Modernisierung von Rechtsauffassungen und Rechtsvorstellungen selbst zuschreiben müssen – ein Fehler, der in meinen Augen aber gering wiegt, verglichen mit der Starrheit einer nicht sozial angeregten Begriffsdogmatik.“

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Neuerung (nach dem Iheringschen Vorbild39) als organisch gewachsen zu stilisieren, um deren Akzeptanz im rechtlichen Diskurs zu erleichtern40. Selbst dann ist häufig noch ein langer Atem vonnöten, um einen Meinungswandel in Rechtsprechung und Lehre herbeizuführen. Darin liegt allerdings keine Besonderheit der Rechtswissenschaft. Aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers hat schon Max Planck beim Rückblick auf seine wissenschaftliche Laufbahn voller Bedauern bemerkt: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird.“41 4. Juristischer Fortschritt Noch schwerer zu fassen als die juristische Entdeckung ist der juristische Fortschritt. Er erweist sich im Vergleich mit dem Fortschrittsgedanken der empirischen Wissenschaften als eine erheblich kompliziertere Angelegenheit42. Verschiedene Deutungen sind denkbar, von denen Brian Cheffins in seiner weit ausgreifenden Antrittsvorlesung in Cambridge einige zusammengestellt hat43: (1) die Vorstellung eines kontinuierlichen juristischen Fortschritts durch die ständige Ansammlung und Auswertung neuen Wissens; (2) die in unregelmäßigen Abständen erfolgende Verwerfung eines Erklärungsmodells durch ein anderes, wie man sie in den Naturwissenschaften als Paradigmenwechsel zu umschreiben pflegt44; (3) die Vermehrung juristischer Einsichten durch einen marktförmigen Prozess, in dem Nachfrager nach und Anbieter von wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufeinander treffen45; (4) die fortwährende Wiederkehr immergleicher Fragestellungen, die Rechtswissenschaftler stets aufs neue beschäftigen46; (5) die Herausbildung akademischer Modethemen47,

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39 Vgl. Ihering, JherJb Bd. 4 (1861), S. 75 ff.; zur Entdeckungsgeschichte der culpa in contrahendo Medicus in Iuris Professio, Festgabe Kaser, 1986, S. 169; Schanze, 7 Ius Commune 326 (1978). 40 Vgl. Fleischer (Fn. 8), S. 50, 68; ähnlich Tushnet, 1998 Wis. L. Rev. 579, 581: „In general, however, the legal academy’s reward structure requires that novel approaches be ones that the younger scholars‘ elders can appreciate as continuing a tradition with which the elders are associated.“ 41 Planck, Wissenschaftliche Autobiographie, 1928, S. 22. 42 Treffend Alexy (Fn. 36), S. 328. 43 Vgl. zu folgendem Cheffins, The Trajectory of (Corporate Law) Scholarship, 63 Cambridge L.J. 456, 458 ff. (2004). 44 Begriff: Kuhn (Fn. 25), S. 65 und öfter. 45 Dazu Ackerman, The Marketplace of Ideas, 90 Yale L.J. 1131 (1981). 46 So die These von Brest, Plus ça Change, 91 Mich. L. Rev. 1945, 1950 (1993): „Taking everything into account, a law student who fell asleep in 1963 and awoke in 1993 would not be astonished by his new surrounds. If he had fallen asleep holding a law review – the soporific power was no weaker in those days – the nature and language of some of the articles would bewilder him, but he would find much that was familiar.“ 47 Plastisch der Aufsatztitel von Sunstein, On Academic Fads and Fashions, 99 Mich. L. Rev. 1251 (2001); ferner Bryden, 63 U. Colo. L. Rev. 641, 644 (1993): „Overemphasis on Glamorous Subjects“.

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welche durch Netzwerkeffekte und Informationskaskaden eine rasche Ausbreitung erfahren48. Trägt man diese Modelle an das deutsche Gesellschaftsrecht heran, so ist man schnell mit Einzelbeispielen für den einen oder anderen Erklärungsansatz bei der Hand. So mag man im Aktienrecht von einem „kleinen“ Paradigmenwechsel sprechen, seit der Aktionär nicht mehr nur als Verbandsmitglied, sondern auch als Kapitalanleger und Unternehmensfinancier betrachtet wird49. Umgekehrt bildet die soziale Verantwortlichkeit der Aktiengesellschaft eines jener Ewigkeitsthemen, das die Gesellschaftsrechtswissenschaft seit Walther Rathenaus berühmt gewordenem Vortrag über das Aktienwesen50 beschäftigt und in unserer Zeit unter dem Stichwort „shareholder value versus stakeholder value“ wiederkehrt51. Schließlich gehören der qualifiziert-faktische Konzern, das Eigenkapitalersatzrecht oder die rechtliche Behandlung ausländischer Kapitalgesellschaften mit Verwaltungssitz im Inland zu jenen Modethemen, die Scharen von Gesellschaftsrechtlern angezogen haben wie das Licht die Motten52. Insgesamt wird man daher festhalten dürfen, dass sich die Fortentwicklung des Gesellschaftsrechts, geschweige denn sein Fortschritt, nicht monokausal erklären oder gar vorhersagen lässt53.

II. Vorbedingungen und Verlauf juristischer Entdeckungsprozesse Wissenschaftliche Entdeckungen lassen sich nicht nur als fertiges Ergebnis, sondern ebenso als ablaufender Prozess verstehen. Die Genese solcher Entdeckungen wird in der Wissenschaftstheorie als Untersuchungsgegenstand häufig ausgeklammert, weil sie nicht rational nachkonstruierbar sei54. So liest

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48 Vgl. Sunstein, 99 Mich. L. Rev. 1251 (2001): „Academics, like everyone else, are subject to cascade effects. They start, join, and accelerate bandwagons. More particularly, they are subject to the informational signals sent by the acts and statements of others […] It is for these reasons that fads, fashions, and bandwagon effects can be found in academia, including the academic study of law. Fortunately, the underlying forces can spark creativity and give new ideas a chance to prosper. Unfortunately, these same forces can also produce error and confusion.“ 49 Vgl. Fleischer, ZGR 2002, 757, 766 („Paradigmenwechsel“); abschwächend Zöllner, GesRZ Sonderheft 2004, S. 5 („Verdrängung einer Leitidee durch eine andere“). 50 Vgl. Rathenau, Vom Aktienwesen. Eine geschäftliche Betrachtung, 1917. 51 Vgl. zuletzt Fleischer in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2008 (im Erscheinen), mit umfassenden, auch rechtsvergleichenden Nachweisen. 52 So das Bild bei Twining, 95 L. Q. Rev. 557, 559 (1979): „[I]t is not unknown within jurisprudence for a book-of-the-moment, a robust debate, or some dramatic event to attract the ad hoc attention of swarms of jurists like moths to the flame.“ 53 Für einen ähnlichen Befund in England Cheffins, 63 Cambridge L.J. 456, 477 (2004): „[N]o single account of the manner in which legal scholarship evolves is fully convincing.“ 54 Vgl. Reichenbach, Experience and Prediction, 1938, S. 6 f., der zwischen einem Entdeckungszusammenhang (context of discovery) und einem Rechtfertigungszusammenhang (context of justification) unterscheidet, ersteren aber gleich zu Beginn von seiner weiteren Untersuchung ausschließt: „Then we have to say that epistemology is only occupied in constructing the context of justification.“

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man in dem Grundlagenwerk von Karl Popper: „An der Frage, wie es vor sich geht, dass jemandem etwas Neues einfällt – sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie –, hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik.“55 Für unsere nicht streng epistemologischen Überlegungen ist es dagegen durchaus reizvoll, auch die Innenperspektive des juristischen Entdeckungsphänomens auszuleuchten. 1. Juristisches Einfühlungsvermögen Henri Bergson verdanken wir die schöne Beschreibung, dass jede Entdeckung eine schöpferische Intuition sei, der ein irrationales Moment innewohne56. Am Beispiel einer literarischen Komposition hat er dazu ausgeführt: Es reiche nicht, ein Thema zu studieren, Unterlagen zu sammeln und sich Anmerkungen zurechtzulegen, sondern es bedürfe einer neuen Anstrengung, sich mitten in das Thema hineinzudenken, um von dort einen Impuls zu empfangen, der den Geist weitertrage und auf eine Bahn bringe, wo er das Gesammelte und zusätzliche Details wiederfinde57. Ähnlich hat Albert Einstein aus naturwissenschaftlicher Sicht in seiner Rede zu Max Plancks sechzigstem Geburtstag davon gesprochen, dass zur Entdeckung der Naturgesetze kein logischer Weg führe, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition58. Ganz in diesem Sinne setzen auch juristische Entdeckungen ein besonderes Einfühlungsvermögen in die Ordnungsstrukturen und Sachgesetzlichkeiten rechtlicher Phänomene voraus. Erforderlich ist ein juristischer Röntgenblick59, der jene Strukturelemente eines Rechtsinstituts sichtbar macht, die dem bloßen Auge verborgen bleiben. Eine Fülle solcher Einzelbeobachtungen schärft sukzessive den Blick für die Anatomie des gesamten Rechtsgebiets60. Es liegt auf der Hand, dass ein systematischer Ordnungssinn das Erkennen bisher nicht (an)erkannter, aber im Gesetzessystem schon angelegter Struktur- und Wertungsprinzipien erleichtert. Insoweit verfügen ältere Wissenschaftler dank ihres größeren Erfahrungsschatzes über komparative Vorteile61. Darüber hin-

__________ 55 Popper, Logik der Forschung, 11. Aufl. 2005, S. 7. 56 Vgl. Bergson, Revue de Métaphysique et de Morale 11 (1903), 1, 3: „On appelle intuition cette espèce de sympathie intellectuelle par laquelle on se transporte à l’intérieur d’un objet pour coincider avec ce qu’il a d’unique et par conséquent d’inexprimable.“ 57 Dazu Bergson, Revue de Métaphysique et de Morale 11 (1903), 1, 35 mit dem Zusatz: „Plus en va, plus on en découvre.“ 58 Vgl. Einstein, Mein Weltbild, 26. Aufl. 1998, S. 121. 59 Dazu Fleischer (Fn. 7), S. 167, 170. 60 Vgl. für das Gesellschaftsrecht Kraakman/Davies/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/ Rock, The Anatomy of Corporate Law, 2004. 61 In allgemeinem Zusammenhang Lehman, Age and Achievement, 1953, S. 330: „Old people probably have more transfer, both positive and negative, than do young ones. As a result of positive transfer the old usually possess greater wisdom and erudition. These are invaluable assets.“

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aus beruhen juristische Entdeckungen nicht selten auf der Bereitschaft, „den Stock am anderen Ende aufzuheben“62, oder – wie man nicht minder anschaulich formuliert hat – einen Wechsel der visuellen Gestalt vorzunehmen63. Für solche grundlegenden Neukonzeptionen scheinen jüngere Forscher besonders prädestiniert64, auch wenn für die Rechtswissenschaft bislang keine systematische Untersuchung über den Zusammenhang von Lebensalter und schöpferischer Leistung vorliegt65. 2. Juristische Entdecker Naturwissenschaftliche Entdeckungen werden häufig in einem Atemzug mit der Person ihres Entdeckers genannt. Allerdings will diese subjektive Zuordnung nicht immer nadelspitz treffsicher gelingen. Nach den Beobachtungen von Thomas Kuhn sind Entdeckungen oftmals keine isolierten Ereignisse, sondern ausgedehnte Episoden mit einer regelmäßig wiederkehrenden Struktur, von denen sich nicht genau sagen lasse, zu welcher Zeit und an welchem Ort sie gemacht worden seien66. Ähnliche Überlegungen hatte zuvor schon Ludwik Fleck angestellt: Er warb dafür, Entdeckungen als soziales Phänomen zu verstehen, da die Autorenschaft an einer Entdeckung nicht dem Einzelnen, sondern einem Denkkollektiv gebühre67. Auch in der Rechtswissenschaft feiert man die geistigen Erneuerer vereinzelt als „Zivilrechtliche Entdecker“68 und bewahrt ihre bahnbrechenden Erkenntnisse im Kollektivgedächtnis des Faches69. Verglichen mit den Naturwissenschaften spielen die Lebensbilder großer Juristen in der Lehrbuchliteratur allerdings eine geringere Rolle. Dies liegt zum einen daran, dass juristische Entdeckungen häufig nicht das materielle Recht, sondern den methodischen

__________ 62 Begriff und Bild nach Butterfield, The Origins of Modern Science, 1300–1800, 1949, S. 7: „the policy of picking up the opposite end of the stick“; ferner a. a. O., S. 1: „[O]f all forms of mental activity the most difficult to induce […] is the art of handling the same bundle of data as before, but placing them in a new system of relations with one another by giving them a different framework, all of which virtually means putting on a different kind of thinking-cap for the moment.“ 63 Konzept und Theorie bei Hanson, Patterns of Discovery, 1958, S. 4 ff., 8 ff. 64 Vgl. Lehman (Fn. 61), S. 330: „[W]hen a situation requires a new way to looking at things, the acquisition of new techniques or even new vocabularies, the old seem stereotyped and rigid. To learn the new they often have to unlearn the old and that is twice as hard as learning without unlearning.“ 65 Für andere Disziplinen die Pionierstudie von Lehman (Fn. 61), S. 3: „What are Man’s most creative years? At what ages are men likely to do their most outstanding work?“ 66 Vgl. Kuhn (Fn. 25), S. 65. 67 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935, S. 110 f. 68 So der Buchtitel von Hoeren (Hrsg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001. 69 Vgl. jüngst den Sammelband von Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band 1, 2007.

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Zugang zu ihm betreffen70. Zum zweiten trägt die Kommentarliteratur zur Verwässerung juristischer „Urheberrechte“ bei, weil das leichter auffindbare Kommentarzitat in der Rechtspraxis – sehr zum Leidwesen kreativer Köpfe! – die schwerer zugängliche Originalquelle ersetzt. Zum dritten entfalten individuelle Forscherleistungen ihre volle Wirkungskraft erst durch bestätigende höchstrichterliche Entscheidungen, hinter die sie dann zurücktreten.

III. Konstitutive Merkmale juristischer Entdeckungen Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich vier konstitutive Merkmale für eine juristische Entdeckung ableiten: 1. Vorfindliches Normenmaterial Juristische Entdeckungen sind keine creatio ex nihilo, sondern greifen auf vorfindliches Normenmaterial zurück und formen es weiter aus. Häufig wird es sich um fragmentarische Gesetzesregelungen oder verstreute Einzelvorschriften handeln, deren tieferer Sinn- oder Systemzusammenhang der Rechtsgemeinschaft bislang verborgen blieb. Die Notwendigkeit einer präexistenten Normenbasis ergibt sich neben begrifflichen vornehmlich aus methodischen Erwägungen: Wer für seine „Entdeckung“ keinen Anhaltspunkt im positiven Recht benennen kann, überschreitet in aller Regel die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung. Zu weit geht daher der Ausspruch eines ehemaligen schweizerischen Bundesrichters, „wenn das Recht nicht gefunden werden kann, muss es eben erfunden werden“71. 2. Schöpferischer Erkenntnisakt Für eine juristische Entdeckung ist weiter kennzeichnend, dass das Auffinden der neuen Rechtsfigur mit einem schöpferischen Erkenntnisakt einhergeht72. Der Entdecker muss durch sein dogmatisches Einfühlungsvermögen einen zuvor unerkannten System- oder Wertungsgesichtspunkt aufgespürt und ins allgemeine Bewusstsein gehoben haben. Entdecken und Fortdenken gehen dabei Hand in Hand: Juristische Entdeckungen erschöpfen sich nicht in der bloßen Beschreibung des positiven Rechts, sondern enthalten stets ein produktives Element73. Durch juristische Einfallskraft oder Kombinationsgabe – manche sprechen von creative imagination74 – entsteht aus dem Vorgefundenen etwas

__________ 70 Beispiele: der Durchbruch der Interessen- und Wertungsjurisprudenz (Heck, Larenz), der Siegeszug der funktionalen Rechtsvergleichung (Rabel, Zweigert, Kötz) und der wachsende Einfluss der Rechtsökonomie (Calabresi, Posner). 71 Schubarth, ZBJV 136 (2000), 105, 110. 72 Zum Erfordernis eines schöpferischen Erkenntnisaktes bereits Dölle (Fn. 1), B 3. 73 Gleichsinnig für juristische Theorien Canaris, JZ 1993, 377, 383; Jansen, ZEuP 2005, 750, 772. 74 Vgl. Legendre, Scientific Research and Discovery: Process, Consequences and Practice, 2004, S. 69 f.: „Original work results from the combination of three main components: intuition, craftsmanship or methodology and pleasure. The combination is

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Neues, das über den bisherigen Erkenntnisstand hinausweist. Dabei fördert es die Durchsetzung der Entdeckung im rechtlichen Diskurs, wenn es dem Entdecker gelingt, sie auch begrifflich auf den Punkt zu bringen. 3. Gewisse Erkenntnishöhe Will man von dem Prädikat einer juristischen Entdeckung keinen inflationären Gebrauch machen, so bedarf es einer wertenden Einschränkung. Im Patentrecht haben Rechtsprechung und Rechtslehre früher das Erfordernis der Erfindungshöhe als Maßstab der Patentwürdigkeit aufgestellt75, das inzwischen in dem Tatbestandsmerkmal der erfinderischen Tätigkeit i. S. d. § 4 PatG aufgegangen ist76. Zur Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs werden eine Reihe von Kriterien und Hilfskriterien herangezogen: das Ausmaß der schöpferischen Leistung, der Abstand von vorbekannten Lösungen, die Abkehr von eingefahrenen Wegen, die Überwindung technischer Fehlvorstellungen, das Überraschungsmoment und ein lange bestehendes, aber bislang unbefriedigend gelöstes Bedürfnis77. Analog dazu ist für eine juristische Entdeckung eine gewisse Erkenntnishöhe zu fordern: Sie muss in zentralen Fragen über eine bessere Problemlösungsfähigkeit verfügen, indem sie zu einem vertieften Verständnis von Sachzusammenhängen oder juristischen Ordnungsstrukturen beiträgt, einen analytischen Rahmen für die Lösung praktischer Einzelprobleme aufspannt oder eine komplizierte Erklärung durch eine einfachere Formel ersetzt78. Dass dabei zuweilen auch ästhetisch-pragmatische Erwägungen eine Rolle spielen, hat Thomas Kuhn sogar beim Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften beobachtet79. 4. Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft Schließlich bedürfen (erfolgreiche) juristische Entdeckungen der Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft. Das folgt aus dem Charakter der Rechtswissen-

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called creative imagination. The three main components of creative imagination correspond well to Wilson’s definition of the ideal scientist, who ‘can be said to think like a poet, work like a clerk, and write like a journalist‘.“ Vgl. Asendorf/Schmidt in Benkard (Fn. 12), § 4 PatG Rz. 6; Jestaedt (Fn. 13), Rz. 13; Kraßer (Fn. 12), § 16 A I 4, S. 263. Vgl. Begr. RegE Gesetz über internationale Patentabkommen, BT-Drucks. 7/3712, S. 27, wonach das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit die nach der bisherigen Entscheidungspraxis verlangte Patentierbarkeitsvoraussetzung der Erfindungshöhe ersetzt; dazu auch Asendorf/Schmidt in Benkard (Fn. 12), § 4 PatG Rz. 9. Vgl. Asendorf/Schmidt in Benkard (Fn. 12), § 4 PatG Rz. 46 ff.; Jestaedt (Fn. 13), Rz. 394 ff.; Kraßer (Fn. 12), § 18 IV, S. 325 ff. Zum Einfachheitsbegriff in der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie Popper (Fn. 55), S. 115 ff. Vgl. Kuhn (Fn. 25), S. 166: „Die ersten Versionen der meisten neuen Paradigma sind roh. Bis sich ihre ästhetische Anziehungskraft voll entfalten kann, ist die Mehrheit der Gemeinschaft mit anderen Mitteln überzeugt worden. Trotzdem kann die Bedeutung ästhetischer Erwägungen manchmal entscheidend sein.“

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schaft als einer gleichermaßen dogmatischen und praktischen Disziplin80. Juristische Entdeckungen müssen sich im praktischen Diskurs bewähren81 und eine gewisse Wirkungskraft entfalten82. Das ihnen innewohnende produktive Element, welches über die Beschreibung des positiven Rechts hinausweist, kann seine Gültigkeit nämlich nur vom Konsens der Beteiligten innerhalb einer Rechtsgemeinschaft oder von einer autoritativen Anerkennung ableiten83. Mit der Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft, sei es durch die sog. herrschende Meinung84, eine höchstrichterliche Entscheidung oder einen gesetzgeberischen Reformakt, findet der juristische Entdeckungsprozess seinen Abschluss.

IV. Einzelstudien juristischer Entdeckungen im Gesellschaftsrecht Es bleibt die Aufgabe, die abstrakten Ausführungen an konkreten Einzelbeispielen zu erproben. Auf gedrängtem Raum wird jeweils eine Entdeckung aus dem Personengesellschafts-, GmbH- und Aktienrecht vorgestellt. 1. Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts Die wohl berühmteste Entdeckung85 im Personengesellschaftsrecht betrifft die Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts. a) Entdeckungsprozess und Entdecker Die traditionelle und über Jahrzehnte nahezu unangefochtene Gesamthandslehre begriff die Gesamthand als zweckgebundenes Sondervermögen ohne eigene Rechtssubjektivität86. Als Zurechnungsendpunkt von Rechten und Pflichten und damit auch als Träger des Gesamthandsvermögens sah sie nicht die Gesellschaft selbst, sondern die einzelnen Gesellschafter in ihrer gesamt-

__________ 80 Zur Rechtswissenschaft als einer dogmatischen Disziplin Diederichsen in Zimmermann u. a. (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, S. 65, 66 ff.; zur Rechtswissenschaft als einer praktischen Wissenschaft Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 3. 81 Ebenso für juristische Theorien Jansen, ZEuP 2005, 750, 776. 82 Zum Kriterium der Wirkungskraft bereits Dölle (Fn. 1), B 3. 83 Gleichsinnig für juristische Theorien Alexy (Fn. 36), S. 321 ff.; Diederichsen in Zimmermann u. a. (Hrsg.) (Fn. 80), S. 65, 66 ff.; Jansen, ZEuP 2005, 750, 776. 84 Monographisch Drosdeck, Die herrschende Meinung – Autorität als Rechtsquelle, 1989. 85 Gleicher Sprachgebrauch bei Reuter, AcP 207 (2007), 673, 677: „Weder die Rechtsprechung noch die Gesetzgebung haben die Rechtsfähigkeit von Außen-BGBGesellschaft und Wohnungseigentümergemeinschaft ursprünglich ‚entdeckt‘. Dieses Verdienst kommt (wenn man es denn als solches ansieht) der Rechtswissenschaft zu.“ 86 Vgl. etwa Buchner, AcP 169 (1969), 483, 487 ff.; Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personengesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 61 ff., 89 ff.; Schulze-Osterloh, Das Prinzip der gesamthänderischen Bindung, 1972, S. 8 ff.; Weber-Grellet, AcP 182 (1982), 316, 328 f., 334.

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händerischen Verbundenheit an. Einen frühen, aber vereinzelt gebliebenen Gegenentwurf hatte Otto v. Gierke noch vor Inkrafttreten des BGB vorgelegt: Auf der Grundlage der deutschrechtlichen Gesamthandslehre des 19. Jahrhunderts formulierte er im Anschluss an seinen Lehrer Georg Beseler87, dass die in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts verbundene Personenmehrheit „kraft der gesammten Hand als solche rechtsfähig“ sei und dass dieser Rechtsfähigkeit „hier wie überall die Parteifähigkeit im Prozess“ entspreche88. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf v. Gierke hat Werner Flume in einem vielzitierten Aufsatz aus dem Jahre 1972 der Gesamthand „als Gruppe“89 Rechtssubjektivität zuerkannt90. Als „allgemeinen Grundsatz des Rechts der Gesamthand“ postulierte er, dass die Gesellschaft „als solche“ am Rechtsverkehr teilnehme und Rechte und Verbindlichkeiten erwerben könne91. Wer namentliche Zuschreibungen in der Dogmengeschichte liebt, kann mithin v. Gierke und Flume als juristische Entdecker der modernen Gesamthandslehre ansehen92. Nur im Vorübergehen sei erwähnt, dass Flume beim Erscheinen seines Pionierbeitrags bereits im siebten Lebensjahrzehnt stand und so das gängige Klischee widerlegt hat, dass grundlegende Neukonzeptionen fast ausnahmslos von jüngeren Forschern stammen93. Flumes anspruchsvolle Gruppenlehre stieß anfangs auf wenig Gegenliebe und war weit davon entfernt, die Köpfe der Gesellschaftsrechtler zu erobern94. Es ist das Verdienst von Peter Ulmer, sie zu einem umfassenden und praktikablen Lösungsmodell ausgebaut zu haben: Seit dem Erscheinen der ersten Auflage des Münchener Kommentars zum BGB im Jahre 1980 hat er zumindest die „höherstufige“ BGB-Gesellschaft als teilrechtsfähigen Personenverband mit eigener Rechtssubjektivität angesehen95 und damit entscheidend zur Populari-

__________ 87 Vgl. Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts, 1847, S. 357 ff., 377 ff. 88 Vgl. v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Erster Band: Allgemeiner Teil und Personenrecht, 1895, S. 682. 89 Flume, ZHR 136 (1972), 177, 188; übernommen in Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/1, Die Personengesellschaft, 1970, § 4 II, S. 54 ff., § 5, S. 68 ff., § 16 IV, S. 314 ff. 90 Vgl. Flume, ZHR 136 (1972), 177, 189: „Die Gruppe ist als solches Rechtssubjekt. Mit diesem Terminus sollte jedoch nicht die Assoziation der Personenhaftigkeit verbunden werden. Die Gruppe ist auch als Rechtssubjekt nichts anderes als die Mitglieder der Gruppe in ihrer Verbundenheit.“ 91 Vgl. Flume, ZHR 136 (1972), 177, 194. 92 Im Ergebnis wie hier K. Schmidt, NJW 2001, 993, 994, der von den beiden „Reformatoren“ spricht und 1972 als das „Jahr der Reformation“ bezeichnet; missverständlich Dauner-Lieb, Unternehmen in Sondervermögen, 1998, S. 545, die Flume als „Begründer der modernen Gesamthandslehre“ bezeichnet. Flume selbst hat dies niemals für sich in Anspruch genommen. 93 Dazu etwa Lehman (Fn. 61), S. 330; ferner Kuhn (Fn. 25), S. 103: „Fast immer waren die Männer, denen diese fundamentale Erfindung eines Paradigmas gelang, entweder sehr jung oder auf dem Gebiet, dessen Paradigma sie änderten, sehr neu.“ 94 Ablehnend etwa der damalige Vorsitzende des II. Zivilsenats des BGH Robert Fischer, ZGR 1979, 251, 257 ff. 95 Vgl. MünchKommBGB/Ulmer, 1. Aufl. 1980, § 705 BGB Rz. 109 ff.; 2. Aufl. 1986, § 705 BGB Rz. 128 ff.; 3. Aufl. 1997, § 705 BGB Rz. 128 ff.; 4. Aufl. 2004, § 705 BGB Rz. 303 ff.; außerdem Ulmer, AcP 198 (1998), 113, 149 ff.

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sierung der Gruppenlehre beigetragen96. Weitere einflussreiche Stimmen, unter ihnen Walther Hadding97, Karsten Schmidt98 und Herbert Wiedemann99, haben den allmählichen Meinungsumschwung in der Gesellschaftsrechtswissenschaft befördert. Der Siegeszug der modernen Gesamthandslehre ist damit zugleich ein schönes Beispiel für die Flecksche These, dass wissenschaftliche Entdeckungen häufig ein soziales Phänomen darstellen und die Autorenschaft an ihnen nicht dem Einzelnen, sondern einem Denkkollektiv gebührt100. b) Konstitutive Merkmale einer Entdeckung Die moderne Gesamthandslehre erfüllt alle Voraussetzungen einer juristischen Entdeckung. Im Hinblick auf das vorfindliche Normenmaterial101 kann sie auf neuere Vorschriften außerhalb des BGB verweisen, namentlich § 11 Abs. 2 Nr. 1 InsO (Insolvenzfähigkeit der BGB-Gesellschaft) und § 191 Abs. 2 Nr. 1 UmwG (identitätswahrender Formwechsel in die BGB-Gesellschaft). Der Bundesgerichtshof sieht sich in seiner Leitentscheidung aus dem Jahre 2001 weder durch die Sichtweise des historischen Gesetzgebers im 19. Jahrhundert noch durch die Entstehungsgeschichte des BGB an seiner (Re-)Interpretation gehindert102. Seine Lesart der Gesetzesmaterialien und des Gesetzestextes wirkt allerdings etwas gewaltsam103. Man fühlt sich in diesem Punkt an den gegenüber Ihering erhobenen Vorwurf erinnert, er interpretiere die Quellen in seinem Pionierbeitrag zur culpa in contrahendo nicht nach ihrem objektiven Gehalt, sondern nach dem Wunsch, das aus ihnen herauszulesen, was er aus ihnen gerne gewinnen möchte104. In beiden Fällen war wohl der schon erwähn-

__________ 96 Im Kern ebenso, aber eine Spur zu emphatisch Hasselmann, Die Lehre Ulmers zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts im Wandel der Jahrzehnte, 2007, S. 32: „Es erscheint der Verfasserin insoweit auch nicht zu hoch gegriffen, davon zu sprechen, dass mit Erscheinen des Münchener Kommentars für das Recht der GbR eine neue Ära begonnen hat.“ 97 Vgl. Hadding in Soergel, BGB, 11. Aufl. 1985, vor § 705 BGB Rz. 21. 98 Vgl. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 1986, § 8 III 4 d, S. 157 ff. 99 Vgl. Wiedemann in FS Kellermann, 1991, S. 529, 540 ff.; WM 1994, Sonderbeilage 4, S. 3, 7 ff. 100 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935, S. 110 f. 101 Zu seiner Bedeutung auch K. Schmidt (Fn. 18), § 8 III 1 a, S. 197: „Eine Theorie der Gesamthand kann immer nur so lange überzeugen, wie sie als Ausdruck und als Schlüssel zum Verständnis des geltenden Rechts dienen kann.“ 102 Vgl. BGHZ 146, 341, 343, 347. 103 Ähnlich K. Schmidt, NJW 2001, 993, 996; K. Schmidt (Fn. 18), § 8 II 4 d, S. 204: „Nach all dem kann sich, wer die Gesamthand als Rechtssubjekt ansehen will, schwerlich auf den Willen des BGB-Gesetzgebers berufen.“; abw. Wertenbruch, Die Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 34 ff. unter der Kapitelüberschrift „Die Übernahme der ‚deutschrechtlichen Gestaltung‘ der OHG als ungeschriebenes Grundprinzip für die BGB-Gesellschaft durch den BGB-Gesetzgeber“. 104 In diesem Sinne Mommsen, Die Haftung der Contrahenten bei der Abschließung von Schuldverträgen, 1879, S. 33 ff.; Brock, Das negative Vertragsinteresse, 1902, S. 20 ff.

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te Gedanke mitbestimmend, die jeweilige Neuerung als organisch gewachsen darzustellen, um deren Akzeptanz im rechtlichen Diskurs zu erleichtern105. Der schöpferische Erkenntnisakt der modernen Gesamthandslehre liegt auf der Hand: Die Gesamthand wird nicht mehr als ein Phänomen der Vermögensbindung, sondern als ein solches der Rechtssubjektivität angesehen106. Durch diesen Perspektivenwechsel haben die Begründer der modernen Gesamthandslehre „den Stock am anderen Ende aufgehoben“107 und das überkommene Bild der BGB-Gesellschaft grundlegend verändert108. Man kann daher mit Fug und Recht von einem „Wechsel der visuellen Gestalt“109 sprechen, der sich mit Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts vollzogen hat. Auch im Hinblick auf die Erkenntnishöhe ist eine Aufnahme in die Reihe juristischer Entdeckungen vollauf gerechtfertigt: Die Verselbständigung der Gesamthand in Abkehr von einer festgefügten herrschenden Meinung stellte einen ebenso kühnen wie originellen Gedanken dar, der für das BGB-Gesellschaftsrecht gänzlich neue Perspektiven eröffnet hat. Bestechend war und ist aber nicht nur die Einfachheit und Eleganz des neuen Denkansatzes, sondern auch seine Fähigkeit zur Bewältigung praktischer Probleme, für die sich zuvor keine befriedigenden Lösungen fanden110, etwa beim Wechsel im Mitgliederbestand der BGB-Gesellschaft oder bei ihrem identitätswahrenden Hineinwachsen in eine OHG. Schließlich ist der modernen Gesamthandslehre auch die verdiente Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft zuteil geworden. Den Schlussstein einer langen Entwicklung zur Verselbständigung der Personengesellschaften bildete die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Rechtssache „ARGE Weißes Ross“. Ihr erster Leitsatz lautet: „Die (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts besitzt Rechtsfähigkeit, soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet.“111 c) Entdeckung und Paradigmenwechsel Wissenschaftstheoretisch stellt sich die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts zugleich als ein Paradigmenwechsel dar. Dieser von Kuhn ursprünglich für die Naturwissenschaften konzipierte

__________ 105 Vgl. Fleischer (Fn. 8), S. 50, 68; ähnlich Tushnet, 1998 Wis. L. Rev. 579, 581: „In general, however, the legal academy’s reward structure requires that novel approaches be ones that the younger scholars‘ elders can appreciate as continuing a tradition with which the elders are associated.“ 106 Sehr klar Karsten Schmidt, NJW 2001, 993, 994. 107 Butterfield (Fn. 62), S. 7: „the policy of picking up the opposite end of the stick“. 108 So auch Karsten Schmidt, NJW 2001, 993 unter Verwendung des „Bild“-Motivs. 109 Konzept und Theorie bei Hanson, Patterns of Discovery, 1958, S. 4 ff., 8 ff. 110 Dies hervorhebend auch BGHZ 146, 341, 343 f.: „eine an den praktischen Bedürfnissen der Verwirklichung des Gesamthandsprinzips orientierte Beurteilung der Rechtsnatur der Gesellschaft bürgerlichen Rechts“. 111 BGHZ 146, 341.

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Schlüsselbegriff passt auch für dogmatische Umbrüche in der Rechtswissenschaft: „[Ein Paradigma] ist vielmehr der Entscheidung eines Präzedenzfalles im Rechtswesen ähnlich, ein Objekt für weitere Artikulierung und Spezifizierung unter neuen und strengeren Voraussetzungen.“112 Der Vergleich trägt noch weiter: Wenn Kuhn ausführt, dass ein Paradigma zu seiner Durchsetzung einige erste Befürworter gewinnen müsse, die es so weit entwickeln, dass harte Argumente angehäuft werden können113, so kommt diese Rolle hier Ulmer zu, der die moderne Gesamthandslehre in allen Einzelheiten ausbuchstabiert und damit ihre Praxistauglichkeit unter Beweis gestellt hat. Parallelen finden sich auch für die Paradigmaablehnung durch konservative Kreise, die im Zusammenhang mit der Rechtssubjektivität der BGB-Gesellschaft teils mit beißender Schärfe114, teils in verbindlicherem Ton115 vorgetragen wurde. Solcher Widerstand ist unvermeidlich und legitim: „Lebenslanger Widerstand, besonders von solchen, deren produktive Laufbahn sie einer älteren Tradition normaler Wissenschaft verpflichtet hat, ist keine Verletzung wissenschaftlicher Normen, sondern ein Hinweis auf das Wesen der wissenschaftlichen Forschung selbst.“116 Er gründet in der Überzeugung, dass das ältere Paradigma letztlich alle seine Probleme lösen werde und ein Paradigmenwechsel daher entbehrlich sei. Schließlich lässt sich auch für die BGB-Gesellschaft beobachten, wie viel „Aufräumarbeit“117 nach einem vollzogenen Paradigmenwechsel noch zu verrichten ist. Ungelöste Folgeprobleme der Rechtssubjektivität der BGB-Gesellschaft stellen sich namentlich im Prozess- und Grundbuchrecht118. 2. Rechtsnatur der Vorgesellschaft im GmbH-Recht Im GmbH-Recht bot die wenig ergiebige Regelung der Rechtsverhältnisse der werdenden juristischen Person Raum für juristische Entdeckungen119. a) Entdeckungsprozess und Entdecker Als gesicherter Ausgangspunkt galt schon früh, dass im Gründungsstadium der GmbH ein handlungsfähiges Sozialgebilde existiert120, welches – etwa zur Entgegennahme von Sacheinlagen – am Rechtsverkehr teilnehmen kann und

__________ 112 Vgl. Kuhn (Fn. 25), S. 37. 113 Vgl. Kuhn (Fn. 25), S. 163. 114 Vgl. Zöllner in FS Kraft, 1998, S. 701; zuvor schon Zöllner in FS Gernhuber, 1993, S. 563. 115 Vgl. G. Hueck in FS Zöllner, 1998, S. 275; ferner Berndt/Boin, NJW 1998, 2854; Cordes, JZ 1998, 545. 116 Kuhn (Fn. 25), S. 162. 117 Kuhn (Fn. 25), S. 38. 118 Eingehend jüngst K. Schmidt, NJW 2008, 1841; sowie der Vorlagebeschluss des KG, ZIP 2008, 1178 zur grundbuchmäßigen Behandlung der GbR. 119 Gleicher Sprachgebrauch bei Rittner, Die werdende juristische Person, 1973, S. 142. 120 Kritisch zur „alten Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts“ noch vor Inkrafttreten des GmbH-Rechts v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 120.

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muss. Zum rechtlichen Status dieser Gründerorganisation schweigt sich das GmbH-Gesetz allerdings aus121 und hat damit eine Flut von Gerichtsentscheidungen und Zeitschriftenbeiträgen hervorgerufen, die das „Rätsel Vorgesellschaft“122 zu lösen versuchten. Das Reichsgericht hatte in einem Urteil aus dem Jahre 1904 ausgesprochen, dass vor der Eintragung in das Handelsregister zwar noch keine GmbH, wohl aber eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts bestehe123. Hieran hielt es in einer langen Entscheidungskette fest124, ohne jemals zu einer wirklichen Begründung auszuholen. Widerstand gegen die reichsgerichtliche Einordnung regte sich zuerst, wenn auch nur vereinzelt, in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wegbereiter eines neuen Denkmodells war Otto Schreiber, der die Rechtsnatur der Vorgesellschaft in einer Monographie zur KGaA wie folgt umschrieb: „Der Verband ist vor der Eintragung identisch mit dem Verband nach der Eintragung. Er ist nur in der Stufenleiter zur juristischen Person um einiges höher gerückt worden.“125 Daraus folgerte Schreiber, dass bereits für die Vorgesellschaft das Recht der Zielgesellschaft gelten solle, „lediglich abzüglich derjenigen Eigenschaften, die erst durch die Eintragung erworben werden“126. Hans Erich Feine griff diesen Gedanken wenig später auf und reicherte ihn mit Elementen der v. Gierkeschen Genossenschaftstheorie an127, indem er den korporativen Entstehungsprozess als einen zielgerichteten Vorgang deutete, der nach dem Gründerwillen schon von körperschaftlichen Normen beherrscht werde128. Formelhaft hielt er fest, dass auf die noch nicht eingetragene GmbH „alle Rechtssätze über die GmbH Anwendung finden mit Ausnahme derjenigen, die durch die Eintragung bedingt sind, und derer, die durch andere Vorschriften speziell ersetzt sind.“129 Diese Formel bildet spätestens seit ihrer Übernahme durch den Bundesgerichtshof130 gesellschaftsrechtliches Allgemeingut, so dass man Schreiber und Feine als juristische Entdecker eines Sonderrechts der Vorgesellschaft bezeichnen kann131. Nur der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass der „Institutionalisierungsprozess“132 der Vorgesellschaft

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121 Robert Fischer, LM Nr. 2 zu § 13 GenG, spricht mit Recht von einem „gesetzlich fast überhaupt nicht geregelten Rechtsgebiet“. 122 So der Titel eines grundlegenden Beitrags von Wiedemann, JurA 1970, 439. 123 Vgl. RGZ 58, 54, 56. 124 Vgl. RGZ 82, 288, 290; 83, 370, 373; 87, 246, 249; 105, 228, 229; 134, 121, 122; 143, 368, 372; 151, 86, 91. 125 Schreiber, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1925, S. 36. 126 Schreiber (Fn. 125), S. 36. 127 Zum „Werdeprocess“ im Spiegel der Genossenschaftstheorie v. Gierke (Fn. 120), S. 23 ff., 120 ff. 128 Vgl. Feine, Die GmbH in Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Dritter Band, III. Abteilung, 1929, S. 200. 129 Feine (Fn. 128), S. 201. 130 Vgl. BGHZ 21, 242, 246; vorbereitet durch BGHZ 20, 281 (Genossenschaft). 131 Der Sache nach auch Rittner (Fn. 119), S. 134: „Das Verdienst, Wege gewiesen zu haben, auf denen jene unfruchtbare Fragestellung überwunden werden kann, gebührt Otto Schreiber und H.E. Feine.“; ferner Flume in FS Geßler, 1971, S. 3, 16 und G. Hueck in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 127, 145 f. 132 Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 11 GmbHG Rz. 5.

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mit ihrer Einordnung als societas sui generis nicht abgeschlossen war, sondern erst begann133. Einzelheiten sind anderwärts aufbereitet134. b) Konstitutive Merkmale einer Entdeckung Die Einordnung der Vorgesellschaft als ein Rechtsgebilde eigener Art genügt den hier aufgestellten Anforderungen an eine juristische Entdeckung. Den normativen Anknüpfungspunkt bildet § 11 Abs. 1 GmbHG, wonach die GmbH vor der Eintragung in das Handelsregister „als solche“ nicht besteht. Damit hat der Gesetzgeber die Eintragung als „Sperrvorrichtung“135 ausgestaltet, aber keineswegs bestimmt, dass zwischen Abschluss des Gesellschaftsvertrages und Handelsregistereintragung eine Gesellschaft überhaupt nicht besteht136. Vielmehr hat er durch seine – freilich unvollkommene – Regelung in § 11 Abs. 1 GmbHG die Existenz eines handlungsfähigen Sozialgebildes als Durchgangsstadium zur juristischen Person stillschweigend anerkannt137. Der schöpferische Erkenntnisakt der Sonderrechtslehre liegt zum einen in ihrer dynamischen Betrachtung der im Werden begriffenen GmbH: Sie nimmt keine künstliche Zergliederung des Gründungsprozesses vor, sondern versteht ihn als einheitlichen und zielgerichteten Vorgang. Zum anderen zwängt sie die Vorgesellschaft nicht in das Prokrustesbett der bestehenden Verbandsformen ein, sondern behandelt diese gemäß der Interessenlage der Gesellschaftsgründer als Rechtsgebilde eigener Art. In beidem liegt ein veritabler „Gestaltwandel“138 gegenüber der früheren Rechtsprechung. Die Erkenntnishöhe der Sonderrechtstheorie ergibt sich nicht nur aus ihrer Abkehr von eingefahrenen Wegen der Spruchpraxis, sondern vor allem aus ihrem vertieften Verständnis für die Besonderheiten der werdenden juristischen Person und ihrer konkreten Fragestellungen. Außerdem hat sie sich zur Erzielung sachgerechter Ergebnisse von den Schablonen der zu eng gefassten gesetzlichen Typenlehre befreit und mit der Anerkennung einer societas sui generis für ein dogmatisches Überraschungsmoment gesorgt. Schließlich ist die von Schreiber und Feine geprägte Formel auch von der Rechtsgemeinschaft anerkannt und rezipiert worden. Im Leitsatz eines Grundsatzurteils aus dem Jahre 1956 hat der Bundesgerichtshof festgehalten: „Die im Werden begriffene Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist keine bürger-

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133 Ähnlich Rittner (Fn. 119), S. 135: „Mit der Formel Schreiber-Feine war allerdings nur ein neuer Weg eingeschlagen. Eine Lösung enthielt sie selbst nicht, sondern nur eine bessere Fragestellung, von der beharrliche dogmatische Arbeit ausgehen konnte, um das Recht der werdenden juristischen Person seiner Eigenart entsprechend fortzubilden.“; außerdem Flume (Fn. 131), S. 3, 16. 134 Eingehend etwa K. Schmidt (Fn. 18), § 11 IV 2, S. 298 ff. und § 34 III 3, S. 1016 ff. 135 Schreiber (Fn. 125), S. 58. 136 Zutreffend RGZ 58, 55. 137 Ähnlich Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 11 GmbHG Rz. 1 („rechtlich relevantes Vorstadium“); Ulmer in Ulmer, GmbHG, 2005, § 11 GmbHG Rz. 11. 138 Begriff: Kuhn (Fn. 25), S. 98.

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lichrechtliche Gesellschaft, sondern eine Organisation, die einem Sonderrecht untersteht, das aus den im Gesetz oder im Gesellschaftsvertrag gegebenen Gründungsvoraussetzungen und dem Recht der rechtsfähigen Gesellschaft, soweit es nicht die Eintragung voraussetzt, besteht.“139 Dies entspricht bis heute dem gesicherten Erkenntnisstand in Rechtsprechung140 und Rechtslehre141. c) Entdeckung und Rechtsfortbildung Methodisch stellt sich der juristische Entdeckungsprozess des Rechts der Vorgesellschaft als ein Akt der Rechtsfortbildung dar142. Dessen Legitimität ist über jeden Zweifel erhaben, da sich der historische Gesetzgeber mit der dunklen Formel des § 11 Abs. 1 GmbHG begnügte und alle weiteren Fragen „Wissenschaft und Rechtsprechung zur Klärung“143 überließ. Es liegt mit anderen Worten eine offene Lücke vor144, weil das GmbH-Gesetz eine positive Antwort auf die Rechtsnatur der Vor-Gesellschaft schuldig bleibt. Nach den Kunstregeln der juristischen Methodenlehre sind solche Lücken praeter verba legis zu schließen. Man könnte daher zweifeln, ob in solchen Fällen der Lückenschließung mangels gesetzgeberischer Vorgaben überhaupt eine Entdeckung vorliegt. Mir scheint ein solcher Sprachgebrauch gleichwohl gerechtfertigt, weil Fragen der dogmatischen Konstruktion nicht Sache des Gesetzgebers sind („lex moneat non doceat“) und die gefundene Lösung aus dem tiefen Brunnen der Gesellschaftsrechtsdogmatik geschöpft wird. Dass sie ein produktives Element enthält, gehört zu den Kennzeichen jeder juristischen Entdeckung145. Im übrigen verstößt die Einordnung der Vorgesellschaft als Rechtsgebilde eigener Art auch nicht gegen den numerus clausus der Gesellschaftsformen: Das Numerus-clausus-Prinzip richtet sich nur an die Parteien, nicht an den Rechtsanwender und hat damit auch kein Verbot der Rechtsfortbildung zur Folge146. 3. Mitgliedschaftliche Treuepflicht unter Aktionären Im Aktienrecht gehört die Anerkennung der mitgliedschaftlichen Treuepflicht unter den Aktionären zu den bedeutendsten Entdeckungen des späten 20. Jahrhunderts147.

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139 BGHZ 21, 242 f. 140 Vgl. BGHZ 45, 338, 347; 51, 30, 32; 72, 45, 48 f.;134, 333, 336. 141 Vgl. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 137), § 11 GmbHG Rz. 6; K. Schmidt in Scholz (Fn. 132), § 11 GmbHG Rz. 24; Ulmer in Ulmer (Fn. 137), § 11 GmbHG Rz. 11. 142 Ebenso Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 132), § 11 GmbHG Rz. 5. 143 Begr. RegE GmbHG, 1892, S. 96. 144 Näher zur „offenen“ Gesetzeslücke, die früher als „echte“ Lücke bezeichnet wurde, Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 167 ff. 145 Vgl. oben III. 2. 146 Zum gleichen Problem beim numerus clausus der Sachenrechte Fleischer in FS Schäfer, 2008, S. 125, 138. 147 Dazu Fleischer in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 53a AktG Rz. 49 f. mit umfassenden Nachweisen; abweichend die Einordnung von Lutter, GmbHR 1992, 419, 420, der von der „Erfindung der Treuepflicht der GmbH-Gesellschafter“ spricht.

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a) Entdeckungsprozess und Entdecker Hergebrachter Rechtsüberzeugung zufolge bestanden zwischen Aktionären keinerlei mitgliedschaftliche Treuebindungen zur Bändigung ungehemmter Mehrheitsmacht. In dem notorischen Hibernia-Urteil aus dem Jahre 1908 hieß es dazu: „Dies ist eine unabwendbare Folge des im Gesetze zur Anerkennung gelangten Grundsatzes, dass die Mehrheit des Aktienbesitzes über die Verwaltung der Gesellschaft und darüber entscheidet, was im Interesse der Gesellschaft zu tun und zu lassen ist. Mit dieser Tatsache muss sich jeder abgefunden haben, der Aktien erwirbt.“148 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten diese Gedanken weiter fort. Alfred Hueck lehnte es 1947 in seiner berühmten Studie zum Treuegedanken im modernen Privatrecht ab, Treuebindungen der Aktionäre untereinander anzuerkennen, da zwischen ihnen keine unmittelbaren Beziehungen zu bestehen brauchten, ja sie sich oft gegenseitig gar nicht kannten149. Einschränkend fügte er allerdings hinzu, dass ein Aktionär durch sein Stimmverhalten nicht bewusst gesellschaftsfremde Sondervorteile zum Schaden der Gesellschaft und ihrer Aktionäre verfolgen dürfe150. Diese Traditionslinie setzte der Bundesgerichtshof noch in seinem Audi/NSU-Urteil aus dem Jahre 1976 fort: „Die Verletzung einer gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht scheidet als Anspruchsgrundlage ebenfalls aus, weil eine solche Treuepflicht i. S. einer über die allgemeinen Rechtsgrundsätze der §§ 226, 242, 826 BGB hinausgehenden Bindung zwischen Aktionären im allgemeinen nicht besteht.“151 Sieht man einmal von frühen Gegenstimmen ab152, so war es im Wesentlichen das Verdienst von Wolfgang Zöllner, den Boden für einen wissenschaftlichen Sinneswandel bereitet zu haben. Auch wenn er die in Rede stehende Frage nach einer mitgliedschaftlichen Treuepflicht im Aktienrecht ausdrücklich offen ließ153, so legte er mit seiner wirkungsmächtigen Habilitationsschrift aus dem Jahre 1963 doch das geistige Fundament für ein treuepflichtgesteuertes Aktienrecht154. Spezielle Vorarbeiten für die mitgliedschaftliche Treuepflicht des Großaktionärs stammten dann aus der Feder von Herbert Wiedemann155

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148 RGZ 68, 235, 246. 149 Vgl. A. Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht, 1947, S. 14. 150 Vgl. A. Hueck (Fn. 149), S. 15 mit dem Zusatz: „Das verlangen im Grunde schon die guten Sitten, jedenfalls aber Treu und Glauben, dazu bedarf es nicht der Annahme einer besonderen Treuepflicht.“ 151 BGH, WM 1976, 449, 450. 152 Vgl. die Aufbereitung des Meinungsstandes bei Fechner, Die Treubindungen des Aktionärs, 1942, S. 39 ff., 83 ff. 153 Vgl. Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 336 f.: „Lediglich bei der Aktiengesellschaft geht die wohl überwiegende Meinung dahin, dass von einer Treupflicht der Gesellschafter nicht gesprochen werden kann. Mehr und mehr scheint jedoch die Auffassung durchzudringen, dass es sich dabei vorwiegend um eine terminologische Auseinandersetzung handelt. Die Frage soll im Folgenden dahingestellt bleiben.“ 154 Vgl. Zöllner (Fn. 153), S. 335 ff., 349 ff. 155 Vgl. Wiedemann in FS Barz, 1974, S. 561, 568 ff.; Wiedemann, JZ 1976, 392, 393 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, § 8 II 3 a, S. 432 ff.

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und Marcus Lutter156, denen Karsten Schmidt später beipflichtete157. Sie veranschaulichen zugleich, wie man die Durchsetzung einer neuen Rechtsidee durch suggestive Bilder unterstützen kann: Die Existenz der mitgliedschaftlichen Treuepflicht in der Kapitalgesellschaft, so argumentierten sie, zeige sich besonders deutlich bei der Umwandlung einer Personengesellschaft in eine GmbH oder AG, könne doch der Mehrheitsgesellschafter seine vielfach betonte Pflichtenstellung beim Eintritt in die Kapitalgesellschaft nicht einfach „in der Garderobe abgeben“158. Insgesamt belegt die Genese der mitgliedschaftlichen Treuepflicht abermals, dass wissenschaftliche Entdeckungen in der Jurisprudenz häufig mehrere Väter haben und dass ihre Anerkennung auch vom Ruf der Entdecker und ihrer Lehrer abhängen kann159. Fragt man allein danach, wer das normative Prinzip zuerst entdeckt hat, welches der mitgliedschaftlichen Treuepflicht zugrunde liegt, so gebührt der Entdeckerruhm Wolfgang Zöllner: Er hat mit Überzeugungskraft und Demonstrationsschärfe hervorgehoben, dass dem Maß des Einflusses eines Gesellschafters das Maß seiner Verantwortung mit der sich daraus ergebenden Rücksichtnahmepflicht auf die gesellschaftsbezogenen Belange der Mitgesellschafter entspricht160. Als Koda sei hinzugefügt, dass die Rollen als Bewahrer und Neuerer in der Jurisprudenz nicht personen-, sondern themenbezogen verteilt werden: War es bei der BGBGesellschaft Zöllner, der sich bis zuletzt mit Vehemenz gegen die moderne, maßgeblich von Flume beeinflusste Gesamthandslehre stemmte161, so zeigt sich bei der mitgliedschaftlichen Treuepflicht der Aktionäre, gegen die Flume mit nicht minder deftigen Worten zu Felde zog162, eine spiegelverkehrte Frontenstellung. b) Konstitutive Merkmale einer Entdeckung Die Anerkennung einer mitgliedschaftlichen Treuepflicht der Aktionäre untereinander erfüllt alle Voraussetzungen einer juristischen Entdeckung. Im Hinblick auf das vorfindliche Normenmaterial kann man auf die gesetzlichen Einzelausprägungen des Treuepflichtgedankens in den §§ 243 Abs. 2 Satz 1, 117, 53a, 255 Abs. 2 AktG verweisen163. Darüber hinaus haben Literaturstim-

__________ 156 Vgl. Lutter, JZ 1976, 225; Lutter, ZHR 153 (1989), 446. 157 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 1986, § 20 IV 2 c und d, S. 437 ff. 158 Wiedemann, Gesellschaftsrecht (Fn. 155), S. 561, 569; zustimmend zitiert bei Lutter, JZ 1976, 225, 230 mit Fn. 65; und K. Schmidt (Fn. 18), § 20 IV 2 d, S. 592; der Sache nach auch BGHZ 103, 184, 195: „Es erscheint in der Tat nicht verständlich, gesellschaftsrechtliche Treuepflichten der Aktionäre einer Aktiengesellschaft zu verneinen, nach deren Umwandlung in eine Personengesellschaft unter Beibehaltung ihrer Struktur und Organisation eine Treuepflicht der Gesellschaft jedoch zu bejahen.“ 159 Allgemein dazu Kuhn (Fn. 25), S. 163 f.: „Sogar die Nationalität oder der frühere Ruf des Neuerers oder seiner Lehrer können manchmal eine bedeutsame Rolle spielen.“ 160 Vgl. Zöllner (Fn. 153), S. 337, 341, 350. 161 Belege in Fn. 115. 162 Vgl. Flume, ZIP 1996, 161. 163 Vgl. Fleischer (Fn. 147), § 53a AktG Rz. 42.

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men den Kritikern der Treuepflicht164 entgegengehalten, dass eine ähnlich fragmentarische Ableitungsbasis Rechtsprechung und Lehre nicht abgehalten habe, die culpa in contrahendo als Rechtsinstitut auszuformen und breit zu entfalten165. Der schöpferische Erkenntnisakt liegt in der Überwindung des starren Denkens in Rechtsformen. Er vollzog sich in zwei Gedankenschritten: Zunächst setzte sich die Einsicht durch, dass die Existenz einer Treuepflicht gegenüber den Mitgesellschaftern nicht von der Rechtsform des Verbandes, sondern von seiner Realstruktur abhängt166. Dann erkannte man, dass im Aktienrecht weniger die Existenz einer Treuepflicht, sondern vielmehr die sachgerechte Eingrenzung ihres Umfangs die zentrale Fragestellung bildet167. Die Erkenntnishöhe zeigt sich zum einen in der Überwindung der hartnäckigen Fehlvorstellung, dass eine mitgliedschaftliche Treuepflicht unter den Aktionären am Wesen der Körperschaft scheitere, weil die sternförmige Zuordnung aller Rechtsbeziehungen auf die AG jede Verbindung zwischen den Aktionären zerschneide168. Derartige Behauptungen erscheinen uns heute als Rechtsmystik169. Zum anderen hat sich die Aktienrechtsdogmatik mit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht ein ebenso geschmeidiges wie wirkungsvolles Instrument des Minderheitenschutzes erschlossen170. Ihren höchstrichterlichen Ritterschlag und damit die endgültige Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft erhielt die Treuepflicht unter den Aktionären durch das Linotype-Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1988171. Später hat der II. Zivilsenat seine Rechtsprechung unter maßgeblicher Mitwirkung von Hartwig Henze172 dahin ergänzt, dass auch dem Minderheitsaktionär eine Treuepflicht gegenüber dem Mehrheitsaktionär und gegenüber anderen Minderheits- oder Kleinaktionären obliegt173. c) Entdeckung und Wertewandel Die juristische Entdeckung der Treuepflicht unter den Aktionären in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beruhte maßgeblich auf einem Wertewandel in Rechtsprechung und Rechtslehre. Sie setzte eine Tendenz zur

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164 Vgl. etwa Martens in K. Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990, S. 251. 165 In diesem Sinne Lutter, ZHR 153 (1989), 446, 454 im Anschluss an M. Winter, Mitgliedschaftliche Treubindungen im GmbH-Recht, 1988, S. 69 ff. 166 Vgl. etwa Lutter, JZ 1976, 225, 230 ff. 167 Für ein klare Trennung beider Fragen K. Schmidt (Fn. 18), § 20 IV 2 d, S. 592 f. 168 Dazu die Wiedergabe des Meinungsbildes bei Fechner (Fn. 152), S. 39 ff.; und später bei Ballerstedt, Kapital, Gewinn und Ausschüttung bei Kapitalgesellschaften, 1949, S. 181 ff. 169 Treffend Wiedemann, JZ 1976, 392, 393. 170 Vgl. Fleischer (Fn. 147), § 53a AktG Rz. 42. 171 Vgl. BGHZ 103, 184, 194 f. 172 Vgl. Henze in FS Kellermann, 1991, S. 141; Henze, ZHR 162 (1998), 186; sowie Henze/Notz in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2004, Anh. § 53a AktG Rz. 21 ff. 173 Vgl. BGHZ 129, 136, 142 ff.

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„Materialisierung“ des Aktienrechts fort, die mit der Kali-und-Salz-Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Bezugsrechtsausschluss aus dem Jahre 1978174 begonnen hatte und zur Einkreuzung „rechtsethischer Maßstäbe in das Unternehmens- und Gesellschaftsrecht“175 führte. Zusätzlichen Rückhalt erhielt sie durch rechtsvergleichende Untersuchungen zu den Treuepflichten des controlling shareholders in den Vereinigten Staaten176. Zu kurz gegriffen wäre es allerdings, die Etablierung der mitgliedschaftlichen Treuepflicht als eine bloße Zeitgeistströmung abzutun. Die neuere rechtsökonomische Forschung zeigt vielmehr, dass ihr eine zentrale Rolle bei der Ausformung unvollständiger Verträge zukommt: Danach stellt die Treuepflicht ein richtunggebendes Prinzip dar, aus dem sich Entscheidungsregeln zur Bewältigung noch unbekannter Konfliktlagen ableiten lassen177. Im Übrigen hat das deutsche Aktienrecht mit der Anerkennung einer mitgliedschaftlichen Treuepflicht des Minderheitsaktionärs seinen US-amerikanischen Lehrmeister inzwischen überholt: Dort hat die Diskussion über die fiduciary duties der non controlling shareholders gerade erst begonnen178.

__________ 174 Vgl. BGHZ 71, 40. 175 So der Titel der Rektoratsrede von Wiedemann, ZGR 1980, 147. 176 Dazu die frühen Hinweise bei Lutter, JZ 1976, 225, 227; Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S. 196 f.; Wiedemann, Minderheitenschutz und Aktienhandel, 1968, S. 54 ff. 177 Näher Fleischer, ZGR 2001, 1, 4 f. m. w. N. 178 Dazu Anabtawi/Stout, Fiduciary Duties for Activist Shareholders, 60 Stanford L. Rev. 1255 (2008).

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Schuldrechtliches Beteiligungskapital Inhaltsübersicht I. Zum Stand des Rechts der Beteiligung ohne Mitgliedschaft 1. Der anima contrahendae societatis der stillen Teilhabe als „historische Fiktion“ 2. Steuerrecht als unerwünschte Dogmenquelle 3. Wie das alttestamentarische Zinsverbot die Genussrechtsdebatte belebt 4. Die Loslösung des Genussrechts von den Schuldverschreibungen II. Die Rechtsfigur des »schuldrechtlichen Beteiligungskapitals« 1. Die zwei Grundinhalte: gewinnorientierte und haftende Beteiligung 2. Die zwei Grundebenen: konkrete und abstrakte Beteiligung

a) Paradigma: aktienrechtliche Kompetenz, Beteiligungskapital aufzunehmen b) Weitere Beispiele 2. Institutionenbildung und Gläubigerverhältnis a) Paradigma: bankaufsichtsrechtliche Eigenkapitalsurrogate b) Weitere Beispiele 3. Institutionenbildung und Beteiligtenverhältnis a) Paradigma: Grundstrukturen des Anlegerschutzes aa) Der Mindeststandard: redlicher Vertragsvollzug bb) Wegfall der Investitionsgrundlage b) Weitere Beispiele

III. Institutionenbildung und Interessenkreise 1. Institutionenbildung und Residualverhältnis

Juristische Forschung sucht nach Ordnungsgedanken, die in Richtersprüchen und Einzelgesetzen noch als Provisorien wirken, und lagert diese in einem konsolidierenden Prozess in systembildende Institutionen ein. Diese Konstruktionsarbeit an den Rechtseinrichtungen und -figuren sowie die Herausschälung allgemeiner Lehren sind Grundanliegen der Arbeiten des Jubilars. Das Konzept hat er einmal mit den bildhaften Worten Jherings beschrieben1: Die Gedanken müssen sich jeden Fußbreit Landes mühsam erkämpfen, treten zunächst schüchtern auf, bis sie sich auf kleinem Gebiet behauptet haben und weiter vorzudringen vermögen. „Ihr Anspruch auf Allgemeinheit und damit

__________ 1 Karsten Schmidt in Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990, S. 20 und zu Einzelfragen in seinen Monographien, etwa „Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden“, 1984, oder Beiträgen, etwa ders., ZIP 1985, 713 (Insolvenzrecht), ders. in FS Stimpel, 1985, S. 217 (Beschlussanfechtung). Eine bereits im Manuskript seines Habilitationsvortrags enthaltene Urfassung seines Methodenkonzepts wurde nie veröffentlicht.

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die Inconsequenz, deren man sich durch ihre Beschränkung auf ein einzelnes Verhältniß schuldig macht, kann sich auf die Dauer der Wahrnehmung nicht entziehen, denn die Consequenz ist eine Macht, die langsam, aber sicher, die unbewußt, aber nicht minder wirksam im Geist fortarbeitet, die längst empfunden und gefühlt wird, bevor sie erkannt ist. Darum kommt auch für jene Gedanken unausbleiblich die Zeit, wo man fragt: warum gelten sie bloß hier, warum nicht auch in dem und jenem völlig gleichartigen Verhältniß2?“ Wo die Konstruktionsarbeit einen gefestigten Abschluss erreicht, lässt nichts mehr das Verdienst und den vorangegangenen Aufwand erkennen: So mutet der Abglanz der gaii institutiones im Allgemeinen Teil des BGB mehr als Erinnerungsstück an3 und so hat selbst die Figur der Vor-GmbH oder das Subjekt-Sein der Gesellschaft bürgerlichen Rechts bereits etwas Formelhaftes. Karsten Schmidt wird sich neuen Aufgaben zuwenden, nach seinem Bekunden etwa den Institutionen fehlerhafter Verbandsbeschlüsse und den „virtuellen Rechtsträgern“4. Der Beitrag wendet sich einem anderen, dem Jubilar nicht weniger vertrauten Gegenstand zu: dem schuldrechtlichen Beteiligungskapital5.

I. Zum Stand des Rechts der Beteiligung ohne Mitgliedschaft Beim verbandsrechtlichen Beteiligungskapital haben sich rechtsformübergreifende Institutionen „mit der Macht der Consequenz“ ihren Weg gebahnt; bei schuldrechtlichem Beteiligungskapital gibt es übergreifende Lehren zu Vertrag, Anleger- oder Gläubigerschutz so wenig wie zu Bilanz, Steuern oder Insolvenz. Man weiß, wie sehr sich gerade die Grundformen schuldrechtlichen Beteiligungskapitals, also Partizipationskredit, Genussrecht und stille Gesellschaft phänomenologisch gleichen, sich aber rechtlich durch willkürlich anmutende Indizien schlecht6 oder – wo solche fehlen – gar nicht abgrenzen lassen7. Diesem Gleichlauf im Tatbestand fehlt die Entsprechung auf Rechtsfolgenseite:

__________ 2 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, 4. Aufl. 1883, S. 338 f. 3 Man lese nur, wie viel Aufwand es selbst einem Ludwig Raiser abverlangt, um die selbständige Bedeutung der Rechtsinstitute und damit den Wert institutionellen Denkens im Bürgerlichen Recht anhand des Unterschieds von Individualrechtsschutz und Institutsschutz zu erklären, in summum ius – summa iuria, 1963, S. 145, insbes. 152 ff. 4 Zum „virtuellen Rechtsträger“ vgl. Karsten Schmidt in FS Lutter, 2000, S. 1167, 1175 in Fn. 34. Hervorzuheben ist das Modell der „virtuellen Kommanditgesellschaft“ bzw. der „Innen-KG“, siehe Karsten Schmidt in FS Bezzenberger, 2000, S. 401; ders. in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2007, § 230 HGB Rz. 81. Dazu noch unter I.2. 5 Neben Treuhand und Verbandsbeteiligung sind weiter die schuldrechtliche Anteilsteilhabe (Paradigma: Unterbeteiligung) und dingliche Formen mittelbarer Unternehmens- oder Anteilsteilhabe (Paradigma: Nießbrauch) zu unterscheiden. Karsten Schmidt kommentiert die Formen mittelbarer Unternehmensteilhabe seit 1986 im Zusammenhang, in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl., vor §§ 335 ff. HGB a. F. 6 Verlust- oder Substanzteilhabe soll es nur bei stillen Gesellschaft und Genussrechten geben; kein einziges Kriterium weist demgegenüber einen Beteiligungskredit sicher nach, vgl. nur Koenigs, Die stille Gesellschaft, 1961, S. 30 f. 7 Statt aller BGH, WM 1957, 1335: „keiner logischen Abgrenzung zugänglich“.

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denn in zahllosen Rechtsfragen werden „gleichartige Verhältnisse inconsequent“ behandelt. Um nur Einiges stellvertretend anzuführen: nur der Stille soll vertragsrechtlich einer Treupflicht unterliegen oder durch Geringstabweichungen vom Normalstatut der §§ 230 ff. HGB steuerrechtlich nicht als Anleger, sondern Gewerbetreibender behandelt werden; nur er haftet insolvenzrechtlich u. a. nach § 136 InsO erweitert; aktienrechtlich gibt es Bezugsrechte nach § 221 Abs. 4 AktG nur bei Genussrechten und nur stille Gesellschaftsverträge sind nach §§ 292 Abs. 1 Nr. 2, 294 AktG ins Register einzutragen; bankaufsichtsrechtlich können nur stille Einlagen dem Kernkapital erster Güte zugehören; Genussrechte oder partiarische Kredite sind bestenfalls Ergänzungskapital, § 10 Abs. 4, 5 KWG8. Diese und unzählbare andere Dissonanzen wurden durch den ekstatischen Aufschwung von Schuldrechtsbeteiligungen, für die Berater mit dem Reklamewort „Mezzanine“ werben, in keiner Weise behoben9. Auch werden Nebenformen wie die Substanzteilhabe durch Wandel- oder Optionsanleihen nach wie vor kaum in diesen Zusammenhang gebracht10. Das Recht der Beteiligung ohne Mitgliedschaft ist durch historische Zufälle und willkürliche Annahmen zerrüttet, wie man „längst empfindet und fühlt“11. Bevor mit einer Arbeit an den Institutionen begonnen werden kann, sollte eine Mindestklarheit über vier systemzersetzende Hauptkräfte bestehen: – das Gesellschaftskleid der stillen Beteiligung, – die Rechtsfigur der „atypischen stillen Gesellschaft“, – den fehlenden Dialog zwischen den Fachleuten und – die Loslösung der Genussrechte von den Schuldverschreibungen. 1. Der anima contrahendae societatis der stillen Teilhabe als „historische Fiktion“ Nur die stille Gesellschaft hat mit den §§ 230 ff. HGB und dem (durch Gerichte ergänzten) jurisprudentiellen Recht einen ausgebildeten corpus iuris. Sie scheint so zum Leitbild der Beteiligung ohne Mitgliedschaft berufen, erinnert aber wegen ihrer gesellschaftsrechtlichen Einkleidung eher an eine abgekapsel-

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8 In den Praxisleitfäden und Sammeldarstellungen sind diese und zahllose weitere Unterschiede der Rechtsformen von mezzanine capital stets so zusammengestellt, als wären die Rechtsformenunterschiede a priori vorgegeben, so bei Bösl/Sommer, Mezzanine Finanzierung, 2006, S. 119 ff.; Häger/Elkemann-Reusch, Mezzanine Finanzierungsinstrumente, 2. Aufl. 2007, S. 71 ff. Zu Einzelheiten im Text, etwa unter III.1.a und 2.a. 9 Siehe nur die Nachweise in der Fn. zuvor. 10 Siehe noch II.1. Aus Raumgründen werden sie im Beitrag zurückgestellt. 11 Siehe Fn. 7. Weitere Nachweise bei Schön, ZGR 1993, 210, 213 f. Hierher gehören auch die zahlreichen Versuche, stille Gesellschaften und Genussrechte ganz oder für bestimmte Typen (insb. solche mit Verlustteilhabe) für identisch zu erklären, statt vieler Semler, Referat zum 55 DJT K 54; Meilicke, BB 1987, 1611 f.; Habersack in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2005, § 221 AktG Rz. 88 f. m. N.; ferner Schön, JZ 1993, 925, 929 f. (mit Abstrichen für Genusscheine). Anders BGHZ 119, 305 und die überwiegende Ansicht, dargestellt bei Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1994, § 221 AktG Rz. 232.

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te Insel. Das ganze Recht des schuldrechtlichen Beteiligungskapitals wird geradezu von der Annahme zerrissen, nur bei der stillen Teilhabe werde ein „gemeinsamer Zweck“ verfolgt, seien genuin gesellschaftsrechtliche Ordnungsnormen anzuwenden usf. Dabei hat die stille Einlage ihrer Substanz nach Kreditnatur: sie kann in der Insolvenz angemeldet werden, der Stille hat kaum Einfluss oder Kontrolle, kann kurzfristig kündigen usw. Diese Kreditnatur ist in den Materialien12 so wenig ein Geheimnis wie in der Wissenschaft bis 190013, worauf der Jubilar seit über 30 Jahren hinweist14. Dieses Auseinanderfallen von Form und Inhalt legt es nahe, den anima contrahendae societate der stillen Gesellschaft als „historische Fiktion“ zu begreifen. Bereits Savigny hat diese Technik beschrieben: „Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende anknüpfen (…). Dieses ist der Begriff der Fiction, für die Entwicklung des Römischen Rechts höchst wichtig und von den Neueren oft lächerlich verkannt15.“ Jhering spricht von einer „wissenschaftlich unvollkommenen Form“, die den Fortschritt erleichtere zu einer Zeit, „wo es der Wissenschaft noch an Kraft fehlen würde, die Aufgabe in der entsprechenden Gestalt zu meistern16.“ Dass auch das Rechtskleid der stillen Gesellschaft eine solche „unvollkommene Form“ ist, zeigt ihr Entstehungsprozess. Sie ist eine von der commenda abgelöste Kunstform des ADHGB, über deren Natur man anfangs rätselte. Viele hielten sie für einen Kredit17. Als die Pandektenschule den anima contrahendae societatis zum Wesenskern der Gesellschaft bürgerlichen Rechts erklärte, erhielt auch die stille Teilhabe ihr heutiges Gesellschaftsgewand, dies aber nur, weil man HGB und BGB technisch verknüpfen wollte18. Und bis heute kann sich kein Richter darüber getäuscht haben, auf wie wenig Substantiell-Greifbares sich die „gemeinsame Zweckverfolgung“ zurückführen lässt, was in Wendungen wie „die Parteien verfolgen ihre Zwecke wie in einer Ehe“19 oder es gebe eine „gewollte, engere genossenschaftliche Fühlungnahme“20 überdeutlich hervorkommt.

__________ 12 ADHGB-Protokolle = Lutz, Protokolle, S. 1168 (der stille „Kreditor“), S. 1094 (der stille „Kapitalist“); weiter wird das Darlehen in Abgrenzung zur stillen Gesellschaft als „reines“ Darlehen bezeichnet, vgl. S. 1167; siehe ferner S. 1091, 4651. 13 Siehe auch Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band VI 1897, Art. 250 § 2 („modifiziertes Gläubigerverhältnis“). 14 Karsten Schmidt, ZHR 140 (1976), 475, 477 ff. 15 v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 32. 16 Jhering (Fn. 2), Dritter Theil, Erste Abtheilung, 8. Aufl. 1954, S. 305. 17 Siehe etwa die Angaben in Fn. 13. 18 Deswegen finden sich in der Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuches, 1897 nur allgemein gehaltene Wendungen wie auf S. 183: „Auch das Gesellschaftsrecht des BGB macht die Vorschriften über die stille Gesellschaft nicht entbehrlich. Das BGB wird zwar zur Ergänzung dieser Vorschriften dienen, da die stille Gesellschaft trotz des Mangels einer Vermögensgemeinschaft der Teilhaber unter den allgemeinen Begriff der Gesellschaft im Sinne des § 705 BGB fällt (…)“. 19 So Rasner, Die atypische stille Gesellschaft, 1961, S. 39 unter Bezugnahme auf Crome, Die partiarischen Rechtsgeschäfte, 1897, S. 148; ähnlich auch MüllerErzbach, Handelsrecht, 2/3 Aufl., Kap. 72, S. 357. 20 Julius v. Gierke, Handelsrecht, 7. Aufl. 1955, § 38 I. 1 c, S. 238.

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Die technische Formeinkleidung birgt Gefahren, die man leicht unterschätzt. Dabei hat die Romanistik die Textpassage, mit der die Anima-Lehre ursprünglich begründet wurde, als byzantinische Entstellung erkannt21, und Wieacker hat in seiner Habilitation eindringlich vor falschem Umgang mit dem AnimaGedanken gewarnt22: Der „gemeinsame Zweck“ dürfe nicht als Wertmaßstab für die jurisprudentielle Ausbildung des Rechts überspannt werden. Umsonst: Der Topos des (stillen) Gesellschaft-Seins, der eben keinen substantiellen Gerechtigkeitsgehalt hat, soll immer wieder belegen, warum Haftungsfolgen zu fordern, ein eigenes Steuerregime sinnvoll, insolvenzrechtliche Verschärfungen notwendig seien usw23. Durch derart unkontrollierte Fortbildungsschritte wird leicht ein Gebäude errichtet, dessen Statik der eines Kartenhauses gleicht. Der Jubilar hat mit gutem Grund bereits 1975 zu einer Befreiung des Rechts der stillen Gesellschaft vom überladenen gesellschaftsrechtlichen Denken aufgerufen24. Ohne dies wird die Herausbildung allgemeiner Lehren für schuldrechtliche Beteiligungsformen nicht gelingen. 2. Steuerrecht als unerwünschte Dogmenquelle Nicht weniger systemstörend war der Einfluss der Steuerrechtsdogmatik. Nach ihr beziehen nur stille Gesellschafter als Mitunternehmer gewerbliche Einkünfte, wenn sie „atypisch“, nicht nur an laufenden Gewinnen, sondern auch am Vermögen beteiligt sind und geringfügig gesteigerten Einfluss ausüben. Alle anderen mittelbaren Teilhaber mit identischen Rechten sollen stets Anleger mit Kapitaleinkünften bleiben. Dass sich dieser „atypische“ Tatbestand, der die für Unternehmen und Stillen empfindlichen Steuerfolgen auslöst, kaum bestimmen lässt, begleitet die Rechtsform der stillen Gesellschaft

__________ 21 Fritz Schulz in Classical Roman Law, 1951, Rz. 994. 22 Wieacker, Societas, Hausgemeinschaft und Erwerbsgesellschaft, 1936, S. 273 ff.; dazu bereits Schön, ZGR 1993, 210, 243. 23 Das ganze Rechtsgebiet ist völlig überanstrengt durch diesen Topos. Für hunderte Beispiele steht die heute fast unbestrittene Annahme, eine steuerrechtliche Mitunternehmerschaft gebe es nur bei „gemeinsamer Zweckverfolgung“, ständige Rechtsprechung seit BFH, BStBl. II 1984, 751, 766; aus dem Schrifttum statt vieler Priester in FS Ludwig Schmidt, 1993, S. 331, 334 ff.; kritisch etwa Peter Fischer, FR 1998, 813, 821. Ein weiteres Beispiel ist die symptomatische Scheinbegründung, die Insolvenzanfechtung des § 136 InsO werde durch eine „besondere gesellschaftsrechtliche Nähe“ gerechtfertigt, so etwa Koenigs (Fn. 6), S. 345 f.; dazu näher der Verf., ZinsO 2007, 914 ff. Besonders typisch auch Petersen, Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001, S. 254: „Damit steht der stille Gesellschafter aber gerade nicht außerhalb des Verbandes, sondern ist ihm im Unterschied zum partiarischen Darlehen durch einen gemeinsamen Zweck und das gemeinsame Streben verbunden. Aus diesem Grund ist es nicht gerechtfertigt, ihn vor anderen Gläubigern durch den Schutz des § 23 [UmwG] zu privilegieren.“ Andere (substantielle) Gründe werden von Petersen nicht benannt. 24 Karsten Schmidt, ZHR 140 (1976), 475, 483.

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wie eine ständige Drohung25. Gesellschaftsrechtler haben in Worten stets Abstand von dieser Steuerlehre gesucht, aber sie haben ihre Grundgedanken doch angenommen, abgewandelt und in einen eigenen „Begriff“ der „atypischen stillen Gesellschaft“ übersetzt. Wo ein „atypischer“ Sachverhalt erkannt wurde, sind verbands- und haftungsrechtliche Folgen fast durchweg verfrüht angenommen worden. Dies nachzuweisen, gehört zur Arbeit an den »stillen Verbänden«. Diese Arbeit ist ein gemeinsames Anliegen des Jubilars und des Verfassers26. Es ist zu einem Paradigmenwechsel aufzurufen: Weg von der Figur der „atypischen stillen Gesellschaft“ mit ihrer auf „irgendwelche atypischen“ Einzelrechte abstellenden Perspektive hin zur »Innen-KG«, als einem »stillen Verband«, dessen Organisationsverfassung im Innenverhältnis der einer KG angenähert ist27. Es ist an dieser Stelle nur festzuhalten, wie sehr die Entartungen im Recht der „atypischen“ Gestaltungen die Isolation der stillen Gesellschaft als Rechtsform verschärft haben28. 3. Wie das alttestamentarische Zinsverbot die Genussrechtsdebatte belebt Das leitet über zu einem dritten Grund, der den Systembau erschwert hat: die Zerstreuung über die Rechtsbereiche, die Zunahme spezialisierten Fachwissen und das Fehlen eines rechtsgebietsübergreifenden Dialogs. Man bedenke nur, wie die Fachleute die Rechtsfolgenrelevanz einzelner Beteiligungsrechte immer wieder völlig anders bewerten. So werden an die Vermögensteilhabe im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht ganz erhebliche Steuerfolgen geknüpft, im Gesellschaftsrecht aber soll eine Vermögensteilhabe allein kaum Auswir-

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25 Sie bestimmt die Schnittstelle zwischen Gewinn- und Überschusseinkünften, entscheidet darüber, wie der Gewinn ermittelt, wann und welche Änderungen des Vermögens erfasst werden, welche Freibeträge gelten, ob Verluste ausgeglichen und abgezogen werden können usw. Vor allem werden bei Mitunternehmern Vergütungen für Tätigkeiten, Darlehenshingabe oder Überlassung von Wirtschaftsgütern in gewerbliche Einkünfte umqualifiziert und dem Gewerbeertrag hinzugerechnet; die Folgen sind dargestellt bei Schreiber, Wer ist Mitunternehmer, 1994, S. 12 ff.; ferner Bitz in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Stand 8/2008, § 15 EStG Rz. 22. Wenn, um es deutlicher zu sagen, die geförderte stille Mitarbeiterbeteiligungen als Mitunternehmerschaft angesehen wird, ist auch der Arbeitslohn als Teil des Unternehmensgewinn zu versteuern. Die Steuerfolgen dieser Doktrin sind oft unangemessen. Ihre Begriffe sind unbestimmt und unpraktikabel. Ihr Ausgangspunkt ist unplausibel, da der Kommanditist als Grundform des Mitunternehmers ausgegeben wird, aber gerade als Grundform des Anlagegesellschafters konzipiert ist. Methodisch ist die Doktrin zweifelhaft. Und doch ist das Dogma niemals ernsthaft kritisiert worden. Der Verf. wird in Kürze eine solche „Kritik der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin“ vorlegen. Zur Methodenkritik bereits der Verf., StuW 2007, 314 ff. 26 Zu Arbeiten Karsten Schmidts siehe Fn. 4; der Verfasser hat als Schüler des Jubilars eine Monographie zum Thema geschrieben: Der »stille Verband«, 2007. 27 Diese Arbeit ist gleichsam ein komplementäres Gegengewicht zur Arbeit am schuldrechtlichen Beteiligungskapital: stilles Teilhabekapital – und das ist das wahre, aber auch einzige Mysterium dieser Rechtsform – kann entweder verbandsrechtliches oder schuldrechtliches Beteiligungskapital sein. Eines Abstellens auf „Atypisches“ bedarf es dann nicht mehr. 28 Siehe sogleich im Text.

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kungen haben29. Ein schönes Beispiel ist es auch, wie unterschiedlich die Verlustteilhabe im Handelsrecht und Aktienrecht beurteilt wird. Die Verlustteilhabe soll, wie in der aktienrechtlichen Literatur oft zu lesen ist, nur bei Genussrechten eine Vielzahl von Rechtsfolgen haben, soll etwa zu erweiterten Kontrollrechten und Treupflichten oder gar zu einer „gemeinsamen Zweckverfolgung“ des Emittenten und Genussberechtigen führen30. Hier ist der mittelalterliche Begriff der participatio noch vital, da die Kapitalhingabe mit Verlustanteil als Gesellschaft nach geistlichem und weltlichem Recht wirksam war, ohne sie aber als Kredit dem alttestamentarischen Zinsverbot und der Unwirksamkeit verfiel31. Der Gesetzgeber des ADHGB hat gezielt von diesem mittelalterlichen Begriffsverständnis der Aquinesischen „Summa Theologica“32 Abstand gesucht, indem er die stille Gesellschaft ohne Verlustteilhabe ins Gesetz schrieb33. Er meinte, die mittelalterliche Unterscheidung trage nicht mehr, denn die Gerichte würden doch nur dazu genötigt, die Vorschriften zur stillen Gesellschaft auf Gebilde ohne Verlustteilhabe analog anzuwenden34. In der Tat ist die Verlustteilhabe für den Anleger nur eine gefährliche Abwandlung der Risikoübernahme; sie bietet dem Unternehmen gewisse Liquiditäts- oder Bilanzvorteile, einen echten Qualitätssprung gegenüber anderen Risikoanlagen erklärt sie nicht. In mehr als hundert Jahren im Recht stiller Gesellschaften ist diese berechtigte Annahme des historischen Gesetzgebers folgerichtig nicht bezweifelt oder korrigiert worden35. Aber bei Genussrechten belebt das Zinsverbot die aktienrechtliche Diskussion unverändert und trägt so zum weiteren Verfall des Rechts schuldrechtlicher Unternehmensteilhabe bei. 4. Die Loslösung des Genussrechts von den Schuldverschreibungen In ihrer ersten, bis zum AktG 1937 andauernden Hochblüte sind Genussrechte kapitalmarktgängige Vorboten der Vorzugsaktien. Das Genussrecht wurde erst Mitte der 1980er Jahre durch gesetzliche Anreize (im VermBG und KWG) künstlich wiederbelebt. Genussrechte sollten bei Banken und als Arbeitnehmerbeteiligungen helfen, die Finanzstrukturen deutscher Unternehmen zu ver-

__________ 29 Eingehend der Verf. (Fn. 26), S. 106 m. N. 30 Siehe die Nachweise in Fn. 11. 31 Lasting, ZHR 24 (1879), 387, aus der jüngeren Diskussion Schön, ZGR 1993, 210, 212 f. 32 Summa tota theologica, II, 2 quaestio 78 Art. 2; dazu mit Nachweisen etwa Endemann Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre I, 1874, S. 343 ff. 33 Heute in § 231 Abs. 2 HGB. 34 Vgl. ADHGB-Protokolle = Lutz, Protokolle, S. 275. 35 Man liest nichts mehr davon, nur bei der Verlustteilhabe liege eine „echte“ stille Gesellschaft vor, nur bei ihr seien gesellschaftsrechtliche Folgen angemessen usf. Das wird besonders deutlich bei Durchsicht der angeblich so rechtsfolgenrelevanten „atypischen“ Formen der stillen Gesellschaft: die Verlustteilhabe oder ihr Fehlen werden nirgends aufgeführt, vgl. statt aller Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 HGB Rz. 77 ff.

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bessern36. Das Genussrecht ist seither nicht mehr nur eine Spielart der massenweise begebenen Schuldverschreibung. Die Praxis verwendete „Genussrechtsverträge“ mit nur einem Abnehmer als Mittel, den angedeuteten Unwägbarkeiten und Entartungen des Rechts stiller Gesellschaften zu begegnen37. Noch Ende 1993 konnte sich Karollus auf eine herrschende Lehre berufen, wenn er meinte, nur massenweise begebene Genussrechte seien Genussrecht im Sinne des Aktiengesetzes38. Heute hat man sich an „Genussrechtsverträge“ mit einzelnen Mitarbeitern, Mehrheitsgesellschaftern oder als Sanierungsmittel gewöhnt. Seit die Genussrechte sich von den Schuldverschreibungen gelöst haben, ist das rechtstechnische Paradoxon vollkommen: Drei mit Abgrenzungsaufgaben belastete Rechtsbegriffe (Genussrecht, stille Teilhabe und Beteiligungskredit) teilen sich nahezu identische Begriffspartikel, weswegen sich beinahe jede Gewinnteilhabe unter alle drei Formendefinitionen mühelos subsumieren lässt.

II. Die Rechtsfigur des »schuldrechtlichen Beteiligungskapitals« Wir verstehen jetzt, warum die Form derart in Missverhältnis zum Inhalt geriet. Aber die erforderlichen Angleichungsprozesse auf Formenseite werden wie bisher scheitern, wenn die verschiedenen Teilhabearten – vor allem stille Teilhabe und Genussrechte – pauschal als etwas Sinngleiches ausgegeben werden39. Das den Beteiligungsformen Gemeinsame lässt sich mit mehr Nutzen in einer Rechtsfigur bündeln, die hier »schuldrechtliches Beteiligungskapital« genannt wird. Einbezogen wird jede Kapitalhingabe außerhalb des Verbandsrechts, bei der Entgelt oder Rückzahlung der Höhe nach von dem Unternehmenserfolg abhängt. Die genauere Kontur dieser Figur kann, wie wir sehen mussten, nicht durch einzelne Topoi („gemeinsamer Zweck“, irgendwelche

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36 Zur Mitarbeiterbeteiligung siehe Reuter, NJW 1984, 1849; zum Bankaufsichtsrecht Möschel, ZHR 149 (1985), 206 und eingehend unter III.2.a. 37 So werden etwa im Bankaufsichtsrecht stille Gesellschaften privilegiert, vgl. § 10 Abs. 4 KWG. Da aber lange ungeklärt war, ob eine stille Teilhabe an einer Genossenschaft handelsrechtlich möglich ist, drohten ausgerechnet Genossenschaften von den bilanziellen Vorteilen ausgeschlossen zu werden. Der „Genussrechtsvertrag“ sollte solche Risiken abfangen, eingehender unter III.2.a. Bei der Mitarbeiterförderung soll er unangemessene Steuerfolgen der „atypischen stillen Gesellschaft“ verhindern. Zum Problem der stillen Teilhabe an Genossenschaften, vgl. das Schreiben des BMJ vom 7. März 1990, abgedruckt bei Reischauer/Kleinhaus, KWG, Band I, Lieferung 2/2008, 115 § 10 KWG Rz. 57. Zum Steuerproblem der stillen Mitarbeiterfinanzierung etwa Reuter, NJW 1984, 1849, 1850 f. und oben unter I.2. 38 Karollus in Geßler/Hefermehl, Band IV 1994, § 221 AktG Rz. 241 m. umfangreichen Nachweisen (Stand der Bearbeitung: November 1993). Eyber, Die Abgrenzung von Genussrecht und Teilgewinnabführungsvertrag im Recht der Aktiengesellschaft, S. 100 hat noch 1997 die abweichende Ansicht Sethes in AG 1993, 309 als mutig bezeichnet. 39 Wo es um die starre In-Eins-Setzung von stillen Gesellschaften und Genussrechten geht, mit Recht, wie wir später klarer sehen werden. Nachdenklich stimmt der Ansatz Schöns, ZGR 1993, 210, der Unterschiede zwischen partiarischem Darlehen und stiller Gesellschaft leugnet; die Anhängerschaft des Anima-Dogmas hat ihm diese Wissenschaftsleistung nur mit Desinteresse gedankt.

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„atypischen Rechte“, Verlustteilhabe) allein geformt werden. Und auf die konventionellen Kriterien für Eigenkapital abzustellen (Nutzen- und Verlustteilhabe, Bindung und Einfluss), zwingt schnell zu der jedes Systembemühen verhöhnenden Aussage, dass erst der Ableitungszusammenhang zur Einzelnorm erkennen lasse, welches der Kriterien relevant ist40. Für die Arbeit an den Institutionen »schuldrechtlichen Beteiligungskapitals« sollen zwei Grundinhalte und zwei Grundebenen desselben unterschieden werden. 1. Die zwei Grundinhalte: gewinnorientierte und haftende Beteiligung In Zeiten der Prosperität gleichen Aktionär und Obligationär einer societas leonina am Residuum: denn jene beanspruchen es für sich und verweisen diese auf den Festzins. Durch gewinnorientiertes Partizipationskapital entsteht eine societas residuui, in der beide Gruppen den Unternehmenserfolg optimieren wollen. Hier allein ist der substantielle Kern, um den sich der Animakult bewegt. Wem das zu literarisch gesagt ist, der betrachte einen einfachen risikoerhöhenden Strategiewechsel aus finanztheoretischer Sicht: Wenn etwa low risk assets gegen high risk assets getauscht werden, wird sich der Erwartungswert der Zahlungsströme für den Aktionär erhöhen, solange neue Gewinnaussichten die Zunahme an Verlustrisiken hinreichend ausgleichen41; das gilt im Grundsatz auch für den am Gewinn Beteiligten42, aber für den Kreditgeber nehmen stets nur die Ausfallrisiken zu. Der zweite Grundinhalt ist die Haftfunktion von Beteiligungskapital. Nehmen Entgelt oder Rückzahlungsanspruch am Verlust teil, entsteht eine Gefahrengemeinschaft. Bei dieser Art der societas periculi kommt es ebenfalls zu einem gewissen Gleichlauf der Interessen, der in der Krise naturgemäß größer ist als in Zeiten des Gewinns. Bei beiden Grundinhalten gibt es einen übergroßen Nuancenreichtum, der jede Aussicht verstellt, durch ein Kriterium (Substanz- oder Verlustteilhabe, Verwaltungsrechte usf.) substantiell gerechtfertige Abgrenzungen vorzunehmen. Schon der Anteil am laufenden Gewinn kann sich an vielen Bezugsgrößen orientieren (Dividende, Jahresüberschuss, Bilanzgewinn usf.), mit Festzinselementen gemischt werden, kennt verschiedene Verteilungsschlüssel, wird

__________ 40 Die Figur der „atypischen stillen Gesellschaft“ ist ein mahnendes Beispiel; im Handelsrecht wird das Maß der Atypizität „auf bestimmte Rechtsfolgen“ hin (Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 AktG Rz. 74) und im Steuerrecht letztlich nur im Einzelfall determiniert. Grob störend ist der Verweis auf die überkommene Typuskonzeption von Karl Larenz, welche das Scheitern jeder Systemarbeit nicht rechtfertigt, wie man gerne behauptet, sondern mitbewirkt, dazu eingehend der Verf., StuW 2007, 314 ff. 41 Näher dargestellt bei Bitter in Steuerungsfunktionen des Haftungsrechts im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, Band I 2007, S. 57, 63 ff.; Klöhn, ZGR 2008, 110, 115. 42 Die Erwartungswerte werden wegen verschiedener Risikostrukturen bei direkt und mittelbar Beteiligten variieren. Diese Asymmetrie folgt schon aus der Zeitbegrenzung und der Zeitstruktur der Zahlungsüberschüsse bei mittelbar Beteiligten. So können die Eigentümer versuchen, die Gewinne erst nach Ende des Beteiligungsverhältnisses zu realisieren.

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endfällig gezahlt, vor- oder nachrangig gewährt. Und die Risikostrukturen weisen nicht weniger Abweichungen bei Verlustteilhabe, Nachrangabreden oder Lösungsrechten auf. Es wird nicht gelingen, angesichts derart fließender Grenzen den Finger auf den Punkt zu legen, an dem eine Obligation wegen einzelner Rechte in etwas „Aktienähnliches“ oder – noch ungenauer – „Atypisches“ umschlägt43. Es bleibt, als Analyseansatz zwei Grundinhalte zu betrachten und gewinnorientiertes von haftendem Beteiligungskapital zu trennen. Es wird nicht verkannt, dass sich das Moment der (Gewinn-)Partizipation phänomenologisch meist mit Haftungselementen, also einer Verlustteilhabe des Entgelts oder Rückzahlungsanspruchs mischt. Und doch, so der als These zu verstehende Ansatz, sind beide Seiten in etwa so wie zwei Seiten desselben Blattes zu unterscheiden. In diesem Sinne ist etwa die stille Teilhabe mit Gewinn- und Verlustteilhabe „gewinnorientiertes“ und „haftendes“ schuldrechtliches Beteiligungskapital zugleich. Beide Grundinhalte gibt es in einfacher und qualifizierter Ausprägung. Beispiele einfacher Ausprägung, zu deren Annahme jede Form der Erfolgsorientierung genügt44, sind der (gewinnorientierte) Beteiligungskredit und das KWG-Genussrecht mit Festzins, der in Verlustjahren entfällt, als einfaches Haftkapital45. Von Qualifikation kann aber, wie wir sehen mussten, nur gesprochen werden, wenn eine bestimmte Norm ein bestimmtes Ausmaß an Teilhabe verlangt. Ein anschauliches Beispiel für eine qualifizierte (Gewinn-)Partizipation ist § 256 AktG 1937, der es verbot, ¾ des Gewinns oder mehr an schuldrechtlich Beteiligte abzuführen. Paradigmatisch für qualifiziertes Haftkapital ist

__________ 43 Das gilt auch für die Substanzteilhabe. Ein Anteil am Liquidationserlös (an stillen Reserven und am Firmenwert) ist nur eine Abart der Gewinnteilhabe, wie die grundlegenden Arbeiten Aulingers, Die atypische stille Gesellschaft, 1955, S. 25 und Rasners (Fn. 19), S. 60 ff. nachgewiesen haben. In der Praxis gibt es die Substanzteilhabe oft nur als Mischform (man sehe nur die Zusammenstellung der Steuerkasuistik etwa bei Kneip, Der einkommensteuerrechtliche Mitunternehmer, 1994, S. 403 ff.) und umgekehrt fließen Substanzpartikel bereits in den laufenden Gewinn jeden stillen Gesellschafters ein, dazu nur Karsten Schmidt (Fn. 4), § 232 HGB Rz. 5 ff. Gewinne lassen sich bekanntlich bilanziell verschieben, also gleichsam vom laufenden Gewinn in die Substanz verlagern – schon das zeigt, dass diese beiden Teilhabearten nichts Wesensverschiedenes, sondern bloße Berechungsmethoden sind. Und die anhaltende Erfolgswelle des „Mezzanine“-Kapitals hat weitere Varianten ergänzt, in denen der Zins mit echten oder virtuellen Optionen („Kickern“) gepaart werden, also substanzbezogene Teilhabepartikel aufweisen, zu ihnen Berger, ZBB 2008, 92 ff.; wirtschaftlich betrachtet sind das ersichtlich keine „Mitunternehmerschaften“, sondern erfolgreiche Wettbewerber zu (festverzinslichen) HighYield-Bonds. Es ist letztlich nur mit dem Einfluss der Steuerrechtsdogmatik (der Mitunternehmerdoktrin und der heutigen Lesart des § 8 Abs. 3 S. 2 KStG) zu erklären, warum die Vermögensteilhabe oft derart überbewertet wird. Näher der Verf. (Fn. 26), S. 47 ff. 44 Es werden also auch Mischformen mit überwiegender Festverzinsung einbezogen. Im Ansatz ähnlich ist das heutige Begriffsverständnis der stillen Gesellschaft, vgl. Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 HGB Rz. 41; Schön, ZGR 1993, 210, 223. 45 BGHZ 120, 141 (Bremer Bankverein). In der Literatur missverständlich als „gewinnabhängiges Genussrecht“ bezeichnet.

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§ 10 Abs. 4, 5 KWG, nach dem schuldrechtliches Beteiligungskapital mit voller Verlustteilhabe den Eigenmitteln zugehören kann, wenn es zudem dauerhaft, nachrangig und gebunden begeben ist. 2. Die zwei Grundebenen: konkrete und abstrakte Beteiligung Beteiligungskapital gibt es auf zwei Grundebenen: Wird es als „mobiles“ Finanzprodukt ausgestaltet, gleicht es partiarischen Schuldrechtsorganismen so wenig wie eine Anleihe dem Kredit. Wie sehr sich diese Ebenen unterscheiden, zeigt der Weg der Obligation vom zweiseitigen Schuldvertrag zur börsengängigen Schuldverschreibung46. Das entscheidende Moment ist die „Abstraktion“: schuldrechtlich werden abstrakte und inhaltsgleiche Schuldversprechen begeben; Einwendungen aus dem Grundverhältnis werden abgeschnitten; diese Abstraktion kraft schuldrechtlicher Abrede wird wertpapierrechtlich um den Bestands- und Gutglaubensschutz ergänzt47. Durch die „Abstraktion“ erst werden die Obligationen „mobilisiert“ und an organisierten Märkten handelbar. Soweit nun »schuldrechtliches Beteiligungskapital« infolge einer solchen Abrede „abstrakt“ ist48, so lautet die These, führt dies zu dogmatischen und rechtspolitischen Eigenheiten, deren Überspielung und Verkennung sich wie ein roter Faden in heutiges Denken über Beteiligungen ohne Mitgliedschaft hineingewebt hat49. Dogmatisch gesehen kauft der „abstrakt“ Beteiligte eine Forderung, die an ein „unternehmensinternes Finanzprodukt“ erinnert. Wenn die Teilhabe nicht durch Vereinbarung, sondern als fertiges Produkt über einen organisierten Markt erworben wird, passen die schulmäßigen Regeln zu Verträgen nicht mehr. Längst gibt es eigene Rechtsgrundsätze, welche die Verkehrsfähigkeit der Kapitalmarktpapiere sichern, etwa die alte Maxime, dass Anleihen einheitlich ohne Rücksicht auf die individuelle Sphäre des Inhabers auszulegen sind50; auch eine Einbeziehungskontrolle nach § 305 BGB gibt es bei Obligationen nach dem XI. Zivilsenat des BGH nicht, da der Erwerber im Effektenverkehr wissen muss, welche Bedingungen gelten, aber nicht erkennen kann, wie die Anleihen emittiert und welche Bedingungen einbezogen

__________ 46 Dazu Baums in FS Hartmut Schmidt, 2006, S. 332; ferner ders. in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band II 2007, S. 955, insb. S. 965 ff. (historisch). 47 Eingehend Baums Fn. (46); zur wertpapierrechtlichen Abstraktion Zöllner, Wertpapierrecht, 14. Aufl. 1987, § 5 II, S. 29. 48 In der Praxis werden abstrakte Finanzprodukte verbrieft und die vorgenommene Unterscheidung zwischen (erforderlicher) schuldrechtlicher und (nicht erforderlicher) wertpapierrechtlicher Abstraktion mutet theoretisch an. Sie ist aber bereits de lege lata von Bedeutung, wie sich zeigen wird, vgl. etwa noch III.1.a. und 2.a. Und noch kann man sich abstrakt begebene stille Teilhabe schwer vorstellen, aber schon auf dem 55. DJT hatte man über ihre Einführung gesprochen und sie nur aus steuer- und bilanzpolitischen Gründen (knapp) abgelehnt, Nachweise in Fn. 85. Das war in der Hochblüte der Abschreibungsindustrie; schon heute zielen stille Teilhaben aber mehr auf Gewinn- und nicht auf steuerwirksame Verlustzuweisung und die Debatte über die Mobilisierung stiller Einlagen kann eines Tages wieder aufkommen. 49 Die Mahnung vor solcher Überspielung durch Reuter in FS Stimpel, 1985, S. 645, 653 wurde kaum beachtet. 50 RGZ 117, 379, 382; BGHZ 28, 259, 263.

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worden sind51. Rechtspolitisch zeigt nicht erst die Debatte über die Zukunft des Anleiherechts wie andersartig das gesamte Ordnungsumfeld ist: der „Wettlauf der Rechtsordnungen“, die kapitalmarktbedingte Publizität der Leistungsstörung; die Einschaltung von Banken, die aus Angst vor Ansehensverlust auf Anlegerbedürfnisse Rücksicht nehmen; die bereits bestehenden positiven Schutzmechanismen des Kapitalmarktes; die Kontrolle durch ständige Preisbildung im Markt – all das führt zu neuen Ordnungsaufgaben und -lösungen52. Wir werden noch sehen, wie sehr die Institutionenbildung beim Beteiligungskapital gerade an der Vermengung von „konkreten“ Vertragsorganismen mit „abstrakten“ und handelbaren Finanzinstrumenten scheiterte.

III. Institutionenbildung und Interessenkreise Die zu Analysezwecken in Grundinhalte und -ebenen zerlegte Figur des »schuldrechtlichen Beteiligungskapitals« lässt sich wie ein Instrument im Prozess der Institutionenbildung nutzen. Bislang hängen die Denkansätze noch von Ableitungsbezügen zu Einzelnormen ab, wenn das notwendige Maß des „Atypischen“, „Sozietären“ oder „Aktienähnlichen“ stets nur „auf bestimmte Rechtsfolgen hin zu bestimmen ist“53. Ein Systemfortschritt lässt sich erst erreichen, wenn die Institutionen aus dem Blickwinkel der „Alt-“Gesellschafter, der Gläubiger und des Emittenten getrennt betrachtet werden. Es ist zwischen – dem Residualverhältnis, – dem Gläubigerverhältnis und – dem Beteiligtenverhältnis zu unterscheiden. 1. Institutionenbildung und Residualverhältnis Die „Alt-“Gesellschafter erleben die variable Gewinnteilhabe als Einbruch in den Kreis der Residualgläubiger. Ihre societas residui wird zum einen durch die Hebelkraft gewinnorientierter Entgelte im Wert verdünnt; zum anderen bleibt gerade diese Kraft oft im Dunkel der Berechnungsmodi verborgen. Die Kernthese lautet: Die auf das Residualverhältnis bezogenen Institutionen zielen auf einen Schutz der „Alt“-Gesellschafter vor jeder Aufnahme gewinnorientierten Beteiligungskapitals.

__________ 51 BGHZ 163, 311, 315 ff. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Aus dem Strafrecht ist § 151 StGB anzuführen und das neue Anleiherecht wird die Andersartigkeit unübersehbar machen, dazu sogleich im Text und unter III.3.a aa. 52 Einen Überblick geben die Beiträge in Baums/Cahn, Die Reform des Schuldverschreibungsrechts, 2004. 53 Wer bislang nach dem Verlauf von Trennlinien fragt, sei es bei „sozietätsähnlichen Genussscheins“ oder bei „atypischen stillen Gesellschaften“ wird auf das Postulat teleologischer Rechtsfindung zu verweisen: Was als „sozitär“ gilt, bestimmt die derzeitige Lesart des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG, was „atypisch“ sei, folge aus der jeweils anzuwenden Norm, siehe bereits Fn. 40.

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a) Paradigma: aktienrechtliche Kompetenz, Beteiligungskapital aufzunehmen Ein erster Beleg ist ein Ausschnitt des aktienrechtlichen Machtgefüges: Über die Ausgabe gewinnorientierten Beteiligungskapitals haben die Aktionäre nach § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG (Teilgewinnabführung) oder nach § 221 Abs. 1, 3 AktG (Genussrechte, Gewinnschuldverschreibung) selbst zu beschließen. Über die scharfen Unterschiede der Regelungskomplexe darf man sich nicht täuschen: Nur auf Finanztitel des § 221 AktG haben Aktionäre ein Bezugsrecht; nur bei „Genussrechten“ soll es selbst dann einen Schutz geben, wenn lediglich Festzinsen bedungen werden, die in Verlustjahren entfallen54. Stille Gesellschaften und Beteiligungskredite sind dagegen nach § 294 AktG einzutragen, nach §§ 293a ff. AktG zu prüfen und nach §§ 300 f. AktG in der Ausschüttung begrenzt55. § 221 AktG schränkt die Leitungsbefugnis nur „nach innen“, § 292 AktG „nach außen“, also gegenüber Dritten ein. Daraus folgt: Wer falsch prognostiziert, wie ein Gericht die Abgrenzungsindizien gewichten würde, wer „Genussrecht“ und „stille Gesellschaft“ verwechselt, hat entweder einen mangels Eintragung unwirksamen Vertrag oder – im umgekehrten Fall – einen wegen eines fehlenden Bezugsrechtsausschlusses anfechtbaren Beschluss! Die Lehre hat diese Spannungslage nicht gelöst; eine auf „Aktienähnlichkeit“ ausgerichtete Genussrechtstypologie vermochte dies so wenig wie die Gleichschaltung von Genussrechten und stillen Gesellschaften56, wie deren Verfechter durchaus einräumen57. Lange kamen Praxis und Lehre zurecht, indem sie nur „massenweise begebene“ Genussrechte unter § 221 AktG subsumierten58, aber seit dem beschriebenen Abfall der Genussrechte von den Schuldverschreibungen gilt der Ansatz als unhaltbar59. Aus dem Blickwinkel des vorgeschlagenen Ansatzes ist festzuhalten – da beide Normen das Residualinteresse des „Alt“-Gesellschafters verteidigen – welcher Grundinhalt gemeint ist: geregelt wird die Aufnahme gewinnorientierten Partizipationskapitals. In den Gesetzesmaterialien ist missverständlich von dem Schutz des Gewinnverwendungsrechts zu lesen60. Aber längst hat der Jubilar darauf hingewiesen, dass dieses Recht auch durch unangemessene Austauschverträge beeinträchtigt wird und uns erklärt, worum es wirklich geht61: Die

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54 Siehe bereits oben Fn. 45. 55 Das entspricht herrschender Lehre, dargestellt bei Altmeppen in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2005, § 301 AktG Rz. 7 f. 56 Dass stille Gesellschaften Teilgewinnabführungsverträge sind, ist heute anerkannt; vgl. grundlegend Karsten Schmidt, ZGR 1984, 295 ff. Eine völlige Gleichsetzung hieße, jedes Genussrecht unter § 292 AktG subsumieren, was Karollus (Fn. 38), § 221 AktG Rz. 243 f., 252 durchaus sieht und verwirft. 57 Habersack (Fn. 11), § 221 AktG Rz. 74, 78 f., 88 ff.; siehe auch die Fn. zuvor. 58 Siehe bereits Fn. 38. Nicht zu folgen vermag ich dem engen Ansatz von Fuchs, Kapitalbeteiligung ohne Mitgliedschaft, Göttingen 1997, § 9 B III, der die Fälle der Sacheinlage unter § 292 AktG und der Bareinlage unter § 221 AktG fassen will. 59 BGHZ 120, 141 (Bremer Bankverein); Luttermann, Unternehmen, Kapital und Genußrechte, 1998, S. 97 ff.; Eyber (Fn. 38), S. 111 m. N. 60 Begr. RegE, bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 378 (zu § 292); weitere Nachweise zur Gesetzesgeschichte bei Fuchs (Fn. 58), § 9 B II und III. 61 Karsten Schmidt, ZGR 1984, 295, 307.

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Gewaltkonzentration beim Vorstand gleicht das Aktienrecht an sich bereits durch strenge Angemessenheitskontrollen aus. Aber eine Partizipationsabrede gefährdet die societas residui besonders: Die Hebelkraft, also das eigentlich gefahrenvolle Moment, ist oft selbst für Anlageberater schwer abzuschätzen62. Nur dies rechtfertigt es, die Äquivalenzkontrolle schon einfachen Partizipationskapitals in die Hände der Aktionäre zu legen63. Weder die Verlustteilhabe noch besondere Risikostrukturen noch andere Ungewöhnlichkeiten fordern den Beschluss. Dieses Schutzzweckverständnis ist folgenreich64: Ein solches KWG-Genussrecht, das die Verlustteilhabe auf den Festzins erstreckt, ist nicht gewinnorientiert und entgegen einer vom BGH bestätigten Lehre kein „Genussrecht“ im Sinne des § 221 AktG65. Das Verhältnis der Regelungskomplexe selbst ist nur durch eine Rückkehr zur Schlichtheit des historischen Ursprungs zu ordnen. Bei den Reformbewegungen in der Weimarer Republik lesen wir nur von „Genußscheinen und Genußaktien“66 und zu § 174 AktG 1937, der wortgleichen Vorgängernorm des § 221 AktG, noch ausdrücklich: die „Genußrechte“ sind eine „Zwischenform zwischen Aktie und Schuldverschreibung“67. Konzernnahe Teilgewinnabführung stellte man sich umgekehrt nur in „schuldrechtlichen Verträgen mit Austausch von Leistung und Gegenleistung“ vor68. In unserer Terminologie heißt das: Die Normenkomplexe regeln denselben Grundinhalt – einfaches gewinnorientiertes Beteiligungskapital – auf den Grundebenen unterschiedlich oder einfacher gesagt: § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG erfasst die „konkrete“, § 221 AktG die „abstrakte“ Gewinnteilhabe. Eine Rückkehr zu diesem Ursprung würde die Praxis, da die Trennlinie zwischen Einzelvertrag und mobilem Finanztitel unzweifelhaft ist, sofort von allen Abgrenzungsgefahren entlasten. Mehr noch: Die Dogmatik hätte ein systemklares Verhältnis beider Schutzkonzepte gefunden. Auf der einen Seite erfolgt die Emission von Finanzprodukten nicht durch „Unternehmensvertrag“ und ist kein konzernnaher Sachverhalt; die Registereintragung auch des Namens – der Konsorten oder gar der Ersterwerber? – nach § 294 Abs. 1 Satz 1 AktG ist unpassend; eine Begrenzung der Gewinnteilhabe auf einen Höchstbetrag nach § 301 AktG für kapitalmarkgän-

__________ 62 Genusscheine werden vom Kapitalmarkt gerade deswegen ungünstig aufgenommen, siehe Ekkenga, ZHR 160 (1996), 64 in Fn. 24. 63 Grundlegend Karsten Schmidt, ZGR 1984, 295, 307; ferner Veil, Unternehmensverträge, 2003, S. 151 f. 64 Das Erfordernis periodischer Ermittlung, das heute in § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG hineingelesen wird, wird deswegen zweifelhaft; zum Meinungsstand Eyber (Fn. 38), S. 20 ff. 65 BGHZ 120, 141, 145 ff.; Karollus (Fn. 38), § 211 AktG Rz. 296 f.; Busch, AG 1994, 93, 95 f.; im Ergebnis wie hier bereits Gehling, WM 1992, 1093, 1096 f.; Lutter (Fn. 11), § 221 AktG Rz. 217 f. 66 Schubert/Hommelhoff, Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik, 1987, S. 907, 929. 67 Amtl. Begründung der Vorgängernorm des § 174 AktG, Klausing, Gesetz über Aktiengesellschaften, 1937, S. 155. 68 Kropff (Fn. 60), S. 389.

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gige Papiere, deren Entgeltberechnung aus dem Papier heraus erkennbar sein sollte, bleibt zweifelhaft; auch die Prüfungsmechanismen in §§ 293a ff. AktG sind ersichtlich nur auf Vertragsverhältnisse ausgerichtet. Auf der anderen Seite machte ein Bezugsrecht der Aktionäre bei einem ausgehandelten Vertrag mit einem Abnehmer, der etwa ein Patent oder Unternehmen einbringt, keinen rechten Sinn. Diese schlichte These, in § 292 AktG nur „konkrete“, in § 221 AktG nur „abstrakte“ Teilhabeformen zu erfassen, wurde nicht erwogen, weil die Grundebenen unbedacht vermengt wurden: Noch in den 1980er Jahren stellten sich die heute so schwierigen Abgrenzungsfragen so gut wie gar nicht. Es herrschte das Denken vor, nur Genussrechte mit „kollektivem Element“, mit „gleichartigen, irgendwie genormten Rechtsvorteilen“ seien in § 221 AktG gemeint. Wegen der Steueranreize des VermBG69 gab es in der Folge immer öfter Aktiengesellschaften, an denen sich tausende Arbeitnehmer gleichartig als stille Gesellschafter beteiligten. Mit Hilfe des „kollektiven Moments“ war ein Abgrenzen zwischen Genussrechten und stillen Gesellschaften ganz offenbar nicht mehr möglich. An diesem Wendepunkt wurde der systematisch entscheidende Unterschied übersehen: Stille Publikumsfinanzierung ist stets „konkret“; sie erfolgt nicht über den organisierten Markt; die stille Teilhabe soll oft bereits aus Steuergründen (individuelle Verlustzuweisung) oder aus Motivationsgründen für Arbeitnehmer gar nicht kapitalmarktgängig sein70. Das systemwahrende Abgrenzungsmoment der »Mobilität durch Abstraktion« war einen Schritt entfernt, wurde aber schlicht nicht gefunden. Ein zweiter Grund mag gewesen sein, dass es vielen erst gar nicht in den Sinn kam, „konkrete“ Genussrechtsabreden als eintragungspflichtige Teilgewinnabführungsverträge zu begreifen. Diese folgerichtige Annahme aber sollte nicht zu schwer fallen, zumal die praxiswichtigen Fälle der Arbeitnehmerbeteiligung unter das Privileg des § 292 Abs. 2 AktG fallen und solche KWG-Genussrechtverträge, die nur einen Festzins vorsehen71, schon keine Gewinnteilhabe vermitteln. b) Weitere Beispiele Ein Residualschutz bei der Aufnahme einfachen Partizipationskapitals besteht mit rechtsformbezogenen Unterschieden bei allen Verbänden. In der KG oder GmbH etwa erlaubt der erhöhte institutionelle Selbstschutz der Gesellschafter einen gesteigerten Spielraum der Geschäftsleitung im Verkehr72. Die Partizipa-

__________ 69 70 71 72

Siehe oben I.4. Dazu noch deutlich Reuter (Fn. 49), S. 645, 654. BGHZ 120, 141 (Bremer Bankverein), siehe bereits oben Fn. 45. Dazu nur Karsten Schmidt, ZGR 1984, 295, 311 und eingehend Fuchs (Fn. 58), § 10 (zur GmbH). Die Regeln zum Teilgewinnabführungsvertrag gelten für die GmbH nicht. Die entsprechenden § 235 RefE 1969 bzw. § 231 RegE 1971/1973 sind nicht Gesetz geworden.

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tionsabreden sind deswegen gegenüber Dritten wirksam, bleiben aber im Innenverhältnis zustimmungspflichtig73. Dass es lohnt, die beiden Grundinhalte – gewinnorientierte und haftende Beteiligung – analytisch zu spalten, soll noch für das Bilanzrecht dargelegt werden. Bilanziell gesehen, bleiben einfache Partizipationsmittel Fremdkapital. Das entspricht der Ausgangsthese zum Residualverhältnis, denn Überschuldungsbilanz und Jahresabschluss zielen eben nicht auf Residual-, sondern auf Gläubigerschutz74. Drittgläubiger bedürfen – anders als die Residualgläubiger – keines besonderen Schutzes vor der Aufnahme gewinnorientierten Kapitals. Wie fruchtbar es ist, das Residual- vom Gläubigerverhältnis zu unterscheiden, wird bei der Streitfrage deutlich, wann Haftkapital als Surrogationskapital gilt und in welchem Bilanzposten es auszuweisen ist75. Es gibt Stimmen, die neben Haftungsmomenten (Verlustteilhabe, aber auch Nachrang, langfristige Begebung) fordern, das Kapital müsse auch gewinnorientiert sein76. Aus dem Blickwinkel unseres Ansatzes werden Topoi des Residual- mit solchen des Gläubigerschutzes irregulär vermengt: Zum einen würde Gläubigern der Haftkapitalcharakter, der ja allein durch das Eigenkapitalrisiko entsteht, erst dann mitgeteilt, wenn zudem die Vergütung gewinnorientiert ist (was für den Haftkapitalcharakter wirtschaftlich gesehen unwichtig ist). Die wahre ökonomische Haftkapitaldecke würde verfälscht abgebildet. Zum anderen erkennen die „Alt-“Residualgläubiger die Gefahren gewinnorientierter Entgelte nach dieser Literaturansicht nur, wenn es sich zugleich (zufällig) um haftendes Kapital handelt. Auch der Residualschutz wäre damit unvollständig. Der Ausweg liegt auf der Hand: Wer meint, der Jahresabschluss schütze auch den „Alt-“Gesellschafter, hat den bilanziellen Residualschutz in den Anhang zu verlagern77. Das alles nimmt aber nur wahr, wer die beiden Grundinhalte des »schuldrechtlichen Beteiligungskapitals« analytisch trennt. 2. Institutionenbildung und Gläubigerverhältnis Institutionelles Kernstück im Gläubigerverhältnis ist nicht der Schutz vor der Aufnahme einfachen Partizipationskapitals. Es geht – gleichsam spiegelbildlich zum Residualverhältnis – um die Grenzen der Eigenkapitalsurrogation durch qualifiziertes Haftkapital.

__________ 73 Siehe bereits die Nachweise zuvor. Für weitere Rechtsformen Bezzenberger/Keul in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band II, 2. Aufl. 2004, § 76 VII und VIII; Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 HGB Rz. 104 ff. 74 Allgemein zum Zweck des Jahresabschlusses Moxter in FS Goerdeler, 1987, S. 361 ff. 75 Dazu Claussen in FS Werner, 1984, S. 81, 87 f.; Überblick bei Kropff in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2004, § 272 HGB Rz. 136 ff. 76 Zu Nachweisen siehe Fn. zuvor. 77 Nach § 160 Abs. 3 Nr. 6 AktG sind Genussrechte und ähnliche Rechte mitteilungspflichtig.

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a) Paradigma: bankaufsichtsrechtliche Eigenkapitalsurrogate Surrogatkapitalia bei Banken sind ein praktisches Schwerfeld schuldrechtlichen Beteiligungskapitals78. Stille Teilhabe und Genussrechte werden unter gleichen Voraussetzungen als Eigenmittel anerkannt: bei voller Verlustteilhabe, Nachrangabrede und langfristiger, gebundener Begebung, § 10 Abs. 4, 5 KWG79. Die Hoffnung des flüchtigen Lesers auf rechtsformneutrale Stoffbehandlung wird erdrückend gedämpft, denn nur die stille Einlage kann als Kernkapital Eigenmittel erster Güte sein. Genussrechte und (partiarische) Nachrangkredite bleiben Ergänzungskapital, das in der anrechenbaren Höhe auf 100 % bzw. 50 % des Kernkapitals begrenzt ist80. Ein Ordnungssinn, der das Privileg für stille Einlagen oder die Zurücksetzung subordinierter Partizipationskredite erklärte, wird nirgends benannt oder gefordert. Das Gewordene wird nur mit Blick auf seinen geschichtlichen Wachstumsverlauf verständlich: An dem Privileg haben drei Kräfte gewirkt: Fehldeutungen des HGB, aktienpolitische Bedenken gegen den KWG-Genusschein und europäische Vorgaben. Erstens wurden stille Gesellschaften (anders als Genussrechte und subordinierte Kredite) bereits in der noch national geprägten Frühphase des KWG seit 1962 zu Eigenmitteln gerechnet. Das Privileg hat Tradition. In den Materialien bleiben Appelle an den „gemeinsamen Zweck“ und die angebliche Andersartigkeit stiller Gesellschaften, nicht aus81. Zudem heißt es noch, nur das Entgelt für stille Einlagen hänge zwingend davon ab, dass Gewinne erwirtschaftet werden82, aber man übersah, dass es durchaus auch stille Einlagen mit (erheblichem) Festzins und geringfügigem variablen Gewinnanteil geben kann83. Zweitens wurde die (überraschende) Einbeziehung der Genussrechte gegen Ende der 3. KWG-Novelle (1984)84 stark von der aktienpolitischen Diskussion um den „aktiengleichen“ Genusschein geprägt. Es ist an die Verhandlungen des 55. Deutschen Juristentags zu erinnern: Namentlich Reuter sah in diesem „aktiengleichen“ Instrument alles andere als eine glückliche Mehrung einer anregenden Formenwelt, bei der hinter jeder Gesetzesecke ein Steuerbonbon oder ein bilanzieller Vorteil wartet. Seine Mahnung, den „schmerzlichen Erkenntnisprozess“, der dem Institut der Vorzugsaktie vorausging, zu erinnern

__________ 78 § 10 KWG hat weit über die Spezialmaterie hinaus gewirkt, siehe zum Bilanzrecht unten II.1.b und 2.b.; ferner § 53c Abs. 3, 3a, c VAG. 79 Zu Detailunterschieden siehe Kokemoor in Beck/Samm, Stand 7/2008, § 10 KWG Rz. 227. 80 § 10 Abs. 2, 2a–c KWG. 81 Bericht der Studienkommission, „Grundsatzfragen der Kreditwirtschaft“, 1979, Rz. 1171 ff., insb. 1184: „echte gesellschaftsrechtliche Beteiligung“. 82 Wie zuvor. 83 Statt aller Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 HGB Rz. 38, 41. Schwer nachvollziehbar ist weiter die Annahme, Genussrechte würden wie Nachrangkredite a priori nicht am Verlust aus laufenden Geschäften teilnehmen, nachzulesen im Bericht der Studienkommission (Fn. 81), Rz. 1194, 1183 ff. 84 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 10. Wahlperiode 1984, Bd. 130, S. 8082 ff.; zur Geschichte des § 10 Abs. 5 KWG etwa Hammen, Zur bankaufsichtsrechtlichen Beurteilung von Genußrechtskapital, in Recht und Praxis der Genußrechte, 1987, S. 70 ff.; Überblick bei Möschel, ZHR 149 (1985), 206 ff.

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und die Schutzmechanismen der §§ 139 f. AktG nicht bei „aktiengleichen“ Genusscheinen preiszugeben, konnte das Wiederaufleben der „Genüsse“ nicht verhindern und sollte es nicht85. Auf die 3. KWG-Novelle hat aber der Streit, wie „aktiengleich“ solche Scheine seien dürften, abgefärbt und für den KWGGenusschein zu einem Kompromiss geführt: er wurde zugelassen, aber – als Konzession an die Limitierung von Vorzugsaktien in § 139 Abs. 2 AktG – der Höhe nach begrenzt. Es sollten wenigstens keine Anreize für ein Übermaß an einflusslosem Risikokapital gesetzt werden86. Die ungleichen Prozentsätze (25 % bei § 10 Abs. 5 KWG a. F. und 50 % bei § 139 AktG) erklären sich aus den Bezugsgrößen (zum einen Eigenkapital und Rücklagen; zum anderen Nennbetrag der Aktien). Drittens änderte sich der europäische Bezugsrahmen, der Weltmarkt wuchs schnell und stark zusammen; in der mit der 4. KWGNovelle einsetzenden und andauernden Phase mit ihren hektischen Gesetzesatmungen wurden dogmatische Bedenken, etwa gegen die Einbeziehung von Nachrangdarlehen, zurückgestellt. In mechanischen Angleichungsprozessen wurden die Schranken des Genussrechtskapitals technisch verändert, es wurden Verzugsaktien u. a. einbezogen. Die Grenzen wurden entsprechend erhöht. Hier wie insgesamt wurden die Gesetzesstrukturen des KWG verklärt87. Der geschichtliche Abriss zeigt, dass in § 10 Abs. 4 KWG „konkretes“, in Abs. 5 aber „abstraktes“ (Genussrechts-)kapital geregelt wurde. Diese heute ungewohnte Lesart führt auch zu einem kohärenten System der hybriden KWG-Eigenmittel88. Sie erklärt das Privileg des „konkreten“ Beteiligungskapitals aus dem Fehlen eines Spannungsverhältnisses zu § 139 Abs. 2 AktG89. Diese Norm soll die Aufnahme einflusslosen Risikokapitals am organisierten Markt begrenzen. Ihre Ordnungsaufgabe, den Kontrollmarkt zu schützen, stellt sich gerade nicht nur bei Vorzugsaktien90. Denn auch bei einem zu hohen An-

__________ 85 Die Umgehungsthese bezieht sich nur auf „aktiengleiche“ Titel, zu ihr grundlegend Reuter, Gutachten B zum 55. DJT, 1984, B 29; ders., AG 1985, 104; ders. in FS Stimpel, 1985, S. 645, 652 ff.; ders. in FS Fischer, 1979, S. 605, 617 ff.; offen gelassen in BGHZ 119, 305, 309; ferner Lutter (Fn. 65), § 221 AktG Rz. 224 ff.; Frantzen, Genußscheine, 1993, S. 173 ff. 86 Möschel, ZHR 149 (1985), 206, 225. 87 Milke, WM 2007, 52. 88 Wenn der Gesetzestext inzwischen unverbriefte Genussrechte erwähnt, sollte das nicht stören. Es gibt, wie in Fn. 48 dargelegt, das (noch) nicht verbriefte, aber abstrakte Genussrecht. Die Verbriefung ist die wertpapierrechtliche Ergänzung der schuldrechtlichen Abstraktion. Zudem: Keine systembildende Konstruktionsarbeit wird gelingen, wenn dogmenblinde Gesetzesänderungen stets buchstäblich verstanden würden. Die Ordnungslösung ist bindend, nicht aber (fehlerhafte) Dogmenvorstellungen. Methodisch hindert uns nichts daran, dem Nebeneinander von Genussrechten und Vorzugsaktien in Abs. 5 einen Sinn zu „geben“. 89 Das Privileg ist rechtspolitisch zweifelhaft. Nach der Baseler Übereinkunft werden nur 15 % innovativer Finanzinstrumente als Kernkapital anerkannt; darunter fallen auch stille Einlagen. Für Altfälle gibt es einen Bestandsschutz, Nachweise bei Reischauer/Kleinhaus (Fn. 37), § 10 Rn. 59. 90 Fuchs (Fn. 58), § 5 D. I. 4. a.

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teil von „abstraktem“ Genussrechtskapital würde der Vorstand durch unverhältnismäßig wenige Risikoträger, d. h. nur die Aktionäre, überwacht; feindliche Übernahmen würden durch vergleichsweise geringe Finanzmittel möglich, könnten aber umgekehrt auch durch „geparkte“ (von Managern gehaltene) Blockadepositionen erschwert werden, um nur einige Beispiele schädlicher Kontrollstörungen anzugeben91. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Regel in § 10 Abs. 5 i. V. m. Abs. 2b Nr. 2, 4 KWG also als ein auf Anreizen beruhendes Schutzinstrument vor einem Übermaß an „abstraktem“ Risikokapital. Der Schutz vor einem Übermaß an „konkretem“ Kapital wird dann, und insofern schließt sich ein weiterer systemformender Kreis, (neben dem Konzernrecht) durch die allgemeine Beschränkung der aufsichtspflichtigen Bankgeschäfte auf nicht fungible Finanztitel erreicht92. Warum wurde diese schlichte Lesart bislang nicht erwogen? Zum einen wurde die Lösung nicht gesehen, weil einmal mehr die Grundebenen vermengt wurden. Schon die Ausgangsfrage: »können KWG-Genussrechte individuell oder nur massenweise begeben werden?« wurde falsch gestellt93. Als die ersten Genussrechtsverträge mit nur einem Abnehmer aufkamen, sahen Richter oder Wissenschaftlicher weder den Bezug zu § 139 Abs. 2 AktG noch die Besonderheiten „abstrakter“ Teilhabe94. Vor diesem Hintergrund hätte die Frage lauten müssen: »Wenn man den individuellen Genussrechtsvertrag anerkennt (und nicht mit stillen Gesellschaften oder Darlehen gleichsetzt), passt dann der auf Finanztitel zugeschnittene § 10 Abs. 5 KWG noch oder ist der eindeutig für „konkrete“ Verträge konzipierte § 10 Abs. 4 KWG entsprechend anzuwenden?« Man meinte offenbar, und das mag für den Handelsrechtler geradezu unverständlich bleiben, es bedürfe eines Auffangtatbestandes, dessen Rolle § 10 Abs. 5 KWG übernehmen sollte95: Falsch bezeichnete „stille Gesellschaften“, welche die Begriffserfordernisse des HGB verfehlen, werden als „Genussrecht“ oder „Nachrangdarlehen“ aufgefangen96. Eines solchen Umbaus des § 10

__________ 91 Zur institutionellen Bedeutung des § 139 Abs. 2 AktG z. B. Thielemann, Das Genußrecht als Mittel der Kapitalbeschaffung und der Anlegerschutz, 1988, S. 105 f.; Fuchs (Fn. 58), § 5 D II 4. 92 Dazu v. Randow in Baums/Cahn (Fn. 52), S. 45. 93 Sethe, AG 1993, 309; sehr deutlich bei Eyber (Fn. 36), S. 100 ff. Die Spannungslage zu § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG wurde dabei meist gar nicht gesehen, siehe etwa Angerer, Genussrechte (…), S. 45 und geradezu apodiktisch BGHZ 120, 141, 143 ff. (Bremer Bankverein). 94 Nachweise wie zuvor. 95 Ein Grund mag eine gewisse Schwerfälligkeit der Analogienbildung im öffentlichen Recht sein, die aber an dieser Stelle unangebracht ist, weil die Analogie dem Betroffenen günstig ist. Sie führt zur Einordnung als Kernkapital nach § 10 Abs. 4 KWG analog. 96 Dass die Rechtsfolge einmal mehr oft am Etikett hängt und die bisweilen sinnverkehrenden „Inconsequenzen“ stören bis heute niemanden: Denn in welchen Bezug lässt sich der HGB-Begriff der stillen Gesellschaft, der die Trennlinie formen soll, mit dem erstrebten Gläubigerschutz eigentlich setzen?

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Abs. 5 KWG zu einem Auffangtatbestand bedarf es sicher nicht. Nehmen wir das Hauptbeispiel der stillen Teilhabe an Genossenschaften: Ob diese unter § 230 HGB fällt, ist nicht ganz geklärt97. Im Handelsrecht aber werden seit jeher die §§ 230 ff. HGB analog angewendet, wo die auf den engen Kaufmannsbegriff abstellenden Begriffsanforderungen nicht erfüllt sind. Auch diese Lösung durch schlichte Analogiebildung zu § 10 Abs. 4 KWG für solche Zweifelsfälle wurde ganz einfach übersehen98. Sie wird nunmehr zu Diskussion gestellt. b) Weitere Beispiele Wenn in anderen Fällen Schuldrechtskapital Eigenkapital ersetzen soll, etwa im Versicherungswesen99 oder beim bilanziellen Ausweis im Jahresabschluss, kommt stets nur qualifiziertes Haftkapital in Betracht. Im Handelsbilanzrecht wird weiter um Detailfragen gerungen, etwa den richtigen Bilanzposten oder das Ausmaß notweniger Haftungspartikel100. Im Großen zeigt sich eine Tendenz zur Unmaßgeblichkeit der Formenwahl, im nationalen Bilanzrecht und noch mehr in den Standards internationaler Rechnungslegung101. Es wurde weiter bereits erwähnt, dass die Aufnahme einfachen Partizipationskapitals aus Gläubigersicht nur ein Hinzutritt von Konkurrenten ist, der keine Ausdehnung der institutionellen Schutzsysteme rechtfertigt. Die Annahme wird genügend durch die Jahrzehnte langen Arbeiten am Finanzverfassungsrecht der stillen Gesellschaft belegt: Erhöhter Gläubigerschutz durch Institute des Eigenkapitalersatzes oder „materiellen Eigenkapitals“ ist weder

__________ 97 Siehe Fn. 37. 98 Das rein „gewinnabhängige“ konkrete Genussrecht mit bloßem Festzins wie beim „Bremer Bankverein“, BGHZ 120, 141, siehe oben Fn. 45, wird heute nicht ohne Widerstand als „Genussrecht“ nach § 10 Abs. 5 KWG angesehen. Es aber mit stillen Einlagen auf eine Stufe zu stellen, ist eine folgerichtige Forderung: Alle positiven Surrogationsbedingungen werden in gleicher Weise erfüllt. Das gewinnorientierte Moment kann dort, wo es um Gläubigerschutz geht, keinen Unterschied stützen. Und Eigenkapitalstrukturen der Bank bezwecken eben Sparerschutz, der mit stabilitätsicherndem Vertrauen in das Bankensystem erwidert werden soll. 99 § 53c Abs. 3, 3a, c VAG. 100 Der Streit, an welcher Stelle dieser Ausweis den sichersten Einblick gewährt, ob als Sonderposten des Eigenkapitals in der Gruppe A des § 266 Abs. 1 oder im Zwischenbereich, zeitigt keine weiteren Rechtsfolgen, dazu mit einem Überblick über das Schrifttum etwa Kropff (Fn. 75), § 272 HGB Rz. 136 ff. 101 So werden stille Beteiligungen und Genussrechte handelsbilanziell weitgehend gleich behandelt, siehe die Nachweise in der Fn. zuvor. Die Standards internationaler Rechnungslegung ebnen die (nationalrechtlichen) Unterschiede schuldrechtlichen Beteiligungskapitals noch weiter ein: substance over form. Denn nach IAS 32 15 ff. ist es schon dann als Fremdkapital zu bilanzieren, wenn es – wie in der Praxis regelmäßig – nicht „unabdingbar“ also dauerhaft begeben wird, dazu Küting/ Erdmann, BB 2008, 941 ff. und 997 ff.; Kuhn/Scharpf, Rechnungslegung von Financial Instruments nach IFRS, 3. Aufl. 2006, Rz. 3665 ff.

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bei der stillen Teilhabe mit gesetzlichem Normalstatut noch bei anderen Formen einfacher schuldrechtlicher Gewinnteilhabe geboten102. 3. Institutionenbildung und Beteiligtenverhältnis Wir haben gesehen, wie die „Alt-“Gesellschafter vor jeder Aufnahme gewinnorientierten Partizipationskapitals und die Gläubiger vor dem Abschmelzen der wirtschaftlichen Eigenkapitaldecke durch qualifizierte Anforderungen an schuldrechtliche Eigenkapitalsurrogate geschützt werden. Für das Beteiligtenverhältnis zwischen Unternehmensträger und Teilhaber gilt es, auf willkürliche Rechtsformenunterschiede zu achten und die Grundebenen nicht zu vermengen: a) Paradigma: Grundstrukturen des Anlegerschutzes Diese Leitlinien für das Beteiligtenverhältnis lassen sich anhand von Grundstrukturen und -gedanken des Anlegerschutzes nachzeichnen. Alle schuldrechtlich Beteiligten übernehmen besondere Anlegerrisiken: sie werden durch ineffizientes Wirtschaften direkt benachteiligt; Entgelt oder Rückzahlungsanspruch können leicht fehlerhaft ermittelt, manipuliert oder durch unvorteilhafte Bilanzierungspolitik geschmälert werden; die Investitionsgrundlage kann sich ändern und dies kann die Aussichten trüben oder den wirtschaftlichen Beteiligungsgehalt schmälern. Konzeptionell ist der Schutz vor allem in Inhaltskontrolle und Nebenpflichten eingebunden. Der Anlegerschutz durch Inhaltskontrolle nach AGB-Recht verläuft für „konkretes“ Kapital in den bekannten Bahnen103, aber bei „abstrakten“ Kapitaltiteln belegen die Reformbewegungen im Anleiherecht besonders deutlich, wie andersartig das Ordnungsumfeld ist. Dass schon eine Einbeziehenskontrolle den Bedürfnissen des Kapitalmarktes gröblich widerspricht, wurde oben betont104; aber auch die Inhaltskontrolle hat zu Unsicherheiten im Markt geführt, welche geradezu einen Hauptgrund für die Reform des Anleiherechts bilden105. Das stark andersartige Ordnungsumfeld erzwingt andersartige Regelungen – das gilt im ganzen Rechtskreis „abstrakter“ Kapitalhingabe.

__________ 102 Irgendwelche „atypischen“ Einzelrechte rechtfertigen es bei keiner schulrechtlichen Beteiligungsform, auf Sicherung zielende Covenants oder Equity-Kicker der Anleger zu haftungsschädlichen Mitunternehmerschaften zu hypertrophieren. Den Einfluss der Steuerrechtsdogmatik hier zurückzudrängen, gehört zur Arbeit an den „virtuellen (stillen) Rechtsträgern“. Eingehend zu dem komplexen Thema der Verf. (Fn. 26), S. 139 ff. 103 Bei stillen Gesellschaften gibt es allerdings wieder gesellschaftsrechtliche Überladungen, soweit viele meinen, an der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 BGB festhalten zu müssen. Der BGH zweifelt an dem Ergebnis, fühlt sich aber an die gesellschaftsrechtliche Einkleidung – zu Unrecht, wie wir jetzt wissen – gebunden, zu allem Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 HGB Rz. 124 ff. 104 Oben Fn. 51. 105 RefE eines Schuldverschreibungsgesetzes vom 9. Mai 2008, abgedruckt in ZBB 2008, 200 ff.

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Beim Anlegerschutz durch Nebenpflichten fallen scharfe Antinomien bereits bei der Frage eines Mindestschutzes auf: aa) Der Mindeststandard: redlicher Vertragsvollzug Bisweilen scheint das reichsgerichtliche Apodikt noch in Kraft zu sein, nach dem es weder Genussrechtsinhaber noch partiarische Kreditgeber etwas angehe, wie, in welcher Höhe und ob Gewinn erwirtschaftet werde106. Bisweilen, und zwar bei „aktiengleichen“ Genusscheinen, hat der BGH im KlöcknerUrteil den Emittenten wenigstens zur Einhaltung „äußerster Grenzen seriöser Unternehmensführung“ bestimmt107. Aber was für „obligationsgleiche Genüsse“, stille Teilhabe oder Wandel- oder Optionstitel gilt, ist so wenig geklärt, wie die Berechtigung eines weitergehenden Schutzes bei allen Rechtsformen108. Allen schuldrechtlichen Teilhabern sollte ein Mindestanspruch auf „redlichen Geschäftsvollzug“ und Beachtung angemessener Seriositätsschwellen zuerkannt werden. Der Regelungsbedarf folgt aus dem Fehlen verbandsrechtlicher Einflussmacht109. Kein Schuldrechtsteilhaber kann in die Verbandsorganisation einbezogen werden110; Stimm- oder Anfechtungsrechte sichern ihre Vermögensansprüche nicht und das ist bei der stillen Teilhabe an der Aktiengesellschaft eben nicht anders als bei einem Partizipationskredit, der von einer KG aufgenommen wird. Der Teilhaber mag also nur hoffen, dass kampfbereite Minderheiten erfolgreich gegen unseriöse Maßnahmen vorgehen – ein mittelbarer Schutz, den man sich nicht zu groß vorstellen darf: die Geschäftsleiterhaftung ist totes Recht geblieben; an der Kampfbereitschaft kann es fehlen; die Gesellschafterinteressen können nach Lage des Falls mit denen schuldrechtlicher Teilhaber auch gegenläufig sein111. Umgekehrt wird nirgends das unternehmerische Ermessen beeinträchtigt, da jede ordentliche Geschäftsleitung diese Mindestseriositätsschwelle ohnehin einzuhalten hat.

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106 RGZ 105, 236, 240 f. (Genussrecht); sehr weitgehend OLG Colmar, LZ 1912, Sp. 861 (partiarisches Darlehen); in diesem Sinne Wieland, Handelsrecht, Band I 1921, § 37 IV, S. 470: „Der partiarisch beteiligte Darleiher steht einem untätigen Geschäftsherrn wehrlos gegenüber“. 107 BGHZ 119, 305, 329 ff. in der Sicht von Lutter, ZGR 1993, 291, 300. 108 Die Genussrechtsdiskussion hat die Paralleldebatte bei stillen Gesellschaften kaum inspiriert: Man liest weiter von den überkommenen Topoi, der Inhaber unterliege einer Treupflicht und habe sein Handeln am Interesse der Gesellschaft (?) auszurichten. Statt aller Blaurock, Handbuch der stillen Gesellschaft, 6. Aufl. 2003, § 12 Rz. 12.4 ff. Geklärt ist, dass der Inhaber den Unternehmensgegenstand nicht verlassen darf; RGZ 92, 292, 294; BGH, WM 1987, 1193, 1194. Zu den anderen Fragestellungen finden sich Überblicke zum Meinungsstand bei Lutter (Fn. 65), § 221 AktG Rz. 354 ff. und Habersack (Fn. 11), § 221 AktG Rz. 272 ff. 109 Statt aller BGHZ 119, 305, 329 ff. 110 Zur Streitfrage, ob Außenstehenden originäre Verbandsrechte eingeräumt werden können, aus der umfangreichen Literatur etwa Christoph Weber, Privatautonomie und Außeneinfluss im Gesellschaftsrecht, 2000, passim; Semrau, Die Dritteinflussnahme auf die Geschäftsführung der GmbH und Personengesellschaften, 2001, passim. 111 Siehe Fn. 42.

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Schuldrechtliches Beteiligungskapital

Dieser Mindestschutz gilt auch für die Ausschüttungs- und Bilanzierungspolitik. Auf Schuldnerseite verbleiben hier gewiss Spielräume: weder kann der Optionsgläubiger eine Vollthesaurierung erzwingen noch der schlicht Gewinnbeteiligte die Rücklagenbildung verhindern; aber die Entgelte und Rückzahlungsansprüche müssen fehlerfrei und ohne missbräuchliche Ziele errechnet werden112. Wir sehen an dieser Stelle auch, dass es berechtigt ist, jede Form erfolgsorientierter Teilhabe in den Begriff „Beteiligungskapital“ einzubinden, denn die Schutzaufgabe entsteht unmittelbar aus jeder erfolgsabhängigen Variabilität des Vermögensrechts; die Berechnungsgefahren sind rechtsformunabhängig und drohen bei „gewinnabhängigen“ Darlehen oder „aktiengleicher“ Vermögensteilhabe gleichermaßen. bb) Wegfall der Investitionsgrundlage Geschäftsinhaber oder Emittenten können den Gegenstand des Unternehmens wechseln, die Kapitalstruktur verändern oder auch eine Konzerneinbindung bewirken oder auflösen. Stets können die schuldrechtlichen Vermögensrechte verdünnt werden; die ganze Investitionsgrundlage des mittelbaren Teilhabers kann wegfallen. Bei diesen Kernproblemen des Anlegerschutzes ist die Formenwahl noch bestimmender. Die scharfe Antinomie bei den Schutzkonzepten folgt aus der Annahme, nur der Stille sei durch ein Vetorecht gesichert113; alle anderen schuldrechtlichen Teilhaber werden auf einen aus § 23 UmwG, § 216 Abs. 1 AktG, § 57m Abs. 3 GmbHG entwickelten, auf Anpassung gerichteten Schutz verwiesen. Dabei setzen sich bei der Verschmelzung, um ein Beispiel zu wählen, alle schuldrechtlichen Beteiligungsverhältnisse am übernehmenden Rechtsträger gleichermaßen fort114. Hier nur den stillen Teilhabern eine Blockadeposition einzugestehen, welche die dem Mehrheitsprinzip unterworfenen Anteilseigner auch nicht haben, ist letztlich wieder nur auf die Anima-Lehre zurückzuführen. Warum nur die Verhandlungsmacht des Stillen in Bezug auf die Beteiligungsrechte derart gestärkt wird, leuchtet nicht ein. Bei Publikumsbeteiligungen könnten stille Kleinstteilhaber Strukturmaßnahmen vereiteln oder nach dem Vorbild aktienrechtlicher „Berufskläger“ Gesellschaften aller Rechtsformen geradezu erpressen. Dass diese ungerechtfertigte Dissonanz „längst empfunden und gefühlt wird“ sieht man daran, wie oft es ablehnt wird, dass diese Vetomacht im einstweiligen Verfahren erzwungen werden kann; dann bereitet sie nur Sekundäransprüche vor; nach anderen soll die Treupflicht einem Veto entgegenstehen115. Wer mit dem gesetzgeberi-

__________ 112 Überblick zu dem Problemkreis bei Lutter (Fn. 65), § 221 AktG Rz. 354 ff. und Habersack (Fn. 11), § 221 AktG Rz. 272 ff. Eingehend Fuchs (Fn. 58), § 16. 113 In Rede steht nicht ein Interventionsrecht beim Registerrichter, sondern ein durch einstweilige Verfügung erzwingbarer Unterlassungsanspruch, hierzu Martin Winter in FS Pelzer, 2001, S. 645, 655 f. 114 Siehe etwa Kübler in Semler/Stengel, 2. Aufl. 2007, § 20 UmwG Rz. 12 ff. 115 Zum Fragenkreis etwa Martin Winter (Fn. 113), S. 645, 647 ff. und Schön, ZGR 1993, 210, 228 f., dieser auch zu weiteren Einschränkungen.

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schen Anliegen, die Verschmelzung nicht über Gebühr zu erschweren116, ernst macht, sollte – in guter Gesellschaft mit dem Jubilar – den schuldrechtlichen Teilhaben die Vetomacht schlicht absprechen117 und damit den Weg zu rechtsformunabhängigen Grundsätzen des Anlegerschutzes, vor allem den der Konsistenz des wirtschaftlichen Wertes ebnen118. Dividenden- oder kapitalbezogene Ansprüche werden durch Umwandlungen oder Kapitalmaßnahmen unmittelbar verändert. Dass sich der Emittent aber seiner Pflichten nicht entziehen kann, ist Regelungsgegenstand der § 23 UmwG, § 216 Abs. 1 AktG, § 57m Abs. 3 GmbHG. Das ist nicht singuläres Stückwerk für einzelne Beteiligungsformen, sondern Ausdruck eines rechtsformübergreifenden Prinzips: der Emittent darf den wirtschaftlichen Wert nicht einseitig ändern119. b) Weitere Beispiele Für das Beteiligungsverhältnis darf die Leitbildfunktion der §§ 230 ff. HGB nicht überspannt werden. Die Normen sind auf „konkretes“ Kapital zugeschnitten. Die Lösungsregeln, etwa das Kündigungsrecht der Privatgläubiger nach § 234 Abs. 1 S. 1 HGB i. V. m. § 135 HGB, passen für Finanzmarktprodukte ersichtlich gar nicht120. Selbst das Kontrollrecht des § 233 Abs. 1 HGB lässt sich nicht schematisch in allen schuldrechtlichen Beteiligungssachverhalten anwenden. Risikokapitalgeber bedürfen der Kontrolle. Gewiss ist die in § 233 Abs. 1 HGB gefasste Pflicht, den Jahresabschluss mitzuteilen, eine karge Untergrenze, welche die Praxis längst auch für Beteiligungskredite im Analogiewege oder über § 810 BGB anerkannt hat121; aber für kapitalmarktgängige Titel ist das Einsichtsrecht zu mediatisieren122. Anders liegt es wiederum beim Kontrollrecht aus wichtigem Grund in § 233 Abs. 3 HGB, das man als frühen Vor-

__________ 116 Zu dem Anliegen etwa Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 61 m. N. Damit würde der Vorrang der Umstrukturierungsfreiheit vor den Interessen der externen Kapitalgeber, der dem UmwG immanent ist, wieder hergestellt. Zu diesem Vorrang allgemein Rieble, ZIP 1997, 301, 304. 117 Anderes gilt erst für (stille) Verbände, vgl. Karsten Schmidt (Fn. 4), § 234 HGB Rz. 25 (für die „Innen-KG“). 118 Auch beim Weiteren, also der Bestimmung der pflichtwidrigen, aber noch seriösen Interessenverletzung, die hier nicht geleistet werden kann, sollte die Maßgeblichkeit der Formenwahl durchbrochen werden. 119 Wenn dieser von der Formenwahl unabhängige Mindestschutz in der Literatur bisweilen geleugnet wird, finden wir als Begründung stets nur den Verweis auf die pseudo-psychologischen Worthülsen der Anima-Lehre. Es stimmt nachdenklich, wenn dies selbst in Habilitationen zum Thema nicht anders ist, vgl. Petersen, Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001, S. 254, bereits zitiert in Fn. 23. 120 Siehe nur Schön, JZ 1993, 925, 930. 121 OLG Dresden, DJZ 1908, Sp. 370; zu weiteren Nachweisen Ulmer in MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2005, vor § 705 BGB Rz. 84. 122 Siehe nur Schön, JZ 1993, 925, 929 f. Das gilt zwar auch für die stille Publikumsfinanzierung, aber bei dieser sind die stillen Teilhaber als Vertragspartner bekannt und die Mediatisierung kann deswegen technisch anders verlaufen, als es bei Kapitalmarktinstrumenten notwendig ist, vgl. zur Mediatisierung eingehend Schlitt, Die Informationsrechte des stillen Gesellschafters in der typischen und der atypischen stillen Publikumsgesellschaft, 1996, passim.

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läufer des allgemeinen Informationsrechts verstehen kann. Da im Zivilrecht Auskunft verlangen kann, wer andernfalls zu einem Schadensersatzprozess oder zur Kündigung „auf Verdacht“ gezwungen wäre123, steht diese Kontrolle auch dem „abstrakt“ Beteiligten zu, soweit er solche Rechte glaubhaft machen kann. Es ist zuletzt daran zu erinnern, dass echtes Verbandsrecht auf schuldrechtliche Beteiligungsverhältnisse nicht anzuwenden ist. Sie genießen etwa keinen verbandsrechtlichen Bestandsschutz (nach sog. „Lehre der fehlerhaften Gesellschaft“). Die Abwicklung nach Kondiktionsrecht wird nicht wie bei Verbänden gestört; fehlerhafte Entgeltabreden hindern die Abwicklung so wenig wie bei anderen Schuldrechtsverträgen; bei „abstrakten“ Titeln genügt der wertpapierrechtliche Vertrauensschutz124.

__________ 123 Ständige Rspr. seit RGZ 108, 1; siehe z. B. RG, JW 1927, 1575; RGZ 158, 377; BGHZ 10, 385; BGHZ 14, 53. Dass es sich um einen allgemeinen Informationsanspruch handelt, ist oft geleugnet worden. Richtig bereits Stürner, Die Aufklärungspflichten der Parteien im Zivilprozess, 1976, S. 322 f.; in Praxiskommentaren ist immerhin vom „allgemeinen Auskunftsanspruch aus § 242 BGB“ zu lesen, vgl. Sprau in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 666 BGB Rz. 1. 124 Das gilt auch für „atypische“ Konstellationen: Vermögens- oder Verwaltungsrechte beruhen auf nichtigen Vertragsabreden, die einen Bestandsschutz bei stillen Gesellschaften so wenig erfahren wie entsprechende Abreden beim Kredit oder Genussrecht. Anderes gilt erst für „stille Verbände“, vgl. Karsten Schmidt (Fn. 4), § 230 HGB Rz. 133 f. Eingehend der Verf. (Fn. 26), S. 78 ff.

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Rangfolge und Rangsicherung unter Befriedigung suchenden konkurrierenden Anfechtungsgläubigern Inhaltsübersicht I. Einleitung und Standortbestimmung: Das Anfechtungsrecht als mit Priorität ausgestattetes Befriedigungsrecht aus entzogenem Vermögen 1. Zum Thema 2. Standortbestimmung zur Struktur und Wirkungsweise der Gläubigeranfechtung II. Der Wettstreit mehrerer Anfechtungsgläubiger um Befriedigung aus dem Anfechtungsgut 1. Die Geltung des Prioritätsprinzips 2. Die klare Auskunft der Motive zum AnfG zum Problem der „Anfechtung mehrerer Gläubiger“ 3. Die Rechtslage vor sicherungsoder vollstreckungsrechtlicher Durchsetzung des Anfechtungsrechts 4. Seitenblick auf das österreichische Recht 5. Das Verhältnis der konkurrierenden Anfechtungsgläubiger zueinander 6. Konkurrierende Anfechtungsansprüche in der Insolvenz – „Rang“-Streit unter Insolvenzverwaltern verschiedener Insolvenzmassen a) Die Ausgangslage im Regelinsolvenzverfahren b) Im Insolvenzplan vorgesehene Fortführung der Anfechtung c) Anfechtungsbefugnis „jedes Insolvenzgläubigers“ im Vereinfachten Verfahren d) „Rang“-Streit unter Insolvenzverwaltern verschiedener Insolvenzmassen

e) Abgrenzung des konkreten Rangstreits der Insolvenzverwalter vom typischen Rangwettbewerb unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern 7. Keine Rechtsnachfolge durch Befriedigung des Anfechtungsgläubigers 8. Kein Befriedigungsvorrang durch Klageerhebung oder Verurteilung a) Der „Anfechtungsvermerk“ als bloßer „Rechtshängigkeitsvermerk“ b) Die Wirkung der „Anmerkung der Anfechtungsklage“ nach österreichischem Recht III. Rangsicherung durch ein im Wege einer einstweiligen Verfügung erwirktes Verfügungsverbot? 1. Kritik an der Prämisse des BGH der Sicherbarkeit des Anfechtungsanspruchs durch einstweilige Verfügung – Übersehen der Sicherung durch Arrest 2. Die einstweilige Verfügung als Sicherungsmittel gegen Weiterverfügungen des Erwerbers 3. Das Versagen der einstweiligen Verfügung als Mittel der Rangsicherung unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern nach früher herrschender Meinung 4. Kein Verbot gegen Dritte 5. Wesen und Wirkungsweise des „Verfügungsverbots“ 6. Zum Anwendungsbereich des § 938 Abs. 2 ZPO 7. Die Gleichstellung der „Verfügungen im Wege der Zwangsvollstreckung“ 8. Die Verfehlung der eigentlichen Problematik konkurrierender Anfechtungsansprüche

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Hans Friedhelm Gaul IV. Dingliche Rangsicherung des Anfechtungsanspruchs durch den Arrest (§§ 930, 932 ZPO) 1. Die Hinwendung zum maßgebenden dinglichen Arrest

2. Die Rangsicherung insbesondere durch Eintragung der Arresthypothek gemäß § 932 ZPO 3. Schluss

I. Einleitung und Standortbestimmung: Das Anfechtungsrecht als mit Priorität ausgestattetes Befriedigungsrecht aus entzogenem Vermögen 1. Zum Thema Führt eine benachteiligende Rechtshandlung des Schuldners außerhalb des Insolvenzverfahrens zur mehrfachen Gläubigeranfechtung und damit zum Wettstreit im Zugriff auf das Anfechtungsgut, so ist seit jeher streitig, wie der Konflikt unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern zu entscheiden ist. Aktuelle Bedeutung hat die Streitfrage dadurch erlangt, dass sie jüngst erstmals dem BGH zur Entscheidung vorlag. Ausgehend von der herkömmlichen Ansicht, dass der Duldungsanspruch des Anfechtungsgläubigers in Bezug auf eine weggegebenes Grundstück durch ein im Wege der einstweiligen Verfügung eingetragenes richterliches Verfügungsverbot sicherbar sei, hält der IX. Zivilsenat des BGH im Urteil vom 14.6.20071 unter den Anfechtungsgläubigern das später erwirkte Verbot gegenüber dem durch das frühere Verbot geschützten Gläubiger für relativ unwirksam, entscheidet also das Verhältnis der jeweiligen Verfügungsverbote zueinander nach Maßgabe der Priorität. 2. Standortbestimmung zur Struktur und Wirkungsweise der Gläubigeranfechtung Mit diesem Thema sucht der Verfasser das Interesse des Jubilars anzusprechen, umfasst doch die schier unermessliche Spannweite der juristischen Arbeitsfelder, auf welche sich der Ideenreichtum und die wissenschaftliche Energie Karsten Schmidts erstreckt, neben dem Insolvenzrecht ebenso das Zwangsvollstreckungsrecht2. So haben speziell seine Beiträge zur Gläubiger- und Insolvenzanfechtung3 wesentlich dazu beigetragen, dass der IX. Zivilsenat des

__________ 1 BGHZ 172, 360 ff. = NJW 2008, 376 ff. – S. zuletzt ferner BGH (IX. Zivilsenat) v. 16.11.2007, NJW 2008, 655 ff. = NZI 2008, 163 ff. (dazu krit. Michael Huber, NZI 2008, 149 ff.) zur Parallelproblematik des „Rang“-Streits unter Insolvenzverwaltern verschiedener Insolvenzmassen, dazu unten II. 6 d und e (zu Fn. 54–65). 2 Hingewiesen sei nur auf Karsten Schmidt in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2007, §§ 766–793; Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze KO/VglO/GesO, 17. Aufl. 1997. 3 Karsten Schmidt, Konkursanfechtung und Drittwiderspruchsklage – Zugleich eine Kritik des BGH-Urteils vom 11.1.1990, JZ 1990, 619 ff.; zuvor schon Karsten Schmidt, Zwangsvollstreckung in anfechtbar veräußerte Gegenstände, JZ 1987, 889 ff.

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Rangfolge und Rangsicherung unter Anfechtungsgläubigern

BGH in seinem Urteil vom 23.10.20034 von seinem zwischenzeitlichen Standpunkt im Urteil vom 11.1.19905 wieder abgerückt ist, der Anfechtungsanspruch sei „gleich dem Anspruch des Käufers“ nichts weiter als ein „schuldrechtlicher Verschaffungsanspruch“ ohne Interventions- oder Aussonderungskraft. Damit hat der BGH zuletzt wieder zutreffend auf Grund der den Anfechtungsnormen zugrunde liegenden „Wertungen“ zu dem schon vom Reichsgericht 1897 auf „schuldrechtlicher“ Basis gewonnenen Judiz zurückgefunden, formuliert in dem von ursprünglicher Rechtsüberzeugung geprägten Satz: „Dass die Widerspruchsklage aus § 690 CPO (§ 771 ZPO) auch auf Anfechtung aus der Konkursordnung und dem Anfechtungsgesetz gestützt werden kann, ist nicht zu bezweifeln“6. In der Tat sind es – und darin weiß sich der Verfasser mit Karsten Schmidt einig – die sachlich gebotenen „haftungsrechtlichen Wertungen“, die sich aus den §§ 3 ff. AnfG und §§ 130 ff. InsO ergeben, welche es ausschließen, den Anfechtungsanspruch einem kaufrechtlichen Verschaffungsanspruch gleichzustellen. Vielmehr ist der anfechtungsrechtliche Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung bzw. auf Rückführung des Anfechtungsguts zur Insolvenzmasse Ausdruck der durch ihn eröffneten Haftungserweiterung wegen Verkürzung des Zugriffsvermögens. Deshalb genießt der Anfechtungsgläubiger im Verhältnis zu den Eigengläubigern des Anfechtungsgegners „Haftungspriorität“7. Wie das RG schon früh erkannt hat und so auch zunehmend in der Lehre8 gesehen wird, handelt es sich auch insoweit letztlich um ein Problem der Gläubigerkonkurrenz: „Mit der Anfechtungsklage bezweckt hier der Verwalter, der Konkursmasse die gepfändeten Sachen zu erhalten und deren Veräuße-

__________ 4 BGHZ 156, 350, 359 ff. = NJW 2004, 214, 216 betr. Anfechtung des Bezugsrechts aus Lebensversicherung; zur Bedeutung dieser Entscheidung für das Verständnis des Anfechtungsrechts s. zuletzt näher Gaul, KTS 2007, 133, 148 ff., 153. 5 BGH, NJW 1990, 990, 992 = JZ 1990, 654, 655 f. und dazu krit. Karsten Schmidt, JZ 1990, 619 ff.; obiter bestätigend BGHZ 135, 140, 147 f. = NJW 1997, 1857, 1858 f. und dazu krit. Häsemeyer, ZZP 111 (1998), S. 83, 86. 6 RGZ 40, 371, 372 und zur Bedeutung dieses Urteils für die herkömmliche Rechtsüberzeugung Gaul, Dogmatische Grundlagen und praktische Bedeutung der Drittwiderspruchsklage, in 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. III, 2000, S. 521, 562. 7 S. dazu näher Gaul, BGH-Festgabe (Fn. 6), S. 521, 561 ff. m. w. N.; auch schon Gaul in Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 35 VI 3 b (S. 565 f.) und § 41 VI 8 (S. 680 f.); M. Huber, AnfG, 10. Aufl. 2006, Einf. Rz. 26 und § 13 Rz. 4; soweit zuletzt noch entgegen der neuen BGH-Judikatur die „Haftungspriorität“ des Anfechtungsanspruchs selbst von Anhängern der „haftungsrechtlichen Theorie“ geleugnet wird, so Eckardt, Anfechtung und Aussonderung, KTS 2005, 15, 20 ff. sowie Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 21.16 (S. 543 f.) – anders jedoch Häsemeyer, ZZP 111 (1998), 83, 86 (!) –, ist dem nicht zu folgen; s. dazu zuletzt noch näher Gaul, KTS 2007, 133, 148 ff., 150, 151 ff. 8 So W. Gerhardt, Die systematische Einordnung der Gläubigeranfechtung, 1969, S. 333 ff., 336 ff. („Haftungspriorität im Verhältnis des Anfechtungsrechts zu den Rechten der Gläubiger des Anfechtungsgegners“); A. Blomeyer, Zivilprozessrecht, Vollstreckungsverfahren, 1975, § 29 VI 4 b („Bewertung des Konflikts zwischen Vollstreckungs- und Anfechtungsgläubiger“); Gaul, BGH-Festgabe (Fn. 6), S. 521, 562, 564 m. w. N.

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rung zur Befriedigung des pfändenden Gläubigers zu verhindern …“9. Und zu derselben Bewertung der „Interessenlage der Beteiligten“ gelangt zuletzt der IX. Zivilsenat des BGH: „Es wäre nicht einzusehen, warum die Gläubiger des insolvent gewordenen Anfechtungsgegners von Rechtshandlungen sollten profitieren können, die – im Hinblick auf die beiderseitige Insolvenz – als ungerechtfertigte Vermehrung der Vermögensmasse des Empfängers erscheinen“10. Die neuerliche Wende hin zu einer am Anfechtungsgut begründeten „Haftungspriorität“ zugunsten des Anfechtungsgläubigers bahnte sich jedoch im Grunde bereits im Urteil des IX. Zivilsenats des BGH vom 13.7.199511 an, in dem er schon infolge „richtig verstandener schuldrechtlicher Theorie“ zu einem „Anspruch auf Einräumung eines Vorrangs“ gelangte. In der Einzelzwangsvollstreckung wird der gemäß § 11 Abs. 1 AnfG beanspruchte Vorrang dem Anfechtungsgläubiger im Wege der Klage auf vorzugsweise Befriedigung gemäß § 805 ZPO aus dem Erlös des Anfechtungsguts zuteil, denn dadurch ist seiner Priorität in der Konkurrenz mit den Eigengläubigern des Anfechtungsgegners hinreichend genügt; hingegen benötigt in der Insolvenz der Verwalter die Widerspruchsklage aus § 771 ZPO, um das Anfechtungsgut zum Zwecke der Masseverwertung oder im Sanierungsinteresse zugunsten der Insolvenzgläubiger zur Masse zu ziehen (§§ 1, 143 InsO)12. Der Anfechtungsanspruch setzt sich also jeweils gegenüber den aus dem Anfechtungsgut Befriedigung suchenden Gläubigern des Anfechtungsgegners durch, weil er ein mit Priorität ausgestattetes „Sonderrecht“ auf Befriedigung aus ungerechtfertigt entzogenem Vermögen ist13.

__________ 9 RG, Gruch. 38 (1894),180, 190 Nr. 14 = SeuffA 49 (1894), 115, 116 Nr. 66 und dazu mit vollständigem Zitat auch Karsten Schmidt, JZ 1990, 619, 623. 10 BGHZ 156, 350, 361; s. dazu schon o. Fn. 4; zustimmend jetzt auch Berger in Jauernig/ Berger, Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht, 22. Aufl. 2007, § 51 Rz. 12 (unter Aufgabe der Ansicht Jauernigs in 21. Aufl.); anders jedoch noch § 13 Rz. 23 (!). – Dass „von der Interessenlage her gesehen der Anfechtungsgläubiger an sich irgendeine bevorzugte Rechtsstellung vor den Eigengläubigern verdient“, räumt auch die von mir betreute Dissertation von Rutkowsky, Rechtsnatur und Wirkungsweise der Gläubigeranfechtung, Bonn (1969), S. 168, ein, obwohl er i. E. der Gegenansicht folgt. – Nicht überzeugend jetzt Bruns in Baur/Stürner/Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, 13. Aufl. 2006, Rz. 46.13, welcher dem „Rückgewähranspruch“ aus § 143 InsO mit dem BGH Interventionskraft beimisst, dem entsprechenden Anspruch aus § 11 AnfG wegen „seines rein schuldrechtlichen Charakters“ aber abspricht; s. dagegen Gaul, KTS 2007, 133,150. 11 BGHZ 130, 314, 326, 327 f. = NJW 1995, 2846, 2848, 2849; zur tendenziellen Bedeutung dieser Entscheidung s. Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 VI 1 a zu Fn. 217a und Fn. 229; bestätigend zuletzt BGHZ 172, 360, 363 = NJW 2008, 376, 377. 12 S. dazu näher Gaul, BGH-Festgabe (Fn. 6), S. 521, 562 ff., 565 f. m. w. N.; übereinstimmend insoweit auch Karsten Schmidt, JZ 1990, 1619, 1692, da der Anfechtungsgläubiger mit § 805 ZPO ein „besseres Recht“, der Konkursverwalter mit § 771 ZPO ein „ausschließliches Recht auf den Haftungszugriff“ geltend macht. 13 Treffend heißt es in den Motiven zum AnfG bei Hahn, Die gesamten Materialien zu KO und AnfG, Bd. IV (1881), S. 736: Das Anfechtungsrecht ist ein dem Gläubiger „nach Maßgabe und in dem Umfange seines Befriedigungsrechts zustehendes Sonderrecht“ (Hervorhebung nicht im Original).

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Wenn sich heute in diesem Ergebnis die herkömmlich auf dem Boden der „schuldrechtlichen Theorie“ stehende RG- und BGH-Judikatur mit der modernen „haftungsrechtlichen Lehre“ trifft, muss das nicht verwundern, handelt es sich doch bei der Gläubiger- und Insolvenzanfechtung jeweils um einen Rechtsbehelf spezifisch „exekutorischer Art“, der erst im „Vollstreckungsstadium“14 seinen Anlass in der Verkürzung der Zugriffs- und Haftungsmasse als Befriedigungsobjekt unter konkurrierenden Gläubigern findet und so im zivilrechtlichen Rechtsverkehr keine Entsprechung erfährt15.

II. Der Wettstreit mehrerer Anfechtungsgläubiger um Befriedigung aus dem Anfechtungsgut 1. Die Geltung des Prioritätsprinzips Treten mehrere Anfechtungsgläubiger in Wettbewerb um Befriedigung aus dem Anfechtungsgut, so ist unstreitig, dass unter ihnen wegen der Eigenständigkeit und Gleichartigkeit ihrer auf gleicher Gläubigerbenachteiligung beruhenden Anfechtungsansprüche (§ 1 Abs. 1 AnfG) das Prioritätsprinzip gemäß § 804 Abs. 3 ZPO gilt. Es gilt für sie ebenso, wie wenn sie wegen ihrer Forderung noch durch Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners ausreichende Befriedigung hätten erlangen können16. Davon geht jetzt auch der IX. Zivilsenat des BGH in seinem Urteil vom 14.6.2007 aus17. Denn jeder Anfechtungsgläubiger verlangt wegen seines Befriedigungsausfalls beim Schuldner – wie es noch § 7 AnfG a. F. formulierte – „Rückgewähr“ des aus dem Vermögen des Schuldners ausgeschiedenen Anfechtungsguts „als noch zu demselben gehörig“. In der Sache nichts anderes besagt jetzt § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG n. F., wenn danach das dem Schuldnervermögen Entzogene „dem Gläubiger zur Verfügung gestellt werden muss“. Denn die – gegenüber der bisherigen Gesetzesfassung kaum bessere – Formulierung soll nur klarstellen, dass die Anfechtung nur auf „Wiederherstellung der Zugriffslage“ durch Duldung der Zwangsvollstreckung gerichtet ist, um dem Anfechtungsgläubiger die zu-

__________ 14 So deutlich die Protokolle bei Hahn, Materialien (Fn. 13), S. 768: „Der Entwurf (zum AnfG) geht von dem Grundgedanken aus, dass es sich (hier) nur um ein Stadium der Vollstreckungsinstanz handelt“ (Hervorhebung nicht im Original). 15 Zur theoretischen Standortbestimmung nach Annäherung der „Anfechtungstheorien“ angesichts der auf exekutorische Haftungserweiterung ausgerichteten gesetzlichen Ausgestaltung des Anfechtungsrechts s. zuletzt näher Gaul, KTS 2007, 133, 148 ff., 153, 171 f. 16 RGZ 24, 92, 98; BGHZ 130, 314, 323 = NJW 1995, 2846, 2848 (mit ausdrücklichem Hinweis auf § 804 Abs. 3 ZPO); Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 V 1 (S. 554); A. Blomeyer, Zivilprozessrecht, Vollstreckungsverfahren, 1975, § 29 XI; Baur/ Stürner/Bruns (Fn. 10), Rz. 26.53. 17 BGHZ 172, 360, 364 = NJW 2008, 376, 377; s. schon o. Fn. 1.

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vor vorhandene „Befriedigungsmöglichkeit“ wieder zu erschließen18, damit ihm „die Zwangsvollstreckung gemäß §§ 803 ff. ZPO in das anfechtbar verkürzte Vermögensgut uneingeschränkt ermöglicht“ werde19. Die Gläubigeranfechtung zielt mit Eröffnung des Zugriffs auf das dem Schuldnervermögen entzogene Anfechtungsgut nur auf eine gegenständliche und personelle Erweiterung der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderung nach §§ 803 ff. ZPO und bildet gleichsam deren Fortsetzung. Jeder Gläubiger erhält die weitere Chance, mit Hilfe des anfechtungsrechtlichen Duldungstitels auf den vom Anfechtungsgegner erworbenen Gegenstand wegen seiner noch „befriedigungsbedürftigen Forderung“ Zugriff zu nehmen. Daraus folgt ohne weiteres, dass auch insoweit noch unter den konkurrierenden Anfechtungsgläubigern das Prioritätsprinzip des § 804 Abs. 3 ZPO gilt20. Das ergibt sich zudem eindeutig aus dem Kontext der §§ 2, 11 Abs. 1 Satz 1 und 13 AnfG, welche in Bindung an den ursprünglichen Schuldtitel das Anfechtungsrecht des Gläubigers nach Inhalt und Umfang auf die noch „erforderliche Befriedigung“ aus dem dem Schuldvermögen entzogenen Anfechtungsgut begrenzen. 2. Die klare Auskunft der Motive zum AnfG zum Problem der „Anfechtung mehrerer Gläubiger“ Für den historischen Gesetzgeber des AnfG war die Einsicht, dass die vollstreckungsrechtliche Durchsetzung des Gläubigeranfechtungsrechts wiederum dem Prioritätsprinzip folgt, so selbstverständlich, dass er von einer besonderen Regelung etwa durch Verweisung auf die entsprechenden Regeln des 8. Buchs der ZPO absah. Gleichwohl war ihm ausweislich der Motive zum AnfG21 das Problem der Verfolgung der Anfechtung durch eine Mehrheit von Gläubigern in seiner Tragweite mit bemerkenswerter Klarheit bewusst: „Soweit … in der einen oder anderen Weise der Empfänger gegenüber dem einen Gläubiger die Rückgabe bewirkt hat, müssen auch die anderen Gläubiger dieselbe gegen sich gelten lassen. Zwar steht die Anfechtung jedem Gläubiger kraft eigenen Rechts zu. Der Inhalt des Anfechtungsrechtes ist jedoch für sämtliche Gläubiger derselbe, und der Empfänger kann daher, soweit er die Rückgabepflicht erfüllt hat, nicht zu einer nochmaligen Erfüllung angehalten werden.

__________

18 Vgl. Begr. zu Art. 1 § 11 RegE zum EGInsO, BT-Drucks. 12/3802, S. 58; zur kaum voll geglückten Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG s. Gaul, Die Reform des Anfechtungsrechts außerhalb des Konkurses durch das neue Insolvenzrecht der Bundesrepublik Deutschland, in FS Broniewicz, 1998, S. 95, 108 ff. – Schon die Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 13), S. 744, sprachen vom „zur Verfügung stellen“, stellten aber zugleich unmissverständlich klar, es habe „ebenso (wie der Schuldner) der Empfänger die Zwangsvollstreckung in die Sache zum Zwecke der Befriedigung des Gläubigers über sich ergehen zu lassen.“ (Hervorhebung nicht im Original). 19 So treffend BGHZ 130, 314, 323. 20 Zum Prioritätsprinzip der Einzelzwangsvollstreckung als Ausdruck einer „gestuften Verteilungsgerechtigkeit“ vor dem Hintergrund der Insolvenz s. näher Gaul, Rechtsverwirklichung durch Zwangsvollstreckung aus rechtsgrundsätzlicher und rechtsdogmatischer Sicht, ZZP 112 (1999), S. 135, 153 ff. 21 Vgl. Motive zum AnfG (zu § 6 Entw.) bei Hahn (Fn. 13), S. 744 (Hervorhebungen nicht im Original).

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Rangfolge und Rangsicherung unter Anfechtungsgläubigern Wird die Anfechtung gleichzeitig von mehreren Gläubigern verfolgt, so begründet die Priorität der Klageerhebung an sich kein Vorzugsrecht. Ebenso wenig hat die Verurteilung des Empfängers diese Wirkung. Auch durch sie entsteht kein dingliches Recht des Gläubigers an dem zurückzugewährenden Gegenstande, vielmehr nur das Recht, denselben zu seiner Befriedigung im Wege der Zwangsvollstreckung zu verwenden. Auch zueinander stehen die einzelnen anfechtenden Gläubiger in demselben Verhältnis, in welchem sie sich befinden würden, wenn sie ihre Befriedigung aus den betreffenden Vermögensstücken bei dem Schuldner zu suchen hätten. Wie hier lediglich die frühere Pfändung zum Vorteile des einen oder des anderen Gläubigers entscheiden würde, ebenso kann auch im Falle der Anfechtung ein Recht auf vorzugsweise Befriedigung aus der zurückzugewährenden Sache für den anfechtenden Gläubiger nur dadurch begründet werden, dass er die Sache im Wege der Zwangsvollstreckung oder des Arrestes gegen den Empfänger pfänden lässt.“

Leider hat man in der Judikatur und Literatur diese klare Stellungnahme des Gesetzgebers des AnfG, zumal hinsichtlich der hier besonders interessierenden Frage der Rangsicherung unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern (s. dazu u. III. und IV.), zu wenig beachtet, sonst wäre man längst zu klareren und einfacheren Lösungen gelangt. 3. Die Rechtslage vor sicherungs- oder vollstreckungsrechtlicher Durchsetzung des Anfechtungsrechts Was die Rechtslage vor Ergreifung der Sicherungs- oder Vollstreckungsmaßnahmen durch die Anfechtungsgläubiger angeht, gelangte die RG-Judikatur jedoch schon früh zu den – heute unstreitigen – Ergebnissen, die sich mit dem ersten Absatz des zitierten Textes der Motive zum AnfG decken. Übereinstimmend heißt es, die Anfechtung stehe zwar „jedem Gläubiger kraft eigenen Rechts zu“, doch bestehe „die Rückgewährpflicht für den Empfänger der anfechtbaren Leistung gegenüber sämtlichen Gläubigern nur einmal, da der Inhalt des Anfechtungsrechts für alle derselbe“ sei22. Davon, dass der Anfechtungsgegner nur einmal leisten muss, geht jetzt auch der IX. Zivilsenat des BGH im Urteil vom 14.6.2007 aus23. Schon in seinem Urteil vom 18.10.1990 hat er entschieden, dass der Anfechtungsgegner im Umfange seiner Leistung oder Teilleistung an einen Anfechtungsgläubiger auch gegenüber den anderen Gläubigern befreit wird24. Diese Rechtsfolge ergibt sich ohne weiteres daraus, dass das jeweilige Anfechtungsverhältnis eine – auf das Anfechtungsgut – gegenständlich beschränkte Haftung für fremde Schuld begründet25 und folglich mit Erschöpfung des Haftungsguts erlischt26.

__________ 22 RGZ 24, 92, 98; s. dazu Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 V 1 zu Fn. 178 und Fn. 188 m. w. N. 23 BGHZ 172, 360, 364 mit Hinweis auf Huber, AnfG (Fn. 7), § 11 Rz. 56. 24 BGH, NJW-RR 1991, 178, 179 a. E. und dazu Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 V 1 zu Fn. 178. 25 Vgl. Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 II und VI 1 je m. w. N. 26 So schon K. Schneider, Erfüllung oder Erschöpfung des Anfechtungsanspruchs, LZ 1907, Sp. 626 ff., 716 ff.

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Deshalb kann die freiwillige Leistung des Anfechtungsgegners auf den darauf gerichteten Anspruch an sich keine „Erfüllung“ (§ 362 Abs. 1 BGB) sein. Genügt der Anfechtungsgegner dem kraft Gesetzes mit Verwirklichung eines der Anfechtungstatbestände der §§ 3 ff. AnfG entstandenen Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung, so bewirkt dies nur die vorgesehene „Haftungsrealisierung“27. Von „Erfüllung“ könnte nur die Rede sein, wenn der Anfechtungsgegner nicht zur Abwendung einer künftigen Vollstreckung aus dem Duldungstitel an den Anfechtungsgläubiger geleistet, sondern – was schon die Motive zum AnfG28 stattdessen als weitere Alternative für möglich hielten – als Dritter auf die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner geleistet hätte (§ 267 BGB), also auf die gemäß § 2 AnfG im ursprünglichen Schuldtitel ausgewiesene Forderung. Dann verhält es sich nicht anders, als wenn der Anfechtungsgegner z. B. nach angefochtener Zession durch Rückzession der zedierten Forderung das Anfechtungsgut wieder dem Vermögen des Schuldners zugeführt hätte, so dass die Gläubiger nunmehr wieder beim Schuldner auf das früher aus seinem Vermögen ausgeschiedene Objekt Zugriff nehmen könnten29. Dann wird jeweils das Anfechtungsverhältnis gegenstandslos, weil die Grundvoraussetzung jeder Anfechtung, nämlich die Gläubigerbenachteiligung (§ 1 Abs. 1 AnfG), entfällt30. Bei Zahlung auf die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner gilt dies indes nur, soweit die Tilgung der Forderung den vollen Wert des Anfechtungsguts aufzehrt. Soweit dies nicht der Fall ist, haftet das beim Anfechtungsgegner verbliebene Anfechtungsgut den anderen Anfechtungsgläubigern für deren Forderungen weiter bis zur Erschöpfung des „Haftungsfonds“31. Der Anfechtungsgegner ist also weiterhin dem Risiko der Inanspruchnahme durch andere Anfechtungsgläubiger ausgesetzt, welchen überdies nicht verwehrt ist, das Gläubigerrecht oder die Anfechtungsberechtigung des Zahlungsempfängers zu bestreiten32.

__________ 27 So W. Gerhardt, Gläubigeranfechtung (Fn. 8), S. 302 ff. mit zutreffender Differenzierung entgegen Jaeger, Die Gläubigeranfechtung außerhalb des Konkursverfahrens, 2. Aufl. 1938, § 7 AnfG Anm. 5 betr. Einlösungsbefugnis. 28 Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 13), S. 744: „Immer hat der Empfänger das Recht, statt den veräußerten Gegenstand selbst zurückzugewähren, den Gläubiger wegen seiner Forderung unmittelbar zu befriedigen; mehr als Befriedigung kann der Gläubiger nicht beanspruchen; soweit er ihn befriedigt, erfüllt der Empfänger seine Pflicht zur Rückgewähr.“ (Hervorhebung nicht im Original). 29 Vgl. RGZ 44, 92 f. Dort hatte sich der Anfechtungsbeklagte mit der Revision unter Berufung auf ein früheres RG-Urteil vom 29.10.1898, Rep. VI. 208/98 auf eine solche Sachlage bezogen, die jetzt jedoch nicht vorlag. Dazu heißt es: „Die Richtigkeit dieses Satzes, dass durch die Rückgewähr des Gegenstandes des anzufechtenden Rechtsgeschäftes in das Vermögen des Schuldners die Anfechtung selbst ausgeschlossen werde, ist nicht zu bezweifeln“ (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. dazu Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 V 1 zu Fn. 179; Huber, AnfG (Fn. 7), § 11 Rz. 10. 30 Vgl. Gerhardt, Gläubigeranfechtung (Fn. 8), S. 302. 31 So schon Schneider (Fn. 26), Sp. 632 f., 637. 32 Dazu Gerhardt, Gläubigeranfechtung (Fn. 8), S. 304 f.

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4. Seitenblick auf das österreichische Recht Das österreichische Recht33 sieht in § 17 AnfO ausdrücklich ein Anfindungsrecht des Anfechtungsgegners vor: „Der Anfechtungsgegner kann sich von dem Anfechtungsanspruch dadurch befreien, dass er die dem anfechtenden Gläubiger gegen den Schuldner zustehende Forderung befriedigt.“ Dies führt gemäß § 1358 ABGB zum gesetzlichen Forderungsübergang, so dass der Anfechtungsgegner wegen Schuldtilgung beim Schuldner Rückgriff nehmen kann34. Der Anfechtungsgegner wird nach § 17 AnfO aber nur im Verhältnis zu dem Anfechtungsgläubiger frei, dessen Forderung gegen den Schuldner er befriedigt hat. Soweit er das Anfechtungsgut so durch Zahlung auf diese Forderung „eingelöst“ hat, bleibt er den Zugriffen auf das Gut durch andere Anfechtungsgläubiger ausgesetzt. Den anderen Anfechtungsgläubigern gegenüber könnte er nur noch einwenden, er habe in Wahrheit nicht auf die persönliche Forderung des vormaligen Anfechtungsgläubigers und damit auf die Schuld des Schuldners, sondern zwecks Befriedigung seiner eigenen Anfechtungsverbindlichkeit gezahlt. Nur dann müssen die anderen Anfechtungsgläubiger dies gegen sich gelten lassen35. Dann greift nämlich § 18 AnfO ein, der für das österreichische Recht ausdrücklich bestimmt: „Der Umstand, dass dieselbe Rechtshandlung von mehreren Gläubigern angefochten wird, kann in keinem Falle zur Folge haben, dass die den Anfechtungsgegner treffenden Verbindlichkeiten das durch die §§ 13 und 14 bestimmte Maß überschreiten.“ Danach ist die Haftung des Anfechtungsgegners auch bei mehrfacher Anfechtung stets auf das Maß dessen beschränkt, was dem Vermögen des Schuldners durch die anfechtbare Rechtshandlung entzogen worden ist36. Demnach erlischt mit Erschöpfung des Haftungshöchstmaßes alle Anfechtbarkeit37. 5. Das Verhältnis der konkurrierenden Anfechtungsgläubiger zueinander Die Erklärung dafür, dass die Anfechtungsverbindlichkeit allen Anfechtungsgläubigern gegenüber mit Erschöpfung des Haftungsguts erlischt und wie zugleich das eigenartige Verhältnis der konkurrierenden Anfechtungsgläubiger untereinander zu deuten ist, hat die frühere Lehre vielfach in dem Begriff der

__________ 33 Herrn Kollegen Univ.Prof. Dr. Andreas Konecny, Wien, danke ich für wertvolle Hinweise zum österreichischem Recht. 34 Auf diesen Unterschied zum deutschen Recht weist schon Jaeger, AnfG (Fn. 278), § 7 Anm. 5 hin. 35 So schon Ehrenzweig, Kommentar zur Anfechtungsordnung, 1916, zu § 17 AnfO S. 551 und zu § 18 AnfO S. 553, 555. 36 So Feil, Konkurs-, Ausgleichs- und Anfechtungsordnung, 2. Aufl. 1998, § 18 Rz. 1. 37 So Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 7 Anm. 37 mit Hinweis auf § 18 AnfO des österreichischen Rechts. – S. dazu neuerdings auch öOGH, JBl. 1986, 249 f.

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„aktiven Solidarobligation“ gesucht38. Noch heute zieht man weithin die betreffenden Regeln der Gesamtgläubigerschaft nach § 428 BGB analog oder dem Rechtsgedanken nach heran, um zu erklären, dass der Gegner den Anfechtungsgegenstand nach Belieben jedem Anfechtungsgläubiger mit insoweit gegenüber allen befreiender Wirkung zur Verfügung stellen kann, auch wenn ein anderer gegen ihn schon geklagt hat39. Denn für die Gesamtgläubiger bestimmt § 428 BGB, „dass jeder die ganze Leistung fordern kann, der Schuldner aber die Leistung nur einmal zu bewirken verpflichtet ist“, und zwar „nach seinem Belieben an jeden Gläubiger“, selbst wenn ein anderer „bereits Klage auf Leistung erhoben hat“. Jedoch liegt eine Gesamtgläubigerschaft i. S. der §§ 428 bis 430 BGB nicht vor und auch deren weitere Rechtsfolgen passen nicht auf das Verhältnis konkurrierender Anfechtungsgläubiger. Zwar kann eine Gesamtgläubigerschaft auch kraft Gesetzes entstehen; eine solche ordnet aber das Gesetz hier nicht an. Allein der Umstand, dass die Anfechtungsansprüche jeweils ein und dasselbe Anfechtungsgut betreffen, ändert nichts daran, dass – wie es schon in den Motiven zum AnfG40 treffend heißt – „die Anfechtung jedem Gläubiger kraft eigenen Rechts zusteht“ und sie namentlich im Innenverhältnis „zueinander in demselben Verhältnisse stehen“ wie die Einzelgläubiger, die „ihre Befriedigung aus den betreffenden Vermögensstücken bei dem Schuldner suchen“. Auch sind die einzelnen Anfechtungsansprüche in ihrem Umfange durchaus verschieden, indem sich diese jeweils nach dem Umfang der noch „befriedigungsbedürftigen Forderung“ bemessen (§§ 2, 11 Abs. 1 Satz 1, 13 AnfG). Deshalb passt auch die interne Ausgleichspflicht zu gleichen Anteilen wie unter Gesamtgläubigern (§ 430 BGB) als Rechtsfolge nicht, die ein Gemeinschaftsverhältnis der Gläubiger voraussetzt. Denn im Regressrecht sahen schon die Motive zum BGB41 in Bezug auf die Gesamtgläubigerschaft das „Prinzip über das innere Verhältnis überhaupt“. Wird der Schuldner durch die Leistung an einen der Gesamtgläubiger allen gegenüber frei, das Verteilungsrisiko damit aber den Gläubigern aufgebürdet, dann setzt dies eine „innere Verbundenheit“ unter den Gläubigern voraus, die diese Risikozuweisung rechtfertigt42. Die

__________ 38 So insb. Cosack, Anfechtungsrecht der Gläubiger eines zahlungsunfähigen Schuldners innerhalb und außerhalb des Konkurses, 1884, S. 228, 230; Jaeckel, Anfechtung von Rechtshandlungen zahlungsunfähiger Schuldner außerhalb des Konkurses, 2. Aufl. 1889, S. 187. – Zum Begriff der „aktiven Solidarobligation“ s. Windscheid/ Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 2. Bd., 9. Aufl. 1906, § 298 Anm. 1. 39 Vgl. insb. A. Blomeyer (Fn. 16), § 29 XI 2; Baur/Stürner/Bruns (Fn. 10), Rz. 26.53; Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 VI Fn. 190. 40 Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 21), S. 744 (s. das vollständige Zitat o. zu Fn. 21). 41 Motive zum BGB bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB, II. Bd., 1899, S. 93, dazu auch schon S. 87. 42 Vgl. nur Ehmann in Erman, BGB, Handkommentar, 12. Aufl. 2008, § 428 BGB Rz. 1 und 2; M. Wolf in Soergel, BGB, Kommentar, 12. Aufl. 1990, § 428 BGB Rz. 2 („enge Interessengemeinschaft, weil ihnen nur noch eine Ausgleichspflicht bleibt“); Bydlinski in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 428 BGB Rz. 9 („geforderte Aufteilung einer einheitlichen Forderung kann dem Innenverhältnis unter den Gläubigern überlassen bleiben“).

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Anfechtungsgläubiger sind jedoch Konkurrenten, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen, ohne ein sie einigendes „irgendwie gemeinsames Band“, das sie als eine „solidarische“ Gemeinschaft erscheinen ließe43. Selbst die Insolvenz des Schuldners führt die Gläubiger nicht etwa zu einer „Rechts- oder Interessengemeinschaft“ zusammen, auch nicht, soweit sie sich auf einen Insolvenzplan einlassen44, denn auch dann bleiben die „zufällig“ und unausweichlich so als „Schicksalsgenossen“45 zusammengebrachten Gläubiger ein „Zwangskollektiv“46. 6. Konkurrierende Anfechtungsansprüche in der Insolvenz – „Rang“-Streit unter Insolvenzverwaltern verschiedener Insolvenzmassen a) Die Ausgangslage im Regelinsolvenzverfahren An sich kann das Problem konkurrierender Anfechtungsansprüche in der Insolvenz so nicht auftreten47, da mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die alleinige Anfechtungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter übergeht (§§ 16 Abs. 1 und 2 AnfG, 129 Abs. 1 InsO)48. Denn der auf gemeinschaftliche Befriedigung aller Gläubiger zielende Zweck des Insolvenzverfahrens (§ 1 InsO) verbietet die Weiterverfolgung von „Sonderrechten“ durch die einzelnen Gläubiger. An ihre Stelle tritt für die Dauer des Insolvenzverfahrens (§ 18 AnfG) die in der Hand des Verwalters monopolisierte Insolvenzanfechtung zwecks Anreicherung der anfechtbar verkürzten Masse49. Das gilt zumindest für das Regelinsolvenzverfahren und entsprechend auch bei Eigenverwaltung, weil dann die Geltendmachung der Anfechtung dem Sachverwalter obliegt (§ 280 InsO)50.

__________ 43 Deshalb gegen Anwendbarkeit des § 428 BGB auf das Verhältnis der Anfechtungsgläubiger schon K. Schneider (Fn. 26), Sp. 631, 637; ihm folgend Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 7 Anm. 37 und 41 a. E. 44 So selbst Häsemeyer, Insolvenzrecht (Fn. 7), Rz. 28, 68 („lockere Organisation und insb. keine Rechts- und Interessengemeinschaft“), obwohl er von einer aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleiteten „wechselseitigen Ausgleichshaftung“ unter den Insolvenzgläubigern ausgeht, die rückwirkend auch mit der Anfechtung gläubigerbegünstigende Rechtshandlungen vor Insolvenzeröffnung erfasse (Rz. 2.33 ff., 2.36). 45 Motive zur KO bei Hahn (Fn. 13), S. 47, 350 jeweils zum „Akkord“ (Zwangsvergleich). 46 S. dazu näher Gaul, Zur Struktur und Wirkungsweise des Insolvenzplans als „privatautonomes“ Instrument der Haftungsverwirklichung, FS U. Huber, 2006, S. 1188, 1207 ff., 1209 f. mit Fn. 127 u.w.N. 47 Vgl. schon W. Gerhardt, Gläubigeranfechtung (Fn. 8), S. 302 Fn. 123. 48 S. dazu näher Gaul, KTS 2007, 133, 141 f.; auch schon Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 V 1 zu Fn. 181 ff. 49 S. dazu nur Huber, AnfG (Fn. 7), § 16 Rz. 10. 50 S. dazu Huber, AnfG (Fn. 7), § 16 Rz. 10.

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b) Im Insolvenzplan vorgesehene Fortführung der Anfechtung Eigenartig ist die Regelung des § 259 Abs. 3 InsO, nach welchem der Insolvenzverwalter einen Anfechtungsprozess trotz Aufhebung des Insolvenzverfahrens fortführen kann, wenn dies im gestaltenden Teil des Insolvenzplans vorgesehen ist, und zwar im Zweifel „für Rechnung des Schuldners“ (§ 359 Abs. 3 Satz 2 InsO), obwohl es um die Anfechtung seiner „eigenen Rechtshandlungen“ geht. Ungeachtet des Streits, wem dann der Ertrag des Anfechtungsprozesses zugute kommt51, tritt durch die Konzentrierung der Prozessführung beim Verwalter das Problem der Konkurrenz mehrfacher Anfechtung auch insoweit nicht auf. c) Anfechtungsbefugnis „jedes Insolvenzgläubigers“ im Vereinfachten Verfahren Wiederum anders und komplizierter noch stellt sich die Anfechtung im Vereinfachten Verfahren dar. Gemäß § 313 Abs. 2 InsO ist zur Anfechtung nicht der hier – den Insolvenzverwalter ersetzende – Treuhänder, „sondern jeder Insolvenzgläubiger berechtigt“. Dann ist zwar bei Klagen verschiedener Gläubiger52 das Auftreten des Problems konkurrierender Anfechtungsansprüche theoretisch denkbar. Doch zeigt § 313 Abs. 2 Satz 2 InsO, nach welchem dem Gläubiger aus dem Erlangten die Kosten vorweg zu erstatten sind, dass das durch die Anfechtung Erlangte der Masse zufließt, nicht aber dem einzelnen Gläubiger zukommt. Der anfechtende Gläubiger verfolgt kein eigenes Recht, sondern klagt als Prozessstandschafter zugunsten der Masse. Denn die Anfechtung dient hier nicht wie die nach §§ 1 ff. AnfG dem Interesse des einzelnen Gläubigers, sondern gemäß § 313 Abs. 2 Satz 1 InsO als „Anfechtung von Rechtshandlungen nach den §§ 129 bis 147 InsO“ dem aller Gläubiger zu deren gemeinschaftlicher Befriedigung. Das Anfechtungsrecht ist damit Bestandteil der Insolvenzmasse und nicht des Vermögens der Gläubiger53. Zu einem Konkurrenz- und Verteilungsproblem aus mehrfacher Anfechtung kann es deshalb auch hier nicht kommen.

__________ 51 S. dazu jeweils kritisch Jauernig/Berger, Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht (Fn. 10), § 51 Rz. 15 (die Folge, dass der Insolvenzschuldner „den Prozessgewinn einstreicht“, kann nur durch eine abweichende „Plangestaltung zugunsten der Gläubiger vermieden werden“); Häsemeyer, Insolvenzrecht (Fn. 7), Rz. 28.52 (Bei „Verwertungsplan“ kommt „das Erstrittene allein den Insolvenzgläubigern zugute“, dagegen „kaum für einen mit dem Schuldner vereinbarten Sanierungsplan“). 52 Zur Möglichkeit von „Klagen verschiedener Gläubiger“ s. Häsemeyer, Insolvenzrecht (Fn. 7), Rz. 29.53. 53 S. dazu mit eindringlicher und überzeugender Kritik W. Henckel, Verbraucherinsolvenzverfahren, FS Gaul, 1997, S. 209 ff.

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d) „Rang“-Streit unter Insolvenzverwaltern verschiedener Insolvenzmassen Dem jüngst ergangenen Urteil des IX. Zivilsenats des BGH vom 16.11.200754 lag allerdings ein Fall der „doppelten Insolvenzanfechtung“ zugunsten verschiedener Insolvenzmassen zugrunde, der durch den Streit zweier Insolvenzverwalter um den „Rang“ ihrer jeweiligen Anfechtungsansprüche gegen denselben Anfechtungsgegner gekennzeichnet ist. In dem kompliziert verschachtelten Fall55 war – vereinfacht – die Bezahlung rückständiger Sozialversicherungsbeiträge an den beklagten Sozialversicherungsträger in zweifacher Weise anfechtbar, weil sich daraus konkurrierende Anfechtungsansprüche zugunsten zweier insolvent gewordener, zu demselben Konzern gehörender Schwestergesellschaften, der L-GmbH und der V & H-GmbH ergaben. Die von der L-GmbH von ihrem Konto geleistete Zahlung focht deren Insolvenzverwalter im Wege der „Schenkungsanfechtung“ gemäß § 134 InsO an, da die Forderung des beklagten Sozialversicherungsträgers als Anfechtungsgegner wegen der bevorstehenden Insolvenz der L-GmbH zu dieser Zeit nicht mehr werthaltig war. Die unmittelbar von der L-GmbH geleisteten Zahlungsmittel stammten jedoch aus dem Vermögen der gleichfalls insolvent gewordenen V & H-GmbH, auf deren Anweisung hin die L-GmbH als Mittelsperson (Leistungsmittlerin) zur Tilgung der Beitragsverbindlichkeit der V & H-GmbH an den beklagten Sozialversicherungsträger als Zuwendungsempfängerin die Leistung erbrachte. Deshalb focht auch der Insolvenzverwalter der H & V-GmbH die Leistung als sog. mittelbare Zuwendung im Wege der Deckungsanfechtung an, zu welcher der BGH indes nur die Anfechtung wegen kongruenter Deckung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Betracht zieht. Wegen unaufgeklärter Kenntnis der Beklagten von der Zahlungsunfähigkeit der V & H-GmbH verwies der BGH die Sache an die Vorinstanz zurück, während er bei Erwägung der hier durchaus nahe liegenden inkongruenten Deckung gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO hätte durchentscheiden können56. Selbstverständlich konnte hier die „doppelte“ Anfechtbarkeit nicht bewirken, dass die der Beklagten nur einmal zugeflossene Zahlung nunmehr doppelt zurückzugewähren wäre57. Denn auch die Insolvenzanfechtung begründet nur eine gegenständlich beschränkte Haftung auf den erlangten Anfechtungsgegenstand mit der Folge, dass die Haftung des Empfängers mit Erschöpfung des Anfechtungsguts erlischt58. Im Ergebnis mit Recht verneint der IX. Zivilsenat des BGH auch das Vorliegen einer Gesamtgläubigerschaft i. S. des § 428

__________ 54 BGH, NJW 2008, 655 ff. = NZI 2008, 163 ff. und dazu Michael Huber, Konkurrierende Anfechtungsansprüche zu Gunsten verschiedener Insolvenzmassen im Dreiecksverhältnis oder: „Krieg der Insolvenzverwalter“, NZI 2008, 149 ff. 55 Zur „Kompliziertheit“ des Falls im „Superlativ“ und deren Auflösung treffend M. Huber (Fn. 54), S. 149 ff. 56 Mit Recht weist M. Huber (Fn. 54), S. 150 auf eine hier einschlägige inkongruente Deckung i. S. des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO deshalb hin, weil die Beklagte „Erfüllung der Verbindlichkeit nur von ihrer Schuldnerin (V & H), nicht aber von einem Dritten (L) zu beanspruchen hatte.“ 57 S. dazu mit näheren Ausführungen BGH, NJW 2008, 657 = NZI 2008, 165. 58 Vgl. dazu schon näher oben zu Fn. 25 f. und Fn. 37.

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BGB, da „keine einheitliche Forderung“ zu Grunde liege, indem sich der eine Insolvenzverwalter auf eine Schenkungsanfechtung, der andere auf eine Deckungsanfechtung berufe59. Desgleichen sei eine Teilgläubigerschaft i. S. des § 420 Alt. 2 BGB zu verneinen, da die Berechtigungen nicht aus „ein und demselben Schuldverhältnis“ herrührten60. Die zu entscheidende Frage formuliert der IX. Zivilsenat des BGH demnach wie folgt: Da die Bezahlung der rückständigen Beiträge sowohl durch den einen wie durch den anderen Insolvenzverwalter anfechtbar ist, die beklagte Empfängerin die ihr zugeflossenen Leistungen aber nur einmal zurückzugewähren hat, „liegen konkurrierende, auf denselben Gegenstand gerichtete Anfechtungsansprüche für verschiedene Insolvenzmassen vor“. Der Senat entscheidet den Konflikt, indem er wegen der größeren Schutzwürdigkeit der Insolvenzgläubiger der V & H-GmbH gegenüber den Gläubigern der L-GmbH der auf mittelbare Zuwendung gestützten Deckungsanfechtung des Insolvenzverwalters der V & H-GmbH den Vorrang vor der Schenkungsanfechtung des Verwalters der L-GmbH wegen der von dieser unmittelbar geleisteten Zahlung einräumt61. Ohne dass im vorliegenden Rahmen hierzu abschließend Stellung zu nehmen ist, führt der Senat für den Vorrang der Deckungsanfechtung vor der Schenkungsanfechtung gute Gründe an. Danach sind die unmittelbar von der L-GmbH erbrachten Zahlungen der eigentlichen Beitragsschuldnerin V & HGmbH zuzurechnen und somit mittelbar von dieser geleistet. Als mittelbare Zuwendungen sind sie anfechtungsrechtlich so zu behandeln, als habe der Sozialversicherungsträger als Gläubiger und Leistungsempfänger – für diesen erkennbar – die zu seiner Befriedigung dienende Leistungen unmittelbar von seiner Schuldnerin (V & H-GmbH), welche die L-GmbH als Leistungsmittlerin zur Zahlung angewiesen hat, erhalten. Deshalb ist die Leistung auch anfechtungsrechtlich in diesem Verhältnis zurückzugewähren. Im Konkurrenzverhältnis mit der Schenkungsanfechtung des Insolvenzverwalters der L-GmbH gebührt der Vorrang der Deckungsanfechtung des Verwalters der V & H-GmbH auch deshalb, weil diese „Vermögensbestandteile geopfert“ hat zur Befriedigung einer wegen der absehbaren Insolvenz nicht mehr werthaltigen Forderung des beklagten Sozialversicherungsträgers, während die zur Deckung dieser Forderung verwendeten Mittel im Aktivvermögen der L-GmbH nur „durchlaufende Posten“ waren. In einem derart gelagerten Fall erscheinen daher die Gläubiger der V & H-GmbH schutzwürdiger als diejenigen der als bloße Leis-

__________ 59 So BGH, NJW 2008, 657 f. = NZI 2008, 165. – S. dazu, dass unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern schon deshalb keine Gesamtgläubigerschaft nach § 428 BGB bestehen kann, weil es an einer zum anteiligen Ausgleich im Innenverhältnis (§ 430 BGB) führenden „Solidar“-Gemeinschaft fehlt, näher oben zu Fn. 40 bis 43 m. w. N. 60 So BGH, NJW 2008, 658 = NZI 2008, 165. 61 BGH, NJW 2008, 658 = NZI 2008, 165.

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tungsmittlerin fungierenden L-GmbH, so dass hier der Vorrang der Deckungsanfechtung vor der Schenkungsanfechtung zukommt62. e) Abgrenzung des konkreten Rangstreits der Insolvenzverwalter vom typischen Rangwettbewerb unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern Der IX. Zivilsenat des BGH entscheidet hier also den „Rang“-Streit der Insolvenzverwalter um die Rückgewähr der vom Anfechtungsgegner empfangenen Zahlung zugunsten der Deckungs- und gegen die Schenkungsanfechtung, weil die für den Vermögenszufluss aufgewendeten Mittel aus der mittelbaren Zuwendung der Beitragsschuldnerin des Anfechtungsgegners herrührten, welche den Zahlungsweg dominant bestimmte. Die Entscheidung beruht also auf einer Wertung der qualitativ unterschiedlichen Anfechtungsgründe. Damit geht der Senat hier wegen der den zu entscheidenden Fall kennzeichnenden Besonderheit von vornherein von einer anderen – wertenden – Betrachtungsweise aus als sie für die bisher nach dem Prioritätsprinzip entschiedenen Fälle des Rangstreits unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern in der Einzelzwangsvollstreckung typisch ist. Das erklärt auch, weshalb der IX. Zivilsenat auf sein diesem Beitrag zugrunde gelegtes, nur wenige Monate vorher ergangenen Urteil vom 14.6.200763 nicht einmal abgrenzungsweise zurückgreift. Denn den Ausgangspunkt dieser Entscheidung bildet der Satz: „Der Wettstreit mehrerer Anfechtungsgläubiger um die Befriedigung ihrer Ansprüche entscheidet sich – wenn keine im einstweiligen Rechtsschutz ergangenen Maßregeln eingreifen – nach der Priorität“64. Normalerweise ist nämlich von der Gleichartigkeit der Anfechtungsansprüche auszugehen, unter welchen dann allein die Priorität der früheren Befriedigung durch den Anfechtungsgegner oder des ersten Zwangszugriffs auf das Anfechtungsgut entscheidet. Davon gingen wie selbstverständlich schon die Motive zum AnfG65 bei ihrer klaren Entscheidung zugunsten des Prioritätsprinzips aus: „Der Inhalt des Anfechtungsrechts ist jedoch für sämtliche Gläubiger derselbe“ und deshalb müssen alle anderen Gläubiger die an den ersten Gläubiger bewirkte Rückgabe des anfechtbar erworbenen Vermögensgegenstandes „gegen sich gelten lassen“. Dieser Befund wird durch das jüngste Urteil des IX. Zivilsenats zum Rangstreit der Insolvenzverwalter nicht in Frage gestellt, weil in seiner Fallkonstellation keine „Anfechtungsrechte mit demselben Inhalt“, sondern qualitativ verschiedene Anfechtungsansprüche miteinander konkurrierten.

__________ 62 BGH, NJW 2008, 658 f. = NZI 2008, 166; insoweit zustimmend auch M. Huber (Fn. 54), S. 150 f., jedoch mit krit. „Ausblick auf den zweiten Tatsachendurchgang“ in Bezug auf die zu beachtende Verjährungsfrist des § 146 Abs. 1 InsO für die Deckungsanfechtung. 63 BGHZ 172, 360 ff. = NJW 2008, 376 ff.; s. schon o. zu Fn. 1. 64 BGHZ 172, 360, 364 = NJW 2008, 376, 377 (Hervorhebung nicht im Original); s. dazu schon o. zu Fn. 17. 65 Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 13), S. 744 (Hervorhebung nicht im Original); s. schon das ausführliche Zitat oben zu Fn 21; ebenso RGZ 24, 92, 98 und dazu o. zu Fn. 16.

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7. Keine Rechtsnachfolge durch Befriedigung des Anfechtungsgläubigers Einigkeit besteht spätestens seit dem Urteil des BGH vom 26.1.195966 darüber, dass die Priorität des erstbefriedigten Anfechtungsgläubigers auch nicht etwa dadurch in Frage zu stellen ist, dass er auf diese Weise zum Rechtsnachfolger des Anfechtungsgegners i. S. des § 15 Abs. 2 AnfG würde. Denn seit langem ist anerkannt67, dass die Anfechtung nach § 15 Abs. 2 AnfG (= § 11 Abs. 2 AnfG a. F.) nicht begründet ist gegenüber demjenigen, der seinerseits im Wege der von ihm durchgeführten Anfechtung Befriedigung oder dingliche Sicherung seines Rückgewähranspruchs erlangt hat. Hat der Gläubiger sein Anfechtungsrecht einmal derart erfolgreich durchgesetzt, dann soll – wie der IX. Zivilsenat des BGH in seinem Urteil vom 14.6.200768 jetzt erneut bekräftigt – ein weiterer, ebenfalls anfechtungsberechtigter Gläubiger die Deckung dem ersteren nicht aufgrund § 15 Abs. 2 AnfG wieder entziehen können. Auch insoweit formulierten die Motive zum AnfG69 den maßgebenden Standpunkt schon sehr klar: „Hatte die Geltendmachung des Anfechtungsanspruchs bereits zu einer freiwilligen oder im Wege der Zwangsvollstreckung geleisteten Befriedigung oder in Folge einer Pfändung zu einem Pfandrecht des anfechtenden Gläubigers an dem Zurückzugewährenden geführt, so hat es hierbei sein Bewenden, es sei denn, dass dem Gläubiger zur betreffenden Zeit die Zahlungseinstellung des Schuldners oder der Konkursantrag bekannt war. In diesem Falle erscheint in gleicher Weise wie in den Fällen des § 23 Nr. 1 (Entw.) der Konkursordnung (= § 30 Nr. 1 KO) der Konkursanspruch der übrigen Gläubiger verletzt, da es sich um Sicherung oder Befriedigung aus Vermögensstücken handelt, welche rechtlich als zum Vermögen des Schuldners gehörig anzusehen sind. Entsprechend den erwähnten Vorschriften der Konkursordnung muss daher auch hier die Anfechtung stattfinden. Eine ausdrückliche Bestimmung dessen empfiehlt sich (nämlich in § 13 Abs. 3 AnfG a. F.), weil die unmittelbare Anwendbarkeit der Vorschriften aus dem Grunde bezweifelt werden könnte, dass die Handlung nicht von dem Schuldner oder gegen den Schuldner selbst erfolgt ist.“

Unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern soll es also bei der anfechtungsweisen Befriedigung des zuerst Erfolgreichen unter ihnen „sein Bewenden haben“. Das gilt jedoch nicht im Verhältnis zu den Insolvenzgläubigern bei anschließender Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dann greift immer noch die Sonderanfechtung des Insolvenzverwalters nach § 16 Abs. 2 AnfG i. V. m. § 130 InsO ein, falls der erfolgreiche Anfechtungsgläubiger zugleich in Kenntnis der Krise die Voraussetzungen des § 130 InsO erfüllt. Insoweit unterliegt die von dem Anfechtungsgläubiger im Wege der Zwangsvollstreckung

__________ 66 BGHZ 29, 230, 234 = NJW 1959, 673, 674; so auch schon RGZ 39, 79, 85 (zu § 13 Abs. 3 AnfG a. F. in Abgrenzung von § 33 KO a. F. = § 40 KO). 67 So schon Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 11 Anm. 10 a. E., § 13 Anm. 23; Huber, AnfG (Fn. 7), § 15 Rz. 13, § 16 Rz. 16; A. Blomeyer (Fn. 16), § 29 IX; Baur/Stürner/Bruns (Fn. 10), Rz. 26.53. 68 BGHZ 172, 360, 364 = NJW 2008, 376, 377; dazu schon o. Fn. 1 und 17. 69 Motive zum AnfG (zu § 12 Entw.) bei Hahn (Fn. 13), S. 750 (Hervorhebung nicht im Original); auf diese Stelle bezieht sich auch RGZ 39, 79, 84; s. schon Fn. 66.

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erzielte Deckung also noch der anschließenden Insolvenzanfechtung ebenso, wie wenn er die Deckung unmittelbar vom Schuldner oder aus dessen Vermögen erlangt hätte70. 8. Kein Befriedigungsvorrang durch Klageerhebung oder Verurteilung a) Der „Anfechtungsvermerk“ als bloßer „Rechtshängigkeitsvermerk“ Weder die frühere Klageerhebung des Anfechtungsgläubigers noch die frühere Verurteilung des Empfängers gewähren gegenüber den anderen Anfechtungsgläubigern ein Vorrecht auf Befriedigung aus dem Anfechtungsgut. Auch diese schon von den Motiven zum AnfG71 formulierte Rechtsauffassung ist heute allgemein anerkannt72. Im Urteil vom 31.7.188373 hatte das Reichsgericht schon früh zu entscheiden, ob sich daran dann etwas ändert, wenn im Wege der einstweiligen Verfügung zu einer angefochtenen Hypothek ein „Anfechtungsvermerk“ ins Grundbuch eingetragen worden ist. Dies verneint das RG mit der Begründung, da das Gesetz ein Vorrecht als Folge der früheren Anfechtung nicht gewähre, so könne „auch deren Kundmachung durch Eintragung im Grundbuch kein prioritätisches Recht gegenüber später eingetragenen Anfechtungsvermerken begründen“. Hierdurch würden „fernere Anfechtungen der Post Nr. 3 (Hypothek) durch andere Gläubiger nicht ausgeschlossen, und den Eintragungen weiterer Anfechtungsvermerke im Wege der einstweiligen Verfügung“ komme auch wieder nur „die gleiche Wirkung zu, welche dem Anfechtungsvermerk zur Sicherung der Klägerin zugesprochen ist“74. Da das deutsche Recht – anders als das österreichische Recht – keine „Anmerkung der Anfechtungsklage“ bei einem eingetragenen Grundbuchrecht kennt, kann der „Anfechtungsvermerk“ in der Tat keine stärkere Wirkung haben als die praeter legem heute von der Praxis zugelassene Eintragung eines „Rechtshängigkeitsvermerks“ in Bezug auf die Klageerhebung über ein im Grundbuch

__________ 70 Vgl. nur Huber, AnfG (Fn. 7), § 16 Rz. 16 f. – Eine andere Frage ist, ob aus der Verweisung in § 16 Abs. 2 AnfG nur auf § 130 InsO zwingend zu schließen ist, dass die vom Einzelgläubiger noch vor Insolvenzeröffnung erlangte Deckung „als kraft Gesetzes kongruent gilt“; s. dazu jüngst näher Jaeger/Henckel, InsO, Großkommentar, 2008, § 131 InsO Rz. 71 ff., 73: Nachdem § 131 InsO kein besonderer Fall der Vorsatzanfechtung mehr ist, sondern der Gleichbehandlung der Gläubiger schon in der kritischen Zeit dient, ist § 16 Abs. 2 AnfG dahin „umzuinterpretieren“, dass er auch eine Anfechtung des Insolvenzverwalters nach § 131 InsO ermöglicht. – Die Frage kann hier offen bleiben. 71 Motive zum AnfG (zu § 6 Entw.) bei Hahn (Fn. 13), S. 744; s. dazu schon das vollständige Zitat oben zu Fn. 21. 72 RGZ 24, 92, 98; RGZ 29, 182, 185; Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 7 Rz. 40; Rosenberg/Gaul/ Schilken (Fn. 7), § 35 V 1 zu Fn. 190 m. w. N.; das bei Baur/Stürner/Bruns (Fn. 10), Rz. 26.53 Fn. 211 als „insoweit unklar“ zit. OLG Celle, NJW-RR 1990, 720, 721 a. E. (richtig: NJW 1990, 720, 721) ist insoweit nicht einschlägig. 73 RGZ 29, 182, 185 (Hervorhebungen nicht im Original). 74 RGZ 29, 182, 186.

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eingetragenes Recht. Dieser Vermerk soll aber im Hinblick auf die Rechtskrafterstreckung auf den Rechtsnachfolger nach § 325 Abs. 1 ZPO nur verhindern, dass ein hinsichtlich der Rechtshängigkeit redlicher Erwerber das im Streit befangene Recht erwirbt (§§ 325 Abs. 2 ZPO, 892 BGB), während er, schon weil nach § 265 Abs. 1 ZPO die Rechtshängigkeit die Veräußerung der Streitsache nicht ausschließt, keine Verfügungsbeschränkung i. S. des § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB bewirkt. Im Übrigen ist heute streitig, ob der Rechtshängigkeitsvermerk entsprechend dem Widerspruch (§ 899 Abs. 2 Satz 1 BGB) durch einstweilige Verfügung anzuordnen ist75 oder mit einer im Vordringen begriffenen Ansicht analog der Grundbuchberichtigung nach § 22 GBO die Klageerhebung durch Vorlage öffentlicher Urkunden nachgewiesen werden kann76 oder gar – da mit der Klageerhebung ohnehin nicht mehr als die Behauptung eines besseren Rechts aufgestellt und noch keinerlei Aussicht auf den Zugriff verbunden ist – neben dem gesetzlich speziell vorgesehenen erzwingbaren Sicherungsmittel des Widerspruchs nach § 899 Abs. 1 BGB als „überflüssige Neubildung“ überhaupt unzulässig und deshalb nicht eintragungsfähig ist77. Das RG hat allerdings in seinem damaligen Urteil den im Wege der einstweiligen Verfügung bei der angefochtenen Hypothek eingetragenen „Anfechtungsvermerk“ schließlich mit Hinweis auf § 814 CPO (= § 935 ZPO) dahin ausgelegt, dass dadurch, „kenntlich für jedermann, der Klägerin die Zwangsvollstreckung in das Grundstück mit der Wirkung ermöglicht werden sollte, welche sie haben würde, falls der Anfechtungsanspruch bereits bei Eintragung des Anfechtungsvermerks erfolgreich durchgeführt worden wäre“78. Ohne dies klar auszusprechen, hat das RG dem Anfechtungsvermerk also im Ergebnis die Bedeutung eines Veräußerungsverbots beigelegt, ist damit aber, angeführt vom Kammergericht79 und von Jaeger80, damals auf entschiedenen Widerspruch gestoßen. Eingewandt wurde namentlich, selbst wenn man den Anfechtungsvermerk als Veräußerungsverbot auslegen wollte, könnte er nur Dritte vom gutgläubigen Rechtserwerb ausschließen, mangels dinglicher Wirkung aber für den durch seine Eintragung Geschützten keinen Vorrang auf den Zugriff begründen, weshalb es im Verhältnis mehrerer – in gleicher Weise durch Ver-

__________ 75 So OLG Stuttgart, NJW 1960, 1109; OLG München, NJW 1966, 1030 f. 76 So OLG Stuttgart, OLGZ 1979, 200; OLG Schleswig, NJW 1989, 1088 und FamRZ 1996, 176, 177; OLG Zweibrücken, NJW-RR 1994, 1498; OLG München, NJW-RR 2000, 384, 385; s. dazu Stürner in Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2002, § 892 BGB Rz. 16 und § 899 BGB Rz. 14 m. w. N. 77 So zuletzt Lickleder, Die Eintragung des Rechtshängigkeitsvermerks im Grundbuch, ZZP 114 (2001), 195 ff., 198, 206 ff. 78 RGZ 29, 182, 185 f. mit Hinweis darauf, dass in dem „Anfechtungsvermerk“ zugleich auf eine „Arrestvormerkung zur Sicherung der Forderung des anfechtenden Gläubigers“ Bezug genommen wurde; – zum „nicht ganz einfachen, z. T. auch nicht klaren Sachverhalt“ mit „Fallskizze“ eingehend K. Schneider, LZ 1907, Sp. 716, 720 ff. 79 KG, Jhb. Bd. 29, S. 267, 170 f. 80 Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 7 Rz. 40.

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äußerungsverbote zu welchem Zeitpunkt auch immer geschützter – Anfechtungsgläubiger untereinander versagt81. Überdies muss aber die damalige „Auslegung“ des „Anfechtungsvermerks“ als „einstweilige Verfügung (§ 814 CPO = § 935 ZPO)“ im Urteil des RG vom 13.7.188382 schon grundsätzlich in Frage gestellt werden. In seinem später meist zitierten und jetzt auch vom BGH im Urteil vom 14.6.200783 als maßgebend zugrunde gelegten Urteil vom 5.11.190784 verwirft das RG nämlich eine derartige „Auslegung“ des auch dort vorliegenden „Anfechtungsvermerks“ ausdrücklich: „Eine solche Auslegung muss aber nach dem Wortlaute der Eintragung, wie auch nach dem Inhalte der einstweiligen Verfügung als unmöglich bezeichnet werden; sie würde eine unzulässige Umdeutung bilden“, denn „das, was zulässig gewesen wäre, ist nicht angeordnet, und das, was angeordnet ist, nicht zulässig.“ b) Die Wirkung der „Anmerkung der Anfechtungsklage“ nach österreichischem Recht Das österreichische Recht85 kennt wiederum eine ausdrückliche Regelung über die „Anmerkung der Anfechtungsklage“ in § 20 AnfO: „(1) Wird die Anfechtung mittels Klage geltend gemacht, so kann der Anfechtungsberechtigte beim Prozessgericht um die Anmerkung der Klage bei den behördlichen Einlagen ansuchen, bei denen die Durchführung des Anfechtungsanspruches Eintragungen erfordert. (2) Diese Anmerkung hat zur Folge, dass das Urteil über die Anfechtungsklage auch gegen Personen wirkt, die nach der Anmerkung bücherrechtliche Rechte erworben haben.“

In seiner Entscheidung vom 19.9.199086 hat der OGH zur Wirkung der „Anmerkung der Anfechtungsklage“ nach § 20 AnfO klar ausgesprochen: „Der Befriedigungsrang mehrerer Anfechtungsgläubiger untereinander aus der von

__________ 81 So insb. OLG Stettin, LZ 1912, Sp. 869, 870: Die Wirkung des Veräußerungsverbots „ist also i. w. eine negative insofern, als der Begünstigte andere von einem Rechtserwerb ausschließen kann, seiner eigenen Rechtsstellung wird dagegen eine weitere Stärkung nicht zuteil …; für die (durch Veräußerungsverbot) Geschützten untereinander kann das Veräußerungsverbot gar keine Änderung ihrer Rechtsstellung zur Folge haben“, dem zustimmend Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 7 Rz. 40; i. E. ebenso mit eingehender Begründung K. Schneider (Fn. 78), Sp. 721 ff., 724 („Ein zweiter Anfechtungsberechtigter darf also bei dem Veräußerungsverbote des ersten … nicht als Dritter betrachtet werden, wie es das RG will. Es wäre auch allzu sonderbar, wenn die Anfechtungsberechtigten sich hier (derart) gegenseitig von der Pfändung des Erwerbs … absperren könnten.“ 82 RGZ 29, 282, 286 und dazu schon o. Fn. 78. 83 BGHZ 172, 360, 364 = NJW 2008, 376, 377. 84 RGZ 67, 39, 42 (Hervorhebung nicht im Original); ein Hinweis auf das Urteil RGZ 29, 282 ff. fehlt dort allerdings. 85 Vgl. schon oben zu Fn. 33 ff. – Auch zum Folgenden gilt mein Dank für wertvolle Hinweise Herrn Kollegen Konecny in Wien. 86 OGH, ÖBA 1991, 281 ff. mit krit. Anm. Hoyer.

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ihrem Schuldner anfechtbar dem Anfechtungsgegner übertragenen Liegenschaft richtet sich nicht nach der Priorität der Anmerkung der Anfechtungsklage, sondern nach der bücherlichen Rangordnung der Begründung des Befriedigungsrechts.“ Damit spricht sich der OGH gegen die früher u. a. von Ehrenzweig87 vertretene Rechtsmeinung aus, nach der das später urteilsmäßig erwirkte Pfandrecht (oder Befriedigungsrecht) in den Rang der Anfechtungsklage eintrete, so dass auch unter mehreren Anfechtungen desselben Rechts die frühere Anmerkung und nicht die bücherrechtliche Rangordnung entscheide. Vielmehr folgt der OGH der neueren Lehre, nach der sich die Wirkung der Anmerkung der Anfechtungsklage im Grundbuch gemäß § 20 Abs. 2 AnfO darin erschöpft, den guten Glauben der Personen auszuschließen, die bücherrechtlich nach der Anfechtung erwerben. Daneben bezwecke die Anmerkung nur die Erstreckung der Ausführbarkeit des der Anfechtungsklage stattgebenden Urteils auf die Personen, deren bücherrechtliche Rechte auf der angefochtenen Eintragung fußen und nach dem Rang der Anmerkung datieren. Anders als bei Personen, deren guter Glaube durch die Anmerkung der Anfechtungsklage ausgeschaltet werden soll, gehe es zwischen mehreren Anfechtungsklägern jedoch nicht um einen gutgläubigen Rechtserwerb, sondern nur darum, dass der Verpflichtete die Exekution zur Hereinbringung vollstreckbarer Forderungen in das anfechtbare Recht zu dulden habe. Daher sei unter ihnen „nicht die Priorität der Anmerkung der Anfechtungsklage, sondern der Vorrang der Begründung des Pfand- oder sonstigen Befriedigungsrechts entscheidend“88. Dieser Standpunkt leuchtet aus deutscher Sicht durchaus ein und entspricht wohl im Wesentlichen der schon vom RG89 zur reinen „Anfechtungsanmerkung“ – ohne die Verknüpfung mit einem vermeintlichen Verfügungsverbot aus der einstweiligen Verfügung nach § 935 ZPO90 – vertretenen Ansicht. In seiner kritischen Anmerkung zur OGH-Entscheidung möchte allerdings Hoyer91 mit der älteren Auffassung das Rangverhältnis auch unter mehreren Anfechtungsgläubigern nach dem Rang der Anmerkung der Anfechtungsklage und nicht nach dem Rang der bücherrechtlichen Rechte bestimmen, da anders der Anfechtungskläger gegenüber konkurrierenden Klägern schutzlos bliebe. Namentlich vermöge ihm „die Einstweilige Verfügung keinen ausreichenden Schutz zu gewähren“. Das alleine in Betracht kommende Belastungs- und Verfügungsverbot im Wege der einstweiligen Verfügung nach § 382 Nr. 6 EO führe nämlich gemäß § 384 Abs. 2 und 3 EO jeweils nur zur Beschränkung freiwilliger Verfügungen des Anfechtungsgegners, könne „nicht aber exekuto-

__________ 87 88 89 90 91

Ehrenzweig, AnfO (Fn. 35), S. 561. OGH, ÖBA 1991, 282, 283 f. RGZ 29, 182, 185, 186 und dazu schon o. zu Fn. 73 ff. RGZ 29, 282, 286 und dazu schon o. zu Fn. 78 ff. Hoyer, Anm. zu OGH, ÖBA 1991, 284 ff.

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rische Belastungen“ verhindern92. Da die einstweilige Verfügung zur Sicherung des Anfechtungsanspruchs versage, könne „nach dem System der Rechtsordnung“ das Schutzdefizit nur die Sicherung durch die „Anmerkung der Anfechtungsklage“ übernehmen. Indes fragt sich, ob durch eine solche „durch einzelne Rechtsvorschriften nicht gefesselte“ Interpretation die richtige „Einstellung zum Gesetz“93 getroffen oder eher der Gesetzesumgehung die Tür geöffnet ist. Bemerkenswert ist immerhin, dass man zur Parallelproblematik im österreichischen Recht erhebliche Zweifel an der Tauglichkeit eines im Wege der einstweiligen Verfügung erwirkten Verfügungsverbots zur Rangsicherung unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern äußert, von welchem man eigentlich erwarten sollte, dass es einen schlichten „Anfechtungsvermerk“ an Sicherungskraft übertrifft94.

III. Rangsicherung durch ein im Wege einer einstweiligen Verfügung erwirktes Verfügungsverbot? 1. Kritik an der Prämisse des BGH der Sicherbarkeit des Anfechtungsanspruchs durch einstweilige Verfügung – Übersehen der Sicherung durch Arrest Der IX. Zivilsenat des BGH geht in seinem Urteil vom 14.6.200795 ohne weiteres davon aus, dass der anfechtungsrechtliche Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung in ein weggegebenes Grundstück durch ein im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 938 Abs. 2 ZPO eingetragenes richterliches Verfügungsverbot sicherbar sei und folglich dem Anfechtungsgläubiger im Rangstreit mit konkurrierenden Anfechtungsgläubigern die Priorität verschaffen könne. Diese Prämisse hätte schon deshalb der näheren Begründung bedurft, weil der Gesetzgeber des AnfG ausweislich der klaren Stellungnahme in dem oben zitierten Text der Motive96 einen abweichenden Standpunkt eingenommen hat. Danach stehen „die anfechtenden Gläubiger in demselben Verhältnis zueinander“ wie die beim Schuldner Befriedigung suchenden Gläubiger und deshalb „kann auch im Falle der Anfechtung ein Recht auf vorzugsweise Befriedi-

__________ 92 Eine Anwendung des § 379 EO schließt Hoyer (Fn. 91), S. 284 aus, da „der Anfechtungsanspruch keine Geldforderung“ sei sowie mit Hinweis darauf, dass § 379 Abs. 4 EO (a. F.) ein Veräußerungs- und Belastungsverbot zur Sicherung von Geldforderungen ausdrücklich ausschließe. Diese Einschränkung des einstweiligen Rechtsschutzes wegen Geldforderungen ist allerdings inzwischen durch die EO-Novelle 2000 beseitigt, jedoch ist auch das insoweit neu geltende Verfügungsverbot auf „freiwillige Verfügungen“ beschränkt, während die „Exekutionsführung nicht behindert“ ist, s. dazu König, Einstweilige Verfügungen im Zivilverfahren, 3. Aufl. 2007, Rz. 3/33, 3/34 und 3/68. 93 So der methodische Ansatz bei Hoyer (Fn. 91), S. 285. 94 S. dazu noch u. Fn. 154. 95 BGHZ 172, 360, 364 = NJW 2008, 376, 377. 96 Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 13), S. 744 (Hervorhebung nicht im Original); s. dazu schon o. Fn. 21 mit vollständigem Zitat.

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gung nur dadurch begründet werden, dass er die Sache im Wege der Zwangsvollstreckung oder des Arrestes gegen den Empfänger pfänden lässt.“ Stattdessen beschränkt sich der IX. Zivilsenat des BGH – nach zutreffendem Ausschluss einer Rangsicherung des anfechtungsrechtlichen Anspruchs auf Duldung der Zwangsvollstreckung in das weggegebene Grundstücks durch Vormerkung nach § 883 Abs. 1 Satz 1 BGB im Anschluss an die „gefestigte“ RG-Judikatur97 – auf die Feststellung, das Reichsgericht habe in seinem Urteil vom 5.11.190798 als geeignetes Sicherungsmittel „den Weg des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 938 Abs. 2 ZPO bezeichnet, den die Parteien hier gegangen“ seien und das sei gemäß dem Urteil des BGH vom 19.3.199299 „noch heute richtig“100. Damit lässt der Senat außer Acht, dass die inzwischen herrschende Lehre im Einklang mit dem Standpunkt des Gesetzgebers des AnfG und der älteren RG-Judikatur101 zur Sicherung des Gläubigeranfechtungsrechts in der Einzelzwangsvollstreckung allein den Arrest für zulässig hält, bei einem anfechtbar erworbenen Recht an einem Grundstück also die Eintragung einer Arresthypothek nach § 932 ZPO102 (s. dazu näher unter IV.). 2. Die einstweilige Verfügung als Sicherungsmittel gegen Weiterverfügungen des Erwerbers Der IX. Zivilsenat des BGH lässt aber auch außer Acht, dass das Urteil des RG vom 5.11.1907103 gar nicht das Verhältnis konkurrierender Anfechtungsgläubiger betraf und daher die dort in Betracht gezogene einstweilige Verfügung nach § 938 Abs. 2 ZPO gar nicht vor dem Zugriff anderer Anfechtungsgläubiger schützen sollte, sondern nur vor dem gutgläubigen Erwerb des anfechtbar veräußerten Grundstücks durch Dritte. In den Entscheidungsgründen heißt es nämlich ausdrücklich: „Klar ist, dass die Verwirklichung des Anfechtungsrechts in einem Falle wie der vorliegenden Art leicht vereitelt werden könnte, wenn dem Grundstückserwerber bis zur rechtskräftigen Durchführung des Anfechtungsprozesses die Möglichkeit bliebe, mit Wirksamkeit auch dem Anfechtenden gegenüber das Grundstück weiter zu veräußern oder bis an die Wertgrenze zu belasten … Für solche Fälle ist in § 938 Abs. 2 ZPO noch besonders bestimmt, dass durch die einstweilige Verfügung die Veräußerung, Belastung oder Verpfändung eines Grundstücks untersagt werden kann“104.

__________ 97 98 99 100 101

Mit Hinweis auf RGZ 56, 14 f.; RGZ 60, 423, 425 f.; RGZ 67, 39, 41. RGZ 67, 39, 41 f. BGH (IX. Zivilsenat), NJW-RR 1992, 733, 736 = ZIP 1992, 558, 563. BGHZ 172, 360, 364 = NJW 2008, 376, 377. Vgl. RGZ 41, 87, 92: („Die Zulässigkeit einer die Durchführung des Anfechtungsanspruchs sichernden Arrestanlegung scheint hiernach … von keiner Seite bezweifelt zu werden“ (Hervorhebung nicht im Original); auch RGZ 47, 375, 376 („nach § 866 CPO Eintragung einer Sicherungshypothek zulässig“). 102 S. dazu zuletzt ausführlich Gaul, Sicherung der Gläubiger- und Insolvenzanfechtung durch Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, KTS 2007, 133 ff. mit eingehenden Nachweisen. 103 RGZ 67, 38 ff. 104 RGZ 67, 38, 41 f.

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Rangfolge und Rangsicherung unter Anfechtungsgläubigern

Demselben Zweck diente das nach dem Sachverhalt des BGH-Urteils vom 19.3.1992105 dort im Wege der einstweiligen Verfügung erwirkte Verfügungsverbot über das Nachlassgrundstück. Das Verbot richtete sich also jeweils gegen rechtsgeschäftliche Weiterverfügungen des Anfechtungsgegners, nicht gegen Sicherungs- oder Vollstreckungsmaßnahmen konkurrierender Anfechtungsgläubiger. 3. Das Versagen der einstweiligen Verfügung als Mittel der Rangsicherung unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern nach früher herrschender Meinung Den unter dem Eindruck der damaligen RG-Judikatur herrschenden Meinungsstand gibt noch 1938 die führende Darstellung zur Gläubigeranfechtung von Jaeger106 repräsentativ wieder: „Erst die Befriedigung oder dingliche Sicherstellung (z. B. durch Pfändung oder Verpfändung) können ihn (den Anfechtungsgläubiger) den Gefahren des Wettbewerbs entheben107. Veräußerungsverbote, die als einstweilige Verfügungen zugunsten des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs erwirkt (§§ 935, 938 Abs. 2 ZPO) und zur Ausschaltung des liegenschaftsrechtlichen Verkehrsschutzes im Grundbuch eingetragen worden sind (§ 892 Abs. 1 Satz 2 BGB), schützen den Gläubiger zwar gegen Übertragung oder Belastung des Rückgewährgegenstandes an Dritte108, versagen aber im Verhältnis mehrerer Anfechtungsberechtigter untereinander, auch bei Wirkung zu verschiedenen Zeiten, da sie als solche keinen dinglichen Vorrang begründen“109. Als führender Verfechter der damals ganz herrschenden Meinung, dass der Rückgewähranspruch aus § 7 AnfG a. F. ein Anspruch auf Individualleistung sei, sah Jaeger110 mit dem Urteil des RG vom 5.11.1907111 wie dieses nach Ausschluss von Widerspruch und Vormerkung in der einstweiligen Verfügung nach §§ 935, 938 Abs. 2 ZPO durch „Verbot der Weiterveräußerung, Belastung oder der Forderungseinziehung“ und damit einer „buchfähigen Verfügungsbe-

__________ 105 BGH, NJW-RR 1992, 733; das Problem der einstweiligen Verfügung zur Sicherung des Rückgewähranspruchs aus § 7 AnfG a. F. taucht dort erst im Rahmen der Widerklage auf Schadensersatz aus § 945 ZPO im Verhältnis des beklagten Anfechtungsgegners zum Anfechtungskläger auf. 106 Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 7 Rz. 40 (Hervorhebung nur teilweise im Original). 107 Mit Hinweis auf die Motive (ohne die dortige ausdrückliche Bezugnahme auf den „Arrest“ zur Kenntnis zu nehmen) sowie auf die Kritik von K. Schneider an RGZ 29, 182. 108 Mit Hinweis auf RGZ 67, 41 f. 109 Mit Hinweis auf OLG Stettin, LZ 1912, Sp. 869 f.; s. dazu schon o. Fn. 81. 110 S. die grundsätzliche Stellungnahme zur Sicherbarkeit des Anfechtungsanspruchs bei Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 1 Rz. 20. – Im Gegensatz dazu geht er bei der Interpretation des § 13 Abs. 3 AnfG a. F. (= § 16 Abs. 2 AnfG n. F.), soweit das Gesetz dort von „Sicherung oder Befriedigung“ des Anfechtungsanspruchs spricht, mit ausdrücklicher Anführung der „Zwangseintragungen (§§ 866 ff., 932 ZPO)“ von der Möglichkeit der Sicherung durch Arrestbeschlag aus; zu dieser Inkonsequenz s. näher Gaul, KTS 2007, 133, 141 f. 111 RGZ 67, 40 f.

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schränkung i. S. des (§ 892 Abs. 1 Satz 2 BGB)“ das einzig mögliche Sicherungsmittel, während er den Arrest nur auf den sekundären Wertersatzanspruch für anwendbar hielt112. Für den anfechtungsrechtlichen Primäranspruch aus § 7 AnfG a. F. wurde damals allein von K. Schneider113 der „Arrestbeschlag“ als die „Rangfolge“ sicherndes Mittel in Betracht gezogen, jedoch weil der Anfechtungsanspruch „kein Geldanspruch“ sei, verworfen. Man war sich also damals einig, dass die einstweilige Verfügung als Mittel der Sicherung des Vorrangs unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern „versagt“. 4. Kein Verbot gegen Dritte Hinzu kommt aber als weiterer, bisher in diesem Zusammenhang noch nicht diskutierter Aspekt, dass Gebote und Verbote nach § 938 Abs. 2 ZPO nicht gegen Dritte erlassen werden dürfen. Seit dem Urteil des RG vom 4.6.1928114 ist nämlich anerkannt, dass ein Verfügungsverbot nach § 938 ZPO nur gegen denjenigen ergehen darf, der nach materiellem Recht als Schuldner in Betracht kommt oder doch an dem Rechtsverhältnis beteiligt ist115. Die Bedeutung dieser Einschränkung zeigt sich namentlich bei der Schadensersatzpflicht des Antragstellers gegenüber dem „Gegner“ aus ungerechtfertigten Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 945 ZPO. Danach ist dem Antragsgegner – und nur ihm – der Schaden aus der Vollziehung der Maßnahme zu ersetzen, weil die besondere, verschuldensunabhängige Risikohaftung an den Vollziehungszugriff im Prozess- und Vollstreckungsrechtsverhältnis anknüpft116. Unter diesem Aspekt müssten die konkurrierenden Anfechtungsgläubiger als Adressaten des Verfügungsverbots nach § 938 Abs. 2 ZPO ausscheiden. So gesehen würde ebenso wenig umgekehrt derjenige Anfechtungsgläubiger als Begünstigter i. S. der §§ 136, 135 Abs. 1 Satz 1 BGB in Betracht kommen, der als Erster ein Verfügungsverbot erwirkt hätte und dem gegenüber die später erwirkten Verbote und der Vollzug der zugrunde liegenden einstweiligen Verfügung relativ unwirksam wären. Nur die dinglich wirkende Arrestanordnung nach §§ 930, 932 ZPO könnte sich mit Vorrang durchsetzen. Ob diese Bedenken durchschlagen, hängt allerdings davon ab, ob das „Verfügungsverbot“ derart wörtlich zu nehmen ist oder ob es sich in der Sicherungswirkung einer „Verfügungsbeschränkung“ erschöpft.

__________ 112 113 114 115

Jaeger, AnfG (Fn. 27), § 1 Rz. 20 a. E. K. Schneider (Fn. 26), Sp. 715, 718 f. RGZ 121, 185, 188; RG, WM 1965, 863, 864; NJW 1994, 1413, 1416 a. E. So schon Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 9. Aufl. 1961, § 215 II; ferner Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 79 I 2 m. w. N.; Stein/Jonas/ Grunsky, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2002, § 938 ZPO Rz. 19. 116 Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 80 II; Stein/Jonas/Grunsky (Fn. 115), § 945 ZPO Rz. 12 f. (mit Ausnahme, dass sich die Maßnahme „fehlerhafterweise“ gegen den Dritten richtet).

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5. Wesen und Wirkungsweise des „Verfügungsverbots“ In der Tat ist längst anerkannt, dass das gerichtliche „Verfügungsverbot“ in Wahrheit kein „Verbot“ im Sinne einer „Verhaltensanweisung“ an den Adressaten enthält. Der von dem „Verbot“ Betroffene darf durchaus dagegen verstoßen; der durch das „Verbot“ Begünstigte wird aber dadurch geschützt, dass die „verbotswidrige“ Verfügung ihm gegenüber keine Wirksamkeit entfaltet, nämlich „relativ unwirksam“ ist (§§ 136, 135 Abs. 1 Satz 1 BGB). Es äußert sich also nur in einer Beschränkung der Verfügungsbefugnis, eben lediglich als „Verfügungsbeschränkung“117. Zwar spricht § 888 Abs. 2 BGB wiederum hinsichtlich der Gleichstellung mit der Vormerkung von der „Sicherung durch Veräußerungsverbot“, jedoch korrekt § 892 Abs. 1 Satz 2 BGB in Bezug auf den öffentlichen Glauben des Grundbuchs von der „Verfügungsbeschränkung des Berechtigten“. Und die Motive118 stellen dazu unter ausdrücklicher Nennung auch des § 817 CPO (= § 938 ZPO) bereits klar: In ihren Wirkungen haben sie „das miteinander gemein, dass die Verfügung über das Recht dem Berechtigten formell nicht verboten ist“ und deshalb auch keine „Sperre des Grundbuchs“ auslösen. 6. Zum Anwendungsbereich des § 938 Abs. 2 ZPO Gemäß § 938 Abs. 2 ZPO können durch ein einstweiliges Verfügungsverbot „insbesondere die Veräußerung, Belastung oder Verpfändung eines Grundstücks“ untersagt werden. Im systematischen Kontext ist dabei nur an rechtsgeschäftliche Verfügungen gedacht, an die Verhinderung des Vollstreckungszugriffs durch einen konkurrierenden Anfechtungsgläubiger wohl schon deshalb nicht, weil gleichzeitig die Motive zum AnfG119 speziell dafür die Belegung der anfechtbar erworbenen Sache mit dem Arrest gegen den Erwerber vorsahen. Auch wenn § 938 ZPO nur eine beispielhafte Regelung der möglichen Maßnahmen enthält und anders als das österreichische Recht nicht etwa durch ausdrückliche Beschränkung auf die Untersagung „freiwillige Verfügungen“ (§§ 379 Abs. 3 Nr. 2, 382 Abs. 1 Nr. 6, 384 Abs. 3 EO) „Exekutionsschritte von Gläubigern des Gegners der gefährdeten Partei“ gesetzlich ausschließt120, sondern den Schutz vor „verbotswidrigen“ Zwangszugriffen offen

__________ 117 So schon Raape, Das gesetzliche Veräußerungsverbot des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1908, S. 77 ff., 79; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, II. Bd., Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, § 176 c; Fahland, Das Verfügungsverbot nach §§ 135, 136 BGB in der Zwangsvollstreckung und seine Beziehung zu anderen Pfändungsfolgen, 1976, S. 16 ff.; Kohler, Das Verfügungsverbot gemäß § 938 Abs. 2 ZPO im Liegenschaftsrecht, 1984, S. 57 ff., 69 ff.; Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 41 VI s. o. (zu § 772 ZPO). 118 Motive zum BGB bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB, III. Bd., Sachenrecht, 1899, S. 121. 119 Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 13), S. 744 und dazu schon oben zu Fn. 21 mit vollständigem Zitat. 120 Vgl. dazu insb. König, Einstweilige Verfügungen (Fn. 92), Rz. 3/14, 3/33, 3/34, 3/60, 3/68 und dazu schon oben zu Fn. 92.

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hält, soll derjenige vor konkurrierenden Anfechtungsgläubigern nach der Vorstellung des Gesetzgebers doch speziell dem Arrest vorbehalten bleiben. 7. Die Gleichstellung der „Verfügungen im Wege der Zwangsvollstreckung“ Das deutsche Rechtssystem ist gerade in Bezug auf die Verfügungsbeschränkung prinzipiell von der Gleichstellung der „Verfügung im Wege der Zwangsvollstreckung“ mit der „rechtsgeschäftlichen Verfügung“ in § 135 Abs. 1 Satz 2 BGB geprägt, indem gegen den Verbotsbetroffenen vorgenommene ZwangsVerfügungen den von ihm vorgenommenen Verfügungen gleichgestellt werden121. Das bedeutet, dass die Grundtatbestände der §§ 136, 135 Abs. 1 BGB mit ihren Rechtsfolgen auch im Anwendungsbereich des § 938 Abs. 2 ZPO gelten122. Davon geht auch der IX. Zivilsenat des BGH im Urteil vom 14.6.2007123 aus, indem er feststellt: „Der Schutz des eingetragenen Verbots gemäß § 938 Abs. 2 ZPO beruht nicht auf einer Rangwirkung, sondern auf der relativen Unwirksamkeit entgegenstehender Verfügungen nach den §§ 136, 135 Abs. 1 BGB“ und dazu in den Gründen später ausführt, im Schrifttum werde zutreffend „überwiegend § 135 Abs. 1 Satz 2 auf richterliche Verfügungsverbote nach § 938 Abs. 2 ZPO entsprechend angewendet“. Doch genügt dem Senat bereits diese Feststellung für die Folgerung, dass auch unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern „das jüngere Verfügungsverbot gegenüber dem älteren relativ unwirksam“ sei124. Außer Acht bleibt, dass § 135 Abs. 1 Satz 2 BGB zusätzlich die „Arrestvollziehung“ neben der „Verfügung im Wege der Zwangsvollstreckung“ nennt und damit den „Vorrang des Arrestes“ vor der einstweiligen Verfügung respektiert, soweit dieser als Mittel der Sicherung der Geldvollstreckung eingreift125. Beim Arrest geht es aber nicht um konkurrierende Verfügungsverbote, sondern um dingliche Rangsicherung. 8. Die Verfehlung der eigentlichen Problematik konkurrierender Anfechtungsansprüche Das Urteil des IX. Zivilsenats des BGH vom 14.6.2007126 kann, wie bereits aus der bisherigen kritischen Analyse hervorgeht, vor allem deshalb nicht überzeugen, weil es weder die Stellungnahme des Gesetzgebers des AnfG für die Rangsicherung unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern durch Arrest127, noch die von Jaeger angeführte früher herrschende Meinung vom „Versagen“ der einstweiligen Verfügung zur Bewältigung des Problems der Gläubigerkonkurrenz128, noch die heute herrschende Lehre, nach welcher das Anfechtungs-

__________ 121 S. dazu Gaul, Ungerechtfertigte Zwangsvollstreckung und materielle Ausgleichsansprüche, AcP 173 (1973), 323, 337. 122 S. dazu insb. Kohler, Verfügungsverbot (Fn. 117), S. 9. 123 BGHZ 172, 360, 363 = NJW 2008, 376, 377. 124 BGHZ 172, 360, 365 = NJW 2008, 376, 377. 125 Treffend Kohler, Verfügungsverbot (Fn. 117), S. 51 f. 126 BGHZ 172, 360 ff. = NJW 2008, 376 ff. 127 Vgl. die oben zu Fn. 21 zitierten Motive zum AnfG bei Hahn (Fn. 13), S. 744. 128 Vgl. die oben zu Fn. 106 ff. zitierte, durch Jaeger repräsentierte früher h. M.

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gut vor Weiterveräußerung durch den Erwerber angemessen nur durch den Arrest gesichert werden kann129, zur Kenntnis nimmt. Statt sich konkret mit dem schon vom Gesetzgeber erkannten Problem des Rangwettbewerbs unter mehreren Anfechtungsgläubigern und der dazu geführten Diskussion auseinanderzusetzen, lässt sich der Senat gleichsam lehrbuchartig und abstrakt auf den parallel zu konkurrierenden Auflassungsvormerkungen am Beispiel des Doppelverkaufs orientieren Streit um das Rangverhältnis mehrerer Verfügungsverbote zur Sicherung zivilrechtlicher Verschaffungs- oder sonstiger konkurrierender Sachleistungsansprüche ein130. Das nötigt ihn zur Auseinandersetzung mit einer neueren Lehrmeinung, nach der sich richterliche Verfügungsverbote zum Schutze verschiedener Prätendenten mangels Buchrangs, ebenso wie ranggleiche Auflassungsvormerkungen, in einer „Pattsituation“ im Verhältnis der Geschützten untereinander aufheben, weil beide nach § 888 Abs. 2 BGB wechselseitig gegeneinander vorgehen könnten131. Diese Meinung erhielt in dem vom Senat zu entscheidenden Rechtsstreit noch deshalb besonders Gewicht, weil sich das dort vorgelegte Rechtsgutachten Prüttings ihr anschloss. Wenn der Senat im Wesentlichen im Anschluss an den grundlegenden Beitrag von Kohler und der diesem inzwischen folgenden herrschenden Meinung im Schrifttum132 – von seinem Standpunkt aus konsequent – entgegen jener Ansicht zu dem Ergebnis gelangt, dass „das später wirksam gewordene Verfügungsverbot gegenüber dem durch das ältere Verbot geschützten Gläubiger (relativ) unwirksam ist“133, so ist hier darüber nicht zu rechten. Ohne dass der Argumentationsstrang des Senats im Einzelnen nachvollzogen werden müsste, zeigt immerhin schon der Hinweis auf § 772 ZPO, nach welchem der durch das relative Veräußerungsverbot (§§ 135, 136 BGB) Geschützte der Veräußerung oder Überweisung im Wege der Zwangsvollstreckung widersprechen kann (§ 771 ZPO)134, dass sich das frühere Veräußerungsverbot gegenüber dem in der Zwangsvollstreckung hinzutretenden Verfügungsverbot (§§ 829 ZPO, 23 Abs. 1 Satz 1 ZVG) durchzusetzen vermag135. So überzeugend insoweit auch die Gründe des Senats sein mögen, so übersieht er doch, dass gerade sein vor-

__________

129 S. dazu Gaul, Sicherung der Gläubiger- und Insolvenzanfechtung (Fn. 102), S. 133 ff. m. eingeh. Nachw. und die hier zu Fn. 101 zit. ältere RG-Judikatur. 130 BGHZ 172, 360, 364 ff. = NJW 2008, 376, 377 f. 131 So Wieling, Jus ad rem durch einstweilige Verfügung, JZ 1982, 839, 841 und Schlusswort, JZ 1983, 592 f.; Weiland, Die Sicherung konkurrierender Sachleistungsansprüche, 1992, S. 120 ff., 149. 132 Kohler, Das Verfügungsverbot lebt, JZ 1983, 586, 589 ff.; Kohler in Staudinger, BGB, 2003, § 136 BGB Rz. 9 f.; Gursky in Staudinger, BGB, 2002, § 888 BGB Rz. 83, 85; Wacke in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 883 BGB Rz. 6; Hefermehl in Soergel, 13. Aufl. 1999, § 136 BGB Rz. 26; Foerste, Rezension zu Weiland, AcP 193 (1993), 274, 277; Schlosser, Prioritätsprinzip und verfassungsrechtlicher Gleichheitssatz, ZZP 97 (1984), 121, 137 f. (gegen dessen Prämisse krit. Gaul, Rechtsverwirklichung durch Zwangsvollstreckung, ZZP 112 [1999], 135, 156 f., 161 ff.). 133 BGHZ 172, 360, 365 mit Ls. 2 = NJW 2008, 376, 377. 134 S. dazu Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 41 VI 10. 135 BGHZ 172, 360, 366 f. = NJW 2008, 376, 378 mit Hinweis auf Kohler, JZ 1983, 586, 590 f.

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nehmlicher Gewährsmann Kohler in seiner grundlegenden Monographie „Das Verfügungsverbot gemäß § 938 Abs. 2 ZPO im Liegenschaftsrecht“ (1984) speziell dem „Schutz des Primärrechts aufgrund Gläubigeranfechtung nach § 7 AnfG (a. F.)“ eine eingehende Untersuchung gewidmet hat mit dem Ergebnis der „alleinigen Zulässigkeit des Arrestes“ zur Sicherung des Anfechtungsanspruchs136. Auch das belegt, dass der Senat die spezielle Problematik der Rangsicherung unter mehreren Befriedigung suchenden Anfechtungsgläubigen verfehlt hat.

IV. Dingliche Rangsicherung des Anfechtungsanspruchs durch den Arrest (§§ 930, 932 ZPO) 1. Die Hinwendung zum maßgebenden dinglichen Arrest In der Tat ist die bis heute in der Judikatur und früher auch vom Verfasser137 vertretene Auffassung, der Anfechtungsanspruch aus § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG könne als „Anspruch auf eine Individualleistung“ i. S. des § 935 ZPO im Falle einer anfechtbaren Grundstücksübereignung durch ein im Wege der einstweiligen Verfügung nach § 938 Abs. 2 ZPO im Grundbuch einzutragende Verfügungsverbot (§ 892 Abs. 1 Satz 2 BGB) gesichert werden, nicht länger aufrechtzuerhalten138. Spätestens die Schwierigkeiten, in die sie angesichts des Urteils des IX. Zivilsenats vom 14.6.2007139 im Falle der Rangsicherung unter konkurrierenden Anfechtungsgläubigern gerät, bekräftigen die Notwendigkeit eines Meinungswandels, der in der neueren Lehre längst vollzogen ist, und zwar letztlich unabhängig vom Theorienstreit um Struktur und Wirkungsweise der Gläubigeranfechtung140.

__________

136 Kohler, Das Verfügungsverbot gemäß § 938 Abs. 2 ZPO im Liegenschaftsrecht, 1984, S. 355 ff., 367 ff. 137 Gaul in Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 35 VI 3 (S. 562), anders und für Arrest bereits Schilken, a. a. O., § 75 II 1 (S. 1004). 138 S. dazu neuerdings ausführlich Gaul, Sicherung der Gläubiger- und Insolvenzanfechtung durch Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, KTS 2007, 133 ff. 139 BGHZ 172, 360 ff. = NJW 2008, 376 ff. 140 So ausgehend von der haftungsrechtlichen Theorie grundlegend G. Paulus, Sinn und Formen der Gläubigeranfechtung, AcP 155 (1956), 277, 335 Anm. 101; W. Gerhardt, Gläubigeranfechtung (Fn. 8), S. 28 ff., 332 f.; Häsemeyer, Urteilsanmerkung, KTS 1982, 301, 311; ebenso unabhängig vom Theorienstreit oder auch von der schuldrechtlichen Theorie ausgehend Kohler, Verfügungsverbot (Fn. 136), S. 354 ff., 365 ff.; P. Allgayer, Rechtsfolgen und Wirkungsweise der Gläubigeranfechtung, 2000, Rz. 304 ff.; Baur/Stürner/Bruns (Fn. 10), Rz. 26.86 f.; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, 7. Aufl. 2003, Rz. 1495; Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, Bd. II, 3. Aufl. 2005, § 916 Rz. 2; Rosenberg/Gaul/ Schilken (Fn. 7), § 75 II 1 (vgl. jedoch Fn. 137); Drescher in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2007, § 916 ZPO Rz. 5; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., 2002, Rz. 3 vor § 916 ZPO; Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., 2007, § 916 ZPO Rz. 5, § 935 ZPO Rz. 9; Kübler/Prütting/Chr. Paulus, AnfG (Stand 2000), § 13 Rz. 17 (jedoch entgegen § 13 Rz. 9). – Mit der Judikatur noch für einstweilige Verfügung vor allem M. Huber, AnfG (Fn. 7), § 2 Rz. 40 ff. und M. Huber in Musielak, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 916 ZPO Rz. 13 und § 935 ZPO Rz. 12 m. w. N., zuletzt M. Huber, ZfIR 2008, 313, 316.

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Die tralatizische Formulierung, es gehe beim Anfechtungsanspruch aus § 7 AnfG a. F. (= § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG) um „Rückgewähr in Natur“141, enthält schon insofern eine verhängnisvolle Verkürzung, als es nicht um die „Sicherung des Anspruchs“, sondern um die „Sicherung der Zwangsvollstreckung wegen eines Anspruchs“ geht, nämlich „wegen einer Geldforderung“ oder „wegen eines Individualanspruchs“. Richtet sich die Art der Sicherung aber nach der Art der Zwangsvollstreckung, ob diese also wegen einer Geldforderung betrieben werden soll, um dem Gläubiger durch die Sicherung die Chance der Befriedigung aus dem haftenden Vermögen des Schuldners zu erhalten, oder wegen eines Anspruchs auf Sachherausgabe, um dem Berechtigten die Zuführung einer individuell bestimmten Sache zu sichern, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein: Die Sicherung des Anfechtungsanspruchs hat durch Arrest i. S. des § 916 Abs. 1 Alt. 1 ZPO, nicht durch einstweilige Verfügung zu erfolgen. Denn die Gläubigeranfechtung zielt allein auf eine gegenständliche und personelle Erweiterung der Geldvollstreckung nach §§ 803 ff. ZPO zwecks Befriedigung aus entzogenem Haftungsvermögen, indem der Duldungstitel wegen der „befriedigungsbedürftigen“ Geldforderung des Gläubigers gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung in den zum Anfechtungsgegner gelangten Vermögensgegenstand eröffnet. So wie sich also die Zwangsvollstreckung in das Anfechtungsgut nach den Regeln der Geldvollstreckung vollzieht, so findet sie folgerichtig im Arrest als Vorstufe das angemessene Sicherungsmittel142. Im Einzelnen muss auf die ausführliche Darstellung am angeführten Ort verwiesen werden. Denn es bleibt hier weder der Raum, noch besteht die Notwendigkeit, die dortige Argumentation zu wiederholen. 2. Die Rangsicherung insbesondere durch Eintragung der Arresthypothek gemäß § 932 ZPO Im Hinblick auf den vom IX. Zivilsenat des BGH im Urteil vom 14.6.2007 entschiedenen Fall der Gläubigerkonkurrenz in Bezug auf ein anfechtbar weggegebenes Grundstück sind nur noch die entsprechenden Folgerungen zu ziehen. Nach dem dort zugrunde liegenden Sachverhalt hatten beide Anfechtungsgläubiger „vor Eintragung der Zwangssicherungshypotheken dem Grundstückseigentümer zur Sicherung ihrer Ansprüche richterlich verbieten lassen, über das anfechtungsrechtlich zurück zu gewährende Grundstück zu verfügen“143. Der Senat war sich im Klaren darüber, dass der Schutz des eingetragenen richterlichen Verfügungsverbots gemäß § 938 Abs. 2 ZPO „nicht auf einer Rangwirkung, sondern (nur) auf der relativen Unwirksamkeit entgegenstehender Verfügungsverbote nach §§ 136, 135 Abs. 1 BGB“ beruhen kann144. Eben die dem Verfügungsverbot fehlende dingliche Rangsicherung bewirkt

__________ 141 142 143 144

So noch Rosenberg (Fn. 115), § 211 I 1 (S. 1087). S. dazu näher Gaul, Sicherung (Fn. 138), S. 133, 144 ff., 153 ff., 159 ff. BGHZ 172, 360, 361 = NJW 2008, 376. BGHZ 172, 360, 363 = NJW 2008, 376, 377.

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aber die in Vollziehung des Arrestes gemäß § 932 Abs. 1 ZPO erfolgende Eintragung der Arresthypothek in das Grundbuch unmittelbar mit der Folge, dass jeder nachfolgend in gleicher Weise vorgehende Anfechtungsgläubiger deren Vorrang ohne weiteres gegen sich gelten lassen muss145. Allerdings wird nach bisher herrschender Meinung146 in der bloßen „Gläubigerkonkurrenz“ kein hinreichender Arrestgrund gesehen, der nach dem Gesetz in der Besorgnis besteht, dass ohne den Arrest „die Vollstreckung des Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert würde“ (§ 917 Abs. 1 ZPO). Indes folgert eine im Vordringen begriffene Lehre aus dem Prioritätsprinzip, dass die Gläubigerkonkurrenz als Arrestgrund genügen müsse147. Auch wenn der Schluss für das in das Schuldnervermögen betriebene reguläre Zwangsvollstreckungsverfahren keineswegs zwingend ist148, begründet der auf das Anfechtungsgut beim Erwerber beschränkte Wettstreit der Gläubiger typischerweise die Gefahr der Vereitelung der Zugriffschancen oder gar des völligen Ausfalls, so dass sich das Vorliegen eines Arrestgrundes hier eher bejahen lässt149. Soweit die Judikatur bei anfechtbar erworbenen Grundstücken zur Sicherung des Anfechtungsanspruchs die Eintragung eines Verfügungsverbots nach §§ 935, 938 Abs. 2 ZPO im Grundbuch zulässt, hält sie meist analog §§ 885 Abs. 1 Sat. 2, 889 Abs. 2 Satz 2 BGB eine Glaubhaftmachung der Gefährdung für entbehrlich, weil sich die Gefährdung des Anspruchs schon allgemein aus der Publizitätsfunktion des Grundbuchs ergebe150. Dieser Gedanke lässt sich konsequent jedoch auch auf die Sicherung des Anfechtungsanspruchs durch Eintragung einer Arresthypothek nach § 932 Abs. 1 ZPO übertragen, auch wenn er eine „doppelte Analogie“ erfordert151.

__________ 145 S. dazu näher Gaul, Sicherung (Fn. 138), S. 133, 167 ff.; ebenso schon Kohler, Verfügungsverbot (Fn. 136), S. 358 ff., 362 ff. 146 So insb. BGHZ 131, 95, 105 f. = NJW 1996, 321, 324; Foerste, Vollstreckungsvorsprung durch einstweiligen Rechtsschutz, ZZP 106 (1993), S. 143, 155 ff.; für die bisher h. M. noch Rosenberg/Gaul/Schilken (Fn. 7), § 75 II 2 a m. w. N. 147 So insb. Stein/Jonas/Grunsky (Fn. 115), § 917 ZPO Rz. 1; Heinze in MünchKomm. ZPO, 2. Aufl. 2001, § 917 ZPO Rz. 8 (anders Drescher, 3. Aufl. 2007, § 917 ZPO Rz. 8); Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozess und im arbeitsgerichtlichen Verfahren, 1993, Rz. 236 f. 148 Vgl. dazu näher schon Gaul, Rechtsverwirklichung durch Zwangsvollstreckung, ZZP 112 (1999), 135, 162 ff. 149 Insoweit zurückhaltender noch Gaul, Sicherung (Fn. 138), S. 133, 164 m. w. N. 150 S. dazu mit ausführlichen Judikatur-Nachweisen Gaul, Sicherung (Fn. 138), S. 164 zu Fn. 157 ff. 151 Zu den Bedenken der „doppelten Analogie“ s. näher Gaul, Sicherung (Fn. 138), S. 164 m. w. N.

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Rangfolge und Rangsicherung unter Anfechtungsgläubigern

3. Schluss Der dingliche Arrest erweist sich daher gerade im Hinblick auf die Rangfolge und Rangsicherung konkurrierender Anfechtungsgläubiger als das weitaus klarere und angemessenere Rechtsinstitut zur Sicherung des Anfechtungsanspruchs152 – ganz in dem Sinne, wie es bereits der kluge Gesetzgeber des AnfG153 vorhergesehen hat154.

__________ 152 Zum Vorzug des dinglichen Arrestes gegenüber dem Verfügungsverbot nach § 938 Abs. 2 ZPO als „angemessenes“ und „optimales“ Mittel der Sicherung des Anfechtungsanspruchs schon eingehend Kohler, Verfügungsverbot (Fn. 136), S. 355 ff., 362 ff., 367 ff.; ferner Gaul, Sicherung (Fn. 138), S. 168 ff. 153 Vgl. Motive zum AnfG bei Hahn, Materialien (Fn. 13), S. 744 und das Textzitat o. zu Fn. 21. 154 Erhellend ist letztlich auch hier noch ein Vergleich zum österreichischen Recht. Es kennt zwar nicht den Begriff des „Arrestes“, sondern fasst in den §§ 378 ff. EO alle Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes unter dem gemeinsamen Begriff „einstweilige Verfügungen“ zusammen. In der Sache unterscheidet es aber – wie das deutsche Recht – solche „zur Sicherung von Geldforderungen“ (§ 379 EO) und solche „zur Sicherung anderer Ansprüche“ (§§ 381 ff. EO). Während die österreichische Judikatur zur Sicherung des Anfechtungsanspruchs die einstweilige Verfügung wegen „anderer Ansprüche“ (§ 381 EO) anwendet, sieht die Lehre im Anschluss an die grundlegende Schrift von Konecny, Der Anwendungsbereich der einstweiligen Verfügung, 1992, S. 152 ff. zunehmend in der „einstweiligen Verfügung zur Sicherung von Geldforderungen“ das allein passende Sicherungsmittel, s. zuletzt Bettina Nunner-Krautgasser, Die Haftungsklagen, Reine Vermögenshaftung und „Duldung“ der Exekution, ÖJZ 2007, 713, 721 f. m. w. N. Doch weil sich auch die einstweilige Verfügung „wegen Geldforderungen“ in einem reinen Verfügungsverbot – ohne dingliche Rangsicherung – erschöpft, bleibt es dort wohl im Ergebnis bei der bisher dazu maßgebenden Entscheidung des OGH v. 19.9.1990, ÖBA 1991, 282, 283 f., nach der sich „der Befriedigungsrang mehrerer Gläubiger“ allein „nach der bücherrechtlichen Rangordnung der Begründung des Befriedigungsrechts richtet“, s. dazu schon näher o. zu Fn. 86 ff. u. Fn. 120.

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Besondere prozessuale Zulässigkeitsprobleme für eine Anfechtungsklage wegen Gläubigerbenachteiligung? Inhaltsübersicht I. Zum Problem II. Zu einzelnen Prozessvoraussetzungen für die Anfechtungsklage wegen Gläubigerbenachteiligung 1. Einfluss durch internationalrechtliche oder europarechtliche Vorgaben: die „internationale Zuständigkeit“ 2. Rechtswegzuständigkeit 3. Sachliche und örtliche Zuständigkeit

4. Sonderproblem: Deliktischer Gerichtsstand 5. Gerichtsstandsvereinbarungen und Schiedsklauseln 6. Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen? 7. Geltendmachung durch „Dritte“ in gewillkürter Prozessstandschaft? III. Auswertung und Zusammenfassung

I. Zum Problem Die Möglichkeit einer Anfechtung wegen Gläubigerbenachteiligung beruht auf einer Schwäche des Rechtserwerbs durch den Anfechtungsgegner. Diese Schwäche ergibt sich aus dem Vorliegen der Anfechtungsvoraussetzungen, also der Erfüllung der besonderen Anfechtungstatbestände, §§ 330–334 InsO und §§ 3–5 AnfG. Diese Schwäche zeigt sich nicht erst bei der Geltendmachung des Anfechtungsrechtes, es bedarf also keiner besonderen „Anfechtung“; dies bedeutet eine klare Absage an die Vorstellung eines Gestaltungsrechts oder Gestaltungsklagerechts: Die Geltendmachung der Schwäche anfechtbaren Erwerbs erfordert nicht eine besondere Anfechtungsklage; diese ist nur der Notbehelf, falls der Anfechtungsgegner die anfechtungsrechtliche Restitution nicht freiwillig erbringt. Anders gewendet bedeutet dies: Der Anfechtungsgegner kann außerhalb des Prozesses und ohne diesen erfüllen und damit frei werden. Dies alles sei gewissermaßen axiomatisch als Prämisse vorausgeschickt. Ist eine Anfechtungsklage erforderlich, so stellt sich die mit diesem Beitrag aufgeworfene Frage, ob dafür besondere Prozessvoraussetzungen zu beachten sind und ob es hinsichtlich der Zulässigkeit derartiger Klagen bestimmter spezieller Voraussetzungen bedarf. Der „Beck’sche Kurzkommentar“ zur Konkursordnung in der 15. von Joachim Kilger allein bearbeiteten Aufl. 1987 hebt insoweit keine Besonderheit hervor, sondern stellt kurz und knapp die Prozessvoraussetzungen einer Anfechtungsklage im Einzelnen dar1. Dem folgt der

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1 § 29 KO Anm. 21 und 22.

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Jubilar mit leichten Modifikationen in der 16. Aufl. 1993, die zwar als Kilger/ Karsten Schmidt firmiert, jedoch ausweislich des Vorwortes von Karsten Schmidt allein stammt. In der 17. Aufl. 1997 „Insolvenzgesetze“, die vom Jubilar völlig neu bearbeitet worden ist, findet sich eine für unser Thema bemerkenswerte Ergänzung in der Kommentierung zu § 36 KO Anm. 2) im Zusammenhang mit der Aussage, das Anfechtungsrecht sei nach h. M. nicht abtretbar, von der sich der Jubilar allerdings etwas distanziert. Immerhin konzediert er, der Konkursverwalter könne im Wege der gewillkürten Prozessstandschaft Gläubiger oder sogar den Gemeinschuldner ermächtigen, massezugehörige Rechte für die Masse einzufordern; das solle auch für das Anfechtungsrecht gelten. Damit ist das Kernproblem dieses Beitrages skizziert, ob nämlich für eine Anfechtungsklage hinsichtlich einer Prozessstandschaft, derzufolge ein Dritter oder gar der Schuldner selbst die Anfechtungsklage für das „Masserecht“ im Wege der Prozessstandschaft geltend machen kann, Besonderheiten gelten. Sind danach die Prozessvoraussetzungen für eine derartige Anfechtungsklage ins Visier gerückt, so finden sich hier weitere und bemerkenswerte „Erstaunlichkeiten“ im Meinungsbild im Einzelnen, die es angezeigt erscheinen lassen, die Thematik zu erweitern und zu verallgemeinern, zumal diese teilweise schon von Kilger und dann auch von Karsten Schmidt abweichend zur h. M. behandelt worden sind.

II. Zu einzelnen Prozessvoraussetzungen für die Anfechtungsklage wegen Gläubigerbenachteiligung 1. Einfluss durch internationalrechtliche oder europarechtliche Vorgaben: die „internationale Zuständigkeit“ Internationalrechtliche Vorgaben hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Anfechtungsklage nach der InsO bestehen nicht. Insbesondere ist insoweit keine Regelung beispielsweise hinsichtlich eines ausschließlichen Gerichtsstandes gegeben. Die allfälligen Probleme liegen bekanntermaßen im Bereich der Zuständigkeit für ein Insolvenzverfahren und dann bei der Frage des anwendbaren Sachrechtes. Ist danach deutsches Insolvenzrecht anwendbar, gelten die allgemeinen Grundsätze für die Anfechtungsklage. Auch europarechtlich finden sich keine Vorgaben. Art. 4 Abs. 2 Satz 2 lit. m EuInsVO regelt als maßgebliches (materielles) Recht für die Insolvenzanfechtung das Insolvenzstatut. Was die prozessuale Geltendmachung anlangt, so ist in Art. 25 EuInsVO lediglich die Anerkennung der Urteilswirkungen (mit) geregelt; damit aber nicht unmittelbar die Zuständigkeit. Während Reinhart2 die internationale Zuständigkeit aus EuGVVO herleiten will, ist wohl zutreffenderweise Art. 3 Abs. 1 EuInsVO unmittelbar3 oder analog4 heranzuziehen. Das

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2 In MünchKomm.InsO, Bd. III, 2003, Art. 13 EuInsVO Rz. 4. 3 So Dammann in Pannen, Europ. Insolvenzverordnung, 2007, Art. 13 EuInsVO Rz. 16. 4 Vgl. Kindler in MünchKomm.BGB, Bd 11, 4. Aufl. 2006, IntInsR Rz. 385.

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erscheint sachgerecht, da so die Anfechtungsklagen, die der Natur nach eng mit dem Insolvenzverfahren verbunden sind, derselben Zuständigkeit unterfallen wie die Verfahrenseröffnung. Dabei führt die Anwendung dieser Norm jedoch nur allgemein zur Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungstaates5, nicht konkret zu der des Insolvenzgerichts, also nicht zu einer großen vis attractiva im Sinne einer insolvenzgerichtlichen Allzuständigkeit6. Danach bestehen also auch insoweit keine Besonderheiten. Für die Anfechtung nach dem AnfG ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Ausschluss über Art. 1 Abs. 2 EuGVVO insoweit nicht gilt und also über die Grundregel in Art. 1 Abs. 1 EuGVVO, weil „Zivilsache“, diese VO zu berücksichtigen ist. Das führt, sofern nicht z. B. der besondere ausschließliche Gerichtsstand über § 24 ZPO eingreift, zum allgemeinen Gerichtsstand des Wohnsitzes, Art. 2 EuGVVO7. 2. Rechtswegzuständigkeit Für die Frage der Rechtswegzuständigkeit ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich bei der Anfechtungsklage auf Rückgewähr oder Wertersatz um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit i. S. d. § 13 GVG handelt8. Dass Anfechtungsklagen auch vom Bundesarbeitsgericht entschieden worden sind9, erklärt sich mit Henckel10 wohl dadurch, dass die Unzuständigkeit in den Vorinstanzen nicht gerügt worden war, vgl. den früheren § 67a ArbGG11. Heute wäre wohl auch § 65 ArbGG eine Erklärung. In diesem Sinne hat das AG Gera12 klar herausgestellt, dass erstens insolvenzrechtliche Anfechtungen als bürgerliche Rechtsstreitigkeit vor die ordentlichen Gerichte gehören und dass zweitens der Weg zu den Arbeitsgerichten nicht gegeben ist, weil der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch seine Grundlagen nicht im Arbeitsverhältnis, sondern in der anfechtbaren Rechtshandlung finde; diese sei keine mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehende unerlaubte Handlung. Anders hat allerdings das BAG in einem Beschluss v. 27.2.200813 entschieden und den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen für eröffnet erachtet. Es ging um die Anfechtung und die daraus abgeleitete Rückzahlungsforderung von rückständigem Lohn. Der Senat stützt sein Ergebnis auf folgende Deduktion: Der Insolvenzverwalter agiere als Rechtsnachfolger für den insolventen

__________ 5 Vgl. Vorlagebeschluss des IX Zivilsenats vom 21.6.2007 an den EuGH, ZIP 2007, 1415 m. Anm. Klöhn/Berner, S. 1418. 6 So aber Zeuner/Elsner, DZWIR 2008, 1 ff., 2. 7 M.Huber, 10 Aufl. 2006, § 13 AnfG Rz. 36 2. Abs. 8 Grundlegend BGHZ 114, 315, 320; best. BGH, ZInsO 2005, 707; Henckel in Jaeger, 9. Aufl. 1991, § 37 KO Rz. 138; Henckel in Jaeger, 2008, § 143 InsO Rz. 164, jew. m. w. N. 9 So z. B. ZIP 2005, 388. 10 Henckel, KO, § 37 KO Rz. 139; Henckel (Fn. 6), § 143 InsO Rz. 169 a. E. 11 So auch Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, 17. Aufl. 1997, § 29 KO Rz. 22. 12 ZInsO 2007, 1000 unter Beifall von Ries, ZInsO 2007, 1037. 13 ZInsO 2008, 391 = ZIP 2008, 667 und nochmals ZIP 2008, 1499.

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Vertragsarbeitgeber des beklagten Anfechtungsgegners gemäß § 130 InsO. Bei der Anfechtung einer Vergütungszahlung werde der Insolvenzverwalter im Interesse der Masse tätig, die das dem Insolvenzverfahren unterliegende Vermögen des Schuldners – also des Vertragsarbeitgebers des in Anspruch genommenen Arbeitnehmers – darstelle. Hier handele der Insolvenzverwalter mit der Geltendmachung des Anfechtungsanspruchs als Rechtsnachfolger des Arbeitgebers; diese Rechtsnachfolge sei nicht streng wörtlich, sondern in einem weiten Sinne zu verstehen. Ausgehend von der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet werde, führten die Parteien einen bürgerlich-rechtlichen Rechtsstreit für den Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus einem Arbeitsverhältnis (§ 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG), jedenfalls über Ansprüche, die mit dem Arbeitsverhältnis im rechtlichen oder unmittelbar wirtschaftlichen Zusammenhang ständen, § 2 Abs. 1 Nr. 4a ArbGG. Zwar könne der Vertragsarbeitgeber selbst den Rückzahlungsanspruch nicht auf die hier einschlägige Anspruchsgrundlage stützen, doch gehe es bei wirtschaftlicher Betrachtung um die Rückabwicklung einer ansonsten wirksamen Erfüllungshandlung des Arbeitgebers in einem Arbeitsverhältnis. Zutreffend daran ist die Ausgangsfeststellung, dass es sich um eine bürgerlichrechtliche Streitigkeit handelt, ferner die Erkenntnis, dass der Schuldner (Vertragsarbeitgeber) selbst diesen Anspruch nicht geltend machen kann. Das kann jedoch nicht zu der Konsequenz führen, hier eine Streitigkeit aus dem Arbeitsverhältnis anzunehmen, die dann den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnen würde. Entscheidend ist, wie schon das AG Gera zutreffend hervorgehoben hat, dass der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch speziell auf anfechtungsrechtlichen Normen und auf der Erfüllung dieser Tatbestände beruht, die völlig unabhängig von dem Arbeitsverhältnis sind und auch nicht im unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang speziell mit dem Arbeitsverhältnis stehen14. Das Anfechtungsrecht ist ein Recht, das genuin in der Person des Insolvenzverwalters liegt und auf dessen Rechtsstellung § 80 InsO beruht. Es hat dem Schuldner selbst nie zugestanden, sodass die Annahme einer Rechtsnachfolge schon im Ansatz verfehlt ist. Dass der Anfechtungsanspruch der Insolvenzmasse zugeordnet ist und nicht der Person des Verwalters, liegt an unserem Verständnis des Insolvenzrechts, dass die Insolvenzmasse als solche eben nicht rechtsfähig ist, sondern weiter dem Schuldner als Rechtsinhaber zugeordnet ist. Für die Fälle einer Anfechtung nach dem AnfG dürfte der Ausschluss des Rechtswegs zu den Arbeitsgerichten ohnehin evident sein. Eine andere Streitfrage im Zusammenhang mit dem zulässigen Rechtsweg ist inzwischen durch den Gesetzgeber geklärt, leider in einem anderen Sinne, als dies die Insolvenzrechtsreformkommission vorgeschlagen hatte. Diese war, wie dann auch aus der Begründung des Regierungsentwurfs15 ersichtlich, davon ausgegangen, die Regelung hinsichtlich der Fristenberechnung für die Be-

__________ 14 Ebenso und damit auch dezidiert gegen das BAG Humberg, ZInsO 2008, 487; Weitzmann, EWiR 2008, 259 f. 15 BT-Drucks. 12/3803, Begr. zu § 7 AnfG, S. 57 li. Sp.; abgedr. auch in Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2000, S. 763.

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rechnung der Anfechtungsfristen in § 7 AnfG, dass nämlich die gerichtliche Geltendmachung erforderlich sei, habe den Weg für die Finanzbehörden versperrt, das Anfechtungsrecht im Wege des Duldungsbescheids nach § 191 AO geltend machen zu können. Dem begegnete der Gesetzgeber bekanntlich durch das Steuerbereinigungsgesetz v. 22.12.199916: Durch einen Zusatz in § 191 Abs. 1 AO erfolge die Anfechtung wegen Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis durch Duldungsbescheid, dessen Erlass der gerichtlichen Geltendmachung nach § 7 Abs. 1 AnfG gleichstehe17. Während der BGH noch hinsichtlich dieser unter der KO streitigen Rechtsfrage immerhin als Ausweg anerkannt hatte, die Anfechtbarkeit bei einem angedrohten Duldungsbescheid im Wege der negativen Feststellungsklage vor die Zivilgericht zu bringen und damit den Weg der Finanzbehörde über den Duldungsbescheid auszuschließen18, geht er nunmehr im Urteil v. 27.7.200619 angesichts des Gesetzeswortlauts der neu gefassten Vorschrift noch über die von ihm selbst früher nicht gebilligte Rechtslage hinaus: Die Neufassung der Abgabenordnung enthalte in § 191 Abs. 1 Satz 2 eine eindeutige Rechtswegzuweisung, wodurch die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht mehr zum Zuge komme. Diese Neuregelung ist im übrigen einer der ersten (leider „geglückten“) Versuche, das für die Insolvenzrechtsreform allseits propagierte Reformgrundanliegen „Ernst mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz“ zugunsten einzelner Gläubigergruppen, in diesem Falle des Fiskus, zu durchlöchern. Ein schwacher Trost ist dabei, dass dies nur für die Anfechtung nach dem AnfG gilt und – begreiflicherweise – nicht für den Insolvenzverwalter. 3. Sachliche und örtliche Zuständigkeit Für die Frage nach der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit für Anfechtungsklagen ist zunächst die Grundsatzentscheidung maßgeblich, dass keine vis attractiva stattfindet, und zwar weder im Sinne einer sog. kleinen vis attractiva, die nur eine Zuständigkeit der sachlich zuständigen Gerichte am Ort der Insolvenzverwaltung vorsehen würde, vgl. etwa für die Feststellungsklagen § 180 Abs. 1 Satz 2 und 3 InsO, noch gar im Sinne einer „großen vis attractiva“, die zugleich auch das Landgericht am Sitz der Insolvenzverwaltung als zuständig vorgeben würde. Die Insolvenzrechtskommission hat dieses Problem ausführlich erörtert und ein gespaltenes Votum vorgelegt: Abstimmungsmäßig ergab sich – einmalig in den Beratungen – dieselbe Stimmenzahl für die eine oder die andere Lösung, wie aus LS 1.5, 2. Bericht der Kommission für Insolvenzrecht und der dazu erfolgten ausführlichen Begründung S. 59 ff. ersichtlich. Die einzelnen Gesichtspunkte sind dort ausführlich dargestellt, darauf kann hier global verwiesen werden. Der Gesetzgeber ist jedenfalls, nach einigem Hin und Her im Gesetzgebungsverfahren, für Anfechtungsklagen dem

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16 BGBl. I, S. 2601, Art. 17 Nr. 14. 17 Dazu M. Huber, Gläubigeranfechtung durch Duldungsbescheid – oder: Die unglaubliche aber wahre Geschichte in der Kehrtwendung des Gesetzgebers, ZIP 2000, 337 f. 18 ZIP 1991, 113; ausf. M. Huber (Fn. 7), § 7 AnfG Rz. 17 ff. 19 ZIP 2006, 1603; Henckel (Fn. 6), § 143 InsO Rz. 168 bei Fn. 398.

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Vorschlag, einen neuen einheitlichen Gerichtsstand am Sitz der Insolvenzverwaltung/des Verwalters zu kreieren, nicht gefolgt und hat sich lediglich mit der neuen Regelung in § 19a ZPO begnügt20. Die Absage an eine vis attractiva erscheint sachgerecht, auch wenn in der Insolvenzrechtsreform der Hinweis von Joachim Kilger Eindruck gemacht hat, er habe in über 260 Anfechtungsprozessen im Insolvenzverfahren „Holsteinhaus“ an unterschiedlichsten Gerichten in der Republik klagen müssen mit jeweils unterschiedlichen Aussagen zur von ihm zu beweisenden Feststellung der Zahlungseinstellung. Unter diesem Eindruck und gewissermaßen als Korrektiv für eine Absage an die vis attractiva hat die Kommission dann das sog. „Verfahren zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit und des ersten zulässigen und begründeten Insolvenzantrags“ in LS 5.17, 1. Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, S. 434 ff., einführen wollen. Das hat seinen Niederschlag in den Gesetzesentwürfen bis hin zu § 157 des Regierungsentwurfs gefunden21. Auf Vorschlag des Rechtsausschusses22 mit der lapidaren Feststellung, dieses neuartige Verfahren werde das Insolvenzgericht zusätzlich belasten, ist dieser Vorschlag dann wieder kurzerhand gestrichen und damit diese „Kompromisslösung“ verworfen worden. Bleibt es also grundsätzlich bei den allgemeinen Gerichtsstandsregelungen der ZPO, wobei sich § 19a ZPO nicht auf Anfechtungsprozesse, sondern im wesentlichen auf Passivprozesse gegen die Masse bezieht23, wird das Problem einer vis attractiva, jedenfalls partiell, mit der Einführung des „Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)“24 wieder virulent. Durch Art. 9 dieses Gesetzes wird die Regelung über die kapitalersetzenden Darlehen und die entsprechenden Rückforderungen aus dem GmbHG herausgenommen und (mit geringfügigen, hier nicht interessierenden Modifikationen) in einen neuen § 135 InsO übergeleitet werden. Damit wird dieser Regelungskomplex sachgerecht und inhaltlich stimmig in das Anfechtungsrecht der InsO eingebettet. Das hat allerdings für die gerichtliche Zuständigkeit Konsequenzen, wie jüngst Habersack25 dargelegt hat. Danach besteht auf der Grundlage des bisherigen Kapitalersatzrechts einschließlich dessen analoger Anwendung nach § 31 GmbHG der besondere Gerichtsstand der Mitgliedschaft, so dass diese Ansprüche nach § 22 ZPO vom Insolvenzverwalter am Sitz der Gesellschaft eingeklagt werden können. Nach Transferierung in die anfechtungsrechtlichen

__________ 20 Dazu BT-Drucks. 12/7303 zu Entwurf EG-InsO § 18, S. 18 f.; BT-Drucks. 12/3803, S. 67, 122 f., 133 zu Nr. 6. 21 BT-Drucks. 12/2443, 34 und Begr. dazu S. 164 ff. 22 Beschl.-Empfehlung zu §§ 157, 158, BT-Drucks. 12/7302, 174. 23 Heinrich in Musielak, 5. Aufl. 2007, § 19a ZPO Rz. 4; Hüßtege in Thomas/Putzo, 28. Aufl. 2007, § 19a ZPO Rz. 3. 24 BT-Drucks. 16/6140, 130 = ZIP Beilage zu Heft 23/2007. Die hier einschlägige Änderung ist bereits wiedergegeben und berücksichtigt bei Henckel (Fn. 6), § 135 InsO m. w. N. und Komm. in Rz. 13 ff. 25 Gesellschafterdarlehen nach MoMiG: Anwendungsbereich, Tatbestand und Rechtsfolgen der Neuregelung, ZIP 2007, 2145 ff., 2152.

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Regelungen entfällt diese Möglichkeit. Es greift – wie oben dargelegt – der allgemeine Gerichtsstand des beklagten Anfechtungsgegners ein. Darum erhebt Habersack das Petitum, dem durch eine entsprechende Ergänzung entweder des § 19a ZPO oder – vorzugswürdig – des § 22 ZPO entgegenzusteuern. Letzteren Weg hat inzwischen der Gesetzgeber eingeschlagen; er hat im Zuge des MoMiG § 22 ZPO dahin erweitert, dass der Gerichtsstand der Mitgliedschaft auch für Klagen des Insolvenzverwalters gegen die Gesellschafter – also ohne dass es auf den Rechtsgrund ankäme – gilt26. Macht man jedoch Ernst mit den Überlegungen, die der Einordnung der Kapitalersatzregelungen auch gesetzestechnisch in das Anfechtungsrecht zu Grunde lagen, und hält man die Absage an eine vis attractiva für sachgerecht, so erscheint es weder inhaltlich geboten noch verfahrensrechtlich vorteilhaft, hinsichtlich der einzelnen Anfechtungstatbestände zu differenzieren und danach jeweils besondere Gerichtsstände vorzusehen. Das gilt insbes. auch im Hinblick auf Fallkonstellationen, in denen der neue § 135 InsO mit anderen allgemeinen Anfechtungstatbeständen konkurrieren würde. 4. Sonderproblem: Deliktischer Gerichtsstand Dass für die Anfechtungsklage der deliktische Gerichtsstand nicht in Frage kommt, ist inzwischen einhellige Meinung27. Von dieser heute anerkannten Basis ausgehend hat das Landgericht Detmold28 allerdings für die Klage aus Insolvenzanfechtung einen Ausweg gesucht und geglaubt, diesen gefunden zu haben: Sei die Klage neben der Insolvenzanfechtung auch auf unerlaubte Handlung gestützt, so sei der Wahlgerichtsstand des § 35 ZPO gegeben. Grundlage dafür ist die Neufassung des § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG durch das Gesetz vom 17.12.1990, wonach das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet. Das Gericht muss danach den Rechtsstreit auch unter anderen als den an sich nicht zur Zulässigkeit seines Rechtswegs gehörenden rechtlichen Gesichtspunkten prüfen und entscheiden. Hieraus folgert der BGH29: Wenn nach der Entscheidung des Gesetzgebers ein Gericht befugt und verpflichtet sei, über „rechtswegfremde“ Anspruchsgrundlagen zu entscheiden, müsse es „erst recht“ befugt sein, über in seine Rechtswegzuständigkeit fallende Anspruchsgrundlagen zu entscheiden, die für sich gesehen seine örtliche Zuständigkeit nicht begründen würden. Folgt man

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26 Vgl. Begr. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/9737, S. 103; Hirte, Neuregelungen mit Bezug zum gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutz und im Insolvenzrecht durch das MoMiG, ZInsO 2008, 689 ff., 697 sub II 4 f.; Seibert/Decker, Die GmbH-Reform kommt!, ZIP 2008, 1208, 1212. 27 Henckel (Fn. 8), § 37 KO Rz. 141; heute z. B. Henckel (Fn. 6), § 143 InsO Rz. 173; Hirte in Uhlenbruck, 12. Aufl. 2003, § 143 InsO Rz. 70; zur Entwicklungsgeschichte Gerhardt, Die systematische Einordnung der Gläubigeranfechtung, 1969, S. 8 f. 28 ZInsO 2006, 445. 29 BGHZ 153, 173, 176 ff.: zugleich mit ausführlicher Wiedergabe auch des entgegengesetzten Meinungsstandes; ebenso aus neuerer Zeit etwa Hüßtege (Fn. 20), Vorbem § 12 ZPO Rz. 8, der dem BGH „aus Gründen der Praktikabilität“ zustimmt.

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diesem Ansatz, so lässt sich also, jedenfalls bei einheitlichem Lebenssachverhalt und einem Streitgegenstand, der neben anfechtungsrechtlichen Aspekten auch auf Delikt gestützt werden könnte, der Anfechtungsprozess schließlich vor dem deliktischen Gerichtsstand, der ja durchaus mit dem der Insolvenzverwaltung zusammenfallen könnte, austragen. Allerdings erscheint schon der Ausgangspunkt fraglich. Mit guten Gründen macht Jauernig30 geltend, die Entscheidung des BGH überzeuge nicht, das Hauptargument für die vom BGH ja immerhin vollzogene Rechtsprechungsänderung auf der Grundlage des § 17 Abs. 2 GVG, nämlich der „Erst-recht-Schluss“, sei nicht gerechtfertigt. Es fehle an der erforderlichen Regelungslücke. Danach wäre also der „Ausweg“ des LG Detmold versperrt, wobei allerdings Jauernig selbst zugleich konzediert, die Rechtsprechung werde sich wohl nach der Grundsatzentscheidung BGHZ 153, 173 richten. 5. Gerichtsstandsvereinbarungen und Schiedsklauseln Grundsätzlich ist der Insolvenzverwalter an eine vom Schuldner zuvor wirksam vereinbarte Schiedsklausel oder an eine Gerichtsstandsvereinbarung gebunden31. Das folgt daraus, dass der Insolvenzverwalter die massezugehörigen Rechtspositionen, und dazu gehören auch die Vertragspositionen mit Schiedsklausel oder Gerichtsstandsvereinbarung, anstelle des Schuldners ausübt. Das gilt jedoch nicht für Anfechtungsprozesse32. Das folgt bereits aus der oben vorangestellten Prämisse und auch aus den Überlegungen, die hinsichtlich der Rechtswegzuständigkeit für Anfechtungsklagen gegen das BAG zu erheben waren33. Das Anfechtungsrecht hat dem Schuldner nie zugestanden, es beruht auch nicht auf dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis, sondern auf dem Vorliegen der Anfechtungstatbestände, die eine erfolgte Rechtshandlung in ihrem wirtschaftlichen Erfolg als nicht bestandskräftig erscheinen lassen und damit der anfechtungsrechtlichen Rückabwicklung unterstellen. Auch das ist wieder besonders sinnfällig für die Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz, es gilt jedoch – ebenso wie bei der Rechtswegzuständigkeit – auch für die Anfechtungsklage des Insolvenzverwalters. Was vom Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens getroffene Schiedsabreden anlangt, so vertritt allerdings Hirte34 die Auffassung, an der oben dargestellten bisherigen herrschenden Meinung werde man für das neue Schieds-

__________ 30 Zivilprozessrecht, 29. Aufl. 2007, S. 35. 31 So schon BGHZ 14, 15; aus jüngerer Zeit BGH, DZWIR 2004, 161 m.zust. Anm. Flöter; ders., DZWIR 2001, 89; Kreft in HK.InsO, 4. Aufl. 2007, § 129 InsO Rz. 98; Kück, ZInsO 2006, 11 ff. – A. A. Schulte-Frohlinde/Wilts, ZInsO 2006, 196 ff. 32 So schon BGH, NJW 1956, 1920; BGHZ 24, 15 obiter BGH, DZWIR 2004, 161, 162; jüngst dezidiert BGH, ZInsO 2008, 269. 33 Dazu oben sub I. und II. 2 nach Fn. 13. 34 Hirte in Uhlenbruck (Fn. 27), § 143 InsO Rz. 66; ähnlich Paulus in Kübler/Prütting, Loseblatt, § 143 InsO Rz. 41 mit dem Hinweis, man werde allerdings sorgfältig prüfen müssen, ob die Schiedsabrede wirklich auch den Rückgewähranspruch umfasse; verhaltend zustimmend Adolphsen in Bork, Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, 2006, Kap. 19 Rz. 40.

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verfahrensrecht – also nach der Neufassung durch das Gesetz zur Neuregelung des Schiedsverfahrens v. 22.12.1997 – nicht festhalten können; nach § 1030 Abs. 1 ZPO komme es danach für die Zulässigkeit einer Schiedsgerichtsvereinbarung nicht mehr auf die Vergleichsfähigkeit des Anspruchs an. Im Übrigen dürfte eine vom Schuldner vor Verfahrenseröffnung getroffene Schiedsabrede auch Anfechtungsansprüche umfassen, dies sei „relativ eindeutig“. Diese Position verkennt zweierlei: Erstens folgt die Nichtbindung des Insolvenzverwalters an die Schiedsabrede des Schuldners nicht aus der Vergleichsfähigkeit des Anfechtungsanspruchs oder dessen Gegenteil, sondern daraus, dass der Anfechtungsanspruch eben nicht in der Person des Schuldners entstanden und durch ihn rechtsgeschäftlich begründet worden ist; denn der Schuldner kann keine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung treffen für ein Insolvenzverfahren, das er selbst gar nicht führen kann35. Darum verfängt es zweitens auch nicht, auf den Willen der Parteien abzustellen, die eine Schiedsklausel geschlossen haben. Insoweit dürfte es schon an der Dispositionsfreiheit für den Schuldner fehlen. All das ändert nichts daran, dass der Insolvenzverwalter selbst natürlich im Hinblick auf den Anfechtungsstreit und den drohenden Anfechtungsprozess eine Schiedsabrede oder auch eine Gerichtsstandsvereinbarung abschließen darf36. In diesem Zusammenhang kann dann auch das Argument eine Rolle spielen, dass das neue Schiedsrecht nicht mehr die Vergleichsfähigkeit des Anspruchs erfordert, wobei heute allerdings auch nicht zweifelhaft ist, dass sich der Insolvenzverwalter in einem Anfechtungsprozess – im Gegensatz zum Gemeinschuldner37 – über den geltend gemachten Anfechtungsanspruch vergleichen kann38. 6. Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen? Was die Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen innerhalb des Anfechtungsprozesses beim Landgericht anlangt, so hat das Landgericht München39 die Ansicht vertreten, die Kammer für Handelssachen sei auch für Anfechtungsprozesse zuständig, wenn ihr das angefochtene Geschäft unterfiele40. Auch diese Folgerung verkennt, wie oben zur Rechtswegzuständigkeit das BAG41, dass für den Anfechtungsanspruch eben nicht das zugrunde liegende Rechtsverhältnis maßgeblich ist, sondern das Vorliegen der Anfechtungsvorausset-

__________ 35 Henckel (Fn. 6), § 143 InsO Rz. 17 a. E. 36 Insoweit auch Hirte in Uhlenbruck (Fn. 27), § 143 InsO Rz. 66 a. E.; ebenso etwa Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 11), § 29 KO Anm. 22. 37 Henckel (Fn. 8), § 37 KO Rz. 144. 38 Soweit ersichtlich unstreitig, vgl. nur BGH, ZIP 1995, 1205; Henckel (Fn. 8), § 36 KO Rz. 5; Kreft (Fn. 31), § 129 InsO Rz. 98 m. Fn. 379. 39 Vgl. EWiR 1999, 845 m. abl. Komm. C. Schmitz; ebenso LG Köln, DZWIR 2002, 217 für die Anfechtung der Übertragung eines Kommanditanteils. 40 Dagegen zu Recht die h. M., vgl. nur RGZ 96, 57; Henckel (Fn. 8), § 37 KO Rz. 142; Kreft (Fn. 27), § 129 InsO Rz. 97; Hirte in Uhlenbruck (Fn. 27), § 143 InsO Rz. 65. 41 Vgl. o. Fn. 11 und dazu dort auch im Text.

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zungen. Zu Recht lehnt deswegen die h. M. eine Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen in diesen Fällen ab42. 7. Geltendmachung durch „Dritte“ in gewillkürter Prozessstandschaft? Bereits im Problemaufriss war angesprochen, dass die gewillkürte Prozessstandschaft als Prozessvoraussetzung für eine Anfechtungsklage von besonderer Bedeutung sein kann43. Die praktische Brisanz – und damit allerdings auch zugleich die Problematik – ergab sich daraus, dass nach früherer h. M. die Abtretung des Anfechtungsrechtes als ausgeschlossen erachtet wurde; diese Rechtsposition sei fest mit dem Insolvenzverfahren und mit der Person des Insolvenzverwalters verbunden. Als Ausweg wurde darum diskutiert, ob insoweit wenigstens eine gewillkürte Prozessstandschaft möglich sei, die es dem Insolvenzverwalter ermöglichte, den Rechtsstreit durch Dritte – etwa gegen Kostenbeteiligung oder in Art eines deals – führen zu lassen. Dieser Ausweg erschien allerdings mehr als Trick, denn wenn das Anfechtungsrecht wirklich mit der Person des Insolvenzverwalters untrennbar verbunden war – als Beispiel wurde herangezogen, dass eine Abtretung nicht in Frage komme, weil auf diese Art und Weise das Anfechtungsrecht vom Verfahren selbst abgelöst werde und so in dieser scheinbaren Eigenständigkeit zu Problemen führen würde, z. B. bei Einstellung des Insolvenzverfahrens –, so muss dies im Grundsatz auch für eine gewillkürte Prozessstandschaft gelten, mit der ein Insolvenzverwalter die Klagebefugnis aus dem Verfahren herausgibt und einem Dritten, der nicht in das Verfahren eingebunden ist, überträgt. Glücklicherweise muss dieses Problem hier nicht vertieft werden, da inzwischen die wohl h. M. auf dem Standpunkt steht, dass die Rechte aus der Gläubigeranfechtung vom Insolvenzverwalter im Wege der Abtretung auf Dritte übertragen werden können. Noch 1985 hatte Wilfried Braun einen Beitrag überschreiben können: „Die Unabtretbarkeit konkursrechtlicher Anfechtungsansprüche – ein unverrückbares Dogma“44 und seine eigene – entgegengesetzte – Position vor allem mit dem Prozesskostenrisiko für den notorisch armen Konkursverwalter und dem praktischen Sinngehalt eines deals zwischen diesem und dem Zessionar des Anfechtungsanspruchs begründet. Auch seinerzeit war das „Dogma“ für besondere Sachlagen schon „angekratzt“, so z. B. bei einer treuhänderischen Abtretung für Prozesse vor ausländischen Gerichten, die den deutschen Verwalter nicht anerkannten45, auch sollte bereits der Wertersatzanspruch, also der anfechtungsrechtliche Sekundärbehelf, einer Abtretbarkeit

__________ 42 So schon RGZ 96, 57; Hess, Insolvenzrecht, 2007, § 129 InsO Rz. 175; Kreft (Fn. 27), § 129 InsO Rz. 9; Henckel (Fn. 8), § 37 KO Rz. 142; Henckel (Fn. 6), § 143 InsO Rz. 172 (mit dem Zusatz: Das gilt auch für die Anfechtung nach §§ 135, 136 InsO); Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 11), § 29 KO Rz. 22. 43 Dazu o. sub I. 44 ZIP 1985, 786 ff. 45 Hanisch, IPRax 1993, 195; Henckel (Fn. 8), § 37 KO Rz. 83; Kuhn/Uhlenbruck, 11. Aufl. 1994, § 36 KO Rz. 10.

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zugänglich sein46. Heute hat sich diese Auffassung, soweit ersichtlich, grundsätzlich gewandelt und die Ansicht von einer Abtretbarkeit des Anfechtungsrechts grundsätzlich durchgesetzt. Die dogmatische Fundierung dafür hat vor allem Eckardt47 überzeugend erarbeitet. Dabei dürfte jedoch – entgegen Paulus48 – die Einschränkung geboten sein, dass die Abtretung nicht an den Schuldner selbst erfolgen kann. Dem dürfte weniger entgegenstehen, dass es sich dabei allenfalls um eine modifizierte „Freigabe“ handeln kann, weil der Schuldner selbst ja nie das Verfügungsrecht über diesen Anspruch hatte, und auch nicht, dass prozessual eine offenkundig vermögenslose Person in den Vordergrund geschoben würde, sondern vielmehr ein Interessenwiderstreit: Der Schuldner kann auch als Zessionar und damit als Inhaber des Anfechtungsrechtes dem Anfechtungsgegner gegenüber nicht ignorieren, dass er selbst an dem inkriminierten oder jedenfalls nicht rechtsbeständigen Vorgang beteiligt war, anders gewendet: Der Interessenwiderstreit und der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung liegen allzu nahe. Geht man danach also grundsätzlich von der Übertragbarkeit des Anfechtungsrechtes aus, so bedarf es nicht des Umweges über die Zulassung einer gewillkürten Prozessstandschaft, um den Insolvenzverwalter zu entlasten und trotzdem nach Möglichkeit den wirtschaftlichen Gehalt des Anfechtungsrechts nutzbar zu machen. Andererseits sprechen dagegen auch keine gewichtigen Gründe, sofern die besonderen und im Einzelnen streitigen Voraussetzungen einer gewillkürten Prozessstandschaft vorliegen49, falls man diese denn überhaupt anerkennen will50. Auch hier dürfte allerdings – wie oben bei der Abtretbarkeit – eine Einschränkung hinsichtlich einer gewillkürten Prozessstandschaft für den Schuldner selbst geboten sein51. Dabei dürften neben dem schutzwürdigen Interesse des Prozessgegners, insbes. im Hinblick auf die Pro-

__________ 46 Henckel (Fn. 8), § 32 KO Rz. 87, § 37 KO Rz. 83. 47 Zur Abtretbarkeit anfechtungsrechtlich begründeter Ansprüche im Konkurs, KTS 1993, 585 ff. aufgenommen dann in seiner Monographie Die Anfechtungsklage wegen Gläubigerbenachteiligung, 1994, S. 127 ff.; ebenso heute z. B. Kreft (Fn. 27), § 129 InsO Rz. 88; ders., ZInsO 1999, 372 f.; Henckel (Fn. 6), § 143 InsO Rz. 102; Paulus in Kübler/Prütting (Fn. 34), § 143 InsO Rz. 8; Kirchhof in MünchKomm.InsO, 2. Aufl. 2008, § 129 InsO Rz. 214–221, mit dem Hinweis, der Anfechtungsanspruch sei – wegen § 146 InsO – ein gewöhnliches, der Verjährung unterliegendes Forderungsrecht (Rz. 214). Dem habe ich mich unter Aufgabe meiner früheren Ansicht (Fn. 27), S. 140 f., in Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung, 10. Aufl. 2006, S. 79 f., Rz. 249 ff. angeschlossen, ebenso zusammenfassend im Beitrag zur FS P. YessiouFaltsi, Athen-Thessaloniki 2007, S. 187 ff., 195 f. 48 In Kübler/Prütting (Fn. 34), § 143 InsO Rz. 8. 49 Völlig unklar allerdings leider BGH (7. Senat), ZIP 1988, 175, der für die Zulässigkeit einerseits das Provisionsinteresse und andererseits die Parallele zur Inkassozession heranzieht; krit. insoweit auch M. Wolf in seinem Kurzkomm., EWiR 1988, 241. 50 Dazu und zum neueren Meinungsstand Jauernig (Fn. 30), § 22 IV, S. 61 f.; Schack, Prozessführung über fremde Rechte, in FS Gerhardt, 2004, S. 859 ff., 869 ff. 51 Der BGH (BGHZ 102, 293) hat dies für den anders gelagerten Fall eines Schadensersatzanspruchs gegen die beratende Bank als zulässig angesehen, dabei – insoweit jedenfalls zutreffend – das erforderliche „eigene Interesse im Streitgegenstand selbst“ in der Forthaftung des Schuldners gesehen.

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zesskostenerstattung, die Bedenken durchgreifen, die auch gegen eine Abtretung des Anfechtungsrechts an den Schuldners selbst sprechen.

III. Auswertung und Zusammenfassung Die Erhebung einer Anfechtungsklage wirft, sofern sie überhaupt im Hinblick auf das Verhalten des Anfechtungsgegners erforderlich ist, hinsichtlich der Prozessvoraussetzungen keine besonderen Probleme auf. Der Schlüssel zur Lösung aller wirklichen oder scheinbaren Probleme liegt im Verständnis des Anfechtungsrechts. Daraus – und also aus dem genuin insolvenzrechtlichen Grundverständnis – ergeben sich relativ eindeutig und auch ohne Rückgriff auf den „Theorienstreit zur Rechtsnatur des Anfechtungsrechts“ die jeweiligen zivilprozessualen Konsequenzen. Insoweit gelten, vielleicht von der geringen Modifikation bei der gewillkürten Prozessstandschaft abgesehen, die allgemeinen prozessualen Grundsätze. Die vorstehenden Überlegungen und der recht kursorische Überblick haben – für mich jedenfalls – einmal wieder verdeutlicht, wie sachgerecht, sinnvoll und effizient es ist, die Entscheidung über eine prozessual und materiell-rechtlich gerechtfertigte Anfechtungsklage (einschließlich einer steuerrechtlichen Inanspruchnahme) in einer Hand zu belassen bzw. dort zu vereinen, wo in dieser bürgerlich-rechtlichen Rechtsfrage nach zivilrechtlicher und zivilprozessualer Kompetenzverteilung „der geballte Sachverstand zu finden sein sollte“. Unabhängig davon ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Anfechtungsklage, bezogen auf ihre übrigen Wirkungen, durchaus besondere prozessuale Probleme aufwerfen kann, insbes., inwieweit eine erhobene Anfechtungsklage materiellrechtlich und prozessual den Anforderungen gerecht wird, die das Gesetz vor allem zur fristwahrenden Geltendmachung aufstellt. Für diesen zusätzlichen Komplex, der mindestens einen weiteren Beitrag erfordern würde, sei pauschal auf die o. a. Monographie von Eckardt52 verwiesen.

__________ 52 S. oben Fn. 47.

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Zu den Folgen der Eintragung eines Squeeze-outBeschlusses vor Ablauf der Eintragungsfrist Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Fall III. Amtslöschungsverfahren IV. Amtshaftung V. Zur Anfechtungsbefugnis nach Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses VI. Zubilligung der Anfechtungsbefugnis nach § 265 Abs. 2 ZPO? 1. Die von § 265 Abs. 2 ZPO erfassten Fälle 2. Ausdehnung des Anwendungsbereichs nach der bisherigen Judikatur

3. Notwendigkeit einer darüber hinausgehenden Erweiterung aus Gründen des Verfassungsrechts? a) Zur jüngeren Rechtsprechung des BVerfG b) Verfassungsrechtliche Gründe gebieten die Erweiterung der Klagemöglichkeit nicht VII. Folgen einer etwaigen Anerkennung einer erweiterten Anwendung VIII. Zusammenfassung

I. Einleitung Bestimmte Gruppen von Aktionären benutzen die ihnen vom AktG verliehene Kontrollmacht nicht immer zweckentsprechend, ihr Wirken hat aber dennoch oftmals zur Folge, dass umstrittene Rechtsfragen im Interesse der Allgemeinheit geklärt werden oder dass manchen Managern die Grenzen ihrer Gestaltungsmacht vor Augen geführt werden, denen die Tatsache aus dem aktuellen Bewusstsein geraten ist, dass sie zur Verwaltung und Mehrung fremden Vermögens angestellt sind. Die vom Gesetzgeber herausgeforderten Reaktionen auf Fehlentwicklungen bei der Wahrnehmung von Aktionärsrechten führen notwendigerweise zu neuen Rechtsstreitigkeiten, in denen ausgetestet werden soll, was nach unserer freiheitlichen Ordnung an Vorgehensweisen noch hingenommen werden muss und wo die Grenzen der Wahrnehmung der je berechtigten Interessen überschritten sind. In diesem Entwicklungsprozess nimmt neben den ordentlichen Gerichten seit jeher auch das Bundesverfassungsgericht eine wichtige Rolle wahr. Dies geschieht zur Zeit auch in einem Fall1, der für die ordentlichen Gerichte abgeschlossen ist; er ist aber einer näheren Beleuchtung wert und bietet gerade im Hinblick auf den umfassend interessierten Jubilar willkommenen Anlass, ihn, den der Verf. über viele Jahre als engagierten Diskutanten und Vordenker vornehmlich personengesellschaftsund GmbH-rechtlicher Fragen erlebt hat, auch als Aktienrechtler zu würdigen,

__________

1 1 BvR 1542/06.

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der nach mancherlei Einzeldarstellungen erst jüngst mit einem profunden Kommentar des AktG in Erscheinung getreten ist, so dass auch deshalb die Hoffnung berechtigt ist, mit den nachfolgenden Ausführungen auf sein Interesse zu stoßen.

II. Der Fall2 Die Klägerin war Aktionärin der G-AG. Deren Hauptversammlung fasste am 13. Mai 2003 mit 22.400.483 gegen 53.414 Stimmen einen Squeeze-outBeschluss nach §§ 327a ff. AktG, nach dem die Aktien der Minderheitsaktionäre gegen eine Barabfindung von 16,12 Euro für eine Stückaktie auf den Hauptaktionär der AG, die G-GmbH & Co. KG übertragen werden. Die Aktionärin hat gegen diesen Beschluss Widerspruch zur Niederschrift des amtierenden Notars nach §§ 245, 130 AktG erhoben und innerhalb der einmonatigen Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG am 13. Juni 2003 bei dem zuständigen Gericht einen Klageschriftsatz eingereicht. Bereits vorher, nämlich am 4. Juni 2003 – also innerhalb der Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage – hatte das Amtsgericht Düsseldorf als Registergericht den Squeeze-out-Beschluss in das Handelsregister eingetragen. Dies geschah auf Anmeldung des Vorstands der G-AG hin, der die Versicherung nach § 327e Abs. 2 i. V. m. § 319 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 AktG beigefügt war. Der Pflicht zur Aktualisierung dieser Versicherung (§ 319 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 AktG) konnte der Vorstand der AG vor der Eintragung nicht nachkommen, weil die Klage der Aktionärin – ebenso wie die Klagen von zwei anderen Minderheitsaktionären – erst nach diesem Zeitpunkt bei dem Prozessgericht eingereicht wurde. Das auf Anregung der Klägerin von dem Amtsgericht Düsseldorf am 16. Juni 2003 eingeleitete Amtslöschungsverfahren führte nicht zu dem von ihr erstrebten Erfolg, weil Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht im Ergebnis übereinstimmend die Voraussetzungen des als Spezialvorschrift für die Amtslöschung allein in Betracht kommenden § 144 Abs. 2 FGG nicht für erfüllt hielten. Über die von der Klägerin und den beiden anderen Minderheitsaktionären erhobenen Anfechtungsklagen haben das Landgericht und das Oberlandesgericht Düsseldorf in der Sache nicht entschieden. Sie haben angenommen, da mit der Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses in das Handelsregister die Aktien der Minderheitsaktionäre kraft Gesetzes auf die Hauptaktionärin übergegangen seien (§ 327e Abs. 3 AktG) und damit diese Kläger ihre Aktionärsstellung verloren hätten, sei damit auch schon vor Einreichung der Klage die aus der Mitgliedschaft folgende Anfechtungsbefugnis verloren gegangen. Der von der Klägerin hilfsweise gestellte Feststellungsantrag ist wegen fehlenden Feststellungsinteresses und außerdem deswegen abgewiesen worden, weil ein etwa zu

__________ 2 Es handelt sich um den durch einen die Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisenden Beschluss (15.5.2006) abgeschlossenen Anfechtungsrechtsstreit (II ZR 48/05), Vorinstanzen LG Düsseldorf (39 O 74/03), OLG Düsseldorf (I – 6 U 5/04).

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Eintragung eines Squeeze-out-Beschlusses vor Ablauf der Eintragungsfrist

ihren Gunsten ergehendes Feststellungsurteil nur inter partes wirken, die frühere Haupt- und nunmehrige Alleinaktionärin der G-AG aber nicht binden würde. Gegen das Berufungsurteil hat die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und in erster Linie gerügt, dass ihr nicht – in erweiternder Anwendung des § 265 Abs. 2 ZPO – das Recht zugebilligt worden sei, gegen den Squeeze-out-Beschluss nach §§ 245 und 249 AktG vorzugehen; das von ihr erstrebte Ergebnis hat sie auch aus verfassungsrechtlichen Gründen für unabweisbar erachtet. Der II. Zivilsenat hat diese Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss vom 15. Mai 2006 zurückgewiesen.

III. Amtslöschungsverfahren Indem die Registergerichte der verschiedenen Instanzen in dem vorstehend geschilderten Fall eine Löschung der verfrühten Eintragung des Squeeze-out abgelehnt haben, haben sie den eindeutigen und zweifelsfreien Willen des Gesetzgebers umgesetzt. Während nach der generellen Vorschrift des § 142 FGG Eintragungen gelöscht werden können, die wegen Mangels einer wesentlichen Voraussetzung unzulässig waren, behandelt der nach allgemeiner Meinung3 als lex specialis zu verstehende § 144 Abs. 2 FGG u. a. die Löschung eingetragener Hauptversammlungsbeschlüsse und macht diese Maßnahme von den beiden kumulativ erforderlichen Voraussetzungen abhängig, dass der Beschluss durch seinen Inhalt gegen zwingende Vorschriften des Gesetzes verstößt und seine Beseitigung im öffentlichen Interesse erforderlich erscheint. Mit dieser Verschärfung gegenüber dem allgemeinen Löschungsverfahren hat der historische Gesetzgeber4 den Interessenkonflikt zwischen materieller Richtigkeit des Handelsregisters und dem Gedanken des Vertrauens auf den Registerinhalt, also der Rechtssicherheit lösen wollen: Reine Verfahrensfehler und selbst materiellrechtliche Rechtsverstöße sollen nicht ausreichen, vielmehr zielt das Amtslöschungsverfahren vornehmlich auf den Schutz außenstehender Dritter ab; verletzte Interessen von Aktionären5 betreffen dagegen regelmäßig allein das Verhältnis des Mitglieds zur Gesellschaft und erfordern einen Ausgleich auf dieser Ebene, insoweit hat die Publizität des Handelsregisters und die dadurch hergestellte Rechtssicherheit nach dem Gesetz Vorrang. Die hier bewirkte vorzeitige Eintragung enthält einen derartigen Inhaltsfehler nicht, sondern betrifft lediglich das Verfahren. Für eine Löschung der Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses von Amts wegen ist deswegen offensichtlich kein Raum.

__________ 3 Vgl. Keidel/Krafka/Willer, Registerrecht, 7. Aufl. 2007 Rz. 459 m. w. N.; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 327e AktG Rz. 3; OLG Köln, NZG 2003, 75; OLG Frankfurt, NZG 2002, 91; OLG Hamburg, NZG 2003, 981. 4 § 144 Abs. 2 FGG gilt inhaltlich unverändert seit dem Inkrafttreten des FGG und soll auch in das neue FamFG als § 398 übernommen werden. 5 Vgl. nur Hüffer (Fn. 3), § 241 AktG Rz. 30.

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IV. Amtshaftung Erfolgversprechend scheint demgegenüber für die von der vorzeitigen Eintragung betroffene Klägerin und für die anderen Minderheitsaktionäre, die ebenfalls von der sonst möglichen Durchführung des Anfechtungsverfahrens ausgeschlossen sind, die Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen, um auf diese Weise einen ihnen etwa entstandenen Schaden zu liquidieren. Objektiv hat sich das Registergericht fehlerhaft verhalten, als es vor Ablauf der Anfechtungsfrist den bei ihm von dem Vorstand der G-AG angemeldeten Squeeze-out-Beschluss in das Handelsregister eingetragen hat. Im Rechtsstreit hat die Klägerin in diesem Zusammenhang dem Vorstand der G-AG vorgeworfen, er habe die Eintragung „erschlichen“. Selbst wenn das zutreffend wäre, schlösse dies die Verfolgung von Amtshaftungsansprüchen seitens der Minderheitsaktionäre nicht aus, weil das Registergericht zwar nicht ohne den Antrag hätte eintragen können, es aber einen eigenen, nicht hinweg zu denkenden Verursachungsbeitrag gesetzt hat, indem es die Eintragung ohne eigene sachgerechte Prüfung der Voraussetzungen vorgenommen hat. In der Sache geht die Klägerin mit ihrem Vorwurf im übrigen fehl. Nach dem geltenden Recht – anders war die Lage nach § 319 Abs. 3 Satz 2 AktG i. d. F. vom 6.9.19656 – darf der Vorstand nach dem gemäß § 327e Abs. 2 AktG heranzuziehenden § 319 Abs. 4 und 5 AktG sogleich nach der Beschlussfassung die Anmeldung bei dem Handelsregister einreichen7. Er ist aber dann verpflichtet, seine zu dieser Zeit zutreffende Versicherung, es sei keine Anfechtungsklage anhängig, in der Folgezeit bis zum Ablauf des Zeitraums, bis zu dem eine am letzten Tag der Frist eingereichte Klage noch als „demnächst“ zugestellt angesehen werden kann8, zu aktualisieren. Keinesfalls darf das Registergericht vor Ablauf des genannten Zeitraums die Eintragung bewirken9, sofern nicht die besonderen Voraussetzungen des § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG vorliegen. Gegen diese – selbstverständliche – Pflicht hat das Registergericht objektiv verstoßen, als es vor Ablauf der Frist den Squeeze-out-Beschluss eingetragen hat. Ohne eine Versicherung nach dem erwähnten § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG war eine Eintragung vor Ende Juni 2003 jedenfalls ausgeschlossen, weil das Registergericht vor diesem Zeitpunkt nicht – jedenfalls nicht ohne eine Rückfrage bei dem Vorstand der G-AG oder bei dem Prozessgericht – annehmen durfte, es sei bis zum letzten Tag der Anfechtungsfrist keine Klage eines Minderheitsaktionärs bei Gericht eingegangen, die noch „demnächst“ zugestellt werden konnte; die Zeitspanne für die Zustellung an die Aktiengesellschaft und die aktualisierende Mitteilung von deren Vorstand an das Registergericht (§ 319 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 AktG) musste der Registerrichter in jedem Fall einkalkulieren.

__________ 6 Vgl. dazu auch Koppensteiner in KölnKomm.AktG 3. Aufl. 2004, § 319 AktG Rz. 21; Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht 5. Aufl. 2007, § 319 AktG Rz. 28 m. w. N. 7 Vgl. Grunewald in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 319 AktG Rz. 40; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, 2003, § 327e AktG Rz. 13. 8 Vgl. OLG Hamburg, NZG 2003, 981. 9 Vgl. Koppensteiner (Fn. 6), § 319 AktG Rz. 24.

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Von dieser Rechtslage konnte der Vorstand der Aktiengesellschaft jedenfalls im Frühjahr 2003 ausgehen, ohne gegen seine Vorstandspflichten zu verstoßen und sich dem Vorwurf auszusetzen, er wolle die Eintragung „erschleichen“. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine gegenteilige höchstrichterliche Rechtsprechung, die dem Vorstand hätte vor Augen führen können, dass er ungeachtet der neugefassten Vorschrift sich so zu verhalten hatte, wie dies nach dem früheren Recht allgemein gefordert wurde, nämlich zumindest die Anfechtungsfrist verstreichen zu lassen, ehe er die Anmeldung bei dem Registergerichteinreichen konnte. Die Entscheidung des III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes zu der Parallelvorschrift des § 16 Abs. 2 UmwG10, in welcher es als sozusagen „selbstverständlich“ angesehen wurde, dass die Negativerklärung von dem Vorstand erst nach Ablauf der genannten Frist abgegeben werden kann, weil „erst nach diesem Zeitpunkt überhaupt beurteilt werden kann, ob eine Klage ‚nicht oder nicht fristgemäß‘ erhoben worden ist11,“ stammt vom 5. Oktober 2006 und konnte schon deswegen vom dem Vorstand der G-AG nicht berücksichtigt werden. Darauf, dass sich das weithin die Literatur zum alten Rechtszustand zitierende Urteil über den Wortlaut der Norm und die Entstehungsgeschichte hinwegsetzt, der Sache nach den bis 1994 geltenden Rechtszustand wieder herstellt und schon deswegen nicht überzeugend ist, kommt es für den Fall der G-AG nicht an. Wie oben bemerkt, könnte der Justizfiskus – sollte es in Zukunft ein weiteres Mal zu einer verfrühten Eintragung eines Squeeze-outBeschlusses kommen – den Minderheitsaktionären keinesfalls entgegenhalten, der Vorstand „ihrer“ Aktiengesellschaft habe die Eintragung „erschlichen“. Selbst wenn man die Auslegung des III. Zivilsenats auch auf § 327e Abs. 2 AktG i. V. m. § 319 Abs. 4 und 4 AktG übertragen wollte, wäre die Qualifizierung eines verfrühten Antrags als „Erschleichen“ verfehlt, die richtige Reaktion des Registergerichts wäre dann allein die Ablehnung der Eintragung zu diesem Zeitpunkt, die Erteilung einer Zwischenverfügung mit der Auflage, eine zeitpunktbezogene Negativerklärung zu gegebener Zeit vorzulegen oder/ und selbst Kontakt mit dem Prozessgericht aufzunehmen, um im zeitlichen Umfeld mit dem Ablauf der Anfechtungsfrist in Erfahrung zu bringen, ob eine Klage noch rechtzeitig eingereicht worden ist.

V. Zur Anfechtungsbefugnis nach Eintragung des Squeeze-outBeschlusses Die Befugnis, Beschlüsse der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft auf dem Wege der Anfechtungs- oder Nichtigkeitsfeststellungsklage gerichtlich überprüfen lassen zu dürfen, ist nach dem Aktiengesetz nicht jedermann, sondern – neben dem Vorstand, seinen Mitgliedern und den Mitgliedern des Aufsichtsrates – nur Aktionären eröffnet. Sie gründet auf dem Mitgliedschafts-

__________ 10 III ZR 283/05, NZG 2006, 956. 11 BGH (Fn. 10) Tz. 17.

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recht des Aktionärs, weil es nach dem Willen des historischen Gesetzgebers12 darum ging, die Anfechtungsbefugnis im Interesse der Allgemeinheit einzugrenzen, zugleich aber den von Beschlüssen der Hauptversammlung unmittelbar betroffenen Mitgliedern eine sichere Grundlage dafür zu geben, das Gesetz oder die Satzung verletzende oder kompensationslos Sondervorteile einräumende Beschlüsse (vgl. § 243 AktG) gerichtlich überprüfen und für nichtig erklären zu lassen13. Nach dem ARUG-RefE14 ist beabsichtigt, im Prinzip an dieser Konzeption festzuhalten, weil sie die Gewähr dafür bietet, dass grundsätzlich jeder Aktionär – ohne Rücksicht auf die Höhe seines Anteils am Gesellschaftsvermögen – sein Mitgliedschaftsrecht beeinträchtigende Gesetzes- oder Satzungsverstöße mit gerichtlicher Hilfe beseitigen lassen kann. An dieses durch die Mitgliedschaft begründete Recht knüpft der Gesetzgeber an, wenn er als Sanktion für die Nichterfüllung von Mitteilungspflichten (vgl. §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 AktG, § 28 WpHG) die Ausübung von mitgliedschaftlichen Rechten – dazu gehört auch das Anfechtungsrecht15 – untersagt, also zur Erzwingung der von ihm im Allgemeininteresse höher bewerteten Mitteilungspflichten in das mitgliedschaftliche Verwaltungsrecht eingreift. Im übrigen ist es anerkannten Rechts, dass – vorbehaltlich einer Ausübungskontrolle der Wahrnehmung des Anfechtungsrechts nach § 242 BGB, wie sie bei dem vielfach erörterten rechtsmissbräuchlichen Verhalten bestimmter Gruppen16 von Aktionären, die sich ihr mitgliedschaftliches Kontrollrecht abkaufen lassen17, begegnet – §§ 245 und 249 AktG zu den nach § 23 Abs. 5 AktG zwingenden Bestimmungen gehören, also durch Satzung die Anfechtungsbefugnis weder eingeschränkt noch erweitert werden darf18. Da mit der Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses am 4. Juni 2003 die Aktien der Klägerin nach § 327e Abs. 3 Satz 1 AktG kraft Gesetzes auf die Hauptaktionärin übergangen sind, haben sämtliche Minderheitsaktionäre ihr an die Mitgliedschaft gebundenes Recht auf Durchführung der Beschlussmängelkontrolle verloren. Der von der Klägerin – in Unkenntnis dieses Umstands – einge-

__________ 12 Vgl. näher Zöllner in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, S. 462, 492 Rz. 60; Hüffer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2001, § 245 AktG Rz. 2; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2007, § 245 AktG Rz. 2 ff. – je m. w. N. 13 Vgl. Zöllner (Fn. 12), S. 500 f. Rz. 78, 81. 14 Art. 1 Nr. 36 und dazu Begr. S. 63. 15 Vgl. BGHZ 167, 204 ff. Tz 14; Hüffer (Fn. 3), § 20 AktG Rz. 14; Nolte in Bürgers/ Körber, AktG, 2008, § 20 AktG Rz. 29; ferner Bayer in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 20 AktG Rz. 52. 16 Auch an dem Verfahren II ZR 48/06 waren auf der Klägerseite Personen beteiligt, die nach der sehr verdienstvollen Untersuchung von Baums/Keinath/Gajek, ZIP 2007, 1629 in der „Klägerszene“ nicht unbekannt sind. 17 Vgl. näher Hüffer (Fn. 3), § 245 AktG Rz. 22 ff. m. w. N.; Zöllner (Fn. 12), S. 502 Rz. 83; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 245 AktG Rz. 11, 73 ff.; Sen. Beschl. v. 21.5.2007 – II ZR 266/04, DStR 2007, 1688 Tz. 19 ff. 18 Hüffer (Fn. 3), § 245 AktG Rz. 1; Göz in Bürgers/Körber (Fn. 15), § 245 AktG Rz. 2.

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reichten Klage fehlte damit nach der h. M. in Rechtsprechung und Schrifttum eine entscheidende Begründetheitsvoraussetzung19.

VI. Zubilligung der Anfechtungsbefugnis nach § 265 Abs. 2 ZPO? Wie in der tatbestandlichen Schilderung des Falles mitgeteilt, zielte die Klägerin vornehmlich in der 3. Instanz auf Anerkennung ihrer Anfechtungsbefugnis nach Maßgabe von § 265 Abs. 2 ZPO. 1. Die von § 265 Abs. 2 ZPO erfassten Fälle Da streitbefangene Gegenstände und Forderungen während eines laufenden Prozesses schwerlich einer Veräußerungssperre unterliegen können, ist der ZPO-Gesetzgeber aufgerufen zu bestimmen, wie sich eine solche während des Rechtsstreits eintretende Änderung der materiellen Rechtsträgerschaft auf den Prozess auswirkt. Träfe das Gesetz hierfür keine Regelung, würde durch die Veräußerung der streitbefangenen Sache oder des Grundstücks oder durch die Abtretung der streitbefangenen Forderung die Klage in jedem Fall unbegründet; die klagende Partei könnte hierauf nur durch eine Hauptsachenerledigungserklärung reagieren, um der Kostentragungslast zu entgehen, müsste aber sodann wegen ihres Anspruchs einen neuen Rechtsstreit anstrengen. Dies will der Gesetzgeber durch die §§ 265, 266 ZPO vermeiden und schützt deswegen den Kläger des veräußernden Gegners umfassend, indem der Rechtsstreit mit ihm fortgesetzt wird, während der veräußernde Kläger nach § 265 Abs. 3 ZPO mit Recht – schließlich hat er selbst den Wechsel in der Rechtsträgerschaft herbeigeführt – weniger weitgehend vor den eintretenden Nachteilen geschützt wird. Für den Fall der verfrühten Eintragung eines Squeeze-out-Beschlusses bedeutet dies, daß § 265 Abs. 2 ZPO – unmittelbar angewandt – nicht einschlägig sein kann. Denn diese Vorschrift setzt voraus, dass während eines ordnungsgemäß eingeleiteten Rechtsstreits ein Wechsel der Rechtsträgerschaft eingetreten ist; § 265 Abs. 2 ZPO erfasst aber nicht den Fall, dass eine Klage von einer zu diesem Zeitpunkt nicht sachlegitimierten Partei erhoben wird20. Wenn überhaupt an eine Befugnis zur Erhebung der Anfechtungsklage nach Verlust der Mit-

__________ 19 H. M., vgl. z. B. BGHZ 167, 204 Tz. 15; BGH, Beschl. v. 11.6.2007 – II ZR 152/06, ZIP 2007, 2122 Tz. 6; Hüffer in MünchKomm.AktG (Fn. 12), § 245 AktG Rz. 3 gegen Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 245 AktG Rz. 5 f., je m. w. N.: Der Jubilar vertritt mit Verve den Standpunkt, die Anfechtungsbefugnis sei, ähnlich wie im Verwaltungsrecht, eine Prozessvoraussetzung, wobei er von einem anderen Verständnis der Gestaltungsklage als die h. M. ausgeht, die das Anfechtungsrecht als der Abwehr von Eingriffen der Gesellschaft in das Mitgliedschaftsrecht dienendes Individualrecht, das nur in Form der Gestaltungsklage durchgesetzt wird. 20 Allg. M., vgl. nur Greger in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 265 ZPO Rz. 5b; Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 29. Aufl. 2008, § 265 ZPO Rz. 3 i. V. m. Rz. 1; aus der Rechtsprechung BGH, Urt. v. 13.3.1997 – I ZR 215/94, ZIP 1997, 1356; vgl. aber Schnorbus in Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 327e AktG Rz. 27 mit der nicht begründeten Behauptung, die Anfechtungsbefugnis gehe durch die Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses nicht verloren.

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gliedschaft gedacht werden kann, dann kann es nur um die Frage einer entsprechenden Anwendung der genannten zivilprozessualen Vorschrift auf diesen Fall gehen. 2. Ausdehnung des Anwendungsbereichs nach der bisherigen Judikatur Hierzu gibt es auch für Squeeze-out-Fälle Vorbilder in der Judikatur. Nimmt man § 265 ZPO beim Wort, käme seine Heranziehung für Squeeze-out-Fälle schon deswegen nicht in Betracht, weil es sich bei den auf §§ 327a ff. AktG gestützten Maßnahmen nicht um eine von Freiwilligkeit der handelnden Personen getragene „Veräußerung“, sondern um eine zwangsweise Ausschließung eines nur minderheitlich beteiligten Mitglieds aus der Korporation handelt. Dieser Gesichtspunkt hindert indessen – nimmt man Sinn und Zweck des § 265 ZPO in den Blick – die entsprechende Anwendung der Vorschrift auf die hier erörterte Fallgestaltung nicht. In seinem Urteil vom 5.10.200621 hat der II. Zivilsenat einen Squeeze-out-Beschluss, der während eines laufenden Anfechtungsrechtsstreits gefasst worden war und zum Verlust der Anfechtungsbefugnis geführt hatte, als einen Umstand angesehen, der einer freiwilligen Veräußerung der Aktien gleichgesetzt werden muss22. Er hat deswegen dem Aktionär, der durch den Squeeze out seine Mitgliedschaft in der Aktiengesellschaft und damit seine Sachlegitimation verloren hat, zugebilligt, den bereits eingeleiteten Rechtsstreit fortzusetzen, soweit er daran ein berechtigtes Interesse besitzt. Dieses berechtigte Interesse bestand in dem Fall MASSA deswegen, weil u. a. die Gewährung von Sondervorteilen an den Hauptaktionär in Rede stand und ein positiv ausgehender Anfechtungsrechtsstreit die Rechtsposition des Minderheitsaktionärs bei der Verfolgung seiner finanziellen Interessen im Rahmen des Spruchverfahrens zu erhalten und zu verbessern geeignet war. Scheidet der Aktionär dagegen aus der Gesellschaft aus, ohne dass ein rechtliches Interesse an der Klärung der behaupteten Beschlussmängel besteht, bewendet es nach der genannten Entscheidung dabei, dass der verfolgte Anspruch unbegründet und die Klage abzuweisen ist23. Mit dieser Fallgestaltung ist der hier erörterte Verlust der Mitgliedschaftsstellung durch verfrühte Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses nicht zu vergleichen, weil hier – anders als in dem Fall MASSA – die Anfechtungsbefugnis schon vor Klageerhebung und nicht erst im Laufe des Rechtsstreits verloren gegangen ist. Ebenso wenig lassen sich Erwägungen des OLG Stuttgart24 für die von dem Verlust der Mitgliedschaftsstellung in der G-AG betroffene Klägerin fruchtbar machen. In jenem Fall hatte der Kläger in der Zeit zwischen der Beschlussfas-

__________ 21 22 23 24

BGHZ 169, 221 – MASSA; vgl. dazu auch Waclawik, ZIP 2007, 1 ff. BGHZ 169, 221 Tz. 15 f. BGHZ 169, 221 Tz. 17. OLG Stuttgart, WM 2006, 392.

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sung nach §§ 327a ff. AktG (Juli 2003) und der Eintragung des Squeeze-outBeschlusses (Mai 2005) als Aktionär an einer Hauptversammlung der Gesellschaft teilgenommen, Widerspruch zu Protokoll gegen einen Gewinnverwendungsbeschluss und danach fristgerecht Anfechtungsklage erhoben. Da er im Zeitpunkt der Klageerhebung noch Aktionär war, konnte an seiner ursprünglich vorhandenen Anfechtungsbefugnis kein Zweifel bestehen, vielmehr ging es wie im Fall MASSA25 allein um die Frage, ob trotz des nach § 327e Abs. 3 Satz 1 AktG eingetretenen Mitgliedschaftsverlusts die ordnungsgemäß erhobene Anfechtungsklage fortgeführt werden durfte; das hat das OLG Stuttgart mit Billigung des II. Zivilsenats26 bejaht. 3. Notwendigkeit einer darüber hinausgehenden Erweiterung aus Gründen des Verfassungsrechts? Erweist sich danach, dass die Regeln des sog. „einfachen“ Rechts keine Handhabe bieten, einem von einer verfrühten Eintragung eines Squeeze-out-Beschlusses betroffenen Minderheitsaktionär den Weg zu einer gerichtlichen Kontrolle der umgesetzten Maßnahme und damit u. U. zur Revidierung derselben zu eröffnen, ist zu fragen, ob Art. 14 GG der entsprechenden Interpretation des geltenden Rechts entgegensteht oder ob die geschriebenen Regeln verfassungsrechtlicher Kontrolle standhalten. Anders gewendet geht es um die Frage, ob es von Verfassungs wegen gewährleistet sein muss, dass ein Squeezeout-Beschluss in jedem Fall von einem betroffenen Aktionär auf dem Wege der Anfechtungsklage gerichtlich überprüft werden kann oder ob es ausreicht, daß ein solcher minderheitlich beteiligter Aktionär die etwa bestehenden, oben erörterten Amtshaftungsansprüche verfolgen und sich außerdem seine wegen des Verlustes der Mitgliedschaft eintretenden finanziellen Einbußen im Rahmen des Spruchverfahrens nach dem durchgeführten Squeeze out ersetzen lassen kann. a) Zur jüngeren Rechtsprechung des BVerfG Wiederholt hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfasse auch das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum und damit auch die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs in der Aktiengesellschaft. Diese mitgliedschaftliche Stellung gibt – im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Satzung – dem Aktionär, wie dies seit dem „Feldmühle“-Urteil27 ständiger Rechtsprechung entspricht, Leitungsbefugnisse und vermögensrechtliche Ansprüche. Indessen ist das Feldmühleurteil nur der Ausgangspunkt einer langjährig verfolgten, aber im Blick auf die einzelnen zu entscheidenden Fälle weiter differenzierten und variierten Rechtsprechungslinie. Sie trägt gerade in den Erkenntnissen jüngerer Zeit des 1. Senats des Bun-

__________ 25 BGHZ 169, 221. 26 Zurückweisungsbeschluss v. 5.3.2007, II ZR 317/05. 27 BVerfGE 14, 263, 276.

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desverfassungsgerichts28 und seiner 1.29, seiner 2.30 und seiner 3. Kammer31 deutlich der seit dem im Jahr 1962 ergangenen „Feldmühle“-Urteil eingetretenen Entwicklung in Gesellschaft, Wirtschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung Rechnung und hat mehrfach ausgesprochen, dass beide mitgliedschaftlichen Befugnisse unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsgarantie nicht in allen Fällen in gleicher Weise und auf demselben Wege geschützt werden müssen. Für die Eingliederung ist in der Entscheidung des 1. Senats vom 27.4.199932 ausgeführt, dass die Vorgaben des „Feldmühle“-Urteils dadurch erfüllt sind, dass „vor allem“ die Aktionäre durch Ausgleich und Abfindung „wirtschaftlich voll entschädigt“ werden, weil die Abfindung den Verlust der Gesellschaftsbeteiligung kompensiert, zumal diese materiellrechtliche Position durch die Möglichkeit, ein Spruchstellenverfahren nach den §§ 306, 320b AktG betreiben zu können, verfahrensrechtlich abgesichert ist. Der Entscheidung lässt sich nicht die Forderung entnehmen, zusätzlich – dem geltenden Verfahrens- und Aktienrecht zuwider – müsse die Anfechtungsklage erhoben werden können, damit die Minderheitsaktionäre ihre Stellung als Anteilseigentümer wahren können. In Fortführung dieses differenzierenden Ansatzes haben die erwähnten Kammern des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts in der Folgezeit herausgearbeitet, dass die verfassungsrechtlich gebotenen Schutzrechte für die Minderheitsaktionäre auf die „Vermögenskomponente der Beteiligung konzentriert werden“ dürfen33. Besonders deutlich wird die genannte Differenzierung in dem ebenfalls vom 30.5.2007 stammenden Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts34 herausgestellt, wenn – der einfachrechtlichen Lage und der Lebenswirklichkeit entsprechend – entscheidend darauf abgestellt wird, dass im Rahmen einer Squeeze-out-Situation, in der der Hauptaktionär mindestens 95 % des Grundkapitals hält, die mitgliedschaftlichen Leitungsbefugnisse eines Minderheitsaktionärs in der Regel bedeutungslos sind und deswegen rechtliche Regelungen geschaffen werden dürfen, bei denen sich „die Schutzvorkehrungen zugunsten des Minderheitsaktionärs auf die vermögensrechtliche Komponente der Anlage“ beschränken35. Deswegen hat die Kammer ferner36 ausdrücklich entschieden, „der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehalten“, für den Fall, dass der Anfechtungsprozess später anders als das Freigabeverfahren „endet, ein Verfahren bereitzustellen, das dem ‚zu Unrecht‘

__________ 28 29 30 31 32 33

Beschl. v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289 = ZIP 1999, 1436. Beschl. v. 23.8.2000 – 1 BvR 68/95 und 147/95, ZIP 2000, 1670. Beschl. v. 30.5.2007 – 1 BvR 1267/06 und 1 BvR 1280/06, ZIP 2007, 1520. Beschl. v. 30.5.2007 – 1 BvR 390/04, ZIP 2007, 1261. BVerfGE 100, 289, dort Tz. 50 (juris). Beschl. v. 23.8.2000 (Fn. 29) Tz. 16 [juris]; ähnlich Beschl. v. 30.5.2007 [2. Kammer] (Fn. 30), Tz. 16 [juris]. 34 1 BvR 390/04, ZIP 2007, 1261. 35 BGH (Fn. 34) Tz. 22 [juris]; Vgl. dazu jetzt auch OLG Frankfurt, NZG 2007, 472. 36 BGH (Fn. 34) Tz. 31 [juris].

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ausgeschlossenen Minderheitsaktionär die Wiedererlangung seiner Aktionärsstellung garantiert“. b) Verfassungsrechtliche Gründe gebieten die Erweiterung der Klagemöglichkeit nicht Angesichts dieser Maßstäbe bedarf der von einem verfrüht eingetragenen Squeeze-out-Beschluss betroffene Minderheitsaktionär keines weitergehenden Schutzes. In dem Ausgangsfall der G-AG hielt die Hauptaktionärin 98,56 % am Grundkapital der Gesellschaft, das verfassungsrechtlich geschützte Anteilseigentum der Klägerin reduzierte sich zwangsläufig auf die vermögensrechtliche Komponente ihrer Beteiligung, weil sie mangels hinreichenden Einflusses in der Aktiengesellschaft von vornherein keinerlei Leitungsbefugnisse unmittelbar oder mittelbar ausüben, sondern allenfalls während der Dauer ihrer Mitgliedschaft ihren „Lästigkeitswert“ gegenüber von der Mehrheit beschlossenen Maßnahmen zur Geltung bringen konnte. Ihr vermögensrechtliches Interesse, den wahren Wert ihrer kraft Gesetzes auf die Hauptaktionärin übergehenden Aktien zu erhalten, wird durch das in § 327f AktG verfahrensrechtlich abgesicherte, in § 327b AktG niedergelegte Recht auf Leistung einer Barabfindung, auf Abfindungszinsen und auf Sicherstellung der von der Hauptaktionärin geschuldeten Zahlungen gewährleistet. Im Rahmen des Spruchverfahrens hat es die Klägerin wie die anderen Minderheitsaktionäre in der Hand, das behauptete rechtswidrige Verhalten des Hauptaktionärs und des Vorstands im Vorfeld des Squeeze-out-Beschlusses vorzutragen; die sich daraus etwa ergebenden Schadenersatzansprüche nach §§ 309 Abs. 2, 317 f. AktG wären dann bei der Bewertung der Aktiengesellschaft und damit bei der Bemessung der Barabfindung zu berücksichtigen. Sie gehören auch nach der Systematik der einfachrechtlichen – vom Bundesverfassungsgericht insgesamt als mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung stehend qualifzierten – Vorschriften des Squeeze-out-Verfahrens37 in das Spruchverfahren. Mehrere Jahre zurückliegende angebliche Pflichtverletzungen des Managements der Gesellschaft haben für die Rechtsstellung der Minderheitsaktionäre aktuelle Bedeutung, insofern schädigende und das Gesellschaftsvermögen aushöhlende Maßnahmen des Hauptaktionärs und der Organe der Aktiengesellschaft Ansprüche auslösen können, die im Rahmen der Unternehmensbewertung und damit der Bemessung der Barabfindung Berücksichtigung finden können. Solche für die Bemessung der Barabfindung relevante Umstände können nach § 327f AktG schlechthin nicht Grundlage eines Anfechtungsbegehrens sein, sie sind vielmehr nach der klaren und vom Bundesverfassungsgericht nach verfassungsrechtlicher Prüfung gebilligten gesetzlichen Lage im Spruchverfahren zu prüfen und zu berücksichtigen.

__________ 37 Beschl. v. 30.5.2007 – 1 BvR 1267/06 und 1280/06, ZIP 2007, 1600; v. 28.8.2007 – 1 BvR 861/07, ZIP 2007, 1987; v. 19.9.2007 – 1 BvR 2984/06, ZIP 2007, 2121.

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VII. Folgen einer etwaigen Anerkennung einer erweiterten Anwendung Wollte man es – entgegen den vorstehenden Darlegungen – aus verfassungsrechtlichen Gründen für unabweisbar erachten, dem in einem Einzelfall durch staatlichen Akt vor Einreichung der Anfechtungsklage um seine Mitgliedschaft gebrachten Minderheitsaktionär über das geltende einfache Recht hinaus eine Anfechtungsbefugnis zu gewähren, und wollte man weiter annehmen, der Anfechtungsrechtsstreit ginge zugunsten eines solchen Klägers aus, sind die Folgen eines solchen Prozessausgangs in den Blick zu nehmen. a) Es ist allgemein anerkannt, dass Squeeze-out-Beschlüsse ebenso wie Eingliederungsmaßnahmen, obwohl in das Handelsregister eingetragen, keine Bestandskraft erlangen38, wenn Grundlage der Eintragung lediglich ein erfolgreich durchgeführtes Freigabeverfahren ist; insofern unterscheidet sich die Rechtslage von der bei bestimmten Strukturmaßnahmen, in denen der Gesetzgeber ebenfalls ein Freigabeverfahren vorgesehen, eine daraufhin bewirkte Eintragung mit den sich für die betroffenen Unternehmen und ihre Gesellschafter ergebenden Folgen aber als unabänderlich festgeschrieben hat39. Das Verfahren, das sich an eine rechtskräftige Feststellung der Nichtigkeit des freigegebenen und eingetragenen Beschlusses ergibt, hat der Gesetzgeber nur rudimentär nämlich in § 319 Abs. 6 Satz 6 AktG – er findet über die Verweisung in § 327e Abs. 2 AktG auch im Falle des Squeeze-out Anwendung – in der Weise geregelt, dass die Aktiengesellschaft, die das Freigabeverfahren betrieben und den zur Eintragung führenden Beschluss erwirkt hat, verpflichtet ist, dem Antragsgegner – also dem Minderheitsaktionär, der gegen den Eingliederungsoder Squeeze-out-Beschluss Anfechtungsklage erhoben hat – Schadenersatz zu leisten. b) Anders als bei einer Eingliederung, die schon nach dem Gesetz nicht schlechthin unabänderlich ist (vgl. § 327 AktG) und für die im Schrifttum – oft ohne nähere Begründung – vertreten wird, Schadenersatz könne auch auf dem Wege der Naturalrestitution40 geleistet werden, kann bei einem durch Eintragung

__________ 38 Vgl. OLG Düsseldorf, NZG 2004, 328 f.; Fleischer in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2007, § 327e AktG Rz. 40; Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 6), § 327 AktG Rz. 28 und 36; Grunewald in MünchKomm.AktG (Fn. 7), § 327e AktG Rz. 7; Emmerich/ Habersack (Fn. 6), § 327e AktG Rz. 8; Hüffer (Fn. 3), § 327e AktG Rz. 3a; Schnorbus in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 20), § 327e AktG Rz. 15; Singhof in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 327e AktG Rz. 11; Gessmann-Nuissl, WM 2002, 1205, 1211; Paschos u. a., NZG 2006, 327, 330 f.; Keul, ZIP 2003, 566, 568 f.; Krieger, ZHR 158 (1994), 35, 43 f.; anders aber de lege ferenda der vom Gesetzgeber nicht aufgegriffene Vorschlag des DAV, NZG 2001, 420, 432 und 1003, 1008. 39 Vgl. § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG, § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG; s. ferner § 20 Abs. 2 UmwG. 40 Vgl. Knöfler in Heidel, AktG, 2. Aufl. 2007, § 319 AktG Rz. 32; Fett in Bürgers/ Körber (Fn. 15), § 319 AktG Rz. 25 „vorrangig“; Keul, ZIP 2003, 566, 568; GesmannNuissl, WM 2002, 1205, 1211; v. Schnurbein, AG 2005, 725, 728; Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 6), § 319 AktG Rz. 36 „soweit möglich“; Hüffer (Fn. 3), § 319 AktG Rz. 21 „soweit sich Eingliederungsfolgen rückgängig machen lassen“; ungenau Krieger in MünchHdb.GesR, Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 73 Rz. 29, 42; differenzierend Singhof in Spindler/Stilz (Fn. 38), § 319 AktG Rz. 26; gegen Naturalrestitution

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vollzogenen Squeeze-out eine solche gegenständliche Rückabwicklung ungleich schwerer von statten gehen. Denn hier ist Schuldner des Schadenersatzanspruchs die Gesellschaft, welche das Freigabeverfahren betrieben hat; die Aktien, welche an den Minderheitsaktionär zurückübertragen werden müssten, befinden sich indessen in den Händen des Hauptaktionärs. Dieser hat dieselben kraft Gesetzes erworben, ist rechtmäßiger Inhaber der Papiere geworden, genießt als solcher den Schutz das Art. 14 GG und ist regelmäßig – wie oben ausgeführt, mangels der „Erschleichung“ der Eintragung auch nicht in dem hier zum Anlass der Untersuchung genommenen Fall einer verfrühten Eintragung des Squeeze-out-Beschlusses – nicht wegen Treupflichtverletzung dem ehemaligen Minderheitsaktionär gegenüber schadensersatzpflichtig. Er ist nicht der Adressat des Schadenersatzanspruchs nach § 319 Abs. 6 Satz 6 AktG, wenngleich er der durch das Squeeze-out-Verfahren und die anschließende Eintragung der Maßnahme mit den sich aus § 327e Abs. 3 AktG ergebenden Rechtswirkungen Begünstigte ist. Von diesem Befund ist auch die 3. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts41 bei ihrer Feststellung in Tz. 31 ausgegangen, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehalten sei, für den Fall, dass der Anfechtungsprozess später anders als das Freigabeverfahren „endet, ein Verfahren bereitzustellen, das dem ‚zu Unrecht‘ ausgeschlossenen Minderheitsaktionär die Wiedererlangung seiner Aktionärsstellung garantiert“. c) Im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum – es ist in diesem Zusammenhang dadurch gekennzeichnet, dass weithin ohne argumentativen Aufwand Thesen aufgestellt werden und auf die Ansicht anderer Autoren verwiesen wird – finden sich unterschiedliche Stellungnahmen, wie auf den Umstand reagiert werden muss, dass der Gesetzgeber in den von § 319 Abs. 6 Satz 6 AktG erfassten Fällen der Eintragung keine Bestandskraft beigemessen und auch die im Gesetzgebungsverfahren unterbreiteten gegenteiligen Vorschläge des Handelsrechtsausschusses des DAV42 durch Schweigen abgewiesen hat43. Teilweise wird auch für den Squeeze out schlicht auf die entsprechenden Ausführungen zur Eingliederung44 verwiesen, ohne dass die unterschiedliche Rechtslage beider Maßnahmen in den Blick genommen wird45. Der Zusam-

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41 42 43 44

45

Ziemons in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 20), § 319 AktG Rz. 44; H. Schmidt, AG 2004, 299, 302 f.; Tretter in Haarmann/Schüppen, Frankfurter Kommentar zum WpÜG, 2. Aufl. 2005, § 327e AktG Rz. 21; wohl auch Grunewald in MünchKomm. AktG (Fn. 7), § 319 AktG Rz. 43. Beschl. v. 30.5.2007 – 1 BvR 390/04, ZIP 2007, 1261. DAV, NZG 2001, 420, 432 und NZG 2001, 1003, 1008. Vgl. Fleischer in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 327e AktG Rz. 40; Büchel in Liber Amicorum Happ, 2006, S. 1, 5. Vgl. Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 6), § 327e AktG Rz. 16; Grunewald in MünchKomm.AktG (Fn. 7), § 327e AktG Rz. 8; Singhof in Spindler/Stilz (Fn. 38), § 327e AktG Rz. 11; Hüffer (Fn. 3), § 327e AktG Rz. 3a, dann aber zutreffend darauf verweisend, dass der Anspruch haftungsrechtlich nicht begründet werden kann; ferner Austmann in MünchHdb.GesR (Fn. 40), § 74 Rz. 86. Zutreffend kritisiert von H. Schmidt, AG 2004, 299, 302 f.

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menhang, in den diese Stellungnahmen gestellt werden, scheint mitunter von dem Wunsch geleitet zu sein, die Freigabeentscheidung deswegen leichter erreichen zu können, weil in diesen Fällen die Eintragung nur vorläufigen Charakter habe und bei einer abweichenden Beurteilung im Hauptsacheverfahren die Umsetzung der von der Hauptversammlung beschlossenen Maßnahme – mehr oder weniger – leicht rückgängig gemacht werden könne46. Soweit von den Vertretern dieser Auffassung die Frage überhaupt problematisiert wird, wie die als grundsätzlich möglich erachtete Naturalrestitution durchgeführt werden kann, finden sich unterschiedliche Vorstellungen, wie sich die Gesellschaft die fehlenden Aktien beschaffen kann47. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die Aktiengesellschaft sich etwas beschaffen muss, was ihr – auch im Sinne von Art. 14 GG – nicht gehört, und dass der Inhaber der Aktien keineswegs ohne weiteres zu entsprechenden Maßnahmen seine Zustimmung geben oder an ihnen mitwirken muss. Aus diesen Gründen wird im Schrifttum48 die sehr einleuchtende, mit Wortlaut und Systematik des Gesetzes in Übereinstimmung stehende Auffassung vertreten, dass eine Schadenersatzleistung im Wege der Naturalrestitution in diesen Fällen überhaupt ausscheidet, der ausgeschlossene Minderheitsaktionär also auf die Geltendmachung von Wertersatz verwiesen ist; angenähert sind dieser Auffassung im Ergebnis diejenigen Autoren, die zwar zunächst die Naturalrestitution befürworten, dies aber durch Vokabeln wie „soweit möglich“49 einschränken. Andere Autoren sehen die Schwierigkeiten, die sich beim Squeeze out durch das Auseinanderfallen der Stellung der schadenersatzpflichtigen Gesellschaft und der des durch den Rechtsakt begünstigten Hauptaktionärs ergeben und wollen sie dadurch lösen50, dass – entgegen dem zweifelsfreien Wortlaut und dem der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden System51 – der Hauptaktionär Schuldner der Schadenersatzleistung sein soll, weil er der von dem Squeeze out Begünstigte ist. Diese Lösung ist mit dem geltenden Recht nicht in Einklang zu bringen. Das genannte schadensersatzrechtliche Problem stellt sich demgegenüber für diejenigen Autoren nicht, die die Übertragung der Aktien auf den Hauptaktio-

__________ 46 Vgl. paradigmatisch Keul, ZIP 2003, 566, 568 f.; v. Schnurbein, AG 2005, 725, 728; Grunewald in MünchKomm.AktG (Fn. 7), § 327e AktG Rz. 7. 47 S. die Zusammenstellung bei Fleischer in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 327e AktG Rz. 41. 48 Vgl. z. B. H. Schmidt, AG 2004, 299, 302 f.; Tretter in Haarmann/Schüppen (Fn. 40), § 327e AktG Rz. 21; kritisch wegen der Undurchführbarkeit der an sich für möglich gehaltenen Naturalrestitution auch Paschos u. a., NZG 2006, 327, 331, vgl. auch Hüffer (Fn. 3), § 327e AktG Rz. 3a. 49 Vgl. z. B. Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 6), § 319 AktG Rz. 36; Hüffer (Fn. 3), § 319 AktG Rz. 21. 50 Vgl. Krieger, BB 2002, 53, 60; Grzimek in Geibel/Süßmann, WpÜG, 2002, § 327e AktG Rz. 20. 51 Zutreffend Fleischer in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 327e AktG Rz. 41; Tretter in Haarmann/Schüppen (Fn. 40), § 327e AktG Rz. 21; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 6), § 327e AktG Rz. 16; Buchta/Sasse, DStR 2004, 958, 960.

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Eintragung eines Squeeze-out-Beschlusses vor Ablauf der Eintragungsfrist

när durch einen freigegebenen, später aber für nichtig erklärten Squeeze-outBeschluss als „fehlerhaft“ im Sinne der Regeln über die fehlerhaft begründete Mitgliedschaft in einer Gesellschaft ansehen und deswegen dem ausgeschlossenen Minderheitsaktionär einen – allerdings nur ex nunc wirkenden – Anspruch auf Übertragung der Aktien („Wiederaufnahme“) einräumen wollen, der sich dann nicht gegen die Gesellschaft, sondern den Hauptaktionär richtet52. Diese im Ansatz nicht zu verwerfende Lösung hat indessen den Nachteil, dass sie nur dann die Situation im Sinne eines Wiederaufnahmeanspruchs in die Gesellschaft regeln kann, wenn sich die Aktien noch in den Händen des seinerzeitigen Hauptaktionärs befinden. Squeeze-out-Beschlüsse werden – anders als dies im Fallmaterial des II. Zivilsenats von den betroffenen Minderheitsaktionären immer wieder geltend gemacht wird – nicht gefasst, um unliebsame Mitglieder „los“ zu werden, sondern sind regelmäßig der Einstieg in umfangreiche Umstrukturierungen, die sich einfacher und für die Mehrheitsgesellschafter schneller und ohne die durch Anfechtungsklagen eintretenden zusätzlichen Kosten verwirklichen lassen, wenn alle Aktien in der Hand eines Gesellschafter liegen53. Wird nach der Eintragung eine solche Umstrukturierungsmaßnahme – rechtlich zulässig – ins Werk gesetzt, scheitert auch ein auf die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft gestützter Wiederaufnahmeanspruch daran, dass der zurückzugewährende Gegenstand, die Aktie, nicht mehr existiert oder der Inhaber der Aktien gewechselt hat54. d) Insgesamt ergibt sich hinsichtlich der Möglichkeit einer „Naturalrestitution“ bei erfolgreicher Durchführung des Hauptsacheverfahrens der Befund, dass sie – wie Koppensteiner55 treffend formuliert hat – nur „soweit möglich“ in Betracht kommt, dass diese Möglichkeit im Regelfall aber nicht bestehen wird, weil ein Schadenersatzanspruch gegen den Hauptaktionär nicht besteht, die Regeln über die fehlerhafte Gesellschaft nur zu einem Wiederaufnahmeanspruch ex nunc führen und bei dessen Geltendmachung regelmäßig die Verhältnisse sich so geändert haben, dass er nicht mit Erfolg wird durchgesetzt werden können. Im Hinblick darauf hat die radikale Lösung56 der generellen Ablehnung der Naturalrestitution den Vorzug der Klarheit und Rechtssicherheit auf ihrer Seite. Hinsichtlich einer Eintragung ohne vorangegangenes Freigabeverfahren wie im vorliegenden Fall kann nichts anderes gelten57.

__________ 52 Emmerich/Habersack (Fn. 6), § 327e AktG Rz. 8; Fleischer, ZGR 2002, 757, 788; ders. in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 327e AktG Rz. 41 a. E.; Hüffer (Fn. 3), § 327e AktG Rz. 3a; wohl auch Singhof in Spindler/Stilz (Fn. 38), § 327e AktG Rz. 11, wenngleich unter dem Aspekt des Schadenersatzes erörternd; für die Eingliederung C. Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, S. 466 ff.; a. A. Tretter in Haarmann/Schüppen (Fn. 40), § 327e AktG Rz. 21. 53 Vgl. in diesem Sinne auch Grunewald in MünchKomm.AktG (Fn. 7), § 327e AktG Rz. 7. 54 Insofern zutreffend Singhof in Spindler/Stilz (Fn. 38), § 327e AktG Rz. 11. 55 Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 6), § 327e AktG Rz. 36. 56 S. oben die Nachw. in Fn. 48. 57 Insofern zutreffend Singhof in Spindler/Stilz (Fn. 38), § 327e AktG Rz. 11.

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Wulf Goette

VIII. Zusammenfassung Die Eintragung eines Squeeze-out-Beschlusses vor Ablauf der Frist für die Erhebung einer Anfechtungsklage gegen den Hauptversammlungsbeschluss ist eine pflichtwidrige, bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen zur Amtshaftung führende Verfahrensweise. Nach dem geltenden Recht (§§ 327e, 319 Abs. 5 AktG) kann der Vorstand der Gesellschaft den Vorgang auch dann schon vor Ablauf der Anfechtungsfrist mit einer – vorläufigen – Negativerklärung versehen bei dem Registergericht einreichen, wenn die möglichen Anfechtungskläger auf ihr Anfechtungsrecht nicht verzichtet haben (vgl. § 319 Abs. 5 Satz 2 AktG). Mit der verfrühten Eintragung verliert der Minderheitsaktionär sein Mitgliedschaftsrecht und damit die Anfechtungsbefugnis. Eine dennoch eingereichte Anfechtungsklage ist als unbegründet abzuweisen. § 265 Abs. 2 ZPO bietet auch in entsprechender Anwendung keine Grundlage dafür, dem ausgeschlossenen Aktionär den Weg zu einer gerichtlichen Überprüfung der Maßnahme mit dem Ziel der Kassation zu eröffnen. Vielmehr ist der ausgeschlossene Minderheitsaktionär in diesem Fall – auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Aktieneigentums – darauf verwiesen, seine auf die finanzielle Komponente der Mitgliedschaft reduzierten Rechte im Spruchverfahren zu verfolgen. Dort können gegebenenfalls in der Vergangenheit liegende pflichtwidrige Verhaltensweisen der Gesellschaft und ihrer Leitungsorgane bei der Bemessung des für die Abfindung maßgeblichen Unternehmenswertes Berücksichtigung finden. Eine gleichwohl zugelassene Anfechtungsklage hätte im Falle ihres Erfolges schwerwiegende Folgen für die Rückabwicklung des bereits vollzogenen Übergangs der Aktien der Minderheit auf den Hauptaktionär; in der Regel lässt sich der Vorgang nicht revidieren, und der Weg über die Naturalrestitution sollte generell verworfen werden. Im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wäre es deswegen wünschenswert, dass der Gesetzgeber in weiterem Umfang als bisher vollzogenen Maßnahmen Bestandskraft beilegen und die betroffenen Minderheitsaktionäre auf die Verfolgung ihrer finanziellen Forderungen wegen des Verlustes der Mitgliedschaft verweisen würde; partiell schlägt der Referentenentwurf des ARUG mit der Beschneidung der Anfechtungsbefugnis insofern den richtigen Weg ein.

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Barbara Grunewald

Können juristische Personen/Personengesellschaften Eigenbedarf im Sinne von § 573 Abs. 2 BGB haben? Inhaltsübersicht I. Einleitung

d) Kein Eigenbedarf der Personengesellschaft e) Betriebsbedarf von Personengesellschaften

II. Die Judikatur des Bundesgerichtshofs III. Eigenbedarf von Gesellschaften 1. Juristische Personen 2. Personengesellschaften a) Die Sichtweise des BGH b) Publikumsgesellschaften c) Der Bedarf aller Gesellschafter als Bedarf der Gesellschaft

IV. Eigenbedarfkündigung von Wohnungseigentümergemeinschaften, Erbengemeinschaften und Vermietermehrheiten V. Ergebnis

I. Einleitung Bekanntermaßen hat der Bundesgerichtshof im Jahr 2001 die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft Bürgerlichen Rechts anerkannt1. Dieses Grundsatzurteil hat Auswirkungen auf viele Rechtsgebiete gehabt, darunter auch auf das Mietrecht. Die unter Mietrechtlern facettenreich geführte Diskussion2 über die damit verbundenen Folgefragen soll hier nur in einem Punkt aufgegriffen werden, nämlich in Bezug auf die Frage, unter welchen Umständen eine Gesellschaft Bürgerlichen Rechts nach § 573 Abs. 1, Abs. 2 BGB wegen Eigenbedarfs kündigen kann. Insoweit ist in Erinnerung zu rufen, dass ein Vermieter nach § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB nur kündigen kann, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat. Dieses ist nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB insbesondere gegeben, wenn der Vermieter die Räume für sich, seine Familienangehörigen oder die Angehörigen seines Haushalts benötigt. Was heißt das nun für eine Gesellschaft Bürgerlichen Rechts, die vermietet? Ergibt sich in diesem Punkt ein Unterschied zu juristischen Personen oder gleichen sich die Ergebnisse?

II. Die Judikatur des Bundesgerichtshofs Im Juni 20073 hatte der BGH einen Fall zu entscheiden, in dem der Beklagte von einer Gesellschaft Bürgerlichen Rechts eine Erdgeschosswohnung gemie-

__________

1 NJW 2001, 1056. 2 Überblick bei Kraemer, NZM 2002, 465; Jacoby, ZMR 2001, 409; Weitemeyer, ZMR 2004, 153. 3 BGH, ZIP 2007, 1955 = NJW 2007, 2845; im Ergebnis ebenso bereits OLG Karlsruhe, NJW 1990, 3278.

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Barbara Grunewald

tet hatte. Der Gesellschaftszweck der Vermieterin war der Erwerb, die Sanierung und anschließende Nutzung des Hauses als Wohnraum, in dem die Wohnung des Beklagten lag. Demgemäß war einziges Vermögens der Gesellschaft Bürgerlichen Rechts das Haus, und die Gesellschafter waren die damaligen Bewohner. Die Gesellschaft kündigte das Mietverhältnis mit dem Beklagten unter Hinweis darauf, dass einer ihrer Gesellschafter schwer erkrankt und daher nicht mehr in der Lage sei, die bislang von ihm bewohnte Dachwohnung in demselben Haus weiter zu nutzen. Vielmehr müsse er in die Erdgeschosswohnung des Beklagten umziehen. Der BGH hat der Räumungsklage stattgegeben. Zwar habe die Gesellschaft selbst keinen Eigenbedarf, so das Urteil, wohl aber ein Gesellschafter. Dieser Eigenbedarf sei der Gesellschaft zuzurechnen, sofern diese Person bereits bei Abschluss des Mietvertrages Gesellschafter gewesen sei. Durch diese Beschränkung auf die damaligen Gesellschafter werde der Mieter vor einem unkalkulierbaren Risiko geschützt. Auch hänge es – so das Urteil weiter – oftmals vom Zufall ab, ob eine Mehrheit von Vermietern (etwa ein Ehepaar) oder eine Gesellschaft vermiete. Bei einer Vermietermehrheit könne aber unstreitig auf Eigenbedarf jedes einzelnen Vermieters abgestellt werden. Wenige Wochen später ging es um die Eigenbedarfskündigung einer Kommanditgesellschaft, die Wohnraum auf ihrem Werksgelände für den Geschäftsführer ihrer Komplementär-GmbH nutzen wollte. Die Klage wurde von demselben Senat des BGH, der auch schon das zuvor genannte Urteil gefällt hatte, abgewiesen. Da der Geschäftsführer nicht Gesellschafter der Kommanditgesellschaft war, ließ das Urteil offen, ob insofern ggf. Eigenbedarf zu bejahen gewesen wäre. Auch ein aus anderen Gründen berechtigtes Interesse – etwa ein besonderes „Betriebsinteresse“ – an der Kündigung i. S. v. § 573 Abs. 1 BGB liege nicht vor.

III. Eigenbedarf von Gesellschaften 1. Juristische Personen Es entspricht nahezu einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass juristische Personen keine Eigenbedarfskündigung aussprechen können. Insoweit wird darauf verwiesen, dass juristische Personen Wohnbedarf weder für sich noch für Familien- oder Haushaltsangehörige haben4. Ein Bedarf von Organen der juristischen Person sei ebenso wenig ein Bedarf eines Angehörigen der juristischen Person wie der Bedarf von Gesellschaftern5.

__________ 4 Hinz in AnwaltKomm.BGB, 2005, § 573 BGB Rz. 27; Häublein in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2008, § 573 BGB Rz. 67; Hannappel in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl. 2007, § 573 BGB Rz. 39; Riecke in Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 3. Aufl. 2008, § 573 BGB Rz. 18; Rolf in Staudinger, BGB, Neubearb. 2006, § 573 BGB Rz. 71; ohne Begründung auch BGH, ZIP 2007, 1955, 1956. 5 Hinz in AnwaltKomm.BGB (Fn. 4), § 573 BGB Rz. 27; Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 9. Aufl. 2007, § 573 BGB Rz. 45.

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Juristische Personen/Personengesellschaften und Eigenbedarf

Diese Wertung entspricht der allgemein getroffenen Aussage, dass ein Durchgriff auf die hinter der juristischen Person stehenden Gesellschafter zugunsten der juristischen Person, wenn überhaupt, dann nur in extremen Sonderfällen, infrage kommt. Denn – so die Grundaussage – wer eine juristische Person gründet, muss sich an diesem Tatbestand und damit an der Personenverschiedenheit zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft auch dann festhalten lassen, wenn sich diese einmal zu seinem Nachteil auswirkt6. Eine Ausnahme zugunsten eines Gesellschafters (nicht aber zugunsten der Gesellschaft) hat der BGH in einem Fall gemacht, in dem ein Alleingesellschafter die Schäden für eine GmbH gegenüber demjenigen geltend machen wollte, der dem Gesellschafter Schadensersatz schuldete7. Ob diese sehr umstrittene Judikatur wirklich überzeugt8, kann hier offen bleiben. Denn eine Erstreckung dieser Überlegungen auf die Eigenbedarfskündigung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil in Extremfällen auf die Generalklausel von § 573 Abs. 1 BGB zurückgegriffen werden kann und daher für zweifelhafte Durchgriffskonstruktionen kein Bedürfnis besteht. So hat der BGH9 beispielsweise entschieden, dass einem Mitglied einer Wohnungsgenossenschaft nach Ausschluss aus der Genossenschaft nach § 573 Abs. 1 BGB gekündigt werden kann, wenn die Wohnung für ein anderes Mitglied benötigt wird. Da dieser praktikable Weg zur Lösung des Problems offen steht, erübrigen sich gewagte Konstruktionen. 2. Personengesellschaften a) Die Sichtweise des BGH Im Ausgangspunkt ist man sich weitgehend einig. Personengesellschaften können, wie in dem eingangs geschilderten Urteil des BGH entschieden, anders als juristische Personen den Eigenbedarf ihrer Gesellschafter zum Anlass nehmen, um selbst nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB zu kündigen. Die Begründung schwankt. Oftmals wird auf den gesteigerten persönlichen Bezug der Gesellschaft zu ihren Gesellschaftern hingewiesen10. In dem eingangs geschilderten Urteil hat der BGH allerdings zu Recht betont, dass für diese Annahme ihrerseits eine Begründung erforderlich wäre, die jedenfalls nicht ein eventuell von Personengesellschaftern übernommenes Haftungsrisiko sein könnte. Denn auch GmbHGesellschafter haften durchaus vergleichbar einem Kommanditisten für die Aufbringung ihrer Einlage und gemäß § 24 GmbHG tritt sogar darüber hinaus

__________ 6 Ulmer, GmbHG, 2005, § 13 GmbHG Rz. 60; Emmerich in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 13 GmbHG Rz. 140. 7 BGHZ 61, 380, 384: Fehlerhafte Beratung des Gesellschafters, dieser Fall würde heutzutage mit der Figur des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter gelöst; BGH, NJW 1977, 1283 (Skiunfall), BGH, ZIP 1989, 98; BGH, GmbHR 1991, 525 (Folgeschaden der unberechtigten Entziehung der Fahrerlaubnis). 8 Kritsch etwa Oetker in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 249 BGB Rz. 275; Schubert in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl. § 249 BGB Rz. 147. 9 BGH, NJW RR 2004, 12. 10 Häublein in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 573 BGB Rz. 67; Jacoby, ZMR 2001, 409, 412; Sonnenschein in FS Kraft, 1998, S. 607, 626; Weitemeyer, ZMR 2004, 153, 164.

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noch eine Ausfallhaftung für die Anteile der Mitgesellschafter hinzu. Auch bestehe – so das genannte Urteil weiter zutreffend – zwischen Haftung und Wohnbedarf kein sachlicher Zusammenhang. Wenn der BGH11 gleichwohl zu dem Ergebnis kommt, dass eine Personengesellschaft den Bedarf ihrer Gesellschafter geltend machen kann, so deshalb, weil er meint, dass Personengesellschaften und Vermietermehrheiten gleich behandelt werden müssten. Es könne – so die Gründe – keinen Unterschied machen, ob Personen auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage einen gemeinsamen Zweck verfolgen und daher eine Gesellschaft Bürgerlichen Rechts bilden oder ob sie schlicht gemeinsam (etwa als Miteigentümer) vermieten. Dieses Argument überzeugt ersichtlich nicht. Denn die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft ist der Grund für die Differenzierung zwischen einer Vermietung durch die Gesellschafter und einer Vermietung durch die Gesellschaft12. Der Blick auf die juristische Person zeigt das. Wer eine Gesellschaft zwischenschaltet, hat davon Vor- und Nachteile. Der Hinweis darauf, dass man auch ohne juristische Person/Personengesellschaft hätte auskommen können, ändert daran nichts. Gerade dies ist ja der Grund dafür, dass bei der juristischen Person im Rahmen von § 573 Abs. 2 BGB auf die Bedürfnisse der Gesellschafter keine Rücksicht genommen wird. Dass auch dem BGH mit seiner Einschätzung nicht ganz wohl war, zeigt die Einschränkung, die das Urteil im Rahmen der Berücksichtigung des Eigenbedarfs der Gesellschafter dann doch macht. Maßgeblich soll nur der Eigenbedarf der Personen (und ihrer Familien- und Haushaltsangehörigen) sein, die schon bei Abschluss des Vertrages Gesellschafter waren, da andernfalls das Risiko einer Eigenbedarfskündigung für den Mieter zu groß sei. Da aber auch bei der Vermietung durch eine natürliche Person mit einer Veräußerung des Mietobjekts an gänzlich unbekannte Personen oder mit dem Zuzug neuer Familienund Haushaltsangehöriger zu rechnen ist, passt diese Argumentation nicht zu der in § 573 BGB gesetzlich festgelegten Risikoverteilung13. Dies gilt verstärkt, wenn man die vom BGH gerade befürwortete Parallele zu Vermietergemeinschaften zieht. Dann wäre doch wohl nach Veräußerung des Miteigentumsanteils ebenfalls auf den Eigenbedarf des neuen Miteigentümers abzustellen14. b) Publikumsgesellschaften Da der BGH bei Personengesellschaften den Eigenbedarf jedes (bei Vertragsschluss bereits vorhandenen) Gesellschafters (und seiner Haus- und Familienangehörigen) im Rahmen von § 573 Abs. 2 BGB berücksichtigen will, hätte dies bei Gesellschaften mit einer Vielzahl von Gesellschaftern weit reichende Folgen. In der Literatur ist daher vorgeschlagen worden, Publikumsgesellschaf-

__________ 11 12 13 14

BGH, ZIP 2007, 1955, 1957; auch Harke, ZMR 2002, 405, 406. Häublein, NJW 2007, 2847. Keil, EWiR 2008, 39, 40, § 573 BGB 1/08, 40. Häublein, NJW 2007, 2848.

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Juristische Personen/Personengesellschaften und Eigenbedarf

ten eine Eigenbedarfskündigung zu versagen15. Der BGH ist dem nicht gefolgt16, da nicht recht klar sei, ab welcher Gesellschafterzahl der Gesellschafterkreis nicht mehr überschaubar und daher die genannte Ausnahme einschlägig sei. Dem ist entgegengehalten worden, dass schon die Verwendung eines eigenen Gesellschaftsnamens dem Mieter deutlich mache, dass er es nicht mit einer kleinen Gesellschaft zu tun habe17. Dieser Hinweis ist nicht ganz klar. Soll es nun auf die hohe Gesellschafterzahl oder auf die Verwendung eines eigenen Namens oder auf beides ankommen? Sofern für alle Gesellschaften, die einen eigenen Namen verwenden, der Rückgriff auf einen Eigenbedarf ihrer Gesellschafter ausgeschlossen sein sollte, versperrt dies in der Praxis wohl fast jeder Gesellschaft die Kündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Denn es muss ja bei Vertragsschluss deutlich werden, dass die Gesellschaft und nicht die Gesellschafter Vertragspartner werden soll und dies erreicht man am besten durch Verwendung eines eigenen Namens. Schon „X + Y Gesellschaft Bürgerlichen Rechts“ wäre ja wohl ein solcher Name, zumal ja keineswegs klar ist, dass nicht noch weitere Personen außer X und Y Gesellschafter der Gesellschaft Bürgerlichen Rechts sind. Für Personenhandelsgesellschaften gilt dasselbe. Sollte es aber auch auf die Gesellschafterzahl ankommen, bliebe der Hinweis auf mögliche Unklarheiten bestehen. Allerdings gibt es außerhalb des Mietrechts schon ein solches „Sonderrecht für Publikumsgesellschaften“18, ohne dass dies zu unüberwindbaren Problemen bei der Festlegung des Anwendungsbereichs dieser Spezialregeln geführt hätte. Darauf könnte zurückgegriffen werden. Doch liefert die Anknüpfung an die pure Größe der Gesellschafterzahl überhaupt ein überzeugendes Abgrenzungskriterium? Das dürfte zu verneinen sein. Insoweit hilft der Blick auf die juristische Person. Allein die Tatsache, dass diese rechtsfähig ist, führt dazu, dass die Besonderheiten und die Bedürfnisse ihrer Gesellschafter regelmäßig unberücksichtigt bleiben. Ob es sich um eine Gesellschaft mit hunderten oder nur einem Mitglied handelt, ist irrelevant. Genau so ist es bei den Personengesellschaften auch. Sie sind unabhängig von der Anzahl ihrer Gesellschafter selbst Vertragspartner. Mag sein, dass bei manchen Gesellschaften stattdessen auch die Gesellschafter hätten Vertragspartner werden können. Aber das sind sie nun einmal schlicht nicht geworden. c) Der Bedarf aller Gesellschafter als Bedarf der Gesellschaft Es ist auch vorgeschlagen worden, eine Eigenbedarfskündigung einer Gesellschaft Bürgerlichen Rechts dann zuzulassen, wenn alle Gesellschafter Eigen-

__________ 15 Drasdo, NJW Spezial 2008, 65; Häublein in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 573 BGB Rz. 67; offen Weitemeyer, ZMR 2004, 153, 160. 16 BGH, ZIP 2007, 1955, 1957. 17 Häublein, NJW 2007, 2847. 18 Überblick bei Grunewald in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2007, § 161 HGB Rz. 13 ff.

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Barbara Grunewald

bedarf haben19. Auch dem ist der BGH nicht gefolgt20. Erneut weist er auf den Fall hin, dass bei einer Vermietermehrheit nur ein Vermieter Eigenbedarf hat und gleichwohl eine Eigenbedarfskündigung möglich sei. Dies müsse dann auch für den Eigenbedarf nur eines Gesellschafters gelten. Dass diese Parallele nicht überzeugt, weil eben die Gesellschaft Bürgerlichen Rechts und nicht ihre Gesellschafter Vermieter sind, ist schon gesagt. Im Ergebnis ist dem BGH aber zuzustimmen. Der Bedarf auch aller Gesellschafter ist nicht der Bedarf der Gesellschaft. Auch dies wird durch einen Blick auf die juristische Person als Vermieter unterstrichen. Dort ist das Ergebnis aufgrund der auch für Personengesellschaften gegebenen Rechtsfähigkeit unbestritten. d) Kein Eigenbedarf der Personengesellschaft Damit steht das Ergebnis gewissermaßen fest: Eine Personengesellschaft hat keinen Eigenbedarf und sie kann auch nicht den Eigenbedarf ihrer Gesellschafter für eine Kündigung nach § 573 Abs. 2 Satz 2 BGB nutzen. Unterschiede zur juristischen Person ergeben sich nicht. Vermieter ist eben in beiden Fällen die Gesellschaft. e) Betriebsbedarf von Personengesellschaften Dass mit dieser restriktiven Interpretation von § 573 Abs. 2 Satz 2 BGB keine untragbaren Ergebnisse verbunden sind, zeigt der eingangs geschilderte Fall der Kommanditgesellschaft. Zu prüfen ist eben, ob die Kündigung der Gesellschaft von einem berechtigten Interesse des Vermieters gedeckt ist. Für Gesellschaften geht es insoweit oft um den so genannten Betriebsbedarf. In dem geschilderten KG-Fall wäre dieser Bedarf etwa dann zu bejahen, wenn die dauernde Anwesenheit des Geschäftsführers auf dem Gelände der Kommanditgesellschaft erforderlich wäre. Auf die Gesellschafterstellung des Geschäftsführers kommt es folglich nicht an. Daher wäre – entgegen der Linie des BGH – auch dann nicht anders zu entscheiden, wenn der Geschäftsführer einen (Zwerg-) Anteil an der Kommanditgesellschaft gehalten hätte. Bei einer Personengesellschaft als Vermieter bestimmt sich der „Betriebsbedarf“ genau wie bei den juristischen Personen nach dem Gesellschaftszweck. Im Ausgangsfall des BGH ist der Gesellschaftszweck die Beschaffung von Wohnraum für die Gesellschafter21. Wenn das aber so ist, dann ist die Kündigung durch ein berechtigtes Interesse der Vermieterin gedeckt, wenn ein Gesellschafter entsprechenden Wohnraum benötigt. In diesem Fall ist Betriebsbedarf gegeben, ganz so wie in dem bereits geschilderten Fall der Wohnungsbaugenossenschaft22. Denn in beiden Fällen geht es darum, den Wohnbedarf der Mitglieder bzw. Gesellschafter gemäß dem Zweck des Verbandes

__________ 19 20 21 22

Harke, ZMR 2002, 405, 407. BGH, ZIP 2007, 1955, 1957. Der Tatbestand ist insoweit allerdings nicht ganz eindeutig. BGH, NJW-RR 2004, 12.

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Juristische Personen/Personengesellschaften und Eigenbedarf

abzusichern. Daher liegt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Ergebnis richtig. Dieses konsequente Abstellen auf einen Betriebsbedarf mag im Einzelfall zu Kündigungen führen, die Mieter überraschend treffen. Aber diese haben von einer Gesellschaft gemietet und müssen genauso wie Mieter, die natürliche Personen als Vermieter haben, ihre Mieter so nehmen wie sie sind. Wer sich absichern will, muss sich den Gesellschaftszweck nennen lassen und versuchen, den zukünftigen Betriebsbedarf abzuschätzen.

IV. Eigenbedarfkündigung von Wohnungseigentümergemeinschaften, Erbengemeinschaften und Vermietermehrheiten Wenn man dem folgt, lassen sich auch für andere Vermietergruppen klare Antworten entwickeln. Da der BGH die Rechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft mittlerweile anerkannt hat23 und der Gesetzgeber diese festgeschrieben hat (§ 10 Abs. 6 WEG), gilt auch für sie das zur Personengesellschaft Ausgeführte entsprechend. Es kommt also nicht auf die vom BGH in den Vordergrund gerückte Fragestellung an, ob statt der Gemeinschaft auch die Wohnungseigentümer die Hausmeisterwohnung hätten vermieten können. Allein wesentlich ist, ob zur Erreichung des Gesellschaftszwecks die Vermietung erforderlich ist. Umgekehrt bleibt es, wenn man mit dem BGH die Rechtsfähigkeit der Erbengemeinschaft verneint, dabei, dass Eigenbedarf der Erben nach § 573 Abs. 2 Satz 2 BGB ebenso zu berücksichtigen ist wie der Eigenbedarf mehrerer Vermieter24.

V. Ergebnis 1. Rechtsfähige Personengesellschaften und juristische Personen können nicht nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB wegen Eigenbedarfs kündigen. 2. Ein eventueller Betriebsbedarf kann im Rahmen von § 573 Abs. 1 BGB berücksichtigt werden.

__________ 23 BGH, NJW 2005, 2061. 24 Sonnenschein in FS Kraft, 1998, S. 607, 624.

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Ulrich Haas/Paul Oberhammer

„Drittwirkung“ von Schiedsvereinbarungen einer Personenhandelsgesellschaft gegenüber ihren persönlich haftenden Gesellschaftern? Inhaltsübersicht I. Zum Thema II. Überblick über den Meinungsstand III. Seitenblicke 1. Gerichtsstandsvereinbarungen 2. Ein Blick über die Grenze a) Schweiz b) Österreich IV. Stellungnahme 1. Ausgangspunkt 2. Bindung durch Vereinbarung i. S. v. § 1029 ZPO (auch) im Namen der Gesellschafter a) Die „Rechtsnatur“ der OHG als Quelle der Erleuchtung? b) Reinkarnation der „Doppelverpflichtungstheorie“ im Verfahrensrecht? aa) Handeln im fremden Namen

bb) Vertretungsmacht cc) Form 3. Bindung durch „Einbeziehung“ ohne eigentlichen Abschluss einer „Vereinbarung“ durch die Gesellschafter a) Ausgangspunkt b) Schiedsbindung aufgrund Akzessorietät? c) Eigene Lösungsansätze aa) Methodenehrlichkeit bb) Lehren aus der Erfüllungstheorie? cc) Lehren aus der prozessualen Aufgabenverteilung von § 129 Abs. 1 und 4 HGB? dd) Zwischenfazit V. Ergebnis

Unter anderem ist der Jubilar bekanntlich ein besonderer Kenner der Rechtsfragen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Prozessrecht. Auch die Verfasser des vorliegenden Beitrags interessieren sich für solche Fragestellungen und haben daher viel von ihm gelernt. Die folgenden Ausführungen haben ein Problem zum Gegenstand, das der Zweitverfasser schon vor über einem Jahrzehnt in seiner vom Jubilar mitbetreuten und -begutachteten Habilitationsschrift für das österreichische Recht behandelt hat; sie sind Frucht unserer Diskussion, die freilich zu keiner vollständigen Einigung geführt hat. Ad multos annos!

I. Zum Thema Die bekannten Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit kommen nur dann voll zum Tragen, wenn sämtliche potentiell an einem Rechtsstreit Beteiligten durch die Schiedsabrede gebunden sind1. Anderenfalls kommt es zu einer Aufspaltung

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1 Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 477.

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Ulrich Haas/Paul Oberhammer

des „Rechtswegs“, die oftmals die Gefahr birgt, dass eine sachgerechte Abwicklung des Rechtsstreits erschwert oder behindert wird. Gerade das Gesellschaftsrecht bietet für solche Konstellationen reiches Anschauungsmaterial. Eine schiedsverfahrens- oder gesellschaftsrechtliche „Einheitslösung“, die in allen denkbaren Fällen eine vollständige Bindung aller Beteiligten bietet, kann es angesichts der Vielfalt denkbarer Fallgestaltungen nicht geben. Hier geht es daher nur um folgende Fragestellung: Zu den potentiell Beteiligten eines Rechtsstreits zählt im Verhältnis zwischen Gläubiger und Personenhandelsgesellschaft auch deren Gesellschafter, der nach § 128 HGB als Gesellschafter einer OHG oder nach §§ 161 Abs. 2, 128 HGB als Komplementär einer KG für die Verbindlichkeit der Gesellschaft den Gläubigern persönlich haftet. Wurde in den Vertrag zwischen Gläubiger und Gesellschaft eine Schiedsklausel aufgenommen, stellt sich die Frage, ob der Gläubiger auch die persönlich haftenden Gesellschafter vor dem Schiedsgericht verklagen kann, oder ob er neben dem Gesellschaftsprozess vor dem Schiedsgericht noch GesellschafterHaftungsprozesse vor den zuständigen staatlichen Gerichten führen muss. Prima vista und aus praktischer Sicht möchte man sagen: Hoffentlich nicht! – Und in der Tat wäre auch hier eine solche Rechtswegaufspaltung nicht nur sehr unpraktisch, sondern würde insbesondere – wie schon eingangs bemerkt – wesentliche Ziele der Schiedsvereinbarung konterkarieren, also den von den Parteien für den Streitfall vereinbarten Konfliktregelungsmechanismus. „Von den Parteien“ – das ist freilich schon zu viel gesagt, denn in der hier interessierenden Konstellation wurde die Schiedsvereinbarung nur von der Gesellschaft geschlossen; wenn sie also von einem Gesellschafter unterschrieben wurde, dann als Vertreter der Gesellschaft und mitnichten im eigenen Namen. Daraus resultiert das Spannungsverhältnis, welches Gegenstand der folgenden Ausführungen ist: Auf der einen Seite steht das wohl verstandene, schutzwürdige Interesse jedenfalls des Gläubigers, wohl aber auch der Gesellschaft, vielleicht auch – was zu prüfen sein wird – der Gesellschafter an sachgerechter, der getroffenen Vereinbarung entsprechender Streitbewältigung. Dem steht der Umstand gegenüber, dass die Gesellschafter jenes prozessuale Rechtsgeschäft, an das sie gebunden sein sollen, jedenfalls prima vista weder selbst noch durch Vertreter abgeschlossen haben – und dieses prozessuale Rechtsgeschäft hält der Gesetzgeber immerhin für so bedeutsam, dass es – anders als nach altem Schiedsverfahrensrecht (vgl. § 1027 Abs. 2 a. F. ZPO) auch bei Kaufleuten einem gesetzlichen Formgebot unterliegt (§ 1031 ZPO), das bei Verbrauchern noch verschärft ist (§ 1031 Abs. 5 ZPO).

II. Überblick über den Meinungsstand Nach wohl herrschender Ansicht erstreckt sich eine Schiedsvereinbarung im Verhältnis zwischen dem Gläubiger und der Gesellschaft ipso iure auch auf den Gesellschafter2. Dies soll jedoch nur für den unbeschränkt haftenden

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2 BGH v. 12.11.1990 – 249/89, NJW-RR 1991, 423, 424; BayObLG v. 13.11.2003 – 4 Z SchH 08/03, SchiedsVZ 2004, 45, 46; OLG Köln v. 9.11.1960 – 2 U 65/60, NJW 1961,

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„Drittwirkung“ von Schiedsvereinbarungen

OHG-Gesellschafter bzw. Komplementär einer KG gelten. Hingegen kann – so die wohl überwiegende Ansicht – die Schiedsvereinbarung einem Kommanditisten nicht entgegen gehalten werden3. Die Begründungen für diese Einbindung des Gesellschafters in die Schiedsvereinbarung zwischen Gesellschaft und Gläubiger variieren. Teilweise wird das Ergebnis mit der Identität der Ansprüche, nämlich der Gesellschaftsschuld und der Gesellschafterhaftung begründet4. Andere leiten die Bindung aus der Haftungsvorschrift des § 128 HGB ab5. Mitunter wird die Erstreckung der Schiedsbindung auf den Gesellschafter auch mit praktischen Erwägungen begründet. Prozessökonomisch sei es nämlich – so diese Ansicht – unerwünscht, den Gesellschaftsprozess im Schiedsverfahren und den Gesellschafterprozess vor den ordentlichen Gerichten auszutragen6. Diese h. M. findet allerdings nicht ungeteilte Zustimmung. Insbesondere auch der Jubilar hat die quasi gesetzliche Schiedsbindung des persönlich haftenden Gesellschafters kritisiert7. Für eine ex-lege-Erstreckung der Schiedsbindung auf den Gesellschafter fehle – so der Jubilar – (unabhängig davon, ob dieser beschränkt oder unbeschränkt für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet) eine hinreichende Rechtfertigung8. Vielmehr könne die Schiedsbindung des Gesellschafters nur auf eigenständiger (prozess-)vertraglicher Grundlage begründet werden. Für den Abschluss einer solchen gesonderten Schiedsvereinbarung werden allerdings keine hohen Hürden aufgestellt. So wird etwa – wenn die Schiedsvereinbarung die Gesellschafter nicht ausdrücklich einbindet – grundsätzlich ein konkludent geäußerter Wille der vertragsschließenden Parteien unterstellt, alle (persönlich haftenden) Gesellschafter bzw. geschäftsführenden Kommanditisten in die Schiedsvereinbarung zwischen der Gesellschaft

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1312, 1313; LG Berlin v. 13.8.1964 – 81 OH 2/64, KTS 1965, 176, 177; Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 1029 ZPO Rz. 34; Münch in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 51; Voit in Musielak, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 1029 ZPO Rz. 8; Geimer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 1029 ZPO Rz. 64; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl. 2007, § 1029 ZPO Rz. 25; Lachmann, Handbuch Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rz. 504; Trittmann/Hanefeld in Böckstiegel/Kröll/Nacimiento (Hrsg.), Arbitration in Germany, 2007, § 1029 ZPO Rz. 42; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 7 Rz. 35; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 174 Rz. 42. BGH v. 12.11.1990 – 249/89, NJW-RR 1991, 423, 424; OLG Hamburg 17.2.1989 – 1 U 86/87, RIW 1989, 577, 578; OLG Köln v. 9.11.1960 – 2 U 65/60, NJW 1961, 1312, 1313; Lachmann (Fn. 2), Rz. 504. OLG Köln v. 9.11.1960 – 2 U 65/60, NJW 1961, 1312, 1313; vgl. auch LG Berlin v. 13.8.1964 – 81 OH 2/64, KTS 1965, 176, 177; Lachmann (Fn. 2), Rz. 504. BGH v. 12.11.1990 – 249/89, NJW-RR 1991, 423, 424; BayObLG v. 13.11.2003 – 4 Z SchH 08/03, SchiedsVZ 2004, 45, 46; siehe auch LG Berlin v. 13.8.1964 – 81 OH 2/64, KTS 1965, 176, 177; Voit in Musielak (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 8; Wiegand, SchiedsVZ 2003, 52, 57. Glossner/Bredow/Bühler, Schiedsgerichtsbarkeit in der Praxis, 3. Aufl. 1990, II Rz. 125; siehe zu dem Gesichtspunkt auch BGH v. 12.11.1990 – 249/89, NJW-RR 1991, 423, 424. Karsten Schmidt, DB 1989, 2315, 2317 ff. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, § 128 HGB Rz. 22; Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 246; Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 477, 482 ff.

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und dem Dritten einbeziehen zu wollen9. Dabei soll sich die Vertretungsmacht des handelnden Gesellschafters, im Namen der übrigen Gesellschafter aufzutreten, aus den Grundsätzen der Duldungs- bzw. Anscheinsvollmacht ergeben10. Damit gelangt aber auch die Minderansicht im Zweifel zu einer Schiedsbindung des Gesellschafters. Letztlich bestehen damit zwischen den verschiedenen Ansichten nur in der Begründung, nicht aber im Ergebnis nennenswerte Unterschiede.

III. Seitenblicke 1. Gerichtsstandsvereinbarungen Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Prozessverträge der Gesellschaft mit Dritten auch den Gesellschafter binden, stellt sich nicht nur bei Schiedsvereinbarungen. Vielmehr tritt das nämliche Problem auch bei Gerichtsstandsvereinbarungen auf. Auch hier stellt sich die Frage, ob der Gesellschafter durch die von der Gesellschaft mit einem Dritten geschlossene Gerichtsstandsvereinbarung gebunden wird. Die wohl h. M. bejaht auch dies und nimmt hier – ebenso wie im Zusammenhang mit den Schiedsvereinbarungen – eine Bindung des Gesellschafters ipso iure an11. Unstreitig ist diese Rechtsansicht freilich nicht. Vielmehr findet sich auch in Bezug auf Gerichtsstandsvereinbarungen die Ansicht, dass die Bindung des Gesellschafters nicht kraft Gesetzes, sondern allenfalls als Folge einer eigenständigen Vereinbarung eintritt. Auch hier soll sich aber die Mitverpflichtung des Gesellschafters durch Auslegung der Gerichtsstandsvereinbarung zwischen der Gesellschaft und dem Dritten ergeben12. 2. Ein Blick über die Grenze a) Schweiz Das schweizerische Pendant zur deutschen OHG ist die Kollektivgesellschaft nach Art. 552 ff. OR. Die Haftung des Gesellschafters in der Kollektivgesellschaft weist Parallelen zum deutschen Recht auf. Dies kann freilich nicht verwundern, waren doch Vorbild für die Bestimmungen des OR über die Kollektivgesellschaft jene des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches von

__________ 9 Karsten Schmidt, DB 1989, 2315, 2318; Schlosser in Stein/Jonas (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 34; Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 128 HGB Rz. 40 und § 171 HGB Rz. 3; enger Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 477, 484. Vgl. i. d. S. schon Habscheid, KTS 1966, 3. 10 Karsten Schmidt, DB 1989, 2315, 2318; Schlosser in Stein/Jonas (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 34; Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 477, 485. 11 Siehe BGH v. 8.7.1981 – VIII ZR 256/80, NJW 1981, 2644, 2646; Geimer in Zöller (Fn. 2), § 38 ZPO Rz. 10; Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 128 HGB Rz. 61; Baumbach/Hopt (Fn. 9), § 128 HGB Rz. 41. 12 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 22.

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1861 (ADHGB) über die offene Handelsgesellschaft13. Freilich wurden diese Bestimmungen mit einigen spezifisch schweizerischen Modifikationen rezipiert14. Nach Art. 568 Abs. 1 OR haften die Gesellschafter zwar – ebenso wie im deutschen Recht – akzessorisch15 „für alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft solidarisch und mit ihrem ganzen Vermögen“. Nach Art. 568 Abs. 3 OR kann der einzelne Gesellschafter für Gesellschaftsschulden aber – anders als im deutschen Recht – nur subsidiär belangt werden. Auf den Gesellschafter kann der Gläubiger – mangels abweichender Parteiabrede16 – erst zugreifen, wenn er zuvor erfolglos Zwangsvollstreckung in das Vermögen der Gesellschaft geführt hat, die Gesellschaft aufgelöst oder über den Gesellschafter der Konkurs eröffnet wurde. Dies gilt auch dann, wenn der Gesellschafter aus der Gesellschaft ausgeschieden ist17. Ein gerade aus prozessualer Sicht und insbesondere auch im hier interessierenden Zusammenhang bemerkenswerter Umstand ist dabei, dass das schweizerische Recht keine § 129 Abs. 4 HGB entsprechende Vorschrift enthält. Daher entspricht es der überwiegenden, u. E. zutreffenden Ansicht, dass der Gesellschafter im Haftungsfall (in deutsche Terminologie transponiert) aus dem gegen die Gesellschaft erwirkten Vollstreckungstitel Zwangsvollstreckung gegen den einzelnen Gesellschafter führen kann18. Zu der Frage, ob und inwieweit Prozessverträge zwischen Kollektivgesellschaft und Gläubiger auch den Gesellschafter einbinden, finden sich im schweizerischen Schrifttum nur vereinzelte Stellungnahmen. Überwiegend wird auch in der Schweiz eine Bindung des Gesellschafters an die Schiedsvereinbarung der Gesellschaft im hier interessierenden Sinne bejaht19. Dies ist wohl zum einen vor dem Hintergrund zu sehen, dass in der Schweiz noch deutlich die traditionelle, „individualistische“ Gesamthanddoktrin dominiert20. – Weil sich die nüchterne schweizerische Gesellschaftsrechtslehre kaum am alten „Mysterienspiel Gesamthand“21 beteiligte, hielt man es bis dato wohl auch für praktisch nicht erforderlich, den aus diesem Spiel resultierenden gordischen Knoten durch die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Gesamthandgesellschaften zu durchschlagen. Die neuere deutsche Gesamthandlehre ist in der Schweiz wohl-

__________ 13 Vgl. Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung zu einem Gesetzesentwurfe, enthaltend Schweizerisches Obligationen- und Handelsrecht v. 27.11.1879, S. 62 f. 14 Vgl. dazu Oberhammer in FS Riemer, 2007, S. 243, 256. 15 Plattner, Die Haftung des Kollektivgesellschafters, 2003, S. 43 ff. 16 Siehe hierzu Plattner (Fn. 15), S. 32 ff. 17 BGE 100 II 376, 378 f. 18 Dazu eingehend Oberhammer in FS Riemer, 2007, S. 243 ff. 19 Rüede/Hadenfeldt, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl. 1993, § 14 III 1 b); BK-Hartmann, Art. 554 OR Rz. 18; BSK-OR II-Baudenbacher, 2. Aufl. 2002, Art. 554 OR Rz. 18; aus der Rspr. vgl. ATC VS, RVJ 1998, 218; a. A. Plattner (Fn. 15), S. 173. 20 Vgl. nur BSK-OR II-Baudenbacher (Fn. 19), Art. 552 OR Rz. 2; Meier-Hayoz/Forstmoser, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 9. Aufl., 2004, § 13 Rz. 8. 21 So die treffende Charakterisierung von Weber-Grellet, AcP 180 (1980), 316.

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bekannt, charakteristisch für den status quo ist jedoch wohl die Aussage, es sei ja nicht zu fragen, welche Gründe gegen, sondern vielmehr welche für deren Übernahme sprächen22. Zum anderen entspricht es einer Tendenz der schweizerischen Rechtsprechung, Dritte (jedenfalls in internationalen Fällen) vergleichsweise großzügig an inter alios geschlossene Klauseln zu binden oder ihnen zumindest nach Treu und Glauben die Berufung darauf zu versagen, die Klausel nicht selbst abgeschlossen zu haben; so hat das Bundesgericht etwa ausgesprochen, es verstoße gegen Treu und Glauben im internationalen Handel, „wenn eine natürliche Person, die sich dauernd und wiederholt bei der Ausführung eines Vertrags eingeschaltet hat, sich zu gegebener Zeit hinter der oder den juristischen Personen verbergen könnte, welche diesen unterzeichnet haben, indem sie bestreitet, an die darin gebundenen Vereinbarungen und insbesondere die Schiedsklausel gebunden zu sein.“23 b) Österreich Die einschlägigen gesetzlichen Grundlagen in Österreich entsprachen bis vor kurzem weitgehend den deutschen: Seit 1938 galt dort das HGB, womit das Gesellschaftsrecht von OGH und KG mit dem deutschen Pendant praktisch identisch war. Mit dem am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Unternehmensgesetzbuch (UGB) wurde es durch eine Kodifikation ersetzt, welche (auf dem HGB aufbauend) nicht zuletzt auch das Konzept des Jubilars vom „Außenprivatrecht der Unternehmen“24 gründlicher verwirklichte als die deutsche Handelsrechtsreform 199825. Das ist kein Zufall, sondern resultiert auch und gerade aus dem Engagement des Jubilars im österreichischen Reformprozess26. Während die hier interessierenden Haftungsbestimmungen praktisch unverändert bleiben (§§ 128 ff. UGB entsprechen fast wörtlich §§ 128 ff. HGB), hat der österreichische Gesetzgeber die Rechtsfähigkeit der Offenen Gesellschaft (OG) – so heißt die frühere OHG nun aufgrund der Ablösung des Kaufmanns- und Handelsgewerbebegriffs durch das neue Unternehmensrecht – nunmehr ausdrücklich im Gesetz verankert (§ 105 UGB). Während also die frühere deutschösterreichische Rechtseinheit im materiellen Recht deutlich zurückgegangen ist, wurde die Konvergenz im Schiedsverfahrensrecht im Gegenzug größer, weil auch das neue, am 1. Juli 2006 in Kraft getretene österreichische Schiedsverfahrensrecht am UNCITRAL-Modellgesetz (und seiner Umsetzung in Deutschland) orientiert ist27.

__________ 22 So Wiegand in FS Forstmoser, 2003, S. 33, 44 f. 23 BGE 129 III 727 = Pra 93 (2004) Nr. 178, S. 1026, 1029 (hier aus dem Französischen übersetzt). 24 Vgl. nur Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 1 II und passim. 25 Vgl. dazu nur Krejci in Krejci (Hrsg.), Reformkommentar UGB, ABGB, 2007, Einführung; ders., Unternehmensrecht, 4. Aufl. 2008, S. 14 ff. 26 Vgl. nur Krejci/Karsten Schmidt, Vom HGB zum Unternehmergesetz, 2002. 27 Vgl. nur Kloiber/Rechberger/Oberhammer/Haller, Das neue Schiedsrecht, 2006.

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Zunächst war die hier interessierende Frage in der österreichischen Literatur strittig28. Der Zweitverfasser des vorliegenden Beitrags hat dann in seiner 1998 publizierten Habilitationsschrift ausführlich begründet dargelegt, warum eine solche Schiedsbindung des Gesellschafters nicht in Betracht kommt29. Dieser Auffassung hat sich kurz darauf der österreichische OGH angeschlossen: Ein Wille, durch den Abschluss einer Schieds- oder Gerichtsstandsvereinbarung auch die Gesellschafter einer OEG (diese war das nichtkaufmännische Pendant zur OHG, auf welche das OHG-Recht weitgehend anwendbar war) zu binden, könne nur dann unterstellt werden, wenn er ausdrücklich und urkundlich geäußert worden sei30. Der OGH geht damit – wie die oben erwähnte neuere deutsche Lehre, insbesondere der Jubilar und ihm folgend der Zweitautor des vorliegenden Beitrags – davon aus, dass die Bindung eine Frage der Auslegung der Schiedsvereinbarung ist; mit dem Zweitautor und entgegen dieser deutschen Lehre geht das österreichische Höchstgericht jedoch (erstens) davon aus, dass ein solcher Wille im Zweifel nicht zu unterstellen ist und dass er (zweitens) unter Einhaltung der gesetzlichen Form für eine Schiedsvereinbarung erklärt werden müsste31. All das ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass nach (damaligem wie heutigem) österreichischen Recht für den Abschluss einer Schiedsvereinbarung eine schriftliche Spezialvollmacht erforderlich ist (§ 1008 ABGB)32 – und eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht wird dem schwerlich gerecht33. Diese Judikatur ist auch nach Inkrafttreten des neuen eingangs erwähnten neuen Schieds- und Gesellschaftsrechts noch aktuell34, weil sich die ausschlaggebenden Vorschriften nicht geändert haben: §§ 128 ff. UGB entsprechen ja wie erwähnt §§ 128 ff. HGB, und auch nach Inkrafttreten des neuen Schiedsrechts ist zum Abschluss einer Schiedsvereinbarung durch einen Vertreter eine Spezialvollmacht erforderlich35, sofern nicht – wie schon bisher –

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28 Vgl. etwa für eine Bindung Wünsch, Schiedsgerichtsbarkeit in Handelssachen, 1968, S. 57 ff.; Falkner, wbl 1989, 173; Koppensteiner in Straube, HGB, 2. Aufl. 1995, § 128 HGB Rz. 6; dagegen Fasching, Schiedsgericht und Schiedsverfahren im österreichischen und internationalen Recht, 1973, S. 28 f.; Kastner/Doralt/Nowotny, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 1990, S. 111. 29 Oberhammer, Die OHG im Zivilprozess, 1998, S. 124 ff. 30 OGH SZ 72/122 = EvBl 2000/25 = wbl 2000/27; zust. Koppensteiner in Straube, HGB, 3. Aufl. 2003, § 128 HGB Rz. 6. 31 Da auch in Österreich bei formgebundenen Geschäften die „Andeutungstheorie“ gilt, müsste dabei eigentlich diese gelten – der OGH folgt freilich bei Prozessverträgen bisweilen noch einer sehr „förmelnden“ Auslegung. 32 Vgl. zu den daraus resultierenden Problemen Oberhammer in FS Welser, 2004, S. 759 ff. 33 Oberhammer (Fn. 29), S. 129 ff. 34 Ebenso Zeiler, Schiedsverfahren, 2006, § 581 ZPO Rz. 116; Hausmaninger in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, 2. Aufl. 2002, § 581 ZPO Rz. 216; a. A. Fremuth-Wolf, in Riegler et al. (Hrsg.), Arbitration Law of Austria: Practice and Procedure, 2007, S. 680; Reiner, GesRZ 2007, 151, 157, die allerdings beide nicht von einer relevanten Rechtsänderung durch das neue Recht ausgehen, sondern lediglich der Auffassung sind, die Rspr. des OGH sei schon nach altem Recht unrichtig gewesen. 35 Krit. dazu Oberhammer, SchiedsVZ 2006, 57, 62 ff.

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aufgrund einer organschaftlichen Vertretungsbefugnis, Prokura oder – nunmehr neu – aufgrund einer Handlungsvollmacht i. S. v. § 54 UGB (vormals HGB) gehandelt wurde; die gedachte Anscheins- oder Duldungsvollmacht des vertretungsbefugten Gesellschafters zum stillschweigenden Abschluss einer Schiedsvereinbarung für die persönlich haftenden Gesellschafter dürfte aber kaum als Handlungsvollmacht qualifizierbar sein.

IV. Stellungnahme 1. Ausgangspunkt Auf den ersten Blick könnte es womöglich nahe liegend erscheinen, die Antwort auf die Frage, ob der Gesellschafter durch die Schiedsvereinbarung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsgläubiger gebunden wird, im Verfahrensrecht zu suchen. Immerhin geht es um die Bindung an einen Prozessvertrag, dessen Grundlage die §§ 1025 ff. ZPO sind. Das Verfahrensrecht knüpft in § 1029 ZPO für die Frage, wie eine Schiedsbindung zustande kommt, an dem Begriff der „Vereinbarung“ an. Die ZPO regelt jedoch nicht, wie diese Vereinbarung zustande kommt und wen sie bindet. Nach ganz h. M. ist nun diese Lücke in den §§ 1025 ff. ZPO – unabhängig davon, welche „Rechtsnatur“ man der Schiedsvereinbarung beimisst36 – durch Rückgriff auf die entsprechenden materiellrechtlichen Vorschriften zu schließen37. Begründet wird dies u. a. damit, dass der Begriff der (Schieds-)Vereinbarung durch das allgemeine (materiellrechtliche) Verständnis der Vereinbarung bzw. des Vertrages vorgeprägt sei. Daher müsse auf die entsprechenden Vorschriften des Privatrechts (entweder unmittelbar oder analog) zurückgegriffen werden. Grenzen sind dieser Lückenfüllung unter Zuhilfenahme des materiellen Rechts allerdings dort gezogen, wo das Prozessrecht ersichtlich von einer vom materiellen Recht verschiedenen Konzeption bzw. Vorstellung ausgeht. Daher ist zu prüfen, welche privatrechtlichen Grundsätze Grundlage einer Bindung der persönlich haftenden Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft an die von deren Vertretern für die Gesellschaft geschlossene Schiedsvereinbarung sein könnten. 2. Bindung durch Vereinbarung i. S. v. § 1029 ZPO (auch) im Namen der Gesellschafter Der Gesellschafter ist ohne weiteres dann an die Schiedsvereinbarung gebunden, wenn er selbst Vertragspartner der Schiedsvereinbarung ist38. Ob dies der Fall ist oder nicht, ist – wie bereits erwähnt – unter Rückgriff auf das materielle Recht zu prüfen. In Literatur und Rechtsprechung werden verschiedene materiellrechtliche Ansätze bemüht, um zu eben diesem Ziel zu gelangen.

__________ 36 Siehe zu den verschiedenen Ansichten Schlosser in Stein/Jonas (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 1; Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 37. 37 Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 37; Beckmann, Statutarische Schiedsklauseln im deutschen Recht und internationalen Kontext, 2007, S. 55. 38 Siehe auch Schlosser in Stein/Jonas (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 32.

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Teilweise arbeitet man insoweit (doch wieder) mit einer individualisierten Sichtweise der Gesamthand, teilweise bemüht man – wie der Jubilar – eine Art „Doppelverpflichtungstheorie“. a) Die „Rechtsnatur“ der OHG als Quelle der Erleuchtung? In der Literatur wird die Frage, ob die Gesellschafter persönlich Träger der zu dem Gesellschaftsvermögen gehörenden Rechte und Pflichten sind, das Gesellschaftsvermögen also nur ein Sondervermögen der Gesellschafter mit der Fähigkeit zur selbständigen Rechtsträgerschaft ist39, oder ob die Gesellschaft ein eigenständiger von ihren Gesellschaftern verschiedener Rechtsträger ist40, als „immer noch offen“ bezeichnet41. Dies dürfte freilich – gerade auch aufgrund des unermüdlichen Engagements des Jubilars für letztere Meinung42 – kaum mehr der Fall sein. Wollte man dennoch der erstgenannten Ansicht folgen, dann liegt freilich die Annahme nahe, dass im Rahmen eines Vertragsschlusses letztlich nicht die Gesellschaft als solche Vertragspartner des Gesellschaftsgläubigers wird, sondern die Gesellschafter (in ihrer Verbundenheit). Von da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Schlussfolgerung, dass mit dem Abschluss einer Schiedsvereinbarung zwischen Gesellschaft und Drittem die Gesellschafter automatisch Vertragspartner dieser Vereinbarung werden und folglich der Schiedsbindung unterliegen. Dies entspricht letztlich auch der Sichtweise, wie sie heute in der Schweiz aufgrund der dort noch herrschenden klassischen Gesamthandlehre (aufgrund eines notabene mit dem deutschen nicht identischen Gesellschaftsrechts) herrschend ist43. Gegen diese individualistische Deutung der OHG spricht auf den ersten Blick der klare Wortlaut des § 124 HGB44. Danach kann die OHG unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen. Damit wird die OHG zwar nicht zu einer juristischen Person45. Wohl aber besteht heute Übereinstimmung dahingehend, dass es sich bei der Vorschrift nicht lediglich um eine „Notlüge des Gesetzgebers“ handelt46, sondern dass damit eine gewisse Verselbständigung der Gesamthand einhergeht. Wie weit diese reicht, wird vielfach mit unklaren Formulierungen eher verdeckt als erhellt, etwa wenn die OHG als „ein der juristischen Person angenähertes“ Konstrukt bezeichnet oder darauf hingewiesen wird, dass die Gesellschaft „Trägerin von Rechten und Pflichten, im Gegensatz zur juristischen Person jedoch nicht ‚als solche‘,

__________ 39 BGH v. 16.2.1961 – III ZR 71/60, BGHZ 34, 293, 297; BGH v. 24.1.1990 – IV ZR 270/88, BGHZ 110, 127, 128 f.; BGH v. 7.10.1987 – IVa ZR 67/86, NJW 1988, 556; vgl. auch Baumbach/Hopt (Fn. 9), § 124 HGB Rz. 1. 40 In diesem Sinne Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 124 HGB Rz. 1; Habersack in Staub, HGB, 4. Aufl. 1997, § 124 HGB Rz. 3. 41 Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Fn. 11), § 124 HGB Rz. 1. 42 Vgl. statt aller Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 8 III 4a) und 46 II. 43 Vgl. oben III.2.a). 44 Karsten Schmidt (Fn. 42), § 8 III 4 a). 45 Baumbach/Hopt (Fn. 9), § 124 HGB Rz. 1. 46 Siehe Karsten Schmidt (Fn. 42), § 46 II 1.

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sondern als Gemeinschaft der in ihr verbundenen Gesellschafter“ ist47. Modernere Deutungen der Gesamthand gehen jedenfalls dahin, diese von einem reinen Objekt i. S. eines Sondervermögens hin zu einem Subjekt, d. h. zu einer rechtsfähigen Personenverbindung (vgl. § 14 Abs. 1 BGB) weiter zu entwickeln48. Folgt man dieser Ansicht, dann wird durch einen Vertragsschluss zwischen Gesellschaft und Drittem unmittelbar nur die OHG, nicht aber der Gesellschafter verpflichtet49. Es ist hier nicht der Platz, diese Diskussion und ihren heutigen Stand en détail zu reflektieren. Festzuhalten ist nur so viel: Praktisch wird die Personenhandelsgesellschaft heute als rechtsfähig angesehen. Spekulationen darüber, ob sie nur „fast ganz“, „quasi“ oder dgl. rechtsfähig sei, sind in diesem Zusammenhang im durchaus negativen Sinne akademisch. Ex post fragt man sich freilich ein wenig, warum darüber seit Jahrzehnten mit so viel Aufwand gestritten wurde und zum Teil noch wird. Hätte nicht zuerst eine entfesselte Begriffsjurisprudenz die „individualistische“ Konzeption der OHG/KG mit erbarmungsloser Konsequenz (und Praxisferne) entfaltet, wäre dann der begriffsjuristische Gegenschlag mit der Behauptung, sie sei überhaupt rechtsfähig, wohl ganz überflüssig gewesen. Hier war wohl – wie bereits erwähnt – einfach ein gordischer Knoten zu durchschlagen. Heute ist die Rechtsfähigkeit der OHG wohl schlicht als datum der jüngeren Rechtsentwicklung zu akzeptieren. Damit ist aber eine Identität von Gesellschaft und Gesellschaftern und damit von Gesellschafts- und Gesellschafterschuld (und damit auch eine Schiedsbindung des Gesellschafters) auf Grundlage der heute herrschenden Ansicht von vornherein ausgeschlossen50. Selbst wenn man aber den (schon seit längerem) „moderneren“ Gesamthandkonzeptionen nicht folgen will und die OHG in erster Linie immer noch als eine Zusammenfassung der mitunternehmerisch handelnden und haftenden Gesellschafter unter einer gemeinschaftlichen Firma qualifiziert51, lässt sich nach deutschem Recht eine Bindung der Gesellschafter an die von der Gesellschaft abgeschlossene Schiedsvereinbarung unter Hinweis auf eine solche „Rechtsnatur“ nicht begründen. Ein Rückgriff im Rahmen der §§ 1025 ff. ZPO auf die individualistische Gesamthandkonzeption scheitert nämlich daran, dass – verfahrensrechtlich gesehen – zwischen dem Gesellschafts- und dem Gesellschafterprozess zu unterscheiden ist52. Werden nämlich Gesellschafter und Gesellschaft verklagt, so handelt es sich hierbei um zwei getrennte Prozesse mit zwei unterschiedlichen Streitgegenständen. Dass eine prozessuale Identität zwischen der Gesellschafts- und der Gesellschafterklage nicht bestehen kann, folgt nicht zuletzt auch aus der gesetzlichen Anordnung in § 129

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47 Huber in FS Lutter, 2000, S. 107, 110. 48 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 124 HGB Rz. 1; Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 705 BGB Rz. 160. 49 So auch für das schweizerische Recht, Plattner (Fn. 15), S. 63. 50 Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 474, 483. 51 BGH v. 16.2.1961 – III ZR 71/60, BGHZ 34, 293, 297. 52 So schon Habscheid, KTS 1962, 1, 4 f.; v. Gerkan/Haas in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, 3. Aufl. 2008, § 124 HGB Rz. 6.

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Abs. 4 HGB. Danach kann aus einem gegen die Gesellschaft gerichteten vollstreckbaren Schuldtitel nicht gegen den Gesellschafter vollstreckt werden. Das Erfordernis eines doppelten Titels macht deutlich, dass für die Rechtsverfolgung gegen Gesellschaft und Gesellschafter zwei Verfahren betrieben werden müssen53. Die Vorstellung von einem einheitlichen materiellrechtlichen Schuldverhältnis zwischen dem Gläubiger und der Gesellschaft bzw. dem Gesellschafter, das den individualistischen Gesamthandkonzeptionen zugrunde liegt, lässt sich mithin nicht in das Verfahrensrecht importieren und für die §§ 1025 ff. ZPO fruchtbar machen54. b) Reinkarnation der „Doppelverpflichtungstheorie“ im Verfahrensrecht? Grundsätzlich kann ein Gesellschafter nicht nur in Vertretung für die Gesellschaft, sondern auch in Vertretung für die übrigen Gesellschafter auftreten und mit einem Dritten ein Rechtsgeschäft abschließen. Fraglich ist aber, ob – wie teilweise in der Literatur befürwortet – der Abschluss einer solchen eigenständigen Schiedsvereinbarung mit den Gesellschaftern ohne weiteres unterstellt werden kann. aa) Handeln im fremden Namen Eine gesonderte Schiedsvereinbarung zwischen Gesellschafter und Gesellschaftsgläubiger setzt zunächst voraus, dass der für die Gesellschaft handelnde Vertreter nicht nur im Namen der Gesellschaft, sondern i. S. d. § 164 Abs. 1 BGB auch im Namen der Gesellschafter aufgetreten ist. Die Fremdbezogenheit des Handelns muss nicht ausdrücklich erklärt werden. Vielmehr kann sich diese auch aus den Umständen ergeben. Fraglich ist freilich, welche Umstände in der hier interessierenden Konstellation gerade dafür sprechen, dass der Vertreter nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die anderen Gesellschafter persönlich verpflichten will. In der Literatur wird ein entsprechender (konkludent geäußerter) Wille aus einer Abwägung der beteiligten Interessen abgeleitet. Danach soll der Gesellschaftsgläubiger einer OHG ein objektives Interesse daran haben, nicht nur eine Schiedsvereinbarung mit der Gesellschaft, sondern auch mit dem Gesellschafter abzuschließen, um eine Rechtswegaufspaltung in Bezug auf die Gesellschafts- und die Gesellschafterklage zu verhindern. Aber auch der Gesellschafter soll – so die vertretene Ansicht – ein objektives Interesse am Abschluss der Schiedsvereinbarung haben. Vielfach handele es sich nämlich bei den Gesellschaftern um Branchenangehörige, die hauptberuflich in der Gesellschaft arbeiten und das Schiedsverfahren als einen für alle Beteiligten vorteilhaften Weg der Streitbeilegung bevorzugen würden55.

__________ 53 Eingehend Oberhammer (Fn. 29), S. 126; Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 474, 484. 54 Vgl. dazu Oberhammer (Fn. 29), S. 318. 55 Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 474, 485.

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Nach h. M. kommt dem Umstand, ob und inwieweit wesentliche Interessen „wirtschaftlicher“ oder „rechtlicher“ Art der Beteiligten berührt werden, für die Frage, ob sich die Beteiligten rechtsgeschäftlich binden wollten, in der Tat eine besondere Bedeutung zu56. Freilich kann der auf Basis solcher objektiver Begleitumstände ermittelte Wille immer nur ein hypothetischer sein, der in einer mehr oder weniger großen Distanz zu den realen Vorstellungen des Handelnden steht. Um nun zu verhindern, dass der durch Auslegung ermittelte Wille zur reinen Fiktion degeneriert, fließen nach h. M. in die wertende Betrachtung noch zwei weitere korrigierende Gesichtspunkte ein, die dafür sorgen sollen, dass der ermittelte Wille nicht gänzlich unwahrscheinlich oder lebensfremd erscheint. So berücksichtigt die h. M. bei der Willensermittlung das aus dem Grundsatz von Treu und Glauben fließende Gebot der Billigkeit57. Mithin ist im konkreten Fall darauf abzustellen, inwieweit die Annahme einer Rechtspflicht den Beteiligten „zumutbar“ ist. Ein weiteres Kriterium, das für einen engeren Wahrscheinlichkeitszusammenhang zwischen hypothetischem und realem Willen sorgen soll, ist der Gesichtspunkt der Verkehrssitte, d. h. die Berücksichtigung des „Üblichen“58. Je ungewöhnlicher die in Frage stehende Abrede zwischen den Parteien ist, desto bestimmter und klarer hat demnach ein entsprechender Wille der Parteien nach außen in Erscheinung zu treten. Der hypothetische Wille hat hier also mit anderen Worten „besonders wahrscheinlich“ zu sein59. Im Lichte dieser Vorgaben wird man kaum davon ausgehen können, die Beteiligten hätten stets auch die Schiedsbindung der Gesellschafter gewollt und erklärt. Ein solcher Bindungswille erscheint vielmehr als reine Fiktion60. Der Verkehrssitte entspricht es jedenfalls nicht, dass ein Gesellschafter (im Rahmen eines unternehmensbezogenen Handelns) seine Willenserklärung nicht nur für die Gesellschaft, sondern stets auch für die Gesellschafter abgibt. Bei der hier gebotenen, oben skizzierten Interessenabwägung ist schließlich auch zu beachten, dass die Schiedsvereinbarung ja nicht irgendein Rechtsgeschäft, sondern immerhin so bedeutsam ist, dass der Gesetzgeber den Gebundenen (durch die Formgebote des § 1031 ZPO) nach einer bis heute jedenfalls sub-

__________ 56 BGH v. 22.6.1956 – 1 ZR 198/54, BGHZ 21, 102, 106 f.; BGH v. 3.11.1983 – III ZR 125/82, BGHZ 88, 373, 382 f.; BGH v. 16.5.1974 – II ZR 12/73, NJW 1974, 1705, 1706; BGH v. 14.11.1991– III ZR 4/91, NJW 1992, 498; siehe auch BGH v. 17.4.1986 – IX ZR 200/85, BGHZ 97, 372, 378 f. und RGZ 65, 17, 19; Singer in Staudinger, BGB, 2004, § 133 BGB Rz. 52. 57 BGH v. 22.6.1956 – 1 ZR 198/54, BGHZ 21, 102, 106 f.; BGH v. 10.10.1984 – VIII ZR 152/83, NJW 1985, 313; Singer in Staudinger (Fn. 56), § 133 BGB Rz. 58, 63. 58 Siehe auch Hefermehl in Soergel, BGB, 13. Aufl. 1999, § 133 BGB Rz. 16, 29; Singer in Staudinger (Fn. 56), § 133 BGB Rz. 65; vgl. auch Jauernig, BGB, 12. Aufl. 2007, § 133 BGB Rz. 4. 59 BGH v. 20.9.1974 – V ZR 44/73, NJW 1974, 2123, 2124. 60 Oberhammer (Fn. 29), S. 127 f.; v. Gerkan/Haas (Fn. 52), § 124 HGB Rz. 3.

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kutan wirksamen Sichtweise warnen und vor Übereilung schützen will61. Kann hier der Vertragspartner der Gesellschaft nach Treu und Glauben davon ausgehen, dass eine so bedeutende Willenserklärung stillschweigend für einen Dritten erklärt wird? Vor diesem Hintergrund wird man verlangen müssen, dass der Wille auch im Namen der Gesellschafter handeln zu wollen, in der Erklärung zumindest irgendeinen Niederschlag gefunden hat. bb) Vertretungsmacht Selbst wenn man davon ausgeht, dass der für die Gesellschaft handelnde Gesellschafter nicht nur in deren Namen, sondern auch im Namen der persönlich haftenden Gesellschafter auftritt, bedarf es für eine Schiedsbindung der übrigen Gesellschafter naturgemäß einer Vertretungsmacht des handelnden Gesellschafters. Dabei ist zunächst festzustellen, dass der bei Abschluss eines Schiedsvertrages auftretende Gesellschafter aufgrund des Gesellschaftsvertrages Vertretungsmacht nur für die Gesellschaft hat. Keinesfalls kann aus dem Gesellschaftsvertrag abgeleitet werden, dass den selbstorganschaftlichen Vertretern auch Vertretungsmacht für das Rechtsverhältnis zwischen Gläubigern und Gesellschaftern zukommt62. Dann aber lässt sich eine Vertretungsmacht – in Ermangelung einer ausdrücklich erteilten rechtsgeschäftlichen Vollmacht – allenfalls mithilfe der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht konstruieren63. Auch dieser Gedanke überzeugt jedoch nicht. Eine Duldungsvollmacht setzt nämlich voraus, dass es der Vertretene wissentlich geschehen lässt, dass ein anderer für ihn wie ein Vertreter auftritt und der Geschäftsgegner dieses Dulden nach Treu und Glauben dahin versteht und auch verstehen darf, dass der als Vertreter Handelnde bevollmächtigt ist64. Die Anscheinsvollmacht unterscheidet sich von der Duldungsvollmacht dadurch, dass bei ihr der Vertretene das Handeln des in seinem Namen Auftretenden zwar nicht kennt und duldet, es aber bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erken-

__________ 61 Heute wird freilich ein Übereilungsschutzzweck von § 1031 ZPO fast nur noch bei Schiedsvereinbarungen mit Verbraucherbeteiligung betont, im Übrigen aber die Beweisfunktion und die Schaffung von Rechtssicherheit in den Vordergrund gestellt (polemisch könnte man anmerken: wohl, weil die gesetzliche Form ja irgendeinen Zweck haben muss): Münch in MünchKomm.ZPO (Fn. 2), § 1031 ZPO Rz. 6 ff.; Voit in Musielak (Fn. 2), § 1031 ZPO Rz. 1; Thümmel in FS Schütze, 1999, S. 935, 942 ff.; den Übereilungsschutzzweck allgemein betonend aber etwa Lionnet/Lionnet, Handbuch Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2005, S. 173; krit. zum Übereilungsschutzgedanken Oberhammer in FS Welser, 2004, S. 759, 763 ff.; ders. in Kloiber/Rechberger/ Oberhammer/Haller (Hrsg.), Das neue Schiedsrecht, 2006, S. 112 ff. Weiterhin wird das Formgebot in der Praxis allerdings bisweilen in einer Weise streng gehandhabt, die sich aus einer bloßen Dokumentationsfunktion kaum rechtfertigen lässt. 62 Oberhammer (Fn. 29), S. 128; Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 477, 485. 63 Weber/v. Schlabrendorff in FS Glossner, 1994, S. 477, 485. 64 BGH v. 10.3.2004 – IV ZR 143/03, NJW-RR 2004, 1275, 1277; BGH v. 14.5.2002 – XI ZR 155/01, NJW 2002, 2325, 2327; BGH v. 15.12.1955 – II ZR 181/54, NJW 1056, 460 f.

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nen und verhindern können65. Wie die Duldungsvollmacht erfordert jedoch auch die Anscheinsvollmacht, dass der Geschäftsgegner nach Treu und Glauben annehmen darf, der als Vertreter Handelnde sei bevollmächtigt. Das setzt in der Regel voraus, dass der Geschäftsgegner die Tatsachen kennt, aus denen sich der Rechtsschein der Bevollmächtigung ergibt66. An diesen Voraussetzungen fehlt es hier aber in aller Regel; denn es ist – abseits besonderer Fallkonstellationen – völlig unklar, woran ein möglicher Rechtsschein für eine Vertretungsmacht des Handelnden anknüpfen könnte. Allein der Umstand jedenfalls, dass jemand Mitglied einer Gesellschaft ist, begründet nicht den Rechtsschein, dass die gesellschaftsvertraglich zur Vertretung berufenen Organe (oder sonstigen Vertreter) auch mit Wirkung für den Gesellschafter Schiedsvereinbarungen oder (sonstige Verträge) abschließen können67. Auch der Jubilar hat Zweifel an dem Konzept der Duldungs- und Anscheinsvollmacht geäußert und ausgeführt, dass eine Lösung, wonach der die Gesellschaft vertretende geschäftsführende Gesellschafter oder Bevollmächtigte zum Abschluss der Schiedsvereinbarung im Namen aller Gesellschafter berechtigt ist, soweit deren Billigung nicht erkennbar wird, „nicht mit zwingender Schärfe begründbar ist“68. In der Tat: Wer bloß aufgrund der Mitgliedschaft eines Gesellschafters in einer Personenhandelsgesellschaft darauf vertraut, dass dieser Gesellschafter durch Rechtsgeschäfte, welche deren Vertreter im Namen der Gesellschaft abgeschlossen hat, (nicht nur im Rahmen von § 128 HGB, sondern vielmehr) individuell verpflichtet wird, der vertraut nicht auf einen Rechtsschein, sondern unterliegt schlicht einem Rechtsirrtum. cc) Form Schließlich bleibt das Problem der Form69. Nach § 1031 Abs. 1 ZPO bedarf die Schiedsvereinbarung grundsätzlich der Schriftform. Das gilt zunächst nur für den Abschluss der Schiedsvereinbarung. Auf den ersten Blick wird die Form daher in aller Regel gewahrt sein, wenn den Anforderungen des § 1031 ZPO im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsgläubiger genügt wird70. Von der Frage des Formzwangs ist nämlich diejenige nach der Inhaltsermittlung zu unterscheiden71. Ob und inwieweit der Gesellschafter Vertragspartner der Schiedsvereinbarung ist, ist nämlich zunächst durch Auslegung, d. h. durch Ermittlung des Inhalts der Vereinbarung zu ermitteln. Fraglich ist allerdings, ob und inwieweit das Schriftformerfordernis des § 1031 ZPO der Einbeziehung

__________ 65 BGH v. 10.1.2007 – VIII ZR 380/04, NJW 2007, 987, 989; BGH v. 5.3.1998 – III ZR 183/96, NJW 1998, 1854, 1855. 66 BGH v. 10.1.2007 – VIII ZR 380/04, NJW 2007, 987, 989. 67 Oberhammer (Fn. 29), S. 129. 68 Karsten Schmidt, DB 1989, 2315, 2318. 69 Kritisch insoweit Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 246. 70 Oberhammer (Fn. 29), S. 130. 71 BGH v. 8.12.1982 – IVa ZR 94/81, BGHZ 86, 41, 47; BGH v. 12.7.1996 – V ZR 202/95, NJW 1996, 2792, 2793; Singer in Staudinger (Fn. 56), § 133 BGB Rz. 30.

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der Gesellschafter in die Schiedsvereinbarung im Wege der Auslegung Grenzen setzt. Grundsätzlich führt die Formbedürftigkeit einer Willenserklärung nicht zu einer Verengung ihrer Auslegung. Insbesondere zieht die Formbedürftigkeit keine Beschränkung auf den Text der vom Formgebot geforderten Urkunde nach sich. Vielmehr können für die Auslegung ohne weiteres auch außerhalb der Urkunde liegende Umstände herangezogen werden72. Ist der Sinngehalt der Erklärung einmal festgestellt, ist jedoch in einer zweiten Stufe zu fragen, ob ein Formzweck die Verlautbarung der Erklärung in der Urkunde selbst erfordert73. Die Rechtsprechung hält nach wie vor an diesem Erfordernis (Andeutungstheorie) fest74. So verlangt sie beispielsweise im Rahmen des § 766 BGB, dass der Urkundeninhalt selbst einen zureichenden Anhaltspunkt für eine entsprechende Auslegung liefert, d. h. der Inhalt der Bürgschaftsverpflichtung in dem Urkundeninhalt irgendwie seinen Ausdruck gefunden hat75. Das gilt zumindest für die wesentlichen Bestandteile der Bürgschaftsverpflichtung (Wille, für fremde Schuld einstehen zu wollen; Bezeichnung des Gläubigers, des Hauptschuldners und der verbürgten Hauptschuld). Zweck dieser Rspr. ist es, einerseits einen extremen Formalismus zu vermeiden, dabei aber andererseits nicht jeden Formbezug aufzugeben, sondern diesen durch Aufstellen von objektiven Kriterien im Ansatz zu wahren. Folgt man dieser Ansicht, dann genügt mithin ein nur außerhalb der Urkunde verlautbarter Wille nicht dem Formerfordernis. Im Lichte dieser Vorgaben wird man die Schiedsbindung der Gesellschafter wohl kaum als formwirksam ansehen können; denn eine Schiedsbindung der Gesellschafter wird in aller Regel in der Schiedsvereinbarung zwischen der Gesellschaft und dem Dritten (hinsichtlich der wesentlichen Bestandteile) kaum angedeutet sein: Diese bezieht sich ihrem Wortlaut nach in den hier interessierenden Fällen ja nur auf die Bindung der Gesellschaft. 3. Bindung durch „Einbeziehung“ ohne eigentlichen Abschluss einer „Vereinbarung“ durch die Gesellschafter a) Ausgangspunkt Die §§ 1025 ff. ZPO enthalten nicht nur eine Lücke in Bezug auf die Begründung der Schiedsbindung76. Vielmehr enthalten sie auch keine Regelungen zur

__________ 72 BGH v. 5.1.1995 – IX ZR 101/94, NJW 1995, 959; BGH v. 30.3.1995 – IX ZR 98/94, NJW 1995, 1886, 1887; BGH v. 8.12.1982 – IV a ZR 94/81, NJW 1983, 672; Singer in Staudinger (Fn. 56), § 133 BGB Rz. 30; Busche in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 133 BGB Rz. 30. 73 Busche in MünchKomm.BGB (Fn. 72), § 133 BGB Rz. 30; Singer in Staudinger (Fn. 56), § 133 BGB Rz. 30 f. 74 Kritisch hierzu Singer in Staudinger (Fn. 56), § 133 BGB Rz. 32 f. 75 BGH v. 20.6.1985 – IX ZR 173/84, NJW 1985, 2528, 2529; BGH v. 5.1.1995 – IX ZR 101/94, NJW 1995, 959; BGH v. 30.3.1995 – IX ZR 98/94, NJW 1995, 1886, 1887; BGH v. 3.12.1992 – IX ZR 29/92, NJW 1993, 724, 725. 76 Vgl. oben IV.1.

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Einbeziehung Dritter in eine fremde Schiedsvereinbarung. Aus diesem Schweigen des 10. Buches zur ZPO kann man nicht folgern, dass die §§ 1025 ff. ZPO einer Einbeziehung Dritter in Schiedsvereinbarungen grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen77. Vielmehr entspricht es ganz h. M., dass Gesamt-78 oder Sonderrechtsnachfolger79 einer der Schiedsparteien ebenfalls einer Schiedsbindung unterworfen sind. Gleiches gilt z. B. für den Begünstigten eines Vertrages zugunsten Dritter80, der eine Schiedsvereinbarung enthält, oder für die Parteien kraft Amtes wie beispielsweise den Testamentsvollstrecker oder Insolvenzverwalter81, wenn sie einer Partei „nachfolgen“, die einer Schiedsbindung unterlag. Sind aber die §§ 1025 ff. ZPO hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit Dritte einer Schiedsbindung unterworfen werden können, nicht abschließend, sondern lückenhaft, dann kann insoweit für das Verhältnis zwischen Prozess- und materiellem Recht nicht anderes gelten als in Bezug auf die Begründung der Schiedsbindung. Auch hier muss ein Rückgriff auf die materiellrechtlichen Kategorien zur Lückenfüllung zulässig sein, solange und soweit diese sich mit dem Prozessrecht vereinbaren lassen82. b) Schiedsbindung aufgrund Akzessorietät? Damit ist die Frage aufgeworfen, ob im Rahmen der §§ 1025 ff. ZPO auf die Haftungsnorm in § 128 HGB zurückgegriffen werden kann, um die Schiedsbindung von der Gesellschaft auch auf den Gesellschafter zu erstrecken83. Anknüpfungspunkt hierfür könnte u. U. der Grundsatz der Akzessorietät der (von

__________ 77 Siehe zur Einbeziehung Dritter Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 30 ff.; Voit in Musielak (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 8 f.; Geimer in Zöller (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 63 ff. 78 BGH v. 5.5.1977 – III ZR 177/74, BGHZ 68, 356, 359; BayObLG v. 9.9.1999 – 4Z SchH 3/99, BayObLGZ 1999 Nr. 58; BayObLG v. 16.1.2004 – 4Z Sch 22/03, SchiedsVZ 2004, 163, 165; siehe auch BayObLG v. 25.10.2001 – 4Z SchH 6/01, NZG 2002, 126, 127; Lachmann (Fn. 2), Rz. 514; Münch in MünchKomm.ZPO (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 45; Geimer in Zöller (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 63; Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 30. 79 RGZ 146, 52, 55; BGH v. 5.5.1977 – III ZR 177/74, BGHZ 68, 356, 359; BGH v. 11.7.1985 – III ZR 33/84, WM 1986, 402, 404; BGH v. 2.10.1997 – III ZR 2/96, NZG 1998, 63 f.; BGH v. 3.5.2000 – XII ZR 42/98, NJW 2000, 2346; Lachmann (Fn. 2), Rz. 521 f.; Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 2), § 175 Rz. 41; Geimer in Zöller (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 67; Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 31; vgl. auch OLG Hamburg v. 29.1.2004 – 11 W 93/03, SchiedsVZ 2004, 266, 268; Voit in Musielak (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 8; enger Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 31 f. 80 Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 36; Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 2), § 175 Rz. 41. 81 Siehe hierzu BGH v. 28.2.1957 – VII ZR 204/56, BGHZ 24, 15, 16 ff.; BGH v. 28.5.1979 – III ZR 18/77, NJW 1979, 2567; BGH v. 3.5.2000 – XII ZR 42/98, NJW 2000, 2346; BGH v. 19.7.2004 – II ZR 65/03, NJW 2004, 2898, 2899. 82 Beckmann, Statutarische Schiedsklauseln im deutschen Recht und internationalen Kontext, 2007, S. 165. 83 Dagegen Karsten Schmidt, ZHR 162 (1998), 265, 272 f., wonach § 128 HGB nur auf materielle Verpflichtungen Anwendung finden kann.

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der Gesellschaftsschuld verschiedenen) Gesellschafterhaftung sein84. Als Akzessorietät bezeichnet man die wechselseitige Abhängigkeit zweckverbundener Rechte85. Folge der Akzessorietät im Rahmen des § 128 HGB ist, dass sich die Gesellschafterhaftung in ihrer Entstehung, ihrem Fortbestand und ihrer Durchsetzbarkeit nach der Gesellschaftsschuld richtet. Diese „dynamische“ Bezugnahme der Gesellschafterhaftung auf die Gesellschaftsschuld bewirkt eine rechtstechnische Vereinfachung; denn die Gesellschaftsschuld betreffende Veränderungen werden unmittelbar auf die Gesellschafterhaftung erstreckt, ohne dass es eines gesonderten, auf das Nebenrecht bezogenen Rechtsgeschäfts bedarf86. Insoweit besteht eine Parallele zur Bürgenhaftung87, denn diese ist im selben Sinne akzessorisch wie die Gesellschafterhaftung nach § 128 HGB88. Fraglich ist nun, ob sich dieser Gedanke der Akzessorietät fruchtbar machen lässt, um eine Schiedsbindung der Gesellschafter zu begründen. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass es sich bei der Schiedsbindung um eine „Modalität“ der Haftung handelt. Dann nämlich würde über den Grundsatz der Akzessorietät die Schiedsbindung ohne weiteres auf den Gesellschafter erstreckt. Auch wenn in Literatur und Rechtsprechung immer wieder Anklänge zu finden sind, die Schiedsbindung als „Eigenschaft“ einer Forderung oder als „Modalität“ der Haftung einzuordnen89, bestehen hieran doch erhebliche Zweifel90. Dagegen spricht zum einen, dass die durch die Schiedsbindung begründete Rechtsposition zu komplex ist, um sie als schlichte „Eigenschaft“ der Forderung bzw. „Modalität“ der Haftung begreifen zu können91. Nach ganz überwiegender – auch vom BGH vertretener – Ansicht wurzelt nämlich in der Schiedsvereinbarung eine Pflichtenstellung der Parteien, die vor allem auf die Förderung des Schiedsverfahrens gerichtet ist92. Dazu zählt (um es etwas praktischer zu sagen) – je nach Verfahrensordnung – etwa die Pflicht, auch als Beklagter einen Kostenvorschuss zu leisten und überhaupt die Kostenbelastung eines Schiedsverfahrens zu tragen. Es leuchtet nicht ein, dieses spezielle Pro-

__________ 84 In diesem Sinne etwa Wiegand, SchiedsVZ 2003, 52, 57. 85 Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 II 3. 86 Siehe hierzu Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 72), § 765 BGB Rz. 61; Medicus, JuS 1971, 497, 498. 87 Siehe hierzu nur Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 72), § 765 BGB Rz. 61. 88 Vgl. Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 II 3 a); Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 16; Habersack in Staub (Fn. 40), § 128 HGB Rz. 20 ff.; Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 246. 89 Vgl. BGH v. 3.5.2000 – XII ZR 42/98, NJW 2000, 2346; BGH v. 2.10.1997 – III ZR 2/96, NZG 1998, 63 f.; BGH v. 5.5.1977 – III ZR 177/74, BGHZ 68, 356, 359; zustimmend Voit in Musielak (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 8; tendenziell auch Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 243; a. A. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 22. 90 Karsten Schmidt, DB 1090, 2315, 2318. 91 Vgl. auch Beckmann (Fn. 82), S. 171 ff. 92 BGH v. 12.11.1987 – III ZR 29/87, NJW 1988, 1215; RGZ 156, 101, 104; siehe vor allem auch Schlosser in Stein/Jonas (Fn. 2), § 1025 ZPO Rz. 36; Rosenberg/Schwab/ Gottwald (Fn. 2), § 174 Rz. 38 f.; Voit in Musielak (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 26.

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zessvertragsverhältnis einfach als eine solche Modalität der vertraglichen Haftung zu deuten. Wollte man anders entscheiden und auch die gesamte Prozessrechtslage zwischen Gläubiger und Gesellschaft gegen die Gesellschafter wirken lassen, so müsste man konsequent auch die Vollstreckbarkeit des Anspruchs im Verhältnis zur Gesellschaft als eine „Modalität“ der Gesellschaftsschuld einordnen mit der Folge, dass diese ebenfalls gegenüber dem Gesellschafter wirkt93. Eben dies schließt aber das Gesetz in § 129 Abs. 4 HGB ausdrücklich aus, wenn es dort heißt, dass aus einem gegen die Gesellschaft gerichteten vollstreckbaren Schuldtitel die Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschafter nicht stattfindet. Schließlich ist – wie oben bereits angemerkt – darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der akzessorischen Haftung nicht nur im Rahmen des § 128 HGB, sondern etwa auch bei der Bürgenhaftung zur Anwendung kommt (§ 767 BGB). Wollte man nun die Schiedsbindung als „Modalität“ bzw. „Eigenschaft“ des Hauptanspruchs einordnen, müsste konsequenterweise auch der Bürge an die von dem Hauptschuldner geschlossene Schiedsvereinbarung gebunden sein94. Dies wiederum ist aber ein Ergebnis, das von niemandem gewollt und daher ganz überwiegend abgelehnt wird95. Wäre die Bindung an Prozessrechtslagen schlichte Konsequenz der Akzessorietät, so müsste man wohl auch immer von einer Rechtskrafterstreckung aus dem Prozess zwischen Gläubiger und Hauptschuldner gegenüber dem akzessorisch Haftenden ausgehen – tatsächlich besteht eine solche Rechtskraftbindung ausweislich und aufgrund der ausdrücklichen Anordnung des § 129 Abs. 1 HGB beim Gesellschafter, nicht aber etwa beim Bürgen96. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass aus dem Grundsatz der Akzessorietät eine Schiedsbindung des Gesellschafters an die Schiedsvereinbarung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsgläubiger nicht abgeleitet werden kann. c) Eigene Lösungsansätze aa) Methodenehrlichkeit Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass die traditionell für das – ja: gewünschte – Ergebnis ins Treffen geführten Begründungen versagen. Damit ist bei der Diskussion der hier interessierenden Frage bis dato ein in unserem

__________ 93 Oberhammer (Fn. 29), S. 126. 94 Hierauf verweist zu Recht Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 246; vgl. auch v. Gerkan/Haas (Fn. 52), § 128 HGB Rz. 9. 95 BGH v. 5.5.1977 – III ZR 177/74, BGHZ 68, 356, 359; BGH v. 12.11.1990 – 249/89, NJW-RR 1991, 423, 424; OLG Hamburg v. 8.11.2001 – 6 Sch 4/01, OLGR Hamburg 2002, 305, 306; Schlosser in Stein/Jonas (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 33; Geimer in Zöller (Fn. 2), § 1029 ZPO Rz. 63; Schwab/Walter (Fn. 2), Kap. 7 Rz. 35; Rosenberg/ Schwab/Gottwald (Fn. 2), § 174 Rz. 42; vgl. auch OLG Hamburg v. 10.6.1982 – 6 U 150/81, VersR 1982, 1096. 96 BGH v. 9.7.1998 – IX ZR 272/96, NJW 1998, 2972, 2973; BGH v. 12.3.1980 – VIII ZR 115/79, NJW 1980, 1460, 1461; Habersack in MünchKomm.BGB (Fn. 72), § 768 BGB Rz. 11.

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Rechtskreis durchaus typischer Vorgang festzustellen: Man möchte etwas aus praktischen Erwägungen, legt diese aber nicht (oder nur durch dogmatische Figuren „überformt“) als Argumentationsgrundlage offen, sondern sucht so lange im aus Gesetz, Rspr. und Lehre gebauten Gebäude der (Begriffs-)Jurisprudenz herum, bis das gewünschte Ergebnis gefunden wird. Nun lebt die Rechtsdogmatik natürlich von und in diesem Gebäude, doch sollte eigentlich seit langem klar sein, dass man in diesem Gebäude bewährter Denkfiguren und Begriffe (je nach methodischem Geschmack mehr oder weniger) vieles, aber eben nicht alles finden kann. Der vorliegende Beitrag hat darin bis hierher z. B. keine Antwort auf die Frage gefunden, ob Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft an die von der Gesellschaft abgeschlossenen Schiedsklauseln gebunden sind. Eine solche Bindung soll hier aber deshalb nicht voreilig verneint werden. U. E. ist es jedoch methodenehrlicher, nicht zweifelhafte dogmatische Konstruktionen zu bemühen, um ein aus anderen Gründen erwünschtes Ergebnis zu erzielen, sondern die Lösung mithilfe einer Abwägung jener Interessen zu begründen, die hier vom Privat- und Verfahrensrecht geschützt werden. Ein solcher interessenbasierter Lösungsansatz im Zusammenhang mit der Frage der Schiedsbindung Dritter wäre freilich nicht neu. Vielmehr liegt dieser letztlich auch der (ganz herrschenden) Ansicht zugrunde, wonach Rechtsnachfolger an die vom Rechtsvorgänger geschlossene Schiedsvereinbarung gebunden sind. Bei der Gesamtrechtsnachfolge ist diese nahezu selbstverständlich, weil diese ja anerkanntermaßen auch alle Verträge und alle Prozessrechtsverhältnisse umfasst. Anders verhält es sich bei der Einzelrechtsnachfolge, also insbesondere bei der Zession eines Anspruchs, für dessen Durchsetzung nach der Vereinbarung von Zedent und Schuldner eine Schiedsvereinbarung gilt. Im Ergebnis ist die Bindung des Zessionars zu Recht herrschend, die Begründungen variieren indes auch hier97. „Rein konstruktiv“ kann die Bindung des Zessionars dabei durchaus nicht belegt werden: § 265 ZPO enthält bekanntlich für die Rechtsfolgen der Zession auf Prozessrechtslagen gewiss nicht die Anordnung, diese gingen ohne weiteres auf den Zessionar über; und dass eine Schiedsvereinbarung ein Nebenrecht i. S. v. § 401 BGB ist98, ist durchaus nicht klar, sondern wäre erst zu begründen99. Letztlich lässt sich hier die Schiedsbindung nur anhand einer Abwägung der Interessen von Zessionar und Schuldner ermitteln, bei der freilich auf bewährte Grundsätze des Zessionsrechts zurückgegriffen werden kann: Dass sich der Zessionar gegenüber dem Schuldner nicht darauf berufen kann, er sei an die Schiedsvereinbarung nicht gebunden, ergibt sich wohl schlicht schon daraus, dass die Rechtsstellung des Schuldners durch die Zession nicht verschlechtert werden darf (§ 404 BGB); umgekehrt hat der Schuldner in aller Regel wohl auch kein schutzwürdiges

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97 Vgl. einen instruktiven Überblick bei Fremuth-Wolf, Die Schiedsvereinbarung im Zessionsfall, 2004, S. 61 ff. m. w. N. 98 So aber eine verbreitete Form der Darstellung; vgl. etwa Roth in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 401 BGB Rz. 12; Zeiss in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, § 401 BGB Rz. 2; RGRK-BGB/Weber, 12. Aufl. 1976, § 401 BGB Rz. 18. 99 Vgl. oben IV.3.b).

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Interesse daran, sich gegenüber dem Zessionar darauf berufen zu können, diesem gegenüber nicht an die Schiedsvereinbarung gebunden zu sein. Interessant ist dabei, dass im Rahmen dieser Interessenabwägung die Formvorschrift in § 1031 ZPO nach ganz h. M. kein Gesichtspunkt ist, welcher der Schiedsbindung des Rechtsnachfolgers entgegensteht; das Interesse an der Bindung des Rechtsnachfolgers wird also offenbar sogar als so hoch bewertet, dass die mit der Formvorschrift angeblich verbundene Warnfunktion diesem gegenüber als entbehrlich angesehen wird. Die in diesem Zusammenhang relevanten Gesichtspunkte können und sollen hier nicht in extenso diskutiert werden; wichtig ist jedoch folgende Einsicht: Wertende Erwägungen reichen uns also, um Zessionar und Schuldner an eine Vereinbarung zu binden, die sie nicht (miteinander) geschlossen haben. Was gilt so gesehen aber bei der hier interessierenden Personenhandelsgesellschaft? In sozusagen freier Wertung mag man vielleicht wenig dagegen einzuwenden haben, dass der Gesellschafter nicht nur an den Inhalt privatrechtlicher, sondern auch an jenen prozessrechtlicher Verträge der Gesellschaft gebunden ist – und eine solche (mehr oder weniger) freie Wertung versteckt sich ja hinter den oben diskutierten dogmatischen Kunstgriffen, mit welchen die h. M. die hier interessierende Schiedsbindung zu begründen trachtet. Oben wurde freilich anhand des Beispiels der Zession skizziert, dass eine solche Drittwirkung von Schiedsvereinbarungen Maß an den die zugrunde liegende materielle Konstellation bestimmenden Wertungen nehmen muss. Welche gesetzlichen Vorgaben bieten daher Orientierung für eine solche wertende Lösung? bb) Lehren aus der Erfüllungstheorie? Eingang in eine solche Interessenabwägung kann zunächst die Wertung des § 128 HGB finden. Danach sind die von der Gesellschaft getroffenen Vereinbarungen für deren persönlich haftende Gesellschafter durchaus nicht irrelevant. Was Inhalt der Haftung nach § 128 HGB ist, ist freilich seit langem umstritten100. Dahinter verbirgt sich die Frage, ob der Gesellschaftsgläubiger vom Gesellschafter nur die Leistung von Geld verlangen kann oder ob die Haftungsverbindlichkeit des Gesellschafters (auch wenn sie von der Gesellschaftsschuld verschieden ist) denselben Inhalt wie die Gesellschaftsschuld hat. Die Kontroverse wird in der Literatur bekanntlich unter dem Stichwort „Haftungs-“ versus „Erfüllungstheorie“ ausgetragen101. Heute ist die Erfüllungstheorie herrschend102. Allerdings tut sich die h. M. nicht ganz leicht, dieses Ergebnis auf der Grundlage einer weitgehend rechtlich verselbständigten Gesamthand zu begründen. Folgt man nämlich der Ansicht, dass Gesellschafter-

__________ 100 Vgl. hierzu Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 III 1; Karsten Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 24. 101 Siehe zu der (fragwürdigen) Terminologie Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 III 1 a). 102 Vgl. BGH v. 14.2.1957 – II ZR 190/55, BGHZ 23, 302, 305 ff.; BGH v. 11.12.1978 – II ZR 235/77, BGHZ 73, 217, 223 f.; BGH v. 1.4.1987 – VIII ZR 15/86, ZIP 1987, 842, 843; Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 III 1 a); Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 24; v. Gerkan/Haas (Fn. 52), § 128 HGB Rz. 6.

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haftung und Gesellschaftsschuld verschiedene Verbindlichkeiten sind, bedarf die These von einer „Identität des Leistungsinhalts“ doch eines gewissen Begründungsaufwands. Ganz überwiegend wird diese nicht aus dem Grundsatz der Akzessorietät, sondern aus dem Sinn und Zweck der Gesellschafterhaftung (Haftungsfunktion) hergeleitet103. Nach Ansicht des BGH etwa folgt die inhaltsgleiche Haftung des Gesellschafters aus dem Sicherungsinteresse der Gläubiger bzw. der Erhaltung der Kreditfähigkeit der OHG104. Dahinter steckt die Vorstellung, dass eine Erfüllungshaftung eine starke Bindung der Gesellschafter an die von der OHG eingegangene Verpflichtung erzeugt, die wiederum einen starken Anreiz für die Gesellschafter schafft, ihre Einflussmöglichkeiten auf die Geschicke der Gesellschaft schon in ihrem ureigensten Interesse in verantwortungsvoller Weise (und damit auch im Interesse der Gläubiger) zu nutzen. Darin liegt zum einen ein wichtiger Beitrag für eine corporate governance der Gesellschaft im Sicherungsinteresse der Gläubiger105. Zum anderen vereinfacht dies dem Gesellschaftsgläubiger die Rechtsdurchsetzung ganz erheblich106. Überwiegender Ansicht nach wird der Inhalt der Haftung nach § 128 HGB aber nicht nur durch das Sicherungsinteresse der Gläubiger bestimmt. Vielmehr ist – in einer Art wertenden Betrachtung – das Sicherungsinteresse der Gläubiger mit den Belangen des Gesellschafters abzuwägen107. Eingang in die Abwägung findet auf Seiten des Gesellschafters insbesondere dessen schutzwürdiges Interesse an der Freihaltung der eigenen Privatsphäre. Dieses Interesse kann im Einzelfall erfordern, dass der Gesellschafter nicht auf die von der Gesellschaft geschuldete Leistung, sondern nur auf das entsprechende Geldinteresse in Anspruch zu nehmen ist. Die Abwägung ist nicht immer einfach108. Als Faustregel lässt sich aber festhalten, dass das Interesse des Gesellschafters, an der Freihaltung seiner Privatsphäre jedenfalls dann dem Realerfüllungsinteresse der Gläubiger zu weichen hat, wenn die Erbringung der in Frage stehenden Leistung ohnehin zu seinen Pflichten innerhalb der Gesellschaft gehört oder er in der Lage ist, die Gesellschaft zur Leistung zu veranlassen109.

__________ 103 Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Fn. 11), § 128 HGB Rz. 22; Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 III 1 a) aa); v. Gerkan/Haas (Fn. 52), § 128 HGB Rz. 6; vgl. so auch für das schweizerische Recht Plattner (Fn. 15), S. 116 ff. 104 BGH v. 14.2.1957 – II ZR 190/55, BGHZ 23, 302, 305 ff.; BGH v. 11.12.1978 – II ZR 235/77, BGHZ 73, 217, 223 f.; siehe auch Baumbach/Hopt (Fn. 9), § 128 HGB Rz. 8. 105 Vgl. schon Hueck, Das Recht der Offenen Handelsgesellschaft, 3. Aufl. 1964, S. 124. 106 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 24; siehe auch die Beispiele bei Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 III 1 a aa)-bb). 107 BGH v. 14.2.1957 – II ZR 190/55, BGHZ 23, 302, 305 f.; BGH v. 11.12.1978 – II ZR 235/77, BGHZ 73, 217, 221 f.; Baumbach/Hopt (Fn. 9), § 128 HGB Rz. 9; v. Gerkan/ Haas (Fn. 52), § 128 HGB Rz. 6; Hillmann (Fn. 11), § 128 HGB Rz. 22. 108 Zur strittigen Frage etwa, ob die Abwägung auch auf die Auslegung des Vertrages zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsgläubiger zu stützen ist, siehe befürwortend Baumbach/Hopt (Fn. 9), § 128 HGB Rz. 9; a. A. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 128 HGB Rz. 24. 109 Hillmann (Fn. 11), § 128 HGB Rz. 22.

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Dass eine entsprechende Drittwirkung der Schiedsvereinbarung im schutzwürdigen Interesse des Gläubigers liegt, ist leicht zu begründen; umgekehrt hat dieser wohl durchaus kein schutzwürdiges Interesse, sich auf die Unwirksamkeit der Klausel zu berufen, wenn der Gesellschafter ihn (z. B. mit einer negativen Feststellungsklage) vor dem Schiedsgericht belangt. Kritischer Punkt ist mithin die Zumutbarkeit der Bindung gegenüber dem Gesellschafter. Gegen eine Bindung spricht zunächst und vor allem der eben erwähnte Aspekt des Grundrechtsverzichts – notabene: nicht, weil die Schiedsgerichtsbarkeit eine Verschlechterung gegenüber dem staatlichen Rechtsweg wäre; gerade der Gesetzgeber des heutigen Schiedsrechts hat ja die Gleichwertigkeit von Schieds- und Rechtsweg deutlich anerkannt110. Dennoch ist es aber – im Grundsatz – jedermanns eigene Sache, ob er den Schiedsweg wählt oder auf den verfassungsrechtlich garantierten und mit allen einschlägigen Garantien ausgestatteten staatlichen Rechtsweg besteht. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Schiedsvereinbarung auch einen Grundrechtsverzicht (Art. 6 EMRK) darstellt111 und daher die Belange des Gesellschafters erheblich tangiert. Der Gesellschafter könnte dieses Interesse etwa wie folgt formulieren: „Der Prozess, in welchem ich mich (auch) unter Berufung auf meine persönlichen Einwendungen gegen die persönliche Inanspruchnahme verteidige, soll nicht vor einem Schiedsgericht stattfinden, wenn ich persönlich keine Schiedsvereinbarung abgeschlossen habe.“ Für eine Schiedsbindung spricht hingegen, dass der nach § 128 HGB persönlich haftende Gesellschafter einem Zweckverband beigetreten ist und die rechtsgeschäftliche Interessenverfolgung jedenfalls im Außenverhältnis zu Dritten mit weit reichenden Folgen der Gesellschaft übertragen hat; denn diese kann ja bekanntlich Verpflichtungen eingehen, für die er persönlich unbeschränkt haftet. Die herrschende Erfüllungstheorie macht ihn dabei grob gesprochen im Ergebnis zum Schuldner aus jenem Vertrag, den die Gesellschaft geschlossen hat. Letzteres geschieht ja vor allem auch deshalb, um dem Gläubiger die prozessuale Durchsetzung seiner Ansprüche zu erleichtern. Es kann daher nicht verwundern, wenn § 128 HGB nicht nur materiellrechtliche, sondern – anerkanntermaßen – auch weitreichende prozessuale Konsequenzen zeitigt. Wird etwa ein Gesellschafter einer OHG von einem Arbeitnehmer auf Zahlung der Arbeitsvergütung nach § 128 HGB in Anspruch genommen, welche die Gesellschaft schuldet, so ist auch für diese Klage der Rechtsweg zu den

__________ 110 Vgl. nur Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bericht der Kommission zur Neuordnung des Schiedsverfahrensrechts, 1994, S. 91; Berger in Berger (Hrsg.), Das neue Recht der Schiedsgerichtsbarkeit, S. 8 und 24; sodann eingehend Voit, JZ 1997, 120 ff. 111 Vgl. nur Heller, Der verfassungsrechtliche Rahmen der privaten internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, 1996, S. 17 und 40 ff.; Matscher in FS Baumgärtel, 1990, S. 363, 369; ders. in FS Nagel, 1987, S. 227, 232 ff.; dazu etwa aus der einschlägigen Judikatur der Konventionsorgane: EKMR v. 5.3.1962 – 1197/61, YB 5, 95; EKMR v. 12.10.1982 – 8588-9/79, DR 29, 64 = EuGRZ 1983, 428; EKMR v. 27.11.1996 – 28101/95, DR 87A, 112.

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Arbeitsgerichten eröffnet (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG)112. Auch soll – h. M. zufolge – der Gerichtsstand des Erfüllungsortes (§ 29 ZPO) für eine Klage des Gesellschaftsgläubigers gegen die Gesellschaft auch für die Klage gegen den Gesellschafter aus § 128 HGB maßgebend sein113. Schließlich steht auch der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung (§ 32 ZPO) für Klagen gegen den Gesellschafter einer OHG zur Verfügung, selbst wenn er nicht selbst die unerlaubte Handlung begangen hat, sondern nur für die aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Gesellschaftsverbindlichkeiten in Anspruch genommen wird114. Ganz überwiegend begründet die h. M. hier die Zuständigkeitserstreckung zu Lasten des Gesellschafters mit der Stellung desselben in der Gesellschaft115. So heißt es etwa in einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts116: „… Dies hindert aber nicht daran, den Bekl. einem Arbeitgeber i. S. von § 2 I Nr. 5 ArbGG n. F. gleichzustellen, wenn Sinn und Zweck der Vorschrift dies erfordern. … Auf die von den Vorinstanzen in den Mittelpunkt ihrer Erörterungen gestellte Frage, ob die Haftung der KG und die Haftung der persönlich haftenden Gesellschafter identisch sind oder die persönlich haftenden Gesellschafter nur für die Verbindlichkeiten der KG einzustehen haben, kommt es dabei nicht an. … [Vielmehr entspricht dieses] Ergebnis der handelsrechtlichen Stellung der persönlich haftenden Gesellschafter einer KG. Die persönlich haftenden Gesellschafter vertreten die KG (§ 161 II i. V. mit § 125 HGB). Sie sind die einzigen Personen, die von Natur aus – d. h. ohne besondere rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht – für die KG auftreten und für sie Arbeitgeber-Funktionen wahrnehmen können. Jeder von ihnen kann die Arbeitgeberaufgaben der KG in vollem Umfang und unbeschränkt ausüben. Auch dieser Umstand rechtfertigt es, persönlich haftende Gesellschafter einer KG (bzw. die Gesellschafter einer OHG) in arbeitsrechtlicher Hinsicht – jedenfalls im Sinne des Arbeitsgerichtsgesetzes – wie Arbeitgeber zu behandeln.“

Nicht nur die Frage der Schiedsgerichtsbarkeit berührt grundrechtliche Positionen bzw. Art. 6 EMRK, sondern auch die Ausgestaltung der staatlichen Zuständigkeitsordnung. Wenn aber der Beitritt zu einem Zweckverband wie der OHG ein hinreichendes Argument ist, um dem Gesellschafter den Beklagtengerichtsstand oder den Zugang zu den ordentlichen Gerichten zu verwehren, so wird man dieses im Rahmen der Schiedsbindung ebenfalls nicht unter den Tisch fallen lassen können.

__________ 112 BAG v. 28.2.2006 – 5 AS 19/05, NJW 2006, 1372 f.; BAG v. 14.11.1979 – 4 AZR 3/78, NJW 1980, 1710, 1711; Grunsky, ArbGG, 7. Aufl. 1995, § 2 ArbGG Rz. 85a. 113 BayObLG v. 9.9.2002 – 1Z AR 116/02, ZIP 2002, 1998 f.; OLG Schleswig v. 11.8.2003 – 2 W 128/03, OLGR Schleswig 2004, 161 f.; Geimer in Zöller (Fn. 2), § 29 ZPO Rz. 7. 114 BayObLG v. 17.1.1980 – AllgReg. 87/79, Rpfleger 1980, 156. 115 Vgl. nur BayObLG v. 17.1.1980 – AllgReg. 87/79, Rpfleger 1980, 156; a. A. BayObLG v. 9.9.2002 – 1Z AR 116/02, ZIP 2002, 1998, 1999: Akzessorietät der Haftung. 116 BAG v. 14.11.1979 – 4 AZR 3/78, NJW 1980, 1710 f.

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cc) Lehren aus der prozessualen Aufgabenverteilung von § 129 Abs. 1 und 4 HGB? Eingang in die Interessenabwägung kann auch der Umstand finden, wie das HGB in § 129 Abs. 1 und 4 die prozessualen „Zuständigkeiten“ zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern verteilt. Oben konnte konstatiert werden, dass von der rechtsfähigen Gesellschaft abgeschlossene Verträge Drittwirkungen gegenüber den Gesellschaftern haben, obwohl diese nach heutiger Gesamthanddoktrin eigentlich nicht Vertragspartner sind. Dies ist jedoch nicht immer der Fall sondern dann, wenn es im Haftungsinteresse des Gläubigers geboten und dem Gesellschafter zumutbar ist. „Haftung“ – das ist nun ein schillernder, in seiner Komplexität nicht zu unterschätzender Begriff, dem die Privatrechtsdogmatik des vergangenen Jahrhunderts nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Gehört zum „der Zwangsvollstreckung Unterworfensein“ in diesem Sinne auch das „Gebundensein an Prozessverträge“? § 129 Abs. 4 HGB zeigt jedenfalls, dass dazu nicht eine Erstreckung der Vollstreckbarkeit des Urteils im Gesellschaftsprozess gehört, während § 129 Abs. 1 HGB der Gesellschaft – eher – die Kompetenz für den Prozess zuweist, in dem auch mit Wirkung gegen den Gesellschafter die Gesellschaftsschuld geklärt wird. Der Geltungsgrund für die Rechtskrafterstreckung kann (wie ebenfalls bereits angesprochen) mit Blick auf die unterschiedliche Rechtslage bei der Bürgschaft nicht in der Akzessorietät der Gesellschafterhaftung begründet liegen. Zwischen der materiellen Rechtskraft und der zivilrechtlichen Zweckabhängigkeit einer Forderung von einer solchen zwischen den Prozessparteien besteht vielmehr kein logischer Zusammenhang. Insbesondere konnte sich ja die Lehre von der „Rechtskrafterstreckung kraft zivilrechtlicher Abhängigkeit“ zu Recht nicht durchsetzen117. Denkbar ist freilich eine prozessuale Repräsentation der Gesellschafterinteressen durch die Gesellschaft118. Schon die Denkschrift zum HGB ging von einer Rechtskrafterstreckung im Rahmen des § 129 Abs. 1 HGB aus und begründete diese mit „einem praktischen Bedürfnis“ sowie der besonderen „Stellung des Gesellschafters in der Gesellschaft“119. Letztlich liegt damit der Geltungsgrund für die Rechtskrafterstreckung darin, dass die Interessen des Gesellschafters im Prozess der Gesellschaft durch deren Organe schon hinreichend repräsentiert werden120. Weil es zum Aufgabenkreis der Gesellschaftsorgane innerhalb der Gesellschaft gehört, deren Prozessgeschäft zu erledigen und zwischen den Gesellschafts- und Gesellschafterinteressen im Verfahren ein Gleichlauf besteht, ist es – so das gesetzliche Leitbild – auch zu-

__________ 117 Vgl. dazu W. Lüke, Die Beteiligung Dritter im Zivilprozess, 1993, S. 107 ff.; Oberhammer, Richterliche Rechtsgestaltung und rechtliches Gehör, 1994, S. 86 f. 118 Grundlegend zu dem Gedanken der prozessualen Repräsentation, Oberhammer (Fn. 29), S. 59 ff.; Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 VI 1 a) (anders aber ders. in MünchKomm.HGB (Fn. 8), § 129 HGB Rz. 1); vgl. auch v. Gerkan/Haas (Fn. 52), § 129 HGB Rz. 6; a. A. Schiller, NJW 1971, 410 f. 119 Denkschrift HGB, S. 94 f. 120 Karsten Schmidt (Fn. 42), § 49 VI 1 a); ders., NJW 1981, 160; siehe auch Oberhammer (Fn. 29), S. 61 ff.

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mutbar121, die Wirkung eines im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsgläubiger ergangenen Urteils auf sie zu erstrecken; im Gläubigerinteresse ist dies schließlich geboten122. Das HGB kennt also eine Drittwirkung der Prozessrechtslage aus dem Verhältnis Gläubiger-Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter, verwirklicht sie aber nicht konsequent, sondern nur im Rahmen des zur Haftungsverwirklichung (nach Auffassung des Gesetzgebers) Gebotenen: Zur effizienten Haftungsverwirklichung zählt es für das Gesetz also, dass der Gläubiger nicht mit jedem persönlich haftenden Gesellschafter einzeln über den Bestand der Gesellschaftsschuld streiten muss (§ 129 Abs. 1 HGB), nicht aber, dass der Gläubiger gleich aus dem Gesellschaftstitel gegen den Gesellschafter vollstrecken kann; letzterem wird daher nicht zugemutet, seine persönlichen Einwendungen im Wege der Vollstreckungsgegenklage vorzubringen (§ 129 Abs. 4 HGB), wie dies ja wohl der Rechtslage in der Schweiz entspräche123. Die Rechtskrafterstreckung des § 129 Abs. 1 HGB zeigt, dass der Gesellschafter (auch) die urteilsmäßige Feststellung der Gesellschaftsschuld an seinen Verband delegiert hat. Dies legt nahe, dass ihm auch die Geltung einer Schiedsvereinbarung für diesen Streitgegenstand ohne weiteres zumutbar ist. Zunächst und vor allem ist daher der Umstand, dass das Urteil gegen die Gesellschaft in einem Schiedsverfahren ergangen ist, gewiss kein Hindernis für die Rechtskrafterstreckung auf den Gesellschafter, und zwar auch dann, wenn dieser nicht an die Schiedsvereinbarung gebunden sein sollte124. Insofern könnte man auch meinen, die bloße Feststellung der Gesellschaftsschuld in einem Prozess gegen den Gesellschafter vor einem Schiedsgericht, das auf einer bloß von der Gesellschaft geschlossenen Schiedsvereinbarung beruht, sei dem Gesellschafter ohne weiteres zumutbar. Darum geht es jedoch im Prozess gegen den Gesellschafter nicht – im Haftungsprozess geht es auch und gerade um die Berücksichtigung seiner persönlichen Einwendungen. Es tut hier Not, sich die Entscheidung zu vergegenwärtigen, die der Gesetzgeber des § 129 Abs. 4 HGB getroffen hat: Es handelt sich um eine sehr deutliche, vielleicht aber nicht besonders überzeugende Wertung: Der Gesellschafter hat ein Recht auf einen eigenen Prozess über seine Haftungsschuld, auch wenn die Gesellschaft schon verurteilt ist und nur noch seine persönlichen Einwendungen in Rede stehen können. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung zeigen, dass man auch anders entscheiden kann: So sah etwa das österreichische Recht bis 1938 schlicht eine Vollstreckung des Gesellschaftsurteils gegen den Gesellschafter nach Klauselumschreibung (aufgrund eines Handelsregisterauszugs) vor125; dem entspricht wohl noch die Lösung des heutigen

__________ 121 Vgl. zu den Korrekturmöglichkeiten dieser generell-abstrakten Sichtweise Oberhammer (Fn. 29), S. 68 f. 122 Oberhammer (Fn. 29), S. 61 ff. 123 Vgl. oben III.2.a). 124 Vgl. dazu eingehend Oberhammer (Fn. 29), S. 134 ff. 125 Vgl. dazu eingehend Oberhammer (Fn. 29), S. 319.

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schweizerischen Rechts126. Folge dieser Lösung ist schlicht, dass der Gesellschafter mit der Geltendmachung seiner persönlichen Einwendungen (weiterhin in deutscher Terminologie gesprochen) auf den Vollstreckungsgegenklageweg verwiesen wird (wobei natürlich eine zeitliche Einschränkung nach Art von § 767 Abs. 2 ZPO nicht für seine persönlichen Einwendungen gelten kann, weil diese schon objektiv nicht Gegenstand des Gesellschaftsprozesses sein konnten). In Deutschland hatte sich dagegen schon unter dem ADHGB die Auffassung durchgesetzt, gegen den Gesellschafter müsse jedenfalls ein eigener Prozess geführt und ein eigener Titel erstritten werden, und zwar gerade weil man der Meinung war, er müsse die Möglichkeit haben, in diesem persönlichen Prozess seine persönlichen Einwendungen vorzubringen127. Dieser Meinungsstand wurde dann in § 129 Abs. 4 HGB in Gesetzesform gegossen128. Man könnte nun meinen, das sei eine eher umständliche Lösung: Schon die Erhebung und erst recht das Bestehen solch persönlicher Einwendungen des Gesellschafters sei doch praktisch die Ausnahme, und im Interesse effizienter Haftungsverwirklichung sei es ihm daher durchaus zumutbar, selbst die Initiative zu ergreifen und seine persönlichen Einwendungen mit Vollstreckungsgegenklage geltend zu machen, anstatt zum Nachteil des Gläubigers selbst dann, wenn er gar keine persönlichen Einwendungen erheben möchte, darauf zu bestehen, der Titel gegen die Gesellschaft sei nicht gegen ihn vollstreckbar. Das deutsche Recht hat sich aber anders entschieden. An dieser Entscheidung kann auch die Lösung des hier interessierenden Problems nicht vorübergehen: Der Gesellschafter hat seinem Zweckverband gewisse Befugnisse im Außenverhältnis übertragen, weshalb der Verband auch rechtsgeschäftlich mit Wirkung gegenüber dem Gesellschafter handeln kann. Auch der Außenprozess der Gesellschaft hat gewisse Drittwirkungen gegenüber dem Gesellschafter – auf ihn erstreckt sich immerhin (anders als bei anderen akzessorisch Haftenden, wie etwa dem Bürgen) die rechtskräftige Feststellung der Gesellschaftsschuld (und zwar auch dann, wenn sie im Schiedsverfahren aufgrund einer Klausel erfolgt ist, welche nur die Gesellschaft vereinbart hat). Insofern wird der Gesellschafter von der Gesellschaft prozessual repräsentiert. Gesellschaftszweck ist jedoch nicht die Repräsentation des Gesellschafters mit Blick auf Verfahren über seine eigene Haftungsschuld. Diese ist ausweislich § 129 Abs. 4 HGB vielmehr seine Privatsache – und das gilt auch für den Abschluss einer Schiedsvereinbarung für dieses Verfahren. Eine ex-lege-Erstreckung von Schiedsvereinbarungen der Personenhandelsgesellschaft auf ihre persönlich haftenden Gesellschafter käme daher – aus diesem Blickwinkel – dann nicht in Betracht.

__________ 126 Vgl. oben III.2.a). 127 Vgl. etwa ROHG SeuffArch 27, Nr. 178; OGH für Bayern SeuffArch 31, Nr. 91; RG SeuffArch 36 Nr. 57; vgl. dazu etwa Keyssner, Allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch, 1878, Art. 112 Rz. 4; v. Gierke, Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 553 Fn. 1; Cosack, Lehrbuch des Handelsrechts, 3. Aufl. 1895, S. 564; a. A. etwa Wach, Handbuch des deutschen Civilprozessrechts, Bd. 1, 1885, S. 529 f. 128 Vgl. nur Lehmann/Ring, Das Handelsgesetzbuch für das deutsche Reich, Bd. 1, 1902, § 129 Rz. 6.

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dd) Zwischenfazit Betont man eher die die Stellung des Gesellschafters als tel quel für die Erfüllung der Gesellschaftsschuld Haftenden129, so wird man geneigt sein, ihn auch an die Schiedsgerichtspflichtigkeit der Gesellschaft zu binden – dies entspräche der Auffassung des Erstautors. Nimmt man dagegen eher Maß an der Ordnung der Haftungsverwirklichung gegen den persönlich haftenden Gesellschafter in § 129 Abs. 1 und 4 HGB130, so wird man sich tendenziell gegen eine Bindung ex lege aussprechen – dies entspräche der Auffassung des Zweitautors. Weder die eine noch die andere Auffassung ist klar aus dem Gesetz ableitbar: Aus der Perspektive des Vertreters der jeweils gegenteiligen Auffassung ist zum einen der Gedanke, aus der Erfüllungstheorie folge auch eine Prozessführungslast vor dem Forum der Gesellschaft nur die in ein neues Kleid gehüllte Behauptung, die Schiedsbindung des Gesellschafters sei eine „Modalität seiner Haftung“131. Zum anderen ist gegen die Orientierung am Konzept von § 129 Abs. 1 und 4 HGB einzuwenden, dass der Umstand, dass der deutsche Gesetzgeber die Haftungsdurchsetzung nur unvollständig verwirklicht, dem Gesellschafter also vorbehalten hat, seine persönlichen Einwendungen in einem eigenständigen Verfahren geltend zu machen, nicht zu der Annahme zwingt, der Gesellschafter könne dies auch an einem von der Gesellschaft verschiedenen Forum tun. So gesehen wäre dann die Verfahrenspflichtigkeit am Forum der Gesellschaft zum Zweck der besseren Haftungsverwirklichung der Preis dafür, dass der Gesellschafter diese persönlichen Einwendungen in einem eigenen Verfahren erheben kann. Hier könnten nun all die Re-, Du-, Tri-, Quadrupliken usw. folgen, mit denen die beiden Autoren des vorliegenden Beitrags bis zur Abgabe der Druckfahnen vergeblich versucht haben, einander vom jeweiligen Gegenteil zu überzeugen. Es bedarf jedoch kaum näherer Begründung, warum dieser muntere Meinungsaustausch an dieser Stelle nicht weiter vorgeführt werden kann.

V. Ergebnis Eine Bindung des persönlich haftenden Gesellschafters einer Personenhandelsgesellschaft an von der Gesellschaft abgeschlossene Schiedsvereinbarungen kann weder mit der Rechtsnatur der Gesamthand noch mit einer – vom Jubilar (zögernd) vertretenen – Abart der „Doppelverpflichtungstheorie“ begründet werden132. Auch die Akzessorietät der Gesellschafterhaftung kann eine Schiedsbindung des Gesellschafters nicht begründen. Letztere kann – wie in anderen Fällen der Erstreckung von Schiedsvereinbarungen auf Dritte auch – nur auf eine umfassende Interessenabwägung gestützt werden, in die die Rechstellung des Gesellschafters in dem Zweckverband OHG ebenso einzustellen ist wie die gesetzliche Wertung in den § 129 Abs. 1 und 4 HGB. Ein

__________ 129 130 131 132

Vgl. oben IV.3.c) bb). Vgl. oben IV.3.c) cc). Vgl. oben IV.3.b). Vgl. oben IV.3.

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offensichtliches Ergebnis in die eine oder andere Richtung ist im Rahmen der Interessenabwägung nicht vorgezeichnet. So kann es auch nicht verwundern, wenn die beiden Verfasser das gängige Vorurteil bestätigen, dass zwei Juristen auf ein Thema angesetzt, grundsätzlich zu mindestens zwei verschiedenen rechtlichen Auffassungen gelangen. Während der Erstverfasser aufgrund einer entsprechenden Gewichtung der Argumente zu einer Schiedsbindung des Gesellschafters gelangt133, kommt der Zweitverfasser zum genau entgegen gesetzten Ergebnis134. All dies darf freilich nicht überdecken, dass die beiden Verfasser sich in einem einig sind, nämlich dass die herkömmlich vertretenen Ansichten zur (Nicht-)Schiedsbindung des OHG-Gesellschafters kaum vertretbar sind. Im praktischen Ergebnis divergieren unsere Auffassungen prima vista mithin beträchtlich: Während der Erstautor (zumindest im Zweifel) von einer ex lege bestehenden Bindung des persönlich haftenden Gesellschafters einer Personenhandelsgesellschaft ausgeht, möchte der Zweitautor eine solche Bindung nur ex contractu eintreten lassen, mithin immer dann, wenn eine Bindung auch des persönlichen haftenden Gesellschafters nach den Grundsätzen der Rechtsgeschäftslehre als vereinbart anzusehen ist. Dass diese Grundsätze womöglich den schutzwürdigen Interessen des Gläubigers nicht gerecht werden, liegt nun primär am Formgebot des § 1031 ZPO135. Dessen Geltungsgrund ist freilich heute fraglich geworden, seit der Übereilungsschutzgedanke doch deutlich in den Hintergrund getreten ist136; wenn die Entscheidung des Gesetzgebers von § 1031 ZPO auch zu akzeptieren ist, so ist doch nicht zu verkennen, dass die Frustration legitimer Rechtsschutzerwartungen aufgrund allzu rigoroser Handhabung des Formgebots durchaus kein Ergebnis ist, das mit einem bloß auf Dokumentation zum Zwecke von Beweiserleichterung und Rechtssicherheit gerichteten Formzweck gut gerechtfertigt werden kann. Schließlich ist es auch bei der Bindung des Zessionars an die vom Zedenten und Schuldner geschlossene Schiedsvereinbarung zu Recht h. M., dass der Zessionar mitnichten in einer § 1031 ZPO genügenden Form vor der Schiedsvereinbarung gewarnt werden muss137. Auch die vom Erstautor präferierte Lösung hebelt insofern das Formgebot – konsequent aus: Wenn und weil der Gesellschafter für das von der Gesellschaft (auch prozessual) vereinbarte tel quel einzustehen hat, bedarf er des Schutzes i. S. v. § 1031 ZPO nicht; auch bei anderen formgebundenen Rechtsgeschäften reicht es ja aus, wenn die Gesellschaft die Form einhält138. Wenn man – wie die Verfasser – dem Übereilungsschutzgedanken jedenfalls beim Formgebot des § 1031 Abs. 1 bis 4 ZPO kritisch gegenübersteht, kann man in diesem Zusammenhang zudem (mutatis mutandis) auf den Rechtsgedanken des § 167 Abs. 2 BGB verweisen. Wenn auch einer Umge-

__________ 133 134 135 136 137 138

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Vgl. oben IV.3.c) bb), dd). Vgl. oben IV.3.c) cc), dd). Vgl. oben IV.2. Vgl. oben Fn. 61. Vgl. oben IV.3.c) aa). Dies setzt die e.M. stillschweigend voraus; vgl. nur Habersack in Staub (Fn. 40), § 128 HGB Rz. 10.

„Drittwirkung“ von Schiedsvereinbarungen

hung von Formgeboten qua Anwendung von § 242 BGB stets mit größter Vorsicht zu begegnen ist139, so ist doch schließlich nicht zu verkennen, dass – auch vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten – der Gesellschafter, der den Vertrag samt Schiedsklausel selbst für die Gesellschaft geschlossen hat (und die Schiedsvereinbarung womöglich sogar selbst vorgeschlagen) hat, doch recht evident rechtsmissbräuchlich handelt, wenn er sich unter Hinweis auf § 1031 ZPO nun darauf beruft, persönlich nicht von der Schiedsbindung erfasst zu sein. Daraus könnte vielleicht gefolgert werden, dass einem solchen Einwand eine replicatio doli aus § 242 BGB entgegengehalten werden kann. Weitergehend könnte man auch aus Sicht des Zweitautors die vom Erstautor mit Blick auf die Erfüllungstheorie betonte Argumentation fruchtbar machen, um immerhin (wie bei der Zession) das Formgebot für die Einbindung des Dritten entfallen zu lassen, womit dann (wiederum wie – mutatis mutandis – bei der Zession) ein formloses Rechtsgeschäft (im Namen des Gesellschafters) als Grundlage der Drittbindung ausreicht. Der grundsätzliche Auffassungsunterschied zwischen den Verfassern bliebe damit zwar bestehen, würde aber in seinen praktischen Auswirkungen doch erheblich gemildert.

__________ 139 Vgl. nur Heiss, Formmängel und ihre Sanktionen, 1999, S. 376 ff.

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„Superdividenden“ Inhaltsübersicht I. Einführung II. Finanzierungstechniken III. Gang der Untersuchung IV. Der Ausgangspunkt: Keine Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses 1. Gewinnermittlung und Gewinnverwendung im Überblick 2. In Betracht kommende Mängel des Gewinnverwendungsbeschlusses im Allgemeinen 3. Unternehmerischer Charakter des Gewinnverwendungsbeschlusses 4. Abschließende Regelung der Treupflichtschranken in § 254 AktG

5. Erste Folgerungen in Bezug auf die Vorstands- und Aktionärshaftung a) Vorstand b) Aktionär V. Verhaltenspflichten im Vorfeld des Gewinnverwendungsbeschlusses 1. Verzicht auf Dotierung der Gewinnrücklage 2. Realisierung eines Buchgewinns; Auflösung von Gewinnrücklagen 3. Darlehensweise Finanzierung der Dividende 4. Ermessensschranken VI. Kreditfinanzierte Dividende und § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG VII. Resümee

I. Einführung Insbesondere Finanzinvestoren machen sich im Zusammenhang mit der Übernahme von Unternehmen häufig die Hebelwirkung des Fremdkapitaleinsatzes zu Eigen: Ausgehend von der Überlegung, dass die Rendite des eingesetzten Eigenkapitals mit steigender Verschuldung zunimmt, solange die Gesamtkapitalrendite über dem Fremdkapitalzins liegt1, kann es nicht verwundern, dass die Investoren bestrebt sind, die Kapitalstruktur der Zielgesellschaft vermittels einer Erhöhung des Fremdkapitalanteils an das finanzwirtschaftliche Optimum anzupassen. Derartige „Leveraged Recapitalizations“ sehen sich freilich dem Vorwurf ausgesetzt, dass durch sie zwar Vermögen geschaffen werde, freilich nur für die Investoren, nicht dagegen für die – vormals eigenkapitalstarke – Zielgesellschaft; aus deren Sicht handele es sich um nichts anderes als um „Eigenkapitalräuberei.“2 Daran trifft zu, dass der im Allgemeinen bestehende Gleichlauf des Gesellschaftsinteresses mit den Interessen der Gesellschafter nicht zuletzt dadurch gefährdet wird, dass die Finanzinvestoren ihrerseits

__________ 1 Eingehende ökonomische Analyse bei Rudolph, ZGR 2008, 161 ff.; zu den finanzwirtschaftlichen Grundlagen s. ferner Seibt, ZHR 171 (2007), 282, 287 ff., Eidenmüller, ZHR 171 (2007), 644, 655 ff., jew. m. w. N. 2 So namentlich U. H. Schneider, AG 2006, 577 ff.; s. ferner dens., NZG 2007, 888 ff.

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Mathias Habersack

Renditeerwartungen ihrer Anleger zu erfüllen haben, die sich nicht notwendigerweise mit den Renditeerwartungen eines langfristig beteiligten Großaktionärs decken, und deshalb opportunistische Verhaltensweisen an den Tag legen. Die in aller Regel bestehende Absicht, das erworbene Unternehmen nur vorübergehend zu halten und nach wenigen Jahren wieder zu veräußern, vermag hieran nichts zu ändern. Denn der hierbei zu erzielende Verkaufspreis bildet ohnehin nur eine von mehreren Kalkulationsgrundlagen, die zudem, schon aufgrund ihrer zeitlichen Distanz zum Ausgangsinvestment, zunächst in den Hintergrund des Kalküls treten und deshalb das Verhalten der Investoren im zeitlichen Zusammenhang mit der Übernahme nicht beeinflussen dürfte. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass der Gesetzgeber aufgefordert wird, über den auf Steigerung der Transparenz gerichteten und nicht nur Hedgefonds, sondern auch Private Equity-Fonds in den Blick nehmenden Ansatz des Risikobegrenzungsgesetzes3 hinauszugehen und das Geschäftsmodell einer Missbrauchsaufsicht zu unterstellen, deren Gegenstand vor allem Gewinnabschöpfungen sein sollten4. Als anstößig gilt neben dem verschmelzungsbedingten Transfer von zum Zwecke des Anteilserwerbs eingegangenen Darlehensschulden auf die Zielgesellschaft namentlich die Auskehr von Gesellschaftsvermögen im Wege einer „Super-“ oder „Jumbodividende“, mithin einer Dividende, die nicht nur durch den operativen Gewinn des abgelaufenen Geschäftsjahres, sondern durch außergewöhnliche Faktoren dotiert wird. Während allerdings die Verschmelzung der Zielgesellschaft mit dem die Finanzierung schulternden Übernahmevehikel schon wiederholt thematisiert worden ist und sogar schon Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat5, finden sich zur „Superdividende“ bislang, soweit ersichtlich, nur vereinzelte und zudem recht apodiktische Stellungnahmen6. Dieser Befund muss überraschen, und zwar nicht nur mit Blick auf die teils heftige Kritik an einigen großvolumigen Ausschüttungen der jüngsten Vergangenheit7, sondern auch angesichts der rechtspolitischen Dimension der Problematik und der Tatsache, dass derlei Dividenden dogmatisch reizvolle Fragen des geltenden Gesellschafts- und Konzernrechts aufwerfen. Dieser Befund mag zugleich die Hoffnung rechtfertigen, dass das Thema des Beitrags auf das Interesse des verehrten Jubilars stößt.

__________ 3 Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz) vom 12.8.2008, BGBl. I, S. 1666; dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 16/7438; Diekmann/Merkner, NZG 2007, 921 ff.; Fleischer, ZGR 2008, 185, 196 ff.; Schockenhoff/Wagner, NZG 2008, 361 ff. 4 U. H. Schneider, NZG 2007, 888 ff., 893. 5 Dazu OLG Düsseldorf, NZG 2007, 273 ff.; LG Düsseldorf, ZIP 2006, 516; Fleischer, AG 1996, 494 ff.; Habersack in FS Röhricht, 2005, S. 155 ff.; Kerber, NZG 2006, 50 ff.; Lutter/Wahlers, AG 1989, 1 ff.; Oechsler, ZIP 2006, 1661 ff.; Riegger, ZGR 2008, 233, 246 ff.; U. H. Schneider, NZG 2007, 888, 892; Seibt, ZHR 171 (2007), 282, 299 ff. 6 Vgl. U. H. Schneider, NZG 2007, 888, 892 f.; Seibt, ZHR 171 (2007), 282, 304. 7 Vgl. FAZ v. 13.3.2008, S. 17 und Börsen-Zeitung v. 13.3.2008, S. 1 und 11 (Hugo Boss); Börsen-Zeitung v. 11.6.2008, S. 13 (ProSiebenSat.1); FAZ v. 14.12.2007, S. 19 (Techem); U. H. Schneider, NZG 2007, 888, 889 (TDC A/S; Cognis).

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Superdividenden

II. Finanzierungstechniken Der Begriff der „Superdividende“ ist kein Rechtsbegriff. Er steht vielmehr ganz allgemein für Dividendenzahlungen, die nicht nur auf dem „gewöhnlichen“ operativen Gewinn des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, sondern auf außerordentlichen Erträgen basieren. Grundlage derlei außerordentlicher Erträge können im Vorfeld der Unternehmensübernahme erfolgte Veräußerungsgeschäfte sein; der Investor erwirbt dann die Zielgesellschaft zumeist eben wegen der durch die Teilliquidation erzielten Überschüsse. Häufiger begegnen indes Konstellationen, in denen der Bilanzgewinn erst auf Veranlassung durch den Investor generiert wird. Auch insoweit lassen sich ganz unterschiedliche Techniken verzeichnen. In Betracht kommt zunächst die Veräußerung von Aktiva an Dritte. Bei ihr stellt sich allein die Frage, ob die Veräußerung als solche im Einklang mit §§ 311, 93 AktG steht; soweit dies der Fall ist, sieht sich die Auskehr der realisierten – und nunmehr liquiden – stillen Reserven im Allgemeinen keinen Bedenken ausgesetzt. Stille Reserven lassen sich indes auch durch konzerninterne Umschichtungen von Aktivposten realisieren, etwa dadurch, dass Anteile an operativ tätigen Gesellschaften auf eine neu gegründete Tochtergesellschaft der Zielgesellschaft übertragen und in der Folge neu bewertet werden. Der Realisierung stiller Reserven entsprechen die Neubewertung von Rückstellungen und – dem Vernehmen nach sehr beliebt – die Auflösung von Rücklagen. Diesen und weiteren Techniken ist gemein, dass sie sich in der Realisierung eines Buchgewinns erschöpfen, Liquidität also nicht geschaffen wird. Da Ausschüttungen an Aktionäre nur aus liquiden Mitteln erfolgen können, sieht sich die Zielgesellschaft in der Folge gezwungen, zur Finanzierung der beschlossenen Dividende Fremdmittel aufzunehmen8. Die „Rekapitalisierung“ der Zielgesellschaft kann dann gleichsam in Perfektion verwirklicht werden: An die Stelle eines Aktivposten und der in ihm verkörperten stillen Reserven tritt eine Anleiheschuld oder Bankverbindlichkeit, und in der Folge wird die Eigenkapitalquote der Zielgesellschaft „optimiert“9. Dass derlei Praktiken vielfach auch dem Umstand geschuldet sein dürften, dass sich die Kreditkonditionen für Finanzinvestoren aufgrund der Krise der Kredit- und Finanzmärkte offensichtlich verschärft haben und die Ausschüttung deshalb dazu dient, eine teure Refinanzierung abzulösen, bleibt in diesem Zusammenhang vielfach unerwähnt.

__________ 8 Vgl. die in Fn. 7 erwähnten Übernahmen der Hugo Boss AG, der Techem AG und der Cognis AG. 9 Im Falle der Hugo Boss AG ist die Eigenkapitalquote von jenseits von 50 % infolge der Sonderdividende in Höhe von 350 Millionen Euro auf 20 % gesunken; s. BörsenZeitung v. 13.3.2008, S. 1, dort Hinweis auf eine Verlautbarung des Finanzvorstands, der zufolge der Hugo Boss-Konzern durch die Maßnahmen seine Kapitalstruktur optimiere.

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III. Gang der Untersuchung „Superdividenden“ werfen de lege lata eine Reihe von Fragen auf. Zunächst ist der Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung in den Blick zu nehmen und zu fragen, ob er der Inhaltskontrolle unterliegt. Sodann sind Verhaltenspflichten im Vorfeld der Beschlussfassung der Hauptversammlung zu thematisieren, und zwar neben Pflichten des die Ausschüttung veranlassenden Investors insbesondere Pflichten der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats der Zielgesellschaft; denn diese sind es, die sich dem Ausschüttungsbegehren des Investors beugen, indem sie die bilanzielle Grundlage für den Gewinnverwendungsbeschluss schaffen und zudem von ihrem Recht aus § 58 Abs. 2 Satz 1 AktG, einen Teil des Jahresüberschusses in die Rücklagen einzustellen, keinen Gebrauch machen. Nur kurz anzusprechen ist sodann das in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG geregelte Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs. Die zum geltenden Recht gewonnenen Erkenntnisse schließlich geben Anlass für einige Überlegungen de lege ferenda.

IV. Der Ausgangspunkt: Keine Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses 1. Gewinnermittlung und Gewinnverwendung im Überblick Betrachtet man zunächst den Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung, so hat er nach § 174 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG auf der Grundlage des festgestellten und damit für die Hauptversammlung bindenden Jahresabschlusses zu erfolgen und ausschließlich den Bilanzgewinn zum Gegenstand. Auf diesen Bilanzgewinn haben die Aktionäre nach § 58 Abs. 4 AktG (der wiederum im gedanklichen Zusammenhang mit § 57 Abs. 3 AktG steht) Anspruch, soweit er nicht nach Gesetz oder Satzung, durch Hauptversammlungsbeschluss nach § 58 Abs. 3 AktG oder als zusätzlicher Aufwand auf Grund des Gewinnverwendungsbeschlusses von der Verteilung unter die Aktionäre ausgeschlossen ist. Dies wiederum nimmt gedanklich Bezug auf § 158 Abs. 1 AktG, dem zufolge sich der Bilanzgewinn i. S. d. § 58 Abs. 3 AktG durch Weiterrechnung des Jahresüberschusses ergibt, nämlich durch Addition eines Gewinnvortrags und etwaiger Entnahmen aus den Gewinnrücklagen und durch Abzug eines Verlustvortrags sowie vor allem der Einstellungen in Gewinnrücklagen. Die Einstellung von Beträgen in die Gewinnrücklagen schließlich ist für den Regelfall, dass der Jahresabschluss durch Vorstand und Aufsichtsrat festgestellt wird, in § 58 Abs. 2 AktG geregelt. Danach können Vorstand und Aufsichtsrat – vorbehaltlich einer abweichenden Satzungsregelung – einen Teil des Jahresüberschusses, höchstens jedoch die Hälfte, in andere Gewinnrücklagen einstellen und dadurch das Ausmaß des nach § 58 Abs. 4 AktG von den Aktionären zu beanspruchenden Bilanzgewinns ganz erheblich beeinflussen. Der zur Verteilung anstehende Bilanzgewinn entspricht also bei weitem nicht dem Jahresüberschuss. Und auch der Bilanzgewinn muss keineswegs zwangsläufig zur Ausschüttung gelangen. Zu unterscheiden ist vielmehr, wie bereits angedeutet, zwischen dem Bilanzgewinn und dem Ausschüttungsbetrag. Letz526

Superdividenden

terer ist nach § 58 Abs. 4 AktG die Differenz zwischen dem Bilanzgewinn einerseits und (i) der Dotierung der Gewinnrücklagen durch die Hauptversammlung nach Maßgabe des § 58 Abs. 3 Satz 1, 1. Fall AktG, mithin in Ergänzung der Rücklagendotierung durch Vorstand und Aufsichtsrat, (ii) einem von der Hauptversammlung nach § 58 Abs. 3 Satz 1, 2. Fall AktG beschlossenen Gewinnvortrag, (iii) einer von der Hauptversammlung nach § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG beschlossenen anderweitigen Verwendung des Bilanzgewinns, was freilich eine entsprechende Satzungsermächtigung voraussetzt, und (iv) einem etwaigen zusätzlichen Aufwand, wie er sich vor allem bei höherer als von der Verwaltung vorgeschlagener Dotierung der Gewinnrücklagen und der entsprechend höheren Körperschaftsteuerbelastung ergeben kann. Hinzu kommen gesetzliche (etwa §§ 225 Abs. 2, 233 Abs. 3 AktG) oder satzungsmäßige Ausschüttungssperren. 2. In Betracht kommende Mängel des Gewinnverwendungsbeschlusses im Allgemeinen Wie ein jeder Hauptversammlungsbeschluss kann auch der Gewinnverwendungsbeschluss nach Maßgabe der §§ 241 f., 243 ff. AktG nichtig oder anfechtbar sein. Dies ergibt sich aus § 254 Abs. 1 Satz 1 AktG, der einen besonderen Anfechtungsgrund vorsieht und ausdrücklich die Anfechtbarkeit nach der allgemeinen Vorschrift des § 243 AktG unberührt lässt10. Was zunächst den besonderen Anfechtungsgrund des § 254 AktG betrifft, so richtet er sich gegen eine übermäßige Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung; er bezweckt vor allem den Individualschutz des Minderheitsaktionärs vor einer übermäßigen Thesaurierungs- und Aushungerungspolitik der Mehrheit11. Die Vorschrift unterstreicht zugleich, dass es sich bei dem in § 58 Abs. 4 AktG normierten Anspruch auf die Dividende um das zentrale mitgliedschaftliche Vermögensrecht des Aktionärs handelt12. Zumal vor dem Hintergrund der weit reichenden Befugnisse der Verwaltung zur Bildung von Rücklagen entspricht es dieser Bewertung des Dividendenrechts, dass in der Praxis die Hauptversammlung in der Regel die Ausschüttung des Bilanzgewinns beschließt13. Anfechtbarkeit nach § 243 Abs. 1 AktG kommt, lässt man Verfahrensfehler und Informationspflichtverletzungen außer Betracht, im Allgemeinen vor allem bei Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des § 53a AktG oder gegen die mitgliedschaftliche Treupflicht in Betracht14. Die allgemeine Frage, ob Mehr-

__________

10 Vgl. statt aller Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 6. Lfg., 1996, § 254 AktG Rz. 5. 11 Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 254 AktG Rz. 1. 12 Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 58 AktG Rz. 79; Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 15. Lfg., 2001, § 58 AktG Rz. 85; näher zur dogmatischen Einordnung des in § 58 Abs. 4 AktG geregelten Anspruchs, insbesondere zu dessen Unterscheidung von dem konkreten Gewinnauszahlungsanspruch, Henze, a. a. O., § 58 AktG Rz. 86 ff.; Kirschner, Der „Dividendenverzicht“ des Aktionärs, 2004, S. 44 ff. 13 Henze in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 75. 14 Vgl. BGHZ 103, 184 = NJW 1988, 1579 mit Anm. Timm; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 243 AktG Rz. 42.

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heitsbeschlüsse der Hauptversammlung einer AG auf ihre sachliche Rechtfertigung zu überprüfen sind, ist allerdings bekanntlich umstritten. Ohne dass der Verlauf der Diskussion hier im Einzelnen nachgezeichnet werden müsste15, lässt sich festhalten, dass die Rechtsprechung des BGH unter weitgehender Zustimmung des Schrifttums einen differenzierenden Ansatz verfolgt, mithin keineswegs sämtliche Mehrheitsbeschlüsse einer materiellen Kontrolle unterziehen will16. Ausgangspunkt ist zwar, dass Hauptversammlungsbeschlüsse, durch welche die Stellung der Minderheitsgesellschafter nachhaltig verschlechtert wird, nach dieser herrschenden Meinung im Grundsatz einer Beschlusskontrolle unterliegen. Für eine Beschlusskontrolle soll jedoch kein Raum sein, wenn das Gesetz selbst einen Eingriff in die Position der Minderheit vorsieht, ohne gleichzeitig seine sachliche Rechtfertigung zu fordern, oder wenn der Konflikt zwischen Mehrheits- und Minderheitsinteressen anderweitig im Gesetz aufgelöst wird17. 3. Unternehmerischer Charakter des Gewinnverwendungsbeschlusses Auf der Grundlage dieser ganz herrschenden und überzeugenden Ansicht muss eine allgemeine Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses ausscheiden18. Die §§ 57 Abs. 3, 58 Abs. 4, 174 Abs. 1, 133 Abs. 1 AktG sind vielmehr Ausdruck einer gesetzlichen Wertung des Inhalts, dass der Bilanzgewinn, wie er sich auf der Grundlage des festgestellten Jahresabschlusses ergibt, der Disposition durch die Hauptversammlung und damit durch die Mehrheit der Aktionäre unterliegt. Die Interessen der Gesellschaft und der Minderheitsaktionäre können hierbei, so die eindeutige und angemessene Wertung des Gesetzgebers, vernachlässigt werden. Ihnen wird vielmehr (i) durch das Prinzip der Vermögensbindung, (ii) durch die Vorschriften über die gesetzliche Rücklage, (iii) durch die dem Vorstand und Aufsichtsrat eingeräumte Befugnis zur Einstellung von bis zu 50 % des Jahresüberschusses in die Gewinnrücklagen und (iv) vor allem durch die Ausübung von Bilanzierungswahlrechten Rechnung getragen. Für den Schutz der Minderheitsaktionäre sorgt zudem der Gleichbehandlungsgrundsatz des § 53a AktG. Bedenkt man weiter, dass das AktG mit seinem § 254 im Interesse der Minderheit nachgerade auf eine re-

__________ 15 Überblick bei Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 243 AktG Rz. 45 ff.; Hüffer in MünchKomm.AktG, Bd. 6, 2. Aufl. 2005, § 243 AktG Rz. 47 ff., 63 f. 16 Vgl. BGHZ 70, 117, 121 f. = NJW 1978, 540; BGHZ 71, 40, 44 ff. = NJW 1978, 1316; BGHZ 76, 352, 353 = NJW 1980, 1278; BGHZ 83, 391, 321 ff. = NJW 1982, 2444; BGHZ 103, 184, 189 ff. = NJW 1988, 1579; BGHZ 153, 47, 58 f. = NJW 2003, 1032; aus dem Schrifttum namentlich Hüffer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 243 AktG Rz. 47 ff., 63 f.; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 243 AktG Rz. 45; Lutter, ZGR 1981, 171, 179 ff.; Verse in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. 2, § 13 Rz. 18 ff., 28 ff. 17 Vgl. die Nachw. in voriger Fn. 18 So auch die – soweit ersichtlich – einhellige Meinung, s. Hüffer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 254 AktG Rz. 8 f.; Brönner in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 3. Lfg., 1993, § 174 AktG Rz. 54; vgl. ferner Röhricht in Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 513, 534 f., 539.

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striktive Handhabung der in § 58 Abs. 3 AktG vorgesehenen Befugnis der Hauptversammlung zur Einstellung eines Teils des Bilanzgewinns in die Gewinnrücklagen zielt, so ist für eine über die genannten Vorschriften hinausgehende allgemeine Angemessenheitskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses schon im Ansatz kein Raum. Es kommt hinzu, dass sich Kriterien für einen „angemessenen“ Umgang mit dem Bilanzgewinn kaum entwickeln lassen. Mögen auch mehr oder weniger gewichtige wirtschaftliche Erwägungen für die Thesaurierung eines Teils des Bilanzgewinns sprechen: Bei dem Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns handelt es sich – zumal in Fällen, in denen dem Gewinn außerordentliche Erträge zugrunde liegen – um eine unternehmerische Entscheidung, die sich einer richterlichen Inhaltskontrolle schon kraft der Natur der Sache entzieht. Für die Gewinnverwendung kann insoweit schwerlich etwas anderes gelten als etwa für das Delisting; diesbezüglich hat der BGH aber eine Angemessenheitskontrolle zu Recht – und zwar unter ausdrücklichem Hinweis auf den unternehmerischen Charakter der Maßnahme – kategorisch abgelehnt19. Ihre Bestätigung findet die vorstehend in Übereinstimmung mit der (soweit ersichtlich) einhelligen Meinung entwickelte Ansicht in dem Recht der Aktionärsmehrheit, jederzeit und unabhängig vom Vorliegen sachlicher Gründe die Auflösung der Gesellschaft zu beschließen. Zwar bedarf der Auflösungsbeschluss nach § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG einer Mehrheit von mindestens drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals. Dieses Mehrheitserfordernis erklärt sich indes unschwer aus den Rechtsfolgen und damit dem Charakter des Auflösungsbeschlusses, tritt doch infolge des Auflösungsbeschlusses der auf Vollbeendigung gerichtete Zweck an die Stelle des bisherigen, regelmäßig auf Gewinnerzielung gerichteten Gesellschaftszwecks. Bei Lichte betrachtet versteht sich § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG sogar als Ausnahme zur allgemeinen Vorschrift des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB, der zufolge der Vereinsund Gesellschaftszweck nicht durch Mehrheitsbeschluss geändert werden kann. Auch hierin kommt zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber das Interesse der Aktionärsmehrheit, jederzeit die Desinvestition der von ihr eingesetzten und erwirtschafteten Mittel beschließen zu können, als besonders schutzwürdig angesehen hat. Dieser der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Interessenlage trägt wiederum die höchstrichterliche Rechtsprechung dadurch Rechnung, dass sie von einer Inhaltskontrolle des Auflösungsbeschlusses absieht, vielmehr davon ausgeht, dass der Auflösungsbeschluss seine Rechtfertigung in

__________ 19 BGHZ 153, 47, 58 f. = NJW 2003, 1032 – Macrotron: „Entgegen der Ansicht der Revision bedarf der Hauptversammlungsbeschluss keiner sachlichen Rechtfertigung, wie sie vom Senat für den Ausschluss des Bezugsrechts gefordert worden ist (…). Die auf Vorschlag des Vorstands über das Delisting zu treffende Entscheidung hat unternehmerischen Charakter. Da sie von der Hauptversammlung zu treffen ist, liegt es somit im Ermessen der Mehrheit der Aktionäre, ob die Maßnahme im Interesse der Gesellschaft zweckmäßig ist und geboten erscheint.“; näher zur Macrotron-Entscheidung Karsten Schmidt, NZG 2003, 601 ff.; Habersack in Habersack/Mülbert/ Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 35 Rz. 5 ff.

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sich trage20. Für Gewinnverwendungsbeschlüsse muss dies erst recht gelten. Die Tatsache, dass der Gewinnverwendungsbeschluss nach § 133 Abs. 1 AktG nur der einfachen Mehrheit bedarf, steht dem nicht entgegen. Sie erklärt sich schlicht daraus, dass ein Gewinnverwendungsbeschluss auch dann, wenn er sich auf einen außerordentlichen, aus der Abgabe einer wertvollen Beteiligung stammenden Gewinn bezieht, den Erwerbszweck der Gesellschaft unberührt lässt und auch sonst keinerlei strukturändernden Charakter aufweist. Auch aus den Grundsätzen über die sogenannte übertragende Auflösung21 lässt sich das Erfordernis einer „Angemessenheitskontrolle“ des Gewinnverwendungsbeschlusses nicht herleiten. Verfassungsrechtlich geboten ist insoweit zwar die Möglichkeit der Minderheitsaktionäre, den vom Großaktionär gezahlten Kaufpreis, nach dem sich letztlich der Liquidationserlös bemisst, einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen22. Doch folgt dies allein daraus, dass der Großaktionär sowohl auf Erwerber- als auch auf Veräußererseite beteiligt ist und sich deshalb in einem Interessenkonflikt befindet, den er kraft seiner dominierenden Stellung ohne weiteres zu Lasten der übertragenden Gesellschaft und ihrer Minderheitsaktionäre auflösen kann23. Im Falle eines Gewinnverwendungsbeschluss fehlt es dagegen an einem entsprechenden Interessenkonflikt in der Person des einzelnen Aktionärs, und zwar auch dann, wenn die Beweggründe der den Gewinnverwendungsbeschluss tragenden Aktionäre, etwa eines herrschenden Unternehmens, nicht von sämtlichen Aktionären geteilt werden. Auch unter Berücksichtigung dieses Umstands ist allein der allgemeine Konflikt zwischen dem (nicht zuletzt in § 254 AktG anerkannten) Ausschüttungsinteresse eines jeden Aktionärs und dem allgemeinen Thesaurierungsinteresse der Gesellschaft zu verzeichnen. Dieser Konflikt ist freilich von vornherein in der Mitgliedschaft angelegt und zudem durch die Vorschriften über die gesetzliche Rücklage und die Thesaurierungsbefugnis des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 58 Abs. 2 AktG) in einer den Belangen der Gesellschaft Rechnung tragenden Weise gelöst. Bedenkt man zudem, dass der Konflikt zumindest in latenter Weise in der Person eines jeden Aktionärs begegnet und sich primär auf das Verhältnis zur Gesellschaft, nicht dagegen auf das zu den Mitaktionären bezieht, so wird deutlich, dass sich die verfassungs-

__________ 20 BGHZ 103, 184, 190 = NJW 1988, 1579; BGHZ 76, 352, 353 f. = NJW 1980, 1278; Karsten Schmidt in GroßkommAktG (Fn. 10), § 243 AktG Rz. 45; Hüffer, AktG, 8. Aufl., 2008, § 243 AktG Rz. 28; Schwab in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 243 AktG Rz. 11; dazu auch OLG Düsseldorf, AG 1994, 228, 233: Mehrheitlich beschlossene Änderung des Unternehmensgegenstands bedarf keiner sachlichen Rechtfertigung, da „Akt der Unternehmenspolitik, die der überstimmte Minderheitsaktionär akzeptieren muss“. 21 Dazu BGHZ 103, 184 = NJW 1988, 1579 mit Anm. Timm; OLG Stuttgart, ZIP 1995, 1515 ff.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 327a AktG Rz. 10, dort auch zur nachlassenden praktischen Relevanz nach Inkrafttreten der §§ 327a ff. AktG. 22 Und zwar entweder im Rahmen einer gegen den Auflösungsbeschluss gerichteten Anfechtungsklage oder in einem Spruchverfahren, s. BVerfG, NJW 2001, 279, 281. 23 BVerfG, NJW 2001, 279, 281.

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rechtlichen Anforderungen an die übertragende Auflösung auf den Gewinnverwendungsbeschluss nicht übertragen lassen. 4. Abschließende Regelung der Treupflichtschranken in § 254 AktG Ist somit der Gewinnverwendungsbeschluss, und zwar auch derjenige, der einen außerordentlichen, auf dem Verkauf einer wertvollen Beteiligung beruhenden Gewinn zum Gegenstand hat, einer Inhalts- oder Angemessenheitskontrolle nicht zugänglich, so schließt dies die Annahme der Treuwidrigkeit des Beschlusses im Einzelfall keineswegs aus. Die Herausbildung von Treupflichten des Aktionärs, und zwar sowohl im Verhältnis zur AG als auch im Verhältnis zu den Mitaktionären24, hat nämlich nicht nur der für bestimmte Strukturmaßnahmen, darunter insbesondere den Bezugsrechtsausschluss, bereits seit langem anerkannten materiellen Beschlusskontrolle eine Rechtsgrundlage gegeben. Namentlich die Linotype-Entscheidung des BGH hat vielmehr vor Augen geführt, dass ein Hauptversammlungsbeschluss selbst dann, wenn dieser, wie der Beschluss über die Auflösung der Gesellschaft oder der Zustimmungsbeschluss betreffend einen Unternehmensvertrag, an sich einer Inhaltskontrolle nicht zugänglich ist, im Einzelfall unter dem Gesichtspunkt des individuellen Rechtsmissbrauchs anfechtbar sein kann25. Das Schrifttum hat diese Erkenntnis aufgegriffen und sich in Fortentwicklung des auf den individuellen Missbrauch abstellenden Ansatzes des BGH sowohl für die Herausbildung anfechtungsbewehrter Rücksichtnahmepflichten der Mehrheit gegenüber der Minderheit26 als auch für einen treupflichtgestützten Umgehungsschutz von Schutzregeln ausgesprochen27. Ob diese Grundsätze auch für den Gewinnverwendungsbeschluss Geltung beanspruchen, erscheint indes fraglich. Zwar ist an der Anfechtbarkeit des Gewinnverwendungsbeschlusses in Fällen, in denen ein Aktionär mit der Ausübung seines Stimmrechts einen Sondervorteil zu erlangen sucht, mithin eine dem Grundsatz der Gleichbehandlung zuwider laufende Gewinnverteilung beabsichtigt, nicht zu zweifeln. Von diesem in § 243 Abs. 2 AktG geregelten und im Falle eines Gewinnverwendungsbeschlusses, der eine bestimmte Dividende pro Aktie vorsieht, von vornherein nicht einschlägigen Anfechtungsgrund zu unterscheiden ist indes der auf § 243 Abs. 1 AktG gründende Anfechtungstatbestand einer zwar den Grundsatz der Gleichbehandlung wahrenden, indes aus anderen Gründen treuwidrigen Stimmabgabe. Insoweit sprechen gute Gründe für die Annahme, dass ein Gewinnverwendungsbeschluss, der

__________ 24 BGHZ 103, 184, 189 ff., 193 ff. = NJW 1988, 1579 – Linotype; BGHZ 129, 136, 141 ff. = NJW 1995, 1739 – Girmes; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 593 ff., 799 ff.; Henze, BB 1996, 489 ff. 25 BGHZ 103, 184, 189 ff., 193 ff. = NJW 1988, 1579; dazu Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 243 AktG Rz. 47 f. 26 So namentlich Hüffer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 243 AktG Rz. 66 m. w. N. 27 So am Beispiel des UmwG namentlich Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 10), § 243 AktG Rz. 49.

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den Anforderungen des § 254 AktG genügt, stets sachlich gerechtfertigt ist und damit eine Kontrolle, ob im Einzelfall eine Treupflichtverletzung vorliegt, von vornherein ausscheiden muss28. Dies muss sowohl für einen Beschluss, der auf die (im Einklang mit § 254 AktG stehende) Thesaurierung gerichtet ist, als auch für einen auf Ausschüttung gerichteten Beschluss gelten. Wollte man abweichend von den vorstehend getroffenen Feststellungen davon ausgehen, dass ein Gewinnverwendungsbeschluss selbst dann, wenn er nicht auf die unzulässige Verfolgung eines Sondervorteils gerichtet ist, treuwidrig und damit nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar sein kann, müssten allerdings Umstände vorliegen, die die Annahme eines treuwidrigen Abstimmungsverhaltens rechtfertigen. Diese Umstände dürften zudem in den §§ 58 Abs. 4, 254 AktG noch keine Berücksichtigung gefunden haben. Oder anders gewendet: Eine einzelfallbezogene, am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treupflicht ausgerichtete Beschlusskontrolle darf sich nicht in Widerspruch zu gesetzlichen Wertungen setzen. Schon diese kaum zu bestreitende Ausgangsüberlegung zeigt, dass angesichts der angestellten Erwägungen zu Inhalt und Zweck der §§ 58 Abs. 4, 254, 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG für die Annahme, ein Aktionär handele treuwidrig, wenn er sich für die Ausschüttung des Bilanzgewinns ausspreche, im Allgemeinen kein Raum ist. In Betracht kommt eine Treupflichtverletzung allenfalls in Fällen, in denen der Gesellschaft durch den Gewinnverwendungsbeschluss liquide Mittel entzogen werden sollen, auf die diese im Interesse ihres Fortbestands dringend angewiesen ist, mithin in Fällen, in denen die Gewinnausschüttung ein die Existenz der Gesellschaft gefährdendes oder gar vernichtendes Ausmaß annimmt. Selbst insoweit erscheint indes Zurückhaltung angezeigt. Machen die Aktionäre von ihrer Befugnis, über den festgestellten Bilanzgewinn zu disponieren, im Einklang mit § 58 Abs. 3, 4 AktG Gebrauch, so trägt dieser Beschluss – nicht anders als ein Auflösungsbeschluss29 – seine Rechtfertigung in sich. Die Parallele zur Auflösung ist denn auch alles andere als zufällig: Resultiert der Bilanzgewinn etwa aus der Veräußerung eines Betriebes oder einer Beteiligung, so handelt es sich bei der Ausschüttung des Erlöses der Sache nach um nichts anderes als um eine Teilliquidation der Gesellschaft, die die Aktionäre auch dann beschließen dürften, wenn sich mit ihr über kurz oder lang die Notwendigkeit einer Liquidation im rechtlichen Sinne (sei es nach dem AktG oder nach der InsO) verbindet; die Insolvenzantragspflicht bleibt denn auch unberührt, wenn der Vollzug des Beschlusses, mithin die Auszahlung der Dividende, die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft zur Folge hat. Schon deshalb verbieten sich Anleihen beim Institut des „existenzvernichtenden“ Eingriffs, das die Insolvenzverursachung im Wege des missbräuchlichen kompensationslosen Eingriffs in das der Zweckbindung zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger dienende Gesellschaftsvermögen ver-

__________ 28 So zu Recht Hüffer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 254 AktG Rz. 8. 29 Vgl. die Nachw. in Fn. 20.

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bietet30 und mit der Beschlussfassung über festgestellten Bilanzgewinn nichts gemein hat. 5. Erste Folgerungen in Bezug auf die Vorstands- und Aktionärshaftung Die vorstehend getroffenen Feststellungen lenken an sich den Blick auf Verhaltenspflichten im Vorfeld des Gewinnverwendungsbeschlusses31, bildet doch die Beschlussfassung über den Bilanzgewinn nur die Fortsetzung und Vollendung vorangegangenen Verhaltens des Aktionärs und der Organwalter. Zuvor sei allerdings festgehalten, dass es die Kontrollfreiheit des Gewinnverwendungsbeschlusses der Hauptversammlung zugleich ausschließt, dem Vorstand oder dem auf den Gewinnverwendungsbeschluss hinwirkenden Aktionär pflichtwidriges Verhalten im Zusammenhang mit der Beschlussfassung und deren Vollzug vorzuwerfen. a) Vorstand Für den Vorstand ergibt sich dies bereits aus § 83 Abs. 2 AktG, der es ihm zur Pflicht macht, den Gewinnverwendungsbeschluss zu vollziehen32; § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG unterstreicht dies noch einmal. Zwar finden sowohl § 83 Abs. 2 AktG als auch § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG nur unter der Voraussetzung Anwendung, dass der Beschluss der Hauptversammlung „gesetzmäßig“ ist33; nachdem der Gewinnverwendungsbeschluss keiner Sachkontrolle unterliegt, stehen indes seiner Gesetzmäßigkeit – und damit der Folgepflicht des Vorstands – inhaltliche Aspekte nicht entgegen34. b) Aktionär Auch der Aktionär unterliegt selbstredend keiner Haftung gegenüber der Gesellschaft, soweit er auf einen rechtmäßigen Gewinnverwendungsbeschluss hinwirkt. Dies gilt auch für das herrschende Unternehmen. Zwar kann in der Herbeiführung des Gewinnverwendungsbeschlusses eine Veranlassung i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG gesehen werden. Denn für eine Veranlassung genügt es bereits, dass das herrschende Unternehmen, gestützt auf seinen gesellschafts-

__________ 30 BGH, NJW 2007, 2689 – Trihotel; dazu Dauner-Lieb, ZGR 2008, 34 ff.; Habersack, ZGR 2008, 533 ff.; Schanze, NZG 2007, 681 ff.; Schwab, ZIP 2008, 341 ff.; Weller, ZIP 2007, 1681 ff. 31 Dazu unter V. 32 Zur Anwendbarkeit des § 83 Abs. 2 AktG auf die Dividendenzahlung s. Habersack in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 19. Lfg., 2003, § 83 AktG Rz. 11; Spindler in MünchKomm.AktG, 3. Aufl., 2008, § 83 AktG Rz. 15; näher zur Rechtslage bei anfechtbarem Gewinnverwendungsbeschluss Haertlein, ZHR 168 (2004), 437, 447 ff. 33 Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 32), § 83 AktG Rz. 17 f.; Habersack in Großkomm.AktG (Fn. 32), § 83 AktG Rz. 12; eingehend Haertlein, ZHR 168 (2004), 437, 439 ff. 34 Allgemein zu den Vorstandspflichten bei anfechtbarem Dividendenbeschluss Haertlein, ZHR 168 (2004), 437, 447 ff.

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rechtlich vermittelten Einfluss, das Verhalten der abhängigen Gesellschaft zu bestimmen versucht35, was nach zu Recht herrschender Meinung auch durch Ausübung des Stimmrechts des herrschenden Unternehmens und damit durch Beschluss der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft erfolgen kann36. Eine Veranlassung liegt mithin auch bei dem mit den Stimmen des herrschenden Unternehmens zustande gekommenen Beschluss über die Gewinnverwendung vor37. Da sich der Gewinnverwendungsbeschluss nicht in der Herbeiführung der Beschusslage erschöpft, vielmehr des Vollzugs durch den Vorstand bedarf, ist schließlich auch an der Veranlassungswirkung in Gestalt eines Geschäftsführungsaktes des Vorstands nicht zu zweifeln38. Doch fehlt es im Zusammenhang mit der Vornahme des Gewinnverwendungsbeschluss an einem Nachteil i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG. Versteht man nämlich mit der herrschenden Meinung unter einem Nachteil jede Minderung oder konkrete Gefährdung der Vermögens- oder Ertragslage der abhängigen Gesellschaft, soweit sie auf die Abhängigkeit zurückzuführen ist39, so zeigt sich, dass dem Nachteilsbegriff des § 311 Abs. 1 AktG eine Sorgfaltspflichtverletzung i. S. d. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG immanent ist: Hätte auch der pflichtgemäß handelnde Vorstand der als unabhängig gedachten Gesellschaft die Maßnahme treffen dürfen, so entfällt nicht erst die Ersatzpflicht nach § 317 Abs. 2 AktG40, sondern bereits der nachteilige Charakter i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG41. An einer Sorgfaltspflichtverletzung wiederum fehlt es, soweit dem Vorstand kein Entscheidungsspielraum zukommt, er vielmehr nach § 83 Abs. 2 AktG zur Auszahlung der von der Hauptversammlung beschlossenen Dividende verpflichtet ist42.

__________ 35 Krieger in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4: Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 74. 36 Vgl. dazu sowie zur Unanwendbarkeit des § 117 Abs. 7 Nr. 1 AktG a. F. bereits Begr. RegE in Kropff, AktG, 1965, S. 408; Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 110 f.; Krieger (Fn. 35), § 69 Rz. 75. 37 Kropff in MünchKomm.AktG (Fn. 36), § 311 AktG Rz. 113; Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 30; J. Vetter in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 311 AktG Rz. 71; Werner in FS Stimpel, 1985, S. 935, 943; a. A. Koppensteiner in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 26. 38 Dazu Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 30, 37. 39 BGHZ 141, 79, 84; Kropff in MünchKomm.AktG (Fn. 36), § 311 AktG Rz. 138; Hüffer (Fn. 20), § 311 AktG Rz. 25. 40 In diesem Sinne wohl BGH, ZIP 2008, 785 Tz. 11 ff. 41 Kropff in MünchKomm.AktG (Fn. 36), § 311 AktG Rz. 139 f.; Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 40; s. ferner LG Bonn, NZG 2006, 856, 857. 42 So auch Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 37), § 311 AktG Rz. 121; Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 30; J. Vetter in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 37), § 311 AktG Rz. 71; E. Vetter, ZHR 171 (2007), 342, 360; a. A. Kropff in MünchKomm.AktG (Fn. 36), § 311 AktG Rz. 113; Prühs, AG 1973, 395, 400; Werner in FS Stimpel, 1985, S. 934, 940; Wimmer-Leonhardt, Konzernhaftungsrecht, 2004, S. 102 f. Zur Ausstrahlung des § 83 Abs. 2 AktG auf den Nachteilsbegriff s. Pfeuffer, Verschmelzungen und Spaltungen als nachteilige Rechtsgeschäfte i. S. v. § 311 Abs. 1 AktG?, 2006, S. 124 ff., 152 f.; Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 30; zur Anwendbarkeit des § 83 Abs. 2 AktG auf die Dividendenzahlung vgl. die Nachw. in Fn. 32.

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V. Verhaltenspflichten im Vorfeld des Gewinnverwendungsbeschlusses 1. Verzicht auf Dotierung der Gewinnrücklage Die bisherigen Ausführungen haben sich – ebenso wie die Diskussion im einschlägigen Schrifttum – auf die Frage konzentriert, ob der Gewinnverwendungsbeschluss und die ihm nachfolgende Ausschüttung treuwidrig sind oder nachteiligen Charakter i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG haben; diese Frage war zu verneinen. Bislang nicht in den Blick genommen worden ist hingegen der Umstand, dass Vorstand und Aufsichtsrat nach § 58 Abs. 2 AktG – vorbehaltlich einer abweichenden Satzungsregelung – einen Teil des Jahresüberschusses, höchstens jedoch die Hälfte, in andere Gewinnrücklagen einstellen und dadurch das Ausmaß des nach § 58 Abs. 4 AktG von den Aktionären zu beanspruchenden Bilanzgewinns ganz erheblich beeinflussen können. Die Frage ist deshalb, ob Vorstand und Aufsichtsrat, wenn sie von der Möglichkeit der Rücklagenbildung keinen Gebrauch machen, sorgfaltswidrig handeln und hierdurch zugleich Raum für eine nachteilige Einflussnahme durch den Aktionär schaffen. Im Ausgangspunkt dürfte es allerdings unstreitig sein, dass es sich bei der Rücklagenbildung um eine Maßnahme der Geschäftsführung handelt, hinsichtlich derer dem Vorstand unternehmerisches Ermessen zukommt43. Bei Ausübung ihres Ermessens haben sich Vorstand und Aufsichtsrat zwar vom Interesse der Gesellschaft leiten zu lassen. Doch ist dies keine Besonderheit der Entscheidung nach § 58 Abs. 2 AktG, vielmehr selbstverständliche Pflicht der Organwalter im Rahmen einer jeden unternehmerischen (und sonstigen) Entscheidung44. Ungeachtet der Bindung an das Gesellschaftsinteresse bewendet es deshalb im Rahmen des § 58 Abs. 2 AktG und unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei dem unternehmerischen Ermessen von Vorstand und Aufsichtsrat45. Hierdurch wird insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, dass die Rücklagenbildung auf das Engste mit der unternehmerischen Strategie und damit der Leitungsaufgabe des Vorstands verquickt ist und deshalb – wenn überhaupt – nicht ohne Berücksichtigung der-

__________ 43 Vgl. Hüffer (Fn. 20), § 58 AktG Rz. 9; Henze in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 43, 45; Bayer in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 38; Cahn/ Senger in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 58 AktG Rz. 37; Fleischer in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 58 AktG Rz. 18; Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 34. 44 Vgl. Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl., 2006, § 25 MitbestG Rz. 93 mit umf. Nachw. 45 Henze in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 45; Fleischer in Karsten Schmidt/ Lutter (Fn. 43), § 58 AktG Rz. 20.

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selben beurteilt werden kann46. An dieser weitgehenden Kontrollfreiheit partizipieren sowohl die Entscheidung, von der Rücklagenkompetenz Gebrauch zu machen47, als auch die Entscheidung, keine Rücklagen zu bilden48. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift belegt dies in aller Deutlichkeit. Ausweislich der überaus intensiven und kontroversen, jüngst noch einmal im Einzelnen nachgezeichneten Diskussion vor Inkrafttreten des AktG 1965, die nicht zuletzt durch die Erfahrungen mit dem – durch eine nahezu unbegrenzte Rücklagenkompetenz der Verwaltung gekennzeichneten – AktG 1937 geprägt war, ging es dem Gesetzgeber darum, mit § 58 Abs. 2 AktG einen Kompromiss zwischen dem Rücklageninteresse der Gesellschaft und dem Ausschüttungsinteresse der Aktionäre zu schaffen49. So heißt es im Regierungsentwurf zum heutigen § 58 Abs. 2 AktG, dass die Regelung des AktG 1937 unbefriedigend sei, weil sie nicht berücksichtige, dass die „Verwaltungsmitglieder nur Beauftragte der Aktionäre sind und dass die Bildung von Rücklagen die risikotragende Einlage des Aktionärs erhöht“50. Im Allgemeinen sieht sich denn auch die Verwaltung allenfalls dem Vorwurf einer überhöhten Rücklagenbildung ausgesetzt, weshalb das AktG die Neuregelung in § 58 Abs. 2 AktG noch um das Anfechtungsrecht nach § 254 AktG ergänzt hat, mit dem sich die Aktionäre gegen eine übermäßige zusätzliche Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung zur Wehr setzen können. Dieser Befund schließt es zwar nicht von vornherein aus, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat wegen einer zu nachlässigen Rücklagenbildung haftbar machen können. Im Schrifttum wird diesbezüglich eine Pflichtverletzung allerdings im Wesentlichen für den Fall erörtert, dass die Gesellschaft auf die Thesaurierung von Jahresüberschuss angewiesen ist, etwa in einer Krisensituation noch Dividende ausgeschüttet wird51. Im Übrigen wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es die Hauptversammlung auch dann, wenn Vorstand und Aufsichtsrat von der Dotierung der Rücklagen absehen, nach § 58 Abs. 4 AktG in der Hand hat, ihrerseits Rücklagen zu bilden52. Die Vorschrift des § 58 Abs. 2 AktG will deshalb ersichtlich Vorstand und Aufsichtsrat zwar das Recht einräumen, auch gegen den Willen der Hauptversammlung Rücklagen zu bilden;

__________ 46 Vgl. Henze in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 45; Bayer in MünchKomm. AktG (Fn. 43), § 58 AktG Rz. 38 (Ermessen nur im seltenen Ausnahmefall überschritten); Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 34; Cahn/Senger in Spindler/Stilz (Fn. 43), § 311 AktG Rz. 37; allg. zu den Voraussetzungen und Folgen unternehmerischen Ermessens gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Hüffer (Fn. 20), § 93 AktG Rz. 4a ff. 47 Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 34; Henze in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 45. 48 Deutlich Henze in Großkomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 45; Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 34; ferner Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 43), § 58 AktG Rz. 38; Cahn/Senger in Spindler/Stilz (Fn. 43), § 58 AktG Rz. 37. 49 Eingehende Darstellung bei Kropff in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, § 16 Rz. 443 ff. 50 Begr. RegE in Kropff, AktG, 1965, S. 75. 51 Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 12), § 58 AktG Rz. 36. 52 Cahn/Senger in Spindler/Stilz (Fn. 43), § 58 AktG Rz. 37.

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die Annahme einer Pflicht des Vorstands und des Aufsichtsrats, von dieser Befugnis auch Gebrauch zu machen, stünde indes – von dem Extremfall der ausschüttungsbedingten Existenzgefährdung möglicherweise abgesehen53 – in Widerspruch nicht nur zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift, sondern auch zur aktienrechtlich verbürgten Entscheidungsautonomie der Hauptversammlung. Das Ermessen des Vorstands und des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit der Ausübung der Rücklagenkompetenz erfährt auch im Abhängigkeits- und Konzernverhältnis keine Einschränkungen. Zwar findet § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nach zu Recht ganz herrschender Ansicht, die sich auch auf die Materialien stützen kann, keine Anwendung, soweit sich das Vorstandsmitglied in einem Interessenkonflikt befindet54; für das Aufsichtsratsmitglied gilt nach § 116 Satz 1 AktG Entsprechendes55. Der allgemeine Konzernkonflikt, der sich in der Person des Organwalters der abhängigen Gesellschaft in der Nähebeziehung zum herrschenden Unternehmen oder in einer gewissen Abhängigkeit von diesem äußert, ist indes kein relevanter, will sagen: den safe harbour des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versperrender Interessenkonflikt56. Das Aktienkonzernrecht der §§ 311 ff. AktG mit seinem konzernoffenen, die Balance aus Schutz- und Organisationsregeln wahrenden Charakter57 Ansatz nimmt diesen Interessenkonflikt vielmehr als gegeben hin, ohne hierauf mit der Einschränkung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu reagieren58. 2. Realisierung eines Buchgewinns; Auflösung von Gewinnrücklagen Ist somit die Nichtwahrnehmung der Rücklagenkompetenz nach § 58 Abs. 2 AktG eine unternehmerische und schon mit Blick auf das Letztentscheidungsrecht der Aktionäre gemäß § 58 Abs. 4 AktG grundsätzlich nicht justiziable Maßnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats, so gilt im Grundsatz Entsprechendes für rechtlich nicht gebundene Entscheidungen im Zusammenhang mit der Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses. Zwar ist insoweit der Vorwurf einer Pflichtverletzung – und damit zugleich die Annahme einer

__________ 53 Dazu noch unter V.4. 54 Begr. RegE, BR-Drucks. 3/05, S. 20; Hüffer (Fn. 20), § 93 AktG Rz. 4g; Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 32), § 93 AktG Rz. 46; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 93 AktG Rz. 68; Verse, ZHR 172 (2008), 478, 479 f.; a. A. Krieger/Sailer in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 93 AktG Rz. 15. 55 Lutter in FS Canaris, 2007, Bd. 2, S. 245, 251 ff.; näher zur Reichweite des unternehmerischen Ermessens des Aufsichtsrats Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 116 AktG Rz. 39 ff.; ders., ZSR 124 (2005) II, 533, 542 ff. 56 Vgl. bereits Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 4; ders. in MünchKomm.AktG (Fn. 55), § 100 AktG Rz. 57, 70; ders., ZIP 2006, 445, 450; zu § 100 Abs. 5 AktG in der Fassung durch den RegE eines Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes s. aber auch Habersack, AG 2008, 98, 104 ff. 57 Näher Karsten Schmidt in FS Lutter, 2000, S. 1167, 1179 ff.; Habersack in Emmerich/ Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 3; weitergehend – für Primat der organisationsrechtlichen Elemente – Mülbert, ZHR 163 (1999), 1, 24 ff. 58 Vgl. neben den Nachw. in Fn. 56 namentlich BGH, ZIP 2008, 785 Tz. 11.

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nachteiligen Einflussnahme – nicht von vornherein ausgeschlossen59. Man denke etwa an die Auflösung von Gewinnrücklagen, die sodann als Teil des Bilanzgewinns ausgeschüttet worden, obgleich sie für anstehende und nunmehr auch unter Inanspruchnahme von Fremdkapital nicht mehr realisierbare Investitionen eingeplant waren60. Allein die Kollision der Bilanzierungsmaßnahme mit zwar möglichen, aber noch nicht in die Wege geleiteten Investments der Gesellschaft vermag indes den Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung (auf dem dann wiederum der Vorwurf nachteiliger Einflussnahme gründen könnte) nicht zu begründen. Das unternehmerische Ermessen des Vorstands (nicht anders als das Ermessen der Hauptversammlung61) umfasst vielmehr – jeweils innerhalb der durch den satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand gesteckten Grenzen – investierende Tätigkeit und auf Teildesinvestment gerichtete Strategien gleichermaßen. Es gibt denn auch keinen Rechtssatz des Aktienrechts, der es dem Vorstand verbieten würde, freie Rücklagen in Bilanzgewinn zu transferieren und den Aktionären die Entscheidung über die weitere Verwendung der Mittel zu ermöglichen. In ihren Folgen hinsichtlich der Finanzierungsstruktur der Gesellschaft entspricht die Auflösung von Gewinnrücklagen vielmehr dem Rückerwerb eigener Aktien, der – schon mit Blick auf das Erfordernis der Rücklagenbildung gemäß § 272 Abs. 4 HGB – nur aus freien Mitteln erfolgen kann und, wie die Auflösung und Ausschüttung von Rücklagen auch, das Verhältnis von Eigen- und Fremdkapital zugunsten einer Stärkung der Fremdkapitalkomponente modifiziert62. Aus Sicht der Gesellschaft, ihrer Aktionäre und des Kapitalmarkts stellt deshalb der Rückerwerb eigener Aktien eine Alternative zur Dividendenausschüttung dar63. Beide „Rekapitalisierungsmaßnahmen“ bedürfen im Übrigen der Mitwirkung der Aktionäre. Der Unterschied besteht allein darin, dass der Vorstand durch den Ermächtigungsbeschluss nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG nicht gebunden wird, er vielmehr ein flexibles und nach eigenem Gutdünken einsetzbares Finanzierungsinstrument erhält. Demgegenüber kann der Vorstand zwar vermittels der Auflösung von Gewinnrücklagen eine Ausschüttungsgrundlage schaffen; die Ausschüttungsentscheidung selbst hingegen ist Sache der Aktionäre. Allein diese Umkehr der Rollenverteilung ändert indes nichts an der funktionalen Vergleichbarkeit von Ausschüttung und Rückerwerb und berührt schon gar nicht das unternehmerische Ermessen des Vorstands. Nichts anderes gilt für die Realisierung stiller Reserven, sei es im Wege eines gewöhnlichen Austauschgeschäfts mit Dritten oder im Wege eines konzern-

__________ 59 Vgl. J. Vetter in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 37), § 311 AktG Rz. 66; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 21), § 311 AktG Rz. 51. 60 Beispiel nach J. Vetter in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 37), § 311 AktG Rz. 66. 61 Dazu unter IV. 62 Vgl. Lutter, AG 1997, August-Sonderheft, 52, 56 („pulsierendes Eigenkapital“); am Beispiel rückerwerbbarer Aktien Habersack in FS Lutter, 2000, S. 1329, 1330 ff.; zum Gleichbehandlungsgebot s. dens., ZIP 2004, 1121 ff. 63 Arnold in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 7 Rz. 7 f.

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internen Transfers. Die dem Grundsatz vorsichtiger Bilanzierung geschuldeten stillen Reserven haben zwar gläubigerschützende Funktion, weshalb ein Verstoß gegen § 57 AktG vorliegt, wenn die Gesellschaft einen Vermögensgegenstand zu dem unter dem Verkehrswert liegenden Buchwert abgibt64; hieran wird auch das MoMiG nichts ändern65. Ungeachtet dessen haben es die Gläubiger hinzunehmen, dass die Gesellschaft stille Reserven realisiert und sodann als Bilanzgewinn an die Gesellschafter auskehrt. Die zunehmende Hinwendung des HGB-Bilanzrechts zur Informationsfunktion der Bilanz66 unterstreicht im Übrigen, dass sich die Gesellschaftsgläubiger nicht länger auf nicht ausgewiesenes Vermögen verlassen, vielmehr offen über die tatsächlichen Vermögensverhältnisse der Gesellschaft informiert werden sollen. 3. Darlehensweise Finanzierung der Dividende Was den – die „Rekapitalisierung“ kennzeichnenden – Aspekt der darlehensweisen Finanzierung der Dividende betrifft, so ist nicht zu bezweifeln, dass die Darlehensaufnahme als solche eine Maßnahme der Geschäftsführung bildet, die, wenn die Konditionen des Darlehens dem Marktüblichen entsprechen und die gegebenenfalls erforderliche Besicherung durch die Zielgesellschaft deren Liquidität und finanzielle Bewegungsfreiheit nicht über Gebühr einschränkt, im Allgemeinen keinen nachteiligen Charakter hat. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass die Zielgesellschaft durch die Aufnahme des Darlehens zur Rückzahlung der Valuta und zu Zinszahlungen verpflichtet wird. Denn diese Leistungspflichten sind dem Abschluss eines Darlehensvertrags immanent und bilden nur die Kehrseite der Vorteile, die aus Sicht des Darlehensnehmers mit einem entsprechenden Rechtsgeschäft verbunden sind. Sorgfaltswidrigen – und damit zugleich nachteiligen – Charakter könnte die Aufnahme des Darlehens indes erlangen, wenn man ihren Zweck in die Betrachtung einbezieht, mithin berücksichtigt, dass das Darlehen die Auszahlung der zunächst auf einem Buchgewinn basierenden Dividende ermöglichen soll und seine Aufnahme deshalb letztlich den Aktionären zugute kommt, während Rückzahlung und Verzinsung Pflicht der Zielgesellschaft sind und bleiben. Der einzige Vorteil, den die Darlehensaufnahme aus Sicht der Zielgesellschaft hat, besteht so gesehen darin, die Dividendenschuld gegenüber den Aktionären zu erfüllen – eine Schuld der Zielgesellschaft, die ihrerseits typischerweise auf Veranlassung durch das herrschende Unternehmen und unter Verzicht auf die Bildung von Rücklagen durch Vorstand und Aufsichtsrat begründet worden ist und vielfach dazu dient, die Übernahme der Zielgesellschaft teilweise zu finanzieren.

__________ 64 Vgl. Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006, § 30 GmbHG Rz. 43 m. w. N. 65 Zur Änderung der §§ 30 Abs. 1 GmbHG, 57 AktG durch das MoMiG s. sogleich unter 3. 66 Zu dieser Entwicklung im Allgemeinen sowie zur Konzeption des BilMoG im Besonderen s. Hommelhoff, ZGR 2008, 250 ff.

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Allerdings darf der Umstand, dass der Gewinnverwendungsbeschluss und der ihm vorangehende Verzicht des Vorstands und Aufsichtsrats der Zielgesellschaft auf die Bildung von Rücklagen unternehmerischen Charakter haben und nicht als nachteilig qualifiziert werden können, nicht ausgeblendet werden. Genau dies geschähe indes, wollte man den nachteiligen Charakter des Darlehens darauf gründen, dass das Darlehen für die Bedienung von Dividendenansprüchen herangezogen wird. Dabei bliebe nämlich unberücksichtigt, dass den Vorschriften der §§ 57 Abs. 3, 58 Abs. 4 AktG, soweit sie den Aktionären Anspruch (nur) auf den Bilanzgewinn zusprechen, eine betont bilanzielle Betrachtungsweise zugrunde liegt, die nicht nach der Herkunft der zur Erfüllung fälliger Dividendenansprüche fragt, sondern einzig und allein auf das Vorliegen eines Bilanzgewinns und eines Gewinnverwendungsbeschlusses der Hauptversammlung abstellt67. Dem entspricht es, dass Dividenden vielfach zu einem Gutteil oder gar vollständig fremdfinanziert werden, indem die Gesellschaft nicht auf vorhandene Liquidität zurückgreift, sondern vorhandene Kreditlinien ausschöpft. Nicht anders ist im Übrigen der ökonomische Effekt, wenn die Gesellschaft vorhandene Liquidität als Dividende ausschüttet, anstatt sie zur Rückführung bereits in Anspruch genommener Kreditlinien zu verwenden. Bei Lichte betrachtet sind es also in den „einschlägigen“ Fällen der zeitliche Zusammenhang zwischen der Übernahme und dem Gewinnverwendungsbeschluss sowie das außergewöhnliche Ausmaß der Dividende, die Anlass geben, über den nachteiligen Charakter nachzudenken. Für den Fall, dass den Aktionären eine Dividende „normalen“ (d. h. sich an dem um Sondereffekte bereinigten Jahresergebnis orientierenden) Ausmaßes unter Rückgriff auf Fremdmittel (Nichtrückführung bestehender Kredite oder Inanspruchnahme bislang nicht in Anspruch genommener Kreditlinien) ausgezahlt wird, finden sich denn auch im Schrifttum, soweit ersichtlich, keine Stimmen, die hierin die Grundlage einer nachteiligen Einflussnahme durch den Aktionär oder eines pflichtwidrigen Verhaltens des Vorstands erblicken. Der Fall einer kreditfinanzierten „Superdividende“ wird im Schrifttum, soweit ersichtlich, überhaupt nicht näher erörtert. Der bilanzielle Effekt und die wirtschaftlichen Gegebenheiten sind indes in beiden Fällen dieselben. Auch bei außergewöhnlichem Ausmaß der kreditfinanzierten Dividende hat es deshalb bei der Maßgeblichkeit der bilanziellen Betrachtungsweise zu bewenden. Unerheblich ist insoweit, dass der BGH in seiner zu § 30 Abs. 1 GmbHG ergangenen Grundsatzentscheidung vom 24.11.2003 die bilanzielle Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Gewährung von Darlehen der Gesellschaft an den Gesellschafter eingeschränkt und – jedenfalls für das Stadium der Unterbilanz – im Austausch liquider Mittel gegen einen Rückzahlungsanspruch eine unzulässige Auszahlung erblickt hat68. Die Grundsätze dieser Entscheidung lassen sich zwar durchaus auf das Aktienrecht übertragen69. Für die Frage nach dem nach-

__________ 67 Näher dazu unter IV.1. 68 BGHZ 157, 72 ff.; dazu Habersack (Fn. 64), § 30 Rz. 47 ff. mit umf. Nachw. 69 Vgl. denn auch BGH, ZIP 2008, 118, 119 f.; näher Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689, 690; Cahn/Senger in Spindler/Stilz (Fn. 43), § 57 AktG Rz. 32 f.

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teiligen Charakter einer kreditfinanzierten Dividende geben sie indes auch unabhängig davon nichts her, dass der Gesetzgeber – zur Freude des Jubilars70 – mit dem MoMiG bekanntlich zur „bilanziellen Betrachtungsweise“ zurückkehren und in §§ 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG, 57 Abs. 1 Satz 2 AktG bestimmen wird, dass die Kapitalerhaltungsgrundsätze keine Anwendung finden, wenn die Leistung der Gesellschaft durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gegen den Gesellschafter gedeckt ist71. Denn in Frage steht nicht eine verbotene Auszahlung, sondern eine – nach § 57 Abs. 3 AktG ausdrücklich zugelassene – Ausschüttung von Bilanzgewinn, der, wie sich unmissverständlich §§ 58 Abs. 2, 4, 158 Abs. 1 AktG entnehmen lässt, anhand des Jahresabschlusses und damit – auch unabhängig von der Änderung der §§ 30 GmbHG, 57 AktG durch das MoMiG – auf der Grundlage einer streng „bilanziellen Betrachtungsweise“ zu ermitteln ist. Hierfür spricht nicht zuletzt die Erwägung, dass die Frage, wie eine beschlossene Dividende seitens der Gesellschaft als Schuldnerin der Dividendenansprüche der Aktionäre zu finanzieren ist, logisch nachrangig ist. Der Gewinnverwendungsbeschluss findet seinen Ausgangspunkt und seine Grundlage in dem Bilanzgewinn, der wiederum auf die Liquidität der Gesellschaft keine Rücksicht nimmt und deshalb auch einen durch Neubewertung von Aktiva hervorgerufenen Gewinn der Verwendungsentscheidung der Aktionäre überlässt. Den Gewinnverwendungsbeschluss hat der Vorstand sodann nach § 83 Abs. 2 AktG zu vollziehen; verfügt die Gesellschaft nicht über die erforderliche Liquidität, hat sie sich diese am Markt zu beschaffen. Wiederum gilt, dass derlei auch durch das herrschende Unternehmen veranlasst werden darf72. 4. Ermessensschranken Während die Dividendenautonomie der Aktionäre allein durch das Erfordernis eines Bilanzgewinns begrenzt wird und im Übrigen schrankenlos ist73, stößt das Ermessen des Vorstands und des Aufsichtsrats im Vorfeld des Gewinnverwendungsbeschlusses durchaus auf Grenzen. So muss es auch unter Berücksichtigung der Desinvestitionsfreiheit der Aktionäre als sorgfaltswidrig (und damit zugleich als nachteilig i. S. d. § 311 AktG) angesehen werden, wenn der Vorstand Rücklagen auflöst und zur Ausschüttung freigibt, die an sich für bereits in die Wege geleitete Investitionen benötigt werden74. Als weitere Ermessensschranke ist das Überlebensinteresse der Gesellschaft anzuführen75. Zwar

__________ 70 Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1074 f.; zuvor bereits ders. (Fn. 24), S. 1132 ff. 71 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen v. 23.10.2008, BGBl. I S. 2026; s. dazu RegE, BT-Drucks. 16/6140 = BR-Drucks. 354/07 = ZIP 2007, Beil. zu Heft 23. 72 Vgl. im Einzelnen unter V.1. 73 Dazu unter IV.4. 74 S. bereits unter V.2. 75 Zur „Existenzvernichtungshaftung“ des Alleingesellschafters der GmbH s. die Nachw. in Fn. 30; allgemein zur Frage einer Insolvenzverursachungshaftung des Aktionärs sowie zur Frage einer darüber hinausgehenden Haftung des herrschenden Unternehmens wegen qualifizierter Nachteilszufügung s. Habersack, ZGR 2008, 533, 536 ff.

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sprechen das rechtlich geschützte Desinvestitionsinteresse der Aktionäre im Allgemeinen und die unbegrenzte Dividendenautonomie der Hauptversammlung im Besonderen durchaus gegen die Annahme, Vorstand und Aufsichtsrat handelten sorgfaltswidrig, wenn sie der Hauptversammlung einen den Fortbestand der Gesellschaft beeinträchtigenden oder zumindest gefährdenden Dividendenbeschluss ermöglichen. Denn der Hauptversammlung bleibt es unbenommen, den Bilanzgewinn ganz oder zum Teil (erneut) in die Rücklagen einzustellen und hierdurch die Überlebensfähigkeit zu sichern76; macht sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, so geht es an sich nicht an, dem Vorstand und dem Aufsichtsrat insoweit ein Versäumnis vorzuwerfen. Indes bliebe hierbei unberücksichtigt, dass die Aktionäre nicht notwendigerweise die Tragweite des Dividendenbeschlusses durchschauen, vielmehr es Vorstand und Aufsichtsrat sind, die der Hauptversammlung gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG, basierend auf der Feststellung des Jahresabschlusses und dem Beschluss über die Rücklagenbildung, einen Beschlussvorschlag unterbreiten. Namentlich im Zusammenhang mit der Unterbreitung von Vorschlägen des Aufsichtsrats zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern und des Abschlussprüfers hat sich denn auch die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass der Aufsichtsrat einer „Vorschlagsverantwortung“ unterliegt, er also die Wahlvorschläge am Interesse der Gesellschaft und damit an dem Gebot einer möglichst effektiven Überwachung auszurichten hat77. Für den Dividendenvorschlag kann nichts anderes gelten. Insoweit geht es weniger um die Etablierung „ungeschriebener“ inhaltlicher Ausschüttungsbegrenzungen als darum, das Informationsgefälle, das zwischen Verwaltung und Hauptversammlung besteht, zu kompensieren, mithin darum, der Hauptversammlung eine verantwortungsvolle Dividendenentscheidung auf informierter Grundlage zu ermöglichen. Ein Dividendenvorschlag des Vorstands und des Aufsichtsrats, der, nachdem die Hauptversammlung ihn „abgesegnet“ hat, die Existenz der Gesellschaft aufs Spiel setzt, wäre vor diesem Hintergrund sorgfaltswidrig i. S. d. §§ 93 Abs. 2, 116 Satz 1 AktG. Hiervon betroffen ist namentlich die Publikumsgesellschaft; in der personalistisch verfassten Gesellschaft, bei der die Aktionäre über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens im Bilde sind, ist ein entsprechender Paternalismus überflüssig und verfehlt.

VI. Kreditfinanzierte Dividende und § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG Nur in aller Kürze anzusprechen ist das in § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG geregelte Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs. Der Schutzzweck dieses Verbots und das Verhältnis zum Auszahlungsverbot des § 57 AktG sind

__________ 76 Unter V.1. 77 Götz, AG 1995, 337, 345 f.; Lutter, ZIP 2003, 417, 418; Habersack in MünchKomm.AktG (Fn. 55), § 101 AktG Rz. 17 f., dort auch zu Ziffern 5.3.3 und 5.4.1 des Deutschen Corporate Governance Kodex; kritisch bis ablehnend Sünner, ZIP 2003, 834; Wirth, ZGR 2005, 327, 342 f.

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zwar, wie an anderer Stelle näher dargelegt worden ist78, alles andere als klar; das MoMiG mit seiner Änderung des § 57 AktG wird die Diskussion gewiss beflügeln79. Bei allem Streit ist es freilich nachgerade beruhigend, dass zumindest in einem Punkt weitgehendes Einvernehmen festgestellt werden kann. Nach soweit ersichtlich einhelliger Ansicht findet nämlich das Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs keine Anwendung auf gesetzlich erlaubte Zahlungen im Allgemeinen und auf Leistung der von der Hauptversammlung in Übereinstimmung mit § 58 AktG beschlossenen Dividende im Besonderen80. Dies gilt auch dann, wenn die Dividendenzahlung im zeitlichen Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien steht, vom Erwerber befürwortet oder gar veranlasst wird und zudem außergewöhnlichen Charakter hat. Auch in diesem Fall wird der Gläubigerschutz durch §§ 57 Abs. 3, 58 AktG besorgt. Dem Gleichbehandlungsgrundsatz wird durch die anteilmäßige Partizipation der Aktionäre an der Ausschüttung Rechnung getragen. Die Partizipation aller Aktionäre streitet im Übrigen klar für die Vereinbarkeit der „Superdividende“ mit § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG; denn die Annahme, nur die Ausschüttung an den Aktienerwerber sei verboten, sähe sich ihrerseits dem Vorwurf der Unvereinbarkeit mit § 53a AktG ausgesetzt. Auch dies zeigt, dass § 71a AktG auf gesetzlich erlaubte Zahlungen, insbesondere solcher „kollektiver“ Art, unanwendbar ist, mag die Zahlung auch im Zusammenhang mit dem Aktienerwerb stehen und diesen finanzieren. Nichts anderes gilt für den Fall, dass die Gesellschaft, um den nicht liquiden Bilanzgewinn ausschütten zu können, ein Darlehen aufnimmt81.

VII. Resümee „Superdividenden“ sind, das kann als wesentliches Ergebnis der vorstehenden Ausführungen festgehalten werden, eine Ausprägung des aktienrechtlich verbürgten Desinvestitionsinteresses der Aktionäre und in weitem Umfang zulässig, und zwar auch dann, wenn der Bilanzgewinn auf durch konzerninterne Maßnahmen zurückgehende Buchgewinne zurückgeht und die Ausschüttung in Ermangelung liquider Mittel fremdfinanziert werden muss. Vorstand und Aufsichtsrat obliegt es zwar, ihr Vorschlagsrecht aus § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG am wohlverstandenen Interesse auszurichten, weshalb sie der Hauptversammlung eine die Existenz der Gesellschaft gefährdende Dividendenzahlung nicht

__________ 78 Näher dazu Habersack in FS Röhricht, 2005, S. 155 ff.; s. seitdem namentlich Oechsler in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 71a AktG Rz. 3 ff.; ders., ZIP 2006, 1661 ff.; Cahn in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 71a AktG Rz. 3 ff.; Bezzenberer in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 71a AktG Rz. 7 ff. 79 Vgl. bereits Habersack, FAZ v. 21.11.2007, S. 25; ferner Drygala, Der Konzern 2007, 396 ff.; Westermann, ZHR 172 (2008), 144, 161 ff. 80 Merkt in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 28. Lfg., 2007, § 71a AktG Rz. 36; Oechsler in MünchKomm.AktG (Fn. 78), § 71a AktG Rz. 24; Cahn in Spindler/Stilz (Fn. 78), § 71a AktG Rz. 12; Schroeder, Finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs – Der 71a Abs. 1 AktG und sein Vorbild im englischen Gesellschaftsrecht, 1995, S. 190 ff.; Seibt, ZHR 171 (2007), 282, 304. 81 Seibt, ZHR 171 (2007), 282, 304.

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vorschlagen dürfen. Die so verstandene „Vorschlagsverantwortung“ hat indes nur die Funktion, Informationsdefizite der Hauptversammlung zu kompensieren; der entsprechend gewarnten Hauptversammlung bleibt es sodann unbenommen, ihrerseits auf die Bildung von Rücklagen zu verzichten und die Existenz der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Das deutsche Aktienrecht mit seinem vielfach beschworenen gläubigerschützenden Vorschriften und Mechanismen erweist sich damit als überaus flexibel. Dem Gesetzgeber bleibt es unbenommen, dem jüngst verabschiedeten Risikobegrenzungsgesetz ein „Missbrauchsbekämpfungsgesetz“ folgen zu lassen und weitergehende Ausschüttungsbegrenzungen einzuführen, etwa zu bestimmen, dass im zeitlichen Zusammenhang mit einer Übernahme realisierte Buchgewinne nicht ausgeschüttet werden dürfen82. Ernsthaft empfehlen kann man derlei aktienrechtliche Regelungen nicht83. „Superdividenden“ sind weder ein Phänomen nur der Private Equity-Branche noch per se verwerflich. Richtig dosiert folgen sie vielmehr vielfach wirtschaftlicher Vernunft. Die „Überdosierung“ hingegen dürfte sich kaum mit der gebotenen Präzision und im Übrigen allenfalls unter Inkaufnahme von Systembrüchen regulieren lassen.

__________ 82 Erwogen, aber letztlich als allgemeine, nicht nur für die Übernahme durch Private Equity-Gesellschaften geltende Regelung nicht befürwortet von U. H. Schneider, NZG 2007, 888, 893. 83 So auch U. H. Schneider, NZG 2007, 888, 893.

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Zur Nachholung aktienrechtlicher Meldepflichten und damit verbundenen prozessualen Fragen Inhaltsübersicht I. Vorbemerkungen II. Die nachgeholte Meldung in der Hauptversammlung 1. Die grundsätzliche Zulässigkeit 2. Die Meldung durch einen Bevollmächtigten

III. Prozessuale Fragen 1. Darlegungs- und Beweislast 2. Bestätigungsbeschluss IV. Ergebnisse

I. Vorbemerkungen Das Thema rechtsmissbräuchlicher Anfechtungsklagen „räuberischer Aktionäre“ und die Möglichkeiten wirksamer Abwehr derartiger Angriffe ist eine unendliche Geschichte, die bis in das Jahr 1884 zurückgeht1. Rechtsmissbrauch nachzuweisen gelingt nur schwer und selten, wie die Entscheidungspraxis der Gerichte zeigt. Wird die Klage von einem Aktionär aus dem Kreis der „üblichen Verdächtigen“ erhoben, erfolgt durch die beklagte Gesellschaft regelmäßig der Einwand des Rechtsmissbrauchs2, dem aber nur selten Erfolg beschieden ist3. Der Gesetzgeber hat mit einer Reihe von Gesetzesänderungen versucht, die Anzahl rechtsmissbräuchlich erhobener Klagen einzudämmen. Zu nennen sind hier aus letzter Zeit insbesondere das „Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts“ (UMAG)4, die von diesem eingeführte Abhängigkeit der Anfechtungsbefugnis vom Erwerb der Aktien, die der Aktionär schon vor der Bekanntmachung der Tagesordnung erworben hat (§ 245 Nr. 1 AktG), sowie der Ausschluss der Anfechtungsbefugnis bei unrichtiger, unvollständiger oder verweigerter Erteilung von Informationen über die Ermittlung, Höhe oder Angemessenheit von Ausgleich, Abfindung, Zuzahlung oder über sonstige Kompensationen (§ 243 Abs. 4 Satz 2 AktG). Auch die in das Gesetz übernommene Relevanztheorie (§ 243 Abs. 4

__________ 1 „Das Recht eines Jeden zur Anfechtung ist ein zweischneidiges Mittel, welches Chikanen und Erpressungen Thür und Thor öffnet“ (Begründung eines Gesetzes betreffend die KGaA und AG, 1884, zitiert bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, 1984, S. 467). 2 Eine Zusammenstellung der Rechtsprechung sowie der Vorarbeiten in der Literatur findet sich bei Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, § 16 Rz. 180 ff. 3 Ausnahmen, wie im Fall des der Entscheidung des LG Frankfurt zugrundeliegenden Sachverhaltes (vgl. LG Frankfurt, BB 2007, 2362 ff.), bestätigen die Regel. 4 Gesetz v. 22.9.2005, BGBl. I, S. 2802.

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Satz 1 AktG) gehört hierher und insbesondere das Freigabeverfahren gemäß § 246a AktG, das allerdings nur bei bestimmten Strukturbeschlüssen helfen kann. Dies alles sind gesetzgeberische Maßnahmen auf einem richtigen Weg, der aber bisher noch keinen nennenswerten Erfolg gezeigt hat, wie sich beispielsweise aus der Studie von Baums/Keinath/Gajek5 ergibt. Die Bundesregierung hat auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Mechthild Diekmanns u. a. am 26. Oktober 2007 nach der Beurteilung der Entwicklung der Anfechtungsund Nichtigkeitsklagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse in den letzten fünf Jahren wie folgt geantwortet: „Aus Sicht der Bundesregierung sind insbesondere die zu beachtende Herausbildung einer Gruppe „professioneller Kläger“ sowie die gegenüber gewöhnlichen Zivilprozessen sehr hohe Vergleichsquote unbefriedigend, da sie zeigen, dass einzelne Kläger formale Rechtspositionen, die aus Gründen des Individual- und Minderheitenschutzes vom Gesetz mit guten Gründen gewährt werden, dazu nutzen, die Gesellschaft zu finanziellen Zugeständnissen zu veranlassen6.“

Das Bemühen um die Eindämmung des „Klagegewerbes“ geht weiter7. Von Seiten des Gesetzgebers hat der Bundesrat die Initiative eingebracht, durch die Gerichtsverfassung den Instanzenzug zu verkürzen und damit zu größerer Effektivität des Rechtsschutzes beizutragen8. Die Bundesregierung stellt in der Begründung des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) fest, die im Rahmen des UMAG eingeführten Einzelmaßnahmen hätten zwar bereits Wirkung gezeigt, sollten aber in Anbetracht der weiterhin auftretenden Missbrauchsfälle insbesondere durch eine gesetzliche Klarstellung der Interessenabwägungsklausel im Freigabeverfahren weiter fortentwickelt und präzisiert werden9. Die Diskussion über „chirurgische Eingriffe“ mit den Mitteln des Verfahrensrechtes könnte entspannter geführt werden, wenn es gelänge, das Erpressungspotential von Anfechtungsklagen mit „homöopathischen Mitteln“, nämlich durch Deregulierung und Vereinfachung des Aktienrechtes, zu mindern. Dazu gehört durch Abstufung der Rechtsfolge rechtswidriger Beschlüsse auch ein Abgehen von dem starren Prinzip der durch das Gesetz unterschiedslos angeordneten Kassation eines als rechtswidrig festgestellten Beschlusses mit ex-tunc-Wirkung. Derartiges ist kurzfristig nicht in Sicht. Das Gegenteil ist zu befürchten. Der Gesetzgeber – manchmal, aber nicht immer gezwungen durch die europarechtlichen Vorgaben – ist dabei, „mit der auf immer höheren Touren laufenden Normensetzungsmaschinerie“10 das Recht, insbesondere das Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, durch ein Netz neuer Vorschriften und Regelungen noch

__________

5 Vgl. ZIP 2007, 1629. Nach dieser Studie ist die Zahl der Beschlussmängelklagen im ersten Jahr nach dem Inkrafttreten des UMAG von 281 (1,78 %) auf 357 (2,34 %) gestiegen. Die ermittelten Beschlussmängelklagen bis zum 30. Juni 2007 beliefen sich auf 142. 6 Vgl. BT-Drucks. 16/6845, 2. 7 Zum rechtstatsächlichen Befund und den einzelnen Reformvorschlägen vgl. J. Vetter, AG 2008, 177 ff., und Poelzig/Meixner, AG 2008, 196 ff. 8 Vgl. BR-Drucks. 901/07. 9 RefE, abrufbar unter www.mbj.bund.de, S. 28. 10 Cahn, AG 2008, 342 f.

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Zur Nachholung aktienrechtlicher Meldepflichten

formalisierter und komplizierter zu gestalten, so dass die Gesellschaften ohne spezialisierte Beratung den Umfang ihrer Pflichten und Obliegenheiten oft nicht mehr zu überschauen vermögen und das Risiko laufen, empfindliche Vermögenseinbußen (z. B. der Stimmbefugnis oder des Dividendenrechtes) zu erleiden oder Bußgelder in nicht unerheblicher Höhe zahlen zu müssen. Ein besonderes Feld der gesetzlichen Überregulierung ist der Bereich der Meldepflichten nach AktG, WpHG und WpÜG. Die in § 20 AktG getroffene Regelung wurde geschaffen, um die Aktionäre, die Gläubiger und die Öffentlichkeit über geplante und bestehende Konzernverbindungen besser zu unterrichten und die vielfach auch für die Unternehmensleitung selbst nicht erkennbaren wahren Machtverhältnisse in der Gesellschaft deutlicher hervortreten zu lassen11. Sie wurde mehrfach geändert12, unter anderem im Interesse der Synchronisierung mit den Meldevorschriften des WpHG13. Bereits aus der ursprünglichen Fassung von § 20 AktG ergaben sich Fragen, die für die Betroffenen Risiken mit sich brachten und noch bringen, nämlich beispielsweise solche, die sich beziehen auf die Qualifizierung eines Aktionärs als Unternehmen, die Zurechnung verbundener Unternehmen gemäß § 16 Abs. 4 AktG sowie die doppelten Meldepflichten bei mittelbaren Beteiligungsverhältnissen. Während die Probleme, die sich aus der Unternehmerqualifikation eines Aktionärs ergeben, heute durch Rechtsprechung und Schrifttum14 grundsätzlich, jedoch noch nicht hinsichtlich der jeweiligen konkreten Voraussetzungen für die Subsumtion15, als weitgehend gelöst angesehen werden können, stellt sich insbesondere im Bereich der Zurechnungsnorm von § 16 Abs. 4 AktG im jeweiligen Einzelfall die Frage, ob und inwieweit die Voraussetzungen dieser Vorschrift konkret vorliegen und deshalb Meldepflichten bestehen. Diesen Risikopositionen hat der Gesetzgeber in letzter Zeit noch weitere hinzugefügt. Hinzuweisen ist dabei beispielsweise auf das Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz (TUG)16, das in seinem § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 neue Zurechnungstatbestände geschaf-

__________ 11 Vgl. Begr.RegE §§ 20, 21 AktG 1965, Kropff, Aktiengesetz, S. 38. 12 Gesetz v. 24.3.1998 (Drittes Finanzmarktförderungsgesetz), BGBl. I, S. 529 ff.; Gesetz v. 25.3.1998 (StückAG), BGBl. I, S. 590 ff.; Gesetz v. 5.1.2007 (TUG), BGBl. I, S. 10 ff. 13 „Im Aktiengesetz werden Folgeänderungen vorgenommen“ so die Regierungsbegründung des TUG (BT-Drucks. 16/2498), das wesentliche Änderungen des WpHG vorsieht. 14 BGHZ 69, 334, 336 ff.; BGHZ 74, 330, 337; BGH, NJW 2001, 2973, 2974; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 15 AktG Rz. 8; Bayer in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 15 AktG Rz. 13; Schall in Spindler/Stilz, 2007, § 15 AktG Rz. 13, 17. 15 Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der anderweitigen Interessenbindung vgl. Hüffer (Fn. 14), § 15 AktG Rz. 9 ff.; Bayer (Fn. 14), § 15 AktG Rz. 14 ff.; Schall (Fn. 14), § 15 AktG Rz. 23 ff.; sowie hinsichtlich des Merkmals der Möglichkeit nachteiligen Einflusses vgl. Hüffer (Fn. 14), § 15 AktG Rz. 12; Bayer (Fn. 14), § 15 AktG Rz. 22 ff.; Schall (Fn. 14), § 15 AktG Rz. 27 ff. 16 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere hum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind und zur Änderung der Richtlinie 2001/34 EG v. 5.1.2007, BGBl. I, S. 10 ff.

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fen hat17, sowie die Wertpapierhandelsanzeige- und Insiderverzeichnisverordnung – WpAIV – v. 13.9.200418. Nun droht der Gesetzgeber noch mit dem Risikobegrenzungsgesetz und will den ohnehin schon unscharfen Tatbestand des „acting in concert“ (§ 22 Abs. 2 WpHG und § 30 Abs. 2 WpÜG) in bedenklicher Form ausweiten. Danach sollen beispielsweise nicht nur Verhaltensabstimmungen in Bezug auf den Emittenden, sondern auch in Bezug auf den Erwerb von Aktien des Emittenden erfasst werden und ein „acting in concert“ mit der Folge der Stimmrechtszurechnung selbst ohne Absprachen über die Stimmrechtsausübung in der Hauptversammlung gegeben sein. Außerdem soll der Stimmrechtsverlust bei Fällen, in denen die Mitteilung vorsätzlich oder grob fahrlässig unterlassen wurde, sechs Monate nachwirken (§ 28 Satz 2 WpHG-E). Auf Einzelheiten der Begründung der vorgeschlagenen bedenklichen Ausweitung der Meldepflichten soll hier nicht näher eingegangen werden19. Diese Rechtslage mit ihren Problemen, die hier nur knapp skizziert werden konnte, gibt vor dem Hintergrund der durch die eingangs genannten gesetzgeberischen Maßnahmen eingeschränkten Anfechtungsmöglichkeiten den „professionellen Anfechtungsklägern“ vielfach Anlass, die Akzente in der Begründung von Anfechtungsklagen zu verlagern. Das gilt insbesondere für Klagen gegen Strukturbeschlüsse. Hier lag der Schwerpunkt der Begründungen in der Vergangenheit meistens bei behaupteten Verletzungen des Auskunftsrechtes im Bereich der Bewertung. Die Gerichte haben diese Fälle aufgrund der Neuregelung von § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG weitgehend in den Griff bekommen. Nunmehr sind Begründungen von Anfechtungsklagen in Mode gekommen, in denen – meist ohne nähere Substantiierung – die Behauptung aufgestellt wird, ein Aktionär oder eine Aktionärsgruppe habe eine aktien- oder kapitalmarktrechtliche Meldepflicht nicht erfüllt und hätte deshalb nicht mitstimmen dürfen. Dies wiederum sei kausal für den zustande gekommenen Beschluss gewesen. Dass die Stimmrechtsrügen insbesondere in Squeeze out-Fällen, mit denen gerügt wird, der Hauptaktionär oder die von ihm abhängigen Unternehmen seien ihren Mitteilungspflichten nach §§ 21 ff. WpHG bzw. §§ 20 ff. AktG nicht ordnungsgemäß nachgekommen, in der Entscheidungspraxis der Gerichte eine nicht unerhebliche Rolle eingenommen haben, zeigen die Ausführungen von Gehling in seiner im Auftrag des Deutschen Aktieninstitutes erstellten Studie20 und die Ermittlungen von Baums/Keinath/ Gajek21. Gehling führt acht Entscheidungen an22. Bezeichnenderweise hatte die Stimmrechtsrüge in keiner der veröffentlichten Entscheidungen Erfolg.

__________

17 Vgl. dazu Schnabel/Korff, ZBB 2007, 179 ff. 18 BGBl. I, S. 3376. 19 Vgl. hierzu Art. 1 Nr. 2 sowie Art. 2 Nr. 1; nach der Gesetzesbegründung „wird der Tatsache Rechnung getragen, dass der bisherige Tatbestand für die Zurechnung der Stimmrechte Dritter in der Praxis zu zahlreichen Auslegungs- und Nachweisproblemen geführt hat. Insbesondere wird aber auch auf die restriktive Auslegung … durch den Bundesgerichtshof … reagiert“ (BT-Drucks 16/7438, 13); zur Kritik am Gesetzesentwurf vgl. Schockenhoff/Wagner, NZG 2008, 361 ff. 20 Gehling, Squeeze Out – Recht und Praxis, Deutsches Aktieninstitut, 2007, S. 76. 21 Vgl. ZIP 2007, 1629. 22 Gehling (Fn. 20), Fn. 116.

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Im Vorfeld derartiger drohender Anfechtungsklagen können die betreffenden Aktionäre, denen ein Verstoß gegen Meldevorschriften vorgeworfen wird, vor der Überlegung stehen, ob sie im Hinblick auf die in der Hauptversammlungsdebatte durch opponierende Aktionäre aufgeworfenen Zweifel oder nur gestellte Fragen, die erkennen lassen, dass diese „etwas im Schilde führen“, noch vor der Beschlussfassung in der Hauptversammlung eine Meldung machen sollte, sei es auch nur in der Form einer vorsorglichen Meldung23, um zu reparieren, was vielleicht reparaturbedürftig ist und, wie in stürmischer See, durch ein „Manöver des letzten Augenblicks“ so „zu manövrieren, wie es zur Vermeidung eines Zusammenstoßes am dienlichsten ist“24. Der „Zusammenstoß“ im Sinne von Regel 17 b KVR wäre der Verlust von Stimm- und Dividendenrecht. Sind die Aktionäre, deren Meldepflichten im Raum stehen, in der Hauptversammlung präsent oder durch Organpersonen vertreten, stellt sich die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt eine solche vorsorgliche erstmalige oder vorsorglich nachgeschobene Meldung abgegeben werden kann. Sind die Aktionäre nur durch rechtsgeschäftlich Bevollmächtigte vertreten, geht zusätzlich die Frage dahin, ob eine Vertretung zulässig ist und ob eine die ordnungsgemäße Abgabe der Meldung deckende Vollmacht vorliegt. Für den in der Hauptversammlung anwesenden Bevollmächtigten stellt sich darüber hinaus das Problem der Kommunikation mit dem Auftraggeber und die sachgerechte Information durch ihn. Kommt es wegen behaupteter Verletzungen der Meldepflicht zu Anfechtungsklagen, so sind deren Begründungen oft weit hergeholt und werden in der Klagebegründung nur pauschal vorgetragen. Sie enthalten aber im Hinblick auf die nicht immer zweifelsfreie Rechtslage Risikopotential, auf dessen Schaffung es die Anfechtungskläger anlegen. Tragen die Kläger ihre Behauptung der Verletzung einer Meldepflicht erst in der Klageschrift vor, hat die Gesellschaft den Klagevortrag auf Schlüssigkeit und ihre Einlassung hierauf zu prüfen. Dabei geht es um die Darlegungs- und Beweislast im Rechtsstreit und eine etwaige Verpflichtung der Gesellschaft, an der Aufklärung des streitigen Sachverhaltes mitzuwirken. Bleiben rechtliche Zweifel, wird die Gesellschaft – gegebenenfalls im Zusammenwirken mit den betreffenden Aktionären – prüfen, ob der behauptete Rechtsmangel durch eine vorsorglich nachgeholte Meldung beseitigt werden kann und die gefassten Beschlüsse durch einen Bestätigungsbeschluss gemäß § 244 AktG geheilt werden können. In dieser Hinsicht geht es um die Zulässigkeit von Bestätigungsbeschlüssen bei Rechtsmängeln der hier in Betracht kommenden Art, die durch eine Entscheidung des Landgerichts Köln25 in Frage gestellt worden ist.

__________ 23 Die Zulässigkeit einer bloß vorsorglichen Mitteilung ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, vgl. BGHZ 114, 203, 217; Windbichler in Großkomm.AktG, Bd. 1, 4. Aufl. 2004, § 20 AktG Rz. 43; Stucken in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, 7.01 Rz. 6. 24 Vgl. die internationalen Regeln von 1972 zur Verhütung von Zusammenstößen auf See i. d. F. v. 29.11.2001 (KVR), Regel 17 b. 25 LG Köln, Urt. v. 5.10.2007 – 82 O 114/06; s. dazu auch Fn. 58.

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Die vorstehenden Gedanken führen zur Gliederung der nachfolgenden Überlegungen, die chronologisch zunächst die Themen ansprechen, die sich in einer Hauptversammlung für die betreffenden Aktionäre und/oder ihre Berater sowie ihre Bevollmächtigten stellen können. Sodann soll auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Anfechtungsprozess eingegangen werden, um abschließend die Zulässigkeit von Bestätigungsbeschlüssen zu begründen. Da sich die in diesem Beitrag geprüften Fragen in gleicher Weise sowohl bei Meldungen nach § 20 Abs. 1 AktG als auch bei Meldungen nach § 21 Abs. 1 WpHG stellen, sollen sie aus Gründen der Vereinfachung nur für die nicht börsennotierte Gesellschaft, also nur für § 20 AktG, erörtert werden, soweit nicht besondere abweichende Regelungen des WpHG auch ein Eingehen auch auf dieses Gesetz geboten erscheinen lassen.

II. Die nachgeholte Meldung in der Hauptversammlung 1. Die grundsätzliche Zulässigkeit Bei der Prüfung, ob ein betroffener Aktionär oder sein Vertreter Meldungen nach § 20 Abs. 1 AktG noch in der Hauptversammlung gegenüber dem dort anwesenden Vorstand26 nachholen kann, ist zunächst auf die Frage einzugehen, ob § 20 Abs. 7 AktG einer solchen Nachmeldung entgegensteht. Handelt es sich nämlich nicht um eine nur vorsorgliche Mitteilung eines an sich nicht mitteilungspflichtigen Sachverhaltes oder eine vorsorgliche Ergänzung oder Änderung einer bereits ordnungsgemäß abgegebenen Mitteilung, stehen dem Aktionär die Rechte aus seinen Aktien nicht zu. § 20 Abs. 7 AktG schließt alle Rechte des Aktionärs aus, also bereits das Recht, sich ordnungsgemäß zur Hauptversammlung anzumelden und auch das Recht, an der Hauptversammlung teilzunehmen. Der Aktionär ist also in der Hauptversammlung anwesend, ohne teilnahmeberechtigt zu sein. Eine weitere Überlegung ist, ob einer nachgeholten Meldung nicht bereits entgegengehalten werden kann, dass sie i. S. v. § 20 Abs. 1 AktG nicht unverzüglich abgegeben worden ist. Auch stellt sich bei einer Meldung in der Hauptversammlung die Frage des Formerfordernisses einer Vollmacht. a) Die erste Frage geht dahin, ob ein in der Hauptversammlung anwesender, aber im Falle eines Verstoßes gegen die Meldepflichten nicht teilnahmeberechtigter Aktionär oder sein Bevollmächtigter in der Hauptversammlung eine Meldung gemäß § 20 AktG abgeben darf. Diese Frage ist zu bejahen. Die Möglichkeit der Nachholung durch eine in der Hauptversammlung abgegebene Mitteilung wird insbesondere nicht durch die in § 20 Abs. 7 AktG angeordnete Sanktion des Verlustes des Rechtes aus den Aktien, also auch des

__________ 26 Für die börsennotierte Gesellschaft stellt sich zusätzlich das technische Problem, wie zur Vermeidung des Rechtsverlustes gemäß § 28 WpHG die gemäß § 21 Abs. 1 WpHG gegenüber der BaFin bestehende Meldepflicht erfüllt werden kann.

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Teilnahmerechtes27, ausgeschlossen. Es handelt sich bei der Mitteilung gemäß § 20 AktG nicht um die Ausübung eines „Rechtes aus Aktien“, sondern um die Erfüllung einer aktienrechtlichen Pflicht, der man jederzeit nachkommen kann und muss, und zwar auch in einer Hauptversammlung, in der man eigentlich gar nicht anwesend sein dürfte. Jedes andere Ergebnis könnte auch durch praktische Handhabung konterkariert werden: Ein nicht in der Hauptversammlung anwesender Aktionär könnte seinem an der Hauptversammlung „unberechtigt“ teilnehmenden Vertreter eine Mitteilung übermitteln, die dieser in der Hauptversammlung an den Vorstand weiterleiten könnte. Ein in der Hauptversammlung anwesender Aktionär könnte diese kurzfristig verlassen, um „von außen“ seiner Mitteilungspflicht nachzukommen. Eine Meldung kann somit jederzeit nachgeholt und zur Wahrung des Stimmrechtes noch in der Hauptversammlung vor der Beschlussfassung abgegeben werden28. b) Eine etwaige Verfristung verspätet abgegebener Meldungen lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Dass eine Verspätung nur zu dem in den genannten Vorschriften erwähnten Rechtsverlust führt, ergibt sich bereits aus § 20 Abs. 7 AktG. Bereits der Wortlaut dieser Vorschrift, der nur auf die „Mitteilung“ abstellt, steht der Annahme eines weiteren Rechtsverlustes bei verspäteter Mitteilung entgegen. Das gilt aber insbesondere für den Zweck der Vorschriften, die ja gerade wegen ihrer scharfen Sanktion darauf gerichtet sind, dass Meldungen abgegeben werden, seien sie auch verspätet. Eine Verspätung kann aber nicht zu einer Verfristung bestehender Rechte führen. c) Noch nicht eindeutig geklärt ist, wie ein Aktionär oder sein Bevollmächtigter während der Hauptversammlung eine Meldung nachholen kann. Angesprochen ist hier das in § 20 Abs. 1 Satz 1 AktG angeordnete Schriftformerfordernis. Hierzu hat zuletzt das Oberlandesgericht Schleswig29 unter Hinweis auf die Literatur30 in grundsätzlicher Hinsicht festgestellt, dass die Schriftform eine eigenhändige Unterzeichnung durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens bedarf, weshalb eine in einer Mitteilung eingescannte Unterschriftshinzufügung dem Formerfordernis nicht gerecht wird. Praktische Bedeutung hat die Frage des Schriftformerfordernisses insbesondere dafür, ob der durch einen Bevollmächtigten vertretene Aktionär in der Hauptversammlung noch durch Telefax eine Meldung einbringen darf. Nach der noch herrschenden Auffassung genügt eine Übermittlung per Telefax grundsätzlich weder zur Wahrung der gesetzlichen Schriftform noch ist sie

__________ 27 Windbichler (Fn. 23), § 20 AktG Rz. 92; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, Bd. 6, 3. Aufl. 2004, § 20 AktG Rz. 63; Hüffer (Fn. 14), § 20 AktG Rz. 14. 28 So im Ergebnis auch: Emmerich in Emmerich/Habersack, Konzernrecht 5. Aufl. 2008, § 20 AktG Rz. 49; S. Schneider/U. H. Schneider, ZIP 2006, 493, 496. 29 AG 2008, 130, 131. 30 Hüffer, 7. Aufl. 2006, § 20 AktG Rz. 8 (bestätigt in 8. Aufl. 2008, § 20 AktG Rz. 8); Bayer in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 20 AktG Rz. 35 (bestätigt in 3. Aufl. 2008, § 20 AktG Rz. 35); Koppensteiner (Fn. 27), § 20 AktG Rz. 30.

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fristwahrend, wenn eine formgültige Erklärung nachfolgt31. Das Aktien- und Kapitalmarktrecht enthält leider keine generelle Klarstellung, dass die Form des Telefaxes der Schriftform des § 126 BGB entspricht32. So lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob die Regelung von § 18 WpAIV, die ausdrücklich eine Mitteilung per Telefax als ausreichend ansieht33, im Wege einer Analogie aus § 20 AktG übertragen werden kann oder ob sich im Umkehrschluss ergibt, dass für die Meldung nach § 20 AktG die Form des Telefaxes nicht ausreichend ist. Sinn gäbe Letzteres nicht. Die Literatur spricht sich deshalb weitgehend dafür aus, dass eine Mitteilung durch Telefax zulässig ist34. Dem ist zuzustimmen. Gerade für Eilsituationen der hier in Frage stehenden Art kommt dem Telefax eine besondere Bedeutung zu. 2. Die Meldung durch einen Bevollmächtigten Ist der Aktionär in der Hauptversammlung durch einen Bevollmächtigten vertreten und soll dieser für seinen Auftraggeber eine Meldung abgeben oder vorsorglich wiederholen, stellen sich insbesondere drei Fragen, nämlich die der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Abgabe der Meldung durch Bevollmächtigte, die der Form der Vollmacht und die des materiellen Inhalts der Bevollmächtigung. a) Die grundsätzliche Frage nach der Zulässigkeit einer Stellvertretung bei der Abgabe einer Mitteilung beurteilt sich danach, welche Rechtsnatur die Mitteilung hat. In Betracht kommen insoweit eine Einordnung als Rechtsgeschäft, als rechtsgeschäftsähnliche Handlung oder als Realakt (Wissenserklärung). In der Literatur findet sich dazu nur ohne Begründung die Auffassung, dass die Mitteilung eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung darstellt35.

__________ 31 BGHZ 121, 224; BGH, NJW 1997, 3169; Einsele in MünchKomm.BGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2006, § 126 BGB Rz. 20; H. Palm in Erman, 12. Aufl. 2008, § 126 BGB Rz. 11; Hefermehl in Soergel, Bd. 2, 13. Aufl. 1999, § 126 BGB Rz. 21; Heinrichs/Ellenberger in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 126 BGB Rz. 11; Hennecke, NJW 1998, 2194; a. A.: LG Köln, AfP 1995, 684; AG Schöneberg, WM 1985, 285. Zu beachten sind hier jedoch die zahlreichen Ausnahmen, die von der Rechtsprechung insbesondere zum Telefaxverkehr mit Gerichten zugelassen worden sind, z. B. für bestimmte Schriftsätze und die Einlegung von Rechtsmitteln (vgl. auch § 130 Nr. 6 ZPO). Eine Zusammenstellung der wesentlichen Urteile und Fallgruppen findet sich bei Eckert/Scalia, DStR 1996, 1608 ff. 32 Zur Bedeutung dieser Thematik beispielsweise für die schriftliche Stimmabgabe eines Aufsichtsratsmitglieds vgl. Hoffmann-Becking in Freundesgabe Happ, 2006, S. 81, 88 ff. 33 § 18 WpAIV bestimmt, dass Mitteilungen „schriftlich oder mittels Telefax in deutscher oder englischer Sprache zu übersenden sind“. 34 Emmerich (Fn. 28), § 20 AktG Rz. 30; Hüffer (Fn. 14), § 20 AktG Rz. 8; Bayer (Fn. 14), § 20 AktG Rz. 35; Windbichler (Fn. 23), § 20 AktG Rz. 41; Koppensteiner (Fn. 27), § 20 AktG Rz. 30; Stucken (Fn. 23), Muster 7.01 Rz. 5; Hägele, NZG 2000, 726, 727. 35 Windbichler (Fn. 23), § 20 AktG Rz. 9; Veil in Karsten Schmidt/Lutter, Bd. 1, 2008, § 20 AktG Rz. 8; Nolte in Bürgers/Körber, 2008, § 20 AktG Rz. 20.

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Ein Rechtsgeschäft ist jede Willenserklärung, die auf die Bewirkung einer Rechtsfolge gerichtet ist36. Demgegenüber ist eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung eine Erklärung, deren Rechtsfolge unabhängig vom Willen des Erklärenden kraft Gesetzes eintritt37. Die Rechtsfolge der Mitteilung besteht darin, dass die Sanktion des § 20 Abs. 7 AktG nicht eintritt oder in ihrer Wirkung endet. Sie tritt kraft Gesetzes mit Zugang der Mitteilung unabhängig vom Willen des Erklärenden ein. Demnach handelt es sich bei der Mitteilung nicht um ein Rechtsgeschäft. Sie ist auch kein Realakt, der sich von der rechtsgeschäftsähnlichen Handlung dadurch unterscheidet, dass er keine Erklärung, sondern eine bloße Willensbetätigung darstellt38 und im Gegensatz zur Erklärung keinen Adressaten hat. Die Mitteilung nach § 20 AktG ist eine Erklärung und hat einen Adressaten. Der oben genannten Schrifttumsmeinung ist somit zuzustimmen. Die Mitteilung ist eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung, bei der eine Vertretung zulässig ist. b) Wer aufgrund einer Vollmacht an einer Hauptversammlung teilnimmt, kann für den Auftraggeber nur diejenigen Rechte in der Hauptversammlung ausüben, für deren Wahrnehmung ihm die Vollmacht erteilt worden ist. Dazu gehören in aller Regel das Teilnahme-, das Frage- und das Stimmrecht. Darüber hinausgehende Rechte hat der Bevollmächtigte nur, wenn sie ihm ausdrücklich eingeräumt worden sind. Dauervollmachten zur Ausübung der Stimmrechte durch Kreditinstitute sind lediglich Stimmrechtsvollmachten, die nur mit der Stimmrechtsausübung verbundene Erklärungen enthalten darf (§ 135 Abs. 2 Satz 3 AktG). Online-Vollmachten für einen von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreter enthalten in aller Regel nur besondere Anweisungen für die Ausübung des Stimmrechtes. Rechtsgeschäftlich erteilte Vollmachten außerhalb formularmäßiger Vorlagen umfassen allerdings häufig die ausdrückliche Bevollmächtigung auch für andere Handlungen als die Ausübung des Frage- und Stimmrechtes39. Was für die Vollmacht gilt, ist auch für die Legitimationszession zu beachten. Der Umfang der Rechte des Legitimationszessionars ergibt sich nur aus der ihm ausdrücklich oder stillschweigend erteilten Ermächtigung, die er im Bestreitensfalle nachzuweisen hat40. Es erscheint fraglich, ob Vollmachten oder Legitimationszessionen der üblichen Art, die auf die Wahrnehmung der Aktionärsrechte in der Hauptversammlung gerichtet sind, auch das Recht umfassen, in der Hauptversammlung eine Mitteilung für den betroffenen Aktionär abzugeben. Die Mitteilung nach § 20 AktG ist im Wesentlichen nicht die Ausübung eines Rechtes, sondern einer Verpflichtung, die bereits dem Wortlaut nach nicht unter die Rechte

__________ 36 Heinrichs/Ellenberger (Fn. 31), Überbl. vor § 104 BGB Rz. 2; H. Palm (Fn. 31), Einl. § 104 BGB Rz. 6. 37 Heinrichs/Ellenberger (Fn. 31), Überbl. vor § 104 BGB Rz. 6; H. Palm (Fn. 31), Einl. § 104 BGB Rz. 6; Kramer in MünchKomm.BGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2006, Vor § 116 BGB Rz. 35. 38 Heinrichs/Ellenberger (Fn. 31), Überbl. vor § 104 BGB Rz. 9; H. Palm (Fn. 31), Einl. § 104 BGB Rz. 7. 39 Vgl. beispielsweise Ludwig in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, Muster 10.03. 40 Vgl. dazu Happ in FS Rowedder, 1994, S. 119, 125 f.

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fällt, die der Bevollmächtigte in der Hauptversammlung ausüben kann. Darüber hinaus handelt es sich nicht um Pflichten, die in der Hauptversammlung, sondern in aller Regel außerhalb der Hauptversammlung zu erfüllen sind, so dass auch dieser Gesichtspunkt zu dem Ergebnis führt, dass Vollmachtsurkunden mit dem üblichen Inhalt nicht auch die Befugnis zur Abgabe einer aktienrechtlichen Meldung umfassen. Der „Bevollmächtigte“, der dennoch für seinen Auftraggeber eine Meldung abgibt, handelt entweder aufgrund einer ihm telefonisch oder beispielsweise per E-Mail über seinen „Blackberry“ erteilten Vollmacht, dann stellt sich für ihn das Problem der Schriftform (dazu im Folgenden zu lit. c), oder er handelt als vollmachtloser Vertreter (dazu im Folgenden zu lit. e). c) Sieht sich der Bevollmächtigte in der Hauptversammlung in der konkreten Situation vor die Notwendigkeit gestellt, ein „Manöver des letzten Augenblicks“ (vgl. dazu oben in der Vorbemerkung) einzuleiten, wird er zu prüfen haben, ob er hierzu in der richtigen Form bevollmächtigt ist. Das Gesetz sieht für die Erteilung einer Vollmacht für eine gemäß § 20 AktG abzugebende Meldung keine bindende Form vor. § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG ist nicht einschlägig, da diese Vorschrift nur die Vollmacht für die Ausübung des Stimmrechtes, nicht aber auch andere Rechte bzw. Pflichten, regelt. Enthält deshalb die dem Bevollmächtigten für die Teilnahme an der Hauptversammlung gemäß § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG erteilte schriftliche Stimmrechtsvollmacht nicht auch die Berechtigung zur Erfüllung von Verpflichtungen aus § 20 AktG, was in der Regel der Fall sein dürfte (vgl. dazu vorstehend zu lit. b), so wird für ihn die Frage von Bedeutung, ob § 167 Abs. 2 BGB Anwendung findet. Nach dieser Vorschrift, die auf rechtsgeschäftsähnliche Handlungen anwendbar ist41, bedarf eine Erklärung nicht der Form, welche für das Rechtsgeschäft bestimmt ist, auf das sich die Vollmacht bezieht. Ist § 167 Abs. 2 BGB anwendbar, könnte sich der Bevollmächtigte fernmündlich per Handy oder per E-Mail über seinen „Blackberry“ bevollmächtigen lassen (§ 167 Abs. 1, 1. Alt. BGB) oder durch den Aktionär eine Vollmacht per Telefax der Gesellschaft senden lassen (§ 167 Abs. 1, 2. Alt. BGB). Selbst wenn man der hier vertretenen Auffassung nicht folgt, dass eine Meldung durch Telefax dem Schriftformerfordernis von § 20 AktG genügt, hätte eine solche Verfahrensweise doch im Hinblick auf § 174 Satz 2 BGB die Rechtsfolge, dass in der Hauptversammlung die Zurückweisung einer durch den Bevollmächtigten abgegebenen Meldung ausgeschlossen werden könnte, weil der Vollmachtgeber die Gesellschaft von der Bevollmächtigung in Kenntnis gesetzt hat. Von § 167 Abs. 2 BGB werden im Rahmen einer teleologischen Reduktion zahlreiche Ausnahmen zugelassen42. Das gilt insbesondere zugunsten der Warnfunktion für den Vollmachtgeber. Das wichtigste Beispiel hierfür ist das der unwiderruflichen Vollmacht zur Übertragung oder zum Erwerb von Grund-

__________ 41 S. nur Heinrichs in Palandt, 67. Aufl. 2008, Einf. vor § 164 BGB Rz. 3. 42 S. nur Schramm in MünchKomm.BGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2006, § 167 BGB Rz. 16 ff., danach sollen Ausnahmen erforderlich sein, wenn der Schutzzweck der Formvorschrift das erfordert.

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stücken. Anders ist es, wenn die gesetzliche Formvorschrift nur eine Beweisund Dokumentationsfunktion hat, wie z. B. bei der Übertragung von Geschäftsanteilen einer GmbH. Dann bedarf die Vollmacht nicht der Form des Rechtsgeschäftes. Ihre formlose Erteilung führt nicht zur Umgehung des Formverstoßes. So ist es hier: Die Beweis- und Dokumentationsfunktion erfordert keine teleologische Reduktion der Vorschrift des § 167 Abs. 2 BGB. Insbesondere der Aspekt, dass eine solche Einschränkung im Eilfall nicht zugunsten des Vollmachtgebers, sondern nur zu dessen Lasten gehen würde, spricht dafür, es bei der Formfreiheit der Bevollmächtigung zu belassen. d) Mit der grundsätzlichen Bejahung einer formfreien Bevollmächtigung sind jedoch noch nicht alle sich in der Praxis stellenden Probleme ausgeräumt. Es stellt sich nämlich die Frage, ob der Vorstand der Gesellschaft, dem ein Bevollmächtigter für seinen Auftraggeber in der Hauptversammlung eine in aller Eile handschriftlich gefertigte Mitteilung gemäß § 20 AktG überreicht, diese mit der Erklärung zurückweisen darf, der Bevollmächtigte habe eine Vollmachtsurkunde nicht vorgelegt (§ 174 Satz 1 BGB). § 174 BGB ist auch auf geschäftsähnliche Handlungen anwendbar43. Der Vorstand ist nicht gehalten, eine Zurückweisung auszusprechen. Oft wird dem Vorstand daran gelegen sein, etwa bestehende Risiken für die Rechtsbeständigkeit eines zu fassenden Beschlusses auszuschließen und deshalb dankbar vorsorgliche und nachgeholte Erklärungen entgegennehmen, um damit einen etwaigen Anfechtungsgrund auszuräumen. Dafür kann es angebracht sein, dass der Hauptversammlungsleiter kurz die Versammlung unterbricht44. Das ist aber nicht zwingend und insbesondere in Fällen eines getarnten Anschleichens eines Aktionärs an eine Gesellschaft, in der der Vorstand die Sorge einer im Raume stehenden feindlichen Übernahme hat, kann es im Interesse der Gesellschaft liegen, von der Möglichkeit der Zurückweisung Gebrauch zu machen, um eine drohende, für die Gesellschaft nachteilige Beschlussfassung zu verhindern oder durch Anfechtung zu vernichten. Auch kann dem Vorstand bei der Abgabe einer Meldung ohne Vorlage einer Vollmachtsurkunde daran gelegen sein, die Meldung zurückzuweisen, wenn zweifelhaft ist, ob die Bevollmächtigung vorliegt und dies auch nicht – etwa durch telefonische Rückfrage aus der Hauptversammlung heraus – geklärt werden kann. Folgt man mit der Literatur der hier vertretenen Auffassung, dass es sich bei der Mitteilung um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung handelt, die gegenüber einem anderen abzugeben ist und deren Rechtswirkung einseitig durch die Abgabe herbeigeführt wird, so muss folgerichtig die Meldung unter den Begriff des „einseitigen Rechtsgeschäftes“ im Sinne von § 174 Satz 1 BGB qualifiziert werden. Die Rechtslage ist ähnlich wie bei „echten“ einseitigen Rechtsgeschäften, etwa der Abgabe einer Kündigung. Der Erklärungsempfänger hat ein Interesse daran, Rechtsklarheit zu erhalten, die er nur durch einen ord-

__________ 43 Vgl. nur Heinrichs (Fn. 41), § 174 BGB Rz. 2. 44 Vgl. hierzu S. Schneider/U. H. Schneider, ZIP 2006, 493, 496, die dies als eine gängige Praxis bezeichnen, zu der allerdings keine Verpflichtung bestehe.

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nungsgemäßen Nachweis der Bevollmächtigung erhält45. Der Vorstand darf deshalb eine in der Hauptversammlung abgegebene Mitteilung, die durch einen Bevollmächtigten überreicht wird, der gegenüber der Gesellschaft nicht ordnungsgemäß legitimiert ist, mit der Folge zurückweisen, dass die Stimmen des betreffenden Aktionärs bei der Beschlussfassung nicht zu berücksichtigen und im Übrigen die Rechtsfolgen aus § 20 Abs. 7 AktG gegeben sind. e) Gibt ein Aktionärsvertreter in der Hauptversammlung für seinen Auftraggeber eine Meldung ab, ohne von ihm ordnungsgemäß bevollmächtigt worden zu sein (dazu im Vorstehenden zu lit. b), so handelt er als Vertreter ohne Vertretungsmacht. Bei einem einseitigen Rechtsgeschäft ist die Vertretung ohne Vertretungsmacht unzulässig (§ 180 Satz 1 BGB). Nach § 180 Satz 2 BGB finden jedoch die Vorschriften über Verträge dann entsprechende Anwendung, wenn derjenige, demgegenüber ein solches Rechtsgeschäft vorzunehmen war, die von dem Vertreter behauptete Vertretungsmacht bei der Vornahme des Rechtsgeschäftes nicht beanstandet hat oder er damit einverstanden gewesen ist, dass der Vertreter ohne Vertretungsmacht handelte. Da es sich bei einer Meldung nach § 20 AktG nicht um eine rechtsgestaltende Erklärung, wie z. B. eine Kündigung handelt (vgl. dazu oben zu lit. a), für welche die Anwendbarkeit von § 180 Satz 2 BGB und damit die Genehmigungsmöglichkeit ausgeschlossen wäre, müsste es dem Wortlaut der Vorschrift nach möglich sein, dass der Vertretene das Handeln des vollmachtlosen Vertreters genehmigt mit der Folge der rückwirkenden Wirksamkeit (§§ 177, 184 BGB). Zu Recht hat die Rechtsprechung aber diese sich aus der Gesetzesautomatik ergebende Rechtsfolge dahingehend eingeschränkt, dass bei fristgebundenen Rechtsgeschäften im Hinblick auf das Bedürfnis der Rechtsklarheit die Genehmigung innerhalb der Frist erfolgen muss46. Es fragt sich, ob diese durch die Rechtsprechung vorgenommene Einschränkung auch auf den Fall der vollmachtlos abgegebenen Meldung Anwendung findet. Dies ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Die Meldung ist zwar insoweit im gewissen Sinne „fristgebunden“, als sie „unverzüglich“ abzugeben ist. „Unverzüglichkeit“ bezieht sich aber nur auf einen Fristbeginn und nicht auf ein Fristende. Dennoch spricht vieles dafür, die Erwägungen der Rechtsprechung auf den Fall der vollmachtlos abgegebenen Meldung anzuwenden und eine nachträgliche Genehmigung für unzulässig anzusehen. Wie bei einer Erklärung, für deren Abgabe eine Frist besteht, muss auch bei einer Meldung durch einen vollmachtlosen Vertreter das Interesse des Vertretenen, eine außerhalb der Vertretungsmacht in seinem Namen abgegebene einseitige Willenserklärung nach §§ 177, 180 BGB noch genehmigen zu können, hinter dem Interesse an der objektiven Klarheit über die bestehenden Rechtsverhältnisse zurücktreten.

__________ 45 So zumindest für die Pflicht nach dem WpHG: Hirte in KölnKomm.WpHG, 2007, § 21 WpHG Rz. 137. 46 BGHZ 32, 375, 383; BGH, NJW 1973, 1789 ff.; BVerwG, NJW 1999, 3357; H. Palm (Fn. 31), § 184 BGB Rz. 8; Heinrichs (Fn. 41), § 184 BGB Rz. 2; Schramm (Fn. 42), § 177 BGB Rz. 45, § 184 BGB Rz. 6, 13.

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III. Prozessuale Fragen 1. Darlegungs- und Beweislast Haben Anfechtungskläger die Rechtmäßigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen mit der Behauptung angefochten, dass Aktionäre ihren Mitteilungspflichten nicht ordnungsgemäß nachgekommen seien, so stellt sich im Rechtsstreit die Frage nach der Darlegungs- und Beweislast. Darlegungsprobleme und Beweisschwierigkeiten können sich dabei insbesondere für die Darlegungen und den Beweis stellen, dass es sich bei dem Aktionär, der nach der Behauptung der Kläger pflichtwidrig eine Meldung unterlassen hat, um ein „Unternehmen“ i. S. v. § 20 Abs. 1 AktG47 handelt oder dass Aktionären gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 16 Abs. 4 AktG Aktien anderer Aktionäre mit der Folge des Überschreitens meldepflichtiger Schwellen gehören. Als Unterfall derartiger Sachverhalte gilt das sogenannte „acting in concert“ i. S. v. § 30 Abs. 2 WpÜG und § 22 Abs. 2 WpHG48, welches aktuell erneut gesetzgeberisch erweitert werden soll49. Die Ursächlichkeit von Meldeverstößen auf das Beschlussergebnis bereitet in der Regel im Rahmen der Darlegungs- und Beweislast keine Probleme; sie ist meist eine mathematische Folge nachgewiesener Stimmrechtsbeschränkungen. Das Aktienrecht enthält keine besondere Vorschrift über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Für die aktienrechtliche Anfechtungsklage gilt demgemäß entsprechend der sogenannten „Normentheorie“ der allgemeine Grundsatz, dass jede Partei die Voraussetzungen der für sie günstigen Normen vorzutragen und zu beweisen hat50. Für den Anfechtungskläger kommt erschwerend hinzu, dass er nach der Rechtsprechung innerhalb der Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG die Anfechtungsgründe substantiiert vortragen muss. Nach der Normentheorie genügt es also nicht, wenn der Anfechtungskläger „ins Blaue hinein“ nur die Behauptung aufstellt, ein Aktionär sei seiner Meldepflicht nicht nachgekommen, weil er beispielsweise nur gemeldet habe, dass ihm mehr als der vierte Teil der Aktien, nicht aber auch über eine Zurechnung von Aktien anderer Aktionäre eine Mehrheitsbeteiligung, gehöre. Die Gesell-

__________ 47 Zur Qualifizierung des Unternehmensbegriffes s. Fn. 14. 48 Die Darlegungen aus dem überzeugend begründeten Urteil des LG Hamburg, ZIP 2007, 427 ff., sind für die hier besprochenen Fragen der Darlegungs- und Beweislast nicht einschlägig. Es handelt sich nicht um eine Anfechtungsklage, sondern um Klagen von Aktionären gegen eine andere Aktionärin wegen behaupteter Nichtabgabe eines Pflichtangebotes. Das LG hat unter Hinweis auf die Literatur keinen Anlass gesehen, von den allgemeinen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast abzuweichen, sondern hat in seinem Urteil nach diesen Grundsätzen entschieden (LG Hamburg, ZIP 2007, 427, 431; Pentz, ZIP 2003, 1478, 1481; Seibt, ZIP 2004, 1829, 1834). 49 S. oben unter I. 50 OLG München, AG 2003, 452, 453; Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 98 f.; Hüffer in FS Fleck, 1988, S. 152 f.; Bacher, GmbHR 2002, 712 ff.; Hüffer in MünchKomm.AktG, Bd. 5/1, 2. Aufl. 2003, § 243 AktG Rz. 134; Hüffer (Fn. 14), § 243 AktG Rz. 59.

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schaft darf einen solchen Vortrag als unschlüssig zurückweisen und – wenn sie keine entgegenstehende Kenntnis hat – bestreiten. Schwierig wird es, wenn der Kläger seine Rechtsbehauptung stützende Hilfstatsachen vorträgt, er etwa aus der Presse Organe der Gesellschaft zitiert oder auf veröffentlichte tabellarische Darstellungen von Beteiligungsverhältnissen verweist, aus denen sich Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen die Meldepflicht herleiten lassen. Es fragt sich, ob in einem solchen Fall für den Anfechtungskläger der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der erweiterten Darlegungslast gilt. Nach diesem allgemeinen prozessualen Grundsatz, auch „Grundsatz der sekundären Behauptungslast“ genannt51, genügt das einfache Bestreiten einer an sich nicht darlegungspflichtigen Partei, hier also der Gesellschaft, dann nicht, wenn diese alle wesentlichen Tatsachen kennt, die darlegungspflichtige Partei aber außerhalb des für den Anspruch erheblichen Geschehensablaufes steht52. Der Bundesgerichtshof wendet diesen allgemeinen prozessualen Grundsatz auch für die aktienrechtliche Anfechtungsklage an. Er weist darauf hin, dass die Anforderungen an die Substantiierung des klägerischen Vorbringens dann gesenkt werden können, wenn die Entfernung des Klägers zu den Beweismitteln im Ergebnis zu einer Rechtsschutzverweigerung führen würde. Angesichts der Schwierigkeit, die sich einem Aktionär im Einzelfall stellt, den erforderlichen Beweis führen zu können, „sowie der Tatsache, dass die Gesellschaft über alle zur Klärung erforderlichen Unterlagen und Informationen verfügt“, sei es deren Sache, die für die angefochtene Entscheidung maßgebenden Gründe im Einzelnen darzulegen, die der Anfechtungskläger dann gegebenenfalls zu widerlegen habe53. Weiß also die beklagte Gesellschaft, dass Meldungen nach § 20 AktG unterlassen wurden oder fehlerhaft waren, so hat sie den noch unsubstantiierten Vortrag des Klägers zu ergänzen, ihn also schlüssig zu machen, was im praktischen Ergebnis auf ein Anerkenntnis hinausläuft. Ein solcher Fall dürfte die Ausnahme sein, da es in der Regel bei derartigen Sachverhalten gar nicht zu einer Beschlussfassung unter Hinzurechnung der vom Stimmrecht ausgeschlossenen Aktien kommen wird. Der Hauptversammlungsleiter darf einen Aktionär nicht erst zur Abstimmung zulassen, wenn er oder die Gesellschaft Kenntnis hat, dass ein Stimmverbot besteht54. Anders sieht es aus, wenn die Gesellschaft bei der Beschlussfassung und auch bis zur Klageerhebung keine konkrete Kenntnis von einem Verstoß gegen § 20 AktG hatte und auch kein entsprechender Verdacht gegeben war, sondern sie sich erst durch die Anfechtungsklage mit der Behauptung eines Verstoßes ge-

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51 Vgl. z. B. Greger in Zöller, ZPO, 25. Aufl. 2005, vor § 284 ZPO Rz. 34; Reichold in Thomas/Putzo, 28. Aufl. 2007, vor § 284 ZPO Rz. 18; Saenger in HK.ZPO, 2006, § 286 ZPO Rz. 93; Roth in MünchKomm.BGB, Bd. 4, 4. Aufl. 2005, § 652 BGB Rz. 147; Kiethe, MDR 2003, 781 ff. 52 BGH, NJW 1961, 826, 828; BGHZ 86, 23, 29 f. 53 BGHZ 71, 40, 48 „Kali + Salz“; BGHZ 103, 184, 196 f. „Linotype“; zustimmend: Lutter, ZHR 153 (1989), 446, 470. 54 Quack in FS Semler, 1993, S. 581, 588; bezüglich einer Pflicht des Vorstandes, eine Teilnahme an der Abstimmung zu verhindern: Bayer (Fn. 14), § 20 AktG Rz. 58.

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gen die Meldepflichten konfrontiert sieht. Der Grundsatz der sekundären Behauptungslast kann hier zunächst keine Anwendung finden, denn es ist ja nicht die Gesellschaft, die über die für die Klärung der Streitfrage erforderlichen Informationen verfügt, sondern es sind die Aktionäre, die gegebenenfalls fahrlässig oder vorsätzlich gegen das Gesetz verstoßen haben. Deren Kenntnis darf der Gesellschaft nicht zugerechnet werden. Je nach Sachverhaltslage darf der Vorstand aber bei Zweifelsfällen nicht untätig bleiben. Nicht nur im Anfechtungsprozess, sondern auch generell gilt der in der Literatur ohne nähere Begründung, aber doch zutreffend hervorgehobene Grundsatz, dass der Vorstand verpflichtet ist, bei bestehenden Zweifeln diese aufzuklären. Je konkreter die Zweifel sind, um so stärker ist diese Verpflichtung (§ 93 AktG)55. Bei dem Bemühen des Vorstandes um Sachverhaltsaufklärung hilft weniger § 22 AktG. Diese Vorschrift berechtigt das Unternehmen nur, mitgeteilte Beteiligungen auf ihr Bestehen hin zu überprüfen, nicht aber verpflichtet die Norm den Vorstand hierzu. Es geht bei § 22 AktG auch nicht darum, zu recherchieren, ob nicht mitgeteilte Beteiligungen bestehen, sondern darum, ob eine mitgeteilte Beteiligung tatsächlich besteht. Dem Vorstand steht aber das Druckpotential aus § 20 Abs. 7 AktG zur Verfügung, das allerdings in der Regel auch ohne Aktivitäten des Vorstandes wirken sollte. Verweigert der vom Vorstand um Auskunft gebetene Aktionär die Mithilfe bei der Aufklärung des Sachverhaltes, wird man den Grundsatz der sekundären Behauptungslast jedenfalls dahingehend anwenden dürfen, dass die Gesellschaft im Prozess das Ergebnis ihrer Recherchen darlegen muss. Keinesfalls wäre es zulässig, den Grundsatz dahingehend zu erweitern, dass die Behauptungen der Anfechtungskläger als zugestanden gelten, weil die Aktionäre trotz der ihnen zur Verfügung stehenden Kenntnis des Sachverhaltes nicht zu seiner Aufklärung beigetragen haben. Es zeigt sich auch hier die Besonderheit der Parteienkonstellation bei Anfechtungsklagen der in Betracht kommenden Art. Auch wenn der materiell Betroffene ein anderer Aktionär ist, bleibt doch die Gesellschaft allein in der Rolle der Beklagten. Ein Verstoß gegen eine Förderungspflicht eines Aktionärs kann ihr nicht entgegengehalten werden. 2. Bestätigungsbeschluss Ist wegen eines behaupteten oder tatsächlichen Verstoßes gegen die Meldepflicht, der für das Zustandekommen des Beschlusses ursächlich war, eine Anfechtungsklage erhoben worden, steht die Gesellschaft vor der Frage, ob sie den Rechtsstreit durch die Instanzen hindurchführen oder ob sie von der Möglichkeit des § 244 AktG Gebrauch machen will, den angefochtenen Beschluss durch Bestätigung zu heilen. Diese Überlegung liegt insbesondere dann nahe, wenn die Aktionäre der durch den Anfechtungskläger behaupteten Meldepflicht nachgekommen sind, sei es, dass es sich hierbei um eine erstmalige, sei es, dass es sich nach der Beschlussfassung um die Wiederholung einer gegebe-

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55 So z. B. Sester in Spindler/Stilz, 2007, § 20 AktG Rz. 35; Heinsius in FS Robert Fischer, 1979, S. 215, 235; Quack in FS Semler, 1993, S. 581, 585.

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nenfalls korrigierten oder ergänzten Meldung handelt. Derartige Meldungen können unter Aufrechterhaltung des bisherigen Rechtsstandpunktes als vorsorgliche Meldungen erfolgen. Solche vorsorglichen Meldungen hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich als zulässig erachtet56. Von der Möglichkeit der Heilung wird die Gesellschaft insbesondere dann Gebrauch machen, wenn sie hinreichenden Grund zu der Annahme hat, dass ein neuer Beschluss in der Form des Bestätigungsbeschlusses in der Hauptversammlung die entsprechende Mehrheit finden wird. Die Zulässigkeit eines Bestätigungsbeschlusses, durch den ein etwa beim Erstbeschluss begangener formaler Fehler geheilt werden soll, ist in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend anerkannt57. Das Landgericht Köln hat jedoch in einem jüngeren Urteil die Zulässigkeit eines Bestätigungsbeschlusses bei der Verletzung von Meldevorschriften verneint58. Die tragenden Gründe des landgerichtlichen Urteils, dem ein dem WpHG unterfallender Sachverhalt zugrunde lag, seien hier wiedergegeben. Sie lauten: „Darüber hinaus scheitert der Bestätigungsbeschluss daran, dass die hier festgestellten Verstöße gegen § 28 WpHG nicht geheilt werden können. Selbst wenn die Mitteilungspflichten nachgeholt werden, ist jedenfalls für den Zeitraum, in dem Mitteilungen gemäß § 21 WpHG unterblieben sind, ein endgültiger Rechtsverlust gemäß § 28 WpHG eingetreten. Der Rechtsverlust nach § 28 WpHG ist abschließend. Es liegt kein Verstoß gegen formale Vorschriften vor, deren Heilung Regelungszweck des § 244 AktG ist (Hüffer, AktG, 7. Aufl., § 244 Rn. 2). Eine rückwirkende Heilung ist folglich ausgeschlossen, weil der Mangel fortbesteht (vgl. LG Mannheim, Urt. vom 7.4.2005 – 23 O 102/04, AG 2005, 780 ff.). Die Verletzung der §§ 21 ff. WpHG mit der scharfen Sanktionsfolge des § 28 WpHG ist nicht zu vergleichen mit anderen Fällen, in denen Stimmrechte, etwa nach § 142 Abs. 1 Satz 2 AktG, nicht ausgeübt werden dürfen (vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2005 – II ZR 253/03, AG 2006, 158 ff. zu einem Abstimmungsverbot bei einem Antrag gemäß § 142 AktG). Die Sanktion gemäß § 28 WpHG hat materiellen Charakter und wirkt auf die Rechte des Aktionärs inhaltlich ein. Eine Nachholung der Mitteilung kann nur begrenzt heilen, wie sich auch aus § 28 Satz 2 WpHG ergibt.“

Dem Urteil kann nicht zugestimmt werden. Zunächst ist dem Landgericht Köln in seiner Argumentation entgegenzutreten, dass die Bestätigung des angefochtenen Beschlusses bereits an der Unheilbarkeit von Verstößen gegen § 28 WpHG scheitere, da der Rechtsverlust abschließend sei. Der Rechtsverlust tritt nur für die Zeit ein, für welche die Mitteilungspflichten nicht erfüllt sind. Danach können die Rechte wieder ausgeübt werden59. Das eigentliche Argument des Landgerichts geht dahin, dass Bestätigungsbeschlüsse nur bei Verstößen gegen formale Vorschriften in Betracht kommen. Nur deren Heilung sei der Regelungszweck des § 244 AktG. Im entschiedenen

__________ 56 S. bereits oben II.1. 57 Zur Zulässigkeit und den Voraussetzungen vgl. nur Karsten Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1996, § 244 AktG Rz. 5 ff. 58 LG Köln (Fn. 25); die Veröffentlichung in AG 2008, 336 ff., ist leider unvollständig und gibt die hier zitierte Passage nicht wieder. 59 A. A. wohl Schwark, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2004, § 28 WpHG Rz. 11 f.

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Fall liege aber insoweit kein Verstoß gegen formelle Vorschriften vor, sondern es handele sich um einen materiellen Fehler. Hierzu verweist das Landgericht unter anderem auf eine Entscheidung des Landgerichts Mannheim60 sowie auch auf die Kommentierung von Hüffer61. Beide Hinweise tragen die Entscheidung nicht. Hüffer führt an der vom Landgericht Köln zitierten Stelle aus, dass eine Bestätigung nur bei Verfahrensfehlern in Betracht komme, denn bei inhaltlichen Mängeln wäre der Bestätigungsbeschluss ebenso anfechtbar wie der erste. Ähnlich formuliert Hüffer im Münchener Kommentar62. Die Aussage Hüffers ist richtig, denn wenn der inhaltliche Mangel fortbesteht, kann natürlich der Bestätigungsbeschluss, wenn er angefochten wird, keine Heilung bewirken. Wenn aber bei einem Beschluss Stimmen mitgezählt wurden, die wegen Verstoßes gegen Meldepflichten nicht berücksichtigt werden durften und der Versammlungsleiter einen Beschluss verkündet, der auf der Berücksichtigung dieser Stimmen beruht, liegt ein Verfahrensfehler und kein materieller Mangel vor63. Auch die Bezugnahme auf die Entscheidung des Landgerichts Mannheim geht fehl: In diesem Urteil ging es um einen Squeeze-out-Sachverhalt. Das Landgericht Mannheim hatte festgestellt, dass wegen der Unterlassung der Meldepflichten der Hauptaktionärin dieser das materielle Recht zur Einbringung eines Ausschlussverlangens nicht zugestanden hätte und deshalb die Hauptaktionärin ein ordentliches Squeeze-out-Verlangen nicht habe in Gang setzen können. Diesen Ausführungen des Landgerichts Mannheim ist zuzustimmen. Denn es handelte sich bei dem von ihm festgestellten Mangel nicht um einen formalen, sondern um einen materiellen Fehler, der im Squeeze-out-Verfahren begangen wurde. Ein derartiger materieller Fehler konnte nicht durch einen Bestätigungsbeschluss geheilt werden. Nicht auseinandergesetzt hat sich das Landgericht Köln mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs, obwohl es diese zitiert hat. Der Bundesgerichtshof64 hat im zweiten Leitsatz seiner Entscheidung formuliert: „Ein derartiger heilbarer Verfahrensfehler liegt u. a. vor, wenn das Abstimmungsergebnis hinsichtlich des Erstbeschlusses – in Folge von Zählfehlern, Mitzählung von unter Verletzung eines Stimmverbotes abgegebenen Stimmen oder ähnlichen Irrtümern – fehlerhaft festgestellt worden ist.“

Diesen Leitsatz hat der Bundesgerichtshof ausführlich begründet65. Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, was das Landgericht Köln verkennt, dass mit der nachgeholten Meldung der ursprüngliche Verfahrensfehler nicht beseitigt, also ex tunc eine Lage hergestellt wird, als ob die Meldung ordnungsgemäß abgegeben worden wäre. Insoweit bleibt es in der Tat bei dem materiellen Rechtszustand, der nicht rückwirkend geheilt werden kann. Das Gesetz gibt

__________ 60 61 62 63 64 65

LG Mannheim, AG 2005, 780 ff. Hüffer, 7. Aufl. 2006, § 244 AktG Rz. 2 (bestätigt in 8. Aufl. 2008, § 244 AktG Rz. 2a). Hüffer (Fn. 14), § 244 AktG Rz. 5. So auch Segna, AG 2008, 311, 318. BGHZ 157, 206. Vgl. BGHZ 157, 206, 209.

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aber die Möglichkeit, ungeachtet dieses mit Rückwirkung nicht heilbaren Fehlers den Beschluss zu fassen, durch den die Aktionäre erklären, sie wollen dennoch den materiellen Inhalt des Beschlusses gelten lassen. Eine Wirksamkeitsvoraussetzung für diesen Beschluss schaffen die Aktionäre, indem sie ihre unterlassenen Meldungen nachholen, so dass dieser Beschluss auf einer ordnungsgemäßen formalen Grundlage zustande kommt. Schließlich hat das Landgericht Köln auch eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart übersehen, jedenfalls nicht berücksichtigt, die schon vor seinem Urteil ergangen war. Noch ausführlicher als der Bundesgerichtshof dies in seinem späteren Urteil getan hat, hat das Oberlandesgericht Stuttgart für den Fall der Verletzung einer Meldepflicht die Zulässigkeit einer Bestätigung klargestellt, die Gründe seien wegen ihrer Eindeutigkeit hier wiedergegeben: „Die Bestätigung ist auch nicht ausgeschlossen, weil dadurch die Sanktion des § 28 WpHG für die Nichterfüllung von Meldepflichten unterlaufen werden könnte, wie die Klägerin meint. Wenn die Meldepflichten erfüllt sind, besteht kein Anlass mehr für eine Sanktion. § 28 WpHG bezweckt die Durchsetzung der Meldepflichten. Sie ist mit der Erfüllung der Meldepflichten gelungen und der Zweck der Vorschrift damit erreicht. § 28 WpHG besagt deshalb auch eindeutig, dass Rechte aus Aktien nur für die Zeit nicht bestehen, für die die Meldepflichten nicht erfüllt werden. Wenn die Meldepflichten zum Zeitpunkt des Bestätigungsbeschlusses noch nicht erfüllt sind, ist auch der Bestätigungsbeschluss anfechtbar. Die Möglichkeit eines Bestätigungsbeschlusses bietet daher allenfalls einen zusätzlichen Anreiz, den Meldepflichten nachzukommen und erlaubt nicht, sich einer Überprüfung im Hinblick auf die Verstöße gegen das WpHG zu entziehen. Die Sanktionen des § 28 WpHG beschränken sich auch nicht auf das Stimmrecht66.“

IV. Ergebnisse 1. Zum Druckpotential professioneller Kläger gehören Anfechtungsklagen, die auf behaupteten Meldeverstößen gegen Vorschriften des AktG oder des WpHG beruhen. Zur Wahrung der Rechte betroffener Aktionäre aus ihren Aktien und der Absicherung der Rechtsbeständigkeit zu fassender Beschlüsse kann es im Einzelfall geboten sein, noch in der Hauptversammlung eine Meldung, gegebenenfalls auch nur als vorsorgliche Meldung, nachzuholen. 2. Meldungen in der Hauptversammlung steht nicht die Vorschrift von § 20 Abs. 7 AktG entgegen. 3. Meldungen in der Hauptversammlung können auch durch Bevollmächtigte abgegeben werden. Eine entsprechende Bevollmächtigung bedarf nicht der Schriftform des § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG. Der Vorstand darf aber eine Meldung durch einen Bevollmächtigten, der nicht auch eine das Recht zur Meldung umfassende Vollmachtsurkunde vorlegen kann, gemäß § 174 Abs. 1 BGB zurückweisen.

__________ 66 OLG Stuttgart, ZIP 2004, 1456, 1458.

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4. Eine Genehmigung der Meldung durch einen Bevollmächtigten ohne Vertretungsmacht ist unzulässig. 5. In einem Anfechtungsprozess hat der Anfechtungskläger nach allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen innerhalb der Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG alle die Anfechtungsklage stützenden tatbestandlichen Voraussetzungen vorzutragen. Nach den Grundsätzen der sekundären Beweislast kann es im Einzelfall der Gesellschaft obliegen, die für die angefochtene Entscheidung maßgebenden Gründe im Einzelnen darzulegen. 6. Beruht ein Beschluss auf der Abgabe von Stimmen aus nach § 20 Abs. 7 AktG nicht stimmberechtigten Aktien, liegt ein Verfahrensfehler vor, der im Wege eines Bestätigungsbeschlusses gemäß § 244 AktG geheilt werden kann.

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Die Umwandlung der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main in eine Stiftung Inhaltsübersicht I. Die Veränderungen in der hochschulrechtlichen Landschaft allgemein II. Die Ziele der Umwandlung der Goethe-Universität III. Die Umwandlung IV. Die Stiftung des öffentlichen Rechts als neue Rechtsform der GoetheUniversität V. Die monistische Rechtsform der Goethe-Universität

VIII. Wegfall der Stellung als staatliche Einrichtung IX. Die Organe der Goethe-Universität X. Stiftungsvermögen/Grundstockvermögen XI. Die Änderungen der hochschulrechtlichen Rahmenbedingungen XII. Finanzierung XIII. Neuordnung des Universitätsklinikums

VI. Neuordnung der Verhältnisse des in der Universität tätigen Personals

XIV. Größere Attraktivität für privates Engagement

VII. Neuordnung der Rechtsverhältnisse des von der Goethe-Universität genutzten Landesvermögens

XV. Schlussbetrachtung

Die Früchte seiner wissenschaftlichen Arbeit im Vorfeld der Gründung der Bucerius Law School hat Karsten Schmidt vor wenigen Jahren in dem Aufsatz „Hochschulträgerschaft und Hochschulkörperschaft bei atypischen Hochschulverfassungen nach öffentlichem und privatem Recht“ vorgelegt1. In der ihm eigenen stilistischen Eleganz hat er seine Ausführungen als „Betrachtungen eines Privatrechtlers“ bezeichnet, dem er mit Blick auf das Hochschulrecht nur „Amateurstatus“ zubilligte, ja er hat sie nicht einmal als „praktische Handreichungen für Hochschulgesetzgebung und Hochschulverwaltung“ angesehen2. Umso mehr freut es ihn vielleicht zu erfahren, dass sein Aufsatz bei der zum 1. Januar 2008 erfolgten Umwandlung der Johann-Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main („Goethe-Universität“) von einer Körperschaft in eine Stiftung des öffentlichen Rechts von großer Bedeutung war, gibt dieser Aufsatz doch eine glänzende systematische Beschreibung des Instrumentenkastens, der der Universität und dem Landesgesetzgeber zur Verfügung stand.

__________ 1 Karsten Schmidt in FS Heldrich, 2005, S. 1295 ff. 2 Karsten Schmidt in FS Heldrich, 2005, S. 1295.

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Diese Umwandlung soll in dem nachfolgenden Praxisbericht kurz dargestellt werden3.

I. Die Veränderungen in der hochschulrechtlichen Landschaft allgemein Die deutsche Hochschullandschaft ist seit einigen Jahren durch vielfältige organisationsrechtliche Veränderungen gekennzeichnet. Es sind zahlreiche neue Hochschulen in privatrechtlicher Rechtsform gegründet worden, durchweg in der Form der gemeinnützigen GmbH. Als Beispiele sind zu nennen die Hochschule Witten-Herdecke GmbH und die International University Bremen GmbH, treuhänderisch gehalten von zwölf bzw. fünf Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft, sowie die Bucerius Law School Hochschule für Rechtswissenschaft gGmbH in Trägerschaft der ZEIT-Stiftung in Hamburg. Auch bei bestehenden Hochschulen ist es zu Änderungen gekommen. In Niedersachsen haben auf der Grundlage einer Änderung des Hochschulrechts von 2002 die Universitäten in Göttingen und Lüneburg ihre Organisationsstruktur in Richtung eines Stiftungsmodells geändert. In Hessen sind Mitte 2005 die Universitätskliniken Gießen und Marburg durch Gesetz in einer neuen Anstalt des öffentlichen Rechts zusammengefasst worden und Ende 2005 durch Verordnung in eine GmbH umgewandelt worden, die anschließend an private Investoren veräußert wurde. Die Rechtsform der Hochschule ist wichtig, aber wichtiger sind die vom Hochschulrecht gesetzten operativen Rahmenbedingungen, unter denen eine Hochschule arbeitet. Auch hier haben viele Bundesländer Änderungen eingeführt, die ihren Hochschulen bei unveränderter Rechtsform mehr Autonomie geben. In Nordrhein-Westfalen etwa hat das Hochschulfreiheitsgesetz von 2006 allen Hochschulen erheblich mehr Freiheiten eingeräumt. In Hessen ist bereits 2004 die Technische Universität Darmstadt („TUD“) durch Landesgesetz als Modellversuch von zahlreichen Vorgaben des hessischen Hochschulrechts freigestellt worden und hat Freiräume zur eigenen Gestaltung erhalten.

II. Die Ziele der Umwandlung der Goethe-Universität Die vorstehend knapp skizzierten hochschulrechtlichen Entwicklungen sind der Hintergrund für die Umwandlung der Goethe-Universität in eine Stiftung und die in diesem Zusammenhang erfolgten Änderungen der hochschulrechtlichen Rahmenbedingungen für diese Universität. Die Initiative für dieses Vorhaben ging von der Universität selbst aus. Ihre wesentlichen Ziele waren:

__________ 3 Verf. hat mit Unterstützung durch Partner und Mitarbeiter seiner Sozietät Hengeler Mueller die Goethe-Universität bei der Umwandlung pro bono beraten.

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Umwandlung der Goethe-Universität Frankfurt in eine Stiftung

a) Mehr Autonomie und mehr Eigenverantwortung für die Universität durch größere Staatsferne und dadurch – im Sinne der Exzellenzinitiative – höhere Leistungsfähigkeit, Effizienz und Wirtschaftlichkeit, insbesondere – in Forschung und Lehre, – in allen operativen Aktivitäten, – in der Gestaltung der Dienst- und Arbeitsverhältnisse, – bei Bauvorhaben und bei der Verwaltung der Liegenschaften, – in strukturellen Fragen, b) bessere Verankerung im gesellschaftlichen Umfeld und c) größere Attraktivität für privates Engagement zur Unterstützung der Universität. Frühzeitige Kontakte mit der Landesregierung ergaben eine wesentliche Weichenstellung, was die Gesetzestechnik angeht. Das TUD-Gesetz von 2004 ist ein separates Gesetz, dass neben dem Hessischen Hochschulgesetz besteht, und enthält eine in sich geschlossene Gesamtregelung für die TUD4. Die Rechtsverhältnisse der Goethe-Universität Frankfurt am Main hingegen sollten nicht durch ein solches Sondergesetz geregelt werden, sondern durch Einfügung eines neuen Abschnitts „Stiftungsuniversität Frankfurt am Main“ in das Hessische Hochschulgesetz. Damit war vorgegeben, dass die Frankfurter Goethe-Universität weiterhin den Bestimmungen des Hessischen Hochschulgesetzes unterliegen würde, soweit der besondere Abschnitt über die Stiftungsuniversität keine abweichenden Bestimmungen treffen würde.

III. Die Umwandlung Wie alle übrigen Hochschulen des Landes Hessen war die Goethe-Universität Frankfurt am Main rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts und zugleich staatliche Einrichtung5. Das in der Universität tätige Personal (Beamte und Angestellte) war Landespersonal, Dienstherr bzw. Arbeitgeber war das Land Hessen6. Der von der Universität genutzte Grundbesitz mit aufstehenden Gebäuden stand im Eigentum des Landes7 und war der Universität zur unentgeltlichen Nutzung überlassen worden. Dasselbe galt für sonstiges Vermögen wie Mobiliar etc8. Zu den bei der Umwandlung verfolgten Zielen gehörte auch die Zusammenfassung von Universitätsbetrieb einerseits und landeseigenem Personal und Vermögen andererseits, und zwar in möglichst staatsferner Weise, um der Universität mehr Autonomie und mehr Eigenverantwortung auch in diesen Bereichen zu geben.

__________ 4 Gesetz zur organisatorischen Fortentwicklung der Technischen Universität Darmstadt (TUD-Gesetz) vom 5.12.2004, GVBl. I 2004, 382 ff. 5 Vgl. § 1 Abs. 1 HHG a. F. 6 Vgl. § 69 HHG a. F. 7 Vgl. § 90 HHG a. F. 8 Vgl. § 90 HHG a. F.

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Kernstück der Neuordnung der Rechtsverhältnisse der Goethe-Universtiät ist, dass die Universität durch das Hessische Landesgesetz vom 28.9.20079 formwechselnd, aber identitätswahrend von einer Körperschaft in eine Stiftung des öffentlichen Rechts umgewandelt wurde. Einige wesentliche Einzelheiten und damit im Zusammenhang stehende weitere Änderungsmaßnahmen werden nachfolgend dargestellt.

IV. Die Stiftung des öffentlichen Rechts als neue Rechtsform der Goethe-Universität Bei der Frage, welche autonomieerhöhende Rechtsform die Frankfurter Universität künftig haben soll, wurde zunächst an eine Stiftung des bürgerlichen Rechts gedacht10. Damit wäre in idealer Weise an die alte Frankfurter Stiftungstradition angeknüpft worden, die 1914 zur Gründung der Goethe-Universität als Stiftung bürgerlichen Rechts führte11. Die Rechtsform der GmbH wurde nicht erwogen. Sie hätte der historischen Anknüpfung entbehrt und sub specie der Gefahr einer Privatisierung unnötige Widerstände ausgelöst. Die nähere Prüfung ergab jedoch, dass die Rechtsform der Stiftung (oder einer sonstigen juristischen Person) des bürgerlichen Rechts bei der Umwandlung einer bereits bestehenden und operierenden Hochschule erhebliche Probleme bereitet. Dies gilt etwa im gesamten Angestelltenbereich, insbesondere bei der Altersversorgung12. Vor allem gilt es im Bereich des beamteten Personals, weil

__________ 9 GVBl. I 2006, 640 ff. Die Umwandlung findet sich in Art. 1 Nr. 16 im neuen § 100a HHG. 10 Zu dieser vor etwa 40 Jahren in der Hochschulpolitik intensiv diskutierten Gestaltungsmöglichkeit ausführlich Erhard, Stiftungsuniversität bürgerlichen Rechts?, WissR, Bd. III 1970, S. 97 ff. 11 Einzelheiten bei Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main, 1914–1932, 1972; ferner Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität, Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. I, 1914–1950, 1989. 12 Die Mitgliedschaft bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) ist für juristische Personen des Privatrechts gemäß § 19 Abs. 2e) VBL-Satzung i. V. m. den dazugehörigen Ausführungsbestimmungen nur unter engen Voraussetzungen über eine Beteiligungsvereinbarung gemäß § 20 VBL-Satzung möglich, nämlich (i) Anwendung eines Tarifrechts im Wesentlichen gleichen Inhalts wie bei öffentlichrechtlichen Arbeitgebern, (ii) wesentliche Beteiligung oder maßgeblicher Einfluss einer juristischen Person des öffentlichen Rechts und (iii) überwiegende Wahrnehmung von Aufgaben, die sonst von der öffentlichen Hand wahrgenommen werden. Die erstgenannte Voraussetzung ist unverzichtbar. Fehlt es an einer der beiden weiteren Voraussetzungen, dann kann die VBL die juristische Person des Privatrechts nach § 20 Abs. 3 VBL-Satzung durch eine sog. Beteiligungsvereinbarung zur Mitgliedschaft zulassen. Wenn die juristische Person des Privatrechts nicht eine Verpflichtungserklärung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, eine Deckungszusage einer Versicherung oder eine Bankbürgschaft stellt, muss sie auf die jeweilige VBL-Umlage einen Zuschlag von 15 % zahlen. Inhaltlich gibt es im Wesentlichen zwei Modelle der Ausgestaltung, nämlich das sog. Verbleibemodell, bei dem nicht nur das Altpersonal, sondern auch das neu eingestellte Personal bei der VBL versichert ist, und das sog. Zäsurmodell, bei dem Neueinstellungen nicht bei der VBL versichert sind. Bei diesem Modell verlangt die VBL neben dem Zuschlag auf

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Umwandlung der Goethe-Universität Frankfurt in eine Stiftung

die bürgerlich-rechtliche Stiftung nicht dienstherrenfähig ist13. Beamtenrechtliche „Ersatzlösungen“ sind insbesondere vor dem Hintergrund von Art. 33 Abs. 5 GG („hergebrachte Grundsätze des Berufbeamtentums“) nur unter derart engen Voraussetzungen zulässig, dass sie von der Sache her nicht in Betracht kamen. Die über 700 an der Goethe-Universität tätigen wissenschaftlichen Beamten beim Land als Dienstherr zu belassen und der bürgerlich-rechtlichen Stiftung im Wege der sog. qualifizierten Zuweisung zuzuweisen14, hätte vorausgesetzt, dass die Stiftung so staatsnah ausgestaltet wird, dass sie als Einrichtung der öffentlichen Hand anzusehen ist, in der das Land seine Dienstherrenverantwortung uneingeschränkt durchsetzen kann. Die Stiftung hätte also letztlich staatliche Einrichtung bleiben müssen. Eine solche Ausgestaltung wäre jedoch dem Zweck des ganzen Vorhabens zuwidergelaufen. Bei einer sog. einfachen Zuweisung15 hätte die Universität, von dringenden Fällen des laufenden Betriebs abgesehen, kein allgemeines aus der Dienstherrenstellung bzw. der Ausübung von Dienstherrenbefugnissen fließendes Weisungsrecht gegenüber den Beamten erhalten können. Alle diese Fragen waren auch aufgetreten, als Jahre zuvor Bundespost und Bundesbahn von Anstalten des öffentlichen Rechts in Aktiengesellschaften des Privatrechts umgewandelt wurden. Dort wurden diese Fragen dadurch gelöst, dass durch Änderung des Grundgesetzes (Art. 143 Abs. 3 und Art. 143a Abs. 1 Satz 3 GG) die Deutsche Post AG mit der beamtenrechtlichen Dienstherrenbefugnis beliehen wurde bzw. dass der Deutsche Bahn AG einzelne Dienstherrenbefugnisse des Bundes zur Ausübung übertragen wurden. Das Grundgesetz für die Goethe-Universität ändern zu lassen – der Gedanke war verlockend, aber nicht realistisch. Es blieb deshalb nichts anderes übrig, als den Gedanken der Umwandlung der Goethe-Universität in eine Stiftung bürgerlichen Rechts aufzugeben und stattdessen auf eine Stiftung öffentlichen Rechts16 hinzuarbeiten17.

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die laufende Umlage einen versicherungsmathematisch kalkulierten und u. U. erheblichen Ausgleichsbetrag. Bei einer öffentlich-rechtlichen Stiftung ist die Fortführung der VBL-Mitgliedschaft problemfrei und ohne zusätzliche Kosten möglich. Vgl. § 121 BRRG, § 3 HBG. § 123a Abs. 2 BRRG, der trotz der sog. Föderalismusreform durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 (BGBl. I, S. 2034) fortgilt. Vgl. BVerwGE 69, 303 ff. betr. die Dienstleistung beamteter Busfahrer der Deutschen Bahn und der Deutschen Bundespost bei einer privaten Gesellschaft für Omnibuslinienverkehr. I. S. v. § 2 Hessisches Stiftungsgesetz v. 4.4.1966, GVBl. I, 77 ff. Zur Stiftung des öffentlichen Rechts allgemein siehe Frhr. v. Campenhausen in: Handbuch des Stiftungsrechts, hrsg. von Frhr. v. Campenhausen, 2. Aufl. 1999, 4. Kapitel Stiftungen des öffentlichen Rechts, und ferner Alscher, Die Stiftung des öffentlichen Rechts 2006, dort insbesondere § 3 Landesstiftungen des öffentlichen Rechts. In der Literatur wird teilweise vertreten, dass wegen des universitären Selbstverwaltungserfordernisses eine Hochschule nicht die Rechtsform der Stiftung des öffentlichen Rechts haben kann. Diese Auffassung ist zu pauschal. Richtigerweise kommt es darauf an, ob dem Erfordernis universitärer Selbstverwaltung durch die konkrete

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Bei den Rechtsformüberlegungen waren schließlich auch steuerliche Fragen von erheblicher Bedeutung. Wäre der Weg der beamtenrechtlichen Personalzuweisung beschritten worden, dann wäre die Personalbestellung nur unter engen Voraussetzungen kein umsatzsteuerbarer entgeltlicher Leistungsaustausch18. Erforderlich wäre insbesondere, dass die Personalbestellung begrenzt ist auf den zum Zeitpunkt der Umwandlung vorhandenen Personalbestand, sodass sich der überlassene Personalbestand von Jahr zu Jahr verringert. Würde das Land als Dienstherr nach erfolgter Umwandlung der Universität neues Personal zuweisen, dann würde dies Umsatzsteuer auf den gesamten zugewiesenen Beamtenbestand (Alt- und Neubestand) auslösen. Um diese wirtschaftlich nicht akzeptable Konsequenz zu vermeiden, hätte neues wissenschaftliches Personal nach dem 1. Januar 2008 von der Goethe-Universität eingestellt werden müssen, und zwar mangels Dienstherrenfähigkeit nicht im Beamtenverhältnis, sondern im Angestelltenverhältnis. Diese Vorgehensweise hätte jedoch den personalpolitischen Handlungsspielraum der Goethe-Universität eingeschränkt (Neueinstellungen wissenschaftlichen Personals nur im Anstellungsverhältnis) und zu einer Aufspaltung der obersten Führungsverantwortung gegenüber dem wissenschaftlichen Personal geführt (Altpersonal beim Land, Neupersonal bei der Goethe-Universität). Von Bedeutung bei den Rechsformüberlegungen waren schließlich auch Verkehrssteuerfragen im Zusammenhang mit der Übertragung des landeseigenen Grundbesitzes mit aufstehenden Gebäuden auf die Goethe-Universität19. Aus allen diesen Gründen hat die Goethe-Universität den ursprünglichen Gedanken einer bürgerlich-rechtlichen Stiftung aufgegeben und sich für die Rechtsform der öffentlich-rechtlichen Stiftung entschieden, bei der alle vorge-

__________ Ausgestaltung der jeweiligen Stiftung hinreichend Rechnung getragen wird. Die konkrete Ausgestaltung liegt in der Hand des Landesgesetzgebers, der die Stiftung im Errichtungsgesetz oder in der Satzung entsprechend ausgestalten kann. Die in dieser Weise erlassenen Sonderregelungen genießen dann Vorrang vor dem allgemeinen Stiftungsrecht des betreffenden Landes. Wie hier zutreffend Fehling, Hochschulen in Rechtsformen des öffentlichen Rechts, in Hochschulstandort Deutschland, Rechtlicher Rahmen – Politische Herausforderungen, hrsg. von Kämmerer/Rawert, 2002, S. 83 ff., 91 m. w. N. auch zur Gegenansicht. 18 Vgl. BFH, UR 1995, 391: Nicht nur die Überlassung von Angestellten, sondern auch die Zuweisung von Beamten ist umsatzsteuerliche Personalgestellung. Vor diesem Hintergrund siehe OFD Karlsruhe, Vfg. 28.4.2000 – S. 7106, UR 2000, 395 und OFD Hannover, Vfg. v. 22.8.2002 – S. 2706 – 143 – StO 214 – S. 2706 - 178 - StO 231, UR 2003, 42. 19 Bei einer Stiftung bürgerlichen Rechts besteht Schenkungsteuerpflicht nach § 7 Abs. 1 Nr. 8 ErbStG und Grunderwerbsteuerfreiheit nach § 3 Nr. 2 GrEStG. Bei der öffentlich-rechtlichen Stiftung besteht keine Schenkungsteuerpflicht und nach § 4 Nr. 1 GrEStG keine Grunderwebsteuerpflicht, wenn das Grundstück nicht überwiegend einem Betrieb gewerblicher Art dient und von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts aus Anlass des Übergangs von öffentlich-rechtlichen Aufgaben auf eine andere juristische Person übergeht. Dieser Übergang von öffentlich-rechtlichen Aufgaben liegt im Falle der Goethe-Universität darin, dass das Land zahlreiche bis dahin von ihm wahrgenommenen öffentlichen Aufgaben auf die Universität übertragen hat. Siehe dazu im Einzelnen die Ausführungen im Text.

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nannten Schwierigkeiten entfallen, insbesondere weil ihr nach geltendem Beamtenrecht ohne Änderung des Grundgesetzes die beamtenrechtliche Dienstherrenfähigkeit verliehen werden kann.

V. Die monistische Rechtsform der Goethe-Universität Bei den Überlegungen zur Rechtsform wurde auch das bei den Universitäten Göttingen und Lüneburg praktizierte niedersächsische Stiftungsmodell geprüft. Dort bleibt die Hochschule Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es ändert sich aber die Trägerschaft der Hochschule. Die Trägerschaft ist zusammen mit den meisten hochschulrechtlichen Landeszuständigkeiten gegenüber der Universität vom Land auf eine neue Stiftung öffentlichen Rechts übergegangen. Auf diese Stiftung hat das Land ferner das Eigentum an den von der Universität genutzten Grundstücken und Gebäuden sowie das gesamte in der Universität tätige Personal übertragen, das zuvor im Anstellungsverhältnis bzw. Beamtenverhältnis des Landes stand20. Das niedersächsische Stiftungsmodell ist also durch eine zweistufige Struktur gekennzeichnet mit einer Hochschule als Körperschaft des öffentlichen Rechts und darüber einer öffentlich-rechtlichen Stiftung als Träger, die in mittelbarer Staatsverwaltung Eigentümer des von der Universität genutzten Grundbesitzes und Dienstherr bzw. Arbeitgeber des gesamten in der Universität tätigen Personals ist und die früher beim Land liegenden hochschulrechtlichen Zuständigkeiten wahrnimmt. An der Struktur der Hochschule selbst und ihren Befugnissen ändert das niedersächsische Stiftungsmodell also nichts. Diese zweistufige Struktur ist kompliziert und führt, wie verwaltungsgerichtliche Streitverfahren im Bereich des beamteten Personals21 sowie die Notwendigkeit zwischenzeitlicher Gesetzesänderungen22 zeigen, zu nicht unerheblichen rechtlichen Schwierigkeiten und Risiken, insbesondere bei der Abgrenzung und Zuordnung der Funktionen23. All dies wird vermieden, wenn man bei dem Ziel der Staatsferne nicht auf halbem Wege

__________ 20 Vgl. § 55 ff. NHG i. d. F. von Art. 1 des Gesetzes zur Hochschulreform in Niedersachsen v. 24.6.2002, Nds. GVBl. 286 ff. und die Verordnung über die Neuregelung der Trägerschaft der Georg-August-Universität Göttingen und der Aufgaben und Organisation ihres Bereiches Humanmedizin v. 17.12.2002, Nds. GVBl. 2002, 812 ff. sowie die Verordnung über die „Stiftungsuniversität Lüneburg“ v. 17.12.2002, Nds. GVBl. 2002, 847 ff. 21 Vgl. VG Lüneburg v. 25.8.2004 – 1 A 97/03, ZBR 2006, 263 ff. sowie VG Göttingen v. 29.3.2006 – 3 A 510/03, Nds. VBl. 2006, 230 ff. 22 Vgl. Art. 1 Nr. 54–56 des Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Hochschulgesetzes und anderer Gesetze v. 21.11.2006, Nds. GVBl. 2006, 538 ff. mit umfangreichen Änderungen zu den §§ 56, 57 und 57a Nds. HHG. 23 Insofern ist es ein wenig überraschend, dass das Land Brandenburg bei der Neuordnung der Rechtsverhältnisse der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) in dem Gesetz über die Errichtung der „Stiftung Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)“ v. 14.12.2007, GVBl. I 2007, 206 ff. nicht nur dem dualistischen Modell aus Niedersachen gefolgt ist, sondern die alten Formulierungen des dortigen HHG – teilweise wörtlich – übernimmt, ohne die dort zwischenzeitlich aus gutem Grund erfolgten Änderungen nachzuvollziehen.

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stehen bleibt, sondern in einer monistischen Struktur der Hochschule selbst die Rechtsform der Stiftung des öffentlichen Rechts gibt.

VI. Neuordnung der Verhältnisse des in der Universität tätigen Personals Das eingangs erwähnte Ziel, der Goethe-Univesität mehr Autonomie im Personalbereich zu geben, wurde dadurch erreicht, dass das in der Universität tätige Landespersonal (Beamte und Angestellte) zum 1. Januar 2008 kraft Gesetzes mit allen Rechten und Pflichten besitzstandswahrend auf die GoetheUniversität übergegangen ist24. Die Universität erhielt Dienstherrenfähigkeit und wurde auf dieser Grundlage Dienstherr des verbeamteten Personals, ferner wurde sie Arbeitgeber des angestellten Personals. Neueinstellungen von beamtetem und angestelltem Personal erfolgen durch die Goethe-Universität. Die Universität erhielt ferner Tariffähigkeit. Diese Lösung hat klare Personalstrukturen geschaffen. Sie wurde in bewusster Abgrenzung von dem Lösungsansatz des TUD-Gesetzes gewählt, bei dem das Land nur die Zuständigkeit für die Personalangelegenheiten, nicht aber das Personal selbst auf die Universität selbst übertragen hat25.

VII. Neuordnung der Rechtsverhältnisse des von der GoetheUniversität genutzten Landesvermögens Entsprechend dem eingangs erwähnten Ziel wurden die landeseigenen Grundstücke und sonstigen von der Universität genutzten Vermögenswerte des Landes zum 1. Januar 2008 kraft Gesetzes auf die Universität übertragen26. Heute ist also die Goethe-Universiät selbst Eigentümer des genannten Vermögens, muss dieses aber auch selbst unterhalten, insbesondere die Gebäude. Bei Bau-

__________ 24 Wegen der Einzelheiten siehe § 100h HHG n. F. Dazu, dass der Landesgesetzgeber zur Übertragung der Arbeitsverhältnisse im Wege der Gesamtrechtsnachfolge befugt ist und dass § 613a BGB keine Anwendung findet, siehe BAG v. 2.3.2006, BAGE 117, 184 ff. betreffend die öffentlich-rechtliche „Stiftung Oper in Berlin“. 25 Vgl. § 3 TUD-Gesetz. 26 Im Einzelnen siehe § 100c HHG n. F. Wie im Falle der Universitäten Göttingen und Lüneburg wurde der in einer Anlage zum Gesetz aufgelistete und grundbuchmäßig beschriebene Grundbesitz nicht aufgelassen, sondern in analoger Anwendung von Art. 126 EGBGB gesetzlich übertragen, mit nachfolgender Berichtigung der Grundbücher. Von der Übertragung ausgenommen wurden die Grundstücke des sog. Campus Bockenheim, der im Zuge der Standortneugestaltung der Universität zugunsten des Campus Westend (Geisteswissenschaften) und des Campus Riedberg (Naturwissenschaften) aufgegeben werden soll. Sobald die dort im Bau befindlichen Gebäude fertig sind, werden die einzelnen Aktivitäten verlagert. Bis dahin werden die Bockenheimer Grundstücke der Universität unentgeltlich zur Nutzung überlassen. Nach Freiwerden ist seitens des Landes die Veräußerung der Grundstücke beabsichtigt. Zum Campus Westend gehört das von dem Architekten Pölzig geschaffene und nach 1945 viele Jahre von den amerikanischen Streitkräften genutzte Gebäude der Hauptverwaltung der früheren IG Farben AG.

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maßnahmen ist die Goethe-Universität selbst Bauherr und nicht mehr das Land in Person des staatlichen Hochbauamtes27. Auch hier wurde bewusst von der Regelung des TUD-Gesetzes abgewichen, das nur die Zuständigkeiten für die Grundstücks- und Bauangelegenheiten auf die Universität übertragen hat28.

VIII. Wegfall der Stellung als staatliche Einrichtung Angesichts der vorgenannten Neuordnung der Rechtsverhältnisse des der Universität gewidmeten Personals und Vermögens des Landes sieht das Gesetz heute nicht mehr vor, dass die Goethe-Universität neben ihrer Stellung als selbstständige Rechtsperson gleichzeitig staatliche Einrichtung ist29. Wie eingangs erwähnt, hatte die Goethe-Universität zuvor eine Zwitterstellung, sie war gleichzeitig rechtlich selbständige Körperschaft des öffentlichen Rechts einerseits und rechtlich unselbständige staatliche Einrichtung, d. h. Teil des Landes Hessens, andererseits. Diese Zwitterstellung war die Rechtsgrundlage dafür, dass das landeseigene Personal (Beamte und Angestellte) und das landeseigene Vermögen ohne rechtliche Schwierigkeiten von der Universität genutzt werden konnten – bei dieser Nutzung handelte die Universität sozusagen nicht als gegenüber dem Staat rechtlich selbstständige eigene Rechtsperson, sondern als Teil des Staates. In der Beseitigung dieser Zwitterstellung zum 1. Januar 2008 kommt das angestrebte Ziel der größeren Staatsferne besonders sinnfällig zum Ausdruck.

IX. Die Organe der Goethe-Universität Organe der öffentlich-rechtlichen Stiftung Goethe-Universität sind der Hochschulrat, das Stiftungskuratorium, der Senat und das Präsidium30. Senat und Präsidium sind im Hessischen Hochschulgesetz als allgemeine Hochschulorgane vorgesehen, wobei – vereinfacht gesagt – der Senat vor allem für akademische Angelegenheiten und das Präsidium für die Führung der Geschäfte zuständig ist31. Hochschulrat und Stiftungskuratorium sind spezifische Organe der Goethe-Universität32. Spezifisch ist auch die Tatsache, dass das Präsidium Vorstand der Stiftung ist33.

__________ 27 Dies gilt nicht für die laufenden Baumaßnahmen im Rahmen der vorgenannten Standortneugestaltung der Goethe-Universität. Diese Baumaßnahmen werden vom Land zu Ende geführt. 28 Vgl. § 4 TUD-Gesetz. 29 Nach § 1 Abs. 1 HHG n. F. sind die Hochschulen des Landes mit Ausnahme der Goethe-Universität weiterhin rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts und zugleich staatliche Einrichtungen. Die Goethe-Universität ist nach § 100a HHG n. F. nur rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts, ohne gleichzeitig staatliche Einrichtung zu sein. 30 Vgl. § 100e HHG n. F. 31 Vgl. §§ 40 und 42 HHG. 32 Vgl. § 100f und § 100g HHG n. F. 33 Vgl. § 100e HHG n. F.: „das Präsidium als Vorstand“.

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Der Hochschulrat ist das oberste Kontrollorgan der Stiftungsuniversität34. Ihm gehören elf Mitglieder an, die vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft bestellt werden, zehn Persönlichkeiten aus den Bereichen Wirtschaft, berufliche Praxis und Kultur, ferner ein Vertreter des hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Der Hochschulrat wirkt an der Bestellung der Mitglieder des Präsidiums mit. Er hat ein Initiativrecht zu grundsätzlichen Angelegenheiten, insbesondere zu Fragen der Hochschulentwicklung. Er übt im Einzelnen definierte Kontrollfunktionen in akademischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten aus. Die Grundordnung und andere Satzungen der Universität sowie der Entwicklungsplan bedürfen seiner Zustimmung. Für die wirtschaftlichen und finanziellen Angelegenheiten bildet er einen Wirtschaftsund Finanzausschuss, dem wichtige Zustimmungsrechte zustehen, insbesondere bei der Aufnahme von Krediten, bei der Investitionsplanung, beim Wirtschaftsplan, bei der Wahrnehmung von Universitätsaufgaben in privatrechtlicher Form, bei Grundsätzen über die Vergütung der Professorinnen und Professoren sowie bei Tarifverträgen der Universität. Der Ausschuss ist ferner zuständig für die Feststellung des Jahresabschlusses. Das Stiftungskuratorium berät die Universität in wichtigen Fragen ihrer Entwicklung. Ihm gehören die Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main sowie Freunde und Förderer der Universität an, die sich besondere Verdienste um die Universität erworben haben35. Darin, dass die sich aus allgemeinem Hochschulrecht ergebenden Organe Senat und Präsidium gleichzeitig Stiftungsorgane sind, unterscheidet sich die Struktur der Goethe-Universität wesentlich von den Hochschulneugründungen privater Rechtsform der letzten Jahre. Dort betreibt die betreffende GmbH die Hochschule als Unternehmensbereich, die akademischen Organe sind nicht zugleich gesellschaftsrechtliche Organe der GmbH. Bei der Goethe-Universität sind die akademischen Organe gleichzeitig Organe der Stiftung, d. h. die Stiftung betreibt keine Hochschule, sie ist Hochschule.

X. Stiftungsvermögen/Grundstockvermögen Das Stiftungsvermögen besteht aus den vom Land auf die Stiftung übertragenen Vermögenswerten, also insbesondere Grundstücken mit aufstehenden Gebäuden. Ein Grundstockvermögen kann zusätzlich gebildet werden36. Das Gesetz hat bewusst davon abgesehen, den übertragenen Grundbesitz als Grundstockvermögen zu bezeichnen. Dies hätte nämlich zur Folge gehabt, dass die jährlichen Gebäudeabschreibungen das Grundstockvermögen reduzieren, dadurch wird die stiftungsrechtliche Pflicht zur Erhaltung des Grundstockvermögens aktiviert, was zu einem Konflikt mit den Zwecken der öffentlichen und privaten Zuwendungen für den Hochschulbetrieb führen würde. Dies war

__________ 34 Wegen der Einzelheiten siehe § 100f HHG n. F. 35 Wegen der Einzelheiten siehe § 100g HHG n. F. 36 Vgl. § 100c Abs. 1 HHG n. F.

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offensichtlich bei der Regelung der Rechtsverhältnisse der Universitätsträgerstiftungen in Niedersachsen nicht bedacht worden, weshalb diese Regelungen zwischenzeitlich geändert wurden37.

XI. Die Änderungen der hochschulrechtlichen Rahmenbedingungen Wie bereits eingangs erwähnt, sind die Rechtsformfragen wichtig, aber nicht entscheidend dafür, ob die angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden können. Wichtiger sind die hochschulrechtlichen Rahmenbedingungen, denen eine Universität unterliegt. Hier ist es im Falle der Goethe-Universität zu ganz wesentlichen Änderungen gekommen. Auch als Stiftungsuniversität unterliegt die Goethe-Universität grundsätzlich den Regelungen des Hessischen Hochschulgesetzes. Indem sie aber von vielen dieser Regelungen freigestellt wird, hat die Goethe-Universität als wesentliche weitere Maßnahme zur Erreichung der angestrebten Ziele ein bisher in Hessen und darüber hinaus für öffentliche Hochschulen nicht bekanntes Ausmaß an Autonomie erhalten. Diese Autonomie bezieht sich auf Organisationsstruktur, Berufungsverfahren, Lehrverpflichtungsverordnung, Qualitätssicherung und Hochschulzugang. Die Universität darf ferner die Organisation der Studierendenschaft selbst gestalten, nur deren Verfasstheit als eigene Körperschaft des öffentlichen Rechts bleibt gesetzlich vorgegeben38. Der systematische Ansatz bei diesen Regelungen entspricht vielfach dem beim TUD-Gesetz. Die für die Frankfurter Stiftungsuniversität vorgesehenen Autonomiebereiche gehen jedoch erheblich über das TUD-Gesetz hinaus39. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang ferner, dass die Goethe-Universität nur noch der Rechtsaufsicht und der Stiftungsaufsicht des Landes unterliegt40, nicht aber wie bisher der Fachaufsicht. Zahlreiche fachaufsichtsrechtliche Genehmigungs- und Zustimmungsvorbehalte des Landes nach allgemeinem Hochschulrecht gelten für die Goethe-Universität nicht mehr41 bzw. wurden auf das Präsidium oder den Hochschulrat als Stiftungsorgane „umgepolt“, d. h. bisherige aufsichtsrechtliche Zuständigkeiten des Landes werden künftig von

__________ 37 Nach § 56 Abs. 1 und 2 NHG i. d. F. v. 24.6.2002 bilden die auf die Universitätsträgerstiftung übergehenden Grundstücke deren Grundstockvermögen, das ungeschmälert in seinem Bestand zu erhalten ist. Das beinhaltete nach stiftungsrechtlichem Verständnis auch die Werterhaltung. Nach § 56 Abs. 1 und 2 NHG i. d. F. v. 21.11.2006 besteht das Grundstockvermögen aus den genannten Grundstücken sowie sonstigen, dem Grundstockvermögen ausdrücklich zugeführten Vermögenswerten; Grundstücke des Grundstockvermögens sind in ihrem körperlichen Bestand, das sonstige Grundstockvermögen ist in seinem Wert ungeschmälert zu erhalten. Damit ist klargestellt, dass die Grundstücke mit aufstehenden Gebäuden keinem Werterhaltungsgebot unterliegen. 38 Vgl. § 100d HHG n. F. 39 Vgl. § 2 TUD-Gesetz. 40 Vgl. § 100d Abs. 2 HHG n. F. 41 Vgl. § 100d Abs. 5 HHG n. F.

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eigenen Organen der Goethe-Universität wahrgenommen42. Auch darin findet die größere Autonomie der Goethe-Universität sinnfälligen Ausdruck. Was die Autonomie in Berufungsverfahren betrifft, sieht das Gesetz43 vor, dass neue Professorinnen und Professoren sowie hauptberufliche Mitglieder des Präsidiums, die nicht bereits verbeamtet sind, nicht in ein öffentlich-rechtliches Beamtenverhältnis berufen werden „sollen“, sondern in ein privates Angestelltenverhältnis, wobei die sich hieraus ergebenden zusätzlichen Kosten nach einer noch abzuschließenden Vereinbarung vom Land getragen werden. Bei der Vereinbarung des Gehalts ist die Universität frei und nicht an die Vorgaben des Beamtenbesoldungsrechts gebunden. Das private Anstellungsverhältnis kann jedoch die mit dem beamtenrechtlichen Status verbundenen Vorteile nur schwer und nur mit nicht unerheblichen Mehrkosten ausgleichen, die wegen ihrer Höhe vom Land vielleicht nicht in vollem Umfang erstattet werden. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob die Goethe-Universität das angestrebte Ziel privater Angestelltenverhältnisse „im Markt“ verwirklichen kann, solange andere Universitäten Neuberufungen weiterhin im Beamtenverhältnis vornehmen. Deshalb formuliert das Gesetz bewusst, dass die neuen Professoren in ein Angestelltenverhältnis berufen werden „sollen“ und nicht „müssen“. Die Beschränkung dieser Regelung auf Personen, die nicht bereits verbeamtet sind, ist ebenfalls bewusst vorgenommen worden. Die Übernahme von bereits verbeamtetem Lehrpersonal in ein privates Angestelltenverhältnis ist nämlich insbesondere wegen der Ablösung der beamtenrechtlichen Altersversorgung – Stichwort Nachversicherung – sehr kostenaufwendig. In den beiden Punkten Autonomie der Universität und Wahrnehmung der aufsichtsrechtlichen Landeszuständigkeiten besteht ein wesentlicher Unterschied zum Stiftungsmodell in Niedersachsen. Dort hat es keine Erhöhung der hochschulrechtlichen Autonomie der Universität gegeben und sind die hochschulrechtlichen Landeszuständigkeiten nicht auf ein Organ der Universität übertragen worden, sondern auf die öffentlich-rechtliche Stiftung, die in mittelbarer Staatsverwaltung Trägerin der Universität, Eigentümer des von der Universität genutzten Grundbesitzes und Dienstherr bzw. Arbeitgeber des gesamten in der Universität tätigen Personals ist. Die Frankfurter Goethe-Universität ist also wesentlich autonomer und staatsferner als die niedersächsischen Stiftungsuniversitäten.

XII. Finanzierung Was nützt die beste Rechtsform, was nützt alle Autonomie, wenn das Geld für den Betrieb der Universität fehlt? Der Grundbesitz, der mit den aufstehenden Gebäuden auf die Stiftungsuniversität übertragen worden ist, hat zwar einen erheblichen Wert, er wirft aber keine Erträge ab, sondern verzehrt im Gegenteil nur Aufwendungen, beginnend mit den laufenden Abschreibungen. Von

__________ 42 Vgl. § 100d Abs. 2 Satz 2, § 100f Abs. 4 und 5 und § 100i Abs. 6 Satz 2 HHG n. F. 43 Vgl. § 100h Abs. 1 Satz 3 HHG n. F.

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einem eigenen Vermögen, dessen Erträge wie bei den großen amerikanischen Universitäten den Universitätsbetrieb weitgehend bis ausschließlich finanzieren, kann bis auf weiteres keine Rede sein. Das Gesetz44 sieht deshalb vor, dass die Goethe-Universität weiterhin vom Land finanziert wird, und zwar durch einen jährlichen Beitrag zum Unterhalt nach denselben Verteilungsgrößen wie für die übrigen Hochschulen des Landes, ferner durch Zuweisungen für Bau- und Geräteinvestitionen sowie für Bauunterhaltung nach Maßgabe einer vertraglichen Regelung sowie schließlich durch sonstige Mittel, die nach Maßgabe noch abzuschließender vertraglicher Regelungen, eines Hochschulpaktes und der Zielvereinbarungen vergeben werden45. Einzelheiten sind in der am 30.11.2007 unterzeichneten Finanzierungsvereinbarung zwischen dem Land Hessen und der Goethe-Universität geregelt. Daneben besteht eine Gewährträgerschaft des Landes, d. h. für Verbindlichkeiten der Universität haftet auch das Land unbeschränkt, soweit Befriedigung aus dem Vermögen der Universität nicht erlangt werden konnte46. Die Frankfurter Goethe-Universität bleibt deshalb öffentliche Hochschule. Daran hätte sich übrigens auch dann nichts geändert, wenn die Universität in eine Stiftung bürgerlichen Rechts umgewandelt worden wäre, denn der Charakter der öffentlichen Hochschule folgt nicht aus der öffentlich-rechtlichen Rechtsform, sondern aus der öffentlichen Finanzierung47. Dass die Stiftungsuniversität öffentliche Hochschule bleibt, hat eine Reihe von Konsequenzen48. Es gelten deshalb etwa Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaftsfreiheit), Art. 51 Hessische Verfassung (Unterrichtsgeldfreiheit) und Art. 60 Hessische Verfassung (Selbstverwaltung unter Beteiligung der Studierenden). Dem trägt das Gesetz in vielen Einzelbestimmungen Rechnung. Darüber hinaus unterliegen die Finanzierungsmittel des Landes dem sog. Demokratiegebot. Dieses verlangt hinreichende Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten auf Seiten des Landes bezüglich der Verwendung der öffentlichen Finanzmittel. Diese Möglichkeiten sind in einem Ausmaß vorgesehen, dass einerseits dem Demokratiegebot, andererseits aber dem angestrebten Ziel der Erhöhung der Autonomie durch Abbau staatlicher Detailsteuerung Rechnung getragen wird. Es handelt sich um folgende Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten49: – Die „Steuerung“ der Universität als öffentliche Hochschule durch Zielvereinbarungen mit dem Land, – die Bestellung der Mitglieder des zentralen Kontrollorgans der Hochschule, nämlich des Hochschulrates, durch das Land,

__________ 44 Vgl. § 100c Abs. 7 HHG n. F. 45 Die Goethe-Universität ist also überwiegend nicht eine Kapitalstiftung, sondern eine Zuwendungsstiftung. Zu diesen Begriffen vgl. Alscher, Die Stiftung des öffentlichen Rechts, 2006, S. 141 ff. 46 Vgl. § 100i Abs. 7 HHG n. F. 47 § 58 Abs. 1 Satz 2 HRG, § 1 Abs. 1 Satz 2 HHG; vgl. auch BVerfGE 111, 333, 355 ff. 48 Grundlegend BVerfGE 111, 333 ff. 49 Vgl. § 100c Abs. 7 Satz 2 Nr. 3, § 100f Abs. 1 Satz 2 und 8, § 100f Abs. 6 Satz 2, § 100d Abs. 2 Satz 1 HHG n. F. sowie die allgemeinen Vorschriften der §§ 88 ff. HHG und §§ 88 ff. LHO.

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– die personale Mitwirkung des Landes in diesem Hochschulrat und insbesondere seinem Wirtschafts- und Finanzausschuss, – die Stiftungsaufsicht durch das Land, – die allgemeine Rechtsaufsicht durch das Land und – die Kontrolle durch den Landesrechnungshof.

XIII. Neuordnung des Universitätsklinikums Das Frankfurter Universitätsklinikum unterliegt nicht dem Hessischen Hochschulgesetz, sondern dem Gesetz für die hessischen Universitätskliniken vom 26.6.200050. Nach diesem Gesetz hat das Universitätsklinikum die Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts. Seit Anfang 2001 wurde neues nicht-wissenschaftliches Personal im Anstellungsverhältnis beim Klinikum in den Anstaltsdienst eingestellt. Das Ende 2000 vorhandene nicht-wissenschaftliche Personal war und blieb im Landesdienst beschäftigt, wobei die Goethe-Universität in ihrer Eigenschaft als staatliche Einrichtung als Dienststelle fungierte. Dies konnte infolge der Umwandlung der Goethe-Universität in eine Stiftungsuniversität und des Wegfalls der Stellung als staatliche Einrichtung nicht fortgesetzt werden. Hier war also zum 1. Januar 2008 eine Neuordnung erforderlich. Diese sieht so aus, dass das genannte nicht-wissenschaftliche Altpersonal besitzstandswahrend auf das Klinikum als Anstalt des öffentlichen Rechts übertragen wurde51. Das Klinikum ist seitdem Arbeitgeber auch des vor dem 1. Januar 2001 eingestellten nicht-wissenschaftlichen Altpersonals im Anstellungsverhältnis. Die an dem Universitätsklinikum tätigen Beamtinnen und Beamten des Landes wurden, ebenso wie die an der Universität tätigen Beamten, zum 1. Januar 2008 auf die Goethe-Universität übertragen52. Soweit es sich um nicht-wissenschaftliches Personal handelt, wurden sie dem Universitätsklinikum zur Dienstleistung zugewiesen53. Das am Klinikum tätige verbeamtete wissenschaftliche Personal ist auch in der Lehre an der Goethe-Universität tätig. Für dieses Personal gilt die alte Regelung des Klinikumsgesetzes weiter, wonach dieses Personal, das jetzt nicht mehr Landespersonal, sondern Universitätspersonal ist, dem Universitätsklinikum zur Dienstleistung zugewiesen ist, soweit es dort tätig ist54.

__________ 50 51 52 53 54

GVBl. I, 344 ff. Vgl. Art. 2 Nr. 2a des Gesetzes v. 28.9.2007, GVBl. I, 640 ff. Vgl. § 100h Abs. 3 HHG n. F. Vgl. Art. 2 Nr. 2b) des Gesetzes v. 28.9.2007, GVBl. I, 640 ff. Vgl. § 22 Abs. 3 Satz 3 UniKlinG v. 26.6.2000.

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XIV. Größere Attraktivität für privates Engagement Eines der Ziele der Umwandlung war es, der Goethe-Universität die Möglichkeit zu geben, eigenes Kapital aufzubauen, dessen Erträge den laufenden Universitätsbetrieb mitfinanzieren, und zwar ohne Anrechnung auf die staatlichen Finanzmittel. Nachdem die Universität bereits in den letzten Jahren Stiftungslehrstühle eingeworben hatte, erhielt sie im Vorgriff auf die Umwandlung im August 2007 von der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung eine selbständige Stiftung mit einem Kapital in Höhe von 33 Mio. Euro geschenkt – der höchste Stiftungsbetrag aus privater Hand in der Geschichte der Universität. Hier hat sich die Umwandlung bereits im Vorfeld positiv ausgewirkt. Auch das Land selbst hat der Universität bei der Umwandlung in eine Stiftung 20 Mio. Euro als Stiftungskapital (Grundstockvermögen) zugewandt. Die Finanzierungsvereinbarung zwischen dem Land und der Goethe-Universität vom 30.11.2007 sieht ferner vor, dass das Land der Universität ebenfalls als Grundstockvermögen für jeden ab dem 28.3.2007 von der Universität in Form von Zustiftungen, selbständigen oder unselbständigen Stiftungen eingeworbenen Euro zusätzlich jeweils einen Euro zahlt (sog. matching funds), bis zu einer Summe von 50 Mio. Euro. Diese Zahlungen des Landes werden mit der Realisierung von Erlösen aus dem Verkauf der frei werdenden Liegenschaften auf dem Campus Bockenheim fällig. Unabhängig von der Höhe des erzielten Veräußerungserlöses prüft das Land im Interesse der Universität, die matching fundsRegelung auch nach Erreichen der Gesamtsumme von 50 Mio. Euro anzuwenden.

XV. Schlussbetrachtung In dem eingangs erwähnten Aufsatz hat Karsten Schmidt deutlich seine Präferenz für eine dualistische Struktur erkennen lassen, bei der Hochschule und Hochschulträger rechtlich getrennt werden. Für die Neugründung einer Hochschule, die Karsten Schmidt in erster Linie vorschwebte, dürfte seine Präferenz Zustimmung verdienen, denn sie führt zu einer klaren Trennung von akademischem und nicht-akademischem Bereich und damit zu einer klaren Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Bei der Umstrukturierung einer bereits bestehenden öffentlich-rechtlichen Hochschule sind die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund der bereits bestehenden Rechtsfakten jedoch erheblich eingeschränkt. Insbesondere das Beamtenrecht führt dazu, dass eine Umwandlung in einen monistisch oder dualistisch strukturierten bürgerlich-rechtlichen Rechtsträger praktisch ausgeschlossen ist, wie sich im Falle der Goethe-Universität gezeigt hat. Es besteht eigentlich nur die Möglichkeit der Umstrukturierung innerhalb des öffentlichen Rechts. Dabei löst die von Karsten Schmidt präferierte dualistische Struktur wiederum aufgrund des Beamtenrechts gerade bei der Aufteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten beträchtliche Schwierigkeiten und Unsicherheiten rechtlicher Art aus, wie die erfolgreichen Klagen von Göttinger und Lüneburger Professoren 579

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gezeigt haben. Bei der Neuordnung der Rechtsverhältnisse einer bereits bestehenden öffentlich-rechtlichen Hochschule lassen sich diese Probleme durch Wahl einer monistischen Struktur vermeiden. Dem Karsten Schmidt wichtigen Gedanken einer klaren Trennung zwischen Hochschule und Hochschulträger muss dadurch Rechnung getragen werden, dass innerhalb der monistischen Struktur für eine klare Trennung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten Sorgen getragen wird. Die Zukunft wird zeigen, ob dies im Falle der Goethe-Universität gelungen ist.

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Bilanzrechtsmodernisierung – erste Grundsatzfragen aus handels- und gesellschaftsrechtlicher Sicht Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Zielsetzung, Grundkonzeption und ausgewählte Schwerpunkte des BilMoG 1. Verbesserung des Informationsgehalts des HGB-Abschlusses 2. Beibehaltung des HGB-Bilanzrechts als Grundlage für die Ausschüttungs- und Steuerbemessung III. Notwendigkeit eines HGB-Bilanzrechts für alle Unternehmen? 1. Ausgangspunkt: Vielfalt der zu befolgenden Bilanzrechtssysteme 2. Befreiung „kleiner“ Kaufleute und Gesellschaften von der HGB-Bilanzierungspflicht? a) Das ökonomische Modell b) Wider eine „neue umgekehrte Maßgeblichkeit“ von Steuer-

rechnungen für handelsrechtliche Zwecke c) Zweifelhafter Nutzen einer gesetzlichen Deregulierung wegen notwendiger vertraglicher Regulierung d) Neue Einheitsbilanz nach Maßgabe des modernisierten Handelsbilanzrechts 3. Reduzierung der Offenlegungspflichten IV. Künftiges Verhältnis des HGB-Bilanzrechts zu den IFRS 1. BilMoG als „Frontalangriff“ auf die bewährten GoB? 2. Keine interpretatorische Einstrahlung der IFRS in das HGB V. Ausblick VI. Zusammenfassung

I. Fragestellung Karsten Schmidt hat die Rechtswissenschaft der letzten Jahrzehnte in besonderem Maße geprägt. Vor allem seine grundlegenden Untersuchungen zum Handels- und Gesellschaftsrecht haben breite und tiefe Wirkung entfaltet. Ein Teilrechtsgebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts ist das Bilanzrecht. Das Handelsbilanzrecht ist nicht nur im Dritten Buch des HGB an prominenter Stelle des kodifizierten Handelsrechts verortet, sondern auch mit dem Gesellschaftsrecht in vielfältiger Art und Weise verwoben1: Nach Bilanzrecht bestimmt sich der an die Gesellschafter als Gewinn ausschüttungsfähige Betrag und die Grenze der Kapitalerhaltung bei Kapitalgesellschaften (§§ 57 Abs. 3, 58

__________ 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 2 II 2b, § 29 II, IV, § 37 III, VI; Kleindiek in Kleindiek/Oehler (Hrsg.), Die Zukunft des deutschen Bilanzrechts im Zeichen internationaler Rechnungslegung und privater Standardsetzung, 2000, S. 1, 4 f.; Schön, ZGR 2000, 706, 725 ff.; Schulze-Osterloh, ZIP 2003, 93, 95; Hennrichs, StuW 2005, 256 ff.; ders., ZHR 170 (2006), 498, 517.

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Abs. 4, 62, 150 ff. AktG, §§ 29, 30, 31, 49 Abs. 3 GmbHG)2; durch Rechnungslegung geschieht in Gesellschaften zugleich Rechenschaftslegung der Geschäftsleitung gegenüber den Gesellschaftern3. Der Jubilar hat in der ihm eigenen ausdrucksstarken Art die Bedeutung des Bilanzrechts daher mit Recht hervorgehoben: Rechnungslegungsrecht ist „Voraussetzung eines funktionierenden Unternehmensprivatrechts“4; „was dem Laien wie ein trockenes und kompliziertes Recheninstrumentarium vorkommen mag, ist nicht nur ein – hoffentlich wahrheitsgetreues! – Porträt des Unternehmens, sondern auch Spiegelbild grundsätzlicher Macht- und Interessenlagen in der Gesellschaft.“5 Nicht von ungefähr ist die EG-Bilanzrichtlinie6, auf der das nationale Handelsbilanzrecht fußt, eine gesellschaftsrechtliche Richtlinie, die insbesondere im Zusammenhang mit der zweiten, der sog. Kapitalrichtlinie7, zu sehen ist8. Das nationale Handelsbilanzrecht ist gegenwärtig in der rechtspolitischen Diskussion. Nach Jahrzehnten relativer Ruhe ist nunmehr eine „große Bilanzrechtsreform“ geplant. Die Bundesregierung hat zu diesem Zweck kürzlich den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, im Folgenden kurz: BilMoG) vorgelegt9. Diese Bilanzrechtsreform hat erhebliche gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Anders als bei der Einführung der International Financial Reporting Standards (IFRS), die in Deutschland verpflichtend nur für den Konzernabschluss kapitalmarktorientierter Unternehmen und damit von einem zahlenmäßig recht überschaubaren Kreis von Unternehmen anzuwenden sind (vgl. Art. 4 der EG-IAS-Verordnung10 i. V. m. § 315a Abs. 1 HGB), betrifft die Bilanzrechtsmodernisierung mit den vorgesehenen Änderungen für den Jahresabschluss sämtliche bilanzierenden Kaufleute. Im Folgenden werden zunächst die Zielsetzung und die wesentlichen Schwerpunkte des BilMoG skizziert. Sodann sollen ausgewählte Grundsatzfragen des BilMoG-Entwurfs aus Sicht des Handels- und Gesellschaftsrechts gewürdigt werden: Brauchen wir überhaupt ein gesetzlich verpflichtendes Handelsbilanzrecht für alle Unternehmen? Sollten kleinere oder gar alle nicht-kapitalmarkt-

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2 Statt aller z. B. Priester, DB 2005, 1315, 1318; Hennrichs, Der Konzern 2008, 42 m. w. N. – Die gesellschaftsrechtliche und kapitalschützende Bedeutung des Jahresabschlusses kommt auch noch an anderen Stellen zum Ausdruck, so in §§ 92 Abs. 1, 300 f., 302, 324 Abs. 2 Satz 3 AktG; zutr. Schulze-Osterloh, ZIP 2003, 93, 95. 3 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 15 I 2; Schulze-Osterloh in Handbuch des Jahresabschlusses, Abt. I/1 (2/2007) Rz. 29 m. w. N. 4 Karsten Schmidt, HR (Fn. 3), § 15 I 1. 5 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), § 29 IV 1 b. 6 Richtlinie 78/660/EWG v. 25.7.1978, ABl. EG Nr. L 222 v. 14.8.1978, S. 11. 7 Richtlinie 77/91/EWG v. 13.12.1976, ABl EG Nr. L 26 v. 31.1.1977, S. 1. 8 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), § 2 II 2; Schulze-Osterloh in L. Schruff, Bilanzrecht unter dem Einfluß internationaler Reformzwänge, 1996, S. 123, 124 ff.; Schön, ZGR 2000, 706, 710; Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, 1999, S. 13 ff., 18 ff. 9 BT-Drucks. 16/10067 v. 30.7.2008; konzeptionelle Bemerkungen dazu z. B. Hommelhoff, ZGR 2008, 250 ff. 10 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002.

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orientierten Unternehmen von der handelsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflicht vielleicht ganz freigestellt werden? Empfiehlt sich eine Art „neue umgekehrte Maßgeblichkeit“ dergestalt, dass Steuerrechnungen (Steuerbilanz oder Einnahmen-Überschuss-Rechnung) auch für Zwecke des Handels- und Gesellschaftsrechts verwendet und auf eine eigenständige HGBBilanz ganz verzichtet wird? Ferner: Wie verhält sich das modernisierte HGBBilanzrecht zu den IFRS? Wirken letztere bei der Interpretation und zur Lückenfüllung in das HGB hinein?

II. Zielsetzung, Grundkonzeption und ausgewählte Schwerpunkte des BilMoG 1. Verbesserung des Informationsgehalts des HGB-Abschlusses Die Bilanzrechtsmodernisierung zielt darauf, das HGB-Bilanzrecht i. S. einer „vollwertigen, aber kostengünstigeren und einfacheren Alternative zu IFRS“ fortzuentwickeln und dauerhaft aufrecht zu erhalten11. Hintergrund ist die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die Bedeutung der IFRS zwar einerseits weltweit zunimmt und auch auf deutsche Unternehmen ein Reformdruck hin zu höherer Transparenz und verbesserter Information durch Rechnungslegung entsteht, dass aber andererseits doch auch viele Kaufleute in Deutschland die IFRS derzeit ablehnen. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) schätzen die IFRS als zu komplex ein, befürchten überproportional belastende Umstellungs- und fortlaufende Beratungskosten und empfinden die Angabepflichten als zu weit gehend12; zudem passen manche Standards (z. B. IAS 32 über die Eigenkapital-Fremdkapital-Abgrenzung) für weite Teile deutscher mittelständischer Personengesellschaften nicht13. Um es auch den Unternehmen, die nicht nach IFRS bilanzieren wollen, zu ermöglichen, eine Bilanz vorzulegen, die den Informationsbedürfnissen der Adressaten entspricht, soll der Informationsgehalt des HGB-Abschlusses verbessert werden. Zu diesem Zweck werden zum einen eine Vielzahl bisher gewährter bilanzieller Wahlrechte abgeschafft. Besondere Erwähnung verdienen hierbei die Abschaffung der sog. Willkürabschreibungen (bisher § 253 Abs. 4 HGB), der wahlweise erlaubten sog. Aufwandsrückstellungen (bisher § 249 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 HGB) und der sog. umgekehrten Maßgeblichkeit (bisher § 5 Abs. 1

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11 Begr. RegE S. 67, 71 und passim. 12 Vgl. Hennrichs, ZHR 170 (2006), 498 ff.; Kahle/Dahlke, DStR 2007, 313 ff.; Schildbach in Ebke/Luttermann/S. Siegel (Hrsg.), Internationale Rechnungslegungsstandards für börsenunabhängige Unternehmen?, 2007, S. 119 ff.; je m. w. N. 13 Vgl. auch Hommelhoff, ZGR 2008, 250, 263 ff. – Zu den sich aus IAS 32 ergebenden Schwierigkeiten s. z. B. Hennrichs, WPg 2006, 1253 ff.; Schubert, WM 2006, 1033 ff. Allerdings wurde der Standard jüngst vom IASB überarbeitet. Die Neufassung (IAS 32 rev. 2008) dürfte es vielen deutschen Personengesellschaften ermöglichen, die Gesellschaftereinlagen auch in einem IFRS-Abschluss als Eigenkapital auszuweisen (vgl. M. Schmidt, BB 2008, 434 ff. m. w. N.). Auch die Neuregelung ist freilich nicht über jeden (rechtlichen und ökonomischen) Zweifel erhaben. Das muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.

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Satz 2 EStG i. V. m. §§ 247 Abs. 3, 254, 279 Abs. 2, 280 Abs. 2, 281 HGB). Das alles ist uneingeschränkt zu begrüßen. Die Abschaffung von Wahlrechten entspricht einer im Schrifttum schon lange und vielfach erhobenen Forderung14 und war längst überfällig. Es waren gerade die vielen bilanziellen Wahlrechte, die das deutsche Handelsbilanzrecht in der internationalen Debatte ins Abseits gerückt haben. Zudem bescherten uns die Wahlrechte zweifelhafte gesellschaftsrechtliche Folgeprobleme. Beispielsweise die Fallgruppe des „ausgehungerten Minderheitsgesellschafters“, dessen handelsbilanzieller Gewinnanteil durch Ausnutzung von Wahlrechten künstlich nach unten gerechnet wird, um ihn aus der Gesellschaft zu drängen, haben eine Ursache in der Gestaltbarkeit der alten Handelsbilanzen. Hier muss das Gesellschaftsrecht reparieren (beispielsweise mit der gesellschaftsrechtlichen Treupflicht), was das Bilanzrecht angerichtet hat15. Zum anderen sieht das BilMoG einige neue Ansatz- und Bewertungsvorschriften vor, die nach dem Verständnis des Gesetzgebers ebenfalls der Verbesserung des Informationsgehalts der HGB-Bilanz dienen sollen. Hier zu erwähnen sind das Aktivierungsgebot für einen sog. derivativen Geschäfts- oder Firmenwert (§ 246 Abs. 1 Satz 4 HGB-E; bisher als Wahlrecht formuliert, § 255 Abs. 4 HGB), die Ansatzpflicht für selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens (Aufhebung des bisherigen § 248 Abs. 2 HGB) mit den Entwicklungskosten (§ 255 Abs. 2 Satz 4, Abs. 2a HGB-E)16, die Zeitwertbewertung von zu Handelszwecken erworbenen Finanzinstrumenten (§ 253 Abs. 1 Satz 3 HGB-E)17 und die Bewertung von (Pensions-)Rückstellungen mit ihrem abgezinsten18 Erfüllungsbetrag19 (§ 253 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 HGB-E). Schließlich sind verschiedene ergänzende Anhangsangaben vorgesehen (§ 285 HGB-E). Durch diese Neuregelungen geschieht eine punktuelle Angleichung des HGB-Bilanzrechts an die IFRS und soll insgesamt der Informationsgehalt des HGB-Abschlusses verbessert werden. Andererseits werden bestimmte, in Deutschland besonders kritisch beurteilte Regelungen der IFRS bewusst nicht in das HGB-Bilanzrecht übernommen. So sind beispielsweise gem. § 253 Abs. 3 Sätze 1 und 2 HGB-E Vermögensgegenstände des Anlagevermögens, deren Nutzung zeitlich begrenzt ist, entsprechend ihrer geschätzten betriebsindividuellen Nutzungsdauer planmäßig abzuschreiben. Das gilt auch für einen aktivierten Geschäfts- oder Firmenwert, der „als zeitlich begrenzt nutzbarer“ (!) Vermögensgegenstand „gilt“ (vgl. § 246

__________ 14 Stellvertretend Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372, 2378; Groh in FS Clemm, 1996, S. 175, 181; Hennrichs (Fn. 8), S. 4 ff., 74 ff., 434 ff.; Hommelhoff, ZGR 2008, 250, 252f.; Kropff in FS Baetge, 1997, S. 65, 89 f.; Schulze-Osterloh, ZIP 2004, 1128, 1129 ff.; je m. w. N. 15 Ein kennzeichnendes Beispiel für die Problematik ist BGH, WM 1996, 772 = WuB II F. § 166 HGB 1.96 Hennrichs; ferner z. B. Großfeld in FS Havermann, 1995, S. 183, 193. 16 Krit. hierzu Schulze-Osterloh in FS 100 Jahre Deloitte, 2008, S. 413, 415 f. m. w. N. 17 Dazu krit. Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 69 m. w. N. 18 Krit. zur Abzinsung von (ungewissen) Verbindlichkeiten, die keinen Zinsanteil enthalten, Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 70 m. w. N. 19 Insoweit zustimmend Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 70.

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Abs. 1 Satz 4 HGB-E), sowie für immaterielle Vermögensgegenstände. Der sog. impairment only approach der IFRS, wonach ein aktivierter Goodwill und immaterielle assets, deren Nutzungdsauer nicht vorhersehbar bestimmt werden kann, nicht planmäßig, sondern nur außerplanmäßig abgeschrieben werden dürfen (vgl. IFRS 3.54 f. für Goodwill; vgl. auch IAS 38.88 Satz 2, 38.107 f. i. V. m. IAS 36 für bestimmte immaterielle assets), wird damit bewusst nicht in das HGB-Bilanzrecht übernommen20. Ebenso bleibt etwa die Zeitwertbewertung auch im modernisierten HGB-Bilanzrecht auf eng umschriebene Ausnahmefälle beschränkt, nämlich auf zu Handelszwecken erworbene Finanzinstrumente, für die ein sog. aktiver Markt existiert (§ 253 Abs. 1 Satz 3 HGB-E)21. Für andere Finanzinstrumente und namentlich für Immobilien und sonstige Anlagegegenstände gelten, abweichend von den IFRS (vgl. IAS 38, IAS 39, IAS 40, IAS 41), nach wie vor das bewährte Anschaffungswert- und Realisationsprinzip, d. h. insoweit bilden die historischen Anschaffungs- oder Herstellungskosten bis zur Realisierung etwaiger stiller Wertsteigerungen (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) wie bisher die strikte Wertobergrenze für den Bilanzansatz (§ 253 Abs. 1 Satz 1 HGB)22. Die Beispiele, in denen das HGB-Bilanzrecht sich von den IFRS abhebt und eigene Wege geht, ließen sich fortsetzen. Gemeinsam ist diesen „deutschen Sondervorschriften“ die (zutreffende) Überlegung, dass in den fraglichen Fällen (impairment only approach, fair value-Trend u. a.) die IFRS-Lösungen nicht überzeugen, weil sie die Verlässlichkeit und Objektivierbarkeit der Rechnungslegung zu stark vernachlässigen, nämlich zu breite (faktische) Spielräume gewähren23. Schließlich unterscheidet sich das HGB-Bilanzrecht auch noch in einem weiteren wichtigen Aspekt von den IFRS, nämlich hinsichtlich der Regelungsdichte. Das BilMoG steht in der Tradition der kontinentaleuropäischen Gesetzgebung und belässt es bei der Normierung von abstrakt-generellen Vorschriften mit Prinzipiencharakter. Der Detaillierungsgrad der IFRS wird nicht angestrebt, im Gegenteil verzichtet der Entwurf in bewusster Abgrenzung zu den IFRS (oder gar den US-GAAP) auf allzu ausführliche Regeln zu konkreten Einzelaspekten, denn in der Regelungsdichte der IFRS wird offenbar eine entscheidende Schwäche der internationalen Standards, in der geringeren Komplexität und der Prinzipienorientierung des HGB ein Vorteil des tradierten Systems gesehen. Dem Vorschlag, Einzelfragen der Bilanzierung stärker als bisher im Gesetz- oder Verordnungswege zu regeln24, ist der Gesetzgeber einstweilen nicht oder nur sehr zurückhaltend gefolgt. Immerhin hat der Regierungsent-

__________ 20 Oser/Roß/Wader/Drögemüller, WPg 2008, 49, 51. Die Ablehnung des impairment only-Ansatzes für das HGB ist uneingeschränkt zu begrüßen, vgl. Kleindiek, BB 2001, 2572, 2574 ff.; Schulze-Osterloh in FS 100 Jahre Deloitte, 2008, S. 413, 422 f.; Hennrichs, NZG 2005, 783, 785. 21 Weitergehend aber §§ 340a Abs. 2, 340e Abs. 3 HGB-E für Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute. 22 Zust. und weiterführend Schulze-Osterloh in FS 100 Jahre Deloitte, 2008, S. 413, 419 ff. 23 Schulze-Osterloh in FS 100 Jahre Deloitte, 2008, S. 413, 415 ff. m. w. N. 24 Hennrichs, S:R 2008, 64 f.; ders., DB 2008, 537 f.; a. A. Dettmeier, S:R 2008, 66.

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wurf gegenüber dem Referentenentwurf im Bereich der immateriellen Vermögensgegenstände einige wünschenswerte zusätzliche Regeln aufgenommen (neu gegenüber dem ersten Entwurf sind § 248 Nr. 4 und § 255 Abs. 2a HGB-E). Der bilanzielle Grundbegriff des „Vermögensgegenstandes“ soll aber nach wie vor nicht gesetzlich definiert werden, sondern der Entwicklung von Rechtsprechung, Wissenschaft und Praxis überlassen bleiben. Diese Zurückhaltung des Gesetzgebers ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Hommelhoff/ Schwab haben zutreffend betont, dass mit der Begriffsbestimmung des Vermögensgegenstandes eine grundlegende bilanzrechtliche Weichenstellung verbunden ist, die Aufgabe des Gesetzgebers ist25. Es bleibt abzuwarten, wie das Verhältnis von Prinzipien und Regeln sich im Bilanzrecht künftig entwickeln wird. Im Gesamtbild versucht das BilMoG damit einen mutigen eigenen Weg: Einerseits soll der HGB-Abschluss (mindestens) so informativ wie ein IFRS-Abschluss werden. Andererseits sollen die Fehlentwicklungen, die nach Ansicht des Gesetzgebers in den IFRS zu kritisieren sind, vermieden werden und will der Gesetzgeber formal wie inhaltlich an bewährten, tradierten Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung festhalten. Diese Grundaussage des BilMoG ist rechtspolitisch uneingeschränkt zu begrüßen26. Im Ergebnis könnte so sogar ein im Vergleich zu den IFRS „besseres“ HGB-Bilanzrecht entstehen, weil bei mindestens gleichem Informationswert die Verlässlichkeit der Rechnungslegung nach HGB größer ist als nach IFRS und im Übrigen die Regulierungsdichte der IFRS vermieden wird. 2. Beibehaltung des HGB-Bilanzrechts als Grundlage für die Ausschüttungsund Steuerbemessung Die Bilanzrechtsmodernisierung ist noch durch zwei weitere rechtspolitische Grundentscheidungen gekennzeichnet: Erstens bleibt es dabei, dass das HGBBilanzrecht der gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsbemessung und -begrenzung den rechnungsmäßigen Bezugspunkt liefert. Der Gesetzgeber hält an dem tradierten System des bilanzgestützten Kapitalschutzes mit Verknüpfung zum HGB-Bilanzrecht fest. Auch das verdient grundsätzlich Unterstützung27. Grundlage für die gesellschaftsrechtliche Ausschüttungsbemessung sind damit nach wie vor die HGB-Zahlen, und zwar auch bei Unternehmen, die einen IFRS-Konzernabschluss erstellen oder in einen solchen eingebunden sind. Ein befreiender IFRS-Jahresabschluss ist im BilMoG nicht vorgesehen. Sogar die im Referentenentwurf noch enthaltene Vorschrift des § 264e HGB-E, die für IFRS-Bilanzierer eine (sehr bescheidene) Erleichterung hätte bringen sollen, ist im Regierungsentwurf wieder gestrichen worden. Für IFRS-Bilanzierer bleibt es daher einstweilen bei der Notwendigkeit, im Jahres- und im Konzernab-

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25 Hommelhoff/Schwab in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2002, § 342 HGB Rz. 92. 26 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 152; Oser/Roß/Wader/Drögemüller, WPg 2008, 49, 50; Oser, BB 2008, Heft 24, Die Erste Seite. 27 Vgl. Hennrichs, ZGR 2008, 361, 366 ff.

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schluss unterschiedliche Bilanzrechtssysteme (IFRS vs. HGB) zu befolgen. Ob dies auch mittelfristig die einzig denkbare Lösung ist oder IFRS-Bilanzierern unter bestimmten Voraussetzungen nicht vielleicht doch ein optional befreiender IFRS-Einzelabschluss erlaubt werden kann, wird weiter zu diskutieren sein. Darauf ist am Ende kurz einzugehen (unter V.). Zweitens hält das BilMoG an der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die steuerliche Gewinnermittlung fest (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG). Zwar wird, wie angedeutet, die sog. umgekehrte Maßgeblichkeit (bisher § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG) abgeschafft; steuerliche Wahlrechte schlagen damit künftig nicht mehr in die Handelsbilanz zurück, sondern können bei der steuerlichen Gewinnermittlung unabhängig vom Wertansatz im HGB-Abschluss ausgeübt werden. Im Übrigen bleibt es aber einstweilen dabei, dass das steuerliche Betriebsvermögen weiterhin nach den handelsrechtlichen GoB auszuweisen ist. Ob dieser sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz auch mittelfristig noch Bestand haben wird, ist freilich wiederum eine andere Frage. Auch hierauf ist am Ende (unter V.) kurz einzugehen.

III. Notwendigkeit eines HGB-Bilanzrechts für alle Unternehmen? 1. Ausgangspunkt: Vielfalt der zu befolgenden Bilanzrechtssysteme Eine erste Grundfrage, die das BilMoG aufwirft, ist, ob es überhaupt einer gesetzlich verpflichtend angeordneten handelsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflicht für alle Unternehmen bedarf. Das geltende Recht ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt der Bilanzrechtssystem, die von deutschen Unternehmen zu beachten sind: Neben den Jahresabschluss nach HGB tritt zum einen die sog. Steuerbilanz. Diese kann zwar, wie angedeutet, (theoretisch) aus der Handelsbilanz abgeleitet werden (Maßgeblichkeitsgrundsatz, § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG, s. o.). Praktisch bestehen aber heute so zahlreiche steuerliche Sondervorschriften (z. B. §§ 5 Abs. 2a bis 4b, 6, 6a EStG usw.), dass in beträchtlichem Umfang steuerlich induzierte Korrekturen notwendig werden. Durch das BilMoG kommen neue Durchbrechungen der Maßgeblichkeit hinzu (insbes. § 6 Abs. 2 Nr. 3a Buchst. f EStG-E), was die Einheitsbilanz („Handelsbilanz = Steuerbilanz“) weiter erschwert oder gar unmöglich macht. Für Unternehmen, die einen IFRS-Konzernabschluss erstellen oder in einen solchen eingebunden sind, kommen zum anderen die IFRS als weiteres Bilanzrechtssystem hinzu. Das betrifft (verpflichtend) zum einen kapitalmarktorientierte Mutterunternehmen (Art. 4 der EG-IAS-VO, vgl. auch § 315a Abs. 1 und 2 HGB), darüber hinaus aber auch alle Tochterunternehmen, die in einen IFRSKonzernabschluss einbezogen sind, denn diese müssen im Zuge der Konsolidierung IFRS-kompatible Zahlen an das Mutterunternehmen „nach oben geben“, so dass auch für diese Unternehmen die Aufgabe besteht, neben dem HGB (für den Jahresabschluss) die IFRS (für die sog. „HB II“ im Zuge der Konsolidierung28) zu beachten.

__________ 28 Dazu anschaulich Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, 3. Aufl. 2007, Rz. 3080 ff., 3230 f.

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Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl der zu beachtenden Bilanzrechtssysteme liegt die Frage nahe, ob es nicht Möglichkeiten zur Deregulierung gibt. 2. Befreiung „kleiner“ Kaufleute und Gesellschaften von der HGB-Bilanzierungspflicht? a) Das ökonomische Modell Eine theoretisch denkbare Alternative wäre es, bestimmte oder gar alle nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen von der HGB-Bilanzierungspflicht ganz freizustellen29. Diese Unternehmen müssten dann nur noch eine Steuerbilanz oder eine steuerliche Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG erstellen. Für handelsrechtliche Zwecke könnten sie dann entweder ebenfalls diese Steuerrechnungen einsetzen30. In der Sache wäre das eine Art „neue umgekehrte Maßgeblichkeit“, nämlich Maßgeblichkeit der allein noch zu erstellenden Steuerrechnung auch für handelsrechtliche Zwecke. Oder sie würden für handelsrechtliche Zwecke gemäß privatautonom zu bestimmenden Bilanz- oder Überschussregeln abrechnnen, d. h. die Rechnungslegung würde der Vereinbarung zwischen den Gesellschaftern und/oder der Gestaltung zwischen der Gesellschaft und ihren Gläubigern überlassen. Das BilMoG greift diese Überlegungen ein Stück weit auf, will nämlich kleine Einzelkaufleute (nicht mehr als 500.000.– Euro Umsatz und 50.000.– Euro Jahresüberschuss) von der handelsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflicht befreien (§§ 241a, 242 Abs. 4 HGB-E). Die ursprünglich im Referentenentwurf noch vorgesehene Befreiung auch von kleinen Personengesellschaften wurde im Regierungsentwurf (zu Recht) fallengelassen; für Gesellschaften soll daher auch weiterhin die handelsrechtliche Buchführungs- und Bilanzierungspflicht größenunabhängig gelten. b) Wider eine „neue umgekehrte Maßgeblichkeit“ von Steuerrechnungen für handelsrechtliche Zwecke Der Gedanke, auf eine HGB-Bilanz für kleinere oder sogar für alle nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen künftig ganz zu verzichten und stattdessen auch für handelsrechtliche Zwecke die Steuerrechnungen zu verwenden, sollte jedenfalls unter den gegenwärtig geltenden steuerrechtlichen und steuerpolitischen Bedingungen nicht umgesetzt werden. Die „real existierende“ Steuerbilanz, also die Steuerbilanz, die den heutigen steuerlichen Vorschriften entspricht, kann die handelsrechtlichen Bilanzfunktionen nicht adäquat erfüllen. Erst recht gilt dies für die Einnahmen-Überschuss-Rechnung gem. § 4 Abs. 3 EStG:

__________ 29 In diese Richtung geht der Vorschlag von Lenz, BB 2007, Heft 39, S. I; vgl. auch Herzig, DB 2008, 1, 2; Fülbier/Gassen, DB 2007, 2605, 2607. 30 So in der Tat Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., BB 2008, 994; ferner Friedrichs, BB 2007, 2508, 2509.

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Bereits im Hinblick auf die Informationsfunktion der Handelsbilanz des Einzelkaufmanns sind Steuerrechnungen unzureichend. Zur Entlastung der kleineren Einzelkaufleute empfiehlt die Begründung zum BilMoG die EinnahmenÜberschuss-Rechnung nach dem Vorbild des § 4 Abs. 3 EStG31. Daraus sind aber beispielsweise Forderungen und Verbindlichkeiten nicht verlässlich ersichtlich. Damit geht ein Stück weit Selbstinformation des Kaufmanns verloren, was sich ökonomisch nachteilig auswirken kann32, und zwar sowohl für den Kaufmann selbst als auch, in seiner Folge, für seine Gläubiger33. Verlässt sich der Kaufmann nämlich allein auf die Einnahmen-Überschuss-Rechnung und führt er keine Bücher mehr, so besteht die Gefahr, dass er Forderungen nicht rechtzeitig geltend macht und Verbindlichkeiten nicht zeitgerecht erfüllt34. Vollends fragwürdig wird die Aufgabe der HGB-Bilanz für Gesellschaften. Wie Huber zu Recht betont hat, weist die „Gesellschaftsbilanz“ gegenüber der „allgemeinen Bilanz“ des Einzelkaufmanns die Besonderheit auf, dass „die Gesellschaftsbilanz nicht nur eine […] ‚Informationsfunktion‘ im Interesse der Allgemeinheit zu erfüllen hat, sondern zugleich eine ‚Abrechnungsfunktion‘ im Interesse der einzelnen Gesellschafter.“35 In Rede steht insbesondere die Gewinnverteilung unter die Gesellschafter. Darüber hinaus geht es in der Gesellschaftsbilanz um Rechenschaftslegung durch Rechnungslegung. Schließlich dient die Gesellschaftsbilanz bei Kapitalgesellschaften, wie angedeutet, als buchmäßige Grundlage für das Kapitalerhaltungssystem, d. h. auf der Grundlage der Bilanz werden die gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungsgrenzen ermittelt. Ähnliches gilt wegen § 172 Abs. 4 HGB bei Kommanditgesellschaften für die Prüfung des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung36. All diese Funktionen können die real existierenden Steuerrechnungen nicht adäquat erfüllen, und zwar weder eine Steuerbilanz noch – erst recht – eine Einnahmen-Überschuss-Rechnung: Das geltende Steuerbilanzrecht ist in vielfältiger Weise mit Vorschriften durchsetzt, die nicht auf die realitätsgerechte Abbildung der wirtschaftlichen Leistung des Unternehmens abzielen, sondern die allein fiskalpolitisch moti-

__________ 31 Begr. RegE S. 101. 32 Vgl. Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 152, 155; Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 71; ders., FAZ v. 30.10.2007, S. 8 (Leserbrief); ebenso Stellungnahme des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) zum BilMoG, abrufbar unter http://www.idw.de/idw/portal/d427410/index.jsp (zuletzt abgerufen am 30.5.2008). 33 Zur Gläubigerschutzfunktion der Rechnungslegung zutr. Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 71; ders. in Handbuch des Jahresabschlusses, Abt. I/1 (2/2007) Rz. 28; ferner z. B. Hüffer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 2002, Vor § 238 HGB Rz. 1, § 238 HGB Rz. 2 f.; Schubert, Der Ansatz von gewissen und ungewissen Verbindlichkeiten in der HGB-Bilanz, 2007, S. 11 ff. 34 Zutr. Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 71. 35 Huber, Vermögensanteil, Kapitalanteil und Gesellschaftsanteil an Personalgesellschaften des Handelsrechts, 1970, S. 336. 36 BGHZ 109, 334, 339 ff.; Schulze-Osterloh in Handbuch des Jahresabschlusses, Abt. I/1 (2/2007) Rz. 29.

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viert sind. Das gilt zum einen für wirtschafts-, sozial-, umwelt- oder sonstwie politisch motivierte Lenkungsnormen. Solche steuerlichen Subventionsvorschriften wollen gewissermaßen per definitionem nicht die unternehmerischen Verhältnisse sachgerecht erfassen37. Sie verfälschen das Bilanzbild im Widerspruch zur tatsächlichen ökonomischen Lage. Das vom Jubilar zu Recht geforderte „wahrheitsgetreue Porträt des Unternehmens“38 haben solche steuerlichen Subventionsvorschriften nicht im Sinn. Dasselbe gilt aber auch für eine große und wachsende Zahl der Durchbrechungen der Maßgeblichkeit, die sich in §§ 5, 6, 6a ff. EStG finden. Beispielsweise hat die Bewertung von Pensionsrückstellungen gem. § 6a EStG mit der tatsächlichen ökonomischen Belastungssituation wenig bis nichts zu tun; die Wertansätze zu den Pensionsrückstellungen in den Steuerbilanzen sind gemessen an dem realistisch zu erwartenden Erfüllungsbetrag deutlich zu niedrig39. Ebenso ist das Verbot von Drohverlustrückstellungen in der Steuerbilanz (§ 5 Abs. 4a EStG) nicht steuersystematisch begründet, sondern allein fiskalpolitisch motiviert40. Die Abzinsung von Rückstellungen in der Steuerbilanz entspricht aufgrund des typisierten Zinssatzes (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e EStG) und der Ausblendung künftiger Preis- und Lohnentwicklungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. f EStG-E) gleichfalls nicht der realitätsgerecht zu erwartenden Belastungssituation. Die Beschränkung der sog. Teilwertabschreibungen im Umlaufvermögen auf Fälle voraussichtlich dauernder Wertminderung (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG) ist sachwidrig, weil das Umlaufvermögen gerade nicht langfristig gebunden ist. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Moxter spricht in diesem wie in anderen Fällen treffend von einem „fiskalischen Beutezug“ des Steuergesetzgebers41. Soll eine solcherart steuerpolitisch verfälschte Steuerbilanz wirklich den Bezugspunkt für die gesellschaftsrechtliche Abrechnung und Rechenschaftslegung bilden? Ich halte das für keine empfehlenswerte Lösung. Zwar mag in einer theoretischen Modellwelt die Steuerbilanz die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens sachgerecht abbilden. Wenn es einen prinzipienund systemorientierten Steuergesetzgeber gäbe, dann gäbe es eine „ideale“ Steuerbilanz, die dann auch für handelsrechtliche Zwecke taugen könnte. Aber in der realen Welt ist das gegenwärtig geltende Steuerbilanzrecht von diesem Ideal weit entfernt. Die steuerpolitischen Einflüsse und Begehrlichkeiten haben bereits auf das Steuerbilanzrecht keine segensreiche Wirkung entfaltet. Eine ökonomisch falsche Steuerbilanz auch noch in das Handels- und Gesellschaftsrecht hinein zu verlängern, ist nicht erstrebenswert.

__________ 37 Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DStR 2008, 1057, 1058. 38 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), § 29 IV 1 b. 39 Zutr. Herzig, DB 2008, 1, 8; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 17 Rz. 117 („fiskalisch motiviert“); Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 42 GmbHG Rz. 425. 40 Mit Recht kritisch Moxter, DB 1997, 1477, 1478; ferner Hey in Tipke/Lang (Fn. 39), § 17 Rz. 114; Goutier/K.-F. Müller, BB 1997, 2242, 2245. 41 Moxter, DB 1997, 1477, 1478.

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Keinesfalls adäquat ist das gegenwärtige Steuerbilanzrecht für die Bemessung von kapital- und gläubigerschützenden Ausschüttungen. Die skizzierten Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, vor allem die steuerlichen Sondervorschriften hinsichtlich Ansatz und Bewertung von Rückstellungen, bewirken in ihrer Mehrzahl, dass die Belastungssituation der Gesellschaften nicht den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend abgebildet und der steuerbilanzielle Gewinn tendenziell zu hoch ausgewiesen wird. Das ist bereits steuerrechtlich zu kritisieren, führt nämlich zu einer Übermaßbesteuerung. Würde eine solche Steuerbilanz für den Zweck der handelsrechtlichen Ausschüttungsbemessung maßgeblich, wäre der – gemessen an der tatsächlichen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage – zu hohe Gewinn ausschüttungsfähig. Es ginge ein Stück weit „bilanzieller Puffer“ verloren, das gegenwärtig geltende Gläubigerschutzniveau würde dadurch nach unten verschoben. Wollte man das verhindern, könnte der Handelsgesetzgeber zwar mit „Durchbrechungen der neuen umgekehrten Maßgeblichkeit“ reagieren, also einzelne steuerliche Vorschriften, die einen zu hohen Gewinnausweis bewirken, durch „handelsrechtliche Ansatz- und Bewertungsvorbehalte“ flankieren. Das Ergebnis wäre aber eine „verkehrte Welt“, nämlich die Beibehaltung des gegenwärtigen Zustandes, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Das ist nicht zu empfehlen. Erst recht ungeeignet zur sachgerechten Erfüllung der handelsrechtlichen Bilanzierungszwecke ist eine steuerliche Einnahmen-Überschuss-Rechnung. Zum einen erfasst diese Rechnung nicht das nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erzielte Vermögen und Ergebnis42. Namentlich werden, wie angedeutet, keine Forderungen und Verbindlichkeiten abgebildet. Zum anderen eröffnet die Überschussrechnung aufgrund der grundsätzlichen Orientierung an Geldströmen, die verschoben werden können (z. B. Kauf von Umlaufvermögen vor dem Stichtag), vielfältige Manipulationsspielräume43. Schließlich und vor allem „fehlen“ in dieser Rechnung die Rückstellungen44. Rückstellungen sind zu bilden für zwar ungewisse, aber wahrscheinliche Schulden (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB). Diese Lasten sind wesentlich für alle Funktionen der Gesellschaftsbilanz45: Selbstinformation der Gesellschaft, Abrechnung unter und Rechenschaft gegenüber den Gesellschaftern, gläubigerschützende Ausschüttungsbemessung – all das ist ohne Berücksichtigung von Rückstellungen nicht sachgerecht zu leisten. c) Zweifelhafter Nutzen einer gesetzlichen Deregulierung wegen notwendiger vertraglicher Regulierung Würde der Gesetzgeber Gesellschaften von der handelsrechtlichen Buchführungspflicht befreien, so wären mithin jedenfalls vertragliche Abrechnungs-

__________ 42 43 44 45

Zutr. Schulze-Osterloh, DStR 2008, 63, 72. Dazu z. B. Kersting, BB 2008, 790, 791. Darauf weist mit Recht Kersting, BB 2008, 790, 795, hin. Vgl. Schubert (Fn. 33), S. 29 ff.

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regeln für das Innenverhältnis zwischen den Gesellschaftern erforderlich. Die gegenwärtig geltenden gesetzlichen Vorschriften müssten durch gesellschaftsvertragliche Regeln substituiert werden. Hierzu müssten Tausende Gesellschaftsverträge angepasst werden. Ob das unter dem Strich die erhoffte Deregulierung bewirken und einen rechtsökonomischen Fortschritt bedeuten würde, erscheint doch eher fraglich. Zudem bliebe, was das Außenverhältnis angeht, abzuwarten, ob Gläubiger sich wirklich allein mit Steuerrechnungen und/oder gesellschaftsvertraglich vereinbarten Abrechnungsregeln zufrieden geben würden. Denkbar wäre auch, dass verhandlungsstarke Gläubiger in den Kreditverträgen Bilanzierungs- und Ausschüttungsklauseln (sog. covenants) verlangen und durchsetzen würden. Das wäre eine Art „schuldrechtliche Simulation“ der derzeit im Gesetz zu findenden Vorschriften46. Sollte eine solche Entwicklung eintreten, könnten die Folgekosten die erwarteten Einsparungen aus dem Wegfall der Buchführungs- und Bilanzierungspflicht sogar übersteigen47. d) Neue Einheitsbilanz nach Maßgabe des modernisierten Handelsbilanzrechts Wenn man also den Unternehmen Aufwand ersparen und der Idee der Einheitsbilanz wieder näher treten will48, dann sollte dies nicht durch einen Verzicht auf die Handelsbilanz unternommen werden, sondern anzusetzen ist bei der Steuerbilanz. Es gilt, die überbordenden und systematisch angreifbaren steuerlichen Sondervorschriften auf ein Mindestmaß zurückzuschneiden, damit die Steuerbilanz wieder mittels einfacher Überleitungen aus der HGBBilanz abgeleitet werden kann. Das modernisierte Handelsbilanzrecht bietet hierfür eine gute Grundlage. Namentlich durch die Abschaffung der Wahlrechte und die Änderungen im Bereich der Herstellungskostenbewertung rückt das HGB näher an das Steuerrecht heran. In den übrigen Bereichen, namentlich bei den Rückstellungen, sollte umgekehrt das Steuerrecht wieder näher an das Handelsrecht rücken. 3. Reduzierung der Offenlegungspflichten Eine ganz andere Frage ist es, ob die gegenwärtigen gesetzlichen Offenlegungspflichten zu weit gehen. In der Tat kann man Zweifel haben, ob die (elektronische) Offenlegung des Jahresabschlusses einer GmbH mit wenigen gleichberechtigten Gesellschaftern und einer kreditgebenden Hausbank wirklich Nutzen stiftet49. Jedenfalls entsteht das Problem des Geheimnisschutzes, und das

__________ 46 Schön, ZGR 2000, 706, 727; Merkt, ZGR 2004, 305, 313, 318 f. 47 So auch IDW (Fn. 32), S. 4; vgl. ferner Hennrichs, StuW 2005, 256, 260; Rammert, BFuP 2004, 578, 589; Watrin, Internationale Rechnungslegung und Regulierungstheorie, 2001, insbes. S. 203 ff. 48 Dazu z. B. Arbeitskreis „Externe Unternehmensrechnung“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., DB 2003, 1585, 1587 f., wo ein „Einheitsabschluss“ gefordert wird. 49 Zutr. Fülbier/Gassen, DB 2007, 2605, 2607.

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um so schärfer, je mehr und je detailliertere Informationen das Bilanzrecht verlangt. Wenn beispielsweise von nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen in manchen anderen Staaten (dem Vernehmen nach insbes. in den USA) praktisch keine Informationen zu erlangen sind, umgekehrt aber die ausländische Konkurrenz deutsche mittelständische Unternehmen „elektronisch durchleuchten“ kann, dann können Wettbewerbsnachteile zu Lasten der deutschen Unternehmen entstehen. Zwar wird Offenlegung nach tradierter Auffassung als Korrelat der Marktteilnahme in haftungsbeschränkter Rechtsform (Kapitalgesellschaft und Kapitalgesellschaften & Co) und als Gebot des Gläubigerschutzes verstanden50. Ob aber hinsichtlich der Publizitätsanforderungen Aufwand und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Hier sollten das europäische und nationale Recht nochmals überprüft werden.

IV. Künftiges Verhältnis des HGB-Bilanzrechts zu den IFRS 1. BilMoG als „Frontalangriff“ auf die bewährten GoB? Eine weitere Grundfrage, die das BilMoG aufwirft, betrifft das künftige Verhältnis des HGB-Bilanzrechts zu den IFRS. Wie angedeutet, wird das modernisierte HGB-Bilanzrecht sich in mancherlei Hinsicht den IFRS annähern. Beispielsweise sollen auch nach HGB künftig selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens aktiviert werden, ebenso aktive latente Steuern und ein derivativer Geschäfts- oder Firmenwert. Das entspricht im Ausgangspunkt den IFRS. Außerdem sind zu Handelszwecken erworbene Finanzinstrumente künftig auch im HGB-Abschluss mit einem höheren Zeitwert anzusetzen. Das erinnert ebenfalls an IFRS. Ferner sollen nach modernisiertem HGB Rückstellungen unter Berücksichtigung künftiger Preisund Lohnsteigerungen und abgezinst auf den Barwert bewertet werden, was ebenfalls im Ausgangspunkt den IFRS entspricht. Die rechtspolitische Beurteilung dieser Entwicklung ist durchaus unterschiedlich. In der Literatur wird teilweise ein „Frontalangriff auf die GoB“ und ein „Verzicht auf […] Grundfeste“ des gewachsenen Bilanzrechtssystems kritisiert51. Umgekehrt geht anderen die Modernisierung des HGB-Bilanzrechts und die Annäherung an IFRS nicht weit genug. Die verbleibenden Unterschiede zwischen modernisiertem HGB und IFRS werden als neue Belastungen für IFRS-Bilanzierer kritisiert52.

__________ 50 Vgl. EuGH v. 23.9.2004 – C-435/02, BB 2004, 2456 m. Anm. Schulze-Osterloh; grdl. Merkt, Unternehmenspublizität – Offenlegung von Unternehmensdaten als Korrelat der Maktteilnahme, 2001, S. 249 ff., 332; ferner Schulze-Osterloh in Baumbach/ Hueck (Fn. 39), § 41 GmbHG Rz. 191 f.; je m. w. N. 51 Vgl. Wüstemann, BB 2007, Heft 47, S. I; Zülch, StuB 2007, Heft 22 S. I. 52 Vgl. in diese Richtung Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., BB 2008, 994 ff.

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Nach meinem Eindruck ist mit dem BilMoG kein Fundamentalangriff auf das bewährte GoB-System verbunden53. Zwar ist es richtig, dass das modernisierte HGB-Bilanzrecht sich in manchen Bereichen den IFRS annähert. Aber diese Annäherungen bleiben doch eher behutsam und punktuell, sie erfolgen differenziert54, und sie sind vielfach zusätzlich mit gesellschaftsrechtlichen Ausschüttungssperren versehen, wodurch der Spagat zwischen verbesserter Information und Wahrung des erreichten Gläubigerschutzniveaus versucht wird. Vor allem aber geht das HGB, wie skizziert, in vielen Fragen durchaus eigene Wege und verweigert den IFRS-Lösungen gewissermaßen ausdrücklich die Gefolgschaft. Erinnert sei an die Goodwill-Bilanzierung (nach HGB kein impairment only), an die Beschränkung der Fair Value-Bewertung auf einen eng umgrenzten Kreis von Finanzinstrumenten, an den „eigenen Weg“ bei der Bewertung von Pensionsrückstellungen, an die Ablehnung der Teilgewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung55 u. a. m. Im Gesamtbild ist daher doch sehr deutlich: das HGB-Bilanzrecht will kein „IFRS-Klon“, sondern eine eigenständige, voll- und gleichwertige Alternative zu den IFRS sein. Die Begründung zum Regierungsentwurf betont denn auch ausdrücklich, dass die „maßvolle Annäherung der handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften an die IFRS […] nicht in die Aufgabe der bisherigen handelsrechtlichen Bilanzierungsprinzipien“ mündet56; vielmehr bleiben „die bisher bestehenden handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung […] weiterhin gültig“; „insbesondere behalten das Vorsichtsprinzip, das Realisationsprinzip und das Stichtagsprinzip ihre bisherige Bedeutung. Einige der im Gesetzesentwurf enthaltenen Vorschriften werden lediglich punktuell anders gewichtet“57. Eine interessante Frage der künftigen Bilanzrechtsentwicklung wird es sein, ob die punktuell veränderte Gewichtung der HGB-Vorschriften und die Stärkung der Informationsfunktion im Jahresabschluss zu einer graduellen Neujustierung der GoB führen wird58. In diesem Zusammenhang könnte beispielsweise die Frage der Teilgewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung neu diskutiert werden. Vom Gesetzgeber gewollt ist das nach meinem Verständnis nicht. In dem genannten Beispiel der langfristigen Fertigung ist, wie angedeutet, laut Begründung zum BilMoG eine Aufweichung des bisher strikten Verständnisses des Realisationsprinzips gerade nicht beabsichtigt. Gleichwohl wird man die weitere Entwicklung abwarten müssen.

__________ 53 Ebenso Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2008, 209, 211; ferner Hennrichs, DB 2008, 537 f.; Oser, BB 2008, Heft 24, Die Erste Seite. 54 So stimmt die vorgesehene Aktivierungspflicht für selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens nach HGB mit den vergleichbaren Regeln der IFRS (IAS 38 und IFRS 3) bei näherem Zusehen nicht völlig überein, vgl. Hennrichs, DB 2008, 537 ff. 55 So jedenfalls die Begr. RegE S. 81; ferner Schulze-Osterloh in FS 100 Jahre Deloitte, 2008, S. 413, 417 f. 56 Begr. RegE S. 71. 57 Begr. RegE S. 73. 58 So namentlich Herzig, DB 2008, 1; zur Problematik s. auch Stibi/Fuchs, DB 2008, Beil. 1, 6; Kahle/Günter in Schmiel/Breithecker, Steuerliche Gewinnermittlung nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2008, S. 69, 88 ff.

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2. Keine interpretatorische Einstrahlung der IFRS in das HGB Mit Vorstehendem hängt eine weitere, mehr methodische Frage zusammen: wie ist das modernisierte HGB-Bilanzrecht künftig auszulegen und anzuwenden? Unter Hinweis auf die Annäherungen des HGB an die IFRS reden erste Stimmen in der Literatur der These „IFRS als künftige Auslegungsgrundlage für das HGB“ das Wort59. Das könnte eine „schleichende Unterwanderung“ des HGB zur Folge haben, gleichsam eine Einstrahlung der „IFRS durch die Hintertür“. Beispielsweise könnte die Praxis versucht sein, bei der Bilanzierung von immateriellen Vermögensgegenständen zur Vermeidung von Differenzen zwischen HGB- und IFRS-Rechnungslegung sich an IAS 38 und IFRS 3 zu orientieren. Weitere mögliche „Felder“ einer IFRS-geprägten Interpretation des HGB könnten Fragen der Abschreibung von Sachanlagen60, der Zurechnung, der Ertragsrealisation u. a. m. sein. Ein verpflichtender interpretatorischer Rückgriff auf die IFRS bei Auslegungsfragen oder Lücken des HGB ist indessen abzulehnen61. Die Begründung zum Regierungsentwurf des BilMoG macht (nunmehr62) unmissverständlich deutlich, dass „die Auslegung der handelsrechtlichen Vorschriften weiterhin im Lichte der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zu erfolgen“ hat, „letztlich also aus den eigenen handelsrechtlichen Wertungen heraus“63. Das entspricht der gewollten Eigenständigkeit des HGB-Bilanzrechts: Das HGB will, wie dargelegt, kein „IFRS-Klon“ sein, sondern eine eigenständige Alternative zu den IFRS bieten. Die Wahrung des eigenständigen Charakters des HGB-Bilanzrechts und seine Stärkung im Wettbewerb der Bilanzsysteme, sind Kernanliegen des BilMoG-Entwurfs64. Die gewollte Eigenständigkeit des HGB-Bilanzrechts darf nicht „auf kaltem Wege“ durch eine interpretatorische Einstrahlung der IFRS in das HGB unterlaufen werden65. Zu einer anderen Beurteilung gibt auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache BIAO66 keinen Anlass. Entgegen einem mitunter geäußerten Missverständnis67 hat der EuGH in dieser Entscheidung keineswegs die IFRS zur allgemeinen Grundlage für die Füllung von Regelungslücken oder für die

__________ 59 Köster, BB 2007, 2791 f.; vgl. auch Fülbier/Gassen, DB 2007, 2605. 60 Vgl. Mujkanovic/Raatz, KoR 2008, 245. 61 Vgl. bereits Hennrichs, DB 2008, 537, 538; ebenso Stibi/Fuchs, DB 2008, Beil. 1, 6, 7 ff., 13. 62 Die Begründung zum Referentenentwurf war in diesem Punkt noch unklar. 63 Begr. RegE S. 74. 64 Vgl. Begr. RegE S. 67, 71 und passim. 65 Ebenso i. E. IDW (Fn. 32), S. 3, wonach die nur punktuelle Angleichung des HGB an die IFRS nicht dahin missverstanden werden darf, „dass die Auslegung handelsrechtlicher Normen künftig nur unter Zuhilfenahme der IFRS möglich“ wäre. 66 EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BB 2003, 355 = DStR 2003, 67. 67 Besonders unglücklich FG Hamburg, BB 2004, 1220; dagegen mit Recht BFH, BB 2005, 483 m. Anm. Schulze-Osterloh, 488; dem Missverständnis unterliegen jüngst wieder Mujkanovic/Raatz, KoR 2008, 245 und 250.

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Auslegung des europäisierten Bilanzrechts erhoben68. Der Gerichtshof hat vielmehr lediglich judiziert, dass in Ermangelung von Detailregelungen der Richtlinie die Bilanzierung und Bewertung „nach dem nationalen Recht (!) vorzunehmen“ ist; hierbei, d. h. bei der Anwendung des nationalen Rechts, könnten „gegebenenfalls“ die IFRS berücksichtigt werden69. Da die Richtlinien sich nach der Rechtsprechung des EuGH darauf beschränken, allgemeine Grundsätze aufzustellen, und sie keine detaillierten Regeln zu allen denkbaren Einzelfragen der Rechnungslegung enthalten70, können Auslegungsfragen und Lücken entstehen. Solche Fragen sind sodann „nach dem nationalen Recht“ zu beantworten, wobei hierbei einerseits die in den Bilanzrichtlinien aufgestellten allgemeinen Grundsätze „stets“ und „uneingeschränkt“ zu beachten sind71, andererseits „gegebenenfalls“ außerdem die IFRS Berücksichtigung finden können. An diesen Formulierungen wird deutlich, dass die Einstrahlung der IFRS bei der Auslegung und Lückenfüllung nicht auf der Ebene der Bilanzrichtlinien erfolgt, sondern bei der Anwendung des nationalen Rechts, und auch insoweit nur „gegebenenfalls“, d. h. wenn und soweit das nationale Recht eine solche Einstrahlung will. Zwar geht der EuGH davon aus, „dass sich die nationalen Praktiken im Laufe der Jahre tendenziell immer stärker internationalen Rechnungslegungsstandards […] angleichen“ werden72. Hierbei handelt es sich aber nur um eine Einschätzung der tatsächlichen Entwicklung in den Mitgliedstaaten, nicht um ein normatives Gebot. In dieser Entwicklung sind die Mitgliedstaaten, wie Art. 5 EG-IAS-VO belegt, europarechtlich nicht gebunden, sondern frei. Im Gesamtbild haben die IFRS die Bilanzrichtlinien damit in der EU nicht vollständig verdrängt oder überlagert, sondern die Bilanzrichtlinien sind nach wie vor als selbständige Rechtsquellen in Kraft. Zwar wurden die Bilanzrichtlinien parallel modernisiert und in Teilbereichen an die IFRS angeglichen, um potentielle Konflikte zwischen den Bilanzrechtssystemen zu vermeiden. Diese Modernisierung erfolgte aber zum einen „nur sehr selektiv und – was zumindest den Einzelabschluss angeht – sehr behutsam“73. Zum anderen streben die Richtlinien nach wie vor keine den IFRS vergleichbare Regelungsdichte an, sondern sie geben nur Grundsätze vor. Dieses differenzierte Nebeneinander von IFRS (verpflichtend für die Konzernabschlüsse kapitalmarktorientierter Mutterunternehmen, im Übrigen optional) und Bilanzrichtlinien (verpflichtend, soweit die Mitgliedstaaten nicht von der IFRS-Option gem. Art. 5 EG-

__________

68 Zutr. Schulze-Osterloh, BB 2005, 488; ders., BB 2004, 2567, 2568; Hennrichs, NZG 2005, 783, 784 f. 69 EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BB 2003, 355 = DStR 2003, 67, Tz. 118; ferner ebda., Tz. 103 (Hervorhebung durch Verf.). 70 EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BB 2003, 355 = DStR 2003, 67, Tz. 118. 71 EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BB 2003, 355 = DStR 2003, 67, Tz. 118; ferner ebda., Tz. 103. 72 EuGH v. 7.1.2003 – C-306/99, BB 2003, 355 = DStR 2003, 67, Tz. 76. 73 Schulze-Osterloh, BB 2004, 2567, 2568. Hommelhoff, S:R 2008, 176, weist mit Recht darauf hin, dass diese Modernisierung noch nicht weitreichend genug ist und vielmehr die Bilanzrichtlinien „durchgreifend überarbeitet“ werden müssen; vgl. auch Hommelhoff, ZGR 2008, 250, 271 f.

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IAS-VO Gebrauch gemacht haben), darf nicht durch interpretatorische Einwirkung der IFRS in alle von den Bilanzrichtlinien gelassenen Lücken und Auslegungsfragen eingeebnet werden. Für das Verhältnis von modernisiertem HGB-Bilanzrecht und IFRS gilt deshalb wie bisher, dass die IFRS zwar eine Erkenntnisquelle des Rechtsvergleichs sein mögen; sie geben Antworten auf Bilanzierungsprobleme, die sich so oder ähnlich auch nach HGB stellen können, was einen rechtsvergleichenden Blick nahe legt. Bei allem ist aber stets aus dem Blickwinkel des handelsrechtlichen GoB-Systems zu prüfen, ob diese alternativ denkbare Lösung nach IFRS in das GoB-Prinzipiengebäude passt. Die IFRS können damit für die Auslegung und Anwendung des HGB-Bilanzrechts nur (aber immerhin) eine Fundstelle für mögliche Lösungen sein; eine interpretatorische Funktion ex officio kommt den IFRS im Verhältnis zum HGB aber weiterhin nicht zu74.

V. Ausblick Das modernisierte Handelsbilanzrecht wird sich in einzelnen Aspekten den IFRS annähern, in anderen Bereichen eigene neue Wege gehen, in wieder anderen Fragen an den Lösungen des alten Rechts festhalten. Im Gesamtbild will das HGB-Bilanzrecht damit eine modernisierte, eigenständige Alternative zu den IFRS bieten. Durch die gewollte Modernisierung und Eigenständigkeit entstehen freilich neue Bruchlinien sowohl zu den IFRS als auch zur steuerlichen Gewinnermittlung: Für Unternehmen, die in einen IFRS-Konzernabschluss eingebunden sind, wird die Bilanzierung nicht wesentlich einfacher. Es bleiben beträchtliche Unterschiede zwischen den Bilanzrechtssystemen, die bei der Konsolidierung Aufwand bereiten werden. Seitens der IFRS-Bilanzierer wird deshalb möglicherweise auch nach der Bilanzrechtsmodernisierung die Forderung an die Politik erhoben werden, einen befreienden IFRS-Einzelabschluss zu ermöglichen75. Die schon seit längerem intensiv diskutierten Fragen nach der Zukunft des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzsystems und einer „Harmonisierung“ der gesellschaftsrechtlichen Anforderungen mit der Bilanzwelt der IFRS stehen daher unverändert auf der Agenda. In Deutschland wird in diesem Zusammenhang vielfach die Einführung eines Solvenztests befürwortet, der für Ausschüttungszwecke neben einen IFRS-orientierten Bilanztest treten soll; Solvenztest und IFRS-Bilanztest sollen gleichsam zwei Säulen einer neuen Kapi-

__________ 74 Hennrichs, NZG 2005, 783, 786 f.; ähnl. Herzig, WPg 2005, 211, 214. 75 So denn auch Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., BB 2008, 994.

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talerhaltungskonzeption sein76. Ich bin von der Tragkraft dieser zwei Säulen nicht überzeugt77. Vorzugswürdig erscheint mir ein Modell, das unrealisierte Erträge eines IFRS-Abschlusses mit einer Ausschüttungssperre belegt. Technisch sollten solche Ausschüttungssperren, die aus dem nationalen Bilanzrecht bekannt sind (§ 268 Abs. 8 HGB-E), auch in eine Rechnungslegung nach IFRS integriert werden können78. Hinsichtlich der steuerlichen Gewinnermittlung sieht der BilMoG-Entwurf leider zahlreiche neue Durchbrechungen des sog. Maßgeblichkeitsgrundsatzes vor. Vor allem bei Ansatz und Bewertung von (Pensions-)Rückstellungen werden die Abstände zwischen Handels- und Steuerbilanz größer. Damit wird es für alle Unternehmen noch schwieriger (oder gar unmöglich), eine sog. Einheitsbilanz aufzustellen79. Die Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips steht damit mehr denn je in Frage80. Es steht zu erwarten, dass der Steuergesetzgeber bald den Entwurf eines eigenen Steuergewinnermittlungsgesetzes vorlegen wird. Vorarbeiten dazu gibt es bereits81. Wie das künftige, vom HGB entkoppelte Steuerbilanzrecht genau aussehen wird, ist noch nicht abzusehen. Im Sinne der Unternehmen bleibt zu hoffen und an den Fiskus zu appellieren, dass zwischen Steuer- und modernisiertem HGB-Bilanzrecht möglichst wenige Unterschiede bestehen werden82. Angesichts der Erfahrungen mit dem Steuergesetzgeber sind allerdings Zweifel angebracht, ob die enge Abstimmung der Bilanzen gelingt.

__________ 76 Vgl. Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 1, 11; Pellens/Sellhorn in Lutter (ebda.), S. 451, 471 ff., 484; IDW, Presseinformation 8/06 v. 11.9.2006: Vorschläge des IDW zur Neukonzeption der Kapitalerhaltung und zur Ausschüttungsbemessung; dazu auch Naumann, Der Konzern 2007, 422, 42; ferner z. B. Engert, ZHR 170 (2006), 296 ff.; Haas, Gutachten E für den 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. E 124 ff.; Jungmann, ZGR 2006, 638 ff.; Marx, Der Solvenztest als Alternative zur Kapitalerhaltung in der Aktiengesellschaft, 2006, S. 86 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151; W. Müller, S:R 2008, 174; Richard, Kapitalschutz der Aktiengesellschaft, 2006, S. 178 ff.; je m. w. N. 77 Krit. gegenüber der Einführung eines Solvenztests auch z. B. Group of German Experts on Corporate Law, ZIP 2003, 863, 874; Arnold, Der Konzern 2007, 118, 120 ff.; Böcking/Dutzi, Der Konzern 2007, 435 ff.; Hennrichs, StuW 2005, 256, 259 f.; ders., Der Konzern 2008, 42 ff.; Rammert in FS 100 Jahre Deloitte, 2008, S. 429, 431 ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162, 168 f.; ders., EBOR 7 (2006), 181 ff.; Veil in Lutter (Fn. 76), S. 91, 103 ff.; Watrin, Internationale Rechnungslegung und Regulierungstheorie, 2001, S. 230 ff. 78 Hennrichs, ZGR 2008, 361, 375 ff. 79 Vgl. auch Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, DStR 2008, 1057, 1060 m. w. N. 80 Dazu umfassend Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 1 ff.; Hey in Tipke/Lang (Fn. 39), § 17 Rz. 47 ff.; außerdem z. B. Hennrichs, StuW 1999, 138, 151 ff.; ders., DStJG 24 (2001), 301 ff.; Herzig, WPg 2000, 104, 118; Schulze-Osterloh, ZGR 2000, 594, 600 f. 81 S. namentlich den unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft entwickelten Entwurf eines Gesetzes zur Steuerlichen Gewinnermittlung (StGEG); ferner Herzig, IAS/IFRS und steuerliche Gewinnermittlung, Eigenständige Steuerbilanz und modifizierte Überschussrechnung – Gutachten für das Bundesfinanzministerium, Düsseldorf 2004; ders., WPg 2005, 211 ff.; Hennrichs, DStJG 24 (2001), 301, 307 ff. 82 Vgl. auch Böcking/Gros, DStR 2007, 2339, 2344.

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Bilanzrechtsmodernisierung aus handels- und gesellschaftsrechtlicher Sicht

VI. Zusammenfassung Das BilMoG will den verschiedentlich beklagten Reformstau im HGB auflösen und das HGB-Bilanzrecht zu einer vollwertigen, aber kostengünstigeren und einfacheren Alternative zu den IFRS fortentwickeln und dauerhaft aufrecht erhalten. Zu diesem Zweck werden zahlreiche bilanzielle Ansatz- und Bewertungswahlrechte abgeschafft, was uneingeschränkt zu begrüßen ist. Außerdem werden einzelne Ansatz- und Bewertungsvorschriften im Hinblick auf eine stärkere Informationsorientierung des HGB-Abschlusses geändert. Der Regierungsentwurf zum BilMoG will kleinere Kaufleute von der Buchführungs- und Bilanzierungspflicht befreien. Das ist rechtspolitisch nicht über jeden Zweifel erhaben. Die noch im Referentenentwurf vorgesehene Befreiung auch kleinerer Personenhandelsgesellschaften von der Buchführungs- und Bilanzierungspflicht wurde im Regierungsentwurf zu Recht nicht weiterverfolgt. Für Gesellschaften sollte es bei der Pflicht zur handelsrechtlichen Rechnungslegung nach HGB verbleiben. Die auf der Grundlage des geltenden Steuerrechts erstellten Steuerrechnungen (Steuerbilanz und Einnahmen-ÜberschussRechnung) können die Funktionen, die die Handelsbilanz für Gesellschaften erfüllen soll (Rechenschaftslegung, Abrechnung und Kapitalschutz), nicht adäquat erfüllen. Erwogen werden sollte allerdings eine Reduzierung der Offenlegungspflichten für nicht kapitalmarktorientierte Gesellschaften. Das HGB-Bilanzrecht soll auch nach BilMoG eigenständig bleiben. Zwar wird in einzelnen Ansatz-, Bewertungs- und Angabefragen eine Annäherung an die IFRS angestrebt. Diese Annäherungen erfolgen aber nur punktuell und differenziert. In vielen Fragen der Rechnungslegung weicht auch das modernisierte Handelsbilanzrecht von den IFRS ab. Insgesamt will das HGB-Bilanzrecht kein „IFRS-Klon“ sein, sondern das BilMoG versucht einen eigenen Weg. Eine interpretatorische Einstrahlung der IFRS in die Auslegung des HGB ist abzulehnen. Ebenso wenig können Lücken im HGB ohne Weiteres unter Rückgriff auf die IFRS geschlossen werden. Die IFRS sind bei der Anwendung des HGB-Bilanzrechts weiterhin nur eine Erkenntnisquelle des Rechtsvergleichs, aber keine verbindliche Interpretationsrichtschnur. IFRS-Lösungen können nur dort in das HGB einbezogen werden, wo sie auch im Kontext des bestehenden GoB-Systems passen und überzeugen. Das BilMoG fügt den bereits heute bestehenden zahlreichen Durchbrechungen der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die steuerliche Gewinnermittlung einige neue Sondervorschriften hinzu. Die sog. Einheitsbilanz wird nach BilMoG noch schwieriger oder gar unmöglich. An den Steuergesetzgeber ist zu appellieren, bei der künftigen Gestaltung des Steuerbilanzrechts Abweichungen vom Handelsbilanzrecht nur dort vorzuschreiben, wo dies steuersystematisch und verfassungsrechtlich unabdingbar ist.

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Konzernrechtliche Abhängigkeit im Mitbestimmungsrecht der Europäischen Aktiengesellschaft – Der Abhängigkeitsbegriff im Europäischen Mitbestimmungsrecht, EBRG, SEBG und nationalem AktG –

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Zusammensetzung des Verhandlungsgremiums 1. Grundsatz 2. Veränderungen der Beteiligungsverhältnisse während des Verhandlungsverfahrens III. Die Einbeziehung von „Tochtergesellschaften“ 1. Ermittlung des einschlägigen „Konzernbegriffs“ a) Verhältnis zum deutschen Konzernbegriff b) Verhältnis zu § 17 AktG c) Keine Übernahme des „controlKonzeptes“ d) Maßgeblichkeit des deutschen Beherrschungsbegriffs e) Zwischenergebnis 2. Bedeutung des „potentiellen Konzerns“

3. Prüfung des Beherrschungsverhältnisses am Maßstab von § 6 Abs. 2 EBRG a) Bestellung von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans b) Mehrheit der mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte bzw. der Kapitalmehrheit c) Beherrschender Einfluss aufgrund anderer Umstände aa) Notwendigkeit einer gesellschaftsrechtlichen Vermittlung des Einflusses bb) Personelle Verflechtung 4. Bedeutungslosigkeit eines Pflichtangebots nach § 35 Abs. 1 WpÜG V. Zusammenfassung

I. Einführung Die kontinuierlich steigende Anzahl europäischer Aktiengesellschaften zeigt, dass diese neue supranationale Rechtsform – entgegen manch skeptischer Prognose – für die Praxis durchaus eine reizvolle Alternative zu den traditionellen nationalen Rechtsformen bietet. Die Attraktivität der SE dürfte freilich weniger in originär gesellschaftsrechtlichen Innovationen, wie etwa der Möglichkeit zur Wahl einer monistischen Unternehmensverfassung, begründet sein. Vielmehr dürfte die Mehrzahl der deutschen SE-Gründungen zumindest auch einen mitbestimmungsrechtlichen Hintergrund haben. Zwar eignet sich die SE aufgrund der zahlreichen gesetzlichen Maßnahmen zum Schutz eines zuvor in den Gründungsgesellschaften geltenden Mitbestimmungsregimes nicht als Instrument zu einer gezielten Flucht aus der Unternehmensmitbe601

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stimmung. Sowohl der Umstand, dass die SE keine originär mitbestimmte Gesellschaftsform ist als auch der durch die SE-Richtlinie vorgegebene Grundsatz des Vorranges der Verhandlungslösung bieten aber Flexibilitätsvorteile im Vergleich zu dem extrem starren System des deutschen Mitbestimmungsrechts, wie es im MitbestG 1976 verankert ist. Die durch das europäische Recht ermöglichten Verhandlungen über das Mitbestimmungsregime der SE sind aus der Sicht des nationalen Rechts ein Novum, stellen sie doch das Mitbestimmungsrecht dispositiv. Die Praxis steht – aktuelle Beispiele wie die Gründung der Porsche SE verdeutlichen dies – vor vielfältigen wissenschaftlich noch ungeklärten Rechtsfragen. Offene Fragen ergeben sich unter anderem dann, wenn die SE zugleich als Holding eines größeren Unternehmensverbundes auftreten soll. Bereits die korrekte Zusammensetzung des Verhandlungsgremiums der Arbeitnehmer wirft hier komplexe konzernrechtliche Fragen auf, da grundsätzlich alle in europäischen Tochtergesellschaften tätigen Arbeitnehmer in die Verhandlungen einbezogen werden sollen. Hier rächt es sich, dass die europarechtlichen Regelungen schon für den Bereich des Gesellschaftsrechts auf ein eigenständiges Konzernrecht der SE verzichtet haben. Zusätzlich erschwert wird die Abgrenzung des Kreises der einzubeziehenden Belegschaften durch den Umstand, dass die mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften über eine komplizierte Verweisungstechnik ihrerseits auf ein eigenständiges Beherrschungskonzept Bezug nehmen, dessen Verhältnis zu den §§ 17 f. AktG dunkel bleibt. Karsten Schmidt, dem dieser Beitrag als Ausdruck hoher Wertschätzung und in Anerkennung seiner herausragenden Verdienste um die gesamte deutsche Zivilrechtswissenschaft gewidmet ist, hat als Meister aller Facetten des Gesellschaftsrechts die Entwicklung des deutschen Konzernrechts durch zahlreiche, grundlegende Veröffentlichungen mit geprägt1. Mit dem konzernrechtlichen Abhängigkeitsbegriff hat er sich dabei mehrfach beschäftigt2, so dass der Verfasser hofft, die folgenden Überlegungen zum Abhängigkeitsverständnis in den europäischen Mitbestimmungsrichtlinien und ihren nationalen Transformationsgesetzen könnten sein Interesse finden. Die praktische Bedeutung der angesprochenen Rechtsfragen ist erheblich, ist doch nahezu jede größere Gründungskonstellation einer SE mit Unsicherheiten über die in die Mitbestimmungsverhandlungen einzubeziehenden Belegschaften belastet. Fehler in diesem Bereich führen zu einem Eintragungshindernis, belasten also unmittelbar die Gesellschaftsgründung.

__________ 1 Beispielhaft sei verwiesen auf Karsten Schmidt, Was ist, was will und was kann das Konzernrecht des Aktiengesetzes?, in FS Druey, 2002, S. 551 ff.; ders., Konzernrecht, Minderheitenschutz und GmbH-Innenrecht, GmbHR 1979, 121 ff.; ders., Konzernunternehmen, Unternehmensgruppe und Konzern-Rechtsverhältnis – Gedanken zum Recht der verbundenen Unternehmen nach §§ 15 ff., 291 ff. AktG –, in FS Lutter, 2000, S. 1167 ff. 2 Vgl. nur Karsten Schmidt, Abhängigkeit und faktischer Konzern als Aufgaben der Rechtspolitik – Zu den Juristentagsgutachten von Druey und Hommelhoff –, JZ 1992, 856 ff.; ders., NJW 1994, 447 ff. (Begriff des herrschenden Unternehmens beim qualifizierten faktischen Konzern).

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Konzernrechtliche Abhängigkeit im Mitbestimmungsrecht der SE

II. Die Zusammensetzung des Verhandlungsgremiums 1. Grundsatz SE-Richtlinie und nationales SEBG bekennen sich ebenso wie schon zuvor die Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat und das EBRG für das Mitbestimmungsregime der SE zum Vorrang der Verhandlungslösung. Angesichts der völlig unterschiedlichen Ausprägung des Mitbestimmungsgedankens in den EU-Mitgliedstaaten ermöglicht nur eine solche Verhandlungslösung einen sachgerechten Ausgleich der Interessen der nationalen Belegschaften und die notwendige Anpassung an die besondere Struktur der konkreten SE. Ohne Verhandlungsverfahren kann die SE nicht eingetragen werden und damit nicht entstehen. Die Durchführung des Verhandlungsverfahrens ist damit eine der Gründungsvoraussetzungen der SE, wobei kleinere Mängel unberücksichtigt bleiben. Die Aufgabe, mit den Leitungs- und Verwaltungsorganen der an der Gründung der SE beteiligten Gesellschaften eine schriftliche Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der zu gründenden Europäischen Gesellschaft zu treffen (vgl. Art. 4 SE-RL sowie § 21 Abs. 1 SEBG), kommt einem besonderen Verhandlungsgremium (BVG) zu, das auf schriftliche Aufforderung der Leitungs- bzw. Verwaltungsorgane der an der Gründung der SE beteiligten Gesellschaften zu bilden ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG). Die Zusammensetzung des besonderen Verhandlungsgremiums folgt nach Art. 3 Abs. 2 lit. a) und b) SE-RL bzw. §§ 5 und 7 SEBG einem besonderen Proporz, der zum einen die beteiligten Mitgliedstaaten und zum anderen die an der Gründung der Europäischen Gesellschaft beteiligten Gesellschaften berücksichtigt: In jedem Mitgliedstaat, in dem eine der an der Gründung der SE beteiligten Gesellschaften eine Tochtergesellschaft oder einen Betrieb hat, die auch Tochtergesellschaft bzw. Betrieb der SE werden sollen, werden zur Vertretung der Arbeitnehmer der betroffenen Gesellschaften und Betriebe Mitglieder für das BVG gewählt oder bestellt. Die Zahl der Mitglieder, die in jedem Mitgliedstaat gewählt oder bestellt werden, bestimmt sich nach dem Verhältnis der Zahl der Arbeitnehmer in dem jeweiligen Mitgliedstaat zur Gesamtzahl der Arbeitnehmer in allen Mitgliedstaaten. Normativer Ausgangspunkt für die Überprüfung der gesetzeskonformen Zusammensetzung des Verhandlungsgremiums ist die Regelung in § 4 Abs. 2 SEBG und § 5 Abs. 1 Satz 1 SEBG. Danach sind die Arbeitnehmervertretungen und Sprecherausschüsse in den „beteiligten Gesellschaften, betroffenen Tochtergesellschaften und betroffenen Betrieben“ zu informieren. In die anschließende Wahl der Mitglieder des besonderen Verhandlungsgremiums sind die in jedem Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer wiederum aller „beteiligten Gesellschaften, betroffenen Tochtergesellschaften und betroffenen Betriebe(n)“ einzubeziehen. Ein Verhandlungsverfahren ist demnach nur dann ordnungsgemäß eingeleitet und mit einem ordnungsgemäß besetzten besonderen Verhandlungsgremium durchgeführt worden, wenn neben den Arbeitnehmern der Gründungsgesellschaften auch alle Arbeitnehmer der betroffenen Tochtergesellschaften im Sinne der §§ 2 Abs. 2 bis 4, 4 Abs. 2, 5 Abs. 1 SEBG in die Verhandlungen einbezogen werden. 603

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2. Veränderungen der Beteiligungsverhältnisse während des Verhandlungsverfahrens Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Kreises der einzubeziehenden Unternehmen und Betriebe ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Information der Arbeitnehmer über die beabsichtigte SE-Gründung durch die Unternehmensleitung nach § 4 SEBG3. Dies ergibt sich schon aus der Regelung in § 4 Abs. 4 SEBG. Danach ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Ermittlung der Zahl der Arbeitnehmer der Zeitpunkt der Information nach § 4 Abs. 2 SEBG. Dafür wiederum ist es aber denklogisch erforderlich, dass die Gesellschaften und/oder Betriebe feststehen, aus deren Kreis die Arbeitnehmervertreter gewählt und bestellt werden. Die Information nach § 4 SEBG kann ohne Kenntnis der beteiligten Gesellschaften, betroffenen Tochtergesellschaften und der betroffenen Betriebe gar nicht erfolgen (vgl. auch § 4 Abs. 3 Nr. 1 SEBG). Kommt es während der Tätigkeitsdauer des besonderen Verhandlungsgremiums zu Änderungen in der Struktur oder den Arbeitnehmerzahlen bei den beteiligten Gesellschaften, den betroffenen Tochtergesellschaften oder den betroffenen Betrieben, so sieht § 5 Abs. 4 SEBG eine Neubildung des besonderen Verhandlungsgremiums vor4. Aus dieser Vorschrift kann der Schluss gezogen werden, dass Änderungen – seien sie struktureller Natur oder die Arbeitnehmerzahlen betreffend – nach dem Ende der Tätigkeit die Ordnungsmäßigkeit der Bildung des besonderen Verhandlungsgremiums (selbstverständlich) nicht mehr beeinträchtigen können. Diese Regelung benachteiligt die Arbeitnehmer, die in das Verhandlungsverfahren nicht einbezogen wurden, nicht unzumutbar. Für nachträglich, also nach dem Ende der Tätigkeit des Verhandlungsgremiums eintretende Änderungen enthält § 18 Abs. 3 SEBG eine entsprechende Regelung. Bei strukturellen Änderungen, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, kann es zu neuen Verhandlungen über eine Mitbestimmungsvereinbarung kommen. Aus dem Zusammenspiel der §§ 4, 5 Abs. 1, 4 sowie 18 Abs. 3 SEBG ergibt sich damit ein stimmiges Bild: Grundsätzlich ist für die Zusammensetzung des besonderen Verhandlungsgremiums der Zeitpunkt der Information nach § 4 SEBG entscheidend. Kommt es während des laufenden Verhandlungsverfahrens zu Änderungen, wird das Gremium neu zusammengesetzt. Später eintretende Änderungen sind für die Zusammensetzung des Verhandlungsgremiums unbeachtlich. Die Gesellschaft ist damit nach Durchführung der Verhandlungen zunächst einzutragen. Aus § 18 Abs. 3 SEBG kann sich allein eine Pflicht zur Aufnahme von Neuverhandlungen ergeben.

__________ 3 Jacobs in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2006, Bd. 9/2, § 5 SEBG Rz. 2; Grobys, NZA 2005, 84, 86; ähnlich auch Oetker in Lutter/Hommelhoff, Die Europäische Gesellschaft, 2008, S. 292. 4 Die Vorschrift hält Krause, BB 2005, 1221, 1225 für europarechtlich zweifelhaft, weil die SE-Richtlinie keine Vorschrift über die Berücksichtigung nachträglicher Änderungen enthalte. Bei unterstellter Europarechtswidrigkeit von § 5 Abs. 4 SEBG müsste allein auf den Zeitpunkt der Information nach § 4 SEBG als maßgeblichen Zeitpunkt abgestellt werden.

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Konzernrechtliche Abhängigkeit im Mitbestimmungsrecht der SE

III. Die Einbeziehung von „Tochtergesellschaften“ Gem. § 2 Abs. 3 SEBG sind Tochtergesellschaften rechtlich selbständige Unternehmen, auf die eine andere Gesellschaft einen beherrschenden Einfluss im Sinne von Art. 3 Abs. 2 bis 7 der Richtlinie des Rates 94/45/EG (RL 94/45/EG)5 ausüben kann. Nach § 2 Abs. 3 Satz 2 SEBG sind die Absätze 2 bis 4 des § 6 EBRG6 anzuwenden. 1. Ermittlung des einschlägigen „Konzernbegriffs“ a) Verhältnis zum deutschen Konzernbegriff In der praktischen Anwendung bietet es sich an, das Vorliegen eines beherrschenden Einflusses anhand der richtlinienkonform auszulegenden Vorschriften des EBRG zu prüfen. Zwischen der Definition des „herrschenden Unternehmen“ im EBRG und in der RL 94/45/EG bestehen keine Divergenzen. Zwar sind die im SEBG bzw. im EBRG verwendeten Begriffe grundsätzlich autonom auszulegen7. In beiden Definitionen einer relevanten Unternehmensverbindung – nur untechnisch lässt sich hier von „Konzernverhältnissen“

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5 Art. 3 Abs. 2, 4 und 6 RL 94/95/EG lauten wie folgt: „(2) Die Fähigkeit, einen beherrschenden Einfluss auszuüben, gilt bis zum Beweis des Gegenteils als gegeben, wenn ein Unternehmen in Bezug auf ein anderes Unternehmen direkt oder indirekt a) die Mehrheit des gezeichneten Kapitals dieses Unternehmens besitzt oder b) über die Mehrheit der mit den Anteilen am anderen Unternehmen verbundenen Stimmrechte verfügt oder c) mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des anderen Unternehmens bestellen kann. (4) Ungeachtet der Absätze 1 und 2 ist ein Unternehmen kein „herrschendes Unternehmen“ in Bezug auf ein anderes Unternehmen, an dem es Anteile hält, wenn es sich um eine Gesellschaft im Sinne von Artikel 3 Absatz 5 Buchstabe a) oder c) der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. September 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (6) handelt. (6) Maßgebend für die Feststellung, ob ein Unternehmen ein „herrschendes Unternehmen“ ist, ist das Recht des Mitgliedstaats, dem das Unternehmen unterliegt. Unterliegt das Unternehmen nicht dem Recht eines Mitgliedstaats, so ist das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem der Vertreter des Unternehmens oder, in Ermangelung eines solchen, die zentrale Leitung desjenigen Unternehmens innerhalb einer Unternehmensgruppe ansässig ist, das die höchste Anzahl von Arbeitnehmern aufweist.“ 6 Der zur Transformation dieser Richtlinienvorschrift in das nationale Recht ergangene § 6 Abs. 2 EBRG lautet: „Ein beherrschender Einfluss wird vermutet, wenn ein Unternehmen in Bezug auf ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar 1. mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des anderen Unternehmens bestellen kann oder 2. über die Mehrheit der mit den Anteilen am anderen Unternehmen verbundenen Stimmrechte verfügt oder 3. die Mehrheit des gezeichneten Kapitals dieses Unternehmens besitzt. Erfüllen mehrere Unternehmen eines der in Satz 1 Nr. 1 bis 3 genannten Kriterien, bestimmt sich das herrschende Unternehmen nach Maßgabe der dort bestimmten Rangfolge.“ § 6 Abs. 4 EBRG entspricht Art. 3 Abs. 4 der RL 94/45/EG. 7 Giesen in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, 3. Aufl. 2008, EBRG Rz. 7; Jacobs (Fn. 3), § 5 SEBG Rz. 9.

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sprechen – kommt es entscheidend darauf an, ob unmittelbar oder mittelbar beherrschender Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausgeübt werden kann8. In diese Richtung geht auch die amtliche Begründung zum Gesetz zur Einführung einer Europäischen Gesellschaft, in der der Begriff der Tochtergesellschaft dahingehend interpretiert wird, dass ein Unternehmen „rechtlich oder faktisch von einem herrschenden Unternehmen abhängig ist“9. Es ist daher zumindest ungenau, wenn im Schrifttum der Eindruck erweckt wird, der Konzernbegriff im EBRG bzw. in der zugrunde liegenden EU-Richtlinie sei weiter gefasst als der Konzernbegriff des Aktiengesetzes10. Wenn die Regelungen in § 6 EBRG bzw. Art. 3 RL 94/45/EG mit § 18 AktG verglichen werden, so hinkt dieser Vergleich von vornherein. Er suggeriert zu Unrecht einen großzügigeren Maßstab des europäischen Rechts gegenüber dem nationalen Recht. § 6 EBRG knüpft an die Beherrschungsmöglichkeit an. Das Pendant zu dieser Vorschrift im Aktiengesetz ist § 17 AktG („Abhängige und herrschende Unternehmen“) und gerade nicht § 18 AktG11, der für den hier allein interessierenden Unterordnungskonzern nach § 18 Abs. 1 AktG zusätzlich eine einheitliche Leitung fordert12. Auch das deutsche Recht kennt nur wenige Regelungen, die am engen Konzernbegriff des § 18 Abs. 1 AktG anknüpfen. Der eigentliche Zentralbegriff des deutschen „Konzernrechts“ ist anerkanntermaßen nicht derjenige des Konzerns im Sinne von § 18 AktG, sondern eben die Abhängigkeit (§ 17 AktG)13. Regelmäßig greifen die deutschen gesellschaftsrechtlichen Regelungen auf den Abhängigkeitsbegriff zurück (vgl. insbesondere § 311 AktG)14. b) Verhältnis zu § 17 AktG Vergleicht man die Definition der Beherrschung in § 6 Abs. 2 EBRG und § 3 Abs. 2 RL 94/45/EG, die für § 2 Abs. 3 SEBG maßgeblich ist, einerseits und diejenige des § 17 AktG andererseits, gelangt man zu dem Ergebnis, dass die vom SEBG an eine Beherrschung bzw. Abhängigkeit gestellten Voraussetzungen jedenfalls nicht weniger strikt sind. Die Vermutungstatbestände aus § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 EBRG finden sich in komprimierter, im Ergebnis aber vergleichbarer Form in § 17 Abs. 2 AktG15. Ist die in § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1

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8 Giesen (Fn. 7), EBRG Rz. 7; Jacobs (Fn. 3), § 5 SEBG Rz. 9 f. 9 BT-Drucks. 15/3405, S. 44 re. Spalte. 10 Unzutreffend ist etwa der Ansatzpunkt von Blanke, Europäisches Betriebsräte-Gesetz, 2. Aufl. 2006, § 6 EBRG Rz. 4, der mit § 18 AktG argumentiert. 11 Ebenso Giesen (Fn. 7), EBRG Rz. 7; Jacobs (Fn. 3), § 5 SEBG Rz. 9 f.; Müller, Europäisches Betriebsrätegesetz, 1997, § 6 EBRG Rz. 5; Eckhoff, Der Europäische Betriebsrat, 2004, S. 150, 151; Rademacher, Der Europäische Betriebsrat, 1994, S. 85 f.; Sandmann, Die Euro-Betriebsrats-Richtlinie 94/45/EG, 1996, S. 145 f.; Hromadka, DB 1995, 1125; Windbichler, ZfA 1996, 1, 11. 12 In diese Richtung auch Müller (Fn. 11), § 6 EBRG Rz. 5. 13 Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 8. Aufl. 2005, S. 35. 14 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 18 AktG Rz. 2. 15 Vgl. nur Sandmann (Fn. 11), S. 146; Lächler, Das Konzernrecht der Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, S. 119; Windbichler, ZfA 1996, 1, 11.

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EBRG zusätzlich enthaltene Vermutung für einen beherrschenden Einfluss einschlägig, hat also ein Unternehmen die Möglichkeit, mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen, so greift zwar keine normativ verankerte Vermutung des deutschen Aktienrechts. Anerkanntermaßen führt aber ein solcher Einfluss auf die Bestellung von Unternehmensorganen auch nach deutschem Aktienrecht zur Annahme einer Beherrschung im Sinne von § 17 Abs. 1 AktG, diese dritte Alternative wird also implizit von § 17 Abs. 1 AktG erfasst16. Ein Hinweis auf ein tendenziell eher enges Verständnis der Abhängigkeit im Bereich des Rechtes der SE lässt sich § 2 Abs. 3 Satz 1 SEBG und der Regelung in Art. 2 lit. c) der SE-Richtlinie 2001/86/EG entnehmen. Beide Vorschriften verweisen ausdrücklich nur auf „einen beherrschenden Einfluss im Sinne von Art. 3 Abs. 2 bis 7“ der RL 94/45/EG. In vergleichbarer Weise nimmt § 2 Abs. 3 Satz 2 SEBG allein auf § 6 Abs. 2 bis 4 EBRG Bezug. Die einbezogenen Absätze der Regelungen des EBRG enthalten eine Aufzählung von widerleglichen Vermutungen für das Vorliegen eines beherrschenden Einflusses. Da jeweils der erste Absatz ausdrücklich von der Verweisung ausgenommen wird, wird man die Aufzählung der Beherrschungsmittel in § 6 Abs. 2 EBRG bzw. Art. 3 Abs. 2 RL 94/45/EG als Eingrenzung verstehen müssen. Die in den jeweiligen ersten Absätzen enthaltene allgemeine Definition eines herrschenden Unternehmens, die derjenigen in § 17 Abs. 1 AktG entspricht, soll offenbar nicht zur Geltung kommen. Wollte man demnach überhaupt eine Divergenz zwischen einem nationalen Begriff der Beherrschung bzw. demjenigen der RL 94/45/EG einerseits und andererseits demjenigen Beherrschungsbegriff konstruieren, der den Mitbestimmungsregeln der SE zugrunde liegt, so könnte allenfalls die Definition des § 2 Abs. 3 SEBG als die engere verstanden werden. Kriterien, die keine Abhängigkeit i. S. d. § 17 AktG begründen, dürfen im Rahmen des § 2 Abs. 3 SEBG dagegen keinesfalls herangezogen werden17. Die auf den ersten Blick etwas überraschende Ausklammerung des Abs. 1 von § 6 EBRG bzw. Art. 3 RL 94/45/EG aus der Verweisung erklärt sich vor dem Hintergrund der Parallelexistenz von SE-Richtlinie und SE-Verordnung. Die SE-Richtlinie und das SEBG dürfen sich naturgemäß nicht in einen fundamentalen Widerspruch zu einer „konzernrechtlichen“ Anknüpfung setzen, die dem Gesellschaftsrecht der SE zugrunde liegt. Das in der SE-Verordnung und dem SEAG geregelte Gesellschaftsrecht kennt indes keinen europarechtlich harmonisierten Konzern- bzw. Abhängigkeitsbegriff. Vielmehr wurden während des europäischen Gesetzgebungsverfahrens die konzernrechtlichen Regelungen

__________ 16 Lächler (Fn. 15), S. 119; Windbichler, ZfA 1996, 1, 12; vgl. zur Bedeutung des Einflusses des herrschenden Unternehmens auf die Personalpolitik im AktG: BAG, AP Nr. 1 zu § 55 BetrVG 1972; OLG Düsseldorf, ZIP 1993, 1791 ff.; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 17 AktG Rz. 5; Windbichler in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2004, § 17 AktG Rz. 43 ff.; Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 8; Emmerich/Habersack (Fn. 13), S. 36 f.; Hromadka, DB 1995, 1125. 17 Ähnlich für § 6 EBRG, auf den im SEBG verwiesen wird, Müller (Fn. 11), § 6 Rz. 6.

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bewusst ausgeklammert, um einer Harmonisierung materiell-konzernrechtlicher Fragen nicht vorzugreifen und den ohnehin schwierigen Einigungsprozess über die SE nicht zusätzlich zu belasten18. Die Aufnahme einer konzernrechtlichen Regelung hätte die Konsensfähigkeit der Mitgliedstaaten bei weitem überfordert19. Aus der Sicht des Gesellschaftsrechts (SE-Verordnung und SEAG) ist für das „Konzernrecht“ der SE auf das nationale Aktienkonzernrecht des jeweiligen Sitzstaates der SE abzustellen20 mit der Folge einer europaweit verwirrenden Vielfalt von Regelungsgrundlagen21. Geradezu unerträglich wäre es indes, wenn nun die SE-Richtlinie ihrerseits für das Mitbestimmungsrecht noch einen hiervon abweichenden Beherrschungsbegriff vorgeben würde. Deshalb ist es durchaus konsequent, dass sich der Richtliniengeber bei der SE darauf beschränkt, den Mitgliedstaaten lediglich die drei widerleglichen Vermutungstatbestände des Art. 3 Abs. 2 RL 94/45/EG vorzugeben, alles weitere – also sowohl Grundkonzept als auch Detailfragen – dagegen dem nationalen Recht überantwortet wurde. Nur auf diese Weise ließ sich ein Widerspruch zum auch für die Mitbestimmung maßgeblichen Gesellschaftsrecht der SE vermeiden. Nicht zu verkennen ist, dass auch die drei Vermutungstatbestände Wertungen enthalten, die auf die Interpretation des jeweiligen nationalen Rechts ausstrahlen. Wie noch zu zeigen sein wird, ergibt sich aus diesen Wertungen allerdings eine Einschränkung der relevanten Beherrschungsformen. c) Keine Übernahme des „control-Konzeptes“ Eine Diskrepanz zwischen der deutschen Regelung der Abhängigkeit in § 17 AktG und einer europäischen Regelung im Sinne eines weiter gefassten europäischen Konzeptes ließe sich nur dann begründen, wenn die Regelung in Art. 3 Abs. 2 der Europäischen Betriebsräte-Richtlinie, die § 6 Abs. 2 EBRG aufgreift und die aufgrund der Verweisungstechnik auch dem Mitbestimmungsrecht der SE zugrunde liegt, streng auf das im französischen und angloamerikanischen Rechtskreis verbreitete sog. control-Konzept22 zurückzuführen wäre. Dieses Konzept hat sich vielfach23 als Anknüpfungspunkt für „konzernrechtliche“ Regelungen bzw. Regelungen im Unternehmensverbund durchgesetzt. Das control-Konzept lässt für die Anwendung konzernrechtlicher Vorschriften bereits die rechtliche Möglichkeit ausreichen, über ein anderes Unternehmen eine Kontrolle auszuüben24. Eingang in das deutsche Recht hat dieses Konzept etwa25 in der konzernbilanzrechtlichen Regelung des § 290 Abs. 2

__________ 18 Dazu Habersack, ZGR 2003, 724, 725 f.; Hommelhoff, AG 2001, 279, 282; ders., AG 2003, 179, 180; Jaecks/Schönborn, RIW 2003, 254. 19 Vgl. das Memorandum der Kommission vom 8.6.1988, BR/Drucks. 392/88, S. 20. Zum Ganzen auch Lächler (Fn. 15), S. 47 ff. 20 Lächler (Fn. 15), S. 123. 21 Dazu Henssler in FS Ulmer, 2003, S. 195 f. 22 Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 3. 23 Vgl. die Übersicht bei Lächler (Fn. 15), S. 113. 24 Dazu Henssler in Heymann, Handelsgesetzbuch, 2. Aufl. 1999, § 290 HGB Rz. 3. 25 Vgl. im Übrigen § 22 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 WpHG; § 37 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 GWB.

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HGB gefunden. So wird für die Anwendbarkeit des deutschen Konzernbilanzrechts das control-Konzept in § 290 Abs. 2 HGB gleichberechtigt neben das tradierte deutsche Konzernmodell der einheitlichen Leitung (§ 290 Abs. 1 HGB) gestellt. Aus der amtlichen Begründung zu § 290 HGB ergibt sich freilich, dass eine Abweichung gegenüber dem europarechtlichen Begriff des konsolidierten Abschlusses nicht gewollt ist26, das deutsche Recht also auch insoweit auf der Linie der europäischen Vorstellungen liegt. Ein praktisch relevanter Unterschied zwischen dem § 17 AktG zugrunde liegenden Konzept der Abhängigkeit und dem control-Konzept besteht in erster Linie27 bei paritätisch (50:50) besetzten Gemeinschaftsunternehmen. Für das Kontrollkonzept reicht es aus, dass mehrere Unternehmen zusammen die Kontrolle besitzen, so dass es zu einem faktischen Einigungszwang kommt. Auch der Gleichordnungskonzern wird damit von dem control-Konzept erfasst, obwohl hier keine Abhängigkeit im Sinne von § 17 AktG vorliegt. Die Richtlinie 94/45 des Rates vom 22.9.1994 über die Einsetzung des Europäischen Betriebsrats greift indes gerade nicht das weitergehende controlKonzept auf, sondern verlangt vielmehr ebenfalls ein Abhängigkeitsverhältnis. So heißt es zwar zur Definition des herrschenden Unternehmens in der französischen Fassung „entreprise qui exerce le contrôle“ bzw. in der englischen Fassung „controlling undertaking“. Zur näheren Umschreibung stellen sodann aber sowohl die französische als auch die englische Fassung trotz der sprachlichen Anknüpfung an das Kontrollkonzept entscheidend auf den beherrschenden Einfluss ab („une influence dominante“ bzw. „dominant influence“). Abweichend von der typischen Ausprägung des control-Konzeptes28 sind die Vermutungstatbestände außerdem nur als widerlegliche Vermutung ausgestaltet. Im Ergebnis ist damit die europarechtliche Regelung dem Beherrschungskonzept angeglichen bzw. zumindest angenähert29. Ausschlaggebend ist für die europarechtlichen Regelungen ein Beherrschungsverhältnis, wie es von § 17 AktG vorausgesetzt wird. Dementsprechend gehen das BAG30 und ihm folgend die ganz h. M. im deutschen Schrifttum31 zu Recht davon aus, dass der Gleichordnungskonzern von § 6 Abs. 2 EBRG und Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie nicht erfasst wird, weil es bei diesem an dem beherrschenden Einfluss eines Unternehmens auf ein anderes fehlt. Das BAG hat damit der Auffassung, dass der Richtlinie ein von § 17 AktG abweichender Beherrschungsbegriff zugrunde

__________ 26 BT-Drucks 10/3440, S. 35. 27 Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 29a weist mit Recht darauf hin, dass vor allem an diesem Beispiel der Unterschied zwischen Abhängigkeits- und Kontrollkonzept deutlich wird. 28 Lächler (Fn. 15), S. 119. 29 So Lächler (Fn. 15), S. 119; Windbichler, ZfA 1996, 1, 11. 30 BAG, AP Nr. 3 zu § 5 EBRG. 31 Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 5; Kittner in Däubler/Kittner/Klebe, Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl. 2008, § 6 EBRG Rz. 1; Engels/Müller, DB 1996, 981, 983; Hanau in Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrecht, 2002, § 19 Rz. 47; Giesen (Fn. 7), EBRG Rz. 7; Thüsing, NZA 2003, Sonderbeilage zu Heft 16, 41, 54.

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liegt32, zu Recht eine klare Absage erteilt. Sowohl aus § 6 Abs. 2 EBRG als auch aus Art. 3 Abs. 2 der Europäischen Betriebsräte-Richtlinie 94/45/EG ergibt sich deutlich, dass für jedes Unternehmen nur eine einzige Gruppenzugehörigkeit herzustellen ist und nicht mehrere Gruppenzugehörigkeiten, die zu einer Vertretung der Arbeitnehmer in mehreren Europäischen Betriebsräten führen müssten33. d) Maßgeblichkeit des deutschen Beherrschungsbegriffs Für die sich vorliegend stellende Auslegungsfrage noch bedeutsamer ist, dass der Begriff des herrschenden Unternehmens und der korrespondierende Abhängigkeitsbegriff in Art. 3 der RL 94/45/EG ohnehin nicht abschließend bzw. autonom festgelegt wird. Die Richtlinie bringt dies selbst unmissverständlich zum Ausdruck, indem sie in Art. 3 Abs. 6 festhält: „Maßgebend für die Feststellung, ob ein Unternehmen ein „herrschendes Unternehmen“ ist, ist das Recht des Mitgliedstaates, dem das Unternehmen unterliegt.“ Diese Regelung stellt ohne jeden Zweifel klar, dass der Richtlinie ein vom deutschen Abhängigkeitsbegriff abweichendes Modell (etwa das control-Konzept) nicht zugrunde liegt. Die lediglich beispielhaft aufgezählten Vermutungstatbestände des Art. 3 Abs. 2 RL 94/45/EG, die zudem widerleglich ausgestaltet sind, verdeutlichen ebenfalls den nicht abschließenden Charakter der Definition. Zur Präzisierung des Begriffs ist ergänzend auf das nationale Recht zurückzugreifen34. Die damit verbundene Gefahr einer von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat divergierenden Interpretation des Begriffs wird vom europäischen Gesetzgeber bei der SE bewusst in Kauf genommen. Das aber bedeutet, dass bei allen offenen Zweifelsfragen auf die Auslegung des nationalen Beherrschungsbegriffs in § 17 AktG abgestellt werden muss. Insofern ist es widersprüchlich, wenn die Vertreter der Gegenauffassung einerseits ausdrücklich konzedieren, dass zur Präzisierung des Abhängigkeitsbegriffs das nationale Recht heranzuziehen ist35, sie andererseits aber der Ansicht sind, das deutsche Verständnis des § 17 AktG sei zu eng, soweit dort ein gesellschaftsrechtlich begründeter Einfluss verlangt wird36. Entgegen der Darstellung bei Blanke37 bezieht sich die einschlägige Rechtsprechung des II. Senates des BGH gerade nicht auf den engeren Konzern im Sinne des § 18 AktG und damit auf das in der Tat für die Richtlinie nicht maßgebliche Erfordernis der einheitlichen Leitung, sondern auf die vorliegend allein entscheidende Abhängigkeit i. S. v. § 17 AktG38.

__________ 32 So etwa die Vorinstanz ArbG Wesel, AiB 1999, 166; Trittin in Däubler/Kittner/Klebe, Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl. 2008, vor § 54 BetrVG Rz. 25. 33 Zutreffend Giesen (Fn. 7), EBRG Rz. 7. 34 So ausdrücklich auch Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 10. 35 So Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 10. 36 So Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 12. 37 Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 12. 38 BGHZ 90, 381 ff.; vgl. den Leitsatz: „Ein beherrschender Einfluss i. S. von § 17 AktG muss gesellschaftsrechtlich bedingt oder zumindest vermittelt sein.“

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Im Schrifttum39 wird zu Recht darauf hingewiesen, dass neben der SE-Richtlinie auch die SE-VO zur Bestimmung des Konzernbegriffs bzw. der Gruppenzugehörigkeit auf die mitgliedstaatlichen Regelungen Bezug nimmt – mit der Folge einer verwirrenden Vielfalt an Begrifflichkeiten. Auch insoweit gilt, dass es keine einheitliche SE gibt, sondern ebenso viele Europäische Aktiengesellschaften wie es Mitgliedsstaaten gibt. Diese Begriffsvielfalt mag man beklagen, sie ist vom europäischen Gesetzgeber indes bewusst in Kauf genommen worden. e) Zwischenergebnis Festzuhalten ist damit, dass die für den Beherrschungsbegriff des § 17 AktG entwickelten Grundsätze ohne weiteres auf den europarechtlichen Abhängigkeitsbegriff übertragbar sind. Der dort verwandte Begriff der Abhängigkeit ist jedenfalls nicht enger als derjenige des EBRG, des SEBG und der einschlägigen europäischen Richtlinien. 2. Bedeutung des „potentiellen Konzerns“ Zumindest missverständlich ist es, wenn in Äußerungen im deutschen Schrifttum zum Begriff des „beherrschenden Einflusses“ in § 2 Abs. 3 SEBG bzw. § 6 EBRG vereinzelt die Auffassung vertreten wird, ein „potentieller Konzern“ reiche für die Annahme eines Beherrschungsverhältnisses aus40. Gemeint ist mit dieser ungenauen Formulierung, dass es der tatsächlichen Ausübung einer einheitlichen Leitung – im Gegensatz zu § 18 Abs. 1 AktG – nicht bedarf41. Auch unter § 2 Abs. 3 SEBG lässt sich dagegen in keinem Fall eine Konstellation subsumieren, in der ein Unternehmen beabsichtigt, sich künftig – sei es auch in absehbarer Zeit – die Möglichkeit zu verschaffen, einen beherrschenden Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben zu können. Die missverständlich mit dem Begriff „potentieller Konzern“ umschriebene Konstellation setzt also eine derzeit bereits bestehende Beherrschungsmöglichkeit voraus, die lediglich noch nicht wahrgenommen wurde42. Im Übrigen entspricht es ganz herrschender Meinung, dass selbst dann, wenn der schuldrechtliche Vertrag über einen Anteilskauf bereits abgeschlossen, das dingliche Erfüllungsgeschäft aber noch nicht vollzogen ist, noch nicht von einem Abhängigkeitsverhältnis gesprochen werden kann43.

__________ 39 Lächler (Fn. 15), S. 123. 40 Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 4; Hromadka, DB 1995, 1125; Windbichler, ZfA 1996, 1, 11. 41 Für das EBRG: Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 4; für das AktG: BGHZ 62, 193, 201; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2004, § 17 AktG Rz. 18; Krieger in FS Semler, 1993, S. 503, 510. 42 Vgl. nur BGHZ 62, 193, 201; Windbichler (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 19. 43 OLG Düsseldorf, ZIP 1993, 1791 ff.; Krieger in Münchener Handbuch Gesellschaftsrecht, Band 4 Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 68 Rz. 43; ders. (Fn. 41), S. 503, 505 ff.; Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 12; Windbichler (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 50; a. A. jedoch Bayer in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 17 AktG Rz. 53.

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3. Prüfung des Beherrschungsverhältnisses am Maßstab von § 6 Abs. 2 EBRG Die Überprüfung des maßgeblichen Abhängigkeitsverhältnisses hat damit im Einzelfall anhand der Vermutungen des § 6 Abs. 2 EBRG zu erfolgen, für deren Auslegung auf die zu der Parallelvorschrift des § 17 AktG entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden muss. Im Folgenden seien exemplarisch nur einige Problemfelder herausgegriffen. a) Bestellung von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EBRG wird ein beherrschender Einfluss widerleglich vermutet, wenn ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des anderen Unternehmens bestellen kann. Auf den ersten Blick scheint diese Voraussetzung bei einem paritätisch mitbestimmten Unternehmen schon von vornherein ausgeschlossen zu sein. Für den Anwendungsbereich des § 17 AktG ist allerdings anerkannt, dass es im Fall der paritätischen Besetzung des Aufsichtsgremiums ausreichen muss, wenn ein Unternehmen in der Lage ist, die Gesamtheit der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat zu stellen44. Ein rein faktischer Einfluss auf die Besetzung von Leitungspositionen im betroffenen Unternehmen reicht weder für § 6 EBRG noch für die europäischen und nationalen Parallelvorschriften aus. Der in § 6 Abs. 2 EBRG gewählte Begriff der „Bestellung“ stellt formal auf das Rechtsgeschäft ab, das die Organstellung begründet45. Es kann daher nicht genügen, wenn eine Gesellschaft im Einzelfall nur aufgrund von Absprachen mit (nicht von ihr gestellten) Aufsichtsratsmitgliedern die Möglichkeit hat, Positionen im Vorstand zu besetzen. Erforderlich ist vielmehr eine rechtlich gesicherte Kompetenz zur Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern. b) Mehrheit der mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte bzw. der Kapitalmehrheit Ein beherrschender Einfluss wird gem. § 6 Abs. 2 Nr. 2 EBRG ferner dann vermutet, wenn ein Unternehmen über die Mehrheit der mit den Anteilen am anderen Unternehmen verbundenen Stimmrechte verfügt. Erwägenswert erscheint es, ähnlich wie bei § 17 AktG auch im Rahmen von § 6 Abs. 2 Nr. 2 EBRG eine faktische Hauptversammlungsmehrheit ausreichen zu lassen46. Eine solche faktische Hauptversammlungsmehrheit muss indes eine gewisse

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44 So für § 17 AktG die ganz h. M., vgl. Eckhoff (Fn. 11), S. 151; Hüffer (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 11; Windbichler (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 46. 45 Eckhoff (Fn. 11), S. 154 f.; Fiedler, ArbuR 1996, 180, 181. 46 Im Rahmen von § 17 AktG kann eine Minderheitsbeteiligung als Beherrschungsmittel genügen, wenn aufgrund der Zusammensetzung des Aktionärskreises und der regelmäßigen Hauptversammlungspräsenz die Minderheitsbeteiligung tatsächlich wie eine Mehrheit wirkt (vgl. BGHZ 69, 334, 347; 135, 107, 114 f.; Hüffer (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 9; Krieger (Fn. 43), § 68 Rz. 42).

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Beständigkeit aufweisen, um zu einer Beherrschung trotz fehlender Mehrheitsbeteiligung zu führen47. Die widerlegliche Vermutung des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EBRG, die auf die Mehrheit des gezeichneten Kapitals abstellt, wird angesichts der leicht zu ermittelnden Grenze in der Praxis kaum Probleme bereiten. c) Beherrschender Einfluss aufgrund anderer Umstände aa) Notwendigkeit einer gesellschaftsrechtlichen Vermittlung des Einflusses Die Beherrschungstatbestände in § 6 Abs. 2 EBRG und Art. 3 Abs. 2 RL 94/45/ EG sind aus systematischen und grammatikalischen Gründen als europarechtlich abschließende Vorgaben für die Ermittlung einer Mutter-Tochterbeziehung i. S. v. § 2 Abs. 3 SEBG anzusehen. Im Übrigen greifen nur die mitgliedstaatlichen Regelungen zur Unternehmensabhängigkeit und auch diese nur dann, wenn sich nicht aus dem Gesamtzusammenhang der drei Vermutungstatbestände eine Einschränkung ergibt. Aus der Sicht des deutschen Rechts kann sich damit die Frage stellen, ob die Gründungsgesellschaft auf sonstige – nicht in § 6 Abs. 2 EBRG ausdrücklich erwähnte – Weise einen beherrschenden Einfluss auf andere Unternehmen ausüben kann. Im Rahmen der maßgeblichen Vorschrift des § 17 AktG dürfen nur solche Einflussmöglichkeiten berücksichtigt werden, die gesellschaftsrechtlich vermittelt sind48. Abhängigkeit i. S. d. § 17 AktG liegt nur vor, wenn es um gesellschaftsrechtlich fundierte, d. h. in die Binnenstruktur der AG eingreifende Einflussmöglichkeiten geht. Rein wirtschaftliche, gesellschaftsrechtlich nicht abgesicherte Abhängigkeiten, die allein durch externe Austauschbeziehungen, wie etwa durch Liefer-, Lizenz- oder Kreditverträge, begründet sind und einem Unternehmen einen durch die Marktlage bedingten Einfluss auf das geschäftliche Verhalten der Gesellschaft sichern, reichen nicht aus. Der Beherrschungsbegriff soll die Gesellschafter innerhalb einer abhängigen Gesellschaft gegen Einwirkungen auf deren Unternehmensführung schützen, die sich aus einer Ausnutzung spezifisch gesellschaftsrechtlicher Möglichkeiten ergeben können und deshalb auch mit gesellschaftsrechtlichen Mitteln zu bekämpfen sind. Daran knüpft auch die mitbestimmungsrechtliche Regelung an, die einen Einfluss der Arbeitnehmer in den Aufsichts- oder Verwaltungsorganen von Kapitalgesellschaften sicherstellen soll. Ziel des Abhängigkeitsmodells ist es dagegen nicht, Gefahren zu erfassen, die jedem auf dem Markt auftretenden Unternehmen – nicht nur einer Kapitalgesellschaft – durch die Ausübung fremder wirtschaftlicher Macht drohen49. Im Schrifttum wird sogar teilweise die Auffassung vertreten, andere als gesellschaftsrechtlich vermittelte Abhängigkeiten dürften nicht einmal dann in die

__________ 47 Windbichler (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 24. 48 BGHZ 90, 381, 395 ff.; 135, 107, 114; Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 15; Hüffer (Fn. 16), § 17 AKtG Rz. 8. 49 BGHZ 90, 381, 395 ff.

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Betrachtung einbezogen werden, wenn sie zu einer Beteiligung hinzutreten50. Die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur geht dagegen mit Recht davon aus, dass tatsächliche Umstände eine bestehende gesellschaftsrechtlich vermittelte Einflussmöglichkeit verstärken können51. Auch für das Recht der SE muss damit gelten, dass tatsächliche Einflussmöglichkeiten nur ergänzend herangezogen werden dürfen52. Dies ergibt sich nicht nur aufgrund des Verweises auf das nationale Recht in Art. 3 Abs. 6 RL 94/45/EG. Vielmehr verdeutlicht die Aufzählung der Beherrschungsmittel in § 6 Abs. 2 EBRG und Art. 3 Abs. 2 RL 94/45/EG, dass die Richtlinie ebenfalls einen gesellschaftsrechtlichen Anknüpfungspunkt wählt. Die dort genannten Beherrschungsmittel sind ausschließlich gesellschaftsrechtlicher Natur. Sowohl die Organbestellungsrechte als auch die Mehrheit der Anteile oder des gezeichneten Kapitals sind jeweils gesellschaftsrechtliche Einflussmöglichkeiten. Daraus lässt sich ableiten, dass der europäische Gesetzgeber (bei Art. 3 Abs. 2 der Betriebsräte-Richtlinie 94/45/EG und Art. 2 lit. c) der SE-Richtlinie 2001/86/EG) und damit richtlinienkonformer Auslegung auch der deutsche Gesetzgeber (bei § 6 Abs. 2 EBRG und § 2 Abs. 3 SEBG) von einer gesellschaftsrechtlichen Vermittlung des Einflusses ausgeht. Selbst wenn man also für § 17 AktG ein weites Verständnis des Abhängigkeitsbegriffs vertreten wollte, so zwingen diese eindeutigen europarechtlichen Vorgaben dazu, jedenfalls für den Beherrschungstatbestand der § 6 Abs. 2 EBRG und § 2 Abs. 3 SEBG eine gesellschaftsrechtlich vermittelte Möglichkeit der Einflussnahme zu verlangen. Rein wirtschaftliche Verflechtungen – wie sie etwa zwischen Produzent und Zulieferer bestehen können – genügen daher nicht. bb) Personelle Verflechtung In der aktienrechtlichen Literatur wird vereinzelt auch eine personelle Verflechtung als denkbarer Anknüpfungspunkt für eine Beherrschung genannt53. Solche personellen Verflechtungen reichen indes – ebenso wie wirtschaftliche Verbindungen – ebenfalls nur dann aus, wenn damit ein schon bestehender, erheblicher und gesellschaftsrechtlich vermittelter Einfluss verstärkt wird54. Personelle Verflechtungen als solche begründen kein Abhängigkeitsverhältnis55, wie für das Aktienrecht schon aus § 101 Abs. 2 Satz 4 AktG folgt56.

__________ 50 Hüffer (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 8. 51 BGHZ 135, 107, 114; Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 18; Krieger (Fn. 43), § 68 Rz. 40. 52 So auch Müller (Fn. 11), § 6 EBRG Rz. 6; Rademacher (Fn. 11), S. 86; a. A. Blanke (Fn. 10), § 6 EBRG Rz. 12. 53 Bayer (Fn. 43), § 17 AktG Rz. 33; Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 19; Krieger (Fn. 43), § 68 Rz. 42. 54 Krieger (Fn. 43), § 68 Rz. 42. 55 Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 19. 56 Emmerich (Fn. 14), § 17 AktG Rz. 19.

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Ob eine personelle Verflechtung zu einem beherrschenden Einfluss im Sinne des SEBG bzw. der Richtlinie 94/45/EG führen kann, muss mit Rücksicht auf die Wertung des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EBRG (entsprechend Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 94/45/EG) beurteilt werden. Danach wird ein beherrschender Einfluss erst dann angenommen, wenn ein Unternehmen bei einem anderen Unternehmen mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungsoder Aufsichtsorgans bestellen kann, und selbst für diesen Fall wird nur eine widerlegliche Vermutung aufgestellt. Die Anforderungen sind damit hoch. Aus der Wahl des Wortes „bestellen“ folgt gerade, dass ein rein faktischer Einfluss auf die Personalpolitik nicht ausreichend ist. Vielmehr muss es sich um eine gesicherte Rechtsposition des beherrschenden Unternehmens handeln. Für andere, nicht in § 6 Abs. 2 EBRG aufgezählte Einflussmöglichkeiten muss im Interesse einer widerspruchsfreien Gesamtregelung ebenfalls ein restriktives Verständnis gefordert werden. 4. Bedeutungslosigkeit eines Pflichtangebots nach § 35 Abs. 1 WpÜG Kein rechtlich relevanter Konnex besteht zwischen dem Kontrollbegriff des WpÜG und dem Beherrschungsbegriff der mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften. Nach § 35 Abs. 1 WpÜG ist ein Unternehmen verpflichtet ein sog. Pflichtangebot zur Übernahme zu unterbreiten, wenn es „unmittelbar oder mittelbar die Kontrolle über eine Zielgesellschaft erlangt“. Unter „Kontrolle“ ist nach § 29 Abs. 2 WpÜG „das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte der Zielgesellschaft“ zu verstehen. Für die Beurteilung eines beherrschenden Einflusses ist diese Regelung ohne jede Bedeutung. Mit der Anknüpfung an den Begriff der „Kontrolle“ verfolgt der Gesetzgeber im WpÜG ein Regelungsanliegen, das sich grundlegend von dem Normzweck unterscheidet, der dem gesellschafts- und mitbestimmungsrechtlichen Begriff des „beherrschenden Einflusses“ im Recht der SE bzw. einer Aktiengesellschaft zugrunde liegt. § 29 WpÜG verfolgt als Schutzzweck den Erhalt der wettbewerblichen Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes57. Das Pflichtangebot nach § 35 Abs. 1 WpÜG will die Anleger der übernommenen Gesellschaft schützen58. Das Aktiengesetz und ebenso der Beherrschungsbegriff in den einschlägigen europäischen Mitbestimmungsrichtlinien beziehen sich dagegen nicht auf den Kapitalmarkt und den Kapitalanlegerschutz. Vielmehr soll die betroffene (abhängige) Gesellschaft im Interesse der Gesellschafter und Gesellschaftsgläubiger vor einem sachfremden Einfluss eines anderen (herrschenden) Unternehmens geschützt werden59. Zudem wählt das WpÜG einen abweichenden Anknüpfungspunkt. Das Konzept des WpÜG ist ein strikt formelles, wohingegen im Aktienrecht und in den EG-Richtlinien die Beherrschungsmöglichkeit materiell beurteilt wird.

__________ 57 Oechsler in Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003, § 29 WpÜG Rz. 1. 58 v. Bülow in KölnKomm.WpÜG, 2003, § 35 WpÜG Rz. 4; Steinmeyer/Häger, WpÜG, 2. Aufl. 2007, § 35 WpÜG Rz. 2. Vgl. auch Oechsler (Fn. 57), § 35 WpÜG Rz. 7. 59 Kuhlmann/Ahnis, Konzern- und Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 2007, S. 1.

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Für das WpÜG ist es – gerade im Gegensatz zum Beherrschungsbegriff in den einschlägigen Richtlinien und in § 17 AktG – bedeutungslos, ob eine Beherrschungsmöglichkeit besteht. § 29 WpÜG knüpft sehr formal an eine bestimmte Schwelle an, die über eine Beherrschungsmöglichkeit im Einzelfall nichts aussagt60. So wird bspw. eine Kontrolle im Sinne des § 29 WpÜG selbst dann angenommen, wenn ein Entherrschungsvertrag zwischen den beiden Unternehmen besteht. Es muss nicht betont werden, dass an eine Beherrschung im hier maßgeblichen Sinne in solchen Konstellationen nicht zu denken ist61. Dem Tatbestand der Kontrolle in § 29 WpÜG lässt sich damit nicht einmal eine Indizwirkung für ein von anderen gesetzlichen Regelungen gefordertes Beherrschungsverhältnis entnehmen62.

V. Zusammenfassung Die Ergebnisse der Untersuchung des mitbestimmungsrechtlichen Abhängigkeitsbegriffs lassen sich in zehn Thesen zusammenfassen: 1. Das europäische SE-Recht verzichtet bewusst auf die Aufnahme einer konzernrechtlichen Regelung, da eine solche die Konsensfähigkeit der Mitgliedstaaten bei weitem überfordert hätte. Für gesellschaftsrechtliche Fragen ist für das „Konzernrecht“ der SE auf das nationale Aktienkonzernrecht des jeweiligen Sitzstaates der SE abzustellen mit der Folge einer europaweit verwirrenden Vielfalt von Regelungsgrundlagen. 2. Der Begriff des „herrschenden Unternehmens“, der in den mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften des SEBG und des in Bezug genommenen EBRG verwendet wird, ist grundsätzlich autonom auszulegen. 3. Davon unabhängig bestehen aber zwischen der Definition des „herrschenden Unternehmens“ in den nationalen Regeln und in der Richtlinie 94/45/ EG keine inhaltlichen Divergenzen. Beide Definitionen einer relevanten Unternehmensverbindung stellen entscheidend darauf ab, ob unmittelbar oder mittelbar ein beherrschender Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausgeübt werden kann. 4. Das im französischen und angloamerikanischen Rechtskreis verbreitete sog. control-Konzept hat sich zwar als Anknüpfungspunkt für Regelungen im Unternehmensverbund vielfach durchgesetzt. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 94/45/EG, den § 6 Abs. 2 EBRG in nationales Recht transformiert und der aufgrund der Verweisungstechnik auch dem Mitbestimmungsrecht der SE zugrunde liegt, greift indes dieses Konzept gerade nicht auf, sondern verlangt ebenfalls ein Abhängigkeitsverhältnis.

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60 Ebenso v. Bülow (Fn. 58), § 29 WpÜG Rz. 69; Steinmeyer/Häger (Fn. 58), § 29 WpÜG Rz. 13; a. A. jedoch – obwohl dem eigenen Ergebnis gegenüber sehr kritisch – Oechsler (Fn. 57), § 29 WpÜG Rz. 13. 61 Zur Möglichkeit der Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG durch Entherrschungsverträge vgl. nur Hüffer (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 22; Windbichler (Fn. 16), § 17 AktG Rz. 76. 62 In diese Richtung auch v. Bülow (Fn. 58), § 29 WpÜG Rz. 69.

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5. Die für den Beherrschungsbegriff des § 17 AktG entwickelten Grundsätze sind auf den europarechtlichen Abhängigkeitsbegriff übertragbar. Der dort verwandte Begriff der Abhängigkeit ist keinesfalls enger als derjenige des EBRG, des SEBG und der einschlägigen europäischen Richtlinien. 6. § 2 Abs. 3 Satz 1 SEBG und der Regelung in Art. 2 lit. c) der SE-Richtlinie 2001/86/EG lässt sich allenfalls ein umgekehrter Hinweis auf ein enges Verständnis der Abhängigkeit im Recht der SE entnehmen. Beide Vorschriften verweisen ausdrücklich nur auf „einen beherrschenden Einfluss im Sinne von Art. 3 Abs. 2 bis 7“ der RL 94/45/EG. Die im ersten Absatz enthaltene allgemeine Definition eines herrschenden Unternehmens, die derjenigen in § 17 Abs. 1 AktG entspricht, soll offenbar nicht zur Geltung kommen. Die Aufzählung der Beherrschungsmittel in § 6 Abs. 2 EBRG bzw. Art. 3 Abs. 2 RL 94/45/EG lässt sich damit als Eingrenzung der relevanten Beherrschungstatbestände begreifen. 7. Abhängigkeit i. S. d. § 17 AktG liegt nur bei solchen Einflussmöglichkeiten vor, die gesellschaftsrechtlich fundiert sind, d. h. in die Binnenstruktur der AG eingreifen. 8. Für den Beherrschungstatbestand der § 6 Abs. 2 EBRG und § 2 Abs. 3 SEBG ist ebenfalls eine gesellschaftsrechtlich vermittelte Möglichkeit der Einflussnahme zu verlangen. Rein wirtschaftliche Verbindungen – wie sie etwa zwischen Produzent und Zulieferer bestehen können – genügen ebenso wenig wie rein personelle Verflechtungen. 9. Dem Tatbestand der Kontrolle in § 29 WpÜG lässt sich nicht einmal eine Indizwirkung für ein von den europäischen und nationalen Mitbestimmungsregeln gefordertes Beherrschungsverhältnis entnehmen. 10. Steht damit ein nationales oder ausländisches Unternehmen in keinem Abhängigkeitsverhältnis i. S. d. § 17 AktG, so ist seine Belegschaft keinesfalls bei der Zusammensetzung des Besonderen Verhandlungsgremiums zu berücksichtigen.

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Einschränkung und Ausschluss des Abfindungsanspruchs des Personengesellschafters in der Rechtsprechung des BGH Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die gesetzliche Regelung, ihre Abänderung und deren Hintergründe 1. Die gesetzliche Regelung 2. Abänderung der gesetzlichen Regelung und ihre Hintergründe III. Die Grundzüge der Rechtsprechung zu den Grenzen für die Einschränkungsoder Ausschlussklauseln 1. Zu den Grenzen für die den Abfindungsanspruch einschränkenden Klauseln a) Die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes

b) Die Einzelheiten zu den Grundsatzgruppen 2. Rechtsprechungsgrundsätze zur Freiberufler-Sozietät bzw. zur Gemeinschaftspraxis 3. Zu den einen Abfindungsanspruch ausschließenden Klauseln IV. Würdigung der Rechtsprechung zu den Einschränkungs- und Ausschlussklauseln 1. Rechtsprechung zu den Einschränkungsklauseln 2. Die Ausschlussklauseln V. Zusammenfassung und Ergebnis

I. Einleitung Scheidet ein Gesellschafter aus einer Personengesellschaft aus, „so wächst sein Anteil am Gesellschaftsvermögen den übrigen Gesellschaftern zu“1. Diese Vorschrift ist unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des BGH auszulegen, nach der die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (künftig: GbR) selbst Träger von Rechten und Pflichten sein kann2. Danach verbleibt das Vermögen des ausscheidenden Gesellschafters bei der GbR, während sich der Wert der Anteile der verbleibenden Gesellschafter um den Wert des Anteils des ausscheidenden Gesellschafters erhöht3. Diesem Gesellschafter ist nach dem Gesetz4 dasjenige zu zahlen, was er bei der Auseinandersetzung erhalten würde, wenn die Gesellschaft zur Zeit seines Ausscheidens aufgelöst worden wäre. Die gesetzliche Regelung ist jedoch dispositiv. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die Mehrzahl der Personengesellschaften, die über ein nicht uner-

__________ 1 § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB; diese Vorschrift ist kraft Verweisung auch auf die oHG (§ 105 Abs. 3 HGB) und die KG (§§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB) anzuwenden. 2 BGHZ 146, 341; BGH, ZIP 2002, 614; BGH, ZIP 2006, 2128. 3 Vgl. dazu Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 208, S. 1319. 4 § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB.

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hebliches Eigenvermögen verfügen, für den Fall des Ausscheidens von Gesellschaftern Abfindungsklauseln in ihren Gesellschaftsvertrag aufnimmt, die von der gesetzlichen Regelung mehr oder minder stark zu Lasten des ausscheidenden Gesellschafters abweichen oder eine Abfindung – beschränkt auf bestimmte Verhaltensweisen eines Gesellschafters – gänzlich ausschließen. Im Schrifttum werden unterschiedliche Ziele genannt, die mit den Abfindungsklauseln verfolgt werden. Sie reichen von der Vermögens- und Liquiditätssicherung über die Erschwerung des Ausscheidens durch Kündigung des Gesellschafters und das Bestreben, die Bemessung des Abfindungsanspruchs zu vereinfachen und dadurch Streitigkeiten zu vermeiden, bis hin zu der Absicht, dem Gesellschafter oder seinen Erben den Anteilswert nur zum Teil zukommen zu lassen oder dem Zugriff der Gläubiger des Gesellschafters zu entziehen5. Die Rechtsprechung hat sich immer wieder mit den Grenzen befasst, denen die Einschränkung des Abfindungsanspruchs eines Gesellschafters unterliegt. Ihre Ergebnisse sind aus der Sicht der beratenden Praxis nachhaltig kritisiert worden6. Auch unter ökonomischem Aspekt sind bestimmte Vorbehalte geäußert worden7. Die Wissenschaft hat dogmatische Einwände erhoben8. Ist es sinnvoll, eine Rechtsprechung, die unter unterschiedlichen Aspekten kritisiert wird, aufrecht zu erhalten?

II. Die gesetzliche Regelung, ihre Abänderung und deren Hintergründe 1. Die gesetzliche Regelung Der Verbleib des Anteils des ausscheidenden Gesellschafters im Gesellschaftsvermögen9 führt dazu, dass sich der Wert der Anteile der verbleibenden Gesellschafter entsprechend ihrer Beteiligung um den Unternehmenswert erhöht, den der Anteil des ausscheidenden Gesellschafters am Wert des Gesellschaftsunternehmens verkörpert. Der ausgeschiedene Gesellschafter hat einen Anspruch gegen die Gesellschaft darauf, dass ihm dieser Wert ersetzt wird. Da mit dem Ausscheiden aus der Gesellschaft die Mitgliedschaft erlischt und die Rechtsprechung die persönliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der GbR als akzessorisch versteht10, hat sie folgerichtig entschieden, dass die verbleibenden Gesellschafter dem Ausgeschiedenen auch für den Abfindungsanspruch haften11.

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5 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 3), S. 1483; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, Handelsgesetzbuch, 2. Aufl. 2008, § 131 HGB Rz. 115; Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 10. Aufl. 2005, § 6 Rz. 144. 6 Vgl. u. a. Sigle, ZGR 1999, 659, 661 ff.; auf Schwierigkeiten weist auch Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 300 ff. hin. 7 Wangler, DB 2001, 1763, 1764 f. 8 Vgl. u. a. Wiedemann, WM 1990, Beilage 8, S. 2, 21 ff.; Wiedemann, WM 1992, Beilage 7, S. 4, 41; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 3) S. 1481 ff.; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 141 ff.; Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 277, insbes. 287 ff. 9 Ausgenommen sind nur die vom ausscheidenden Gesellschafter der Gesellschaft quoad usum überlassenen Gegenstände, § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB. 10 BGHZ 146, 341, 358. 11 BGHZ 148, 201, 206.

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Nach dem Gesetzeswortlaut12 ist als Abfindung dasjenige zu zahlen, was der ausgeschiedene Gesellschafter „bei der Auseinandersetzung erhalten würde, wenn die Gesellschaft zur Zeit seines Ausscheidens aufgelöst worden wäre“. Diese Formulierung und die Regelung über die Beteiligung des Ausgeschiedenen an dem Ergebnis schwebender Geschäfte13 deuten darauf hin, dass der Abfindungsanspruch durch die Erstattung des anteiligen Liquidationswertes erfüllt werden soll. Davon und von der Abfindung nach Substanzwerten14 hat sich die Rechtsprechung schon lange entfernt. Eine Abfindung nach dem Liquidationswert legt sie nur noch dann zugrunde, wenn er den Ertragswert erheblich übersteigt15. Es entspricht – und das sogar gestützt auf die Gesetzesmaterialien – im Schrifttum seit langem weit überwiegender Ansicht, dass der Anteilswert nach dem Fortführungswert des Unternehmens zu bemessen ist16. Auch die Rechtsprechung vertritt schon seit geraumer Zeit diesen Standpunkt17. 2. Abänderung der gesetzlichen Regelung und ihre Hintergründe In der Praxis finden sich vielfältige Abfindungsvereinbarungen, die von der gesetzlichen Regelung zu Lasten des einzelnen aus einer Gesellschaft Ausscheidenden abweichen. Über dieses Phänomen ist im Rahmen einer wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation18 eine empirische Untersuchung angestellt worden. Sie kommt auf der Grundlage der erteilten Auskünfte19 zu dem Ergebnis, dass die Abfindung zum Buchwert weit vor der zum – in dieser Reihenfolge – Substanzwert, Nennwert der Einlage, kombinierten Substanz- und Ertragswert und Ertragswert rangiert. Die in der Praxis20 am häufigsten verwendeten Abfindungsklauseln lassen sich wie folgt klassifizieren: Außer einer Abfindung zum „wirklichen“ oder „wahren“ anteiligen Unternehmenswert – häufig unter Festlegung des Verfahrens zu seiner Ermittlung – und der Buchwertklausel kommt eine Vielzahl von Kombinations- und Mischformen zum Einsatz. So wird vom Buchwert ein bestimmter Abschlag gemacht, andererseits wird dem Buchwert auch ein bestimmter Erhöhungsbetrag hinzugefügt.

__________ 12 13 14 15 16 17 18 19 20

§ 738 Abs. 1 Satz 2 BGB. § 740 BGB. Vgl. dazu BGH, WM 1971, 1450; BGH, NJW 1974, 312. BGH, ZIP 2006, 851. Wiedemann, Gesellschaftsrecht Bd. II, 2004, § 3 III 3 m. w. N. in Fn. 248–250 (S. 242); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 3) S. 1477; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn (Fn. 5), § 131 Rz. 97 f. BGHZ 116, 359, 370 f. für die GmbH und m. w. N. aus der Rechtsprechung zum Personengesellschaftsrecht; BGH, NJW 1982, 2441; BGH, NJW 1985, 192, 193; BGH, NJW 1993, 2101, 2103. Baumann, Abfindungsregelungen für ausscheidende Gesellschafter bei Personengesellschaften, Diss. Stuttgart, 1987. Die Quote der Antworten auf die Anfragen bei Personengesellschaften beträgt 23,55 %. Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Fn. 5), § 131 Rz. 118; Piltz, BB 1994, 1021; Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 294 f., teilweise unter Berufung auf Ulmer in FS Quack, 1991, S. 477.

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Der Vermögenssteuerwert, der Substanzwert, der Verkehrswert unter Vornahme eines bestimmten Abschlages, ein Mischwert von Ertrags- und Substanzwert oder die Unternehmenswertermittlung nach der Übergewinnmethode bzw. dem Stuttgarter Verfahren finden sich immer wieder. Die Auszahlung dieser Abfindungsbeträge wird auch durch längere Auszahlungsfristen hinausgezögert, wobei ihr Wert zusätzlich durch eine geringe Verzinsung gemindert wird21. Ferner wird die Buchwertklausel für die Kündigung des Gesellschafters, seine Insolvenz oder die Kündigung durch seinen Privatgläubiger vereinbart, hingegen für sonstige Fälle seines Ausscheidens eine höhere Abfindung vorgesehen. Es wird auch versucht, Abfindungsansprüche der Gesellschafter gänzlich auszuschließen. Das geschieht aber – sicher unter dem Eindruck der Rechtsprechung, die ja doch deutlich zu erkennen gegeben hat, dass bei der Bemessung des Abfindungswertes gewisse Grenzen nicht unterschritten werden dürfen – nur in Ausnahmefällen in der Weise, dass dem ausscheidenden Gesellschafter überhaupt keine Abfindung gewährt wird, gleichgültig, auf welchen Umständen sein Ausscheiden aus der Gesellschaft beruht. Die Versagung jeglicher Abfindung wird in der überwiegenden Zahl der Fälle an bestimmte zum Ausscheiden aus der Gesellschaft führende Verhaltensweisen geknüpft, wie z. B., dass der Gesellschafter die Kündigung ausspricht oder er eine fristlose oder vorzeitige Kündigung schuldhaft zu vertreten hat. Sucht man nach den Gründen für diese zu Lasten aller Gesellschafter vereinbarten Klauseln, so stößt man in der Rechtsprechung und im (juristischen) Schrifttum vor allem auf zwei Gesichtspunkte: Der Gesellschaft soll dadurch die Liquidität erhalten bleiben und ein Bestandsschutz gewährleistet werden, dass ein Kapitalabfluss so weit wie möglich eingeschränkt wird. Damit geht die Funktion der Abfindungsbeschränkung als Austrittsbarriere und Gesellschafterdisziplinierung einher. Ferner haben die Gesellschafter – insbesondere bei Vereinbarung der Buchwertklausel – im Auge, die Berechnung der Höhe des Abfindungsanspruchs zu vereinfachen und dadurch Streitigkeiten zu vermeiden22. Weit tiefer als diese juristische Begründung dringt die ökonomische Analyse in die für die Abfindungsklauseln maßgebenden Hintergründe ein: Die Gründung einer Personengesellschaft bringe für jeden der beteiligten Gesellschafter in der Regel hohe Kosten mit sich, die durch Aufgabe oder Einschränkung der bisherigen Tätigkeit, Kündigung von Geldanlagen, Aufbau des neuen Gesellschaftsunternehmens und projektspezifische Investitionen entstünden. Solche Kosten

__________ 21 Vgl. die Zusammenstellung bei Rasner, ZHR 158 (1994), 292, 294 f.; vgl. auch die Aufzählung bei Wiedemann, WM 1992, Beilage 7, S. 4, 40. 22 Vgl. BGHZ 116, 359, 368; Sigle, ZGR 1999, 659, 661 f.; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 34 GmbHG Rz. 79; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Fn. 5), § 131 HGB Rz. 115 m. w. N. in Fn. 286; auch Wiedemann, WM 1992, Beilage 7, S. 4, 40.

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könnten sich aber erst nach einer bestimmten Mindestnutzungsdauer amortisieren. Scheide ein Gesellschafter vorzeitig aus, müsse ein Nachfolger gesucht, gegebenenfalls die Gesellschaft aufgelöst werden, wenn man einen solchen nicht finde. Beides verursache hohe Transaktionskosten. Bei Fortführung des Gesellschaftsunternehmens sinke die Rendite, weil die nur in der Zusammenarbeit mit dem ausscheidenden Gesellschafter erzielbaren Renditeteile entfielen23. Die Möglichkeit, die gesetzliche Abfindungsregelung zulasten der Gesellschafter abzuändern, wird als ein Mittel angesehen, mit dem die Gesellschafter durch Vereinbarung einer nachteiligen Abfindungsklausel ihr gegenseitiges Interesse an einer längerfristigen oder dauerhaften Bindung ergründen und zum Ausdruck bringen könnten. Mit der Anerkennung einer solchen Klausel habe der vorzeitig Ausscheidende akzeptiert, dass er sich durch seinen Verzicht auf eine anteilige Abfindung nach dem wirklichen Unternehmenswert pauschal an den durch sein Ausscheiden entstehenden, nicht mehr amortisierbaren Kosten beteilige, während diese bei dem Ausscheidenden vorgenommenen „Abstriche“ die bei den verbleibenden Gesellschaftern eintretenden Nachteile bzw. Mehrbelastungen ausgleichen sollten24. Zwiespältig werden unter ökonomischem Aspekt allerdings die mit der Buchwertabfindung verfolgten Ziele gesehen, die Ermittlung des Abfindungsbetrages zu erleichtern und Streitigkeiten der Gesellschafter zu vermeiden. Es fielen zwar keine Kosten für die Ermittlung des Abfindungsbetrages an. Nicht ausgeschlossen würden aber ohne weiteres Kosten für die Beilegung eines Streits über die ökonomische Einordnung von Aufwandsrückstellungen (§ 249 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 HGB), der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung zulässigen Abschreibungen (§ 253 Abs. 4 HGB) und der steuerlichen Abschreibungen sowie der unversteuerten Rücklagen25. Einem Streit über die Einordnung könne eine die Buchwertklausel ergänzende Vereinbarung vorbeugen. Die Buchwertklausel könne aber auch Transaktionskosten verursachen. Da der Gesellschafter sein Ausscheiden in der Regel plane, werde er die Geschäftspolitik im Vorfeld seines Ausscheidens und damit die Auswirkungen der Abfindungsklausel zu seinen Gunsten zu beeinflussen versuchen, z. B. durch die Behinderung oder Verzögerung von Plänen, die Ausgaben im F&EBereich vorsähen. Derartige Transaktionskosten würden von Buchwertklauseln nicht vermieden, sondern ausgelöst26.

__________ 23 Wangler, DB 2001, 1763, 1764 unter Bezugnahme auf Wagner, BFuP 1994, 477, 489 f. und Walz, Privatautonomie oder rechtliche Intervention bei der Ausstattung und Änderung von Gesellschafterrechten – Diskussionsbeiträge zu Recht und Ökonomie der Universität Hamburg Nr. 14, 1992, S. 18 sowie – für Familiengesellschaften – Albach/Freund, Generationswechsel und Unternehmenskontinuität – Chancen, Risiken, Maßnahmen, 1989, S. 173 f. 24 Wangler, DB 2001, 1763, 1764. 25 Vgl. dazu Wangler, DB 2001, 1763, 1764 f.; Schulze-Osterloh, BB 1997, 1783, 1786 f. 26 Wangler, DB 2001, 1763, 1765; Schulze-Osterloh, BB 1997, 1783, 1786 f.

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III. Die Grundzüge der Rechtsprechung zu den Grenzen für die Einschränkungs- oder Ausschlussklauseln 1. Zu den Grenzen für die den Abfindungsanspruch einschränkenden Klauseln a) Die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Beschränkungen des Abfindungsanspruchs sind aufgrund der dispositiven Natur des gesetzlichen Abfindungsanspruchs grundsätzlich möglich. Wie insbesondere die auf ökonomischer Grundlage angestellten Hintergrundüberlegungen zeigen, sehen die Gesellschafter sie als ein sinnvolles und wirksames Mittel an, um die finanziellen und wirtschaftlichen Risiken, denen sie sich mit der Eingehung der gesellschaftlichen Bindung ausgesetzt haben, für den Fall des (vorzeitigen) Ausscheidens des einen oder anderen von ihnen und der Fortführung des Gesellschaftsunternehmens durch die Verbleibenden angemessen auszugleichen. Als selbstverständlich ist es anzusehen, dass Fehlentwicklungen dieser auf ökonomischen Überlegungen beruhenden Gestaltungsmaßnahmen nicht hingenommen werden können, sondern den Sanktionen der Rechtsordnung unterliegen. Die Beschränkung des Abfindungsanspruchs unterliegt den Grenzen, die § 138 – insbesondere Abs. 1 – BGB setzt. Der Bundesgerichtshof sieht die Voraussetzungen dieser Vorschrift dann als erfüllt an, wenn die „Einschränkung des Abflusses von Gesellschaftskapital vollkommen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die erforderlich ist, um im Interesse der verbleibenden Gesellschafter den Fortbestand der Gesellschaft und die Fortführung des Unternehmens zu sichern“. Eine derart grobe Unbilligkeit muss bereits bei der Entstehung der Regelung bestehen27. Stellt das Gericht die Nichtigkeit der Abfindungsregelung nach § 138 Abs. 1 BGB fest, ist die Höhe des Abfindungsanspruchs nach dem anteiligen Verkehrswert des Gesellschaftsunternehmens zu bemessen28. Die Vorschrift wendet der Bundesgerichtshof auch auf die Fälle der Gläubigerbenachteiligung an29. Eine weitere Wirksamkeitsschranke für Abfindungsbeschränkungen sieht der Bundesgerichtshof in der Regelung des § 723 Abs. 3 BGB30. Nach dieser Bestimmung ist eine Vereinbarung, nach der das Kündigungsrecht ausgeschlossen oder entgegen den Vorschriften der Absätze 1 und 2 der Vorschrift beschränkt wird, nichtig. Das betrifft einmal das Recht der Kündigung aus wichtigem Grund, das „als Grundprinzip des Verbandsrechts zu den zwingenden, unverzichtbaren Mitgliedschaftsrechten“ gehört31. Es greift bei Gesellschaftsrechtsverhältnissen ein, für die eine Zeitdauer bestimmt, also das ordentliche

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27 BGHZ 116, 359, 368; BGH, WM 1993, 1412, 1413; BGH, ZIP 2005, 1920, 1923; vgl. auch BGHZ 123, 281, 284. 28 BGHZ 116, 359, 375; BGHZ 126, 226, 240 für eine Andienungsklausel im Rahmen eines Schutzgemeinschaftsvertrages; BGH, ZIP 2005, 1917, 1919; BGH, WM 1983, 956; BGH, NJW 1989, 2685, 2686. 29 BGHZ 32, 151, 155 f.; BGHZ 65, 22, 28; BGHZ 144, 365, 367. 30 Vgl. zuletzt BGH, ZIP 2006, 851, 852 m. w. N. aus der Rspr. 31 BGHZ 116, 359, 369.

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Kündigungsrecht für einen von den Gesellschaftern festgelegten Zeitraum ausgeschlossen worden ist32. Einen Zeitraum von fünf Jahren hat der Bundesgerichtshof als unbedenklich angesehen33. Es gilt ferner für das ordentliche Kündigungsrecht in der für eine unbestimmte Zeit eingegangenen Gesellschaft34. Auch dieses Recht ist unverzichtbar35. Eine gesellschaftsvertragliche Regelung, mit der an eine Kündigung – sei es an die ordentliche, sei es an die außerordentliche aus wichtigem Grund – derart schwerwiegende Nachteile geknüpft werden, dass ein Gesellschafter vernünftigerweise davon absieht, das ihm kraft Gesetzes zustehende Kündigungsrecht auszuüben, widerspricht dem in § 723 Abs. 3 BGB zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken, dass eine Bindung ohne zeitliche Begrenzung und ohne Möglichkeit zur Kündigung mit der persönlichen Freiheit der Gesellschafter schlechterdings unvereinbar ist. Das ist im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses eine absolut geschützte Rechtsposition, die auch nicht im Einverständnis des Betroffenen aufgehoben werden kann36. Auch wenn daher der Gesellschafter in eine Beschränkung seines Abfindungsanspruchs einwilligt, die ihm im Rahmen seiner Gesellschafterposition nicht zugemutet werden kann, ist diese Beschränkung nichtig37. An die Stelle des Anspruchs auf Abfindung nach der vereinbarten Klausel tritt ein Anspruch auf Gewährung einer angemessenen Abfindung38. Auch in diesem Falle ist auf die Verhältnisse abzustellen, die im Zeitpunkt der Vereinbarung bestanden haben. Der Bundesgerichtshof hat seine frühere Rechtsprechung aufgegeben, nach der eine Klausel, die eine unter dem anteiligen Verkehrswert liegende Abfindung vorsah, dann nach § 723 Abs. 3 BGB als nichtig anzusehen war, wenn sich im Laufe der Zeit ein grobes Missverhältnis zwischen dem vertraglich vorgesehenen und dem anteiligen Verkehrswert entwickelt hatte39. Er geht nunmehr davon aus, dass die vertragliche Regelung in einem solchen Falle wirksam bleibt, jedoch nach Treu und Glauben an die geänderten Verhältnisse angepasst werden muss. Der Weg, auf dem das zu geschehen hat, ist die ergänzende Auslegung der Abfindungsklausel. Unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen ist im Hinblick auf die geänderten Verhältnisse der angemessene

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§ 723 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB. BGHZ 10, 91, 98; BGH, ZIP 2006, 851, 852. § 723 Abs. 1 Satz 1 BGB. BGH, ZIP 2006, 851, 852; BGH, NJW 1954, 106. BGH, ZIP 2006, 851, 852; BGHZ 126, 226, 230 f.; BGH, NJW 1985, 192, 193; BGH, NJW 1989, 3272; BGH, NJW 1973, 651, 652 (unter 2); BGHZ 116, 359, 360, 369 für das Recht auf Kündigung aus wichtigem Grund; für das Recht auf einseitige Übernahme bei fristloser Kündigung des anderen Gesellschafters vgl. BGH, ZIP 2007, 1309, 1312 Rz. 35. 37 BGHZ 116, 359, 369; BGH, WM 1984, 1506; BGH, NJW 1989, 3272; BGH, WM 1993, 1412, 1413. 38 BGHZ 116, 359, 371; BGHZ 123, 281, 283; BGH, WM 1983, 956; BGH, WM 1984, 1506. 39 BGHZ 116, 359, 369; BGH, WM 1984, 1506; BGH, NJW 1989, 3272.

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Abfindungsbetrag zu ermitteln, den die Parteien vereinbart hätten, wenn sie die Entwicklung vorhergesehen hätten40. b) Die Einzelheiten zu den Grundsatzgruppen Zur Frage der Gläubigerbenachteiligung hat der Bundesgerichtshof eine Regelung im Gesellschaftsvertrag als nichtig angesehen, die für den Fall der Pfändung des Geschäftsanteils einer GmbH oder der Insolvenz eines Gesellschafters die Anteilseinziehung gegen ein Entgelt vorsah, das sich nach dem Wert bemaß, der nach dem letzten Jahresabschluss auf den Geschäftsanteil entfiel. Das Entgelt war darüber hinaus in unverzinslichen Raten von 20 % des jeweils festgestellten Jahresgewinns auszuzahlen41. Darin sah der Bundesgerichtshof eine Schlechterstellung der Gesellschaftergläubiger gegenüber dem Abfindungsanspruch des Gesellschafters bei Kündigung, der sich nach dem Zeitwert der Aktiven und Passiven bei Aktivierung der stillen Reserven bemaß, während die Rückstellungen nach ihrer Auflösung abzurechnen waren. Eine Schlechterstellung wurde auch gegenüber dem Ausscheiden infolge grob vertragswidrigen Verhaltens des Gesellschafters angenommen, bei dem ihm die stillen Reserven und die Rückstellungen nicht zugute kamen. In einem weiteren Fall ließ der Gesellschaftsvertrag die Einziehung des Geschäftsanteils gegen ein Entgelt zu, das nach dem wirklichen Vermögenswert des Gesellschaftsunternehmens, aber ohne Ansatz des Firmenwertes zu berechnen war. Diese Regelung hat der Bundesgerichtshof deswegen als wirksam angesehen, weil die Abfindung des Gesellschafters für den vergleichbaren Fall seiner Ausschließung aus wichtigem Grund nach demselben Maßstab zu berechnen war42. Beide Entscheidungen werden von dem Gedanken getragen, dass vergleichbare Sachverhalte gleich geregelt werden müssen. Dieser Forderung wird dadurch entsprochen, dass der für den Fall der Anteilspfändung oder der Insolvenz des Gesellschafters festgelegte Wert auch im Falle seiner Ausschließung aus der Gesellschaft maßgebend ist43. Beide Umstände liegen in der Person des Gesellschafters. Sie können Folgen haben, die für die Gesellschaft äußerst nachteilig sind oder eine negative Entwicklung einleiten. Diese Rechtsfolge hat der Bundesgerichtshof ferner für den Fall angenommen, dass die Anteilspfändung für ein unter dem Verkehrswert liegendes Entgelt zulässig, für den vergleichbaren Fall der Ausschließung des Gesellschafters aus wichtigem Grund aber keine Entschädigungsregelung getroffen ist. Denn da der Gesellschafter in diesem Falle zum vollen Anteilswert abgefunden wird, bei Anteilspfändung oder der Gesellschafterinsolvenz aber ein niedrigerer Wert

__________ 40 BGHZ 123, 281, 284; BGHZ 126, 226, 233, 242 f. zur Andienungsklausel im Rahmen eines Schutzgemeinschaftsvertrages; BGH, WM 1993, 1412, 1413 f. 41 BGHZ 32, 151, 155 f. 42 BGHZ 65, 22, 28; vgl. auch BGH, WM 1993, 1412. 43 BGHZ 65, 22, 28 f.; BGHZ 32, 151, 157.; vgl. auch BGH, WM 1993, 1412 sowie OLG Frankfurt a. M., BB 1978, 170.

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zur Verfügung gestellt wird, liegt eine Ungleichbehandlung der vergleichbaren Sachverhalte vor, die zu einer Benachteiligung der Gläubiger des Gesellschafters führt44. Buchwertklauseln – also Regelungen, in denen bei der Ermittlung des Abfindungsbetrages der Firmenwert und die stillen Reserven unberücksichtigt bleiben45, der Abfindungsbetrag somit beschränkt ist auf den Einlagebetrag, die stehengelassene Gewinne und (nach umstrittener Ansicht46) auf den Anteil an den offenen Rücklagen sowie den Bilanzposten mit eindeutigem Rücklagencharakter – hält der Bundesgerichtshof grundsätzlich für zulässig47. Er stuft sie jedoch dann als sittenwidrig ein, wenn eine bilanzielle Unterbewertung des Anlagevermögens gegeben ist, die zu einem groben Missverhältnis zwischen anteiligem Verkehrswert und vereinbarter Abfindung nach dem Buchwert führt, etwa in dem Fall, dass der Substanzwert der der Gesellschaft gehörenden ausgebeuteten Steinbruchgrundstücke das Zehnfache des Buchwertes beträgt48. Die Umstände, die zum Ausscheiden des Gesellschafters geführt haben, können für die Entscheidung der Frage, ob die Abfindung zum Buchwert als gerechtfertigt angesehen werden kann, von Bedeutung sein. So kann die Abfindung zum Buchwert bei Ausschluss eines Gesellschafters durch Kündigung der Mehrheit, die ohne wichtigen Grund ausgesprochen wird, unter Umständen noch dann hingenommen werden, wenn diese Gesellschafter das Unternehmen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und Begabungen tragen, so dass dessen Bedeutung und innerer Wert entscheidend von ihrer Tätigkeit und ihrem Einsatz abhängen49. Demgemäß hat auch grundsätzlich eine Klausel Bestand, nach der ein Kommanditist seinen Anteil dem persönlich haftenden Gesellschafter, der ihn dem Kommanditisten unentgeltlich überlassen hat, auf dessen Verlangen zum Wert der Steuerbilanz zu übertragen hat50. Liegen

__________ 44 BGHZ 144, 365, 367; zur entgegengesetzten Beurteilung, wenn die Auslegung des Vertrages zur Gleichbehandlung bei Anteilspfändung und Ausschluss des Gesellschafters aus wichtigem Grund führt, vgl. BGH, WM 1993, 1412, 1413. 45 BGH, WM 1978, 1044, 1045. 46 Vgl. dazu schon unter II. 2.; Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 273 m. w. N. in Fn. 11. 47 BGH, WM 1993, 1412, 1413; BGH, NJW 1985, 192; BGH, WM 1978, 1044, 1045. 48 BGH, WM 1993, 1412, 1414. 49 BGH, WM 1978, 1044, 1045; vgl. ferner die Entscheidungen zum „Managermodell“ BGH, ZIP 2005, 1917,1919, und zum „Mitarbeitermodell“ BGH, ZIP 2005, 1920, 1923 m. w. N. zu ähnlichen Entscheidungen auf S. 1921. 50 BGHZ 34, 80, 83; ähnliches führt der BGH inzidenter in einem Fall aus, in dem nach dem Tode des Kommanditisten zwei Söhne mit je 40 % als persönlich haftende Gesellschafter und zwei Söhne als Kommanditisten mit je 10 % an einer KG beteiligt sein sollten, wobei den beiden persönlich haftenden Gesellschaftern das Recht eingeräumt wurde, die beiden Kommanditisten „hinauszukündigen“; diesen war der Buchwert ihres Anteils zu erstatten. Dabei war der Vater von einer wirtschaftlichen Entwicklung der KG ausgegangen, die im Wesentlichen zu einer Gleichbehandlung der Söhne führte. Infolge einer außerordentlich günstigen Entwicklung der KG klafften jedoch Buchwert und Verkehrswert der Anteile ungewöhnlich auseinander, so dass der BGH die Klausel als sittenwidrig einstufte, BGH, WM 1962, 462, 463; zu weiteren Fällen eines unzulässigen oder aufgrund besonderer Umstände zulässigen

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jedoch keine besonderen Umstände für eine solche „Hinauskündigung“ vor, kann nur eine Abfindungsregelung als angemessen angesehen werden, die im Kern der gesetzlichen Regelung entspricht und im Wesentlichen zur Abgeltung des vollen anteiligen Unternehmenswertes führt. Eine andere Wertung würde die Gefahr heraufbeschwören, dass die Mehrheit ihr Ausschließungsrecht aus sachfremden Erwägungen und willkürlich gebrauchen würde51. Auch für den Fall, dass ein Gesellschafter wegen eines von den Mitgesellschaftern zu vertretenden wichtigen Grundes kündigt, kann eine Abfindung nach Buchwert nicht hingenommen werden. Vielmehr kann auch hier grundsätzlich nur eine Abfindung als angemessen angesehen werden, die jedenfalls im Kern an der gesetzlichen Regelung ausgerichtet ist52. Eine gesellschaftsvertragliche Bestimmung, die den Abfindungsanspruch auf die Hälfte des buchmäßigen Kapitalanteils kürzt, benachteiligt einen ausscheidenden Gesellschafter grundsätzlich in sittenwidriger Weise. Sie braucht auch von dem Gesellschafter nicht ohne weiteres hingenommen zu werden, der aus wichtigem Grund ausgeschlossen wird53. Der Bundesgerichtshof lässt allerdings offen, ob im Einzelfall die konkreten Verhältnisse der Gesellschaft – unter Berücksichtigung der schutzwerten Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters – eine solche Kürzung des Abfindungsbetrages sachlich geboten erscheinen lassen54. Eine unzulässige Einschränkung des dem Gesellschafter zustehenden Kündigungsrechtes hat der Bundesgerichtshof darin gesehen, dass der dem Gesellschafter nach der gesetzlichen Regelung zustehende Abfindungsanspruch in unzumutbarer Weise beschnitten wird55. Eine Überprüfung in dieser Richtung hält er immer dann für geboten, wenn das Abfindungsguthaben auf einer anderen Grundlage als dem wirklichen Unternehmenswert zu berechnen ist56. Wird der Abfindungsbetrag durch eine Buchwertklausel beschränkt, liegt nicht schon deswegen eine unvertretbare Einschränkung des Kündigungsrechtes vor, weil sich in großem Umfang stille Reserven im Vermögen der Gesellschaft befinden. Denn der wirkliche Wert ergibt sich nicht aus einer Addition von Buchwert und stillen Reserven, vielmehr entspricht er dem Preis, der bei einer

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„Hinauskündigens“ und der Beurteilung der vereinbarten Abfindung vgl. BGHZ 112,103, 107, 108 ff.; BGHZ 125, 74, 79 ff.; BGH, ZIP 2004, 903, 905 m. w. N.; BGH, ZIP 2007, 862, 863 f. m. w. N. BGH, WM 1978, 1044, 1045; vgl. auch BGH, WM 1984, 1506 und BGH, WM 1973, 326. Vgl. BGH, NJW 1973, 651; ferner BGH, ZIP 2007, 1309, 1312 Rz. 35 zum Übernahmerecht in der Zweipersonengesellschaft. BGH, WM 1989, 783; das OLG Hamm, DStR 2003, 1178, 1179, hat die Sittenwidrigkeit einer Klausel bei der Beschränkung auf 1/3 des Verkehrswertes angenommen. BGH, WM 1989, 783, 784. BGH, ZIP 2006, 851, 852; BGH, NJW 1985, 192, 193; BGH, NJW 1989, 3272; BGH, WM 1993, 1412, 1413; BGH, ZIP 2008, 1075, 1077; BGHZ 116, 359, 369 für das Ausscheiden aus einer GmbH; BGHZ 126, 226, 230 f. für eine Andienungsklausel im Rahmen eines Schutzgemeinschaftsvertrages. BGH, NJW 1989, 3272.

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Einschränkung u. Ausschluss des Abfindungsanspruchs des Personengesellschafters

Veräußerung des Gesellschaftsunternehmens als Einheit erzielt werden kann57. Eine unzulässige Beschränkung des Kündigungsrechtes hält er z. B. dann für gegeben, wenn der Gesellschaftsvertrag dem ausscheidenden Gesellschafter einen Abfindungsanspruch auf der Grundlage des Ertragswertes zuerkennt, der Liquidationswert aber das 3,5 fache des Ertragswertes ausmacht. Den Gedanken, eine Fortsetzungsklausel schränke die Gesellschafter dann ein, wenn die Mehrheit von ihnen die Gesellschaft nicht fortsetzen, sondern ihr Investment von den gesellschaftsrechtlichen Bindungen freistellen möchte, hat der Bundesgerichtshof verworfen58. Eine Klausel, die eine Fortsetzung der Gesellschaft auch für den Fall vorsieht, dass die Mehrheit der Gesellschafter daran nicht festhalten möchte, bringt keine schwerwiegenden Nachteile für die kündigenden Gesellschafter. Ins Gewicht fallen könnte nur eine Abfindungsregelung, die den ausscheidenden Gesellschaftern lediglich einen im Übermaß gekürzten Betrag zuerkennt, so dass ihr Kündigungsrecht unangemessen erschwert würde. Das wirkt sich jedoch deswegen nicht auf die Fortsetzungsklausel aus, weil eine Unwirksamkeit der Abfindungsklausel die Vereinbarung über die Fortsetzung der Gesellschaft grundsätzlich unberührt lässt59. Das Kündigungsrecht wird auch dann in unzulässiger Weise eingeschränkt, wenn der Zeitraum, in dem das Abfindungsguthaben in Raten beglichen werden soll, zu lang bemessen ist. Ratenzahlungsvereinbarungen oder hinausgeschobene Fälligkeitstermine sind nach Meinung des Bundesgerichtshofes grundsätzlich nicht zu beanstanden. Denn der Nachteil, dass der gesamte Abfindungsbetrag nicht unmittelbar nach dem Ausscheiden in einer Summe ausgezahlt wird, kann durch eine angemessene Verzinsung ausgeglichen werden. Eine sofortige vollständige Bereitstellung des Abfindungsguthabens kann zu einer erheblichen Belastungsprobe für die Gesellschaft werden60. Eine zehnjährige Ratenzahlungsfrist hat der Bundesgerichtshof bei einem Teil-Abfindungsanspruch von 150.000 DM im Jahre 1984 nicht beanstandet61. Einen fünfzehnjährigen Zeitraum für Abfindungsraten hat er trotz einer Hinauskündigung aus wichtigem Grund für unvertretbar gehalten, weil eine derart lang bemessene Laufzeit den Abfindungsanspruch in seinem Gehalt in untragbarer Weise schmälere62. Haben sich der vertragliche Abfindungsanspruch und der wirkliche Abfindungswert im Laufe der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft in außergewöhnlich hohem Maße auseinander entwickelt63, hängt die Entscheidung der Frage, ob dem ausscheidenden Gesellschafter nach Treu und Glauben eine Abfindung nach dem vertraglich festgelegten Wert noch zugemutet werden kann oder

__________ 57 BGH, NJW 1985, 192, 193. 58 BGH, ZIP 2008,1075, 1077 Rz. 13; BGH, ZIP 2008, 1276,1278 Rz. 13. 59 BGH, ZIP 2008, 1075, 1077 Rz. 12 f.; BGH, ZIP 2008, 1276, 1278 Rz. 13; BGHZ 112, 103, 111; BGHZ 105, 213, 220; BGH, WM 1973, 842, 843; BGH, NJW 1973, 651, 652 m. w. N. aus der früheren Rspr. 60 Vgl. BGH, NJW 1989, 2685, 2686. 61 BGH, NJW 1985, 192; offen gelassen in BGH, NJW 1989, 2685, 2686. 62 BGH, NJW 1989, 2685, 2686. 63 Vgl. BGHZ 123, 281, 285 ff.; BGHZ 126, 226, 242 ff.; BGH, WM 1993, 1412, 1413.

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ihm ein höherer, dem angemessenen Wert entsprechender Betrag zu zahlen ist, nach Ansicht des Bundesgerichtshofes nicht allein von dem groben Missverhältnis zwischen vertraglichem und wirklichem anteiligen Unternehmenswert ab, sondern auch von den „gesamten sonstigen Umständen des konkreten Falles“64. Dazu zählt er die Dauer der Mitgliedschaft des Ausgeschiedenen in der Gesellschaft, sein Anteil am Aufbau und Erfolg des Unternehmens, der Anlass des Ausscheidens, insbesondere ob die entsprechenden Umstände in seiner Person liegen und von ihm verschuldet sind oder nicht65. Des Weiteren hat der Bundesgerichtshof bei der Würdigung der vom Berufungsgericht berücksichtigten Einzelheiten die finanzielle Situation der Gesellschaft und die Auszahlungsmodalitäten in die Abwägung einbezogen und darauf hingewiesen, maßgebend könne auch sein, ob der Ausgeschiedene auf die Verwertung seines Anteils angewiesen sei. Ferner dürfe das Kündigungsrecht durch die Abfindungsbeschränkung nicht über Gebühr entwertet werden66. 2. Rechtsprechungsgrundsätze zur Freiberufler-Sozietät bzw. zur Gemeinschaftspraxis Für Sozietäten von Freiberuflern, die aus Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern oder Steuerberatern bestehen, und für ärztliche Gemeinschaftspraxen hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass dem aus einer Gesellschaft ausscheidenden Gesellschafter ein Anspruch auf Abfindung durch Regelung im Gesellschaftsvertrag versagt werden kann, wenn ihm die Mitnahme des Mandantenbzw. Patientenstammes erlaubt wird. In der Regel genügt für die FreiberuflerSozietät die Einräumung einer solchen Möglichkeit, weil der Mandantenstamm den wesentlichen Wert der Sozietät ausmacht. Für eine Gemeinschaftspraxis kann sich eine solche Regelung als unzureichend erweisen, wenn der Praxiswert nicht nur in dem Patientenstamm, sondern auch in Sachwerten wie Einrichtungen und Geräten besteht. Hier ist es angezeigt, zusätzliche Ausgleichsregelungen zu treffen67. Diese Art der Abfindung bildet aber keine Ausnahme von dem Bestehen eines Abfindungsanspruchs, sondern eine von der Regelung des § 738 BGB abweichende Art des Ausgleichs, die als eine auf Freiberufler-Sozietäten und Gemeinschaftspraxen zugeschnittene Teilauseinandersetzung der Gesellschaft zu verstehen ist68. Den Mandatsverhältnissen bzw. dem Patientenaufkommen wird ein Wert beigemessen, der als „good will“ bzw. (ideeller) Geschäftswert bezeichnet wird69. Er beruht vor allem auf dem Vertrauen, das der Mandant dem Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater bzw. der Patient dem Arzt aufgrund

__________ 64 65 66 67

BGHZ 123, 281, 286; BGH, WM 1993, 1412, 1413. BGHZ 123, 281, 286 ff.; BGH, WM 1993, 1412, 1413. BGHZ 123, 281, 288. Vgl. zur Problematik BGH, WM 1979, 1064; BGH, WM 1994, 596; BGH, WM 1995, 837, 838; BGH, WM 2000, 1496, 1497; vgl. auch BGH, ZIP 2007, 1309; BGH, ZIP 2008, 1276, 1279 Rz. 20. 68 Vgl. BGH, WM 1979, 1064 1065 (unter I). 69 Vgl. zuletzt BGH, ZIP 2007, 1309, 1311.

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seiner Kenntnisse, Fähigkeiten und persönlichen Integrität entgegenbringt. Scheidet der Mandatsträger aus der Sozietät oder der Arzt aus der Gemeinschaftspraxis aus, geht zwar der „good will“ bei Einverständnis des Mandanten oder Patienten auf den neuen Berufsträger über. Dieser muss jedoch das Vertrauen der neuen Klientel erst erwerben, um von der Übertragung profitieren zu können. Es ist daher folgerichtig, einem Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater bzw. einem Arzt den „good will“ durch Überlassung des Mandanten- bzw. Patientenstammes und nur einen darüber hinausreichenden Geschäftswert durch Zahlung eines Abfindungsbetrages auszugleichen70. Wird auch der „good will“ durch eine Abfindungszahlung abgegolten, heißt das für den Ausscheidenden, dass er in den von der Rechtsprechung festgelegten zeitlichen, örtlichen und sachlichen Grenzen einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot unterliegt71. 3. Zu den einen Abfindungsanspruch ausschließenden Klauseln Regelungen über den generellen Ausschluss des Abfindungsanspruchs sind grundsätzlich nichtig. Das folgt aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, mit der er die Beschneidung von Abfindungsansprüchen einschränkt72. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist das ausdrücklich entschieden worden73. Ist es nicht zulässig, die Gesellschaftergläubiger dadurch schlechter zu stellen, dass ihnen ein geringerer Anspruch zugebilligt wird als er dem Gesellschafter selbst zustünde oder dass der Abfindungsanspruch des Gesellschafters selbst auf ein unzumutbares Maß zurückgeführt wird, gilt das umso mehr für den Ausschluss des Anspruchs. Wird bereits eine in bestimmtem Umfang vorgenommene Beschränkung des Abfindungsanspruchs als sittenwidrig gewertet74 oder eine Einschränkung des Kündigungsrechtes i. S. d. § 723 Abs. 3 BGB als mit der Ausübung der persönlichen Freiheit durch den Gesellschafter nicht vereinbar angesehen, treffen solche Überlegungen in viel stärkerem Maße auf den Ausschluss jeglicher Abfindung zu. Davon wird man auch in den Fällen auszugehen haben, in denen ein Gesellschafter aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Denn da der Bundesgerichtshof schon eine Beschränkung des Abfindungsanspruchs auf die Hälfte des Buchwertes in der Regel als unzulässig ansieht und allenfalls erwägt, dass eine solche Klausel dann hingenommen werden könnte, wenn die Verhältnisse der Gesellschaft im Einzelfall eine solche Kürzung sachlich geboten erscheinen ließen75, kommt auch in einem derartigen Falle ein völliger Ausschluss des Abfindungsan-

__________ 70 71 72 73 74

Zu einem solchen Fall vgl. BGH, WM 1995, 837. BGH, WM 2000, 1496. Vgl. unter III. 1. a) und b). BayObLG, DB 1983, 99. BGH, NJW 1989, 2685, 2686 spricht davon, dass die dortige Kürzung sich so erheblich von dem gesetzlichen Leitbild des § 738 BGB entferne, dass der Regelungszweck, dem Gesellschafter eine angemessene Abfindung zu sichern, völlig verfehlt werde. 75 BGH, WM 1989, 783, 784.

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spruchs nicht in Betracht. Zu erwägen wäre allenfalls, ob der Ausschluss dann zugelassen werden könnte, wenn der Gesellschafter der Gesellschaft Schäden zufügt, die für sie zur Existenzfrage werden. Hier ist jedoch der Schadenausgleich die angemessene Lösung. Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, dass Grund für die Ausschließung die Unzumutbarkeit einer Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses ist, dieser Gesichtspunkt aber nicht den Ausschluss jeglicher Realisierung des wirtschaftlichen Wertes des Gesellschaftsanteils rechtfertigt76. Der Schadenersatzanspruch der Gesellschaft wäre allerdings im Zuge der Festlegung des Abfindungsanspruchs zu berücksichtigen. In der Rechtsprechung sind Fälle, in denen der Ausschluss eines Abfindungsanspruchs des ausscheidenden Gesellschafters anerkannt worden ist, äußerst selten. Für eine gemeinnützige Gesellschaft mbH ist entschieden worden, dass lediglich ein Anspruch auf Zahlung des Nominalwertes der Beteiligung, nicht aber eines darüber hinausreichenden Betrages besteht. Da nach dem im Gesellschaftsvertrag festgelegten Zweck der wirtschaftliche Erfolg der Gesellschaft nicht den Gesellschaftern, sondern gemeinnützigen Zwecken zugute komme, stünde den Gesellschaftern im Falle der Liquidation kein über den Nominalwert ihrer Einlage hinausgehender Betrag zu. Der vorzeitig aus einer solchen Gesellschaft ausscheidende Gesellschafter dürfe nicht mehr erhalten als ihm bei der Liquidation der Gesellschaft zustehe77. Verfolgt eine GbR keinen wirtschaftlichen, sondern einen rein ideellen Zweck, wird die wirtschaftliche Freiheit eines Gesellschafters, der aus der Gesellschaft ausscheidet, nicht dadurch beeinträchtigt, dass ein Abfindungsanspruch weitgehend beschränkt oder ausgeschlossen wird. Eine Beteiligung an einer Gesellschaft mit einer derartigen Zielsetzung beruhe regelmäßig auf altruistischen Vorstellungen, diene aber nicht der Vermehrung des eigenen Vermögens. Der Sache nach hätten die Gesellschafter die Stellung von Treuhändern, die sich zur uneigennützigen Verwendung des ideellen Zwecken gewidmeten Gesamthandsvermögens verpflichtet hätten. Damit lasse sich eine ihnen persönlich zukommende Abfindung schwerlich vereinbaren78. Der Abfindungsanspruch eines Erben, der nach dem Erblasser nicht als Gesellschafter zugelassen worden ist, kann im Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen

__________ 76 MünchKommHGB/K. Schmidt, 2. Aufl. 2006, § 131 HGB Rz. 166; K. Schmidt in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1992, § 138 HGB Rz. 68; Schäfer in Staub, HGB, 4. Aufl. 2004, § 131 HGB Rz. 164, 181; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Fn. 5), § 131 HGB Rz. 120; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 131 HGB Rz. 63; Westermann in Westermann/Wertenbruch, Hdb. Personengesellschaften, Bd. I (GesR), Stand: Oktober 2001, Rz. 1162; Westermann in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 738 BGB Rz. 14; Habermeier in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 2003, § 738 BGB Rz. 30; Ulmer, GbR PartG, 4. Aufl. 2004, § 738 BGB Rz. 45; Ulmer in Großkomm.HGB, 4. Aufl. 1995, § 138 HGB Rz. 119, 121; Timm/Schöne in Bamberger/ Roth, BGB, 2. Aufl. 2008, § 738 BGB Rz. 31; Sprau in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 738 BGB Rz. 8; Hadding/Kießling in Soergel, BGB, 12. Aufl. 2007, § 738 BGB Rz. 50. 77 OLG Hamm, DB 1997, 1612, 1613. 78 BGHZ 135, 387, 390 f.

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werden. Der Miterbe, dem der Gesellschaftsanteil des Erblassers eingeräumt worden ist, ist dem nicht zugelassenen Miterben zu einem entsprechenden Ausgleich verpflichtet79.

IV. Würdigung der Rechtsprechung zu den Einschränkungs- und Ausschlussklauseln 1. Rechtsprechung zu den Einschränkungsklauseln Die Entscheidung, die ein grobes Missverhältnis des Abfindungs- zu dem Verkehrswert der Gesellschaftsbeteiligung dann annimmt, wenn die Abfindungsklausel zu einer Einschränkung des Kapitalabflusses führt, die vollkommen außer Verhältnis zu einer Beschränkung steht, die sich zur Fortführung des Gesellschaftsunternehmens als erforderlich erweist80, ist nachdrücklich kritisiert worden81. Es werden einmal Fälle von Familiengesellschaften mit erbund schenkungsrechtlichem Hintergrund angeführt, auf die die Formel nicht passt, zum anderen wird darauf hingewiesen, dass sich bei kleinen und großen Beteiligungen unterschiedliche Auswirkungen für die Bestandssicherung der Gesellschaft ergäben, was aber keine vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweichende Regelung für die Gesellschafter rechtfertige, und drittens wird das Beispiel der Kapitalbeteiligungsgesellschaften angeführt, die sich lediglich eine ordentliche Verzinsung ihrer Kommanditbeteiligungen sichern und aus diesem Grunde bei ihrem Ausscheiden auch nur ihre Einlage zurückhaben wollten, die bei einer erfolgreichen Gesellschaft weniger als den anteiligen Buchwert und nur einen Bruchteil des anteiligen Verkehrswertes ausmache82. Diese Kritik ist nicht gerechtfertigt. Ihr kann man allerdings nicht mit der Überlegung begegnen, die Fälle der Nichtigkeit nach § 138 BGB träten in aller Regel selten auf83, weil der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung für die Fälle geändert hat, in denen sich Abfindungs- und Verkehrswert im Laufe der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft auseinander entwickeln. Offenbar hat der Autor dieser Ansicht die Fälle eines späteren Beitritts nicht bedacht. Eine grundsätzliche Kritik müsste vielmehr an der Frage ansetzen, ob die vom Bundesgerichtshof angewandte Formel im Hinblick auf die unterschiedlichen Beteiligungsverhältnisse von Gesellschaftern überhaupt Gegenstand der Inhaltskontrolle i. S. d. § 138 Abs. 1 BGB sein kann84 oder ob sich die Überprüfung des Sachverhalts nicht allein an dem Verbot der Kündigungsbeschränkung (§ 723 Abs. 3 BGB) bzw. dem Missbrauchseinwand (§ 242 BGB) auszurichten hat. Der Bun-

__________

79 BGHZ 22, 187; vgl. auch BGHZ 135, 387, 390 m. w. N. aus der Rspr.; vgl. auch BGHZ 65, 22, 28 f. 80 BGHZ 116, 359, 368. 81 Sigle, ZGR 1999, 659, 663 ff. 82 Sigle, ZGR 1999, 659, 664 f. 83 So aber Goette, DStR 1997, 337. 84 So könnte man die Kritik von Sigle, ZGR 1999, 659, 666 verstehen, wo er anregt, die Anwendung von § 138 BGB auf die Fälle zu beschränken, „in denen eine Klausel eindeutig gegen die in unserer Gemeinschaft insbesondere im unternehmerischen Mittelstand anerkannten moralischen Anschauungen verstößt“.

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desgerichtshof hat sich für die Kontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB entschieden. Wohl zu recht, wie ich meine. Denn wenn schon die Abfindung des Großgesellschafters so gering bemessen ist, dass sie unterhalb der Grenze liegt, an der die Bestandsgefährdung des Gesellschaftsunternehmens einsetzen würde, trifft das auf den Kleingesellschafter umso mehr zu. Der offensichtlich von Sigle ins Auge gefasste umgekehrte Fall, dass die Abfindung des Großgesellschafters zur Existenzgefährdung der Gesellschaft führt, träte zwar bei dem Kleingesellschafter nicht ein. Das ist aber keine Frage, die – aus der Sicht der Gesellschafter – nach § 138 Abs. 1 BGB zu entscheiden ist, sondern unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Sie ist auch nicht Gegenstand des Leitsatzes. Sigle weist in seiner Kritik zutreffend daraufhin, dass der in der Entscheidung aufgestellte Grundsatz den von ihm angeführten Fällen der Familiengesellschaften mit erb- und schenkungsrechtlichen Einschlag sowie den Intentionen der Kapitalbeteiligungsgesellschaften nicht gerecht werde. Das soll er auch nicht. Er betrifft die Gesellschafter, die sich – wie vom Gesetz vorausgesetzt – durch eine Einlage an einer Gesellschaft mit einem erwerbswirtschaftlichen Ziel beteiligen. Der Intention von Gesellschaftergruppen, deren Beteiligung unter besonderen Umständen zustande kommt (Erb- und Schenkungsfälle), bzw. die Manager unter Beteiligung an der Gesellschaft zu deren Fortführung einstellen, weil dafür kein geeignetes Familienmitglied vorhanden ist85, oder die eine Beteiligung als Instrument für einen günstigen Zinsertrag nutzen, hat die Rechtsprechung als Ausnahme von der Regel in anderen Entscheidungen Rechnung getragen86. Diese Entscheidungen zeigen die Tendenz, Rechtsbeziehungen und deren Folgen, die ihre Grundlage nicht in dem Rechtsverhältnis der Gesellschafter untereinander haben, bei der Bemessung der Abfindungsvergütung angemessen zu berücksichtigen. Dem Willen des Erblassers wird auf erbrechtlicher Grundlage entsprochen. Dem Willen des Schenkers wird in den Grenzen, die § 138 BGB setzt, so Rechnung getragen, wie die Rechtsposition des Beschenkten begründet worden ist. Folgerichtig wird die Figur eines Gesellschafters „minderen Rechts“ – anders als im Schrifttum vertreten87 – nicht anerkannt. Die Urteile zum „Manager-“ und „Mitarbeitermodell“ bringen zum Ausdruck, dass der Abfindungsbetrag mit Rücksicht auf die gezahlten Anteilserträge auf den Einlagebetrag bzw. Nennbetrag des Geschäftsanteils beschränkt werden kann. Bereits daraus kann man herleiten, dass bei der Beteiligung von Kapital-

__________ 85 Vgl. BGHZ 22, 187 sowie weitere Nachweise in Fn. 78 und BGHZ 34, 80, 83, BGH, WM 1962, 462, 463, BGH ZIP 2007, 862, 863 f. sowie Anmerkung in Fn. 49 zu Fällen mit erb- und schenkungsrechtlichem Bezug; zum Schenkungsrecht vgl. auch BGH, NJW 1989, 2685, 2686 (unter 1 b); zur Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vgl. BGH, WM 1989, 783, 784 und BGH, ZIP 2005, 1920, 1923; zu dem Fall „Einstellung eines Managers“ vgl. BGH, ZIP 2005, 1917,1919, zum „Mitarbeitermodell“ BGH, ZIP 2005, 1920, 1923 m. w. N. zu vergleichbaren Entscheidungen. 86 Zu einem ähnlich gelagerten Fall vgl. BGHZ 112, 103, 111 f. 87 Heckelmann, Abfindungsklauseln in Gesellschaftsverträgen, 1973, S. 113 f.; Flume, NJW 1979, 902 ff.

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anlagegesellschaften gegen eine weitgehende Beschränkung des Abfindungsbetrages – z. B. auf den Einlagebetrag – bei einer ausgleichend bemessenen Ertragsbeteiligung keine Bedenken erhoben werden. Gegen die Entwicklung der Rechtsprechung zur Buchwertklausel werden ebenfalls deutliche Vorbehalte vorgebracht. In erster Linie werden ihre Unübersichtlichkeit und die von ihr ausgehende Unsicherheit für die Rechtslage beklagt88. Diese Vorbehalte kann man nicht akzeptieren. Der Bundesgerichtshof hält diese Klauseln grundsätzlich für zulässig. Diese die Rechtssicherheit gewährleistende Aussage wird allerdings dadurch relativiert, dass er ihre Vereinbarung für gewisse Verhaltensweisen der Gesellschafter davon ausnimmt. Einschränkungen der Buchwertklausel sieht er grundsätzlich als unzulässig an, lässt jedoch Abweichungen im Einzelfall als Ausnahmeregelungen zu. Es sind diese einzel- bzw. gruppenfallbezogenen Ausnahmen und Abweichungen89, die der beratenden Praxis die beklagten Schwierigkeiten bereiten. Strebt man mit dem Bundesgerichtshof ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Einzelfallgerechtigkeit und auf generalisierenden Entscheidungsgrundsätzen beruhender Rechtssicherheit an, verdient seine Rechtsprechung keine Kritik. Eine solche müsste dann als Grundsatzkritik an der Stelle ansetzen, an der die Buchwertklausel nicht für alle Sachverhalte, die zum Ausscheiden des Gesellschafters führen, anerkannt wird (Stichwort: Hinauskündigung). Weiter müssten diejenigen, von denen die Rechtsunsicherheit bei Unterschreiten der Buchwertklausel beklagt wird, die Buchwertklausel als Höchstmaß der Abfindungsbeschränkung ablehnen und einen generellen Maßstab für eine niedrigere Festsetzung verlangen. Beides ist nicht möglich, ohne dass die gesellschaftsbezogenen Rechte des ausscheidenden Gesellschafters in nicht mehr vertretbarer Weise vernachlässigt würden. Akzeptiert man es als Grundsatz, dass sich die Gesellschafter bei Vereinbarung der Abfindungsklausel anlässlich der Gründung der Gesellschaft von ökonomischen, die Belange aller Gründergesellschafter angemessen berücksichtigenden Überlegungen leiten lassen, ist es ohne Weiteres nachvollziehbar, dass die Abfindungsregelung der §§ 738, 740 BGB von ihnen in der Regel nicht akzeptiert, sondern abbedungen wird. Den Gesellschaftern ist bekannt, welche finanziellen Beiträge der Einzelne leistet und welche Kosten er dadurch zu tragen hat. Sie wissen, welche sicheren Erwerbsquellen er aufgegeben hat, welchen Risiken er sich aussetzt und welchen Arbeitseinsatz er erbringen muss. Sie beraten Konzept und Planung des Unternehmens, legen die projektspezifischen Investitionen fest und setzen sie um. Lässt man die Publikumsgesellschaft außer Betracht, müssen sich alle Gesellschafter angesichts der zwingenden Regelung des § 723 Abs. 3 BGB sowie der Tatsache, dass das gesellschafterliche Zusammenwirken auch Maßnahmen gegen treuwidriges Verhalten (vgl. § 737 BGB) erfordert, Klarheit darüber verschaffen, wie man die Abfindung des

__________ 88 Vgl. u. a. Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 274 f.; kritisch auch Rasner, NJW 1983, 2905; Vollmer, DB 1998, 2507, 2508; weniger kritisch Sigle, ZGR 1999, 659, 661 ff. 89 Vgl. unter III. 1. b).

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ausscheidenden Gesellschafters regelt, damit die Lasten und Kosten, die sich mit der Veränderung einstellen, anteilig möglichst gleichmäßig auf den ausscheidenden und die verbleibenden Gesellschafter verteilt werden. Das kann nur durch prognostische Einschätzung geschehen. Ein angemessenes Ergebnis kann auf dieser Grundlage lediglich durch einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen der Gründergesellschafter gewonnen werden. Mit diesem ökonomischen Einschätzungsvorgang und Interessenausgleich wird letztlich der Zweck verfolgt, die Fortführung der Gesellschaft nach Ausscheiden eines Gesellschafters unter Voraussetzungen zu gewährleisten, die den bei der Gründung in Aussicht genommenen Zielen und den von allen Gesellschaftern übernommenen Lasten möglichst nahe kommen. Auch der Ausscheidende soll dazu durch Reduzierung des vollwertigen Abfindungsanspruchs einen Beitrag leisten. Der Möglichkeit der Fortführung des Unternehmens dient letztlich auch das Bestreben, die Kosten des Vorganges so niedrig wie möglich zu halten. Die Rechtsprechung, die diese beiden Beweggründe zum zentralen Ausgangspunkt ihrer Entscheidungen macht, ist damit den ökonomischen Vorstellungen der Gesellschafter und ihrer Umsetzung im Gesellschaftsvertrag durch Anerkennung der häufig auftretenden Buchwertklausel oder vergleichbarer Klauseln als Regelfall gefolgt. Es ist auch folgerichtig, wenn sie eine Abfindungsklausel, die einen Betrag ergibt, der weit unterhalb des Betrages liegt, der die Fortführung der Gesellschaft zulässt, nicht akzeptiert. Soweit dagegen eingewandt wird, dieser Maßstab könne nicht für den Gesellschafter mit einer geringfügigen Beteiligung gelten, ist dem entgegenzuhalten, dass eine solche Wertung nicht absolut, sondern nur bezogen auf den Anteil vorgenommen werden kann. Führt man sich den Fall des „Hinauskündigens“ vor Augen, sieht man, dass die verbleibenden Gesellschafter die Grundlage des Interessenausgleichs verlassen haben. Es ist daher konsequent, dem Ausscheidenden eine Abfindung zum Buchwert nicht zuzumuten, sondern ihm den vollen Abfindungswert zuzuerkennen. Das ist auch für den Fall anzunehmen, dass die Verbleibenden die Kündigung des Ausscheidenden zu vertreten haben. Umgekehrt liegt es, wenn der ausscheidende Gesellschafter kündigt oder den Anlass für seinen Ausschluss setzt. Damit wendet er sich von dem gemeinschaftlichen Ziel ab und hat die vereinbarten Konsequenzen in Form des geringeren Abfindungsanspruchs zu tragen. Als Grenze sieht der Bundesgerichtshof auch im Falle des vom Ausscheidenden zu vertretenden Ausschlusses den Buchwert an. Diese Wertung hängt damit zusammen, dass jede weitere Einschränkung an die „Substanz“ des Anteilswertes geht: Die Einlage, die nicht durch Verluste aufgezehrt ist, die angehäuften anteiligen Gewinne sowie Rücklagen und Posten mit Rücklagencharakter, die zulasten des Gewinns gebildet worden sind. Der Bundesgerichtshof hat bislang offen gelassen, ob außergewöhnliche Umstände in den Verhältnissen der Gesellschaft einen Eingriff in diese „Substanz“ zulassen90.

__________ 90 Vgl. unter III. 1. b).

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Die Urteile zur Beeinträchtigung der Interessen der Gesellschaftergläubiger passen sich in diese Überlegungen ein. An den Interessen des Gesellschafters sind die seiner Gläubiger zu messen. Hier darf keine Ungleichbehandlung erfolgen. Soweit eine Gleichbehandlung gewährleistet ist, können Gesellschafter und Gesellschaftergläubiger gleichermaßen die Nichtbeachtung der Grenzen einwenden, die einer Beschränkung des Abfindungsanspruchs gesetzt sind. Ähnliche Überlegungen, wie sie zu § 138 Abs. 1 BGB vorgenommen worden sind, können für die Fälle91 der unzulässigen Einschränkung des Kündigungsrechtes (§ 723 Abs. 3 BGB) angestellt werden. Sind an die Kündigung schwerwiegende Nachteile geknüpft, die einen Gesellschafter von der Geltendmachung des ihm gesetzlich zustehenden Kündigungsrechtes abzuhalten geeignet sind, ist die beschränkende Vereinbarung nichtig92. Spricht der Gesellschafter eine Kündigung aus, löst er sich von dem auf ökonomischen Überlegungen beruhenden Konsens, der in der Beschränkung des Abfindungsanspruches seinen Niederschlag gefunden hat. Er kann daher grundsätzlich nur den vereinbarten niedrigen Abfindungsanspruch verlangen. Werden jedoch die Bemessungsgrenzen unterschritten, die der Beschränkung dieses Anspruchs gesetzt sind – auch hier sind die bereits dargelegten Grenzen maßgebend, die dadurch überschritten werden, dass die Höhe des Abfindungsanspruchs zur Bestandssicherung des Unternehmens nicht erforderlich ist oder in die „Substanz“ des Anspruchs eingegriffen wird – ist der ausscheidende Gesellschafter an die Übereinkunft nicht mehr gebunden. Anders als im Fall der Sittenwidrigkeit, in der ihm der volle anteilige Unternehmenswert zusteht, kann er hier nur einen angemessenen Betrag verlangen. Dessen Bemessung ist insbesondere unter Berücksichtigung der von den Beteiligten mit der Abfindungsregelung verfolgten Zwecke vorzunehmen93. Die weiter vom Bundesgerichtshof erhobene Forderung, dass auch die Ertrags- und Vermögenslage der Gesellschaft berücksichtigt werden müsse, ist auch unter dem Eindruck der später erlassenen Entscheidungen zur Bemessung des Abfindungsanspruchs bei einer Auseinanderentwicklung von realem und vereinbarten Abfindungswert, die sich an der nach Treu und Glauben festzulegenden Zumutbarkeitsgrenze zu orientieren hat94, zu berücksichtigen. Der Beurteilung, ob die Klausel wegen unzulässiger Beschränkung des Kündigungsrechtes nichtig ist, sind zwar die Verhältnisse zur Zeit des Vertragsschlusses (Gründung, Beitritt) zugrunde zu legen. Die Höhe des Abfindungsanspruchs bemisst sich jedoch nach den Verhältnissen der Gesellschaft im Zeitpunkt des Ausscheidens. Entwickeln sich der anteilige reale und vereinbarte Unternehmenswert im Laufe der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft in außergewöhnlich hohem Maße auseinander, steht dem kündigenden Gesellschafter ebenfalls lediglich ein angemessener Abfindungsanspruch zu. Nach den Urteilen, die diese Fall-

__________ 91 92 93 94

Vgl. unter III. 1. a) und b). Vgl. unter III. 1. b). BGHZ 116, 359, 371. BGHZ 123, 281, 286 f.; BGHZ 126, 226, 242 f.; BGH, WM 1993, 1412, 1413.

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gestaltung zum Gegenstand haben, sind bei der Festsetzung dieses Anspruchs „die gesamten sonstigen Umstände des konkreten Falles“ zu berücksichtigen95. Damit sind offensichtlich auch die außergesellschaftlichen Umstände des ausscheidenden Gesellschafters angesprochen. Das wird im Schrifttum zu Recht als unrichtig kritisiert. Als berücksichtigungsfähig werden lediglich die sich aus dem Gesellschaftsverhältnis ergebenden Umstände angesehen96. Genau darauf hat der Bundesgerichtshof auch in anderen Fällen, insbesondere der später ergangenen Entscheidung zu einer Andienungsklausel abgestellt97. Vielleicht findet der II. Zivilsenat hier einmal die Gelegenheit zu einer Klarstellung. Im Schrifttum ist auch die Rechtsgrundlage der ergänzenden Vertragsauslegung, die der Bundesgerichtshof seiner Rechtsprechung zugrunde legt, als zu einseitig kritisiert worden98. Dem kann man nur zustimmen. Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass bei Fehlen einer Vertragslücke die Gesichtspunkte des Wegfalls der Geschäftsgrundlage oder des Missbrauchseinwandes Bedeutung erlangen können99. Der Leitsatz einer später ergangenen Entscheidung deutet bereits in die Richtung des Rechtsmissbrauchseinwandes100. Es wäre wünschenswert, wenn der II. Zivilsenat auch dazu bei nächster Gelegenheit eine Klarstellung herbeiführen würde. 2. Die Ausschlussklauseln Gleichgültig, ob der Gesellschaftsvertrag den Ausschluss des Abfindungsanspruches unabhängig von dem Anlass des Ausscheidens aus der Gesellschaft vorsieht oder ob er nur bei einer oder mehreren Verhaltensweisen des Gesellschafters eintreten soll, wird ihm nicht nur die Berücksichtigung der Rücklagen und Bilanzpositionen mit Rücklagencharakter sowie die stehen gelassenen Gewinne, sondern auch des Einlagebetrages vollständig versagt. Damit wird ihm sein gesellschafterliches Vermögensrecht vollständig entzogen. Ein Eingriff dieser Tragweite kann durch die von den Gesellschaftern bei der Gründung oder dem Beitritt eines Gesellschafters vorgenommenen ökonomischen Überlegungen nicht gerechtfertigt werden. Da der Bundesgerichtshof bereits Einschränkungen, die weiter reichen als die Buchwertklausel, in aller Regel als nichtig ansieht, kann man nicht davon ausgehen, dass er eine Ausschlussklausel billigen würde. Dazu hat er sich bisher – sieht man von den Erbschaftssonderfällen ab – nur bei Gesellschaften mit ideellem Zweck durchgerun-

__________ 95 96 97 98

BGHZ 123, 281, 286; BGH, WM 1993, 1412, 1413. Vgl. vor allem Ulmer (Fn. 76), § 738 BGB Rz. 54 ff. Vgl. BGHZ 116, 359, 371; BGHZ 126, 226, 242 f. Ulmer (Fn. 76), § 738 BGB Rz. 54 ff.; Ulmer/Schäfer, ZGR 1995, 134, 140 ff.; Dauner-Lieb, ZHR 158 (1994), 271, 283 ff.; Sigle, ZGR 1999, 659, 670 f. 99 Ulmer (Fn. 76), § 738 BGB Rz. 53 ff. 100 Vgl. BGHZ 126, 226 zu einer Andienungsklausel (die Entscheidungsgründe – S. 242 – führen allerdings noch die ergänzende Vertragsauslegung an).

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Einschränkung u. Ausschluss des Abfindungsanspruchs des Personengesellschafters

gen101. Und selbst da hat er sich im Hinblick auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft noch schwer getan102.

V. Zusammenfassung und Ergebnis 1. Die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu den Klauseln, die den Abfindungsanspruch des aus einer Personengesellschaft ausscheidenden Gesellschafters beschränken, nehmen im Kern die prognostischen Entscheidungen auf, die Gegenstand der Abfindungsklauseln sind und die auf den ökonomischen Überlegungen der Gesellschafter beruhen, einen Ausgleich der durch das Ausscheiden bedingten Kosten und Nachteile zwischen dem ausscheidenden und den verbleibenden Gesellschaftern herbeizuführen. 2. Den Entscheidungen der Gesellschafter setzt der Bundesgerichtshof zugunsten des ausscheidenden Gesellschafters Grenzen. Sie liegen für die bei der Gesellschaftsgründung oder dem Beitritt vereinbarten Klausel in den Vorschriften der §§ 138 und 723 Abs. 3 BGB. Die Grenzen der Sittenwidrigkeit oder der Beschränkung der Kündigungsfreiheit werden grundsätzlich dann überschritten, wenn der Maßstab für die Bemessung des Abfindungsanspruchs jenseits der Buchwertklausel angesiedelt ist oder wenn er unterhalb der Grenze liegt, die zu einer Gefährdung des Bestandes der Gesellschaft führen könnte. Bei Hinauskündigungsklauseln ist dem ausscheidenden Gesellschafter grundsätzlich der volle anteilige Unternehmenswert zu vergüten. 3. Bei Nichtigkeit der Abfindungsklausel wegen Sittenwidrigkeit ist dem Gesellschafter der volle anteilige Unternehmenswert zu zahlen. Bei unzulässiger Beschränkung der Kündigungsfreiheit hat er einen Anspruch auf angemessene Abfindung. Entwickeln sich Abfindungs- und voller Anteilswert während der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft in außergewöhnlicher Höhe auseinander, ist dem Gesellschafter der angemessene Wert zu vergüten. Der Ansicht des Bundesgerichtshofes, bei der Bemessung auch die persönlichen Umstände des ausscheidenden Gesellschafters zu berücksichtigen, kann nicht gefolgt werden. 4. Ausschlussklauseln sind unzulässig. Mit ihnen würde dem ausscheidenden Gesellschafter auch die „Substanz“ seiner Beteiligung genommen.

__________ 101 BGHZ 135, 387, 390 f. 102 Zur Kritik vgl. u. a. Sigle, 1999, 659, 678; Volmer, DB 1998, 2507, 2509 f.

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Die Tochtergesellschaft in der Insolvenz der Muttergesellschaft als Verpfändung von „Konzern“-Aktiva an Dritte – Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts – Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die „Konzern“-Insolvenz und ihre zentralen Fragenkreise III. Die Zusammenfassung der Vermögensmassen im Konzern 1. Substantive Consolidation im USamerikanischen und französischen Recht 2. Die Verwertung von Absonderungsrechten im deutschen Recht als Vorbild einer Vermögenskonsolidierung im Konzern

IV. Folgerungen und Konsequenzen aus der Vergleichbarkeit der Konzerninsolvenz mit der Verwertung von Absonderungsgut 1. Anwendung der Verwertungsregeln für Absonderungsgut auf Tochtergesellschaften 2. Anwendung der Grundsätze im Planverfahren V. Zusammenfassung

I. Einleitung Das Insolvenzrecht stellt für viele Wirtschaftsrechtler einen Fremdkörper dar. Das mag psychologisch damit zusammenhängen, dass die Tätigkeit als „Geburtshelfer“ einer Gesellschaft bis hin zu deren Börsengang (neuhochdeutsch: IPO) positiver besetzt ist als deren „Bestattung“. Technisch dürfte ein Grund darin liegen, dass die insolvenzmäßige Abwicklung von Gesellschaften wegen § 56 Abs. 1 Satz 1 InsO in den Händen „natürlicher Personen“ liegt, während die Gründungs- und laufende Beratung von Gesellschaften (heute) jedenfalls in einem erheblichen Umfang in den Händen großer und internationaler Kanzleien liegt. Die beschriebene „Spaltung“ dürfte aber schließlich auch auf eine unterschiedliche „Verortung“ der beiden Rechtsmaterien zurückzuführen sein, die sich von der universitären Ausbildung über die Gerichtsverfassung bis hin zu den Zuständigkeiten der Gerichte widerspiegelt: Insolvenzrecht (und deren Kerngesetz: die Insolvenzordnung) wird als Prozessrecht gelehrt und begriffen, nicht als Wirtschaftsrecht. Das ist zwar nicht überall so, wie die Beispiele Frankreichs und Englands zeigen, wo das Insolvenzrecht im Code de Commerce enthalten ist bzw. der Insolvency Act 1986 ein stark gesellschaftsrechtlich geprägtes Spezialgesetz zur Liquidation von companies (ob wegen Insolvenz oder aus anderen Gründen) darstellt. Aber in den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, und allen voran in Deutschland, dominiert doch das zivilprozessuale Vorverständnis. 641

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Karsten Schmidt ist in seiner Generation wohl der bedeutendste akademische Lehrer, der diese path dependency des deutschen Rechts in Frage gestellt und den historisch gewachsenen Graben zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht versucht hat zu überwinden. Das ist Grund genug, hier Überlegungen zum Konzerninsolvenzrecht vorzustellen und zu vertiefen, die ganz zentral das Zusammenspiel dieser beiden Rechtsmaterien betreffen. Karsten Schmidt selbst hat schließlich die Konzerninsolvenz einmal unter Übernahme einer Formulierung von Marcus Lutter1 als „entscheidende Bewährungsprobe“ des Unternehmensträgerkonkurses bezeichnet2.

II. Die „Konzern“-Insolvenz und ihre zentralen Fragenkreise Im Ausgangspunkt besteht freilich in ganz Europa Einigkeit (und der Verfasser dieser Zeilen wäre sich des Widerspruchs ihres Adressaten sicher, wenn er es anders sagen würde), dass es die Insolvenz des Konzerns als solchem nicht gibt3. Zu Recht wurde oft hervorgehoben, dass das Insolvenzrecht den Grundprinzipien des Gesellschaftsrechts folgt, in denen dem „Konzern“ als solchem die Rechtspersönlichkeit fehlt. Vielmehr gilt der Grundsatz: „Eine Person, ein Vermögen, eine Insolvenz“4. Das hat freilich nicht verhindert, dass die Insolvenzpraxis dem in der Rechtswirklichkeit anzutreffenden Phänomen Konzern ins Auge zu schauen hat und sich den damit verbundenen besonderen Problemen stellen muss. Auf internationaler Ebene hat dies sogar dazu geführt, dass der UNCITRAL Legislative Guide inzwischen sogar ein ganzes Kapitel speziell der Unternehmensgruppe widmet5. Im Übrigen sind Verallgemeinerungen schwierig, erst recht, was die Lage in unterschiedlichen Staaten angeht6. Denn die Gründe für die Schaffung konzernmäßig diversifizierter Unternehmensstrukturen variieren, etwa weil die Gruppe ebenso das Resultat einer langfristigen Expansion wie einer künstlichen Aufspaltung von Unternehmensbereichen sein kann. Steuerrecht und Aufsichtsrecht (im Bereich der Banken und Versicherungen) können ebenfalls die Schaffung von Unternehmensgruppen fördern oder behindern. Und unter der Insolvenz einer „Unternehmensgruppe“

__________ 1 Lutter, ZfB 54 (1984), 781. 2 Karsten Schmidt, in Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen. Befunde, Kritik, Perspektiven, 1990, S. 221, 223. 3 Zum verbreiteten Fehlen eines Konzern-Insolvenzrechts auch im internationalen Vergleich jüngst Mevorach, 8 EBOR 2007, 179; Pariente, ECFR 2007, 317, 333. 4 Hirte in Uhlenbruck (Hrsg.), Insolvenzordnung, Kommentar, 12. Aufl. 2003, § 11 InsO Rz. 394; Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 820 (2007); für England Goode, Principles of Corporate Insolvency, 3. Aufl. 2005, Tz. 14-09; für Italien Ferri, Manuale di diritto commerciale, 12. Aufl. 2006, S. 571; ausdrücklich auch United Nations Commission on international trade law (UNCITRAL), Legislative Guide on Insolvency Law, 2005, Part two, V., S. 276 ff., Tz. 82 und 84. 5 UNCITRAL, Legislative Guide on Insolvency Law (Fn. 4), Part two, V., S. 276–279 (auch wiedergegeben in Wessels, Cross-Border Insolvency Law. International Instruments and Commentary [2007], S. 248 f.); hierzu Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 820 (2007). 6 Hirte, ECFR 2008, 213, 216.

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Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts

ist keineswegs zwingend zu verstehen, dass sämtliche Mitglieder eines Unternehmensverbundes auch insolvent sind. Ebenso wenig ist es zwingend, dass eine Unternehmensgruppe auf 100 %-igen Beteiligungen beruht, mag dies auch in der praktischen Anwendung der paradigmatische Fall sein. Gesetzgeber und Gerichte haben sich denn auch in der Vergangenheit „der“ Konzern-Insolvenz entsprechend dem angenommen, als was der Konzern selbst einmal plastisch beschrieben wurde – als „Einheit in Vielfalt“7. Vor diesem Hintergrund haben sich – bislang – als zentrale regelungs- oder klärungsbedürftige Fragestellungen die folgenden Problemkreise abgezeichnet8: – Als eher technisch-prozessuales Problem wird die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit diskutiert, nämlich ob ein und dasselbe Gericht die Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auch über solche Gesellschaften hat, deren Eröffnungszuständigkeit eigentlich bei einem anderen Gericht läge9; – damit in gewisser Weise verbunden ist die Frage, ob dieselbe Person in den zwar rechtlich selbständigen, wirtschaftlich aber verbundenen Insolvenzverfahren über verschiedene Konzerngesellschaften zum Insolvenzverwalter bestellt werden darf10; – den wohl kontroversesten Punkt bildet die Frage, ob nicht nur die verschiedenen Insolvenzverfahren verbunden werden dürfen, sondern auch deren Massen mit der Folge, dass eine einheitliche Insolvenzmasse einer Unternehmensgruppe geschaffen würde, die an alle Gläubiger der Gruppe zu verteilen wäre. Einen solchen Ansatz verfolgt unter dem Stichwort der „substantive consolidation“ schon heute das US-amerikanische Recht, indem es dem Insolvenzgericht insoweit Ermessen einräumt11; – schließlich ist – freilich nur im grenzüberschreitenden Kontext – die Frage von Bedeutung, ob und inwieweit bei Eröffnung eines ausländischen „Konzerninsolvenzverfahrens“ im Inland Sekundärinsolvenzverfahren zulässig und/oder wünschenswert sind12.

__________ 7 In Anlehnung an Bälz in FS Raiser, 1974, S. 287 ff. 8 Zu weiteren Problemfeldern Uhlenbruck in FS Braun, 2007, S. 335, 351 f. 9 Zur Schaffung eines Konzerninsolvenzgerichtsstandes im internationalen Vergleich Hirte, ECFR 2008, 213, 218–220 mit zahlreichen Nachweisen. Zu einem Regelungsvorschlag für das deutsche Recht jüngst Hirte, ZIP 2008, 444, 445 f.; die Hintergründe eines aktuellen Falls beleuchten Knof/Mock, ZInsO 2008, 253 ff. 10 Nach überwiegender deutscher Ansicht ist dies wegen des damit verbundenen Interessenkonflikts nicht gestattet; kritisch dazu jedoch Hirte, ECFR 2008, 213, 220 f.; Paulus, ZIP 2005, 1948, 1951 f.; abw. Eidenmüller, ZHR 169 (2005), 528, 540 f.; Graeber, NZI 2007, 265, 269 f. (da er diese potentiellen Konflikte durch die Bestellung eines Sonder-Insolvenzverwalters für die einzelnen Mitglieder der Unternehmensgruppe ausschließen will). 11 Zum US-amerikanischen Ansatz Mevorach, 8 EBOR 2007, 179, 187; Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 828 f. (2007); Klee/Butler, 35 U.C.C. L.J. 23, 61 f. (September 2002); zum abw. Ansatz der aktuellen gesetzlichen Lage in Europa Hirte in Uhlenbruck (Fn. 4), § 11 InsO Rz. 395. 12 Dazu Hirte, ECFR 2008, 213, 218, 229 f.

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III. Die Zusammenfassung der Vermögensmassen im Konzern 1. Substantive Consolidation im US-amerikanischen und französischen Recht Wie angedeutet, ist die streitigste Frage der Konzerninsolvenz, ob man eine Zusammenfassung der Vermögenswerte (und Verbindlichkeiten) in einer ganzen Unternehmensgruppe erlauben sollte. Die Tatsache, dass das US-amerikanische Insolvenzrecht diese Möglichkeit vorsieht bzw. gestattet, ist einer der zentralen Gründe, warum die Frage auch bei uns in Europa diskutiert wird. Freilich darf nicht übersehen werden, dass die Schaffung eines konzernweiten Vermögensverbundes im Insolvenzverfahren nicht etwa zwingend ist. Vielmehr gibt § 105 des US Bankruptcy Code nur das entsprechende Ermessen, das von den Gerichten konkretisiert wurde13. Danach darf eine substantive consolidation vorgenommen werden, wenn der Antragsteller nachweist, dass (1.) zwischen den zusammenzufassenden juristischen Personen wirtschaftliche Identität besteht („substantive identity“)14 und (2.) dass eine konzernweite Zusammenfassung der Aktiva und Passiva notwendig ist, um Nachteile für die Gläubiger zu vermeiden oder Vorteile für sie zu generieren15. Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt heute das französische Recht16.

__________ 13 Die Bestimmung lautet: „Sec. 105. Power of court (a) The court may issue any order, process, or judgment that is necessary or appropriate to carry out the provisions of this title. No provision of this title providing for the raising of an issue by a party in interest shall be construed to preclude the court from, sua sponte, taking any action or making any determination necessary or appropriate to enforce or implement court orders or rules, or to prevent an abuse of process. (b) Notwithstanding subsection (a) of this section, a court may not appoint a receiver in a case under this title. (c) The ability of any district judge or other officer or employee of a district court to exercise any of the authority or responsibilities conferred upon the court under this title shall be determined by reference to the provisions relating to such judge, officer, or employee set forth in title 28. This subsection shall not be interpreted to exclude bankruptcy judges and other officers or employees appointed pursuant to chapter 6 of title 28 from its operation. (d) The court, on its own motion or on the request of a party in interest – (1) shall hold such status conferences as are necessary to further the expeditious and economical resolution of the case; and (2) unless inconsistent with another provision of this title or with applicable Federal Rules of Bankruptcy Procedure, issue an order at any such conference prescribing such limitations and conditions as the court deems appropriate to ensure that the case is handled expeditiously and economically […].“ 14 Ausführlich In re Vecco Const. Industries, Inc., 4 B.R. 407 (Bankr. E.D. Va. 1980); Klee/Butler, 35 U.C.C. L.J. 23, 63 (September 2002). 15 Vgl. In re Augie/Restivo Banking Co., Ltd., 860 F.2d 515 (2d Cir. 1988); Eastgroup Properties v. Southern Motel Ass’n, Ltd., 935 F.2d 245 (11th Cir. 1991). 16 Siehe Art. 621-2 des französischen Code de Commerce, mit dem die zunächst abweichende Entscheidung der Cour de Cassation, Cass. com. 19 April 1991, Bull. civ. IV, p. 92 no 128 rückgängig gemacht wurde; hierzu Hirte, ECFR 2008, 213, 221–222; Pariente, ECFR 2007, 317, 333 ff.

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Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts

Eine solche Konsolidierung würde schon dadurch, dass die Zahl der Verfahren gesenkt würde, den Ertrag für alle Gläubiger steigern; sie würde gleichzeitig dadurch zur Wertschöpfung beitragen, dass durch den Verkauf der gesamten Unternehmensgruppe statt nur der Einzelunternehmen einiger ihrer Mitglieder ein höherer Fortführungswert erzielt werden könnte17 oder im Falle einer Liquidation ein größerer Liquidationswert als beim Einzelverkauf der Vermögensgegenstände der einzelnen Gesellschaften erreicht werden könnte18. Sehr schön beschreibt es Rasmussen: „The size of the pie is more important than the size of the slices“19. Weiteres Argument für eine konzernmäßige Abwicklung ist dabei, dass Anleger und Gläubiger regelmäßig der Solvenz der Unternehmensgruppe mehr Aufmerksamkeit schenken als derjenigen ihrer einzelnen Mitglieder. Einfacher Grund dafür ist, dass es in einem Unternehmensverbund – jedenfalls in einem gewissen Umfang – eine Frage des Zufalls ist, bei welchem ihrer Mitglieder Gewinne oder Verluste entstehen, da Vermögenswerte und Verbindlichkeiten innerhalb der Gruppe hin- und herbewegt werden können, und zwar nicht notwendig zu Marktpreisen20. Diesem Ansatz trägt sehr deutlich die IAS-Verordnung Rechnung21, aber er steht auch bei vielen anderen kapitalmarktrechtlichen Bestimmungen Pate. Eine Zusammenfassung der Unternehmensgruppe auch in der Insolvenz würde daher sicher mit rechtlichen Entwicklungen auch außerhalb des Insolvenzrechts in Einklang stehen. Freilich darf bei dem US-amerikanischen und bei dem französischen Ansatz nicht übersehen werden, dass dieser aus deutscher „dogmatischer“ Sicht eine materiellrechtliche mit einer prozeduralen Frage verbindet: Denn die verfahrensmäßige Zusammenfassung der Insolvenzverfahren über verschiedene konzernzugehörige Unternehmen wird nur und erst dann gestattet, wenn gleichzeitig in materiellrechtlicher Hinsicht die Voraussetzungen eines „Durchgriffs“ („piercing the corporate veil“) vorliegen22. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass jedenfalls in diesen Fällen keine Bedenken gegen eine Vermischung der Vermögensmassen bestehen dürften, weil die Gläubiger der Tochtergesellschaft(en) auch nach materiellem Recht Zugriff auf das Vermögen der Obergesellschaft haben. Ob wir einen solchen Fall „echten Durchgriffs“ in Form einer unmittelbaren Außenhaftung der Muttergesellschaft gegenüber den Gläubigern der Tochtergesellschaft auch bei uns haben, ist dafür zunächst einmal irrelevant23.

__________ 17 18 19 20 21

Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 826 und 828 (2007). Insoweit abw. Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 825 f. (2007). Rasmussen, VII Fordham Journal of Corporate & Financial Law, 393, 398 (2002). Hirte, ECFR 2008, 213, 222 f.; Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 829 f. (2007). Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards vom 19.7.2002, ABl. EG Nr. L 243 v. 11.9.2002, S. 1 ff. = NZG 2002, 1095. 22 Dazu bereits Hirte, ECFR 2008, 213, 222. 23 BGHZ 173, 246 = ZIP 2007, 1552 = NJW 2007, 2689 = EWiR § 826 BGB 3/07, 557 (Wilhelm).

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2. Die Verwertung von Absonderungsrechten im deutschen Recht als Vorbild einer Vermögenskonsolidierung im Konzern Die darin liegende Zusammenfassung (auch) der Vermögenswerte verschiedener Konzerngesellschaften erscheint auf den ersten Blick als ein Bruch mit dem zentralen gesellschaftsrechtlichen Prinzip der Vermögenstrennung. Die hier maßgebliche „Sicht der Obergesellschaft“ wurde in Deutschland angesichts des vorwiegend auf die Minderheitsgesellschafter und Gläubiger der Untergesellschaft fokussierenden gesetzlichen Regelungen nur sehr begrenzt herausgearbeitet. Fälle wie „Holzmüller“24 und die Herausarbeitung des „Pyramiding“-Effekts, wie er heute im Bank- und Versicherungsaufsichtsrecht auch gesetzlich verankert ist und Hintergrund der Diskussion um die upstream guarantees war, haben aber insoweit jedenfalls in gewissem Umfang das Bewusstsein geschärft. Freilich darf nicht übersehen werden, welches der wirtschaftliche Effekt einer „Vermögenstrennung im Konzern“ ist. Wirtschaftlich ist nämlich der zentrale Effekt einer „Ausgliederung“ bzw. des Haltens einer Beteiligung, dass die Gläubiger der Tochtergesellschaft mit Vorrang vor den Gläubigern der Muttergesellschaft auf das Vermögen der Unternehmensgruppe zugreifen können; spiegelbildlich unterliegen die Gläubiger der Muttergesellschaft einem „strukturellen Nachrang“ gegenüber den Gläubigern der Tochtergesellschaft(en) bei der Durchsetzung ihrer Verbindlichkeiten25. Das aber erinnert an ein wohlbekanntes insolvenzrechtliches Instrument – nämlich die Absonderung (§§ 49 ff. InsO)26. Grafisch lässt sich diese Situation wie folgt illustrieren:

__________ 24 BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568 = NJW 1982, 1703 – Holzmüller; dazu ausführlich Hirte, Bezugsrechtsausschluß und Konzernbildung, 1986, S. 129 ff., 155 ff. 25 Dazu Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2006, Rz. 8.13. 26 Zur Vergleichbarkeit der Ausgliederung auf Tochtergesellschaften mit einer besonderen Verpfändung/Sicherungsübereignung von Vermögensgegenständen an Gläubiger siehe insbesondere Hansmann/Kraakman in Kraakman u. a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, 2004, S. 7 („asset pledging effect“); eingehend zum damit verknüpften „entity shielding“ Hansmann/Kraakman/Squire, Law and the Rise of the Firm, January 2006, ECGI – Law Working Paper No. 57/2006 = 119 Harv.L.Rev. 1333 (2006); dies., U. Ill. L.R. 5 (2005); siehe auch Arlt, ZBB 2004, 382; zur strukturellen Ähnlichkeit insbesondere eines globalen Unternehmenspfandrechts wie der englischen floating charge siehe auch Wenckstern, RabelsZ 56 (1992), 627, 651 ff., der – aus Sicht der Anknüpfung nach IPR – eine Gesamtrechtsnachfolge (und damit Gesellschaftsrecht) diskutiert, aber i. E. mit – nach Einführung des UmwG nicht mehr zwingenden Gründen – ablehnt. Die Verpfändung und erst recht die Sicherungsübereignung des Unternehmensvermögens ist also rechtstechnisch als bloßes Minus auf dem Weg zu dessen Ausgliederung zu verstehen.

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Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts

Wirkung von Absonderungsrechten

Insolvenzmasse

Zahlung nur des Übererlöses

Absonderungsrecht eines Dritten

Absonderungsberechtigte = Vorrang gegenüber gewöhnlichen Insolvenzgläubigern

Konzerninsolvenz

Muttergesellschaft

Zahlung nur der Liquidationsdividende

Tochtergesellschaft

Gläubiger der Tochtergesellschaft = Vorrang gegenüber Gläubigern der Muttergesellschaft

Vor diesem Hintergrund wage ich die Behauptung, dass das „klassische Insolvenzrecht“ bereits die zentralen Elemente für die Behandlung der Konzerninsolvenz vorsieht, und das selbst für den Fall, dass nicht alle Mitglieder einer Unternehmensgruppe insolvent sind. Denn der einzige Unterschied der Konzerninsolvenz zur vorzugsweisen Befriedigung der Gläubiger im Falle der Absonderung liegt darin begründet, dass diese Vorzugsbehandlung im Falle der Konzerninsolvenz Folge der Existenz einer eigenständigen Rechtsperson ist, während sie im Falle der Absonderung daraus resultiert, dass der betreffende Gläubiger ein Vorzugsrecht (etwa Pfandrecht) an einem einzelnen Gegenstand hat. Rein rechtstechnisch ist aber die vorzugsweise Befriedigung der Gläubiger 647

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einer Tochtergesellschaft nicht notwendigerweise komplizierter als diejenige eines Pfandgläubigers. Das ist ein Argument, im Falle der Insolvenz einer Unternehmensgruppe zumindest eine Anwendung derselben Regeln wie derjenigen für die Pfandverwertung zu gestatten27. Der Gesetzgeber sollte daher jedenfalls erlauben, auch die Vermögensmassen einer insolventen Tochtergesellschaft innerhalb der Insolvenz der Muttergesellschaft abzuwickeln, weil der wirtschaftliche Effekt eines solchen Vorgehens nicht über die dem Insolvenzrecht wohl bekannte vorzugsweise Befriedigung von Pfandgläubigern hinausgeht. Freilich – und das ist entscheidend – dürfte ohne Zustimmung der Gläubiger der Tochtergesellschaft nicht deren Recht auf „vorzugsweisen Zugriff“ auf die Insolvenzmasse der Unternehmensgruppe beeinträchtigt werden. Andererseits wird man eine formelle Zustimmung für die verfahrensmäßige Einbeziehung der Gläubiger der Tochtergesellschaften nicht verlangen müssen28. Denn das Gesetz fragt nach heutigem Verständnis29 auch die Gläubiger von Absonderungsrechten nicht mehr danach, ob sie verfahrensmäßig in das Insolvenzverfahren einbezogen werden wollen. Eine substantive consolidation und die daraus resultierenden Kosten- und verfahrensmäßigen Vorteile kann daher im Einklang mit klassischen insolvenzrechtlichen Prinzipien verwirklicht werden, ohne dass dies zugleich eine vollständige Gleichbehandlung sämtlicher Gläubiger der Unternehmensgruppe zur Folge hätte30. Jedenfalls konzerninterne Ansprüche könnten dann auch in der Insolvenz „intern“ verrechnet werden, wie es ja auch dem Ansatz des Konzernbilanzrechts entspricht31; dass die Höhe dieser Ansprüche der Überprüfung bedarf und eine kontrollfreie Festsetzung durch einen einzigen „GruppenInsolvenzverwalter“ nicht ausreicht, versteht sich dabei von selbst32.

__________ 27 Das kommt im Ergebnis der Forderung nach einer teilweisen Konsolidierung der Vermögensmassen nahe, wie sie gefordert wurde von Mevorach, 8 EBOR 2007, 179, 187; dazu auch Hirte, ECFR 2008, 213, 225. 28 Enger z. B. Eidenmüller, ZHR 169 (2005), 528, 548; Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 828 (2007), die sich nur für ihre Einbeziehung in einen Insolvenzplan, also auf freiwilliger Basis, aussprechen; dagegen bereits Hirte, ECFR 2008, 213, 225. 29 Zur grundlegenden konzeptionellen Änderung der Lösung dieser Fragen im Vergleich zur – deshalb sanierungshemmenden – früheren Konkursordnung Ch. Berger, KTS 2007, 433, 434 f.; Hirte, Bezugsrechtsausschluß (Fn. 24), S. 239 ff. 30 Dies entspricht im Übrigen auch dem US-amerikanischen Ansatz, nach dem das Vertrauen von Gläubigern darauf, dass sie mit selbständigen juristischen Personen kontrahiert haben, auch in der Insolvenz zu schützen ist; dazu Stone v. Eacho (In re Tip Top Tailors, Inc.), 127 F.2d 284, 290 (4th Cir. 1942), rehearing denied and priority reaffirmed, 128 F.2d 16 (4th Cir. 1942); FDIC v. Hogan (In re Gulfco Investment Corp.), 593 F.2d 921, 929 (10th Cir. 1979). Siehe auch In re Lewellyn, 26 B.R. 246, 251 (Bankr. S.D. Iowa 1982): „There is also a rule that a creditor who relies on the sole credit of one entity is entitled to have its claim satisfied out of that entity’s assets even if the entity is no more than a corporate pocket of a parent entity“, Commerce Trust Co. v. Woodbury, 77 F.2d 478 (8th Cir. 1935), cert. denied, 296 U.S. 614, 80 L.Ed. 435, 56 S. Ct. 134 (1935). 31 Zum Ausschluss konzerninterner Klagen in der US-Insolvenz Klee/Butler, 35 U.C.C. L.J. 23, 61 f. (September 2002); Mevorach, 8 EBOR 2007, 179, 187; dazu auch Hirte, ECFR 2008, 213, 226. 32 Zu Vorschlägen für eine Regelung im deutschen Recht Hirte, ZIP 2008, 444, 447 ff.

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Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts

IV. Folgerungen und Konsequenzen aus der Vergleichbarkeit der Konzerninsolvenz mit der Verwertung von Absonderungsgut 1. Anwendung der Verwertungsregeln für Absonderungsgut auf Tochtergesellschaften Die Erkenntnis, dass die Stellung der Gläubiger einer Tochtergesellschaft in der Insolvenz der Obergesellschaft derjenigen eines Pfandgläubigers entspricht, erleichtert eine etwaige gesetzliche Regulierung dieses Problemkreises beträchtlich: Denn damit lässt sich ein vorhandenes und akzeptiertes Regelungsmodell auf die Konzerninsolvenz übertragen, ja es ist sogar denkbar, das vorhandene Regelungskonzept durch eine schlichte Verweisung für entsprechend anwendbar zu erklären. Hinzu kommt, dass jedenfalls nach der Vorstellung des Unterzeichners eine Tochtergesellschaft bei teleologisch-funktionaler Auslegung des Verwertungskonzepts nach § 166 Abs. 1 InsO schon de lege lata trotz Absonderungsrechts zugunsten eines Dritten dann vom Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft verwertet werden kann, wenn der Sicherungsgegenstand – hier das Mitgliedschaftsrecht33 – als Teil eines technisch-organisatorischen Verbunds des Schuldnervermögens anzusehen ist, und zwar unabhängig davon, wer im Falle einer wertpapiermäßigen Verbriefung der Mitgliedschaftsrechte die Urkunde „in seinem Besitz hat“34. Im Einzelnen: Zentrales Instrument zur Lösung von Konflikten bei der Verwertung von Sachen, an denen Absendungsrechte bestehen, ist § 168 InsO. Dessen Ausgangspunkt ist, dass der Insolvenzverwalter Sachen, an denen ein Dritter ein Absonderungsrecht hat, selbst verwerten darf, wenn der Verwalter sie in seinem Besitz hat (§ 166 Abs. 1 InsO). Allerdings muss er den absonderungsberechtigten Gläubiger vor einer etwaigen Veräußerung an einen Dritten darüber informieren (§ 168 Abs. 1 Satz 1 InsO) und ist ihm schon zuvor zur Auskunft über den Zustand der Sachen verpflichtet (§ 167 Abs. 1 InsO). Der absonderungsberechtigte Gläubiger hat dann seinerseits das Recht, binnen einer Woche auf eine andere, für ihn günstigere Möglichkeit der Verwertung des Gegenstands hinzuweisen (§ 168 Abs. 1 Satz 2 InsO). Entscheidend ist dann § 168 Abs. 2 InsO: Danach hat der Verwalter bei einem rechtzeitigen Hinweis die vom absonderungsberechtigten Gläubiger genannte Verwertungsmöglichkeit wahrzunehmen „oder den Gläubiger so zu stellen, wie wenn er sie wahrgenommen hätte“. Der Insolvenzverwalter darf daher auch einen Gegenstand verwerten, an dem ein Absonderungsrecht besteht; er muss dafür aber Ausgleich leisten, wenn die Verwertung durch ihn für den absonderungsberechtigten Gläubiger zu einem wirtschaftlich schlechteren Ergebnis führen würde als eine andere Verwertungsform, die der Gläubiger aufzeigt35. Diese

__________

33 Zur Frage des Pfandrechtsgegenstands Hirte/Knof, WM 2008, 7, 8 f. 34 Dazu Hirte/Knof, WM 2008, 7, 49, 51 ff.; zum Bedeutungsverlust des Besitzbegriffs in diesem Zusammenhang auch Uhlenbruck, ZInsO 2008, 114, 116; abw. Ch. Berger, ZIP 2007, 1533, 1536. – Für ein funktionales Verständnis von § 166 InsO jetzt auch Hirte in FS Gero Fischer, 2008, S. 239, 244 ff. 35 Zu den anderen Verwertungsmöglichkeiten und den Formen des Ausgleichs, die hier vorgenommen werden können, Uhlenbruck in Uhlenbruck (Fn. 4), § 168 InsO Rz. 8 ff.

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Lage entspricht wirtschaftlich derjenigen bei der Verwertung von Tochtergesellschaften. Es ist daher nicht überraschend, dass die Gläubiger von 24 Tochtergesellschaften aus zehn verschiedenen europäischen Ländern im berühmten englischen Fall Collins & Aikman36 darauf verzichteten, ein Sekundär-Insolvenzverfahren in ihren jeweiligen Staaten zu beantragen (dessen wirtschaftliche Wirkung derjenigen der gesonderten Eröffnung von Insolvenzverfahren über Tochtergesellschaften entspricht37), nachdem das Gericht des englischen Haupt-Insolvenzverfahrens ihnen zugesagt hatte, mindestens die Quote zu erhalten, die sie in einem isolierten nationalen Verfahren erhalten hätten – und sie tatsächlich eine deutlich höhere Quote erhalten haben38. Ganz ähnlich hielt es der englische High Court of Justice durch seine örtliche Außenstelle (Assite Court) Birmingham für zulässig, für die einheitliche Verwertung des Konzern-Vermögens Ausgleichszahlungen an die Gläubiger der Tochtergesellschaften zu leisten39. Ein solches Vorgehen ist dem Vernehmen nach auch in Deutschland für „Konzern-Verwertungen“ heute schon anzutreffen, wenn Insolvenzverwalter auf der Grundlage des geltenden Regelwerks das Vermögen von Tochtergesellschaften mit verwerten. § 168 Abs. 2 InsO bildet damit insoweit die „dogmatische Erklärung“ für ein von der Praxis als „gefühlt gerecht“ empfundenes Ergebnis. Ausgleichsansprüche nach § 168 Abs. 2 InsO ersetzen damit bei der Verwertung des Vermögens von Tochtergesellschaften im Rahmen der Gruppeninsolvenz die Ansprüche, die einer abhängigen Gesellschaft im Laufe ihres gesunden Lebens auf der Grundlage des Gesellschafts-Konzernrechts zustehen; sie treten mithin an die Stelle von § 311 AktG einerseits und §§ 302, 303 und §§ 304, 305 AktG andererseits bzw. an die Stelle von deren Äquivalenten im GmbH-Konzern. Entscheidend ist daher, eine Anwendung der §§ 166 ff. InsO auf die Verwertung von Tochtergesellschaften vorzusehen oder zunächst zu gestatten. Ein solcher Anwendungsbefehl könnte durch einen neuen § 166 Abs. 4 InsO geschaffen werden:

__________ 36 37 38 39

In the Matter of Collins & Aikman et al. (2006) EWHC 1343 (Ch.). Hirte, ECFR 2008, 213, 229 f. m. w. N. Vgl. Paulus, 42 Texas Int’l L.J. 819, 826 (2007) m. w. N. Dazu Re MG Rover Belux SA/NV (In Administration), [2006] EWHC 1296 (Ch D) = [2007] B.C.C. 446: HHJ Norris QC hatte entschieden, dass Art. 3 EuInsVO das verfahrenslenkende Gericht weder dazu zwingt, die Antwort auf alle Fragen im Insolvenzverfahren ausschließlich im heimischen Recht zu suchen, noch aussagt, dass die Interessen lokaler Gläubiger in einem anderen Mitgliedstaat allein durch die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens gewahrt werden könnten. Im Ergebnis sei deshalb eine Sonderzahlung, die so nach englischem Recht nicht vorgesehen ist, gleichwohl zulässig, wenn sie angemessen und zweckdienlich ist, um das Ziel der Insolvenzverwaltung zu erreichen (normativer Anknüpfungspunkt für diese Lösung waren sec. 65 and 66 Insolvency Act 1986). Es kam damit de facto zu einer Anwendung des belgischen Insolvenzrechts in einem Insolvenzverfahren nach Maßgabe des englischen Insolvency Act 1986; siehe hierzu Mankowski, NZI 2006, 416, 418: „Beispiel gelungener informeller Kooperation“ mit dem weiteren Hinweis „In gewandelter Perspektive könnte man das Ergebnis der Entscheidung aber auch als eine gelungene und sogar gerichtlich abgesegnete Erpressung bezeichnen“.

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Überlegungen zur Entwicklung eines Konzerninsolvenzrechts „Absatz 1 findet entsprechende Anwendung auf die Verwertung eines Unternehmens, wenn die Mehrheit der Kapitalanteile an einer juristischen Person oder einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit in die Insolvenzmasse fällt und auch über deren Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde.“

Über den schon jetzt vom Verfasser dieser Zeilen vertretenen Ansatz40 geht dies insoweit hinaus, als es für die Verwertungsbefugnis einer Tochtergesellschaft danach nicht mehr darauf ankommt, ob ein Absonderungsrecht an der Beteiligung besteht; vielmehr wird das primäre Zugriffsrecht der Gläubiger auf das Vermögen der Tochtergesellschaft bereits ex lege als ein solches angesehen. Weitere Detailregelungen sind letztlich im Sinne einer „smarten Gesetzgebung“ entbehrlich. Denn einerseits geben die §§ 166 ff. InsO den Rahmen in ausreichendem Umfang vor, andererseits erlaubt das hier vorgeschlagene Gebot bloß „entsprechender“ Anwendbarkeit der Regelungen ausreichende Flexibilität. Einer gesonderten Regelung der Tatsache, dass eine solche Verwertung nur fakultativ erfolgen muss, bedarf es ebenfalls nicht. Denn schon der geltende § 166 Abs. 1 InsO erlaubt nur („darf“) eine Verwertung von mit Absonderungsrechten belasteten Sachen durch den Insolvenzverwalter, zwingt aber nicht dazu. Denkbar wäre freilich, ein derartiges Verfahren nur auf Antrag bzw. mit gerichtlicher Genehmigung zu gestatten. Beschränkt werden sollte es freilich auf den Fall, dass auch über das Vermögen der Tochtergesellschaft ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde41. Denkbar wäre zudem die zusätzliche Einschränkung auf Fälle eines konzernweit zusammengefassten Insolvenzverfahrens42. Sicher nicht erfasst von diesem Ansatz ist freilich der durchaus denkbare Fall, dass durch eine Verwertung des Vermögens einer Tochtergesellschaft ein Schaden bei der Muttergesellschaft bzw. ihren Gläubigern eintritt, also eine Schädigung „von unten nach oben“: Diese beschränkte – wenn man so will: einseitige – Sichtweise entspricht freilich der Konzernrechtsdogmatik des kodifizierten Gesellschaftsrechts und sollte im Insolvenzrecht nicht isoliert anders geregelt werden, jedenfalls nicht im Gesetz43. Insgesamt zeigt sich auch hier, dass trotz des Fehlens eines Konzerninsolvenzrechts schon mit Hilfe allgemeiner Regelungen Ergebnisse erzielt werden können, „die man gewöhnlich glaubt, nur mit Hilfe eines besonderen KonzernInsolvenzrechts erreichen zu können.“44 Er zwingt auch zu einer gewissen Zurückhaltung gegenüber einer undifferenzierten Übernahme US-amerikanischer Regelungsmodelle, die vor einem ganz anderen Hintergrund, insbesondere der

__________ 40 41 42 43

Dazu oben Fn. 34. Siehe dazu aber auch unten 2. Zu Kodifikationsvorschlägen Hirte, ZIP 2008, 444, 445 f. Zu den noch völlig ungeklärten Wirkungen der Zurechnung der Anfechtbarkeit „von unten nach oben“ Hirte in FS Kreft, 2004, S. 307, 316 f. = ZInsO 2004, 1161, 1164 f.; ders., ECFR 2008, 213, 232 (bejahend); abw. Brinkmann in Bork (Hrsg.), Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, 2006, § 18 Rz. 28 f. 44 So Uhlenbruck in FS Braun, 2007, S. 335, 348 zu Hirte in FS Kreft, 2004, S. 307, 316 ff. = ZInsO 2004, 1161, 1164 ff.

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nicht identischen Regelungszuständigkeit für Gesellschafts- und Insolvenzrecht entwickelt wurden. Der vor diesem Hintergrund nahe liegende Einwand, dass der hier vertretene Ansatz die Selbständigkeit der einzelnen Rechtspersonen ignoriere, ist damit richtig und falsch zugleich: Denn formal ist dies sicher richtig, hinsichtlich der hinter dem eingangs beschriebenen Grundsatz (oben II.) stehenden materiellen Wertungen aber gerade nicht. Schlagworte helfen daher auch hier nicht viel weiter. 2. Anwendung der Grundsätze im Planverfahren Die vorstehenden Überlegungen erleichtern die Herausarbeitung eines konzernweiten Insolvenzplanverfahrens beträchtlich45. Vor allem ist dies – wie zu zeigen ist – mit nur minimalem legislatorischen Aufwand möglich. Dabei ist zunächst zu unterscheiden: Die Verwertung der Anteile aus einer Tochtergesellschaft ist überhaupt kein Problem eines besonderen Konzerninsolvenzverfahrens, sondern der Reichweite des Verwertungsrechts des Insolvenzverwalters im Rahmen von § 166 Abs. 1 InsO. Das aber besteht nach der vom Unterzeichner vertretenen (unter Umständen gesetzlich klarstellungsfähigen) Auffassung auch dann, wenn diese Anteile mit Absonderungsrechten zugunsten Dritter belastet sind46. In diesem Umfang können Anteile von Tochtergesellschaften daher – auch heute schon – selbstverständlich auch Gegenstand eines Insolvenzplanverfahrens über das Vermögen ihrer Muttergesellschaft sein. Auf die Frage, ob die Tochtergesellschaft insolvent ist, kommt es dabei hier eindeutig nicht an. Was die Verwertung des Vermögens einer Tochtergesellschaft angeht, ist das hier vorgetragene Verständnis, das zum Vorschlag eines neuen § 166 Abs. 4 InsO geführt hat, bestimmend: Die Erkenntnis, dass die Gläubiger von Tochtergesellschaften im Konzernverbund in ihrer Rechtsstellung derjenigen von absonderungsberechtigten Gläubigern entsprechen, führt hier zunächst dazu, dass sie in einem einheitlichen Konzerninsolvenzverfahren im Rahmen von § 222 Abs. 1 InsO entweder den absonderungsberechtigten Gläubigern nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 InsO gleichzustellen oder als gesonderte Gruppe neben diese Gläubiger zu stellen sind. Deren grundsätzlich erforderliche Zustimmung zu einem Insolvenzplan nach §§ 235 ff. InsO kann unter denselben Voraussetzungen ersetzt werden, unter denen auch sonst die fehlende Zustimmung einer Gläubigergruppe zu einem Insolvenzplan ersetzt werden kann – nämlich unter den Voraussetzungen des Obstruktionsverbots nach § 245 InsO. Die Parallele der Verwertung eines Absonderungsrechts gibt damit auch Antwort auf die Frage, welche Zuständigkeiten für die Verabschiedung eines

__________ 45 Zur Forderung nach einem konzernweiten Insolvenzplanverfahren vor allem Eidenmüller, ZHR 169 (2005), 528, 546 f.; zum Masterplan-Ansatz auch Ehricke, ZInsO 2002, 393, 395 f.; Uhlenbruck in FS Braun, 2007, S. 335, 346 f. 46 Siehe oben bei und in Fn. 34.

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„konzernweiten Insolvenzplans“ gelten müssen. Es ist rechtlich wie wirtschaftlich ein Plan der Obergesellschaft, in dessen Rahmen die Interessen der Gläubiger der Tochtergesellschaften dann (aber auch nur dann) in Form des Schlechterstellungsverbots zu berücksichtigen sind, wenn auch deren Vermögen verwertet wird (also nicht nur die Anteile an dieser). Ein solcher Rahmenplan für die Sanierung oder Abwicklung einer ganzen Unternehmensgruppe wirkt damit wie eine Maßnahme der Ausübung von Konzernmacht – verlängert in die Insolvenz hinein. Sie kann also mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Muttergesellschaft an die Stelle der bis zu diesem Zeitpunkt möglichen gesellschaftsrechtlichen Instrumente treten. Sie bleibt andererseits aber eine Maßnahme der Obergesellschaft, und das bedeutet, dass die in ihr zuständigen Organe über sie beschließen müssen. Selbst dann, wenn man dem hier gemachten Vorschlag der Bildung einer einheitlichen Insolvenzmasse unter Beachtung der sich aus der Konzernstruktur ergebenden Vorrechte für die Gläubiger von Tochtergesellschaften folgt, ergibt sich nichts anderes. Die Gläubiger der Tochtergesellschaft sind dann in das Konzerninsolvenzverfahren (nur) insoweit einzubeziehen, als sie Verstöße gegen das Schlechterstellungsverbot geltend machen können, die mit finanziellen Ausgleichsleistungen – ganz wie im nicht insolventen Unternehmensverbund – überwunden werden können. § 218 Abs. 3 InsO wäre freilich dahingehend zu ergänzen, dass auch „die Tochtergesellschaften“ bei der Erstellung eines Plans beratend mitzuwirken haben. Von den bisherigen Überlegungen nicht erfasst ist die Verwertung des Vermögens einer ihrerseits nicht insolventen Tochtergesellschaft (nicht: der Anteile an einer solchen Gesellschaft). So wie deren Vermögen nach dem hier entwickelten Modell nicht in das Abwicklungsverfahren der Obergesellschaft einzubeziehen ist (oben 1.), kann dies auch nicht in Planverfahren geschehen. Aber: Das lässt sich mit dem vorhandenen Instrumentarium des Gesellschaftsrechts ohne Weiteres ändern. Denn der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft kann in Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte jederzeit auch die Liquidation einer Tochtergesellschaft beschließen. Gesetzlich geregelt werden müsste dann nur, dass auch in einem solchen Fall das insolvenzmäßige Verfahren dem gesellschaftsrechtlichen Abwicklungsverfahren vorginge, was dann selbstverständlich ebenfalls wieder gleichermaßen für das gewöhnliche wie für das Planverfahren gälte. Eine andere, hier (noch) nicht zu vertiefende Frage ist, ob sich unter Umständen auch eine (gesellschaftsrechtliche) Pflicht ergeben kann, das Vermögen einer Tochtergesellschaft ebenfalls in den Insolvenzverband einzubeziehen.

V. Zusammenfassung 1. Im Insolvenz- wie im Gesellschaftsrecht war der Blick traditionell in erster Linie auf die einzelne Gesellschaft gerichtet. Entsprechend fehlt es an einem Verfahren zur gemeinschaftlichen Abwicklung der Insolvenz einer ganzen Unternehmensgruppe. 653

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2. Mit Blick auf die wirtschaftliche Realität, in der die Unternehmensgruppe – und nicht die einzelne Gesellschaft – bestimmend ist, versuchen Gerichte und Praktiker des Insolvenzrechts aber in zunehmendem Maße die verschiedenen Insolvenzverfahren der Mitglieder einer Unternehmensgruppe zusammenzufassen. Im Ausland war dies teilweise auch schon Gegenstand gesetzlicher Regelungen. 3. Als erster Schritt, zurückgehend auf Rechtsentwicklungen in England, stehen die Versuche einer „verfahrensmäßigen Konsolidierung“ im Mittelpunkt, die in Form der Debatte um das „Center of Main Interest“ (COMI) eine europarechtliche Dimension erlangt haben. Sie werden inzwischen auch auf der nationalen Ebene aufgegriffen. 4. Damit zusammen hängt die Frage, ob ein und dieselbe Person zum Insolvenzverwalter in verschiedenen Insolvenzverfahren über das Vermögen unterschiedlicher Mitglieder einer Unternehmensgruppe bestellt werden kann, was die Verneinung eines Interessenkonflikts der Verwalter in dieser Lage impliziert. 5. Als intensivste Maßnahme eines Konzern-Insolvenzverfahrens ist die Zusammenfassung der Vermögensmassen im Konzern, wie sie als „substantive consolidation“ vom US-amerikanischen Insolvenzrecht gestattet wird. Sie ist durch wirtschaftliche Überlegungen zu rechtfertigen. Sie kann wirtschaftlich mit der bevorzugten Befriedigung von Absonderungsrechten im ordentlichen Insolvenzverfahren verglichen werden, da sie keineswegs notwendigerweise eine gleichmäßige Verteilung sämtlicher Vermögensgegenstände des Konzerns an alle Gläubiger der Unternehmensgruppe bedeutet. Damit stellt sie auch die Rechtspersönlichkeit der einzelnen Konzerngesellschaften in ihrer – und das ist entscheidend – wirtschaftlichen Wirkung nicht in Frage. 6. Eine solche Beschränkung der Verwertung des Vermögens einer Tochtergesellschaft als Verwertung eines mit einem Absonderungsrecht belasteten Gegenstands Ansatz fügt sich auch nahtlos in die vorhandene gesellschaftsbzw. konzernrechtliche Dogmatik: Die Verwertung des den Tochtergesellschaften zustehenden Vermögens im Rahmen eines einheitlichen Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Unternehmensgruppe bei möglicher Ausgleichspflichtigkeit nach dem Vorbild von § 168 Abs. 2 InsO entspricht der Lage im faktischen Konzern, in dem nach § 311 AktG für Eingriffe in die Tochtergesellschaften Ausgleich zu leisten ist, wenn die entsprechende Maßnahme nicht mit ihrem Eigeninteresse in Einklang steht. Der beschriebene Ansatz erlaubt auch im selben Umfang und ohne großen rechtstechnischen Aufwand die Einbeziehung von Tochtergesellschaften und deren Vermögen in einen von der Muttergesellschaft beschlossenen – und damit automatisch konzernweit wirkenden – Insolvenzplan. Keine Parallele im Konzern-Insolvenzrecht findet freilich der Vertragskonzern, was freilich nicht überraschend ist: Denn das deutsche Modell ist rechtsvergleichend ein auf das Steuerrecht zurückgehendes Unikat, und es ist nicht zuletzt 654

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wegen Änderungen im Steuerrecht inzwischen auf dem Rückzug47. Aber es entspricht dem im Zuge einer europäischen Rechtsangleichung in jüngerer Zeit48 vorgetragenen Ansatz einer „einseitigen Konzernierungserklärung“ durch die Muttergesellschaft mit daraus folgenden Ausgleichspflichten für die außenstehenden Aktionäre in der Tochtergesellschaft49. Die Tatsache, dass sich die gesellschafts- bzw. konzernrechtlichen Beherrschungsinstrumente in das Insolvenzverfahren in gewisser Weise fortsetzen, gibt auch eine erste Antwort auf die Frage, ob es geschickt ist, die Beendigung der gesellschafts- und konzernrechtlichen Strukturen, insbesondere die des Unternehmensvertrags, einer gesetzlichen Regelung zuzuführen. Davon sollte er nämlich möglicherweise absehen, nachdem der früher überwiegend vertretene Ansatz einer automatischen Beendigung dieser Verträge50 heute nicht mehr der herrschenden Meinung entspricht51, andererseits aber die Frage, unter welchen Voraussetzungen für welche der Parteien ein Fortbestand des Unternehmensvertrags sinnvoll ist, sehr vom Einzelfall der sehr unterschiedlichen Konzernbeziehungen abhängig ist.

__________ 47 Hierzu Hirte in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 300 AktG Rz. 16; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, 3. Aufl, 2005, § 291 AktG Rz. 4 f.; Hirte/Schall, Konzern 2006, 243, 246; Schön, ZHR 168 (2004), 629; i. E. auch Herzig/Englisch/Wagner, Konzern 2005, 298, 316; allgemein zum Rückzug des Konzernrechts ferner Schall in Spindler/ Stilz (Hrsg.), Aktiengesetz, 2007, Vor § 15 AktG Rz. 2 ff. 48 Zu früheren Überlegungen in dieselbe Richtung Hirte in Großkomm.AktG (Fn. 47), § 300 AktG Rz. 13. 49 Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 740 ff.; zustimmend Hirte (Fn. 25), Rz. 7.68; Wiedemann/Hirte, Konzernrecht, in 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. II, 2000, S. 337, 371: kritisch hierzu Blaurock in FS Sandrock, 2000, S. 79, 89 ff. 50 BGHZ 103, 1, 7 = NJW 1988, 1326, 1327 = ZIP 1988, 229, 231 = EWiR § 302 AktG 1/88, 1149 (Koch) (GmbH); Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktienkonzernrecht, 1. Aufl. 1998, § 297 AktG Rz. 47; Weber in Jaeger/Henckel (Hrsg.), Konkursordnung, 9. Aufl. 1977 ff., §§ 207, 208 KO Rz. 11; Mertens, ZGR 1984, 542, 550; Peltzer, AG 1975, 309 ff.; Wilhelm, Die Beendigung des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages, 1976, S. 32 ff.; abw. Paulus, ZIP 1996, 2141, 2142 ff. 51 Für bloße Kündigungsmöglichkeit aus wichtigem Grund: Böcker, GmbHR 2004, 1257, 1258; Hirte in Uhlenbruck (Fn. 4), § 11 InsO Rz. 398; Noack in Kübler/Prütting (Hrsg.), Kommentar zur Insolvenzordnung, Sonderband I. Gesellschaftsrecht, 1999, Rz. 726; Tschernig, Haftungsrechtliche Probleme der Konzerninsolvenz, 1995, S. 102 ff.; Zeidler, NZG 1999, 692, 696 f.; abw. Sämisch/Adam, ZInsO 2007, 520, 521 f.

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Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern – grenzenlose Anwendung des § 114 AktG?

Inhaltsübersicht I. Normzweck, Analogie und Umgehungsschutz

IV. Beratungsvertrag mit der Muttergesellschaft der AG

II. Beratungsvertrag mit einer Gesellschaft des Aufsichtsratsmitglieds

V. Beratungsvertrag mit einem Vorstandsmitglied

III. Beratungsvertrag mit einer Tochtergesellschaft der AG

VI. Zusammenfassung der Ergebnisse

In der Rechtsprechung und im Schrifttum mehren sich die Versuche, den Tatbestand des § 114 AktG, der Beratungsverträge der AG mit Aufsichtsratsmitgliedern von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig macht, durch eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung auszudehnen. Diese Erweiterungen sollen nachstehend kritisch beleuchtet werden.

I. Normzweck, Analogie und Umgehungsschutz 1. Der Vorstand der AG kann mit einem Aufsichtsratsmitglied im Grundsatz Verträge aller Art abschließen, soweit sie nicht dessen Tätigkeit im Aufsichtsrat betreffen. So kann er dem Aufsichtsratsmitglied ein Kraftfahrzeug oder eine Immobilie der Gesellschaft verkaufen oder eine Wohnung vermieten, ohne dass der Aufsichtsrat als Organ eingeschaltet werden muss. Eine Besonderheit gilt jedoch für Dienst- und Werkverträge, durch die sich ein Aufsichtsratsmitglied außerhalb seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft zu einer „Tätigkeit höherer Art“ verpflichtet. Solche Verträge, bei denen es sich in der Praxis meist um Beratungsverträge handelt, bedürfen nach § 114 Abs. 1 AktG zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung des Aufsichtsrats, die durch vorherige Einwilligung oder nachträgliche Genehmigung erteilt werden kann. Die Vorschrift befand sich noch nicht im Regierungsentwurf des AktG 1965, sondern wurde erst im Zuge der Gesetzesberatungen des Bundestags eingefügt, und zwar mit einem durch den Rechtsausschuss vorgeschlagenen Wortlaut. Im Bericht des Rechtsausschusses ist nachzulesen, dass der Vorschrift ein gemeinsamer Vorschlag des Rechtsausschusses, des Wirtschaftsausschusses und des Ausschusses für Arbeit zugrunde liegt und durch die neue Vorschrift „sachlich ungerechtfertigte Sonderleistungen der Gesellschaft an einzelne Aufsichts657

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ratsmitglieder und damit eine unsachliche Beeinflussung eines Aufsichtsratsmitglieds im Sinne des Vorstands verhindert werden sollen“1. Dieser Satz ist die einzige maßgebliche Äußerung aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift zum Normzweck des § 114 AktG. Folgt man dagegen dem BGH, so werden mit § 114 AktG nicht nur einer, sondern sogar drei Regelungszwecke verfolgt: (1) Schutz gegen verdeckte Aufsichtsratsvergütungen: Der Zustimmungsvorbehalt erschwere Umgehungen der aus § 113 AktG folgenden exklusiven Kompetenz der Hauptversammlung zur Festsetzung der Aufsichtsratsvergütung, „indem er es dem Aufsichtsrat ermöglicht, den vom Vorstand geschlossenen Beratungsvertrag präventiv darauf zu überprüfen, ob er tatsächlich in Übereinstimmung mit dem gesetzlichen Gebot des § 113 AktG nur Dienstleistungen außerhalb der organschaftlichen Tätigkeit zum Gegenstand hat.“ (2) Schutz gegen Gefährdung der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds durch unangemessene Vergütungen: Der Zustimmungsvorbehalt eröffne dem Aufsichtsrat „die Möglichkeit, sachlich ungerechtfertigte Sonderleistungen der AG an einzelne Aufsichtsratsmitglieder – etwa in Form überhöhter Vergütungen – und damit eine denkbare unsachliche, der Erfüllung seiner Kontrollaufgabe abträgliche Beeinflussung des Aufsichtsrats durch den Vorstand zu verhindern.“ (3) Schutz gegen Gefährdung der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds durch zu enge Beraterbeziehungen: Der Zustimmungsvorbehalt sei auch deshalb geboten, weil „besondere Beraterbeziehungen zwischen dem Vorstand und einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern auch außerhalb der Gewährung rechtswidriger Sondervorteile zu engen Beziehungen und Verflechtungen zwischen den an ihnen beteiligten Personen (führen), die Einfluss auf die Ausübung der Überwachungstätigkeit haben können2.“ Der Regelungszweck (1) ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus der Begründung des Gesetzes, folgt aber aus dem systematischen Zusammenhang mit § 113 AktG und dem negativen Tatbestandsmerkmal „außerhalb seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat“ in § 114 Abs. 1 AktG. Der Regelungszweck (2) lässt sich durch die Begründung im Bericht des Rechtsausschusses belegen: Schutz vor einer unsachlichen Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds durch sachlich nicht gerechtfertigte Sonderleistungen der Gesellschaft. Problematisch ist dagegen der vom BGH postulierte Regelungszweck (3), nämlich der Schutz vor einer Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds durch sachlich gerechtfertigte und angemessen honorierte, aber übermäßig enge Beratungsbeziehungen zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsratsmitglied. Dem Ausschussbericht lässt sich dieser weitergehende Regelungszweck nicht entnehmen. Vielmehr

__________ 1 Bericht des Rechtsausschusses des Bundestags zu § 114 AktG, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 158. 2 BGHZ 126, 340, 347; sachlich übereinstimmend BGHZ 168, 188, 193 = ZIP 2006, 1529/1531 und BGHZ 170, 60, 63 f. = NZG 2007, 103 f.

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Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

muss man die Begründung des Gesetzgebers so verstehen, dass die unabhängige Wahrnehmung des Amtes durch § 114 AktG nur insoweit abgesichert werden soll, als es um die Vermeidung „sachlich ungerechtfertigter Sonderleistungen der Gesellschaft“ geht, also um eine unangemessene finanzielle Belastung der Gesellschaft, die zudem als „Sonderleistung“ an das einzelne Aufsichtsratsmitglied dem Gebot der Gleichbehandlung der Aufsichtsratsmitglieder widerspricht. Selbstverständlich muss der Aufsichtsrat ein Auge darauf haben, dass nicht durch eine zu umfangreiche und intensive Beratertätigkeit des Aufsichtsratsmitglieds die für eine effiziente Überwachung des Vorstands notwendige Distanz verloren geht. Aber dafür wäre nicht unbedingt ein präventiver Zustimmungsvorbehalt erforderlich, sondern man könnte dies auch der allgemeinen Aufsichtspflicht überlassen, wie sie vom Aufsichtsrat im Hinblick auf nicht durch § 114 AktG erfasste Vertragstypen zu beachten ist3. Aber die Frage ist letztlich eher akademischer Natur. Der Tatbestand des § 114 AktG statuiert nämlich einen Zustimmungsvorbehalt für alle Beratungsverträge mit Aufgaben außerhalb der Tätigkeit im Aufsichtsrat, gleichgültig, ob die in dem Vertrag vorgesehene Vergütung überhöht oder angemessen ist. Das spricht dafür, dass der Aufsichtsrat, nachdem ihm der Gesetzgeber dieses Aufsichtsmittel nun einmal zur Verfügung gestellt hat, befugt ist, einen Beratungsvertrag trotz eines ausgewogenen Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung nach pflichtgemäßem Ermessen abzulehnen, wenn er annehmen muss, dass durch Umfang und Intensität der Beratung eine für die Unbefangenheit des Aufsichtsratsmitglieds gefährlich enge Bindung zum Vorstand entstehen kann. 2. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, in welchen über den gesetzlichen Tatbestand hinausgehenden Fallkonstellationen eine entsprechende Anwendung des § 114 AktG geboten ist. Dazu erscheint zunächst eine methodische Vorklärung angebracht. a) Die analoge Anwendung einer Gesetzesvorschrift ist bekanntlich nur dann zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke aufweist und der zu beurteilende Sachverhalt mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand derart vergleichbar ist, dass anzunehmen ist, der Gesetzgeber wäre bei einer Beurteilung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der Gesetzesvorschrift, für den zu beurteilenden Sachverhalt zu dem gleichen Ergebnis gekommen4. Die entsprechende Anwendung einer Norm zum Zwecke des Umgehungsschutzes ist nach herrschender Meinung ein Unterfall der Analogie5. Auch für die entsprechende Anwendung der Norm zum Schutz gegen eine Umgehung bedarf es der Feststellung einer Regelungslücke. Der Akzent ist jedoch ein be-

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3 In diesem Sinne Happ in FS Priester, 2007, S. 175, 184. 4 Vgl. BGH, NJW 2003, 1932, 1933; BGHZ 105, 140, 143; 110, 183, 193; 120, 239, 252; 149, 165, 174. 5 Grundlegend Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S. 50 ff.; vgl. auch BGHZ 110, 47, 64; w. Nachw. bei Sieker, Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 8 u. Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 84 f.

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sonderer: Es geht nicht um eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Norm, sondern um den Schutz ihres Anwendungsbereichs6 und die Durchsetzung ihres Regelungsgehalts7. Die Norm soll auch dann angewendet werden, wenn die Beteiligten durch eine nur formal und nicht der Sache nach andere Gestaltung des Sachverhalts ein gleiches oder zumindest weitgehend gleiches Ergebnis erzielen wollen. Die entsprechende Anwendung der Norm ist in einem solchen Fall geboten, um zu verhindern, dass der Zweck der Vorschrift durch die von den Parteien gewählte andere Gestaltung vereitelt wird. Schließlich spricht man bei Anwendung einer Norm auf einen in ihrem Tatbestand nicht geregelten Sachverhalt bisweilen auch von einer „erweiternden Auslegung (oder Anwendung)“ oder „teleologischen Extension“8. Ob es sich dabei um ein Aluid zur analogen Anwendung handelt, ist zweifelhaft9, kann aber dahinstehen10. Denn jedenfalls bedarf es auch für eine „erweiternde Anwendung“ oder „teleologische Extension“ der Feststellung einer Regelungslücke. Die „Extension“ kann erforderlich sein, um – wie auch sonst bei der Analogie – den Anwendungsbereich auszudehnen oder ihn vor Umgehungen zu schützen. b) Besondere Schwierigkeiten bereitet die Feststellung einer planwidrigen Regelungslücke, wenn der Gesetzgeber zum Schutz eines weit gespannten Ziels – hier: der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds gegenüber dem Vorstand – nur bestimmte Erscheinungsformen geregelt und sanktioniert hat, durch die das Schutzziel gefährdet werden kann. In einem solchen Fall ist es nicht zulässig, die gesetzlich geregelte Rechtsfolge allein mit der Begründung auf andere im gesetzlichen Tatbestand nicht erfasste Sachverhalte auszudehnen, dass das zu schützende Gut auch durch diese anderen Sachverhalte gefährdet werde. Von einer Lücke des Gesetzes kann man nämlich nur sprechen, wenn das Gesetz eine vollständige Regelung anstrebt11. Häufig ist es so, dass der Gesetzgeber durch seine Norm ein wesentlich breiter angelegtes und auch durch andere Maßnahmen gefährdetes Schutzgut nur punktuell oder sektoral gegen bestimmte Eingriffe oder bestimmte Gefährdungskonstellationen schützen will12. Bei solchen Normen geht es nicht an, eine analoge Anwendung der Vorschrift auf andere Verhaltens- und Erscheinungsformen als die durch den Gesetzgeber geregelten Formen mit dem schlichten Argument begründen zu wol-

__________ 6 Benecke a. a. O., S. 167 f. 7 BGHZ 100, 47, 64. 8 So BGHZ 170, 60, 62 („erweiternde Auslegung“) u. OLG Frankfurt, ZIP 2005, 2322, 2323 („teleologische Extension“) zur Anwendung von § 114 AktG. Zur Rechtsprechung des BGH näher nachfolgend zu II. 9 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 216 ff., insbes. S. 218. 10 OLG Frankfurt a. a. O. (Fn. 8) spricht von einer analogen Anwendung im Wege teleologischer Extension. 11 Larenz/Canaris (Fn. 9), S. 192. 12 Vgl. z. B. zur lückenhaften Regelung der unternehmerischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer im MitbestG Lutter, ZGR 1977, 195, 200 f. und Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 26 ff.

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len, das weit gefasste Schutzgut erfordere einen entsprechend weiten normativen Schutz. Diesem methodischen „Kurzschluss“ darf man auch bei § 114 AktG nicht erliegen. c) § 114 AktG schützt die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand, aber er zielt nicht auf einen generellen und umfassenden Schutz. Der Gesetzgeber wollte durch § 114 AktG nicht jedwede Gefährdung der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats verhindern, die durch Vertragsbeziehungen mit dem Aufsichtsratsmitglied hervorgerufen werden kann. Er hat sich vielmehr bewusst darauf beschränkt, durch § 114 AktG den Gefährdungen präventiv entgegenzutreten, die durch ganz bestimmte Arten von Verträgen hervorgerufen werden, nämlich Dienst- und Werkverträgen über Tätigkeiten höherer Art, und auch dies nur insoweit, als diese Verträge mit der Gesellschaft geschlossen werden. Das ergibt sich deutlich aus dem zitierten Bericht des Rechtsausschusses, insbesondere aus dem finalen Wort „damit“: damit, nämlich nur durch die Verhinderung sachlich ungerechtfertigter Sonderleistungen der Gesellschaft an einzelne Aufsichtsratsmitglieder soll eine unsachliche Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds im Sinne des Vorstands verhindert werden. Dass § 114 AktG nicht eine umfassende Sicherung der Unabhängigkeit gegenüber dem Vorstand zum Gegenstand hat und der Schutz durch § 114 AktG zwangsläufig lückenhaft ist, wird auch daran deutlich, dass der Gesetzgeber noch eine ganze Reihe weiterer Vorschriften zum Schutz der Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder gegenüber dem Vorstand geschaffen hat und diese ebenfalls nicht durch das einfache Argument, die Unabhängigkeit der Aufsichtsräte solle geschützt werden, durch Analogieschluss über die in ihnen geregelten Konstellationen hinaus ausgedehnt werden können. Beispielhaft sei verwiesen auf: – die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat mit der Zugehörigkeit zum Geschäftsführungsorgan einer Tochtergesellschaft (§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG), die vom Gesetzgeber angeordnet wurde, weil bei einem solchen Aufsichtsratsmitglied die Gefahr besteht, dass es wegen seiner vom Vorstand der Obergesellschaft abhängigen Stellung seiner Überwachungsaufgabe nicht hinreichend gerecht werden kann13; – das Verbot der Überkreuzverflechtung (§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG), das auf der Befürchtung beruht, dass die Überwachung des Vorstands durch das Aufsichtsratsmitglied weniger intensiv ausfällt, wenn das Aufsichtsratsmitglied selbst in einer anderen Gesellschaft der Überwachung durch ein Vorstandsmitglied unterliegt14; – das Verbot der Doppelmitgliedschaft in Vorstand und Aufsichtsrat der AG (§ 105 Abs. 1 AktG), das sich aus der Unvereinbarkeit einer unabhängigen

__________ 13 Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 100 AktG Rz. 51; in demselben Sinne Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 100 AktG Rz. 18. 14 Ausschussbericht zu § 100 Abs. 2 AktG abgedruckt bei Kropff (Fn. 1), S. 136.

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Aufsicht über die Geschäftsführung mit einer Teilhabe an der Geschäftsführung ergibt15; – die Vergütungskompetenz der Hauptversammlung (§ 113 AktG), die es dem Vorstand verbietet, Aufsichtsratsmitgliedern zu Lasten der AG Zuwendungen für Leistungen zukommen zu lassen, die zu ihren Aufgaben als Aufsichtsrat gehören; – den Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats für Kreditgewährungen durch den Vorstand an Mitglieder des Aufsichtsrats (§ 115 AktG); – das Vorschlagsmonopol des Aufsichtsrats für Vorschläge an die Hauptversammlung zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG), das die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder absichert, indem es den Vorstand daran hindert, die Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder durch Vorschläge an die Hauptversammlung zu beeinflussen16. Zu diesen punktuellen Regelungen tritt die durch die Organhaftung aus § 116 i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG sanktionierte Pflicht eines jeden Aufsichtsratsmitglieds hinzu, sich in seiner Amtsführung allein vom Unternehmensinteresse leiten zu lassen und sich im Konfliktfall nicht an den Interessen desjenigen auszurichten, der mit ihm einen Beratungsvertrag geschlossen oder sich sonst erkenntlich gezeigt hat. d) Wenn somit § 114 AktG das Schutzgut der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds bewusst nur gegen die Gefahren schützt, die aus den durch den Tatbestand umrissenen Sachverhalten erwachsen, dann ist eine Ausweitung dieser Tatbestandsmerkmale durch erweiternde Auslegung oder Analogie nur insoweit zulässig, als es darum geht, den Anwendungsbereich der Norm gegen Umgehungen zu schützen17.

II. Beratungsvertrag mit einer Gesellschaft des Aufsichtsratsmitglieds Wenn das Aufsichtsratsmitglied nicht selbst Vertragspartner wird, sondern den Beratungsvertrag – wie es häufig geschieht – durch eine ihm gehörende Beratungsgesellschaft abschließt, ist zwar dem Buchstaben nach der Tatbestand des § 114 Abs. 1 AktG nicht erfüllt, aber das wirtschaftliche Ergebnis ist nicht anders als bei einem unmittelbaren Vertragsschluss mit dem Aufsichtsratsmitglied. Der BGH hat deshalb mit Recht und unter einhelligem Beifall des Schrifttums am 3. Juli 2006 entschieden, dass es keinen entscheidenden Unterschied macht, „ob das Aufsichtsratsmitglied den Vertrag im eigenen Namen oder im Namen einer von ihm als alleinigem Gesellschafter (und Geschäfts-

__________ 15 Vgl. Begr. RegE zu § 105 AktG, abgedruckt bei Kropff (Fn. 1), S. 146. 16 Vgl. Begr. RegE zu § 123 AktG, abgedruckt bei Kropff (Fn. 1), S. 174. 17 So der zutreffende Ansatz bei Hopt/M. Roth (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 40; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 114 AktG Rz. 2a und b; Lutter in FS H.P. Westermann, 2008, S. 1171, 1178 ff.; anders Habersack (Fn. 13), § 144 AktG Rz. 14, 17/18 und Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 114 AktG Rz. 7 ff., die für die analoge Anwendung eine Gefährdung der Unabhängigkeit ausreichen lassen wollen.

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führer) geführten GmbH abschließt, über die er mittelbar die Vergütung erhält“18. Der BGH nimmt mit Recht an, dass es sich um einen Umgehungssachverhalt handelt, der rechtlich ebenso zu behandeln ist wie der umgangene gesetzliche Tatbestand, weil er für die Beteiligten zu demselben wirtschaftlichen Ergebnis führt. Wenn das Aufsichtsratsmitglied alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der Beratungs-GmbH ist, handelt es sich wegen der wirtschaftlichen Einheit von Aufsichtsratsmitglied und GmbH bei Licht besehen gar nicht um eine analoge Anwendung des § 114 AktG, sondern dieses Ergebnis lässt sich bereits durch eine an Sinn und Zweck orientierte erweiternde Auslegung des Gesetzes erzielen. In den Gründen der Entscheidung vom 3. Juli 2006 geht der BGH über den entschiedenen Fall hinaus, indem er es genügen lässt, dass das Aufsichtsratsmitglied an der Gesellschaft, die den Beratungsvertrag mit der AG abschließt, maßgeblich beteiligt ist. Auch das lässt sich als Umgehungsschutz rechtfertigen, da der Vorteil aus dem Beratungsvertrag dem Aufsichtsratsmitglied jedenfalls weitgehend mittelbar zugute kommt. In der nachfolgenden Entscheidung vom 20. November 200819 hatte der BGH einen Fall zu beurteilen, in dem das Aufsichtsratsmitglied zu 50 % Gesellschafter der als Vertragspartner eingeschalteten GmbH war. Auch auf einen solchen Fall will der BGH zum Zwecke des Umgehungsschutzes § 114 AktG anwenden, und er geht in den Gründen dieser Entscheidung sogar noch einen Schritt weiter: Auch eine geringe Beteiligungsquote reiche für „die zum Schutz vor Umgehungen der gesetzlichen Regelung erforderliche erweiternde Auslegung der §§ 113, 114 AktG“ aus, es sei denn, dass es sich bei den mittelbaren Zuwendungen um ganz geringfügige Leistungen handelt oder sie im Vergleich mit der Aufsichtsratsvergütung einen vernachlässigenswerten Umfang haben20. Auch dieser Ausweitung des gesetzlichen Tatbestands wird im Schrifttum überwiegend zugestimmt21. Allerdings gibt es Zweifel, ob die Grenzen, die der BGH abstrakt definiert, um zu verhindern, dass die mittelbare Zuwendung zu einer allzu „kleinen Münze“ wird, sachgemäß und ausreichend bestimmt sind22. Das gilt insbesondere für den vom BGH angezogenen Vergleich mit der Höhe der regulären Aufsichtsratsvergütung. Die Aufsichtsratsvergütung macht ohnehin in der Regel nur einen geringen Teil des Einkommens des Aufsichtsratsmitglieds aus, und wenn das Aufsichtsratsmitglied über seine geringe Beteiligung an der Beratungsgesellschaft mittelbar nur einen Betrag erhält, der einem Teil der Aufsichtsratsvergütung entspricht, so handelt es sich um einen noch geringeren Teil des Gesamteinkommens des Aufsichtsratsmitglieds. Aber die Praxis wird

__________ 18 BGHZ 168, 188, 193 = ZIP 2006, 1529, 1531. Zustimmend u. a. Hüffer (Fn. 17), § 114 AktG Rz. 2a; Hopt/M. Roth (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 42; Lutter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1171, 1179. 19 BGHZ 170, 60 = ZIP 2007, 22. 20 BGHZ 170, 60, 62 f. 21 Hüffer (Fn. 17), § 114 AktG Rz. 2a; Spindler (Fn. 17), § 114 AktG Rz. 9; Habersack (Fn. 3), § 114 AktG Rz. 14; Lutter in FS H.P. Westermann, 2008, S. 1171, 1180. 22 Happ in FS Priester, 2007, S. 175, 179 ff.; v. Schenck, DStR 2007, 395, 397 f.; Drygala in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 114 AktG Rz. 16.

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mit der niedrigen und schwer zu bestimmenden Grenze für den relevanten Vorteil leben müssen. Ein Vergleich mit dem Gesamteinkommen23 würde nicht zum gesetzlichen Tatbestand passen, der den Zustimmungsvorbehalt zu einem Beratungsvertrag mit dem Aufsichtsratsmitglied auch für den Fall vorschreibt, dass das Beratungshonorar im Vergleich zum Gesamteinkommen des Aufsichtsratsmitglieds nur eine ganz geringe Bedeutung hat. Die praktischen Konsequenzen dieser Rechtsprechung betreffen vor allem anwaltliche Beratungsverträge, die mit einer Sozietät abgeschlossen werden, der das Aufsichtsratsmitglied angehört. Nur wenige Wochen nach der zuletzt genannten Entscheidung des BGH hat sich das OLG Hamburg am 17. Januar 2007 mit einem solchen Fall zu befasst24, und am 2. April 2007 hat auch der BGH seine neuen Grundsätze auf einen Anwaltsvertrag angewendet25. Das OLG Hamburg stellt ganz generell fest, dass ein Beratungsvertrag zwischen einer AG und einer Rechtsanwaltssozietät, deren Mitglied zugleich Mitglied des Aufsichtsrats der AG ist, in den Anwendungsbereich des § 114 AktG fällt26. Es genüge, dass das Beratungshonorar dem Aufsichtsratsmitglied mittelbar als Einnahme der Sozietät zufließe. Der BGH verlangt dagegen für die Anwendung von § 114 AktG, dass dem Aufsichtsratsmitglied auf dem Weg über die Gewinnverteilung der Anwalts-GbR eine „nicht nur ganz geringfügige Zuwendung“ zufließt. Beim Mandatsvertrag mit einer BGB-Gesellschaft stellt sich allerdings die Frage, ob es überhaupt auf die Gewinnquote ankommt, da ungeachtet der neuerdings anerkannten (Teil-)Rechtsfähigkeit der GbR anzunehmen ist, dass jeder Partner der Sozietät aus dem Mandat persönlich verpflichtet und berechtigt wird27. Wenn man dem folgt, wäre nur bei der Anwalts-Kapitalgesellschaft zu prüfen, ob dem Aufsichtsratsmitglied über seinen Gewinnanteil ein nicht ganz geringfügiger Betrag aus dem Mandat zufließt. Im übrigen wird weder vom OLG Hamburg noch vom BGH im Sachverhalt mitgeteilt, mit welcher Gewinnquote das Aufsichtsratsmitglied an den Gewinnen der Sozietät beteiligt war. Bei großen Sozietäten kann der Prozentsatz für den einzelnen Partner bei 1 % oder sogar noch darunter liegen. Die mittelbare Zuwendung aus dem Beratungshonorar wird dann, selbst wenn man sie mit dem in der Regel geringen Aufsichtsratshonorar vergleicht, einen vernachlässigenswerten Umfang haben.

III. Beratungsvertrag mit einer Tochtergesellschaft der AG Umstritten und bislang in der Rechtssprechung nicht entschieden ist die Frage, ob auch ein Beratungsvertrag, den das Aufsichtsratsmitglied nicht mit der AG, sondern mit einem nachgeordneten verbundenen Unternehmen abschließt,

__________ 23 24 25 26

Dafür v. Schenck, DStR 2007, 395, 397 f. OLG Hamburg, AG 2007, 404, 405. BGH, NZG 2007, 516 = ZIP 2007, 1056. Ebenso schon H.-F. Müller, NZG 2002, 797, 798; a. A. Hopt/M. Roth (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 43. 27 Darauf weist E. Vetter, AG 2006, 173, 176 hin.

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zu seiner Wirksamkeit der Zustimmung des Aufsichtsrats der AG bedarf. Bei dieser Konstellation kommt es entscheidend darauf an, ob man die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 114 AktG auf einen Umgehungsschutz beschränkt oder unter Berufung auf das Schutzgut der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds auch solche Sachverhalte erfassen will, die sich nicht als Umgehung darstellen. Der BGH hat bisher, wie dargestellt, eine erweiternde oder analoge Anwendung des § 114 AktG nur unter dem Aspekt des Umgehungsschutzes zugelassen, und so sollte man auch bei der Beurteilung von Beratungsverträgen mit einer Tochtergesellschaft der AG verfahren. Demgemäß muss § 114 AktG zur Vermeidung einer Umgehung auch bei dem Vertragsschluss mit einem nachgeordneten Konzernunternehmen entsprechend angewendet werden, wenn der Vertrag nach seinem Gegenstand ebenso gut unmittelbar mit der Muttergesellschaft abgeschlossen werden könnte oder andere konkrete Indizien für eine missbräuchliche Umgehung vorliegen28. Weitergehend wollen einige Autoren § 114 AktG bei jedem Beratungsvertrag zwischen dem Aufsichtsratsmitglied und einem von der Gesellschaft faktisch oder vertraglich beherrschten Unternehmen anwenden, weil der Vorstand der AG die Möglichkeit habe, auf den Abschluss des Vertrags durch die Tochtergesellschaft Einfluss zu nehmen und so dem Aufsichtsratsmitglied eine Sondervergütung zukommen zu lassen29. Eine solche Ausdehnung lässt sich, wie gesagt, nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass auch durch einen Beratungsvertrag mit einer Tochtergesellschaft der AG die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds gefährdet sein kann. Richtig ist allerdings, dass der Vorstand der AG nicht nur durch einen mit der AG selbst geschlossenen Vertrag, sondern auch durch einen vom Vorstand veranlassten Vertragsschluss mit einer Tochtergesellschaft dem Aufsichtsratsmitglied eine sachlich ungerechtfertigte Sonderleistung zuwenden und damit eine unsachliche Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds im Sinne des Vorstands bewirken kann. Deshalb lässt es sich rechtfertigen, über den zuvor skizzierten Umgehungssachverhalt hinaus § 114 AktG auch dann zum Zwecke des Umgehungsschutzes analog anzuwenden, wenn der Beratungsvertrag nach seinem Gegenstand zwar nicht ebenso gut mit der AG selbst hätte abgeschlossen werden können, aber der Vertragsschluss mit der Tochtergesellschaft vom Vorstand der AG veranlasst wurde.

__________ 28 Hoffmann-Becking in Münchener Hdb. des Gesellschaftsrechts, Band 4: AG, 3. Aufl. 2007, § 33 Rz. 41. Ähnlich Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1995, § 114 AktG Rz. 8 a. E.; E. Vetter in Handbuch börsennotierte AG, 2005, § 30 Rz. 9; Hüffer (Fn. 17), § 114 AktG Rz. 2 b; Jaeger in Nirk/Ziemons/Binnewies, Handbuch der Aktiengesellschaft, Stand: 2006, Rz. 9.292. 29 Habersack (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 17; Spindler (Fn. 17), § 114 AktG Rz. 7; Drygala (Fn. 22), § 114 AktG Rz. 14; Hopt/M. Roth (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 40 f.; Lutter in FS H.P. Westermann, 2008, S. 1171, 1182; Oppenhoff in FS Barz, 1974, S. 283, 289. Differenzierend nach der Intensität der Konzernierung v. Bühnau Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern im Aktienkonzern, 2004, S. 127 f., 150 f., 270 f.

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IV. Beratungsvertrag mit der Muttergesellschaft der AG Eine analoge Anwendung des § 114 Abs. 1 AktG auf einen Dienst- oder Werkvertrag des Aufsichtsratsmitglieds der abhängigen Gesellschaft mit dem herrschenden Unternehmen wird im Schrifttum ganz überwiegend abgelehnt. Zur Begründung wird angeführt, dass der Vorstand der abhängigen Gesellschaft bei typisierender Betrachtung keine besonderen Einflussmöglichkeiten auf die Geschäfte des herrschenden Unternehmens habe30. Das OLG Hamburg hat sich dieser Ansicht und dieser Begründung in seiner Entscheidung vom 17. Januar 2007 angeschlossen31. Andere wollen § 114 Abs. 1 AktG hingegen auch auf Verträge des Aufsichtsratsmitglieds mit dem herrschenden Unternehmen anwenden. Denn auch in dieser Konstellation bestehe die Gefahr einer sachwidrigen Beeinflussung des Aufsichtsratsmitglieds. Das Aufsichtsratsmitglied der abhängigen Gesellschaft habe nämlich insbesondere darauf zu achten, dass sich die Einflussnahme des herrschenden Unternehmens im Rahmen des aktienrechtlich Zulässigen hält32. Die analoge Anwendung des § 114 AktG ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Sie scheitert schon daran, dass § 114 AktG nicht zu den konzernrechtlichen Schutzvorschriften gehört und nicht die Sicherung der Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder vor Einflussnahmen des herrschenden Unternehmens bezweckt. Die größte Gefährdung der Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder gegenüber Einflussnahmen der Obergesellschaft liegt ohnehin nicht in der Zahlung von Beratungshonoraren durch die Obergesellschaft an das Aufsichtsratsmitglied der Tochter, sondern schon allein in dessen Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied durch die Obergesellschaft mit Hilfe ihrer Hauptversammlungsmehrheit. Aber selbst insoweit gibt es nach geltendem deutschen Aktienrecht keine Beschränkungen. Rechtspolitisch lässt sich zwar eine von der EU-Kommission ausgehende Tendenz feststellen, die Zahl der dem Aufsichtsrat angehörenden Vertreter des herrschenden Unternehmens zu begrenzen33. Aber diese Tendenz hat sich in Deutschland jedenfalls bislang nicht durchgesetzt, und ihr wird mit Recht entgegengehalten, dass damit ein Grundpfeiler des deutschen Konzernrechts, nämlich die Möglichkeit des herrschenden Aktionärs, die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat nach seinen Vorstellungen auszuwählen, beseitigt würde34. Die Analogie ist auch deshalb abzulehnen, weil die Reichweite einer analogen Anwendung von § 114 AktG auf den Umgehungsschutz beschränkt werden muss. Es geht beim Abschluss eines Beratungsvertrags mit der Konzernmutter nicht um einen Umgehungssachverhalt, bei dem durch eine formal andere

__________ 30 Hopt/M. Roth (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 44; Lutter in FS H.P. Westermann, 2008, S. 1171, 1185; Oppenhoff in FS Barz, 1974, S. 283, 289; Deckert, WiB 1997, 56, 565. 31 OLG Hamburg, AG 2007, 404, 408. 32 Habersack (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 17; Spindler (Fn. 17), § 114 AktG Rz. 7. 33 Empfehlung der Kommission vom 15. Februar 2005, ABl. L 52/51. 34 Zur Kritik s. Habersack (Fn. 13), vor § 95 AktG Rz. 12; Hoffmann-Becking (Fn. 28), § 30 Rz. 3a.

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Gestaltung für die Beteiligten dasselbe wirtschaftliche Ergebnis erreicht wird wie bei Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands. Weder entscheidet der Vorstand der AG über einen Abschluss des Beratungsvertrags durch die Muttergesellschaft und die darin festgelegte Vergütung, noch handelt es sich um eine Vergütung, die unmittelbar oder mittelbar aus dem Vermögen der AG geleistet wird. Schließlich zeigen auch die sachwidrigen Konsequenzen einer derart weitgehenden Analogie, dass der Analogieschluss nicht richtig sein kann: Wenn das Vorstandsmitglied der Obergesellschaft Aufsichtsratsmitglied der Tochter wird, müsste sein Vorstandsvertrag mit der Obergesellschaft, der zweifellos ein Dienstvertrag zur Leistung von Diensten höherer Art ist, dem Aufsichtsrat der Tochter vorgelegt und von diesem genehmigt werden, um Wirksamkeit erlangen zu können. Das aber würde die Dinge auf den Kopf stellen. Der Analogieschluss ist im übrigen auch dann abzulehnen, wenn der Vorstand der Tochter und das Geschäftsführungsorgan der Mutter teilweise oder sogar vollständig personengleich besetzt sind35. Bei vollständiger Personalunion hätte es zwar der Vorstand der Tochter in der Hand, dem Aufsichtsratsmitglied einen Beratungsvertrag mit der Mutter zu verschaffen. Aber eine Umgehung läge auch dann nicht vor, weil es sich weder rechtlich noch im wirtschaftlichen Effekt um ein Geschäft der Tochter-AG handeln würde, sondern das Beratungshonorar – ebenso wie das Gehalt des soeben erwähnten Vorstands der Mutter, der auch dem Aufsichtsrat der Tochter angehört – von der Obergesellschaft zu zahlen und von ihren Organen zu verantworten wäre.

V. Beratungsvertrag mit einem Vorstandsmitglied Habersack vertritt in seiner Kommentierung des § 114 AktG36 die Auffassung, durch § 114 AktG werde auch ein Dienst- oder Werkvertrag erfasst, den das Aufsichtsratsmitglied mit einem Vorstandsmitglied persönlich oder mit einer von diesem beherrschten Gesellschaft schließt. Dieselbe Auffassung hatte zuvor schon Säcker37 ohne nähere Begründung vertreten, weil von einem Aufsichtsratsmitglied, das von einem Vorstandsmitglied für seine persönliche Beratung honoriert werde, keine Überwachungseffizienz erwartet werden könne. Habersack beruft sich zur Begründung auf den auf Sicherung der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds gerichteten Schutzzweck des § 114 AktG, der sogar dafür spreche, das Zustimmungserfordernis nicht nur bei einer Beratung des Vorstandsmitglieds mit Bezug zur Gesellschaft eingreifen zu lassen, sondern auch dann, wenn ein Bezug der Beratungstätigkeit zur Gesellschaft nicht besteht.

__________ 35 Ebenso OLG Hamburg, AG 2007, 404, 408, allerdings nur für die teilweise Personalunion. 36 Habersack (Fn. 13), § 114 AktG Rz. 18. 37 Säcker, AG 2004, 180, 183.

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Die Ansicht von Habersack ist nicht haltbar, und zwar aus mehreren Gründen: Die Berufung auf das Schutzgut der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds rechtfertigt nicht, sich über den bewusst engen Tatbestand des § 114 AktG hinwegzusetzen und den Zustimmungsvorbehalt auf andere Fallkonstellationen auszudehnen, es sei denn, es handelt sich um eine Umgehung. Auch aus einer Vertragsbeziehung zwischen dem Aufsichtsratsmitglied und dem Vorstandsmitglied mag sich eine Gefährdung für die sachlich unbeeinflusste Wahrnehmung des Aufsichtsratsamtes ergeben. Aber dabei handelt es sich nicht um eine Umgehung des § 114 AktG, sondern um ein Vertragsverhältnis, das zu einem wesentlich anderen wirtschaftlichen Ergebnis führt, weil die Vergütung nicht durch die Gesellschaft geleistet wird und die Vergütung auch nicht mittelbar das Gesellschaftsvermögen belastet. Ob § 114 AktG auch dem Vermögensschutz der Gesellschaft dient oder der Vermögensschutz nur ein Nebeneffekt ist, kann dabei dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds durch § 114 AktG nur gegen Sonderleistungen der Gesellschaft abzusichern. Eine analoge Anwendung des § 114 AktG auf Beratungsverträge mit einem Vorstandsmitglied läge überdies nicht auf der Linie der Rechtsprechung des BGH, denn der BGH hat, wie dargelegt, eine erweiterte Anwendung des § 114 AktG ausschließlich zum Zwecke des Umgehungsschutzes befürwortet. Die Unrichtigkeit der Auffassung von Habersack zeigt sich nicht zuletzt an den Konsequenzen, die sich bei der von ihm befürworteten Analogie ergeben würden. Schon die Offenlegung eines Vertragsverhältnisses, an dem die Gesellschaft nicht beteiligt ist, gegenüber dem gesamten Aufsichtsrat, ist – anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall des Beratungsvertrags zwischen der Gesellschaft und einer dem Aufsichtsratsmitglied gehörenden Gesellschaft38 – nicht „unschwer zu erfüllen“, sondern stößt im Gegenteil auf große Schwierigkeiten. § 114 AktG dekretiert keine Pflicht zur Offenlegung privater Rechtsgeschäfte, wie dies in § 15a WpHG für Geschäfte des Aufsichtsratsmitglieds in Aktien der Gesellschaft („directors dealings“) der Fall ist. Die Anwendung von § 114 AktG auf Beratungsverhältnisse zwischen dem Aufsichtsratsmitglied und einem Vorstandsmitglied würde sich aber wegen des Wirksamkeitsvorbehalts wie eine Pflicht zur Offenlegung eines privaten Vertragsverhältnisses auswirken. § 114 AktG bekäme also einen zusätzlichen Gehalt, den die Vorschrift für den in ihr geregelten Tatbestand nicht hat. Es kommt hinzu, dass jedenfalls bei einem Anwaltsvertrag wegen der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht des Anwalts die Offenlegung nur mit Zustimmung des Mandanten, also des Vorstandsmitglieds, zulässig wäre. Folgt man der Auffassung von Habersack, so müssten sogar Beratungsmandate, die keinerlei Bezug zur Gesellschaft haben, also z. B. die Beratung des Vorstandsmitglieds in familien- oder erbrechtlichen Angelegenheiten, gegenüber dem gesamten Aufsichtsrat offengelegt werden, um wirksam sein zu können.

__________ 38 BGHZ 170, 60, 64.

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Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

Vollends unhaltbar sind die Konsequenzen im Hinblick auf die dem Aufsichtsrat obliegende Prüfung und Entscheidung. Der BGH verlangt mit Recht, dass sich der Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung nach § 114 AktG „ein eigenständiges Urteil über die Art der Leistung, ihren Umfang sowie die Höhe und Angemessenheit der Vergütung“ bildet39. Wie soll das möglich sein bei einem Vertrag zwischen dem Aufsichtsratsmitglied und dem Vorstandsmitglied, der z. B. die Beratung zu einer möglichen Scheidung der Ehe des Vorstandsmitglieds zum Gegenstand hat? In einem solchen Fall ist es nicht nur im höchsten Maße indiskret, sich in die persönlichen Angelegenheiten des Vorstandsmitglieds einzumischen, sondern es fehlt für den Aufsichtsrat auch jeder vernünftige Beurteilungsmaßstab, da es sich nicht um ein Rechtsgeschäft handelt, an dem die Gesellschaft beteiligt ist. Der Aufsichtsrat kann nur über die Verhältnisse der Gesellschaft urteilen und nur über Rechtsgeschäfte befinden, aus denen die Gesellschaft selbst berechtigt oder verpflichtet wird.

VI. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. § 114 AktG bezweckt nicht eine umfassende Sicherung der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds gegenüber dem Vorstand, sondern beschränkt sich darauf, die Unabhängigkeit gegen die Gefahren zu schützen, die aus Dienstund Werkverträgen mit der Gesellschaft erwachsen können. Deshalb ist eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung nur insoweit zulässig, als es darum geht, Umgehungen zu vermeiden. 2. Der BGH hat zum Zwecke des Umgehungsschutzes eine Anwendung des § 114 AktG auch für den Fall verlangt, dass der Vertrag nicht mit dem Aufsichtsratsmitglied selbst, sondern mit einer Gesellschaft geschlossen wird, an der das Aufsichtsratsmitglied derart beteiligt ist, dass ihm der Vorteil aus dem Beratungsvertrag mittelbar in einem nicht unerheblichen Umfang zugute kommt. 3. Wird der Beratungsvertrag nicht mit der AG selbst, sondern mit einer Tochtergesellschaft der AG abgeschlossen, ist eine entsprechende Anwendung des § 114 AktG nur unter dem Aspekt des Umgehungsschutzes zulässig. Eine Anwendung von § 114 AktG kommt demgemäß in Betracht, wenn der Vertrag nach seinem Gegenstand ebenso gut unmittelbar mit der Muttergesellschaft abgeschlossen werden könnte oder andere konkrete Indizien für eine missbräuchliche Umgehung vorliegen. 4. Ein Beratungsvertrag, den das Aufsichtsratsmitglied mit der Muttergesellschaft der AG abschließt, unterliegt nicht dem Zustimmungsvorbehalt des § 114 AktG, da § 114 AktG keine konzernrechtliche Schutzvorschrift ist und der Vertragsschluss mit der Muttergesellschaft auch keine Umgehung des § 114 AktG bewirkt.

__________ 39 BGHZ 126, 340, 344 f.; BGH, NZG 2007, 516, 518.

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5. Wenn das Aufsichtsratsmitglied einen Beratungsvertrag mit einem Vorstandsmitglied der AG schließt, wird diese Vertragsbeziehung ebenfalls nicht durch § 114 AktG erfasst. Eine analoge Anwendung scheitert an dem fehlenden Umgehungssachverhalt und auch an den unhaltbaren Konsequenzen einer Anwendung des § 114 AktG auf diese Konstellation.

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Peter Hommelhoff

Bruchstellen im Kommissionsentwurf für eine SPE-Verordnung Inhaltsübersicht I. Gesetzliches Mindestkapital II. Fehlende Transnationalität

IV. Arbeitnehmer-Mitbestimmung V. Generalbefund

III. Zur Rolle der Notare

Überraschend kann man den Vorschlag für eine Verordnung über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft, für eine „Societas Privata Europaea“ (SPE), den die EG-Kommission im Sommer 2007 veröffentlicht hat1, wahrhaft nicht nennen; ist sie damit doch dem mehr als ein Jahrzehnt andauernden Drängen aus Kreisen der Wissenschaft und der Wirtschaft, zuletzt und vor allem aber der Intervention des Europäischen Parlaments2 nachgekommen. Überraschend ist vielmehr der von beeindruckender Liberalität geprägte Grundzug des Verordnungsentwurfs in seinem Inhalt. Unternehmerfreiheit heißt die Losung – für den Start-up-Unternehmer ebenso wie für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie für Großunternehmen und weltweit agierende Konzerne. Liberalität und Unternehmerfreiheit schlagen sich im Entwurfskonzept an manchen Stellen derart markant nieder, dass der Vorschlag am Veto einzelner Mitgliedstaaten im Rat scheitern könnte. Denn die vom Europäischen Gerichtshof bestätigte Rechtsgrundlage aus Art. 308 EG verlangt Zustimmung aller Ratsmitglieder. Diese Liberalitäts-gesättigten Entwurfskomponenten sind, das zeichnet sich schon jetzt deutlich ab, die rechtspolitischen Bruchstellen des Gesamtprojekts „Europäische Privatgesellschaft“. Ihnen soll in dieser Skizze nachgegangen werden; sie ist Karsten Schmidt in der Hoffnung auf freundliche Kenntnisnahme zugedacht. Hat er sich doch in seinem reichen wissenschaftlichen Werk namentlich auch dem deutschen GmbHRecht gewidmet, mit dem der Verordnungsentwurf zur SPE in intensivem Dialog sowohl im Konzeptionellen wie auch in einer Vielzahl von Einzelregelungen steht. Zugleich sei mit dieser Skizze dem Jubilar herzlicher Dank für das jahrzehntelange Gespräch abgestattet.

__________ 1 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/epc/index_de.htm. 2 Auffindbar unter www.eurparl.europa.eu/registre/recherche über „erweiterte Suche“ in der Dokumentenkategorie „Angenommene Texte“ zum Datum 1.2.2007.

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I. Gesetzliches Mindestkapital Zum Gesellschaftskapital der SPE nimmt der Verordnungsentwurf im rechtspolitischen Streit um das gesetzliche Mindestkapital eindeutig Stellung: Dies beträgt lediglich einen Euro mindestens (Art. 19 Abs. 4); auf ein Mindestkapital soll bei der SPE mithin verzichtet werden. Dazu liefert die Vorschlagserläuterung der EG-Kommission eine eingehende Begründung mit mehreren Argumenten3: Erleichterung von Neugründungen; Irrelevanz des Gesellschaftskapitals in den Augen der Gläubiger, die sich anderweitig absichern lassen; Unternehmens-individueller Kapitalbedarf, über den die Anteilseigner konkret befinden sollen und nicht ganz allgemein für alle Unternehmen in dieser Organisationsform der Gesetzgeber. – Kurzum: der Kommissionsentwurf appelliert an die eigene Finanzierungsverantwortung der Anteilseigner (lässt aber Verstöße gegen sie selbst unsanktioniert, arg. Art. 44 SPEVO). Das alles ist richtig, verfehlt jedoch das für eine neue supranationale Rechtsform des Gemeinschaftsrechts Entscheidende: Beim gesetzlichen Mindestkapital geht es mitnichten primär um mittelbaren Schutz der Gesellschaftsgläubiger, sondern in allererster Linie darum, Hasardeure und potentielle Pleitiers von der Nutzung einer haftungsbeschränkenden Gesellschaft fernzuhalten. Nur über die Zahlung eines „Eintrittsgelds“ soll das gesetzliche Mindestkapital als „Seriositätsschwelle“ vor der beschränkten Haftung überschritten werden können, wie der Jubilar schon vorzeiten herausgestellt hat4. Für die SPE als neue Rechtsform ist der Gedanke einer Seriositätsschwelle besonders bedeutsam. Im Rechts- und Geschäftsverkehr in den Mitgliedstaaten, namentlich im grenzüberschreitenden Verkehr muss sich die SPE als supranationale Organisationsform des Gemeinschaftsrechts in den Jahren nach Inkrafttreten der SPE-Verordnung zunächst Vertrauen erwerben, muss good will gewinnen. Dieser Prozess rechtsformspezifischer Vertrauensbildung darf durch keinen „Lumpensammler-Effekt“5 gestört oder gar konterkariert werden. Deshalb ist hier auch der liberale Gedanke verfehlt, der Markt werde schon auf dem Wege der Insolvenz für Bereinigung sorgen. Dazu sollte es möglichst nicht in einem Ausmaß kommen, das den notwendigen Reputationsaufwuchs der neuen Rechtsform hemmt. Von ihr als Organisationsmöglichkeit sollte in großem Umfang seriös Gebrauch gemacht werden, damit sich die Anstrengungen der rechtspolitisch Beteiligten, insbesondere die der Kommission wenigstens diesmal lohnen und ihnen Enttäuschungen wie bei der Europäischen Aktiengesellschaft und der Europäischen Genossenschaft erspart bleiben. Die SPE darf nicht zur europäischen „Gesellschaft mit beschränkter Hochachtung“ verkommen. Die Sorge um einen rechtsformspezifischen good will der SPE erfordert nach allem entgegen dem Verordnungsentwurf ein gesetzliches Mindestkapital von einigem Umfang. Gegenüber Hasardeuren und potentiellen Pleitiers muss die

__________ 3 A. a. O. (Fn. 1), S. 8. 4 Karsten Schmidt, Der Konzern 2004, 171. 5 Diese Kennzeichnung hat RA Dr. Niemeier/Frankfurt in die Diskussion eingeführt.

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Anziehungskraft der neuen Rechtsform überdies deshalb gezähmt werden, weil das SPE-Gründungsrecht in seiner liberalen Grundstruktur auch jenseits des Mindestkapitals überaus attraktiv ausgestaltet werden soll: keine Leistung der Einlagen vor der Registrierung der Gesellschaft (Art. 19 Abs. 3); keine Beschränkung der Sacheinlagen auf Vermögensgegenstände (arg. Art. 20 Abs. 1); keine obligatorische Werthaltigkeitsprüfung (arg. Anhang I Kapitel IV 3. Spiegelstrich); keine Unterbilanz- oder Verlustdeckungshaftung (arg. Art. 12); keine Solidarhaftung der Mitgesellschafter wie in § 24 GmbHG. Im Vergleich zum deutschen Recht reduziert dieser Strauß vielfältiger Erleichterungen nicht bloß die Haftungsrisiken der SPE-Gründer, sondern vereinfacht und beschleunigt zugleich das Gründungsverfahren. All das zieht auch Leichtsinnige an; ihnen muss ein Hindernis in den Weg gestellt werden. Oder anders formuliert: ein durch und durch liberales Gründungsrecht erfordert ein gewisses Mindestkapital von Gesetzes wegen. Es sollte den überkommenen Rechtskulturen in den einen Mitgliedstaaten ebenso Rechnung tragen wie den knappen Finanzierungsmöglichkeiten der Unternehmen und Bürger in den anderen. Das Europäische Parlament hat den denkbaren Kompromiss schon vorgespurt: 10 000 Euro6. Als „Eintrittsgeld“ sollte dieser Beitrag sofort und in voller Höhe geleistet werden müssen.

II. Fehlende Transnationalität Eine weitere Bruchstelle im SPE-Verordnungsentwurf markiert sein Verzicht auf das Erfordernis der Transnationalität. Er stellt keinerlei grenzüberschreitende Anforderungen: Weder müssen die Gründer in verschiedenen Mitgliedstaaten domizilieren, noch ist für die Registrierung der Gesellschaft ihre grenzüberschreitende Tätigkeit nachzuweisen. Die Kommission begründet diesen Verzicht mit der leichten Umgehbarkeit einer solchen Anforderung und dem Aufwand für die Mitgliedstaaten, sie zu kontrollieren und rechtlich durchzusetzen, vor allem aber mit dem Argument, grenzübergreifende Anforderungen würden manchen „start ups“ den Zugang zur SPE versperren und damit das Nutzungspotential dieser Rechtsform mindern7. Das sind sämtlich Argumente von Gewicht; ob sie aber letztlich durchschlagen, muss sich erst noch erweisen. Denn den bedeutsamsten Aspekt des Verzichts sprechen weder die Erwägungsgründe zum Verordnungsentwurf, noch die Begründung der Kommission an: den Wettbewerb der Gesellschaftsformen. 1. Ohne jede grenzüberschreitende Anforderung konkurriert die SPE frei und in voller Breite in jedem Mitgliedstaat mit dessen zweiter Kapitalgesellschaftsform des nationalen Rechts: in Deutschland und Österreich mit der GmbH, in Frankreich mit der SARL und in den Niederlanden mit der BV und so fort. Die englische Limited würde mithin als Konkurrenzform um die SPE ergänzt werden, der horizontale Wettbewerb der Gesellschaftsformen um einen vertikalen

__________ 6 A. a. O. (Fn. 2). 7 A. a. O. (Fn. 1), S. 3.

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Wettbewerb8 erweitert. Dieser ist zwar schon mit der Europäischen Aktiengesellschaft und der Europäischen Genossenschaft eröffnet worden: die national organisierte BASF AG mutierte zur gemeinschaftsrechtlich strukturierten BASF SE. Aber dieser Rechtsformwechsel ist bislang sehr vereinzelt geblieben. Ganz anderes steht bei der SPE zu erwarten: Schon in den Brüsseler Anhörungen haben die Verbände und Unternehmen sehr großes Interesse an dieser supranationalen Rechtsform angemeldet und überdies angekündigt, ihre Auslandstöchter in Europäische Privatgesellschaften umzuwandeln, sobald diese Organisationsform zur Verfügung steht. Schon das wird die nationalen Rechtsformen großem Konkurrenzdruck aussetzen. Er aber würde noch enorm gesteigert, wenn sich jede unternehmerische Tätigkeit, auch die rein inländische oder gar die bloß lokale ohne jegliche Umstände in der Form einer SPE organisieren ließe. Welche Sogwirkung ein Mindestkapital unter 25 000 Euro und ein sehr offenes Gründungsrecht im übrigen entwickeln können, hat die Limited in ihrer Verwendung als Scheinauslandsgesellschaft belegt („Odenwälder Wurstwaren Ltd. & Co. KG“). Welch Anziehungskraft muss dann erst recht die SPE auf GmbH-Flüchtige (und vergleichbare Akteure in anderen Mitgliedstaaten) entfalten, wenn der europäische Verordnungsgeber sie zur Nutzung sogar bei bloß lokalem oder nationalem Wirkungskreis bereitstellt und sie damit (anders als die Limited als Scheinauslandsgesellschaft) von jedem „Geschmäckle“ befreit. 2. Indes – was stünde einem vertikalen Wettstreit der Gesellschaftsformen zwischen der SPE auf der einen Seite und ihren nationalen Vergleichsformen auf der anderen entgegen? Könnten doch die Nutzer, also die Unternehmer und Unternehmen jener Form den Vorzug geben, die sich für die Praxis und ihre Zwecke als die besser geeignete herausstellt. Auch das würde liberalem Wettbewerbsdenken entsprechen, aber wohl kaum dem EG-vertraglichen Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 EG)9. Das aber soll nicht weiter vertieft werden, um stattdessen einen gesellschaftsrechtlichen Aspekt in den Vordergrund zu stellen: In den meisten Mitgliedstaaten bringt die zweite nationale Kapitalgesellschaftsform deren spezifische, also ganz eigene Rechtskultur zum Ausdruck. In Deutschland ist dies jüngst bei der Jahrhundertreform des GmbH-Rechts deutlich geworden: An ihrem relativ hohen Mindestkapital hat der Gesetzgeber trotz abweichender Rechtslage in vielen anderen EG-Mitgliedstaaten und trotz eindringlicher Plädoyers für einen MindestkapitalVerzicht auch hierzulande festgehalten. Solche und andere Kulturunterschiede würden aplaniert, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber eine hochmoderne, weil durch und durch Gestaltungs-offene Rechtsform ohne jegliche Nutzungseingrenzung zur Verfügung stellen und die Praxis sie massenweise statt der Erfahrungs-getränkten Nationalformen wählen würde. Eine solche Situation würde die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihr nationales Kapitalgesellschaftsrecht über kurz oder lang ins Leere laufen lassen.

__________ 8 Zur US-amerikanischen Diskussion um vertikalen Wettbewerb eingehend von Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, S. 501 ff. m. w. N. 9 Dazu die EG-Kommission selbst (wenn auch in der Sache zu kurz gesprungen) in Erwägungsgrund 19 (a. a. O., Fn. 1, S. 15 f.).

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Bruchstellen im Kommissionsentwurf für eine SPE-Verordnung Rechtspraktisch läge dann die Gesetzgebungskompetenz für die zweite Kapitalgesellschaftsform bei EG-Kommission, Parlament und Rat; das würde weit über die bloßen Harmonisierungsansätze zum Aktienrecht hinausreichen.

3. Daher ist dem Vorschlag, im SPE-Verordnungsentwurf auf grenzübergreifende Anforderungen zu verzichten, letztlich doch nicht zu folgen. Im Gegenteil – im Respekt vor der fortbestehenden Entscheidungszuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre nationalen Vergleichsformen sollte die SPE zwingend als Rechtsform mit andauernder Transnationalität konzipiert werden. Allerdings muss diese relativ einfach festzustellen und auch später zu kontrollieren sein. In Betracht kommt etwa das Erfordernis einer Errichtung über die Grenze: Mindestens ein SPE-Anteilseigner muss in einem anderen EG-Mitgliedstaat domizilieren, als die Gesellschaft ihren Sitz hat – sei es ihren Registersitz oder ihren nach Art. 7 Satz 2 davon abweichenden Geschäftssitz. Damit kann dem Leitbild der SPE, der Gruppen-einheitlich organisierten Auslandstochter vornehmlich kleiner und mittlerer Unternehmen innerhalb der Gemeinschaft Rechnung getragen werden. Gewiss – dies formale Erfordernis lässt sich über Strohmänner oder andere ausländische Zwischengesellschaften leicht umgehen, Aber schon solche Umgehungskonstruktionen mindern die Attraktivität der SPE und damit den Wettbewerbsdruck gegenüber den nationalen Vergleichsformen für rein nationale oder lokale Zwecke. Und das sollte genügen. 4. Und was bleibt vom Gedanken eines vertikalen Wettbewerbs der Gesellschaftsformen? Für die transnational aufgestellten Gruppen bleibt es unverändert bei ihm: Renault wird abwägen müssen, ob die deutsche Vertriebs GmbH in eine SPE umgewandelt werden soll und vergleichbare Erwägungen wird umgekehrt die Freudenberg KG hinsichtlich ihrer Töchter in Italien und Spanien anstellen. Darüber hinaus wird die SPE, liberal, Gestaltungs-offen und Unternehmens-orientiert, zur rechtspolitischen Meßlatte heranwachsen, an der sich die nationalen Vergleichsformen und ihre Reformprozesse einschätzen lassen müssen: Hätte den Unternehmen nicht noch mehr Frei- und Gestaltungsspielraum eröffnet werden können? In der langfristigen Perspektive werden die zweiten Kapitalgesellschaften der Mitgliedstaaten nicht nur nebeneinander, also horizontal wetteifern, sondern in zunehmendem Maße zugleich vertikal mit der SPE.

III. Zur Rolle der Notare Nach dem Verordnungsentwurf scheint der Notar im Leben der SPE keine Rolle zu spielen: Ihre Satzung bedarf lediglich der Schriftform (Art. 8 Abs. 2), wird mithin nicht beurkundet. Gleiches gilt für die Anteilsübertragung: Alle Vereinbarungen über sie sind bloß schriftlich abzuschließen (Art. 16 Abs. 2). Ebenso wenig ist der Notar in die Aufstellung und Pflege der Gesellschafterliste, des Verzeichnisses der Anteilseigner eingeschaltet; insoweit liegt alles beim SPE-Leitungsorgan (Art. 15 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 lit. d). Und konsequent begnügt sich der Verordnungsentwurf auch bei Satzungsänderungen mit der bloßen Schriftform (Art. 27 Abs. 1 lit. p/Abs. 3 Satz 3). Allein bei den qualifizierten Gründungsformen des Formwechsels, der Verschmelzung und der Spal675

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tung kommt der Notar wegen des Verweises auf das innerstaatliche Recht (Art. 5 Abs. 2) ins Spiel – zumindest in Deutschland. Dieser allgemeine Verzicht des Gemeinschaftsrechts auf den Notar10 widerspricht zwar den hier gesammelten Erfahrungen, wird das SPE-Projekt aber wohl kaum als Bruchstelle rechtspolitisch zum Scheitern bringen. 1. Das schon deshalb nicht, weil der Entwurf an versteckten Stellen den Notaren verheißungsvoll neue Aufgaben eröffnet: Im Rahmen des Registrierungsverfahrens, mit dem die SPE-Gründung abgeschlossen wird, kann die Überprüfung, ob die zur Eintragung eingereichten Unterlagen rechtsgültig sind, einem Notar übertragen werden (Art. 10 Abs. 4 lit. b). Wie die Erläuterungen zum Entwurfsvorschlag erkennen lassen11, ist diese Option eine Maßnahme unter mehreren, um das Registrierungsverfahren einfach, schnell und kostengünstig zu gestalten: Der Verordnungsentwurf will Doppelprüfungen ausschließen; das zeigt der Eingang des Art. 10 Abs. 4. Die Mitgliedstaaten können wählen, ob sie die Prüfung einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde übertragen wollen oder einem Notar. Er verbirgt sich hinter der „Beglaubigung“ im Entwurfstext; denn gemeint ist eine „Beurkundung“ (im englischen Ausgangstext: „certification“) weil eine bloße Beglaubigung keine Überprüfung der Rechtmäßigkeit ermöglichen würde. In Deutschland ist deshalb den Notaren die Anregung an den Gesetzgeber zu empfehlen, ihnen diese Aufgabe zu übertragen. Sie ist in hohem Maße reizvoll und würde den Ausschluss der Notare aus dem SPE-Geschäft im übrigen, namentlich bei der Anteilsübertragung bei weitem kompensieren. Für die Notare liegt der Reiz der Rechtmäßigkeitsprüfung in der (Zwischenverfügungen möglichst vermeidenden) präventiven Unterstützung der Gründer bei der Gestaltung und Abfassung der Satzung. Im Kontext der Rechtmäßigkeitsprüfung mutiert die Belehrung aus dem deutschen Beurkundungsgesetz zur vorbeugenden Beratung. Ihr kommt schon mit Blick auf die vielfältigen Regelungsaufträge, die Art. 8 Abs. 1 SPEVO in Verbindung mit Anhang I den Gründern in großer Zahl erteilt, herausragende Bedeutung zu. Die reichen Erfahrungen der Notare mit dem GmbH-Recht und später mit dem Recht der SPE werden Rechtsunsicherheiten weithin vermeiden helfen und auf diesem Wege mit dazu beitragen, die Akzeptanz dieser neuen Rechtsform in der Unternehmenspraxis zu steigern. Das liegt zugleich im Interesse des europäischen Verordnungsgebers am Erfolg seiner Schöpfung. Ihn durch Unterstützung der Gründer zu promovieren und abzusichern, besteht nicht zuletzt deshalb aller Anlass, weil die Verordnung den Gründern die Verantwortung für die Rechtsgrundlagen ihrer SPE in einem Ausmaß zuweist, wie sie quantitativ und qualitativ weit über die bei der GmbH hinausreicht: die SPE-Verordnung wird fast überhaupt keine Regelungsvorschläge in der Form disponiblen Rechts enthalten. Inhaltliche Verantwortung hat der europäische Gesetzgeber über weite Strecken nicht übernehmen wollen.

__________ 10 Dagegen vehement schon Priester in Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Europäische Privatgesellschaft, 2001, S. 143 ff. 11 A. a. O. (Fn. 1), S. 7.

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Bruchstellen im Kommissionsentwurf für eine SPE-Verordnung

2. Die Rechtmäßigkeitsprüfung durch den Notar schließt dessen präventive Unterstützung der Gründer bei der Abfassung der Satzung nicht aus. Zwar könnte man argumentieren, der Notar könne schlecht unvoreingenommen prüfen, was er zuvor selbst beraten hat. Aber so sequenziell sind Beratung und Prüfung bei der SPE nicht strukturiert; vielmehr bilden sie eine funktionale Gesamteinheit: Der Notar sorgt durch seine Beratung innerhalb des Prüfungsverfahrens dafür, dass die Eintragungsunterlagen rechtmäßig sind. Hieraus resultiert ein weiterer Beschleunigungseffekt trotz autonomer Satzungsgestaltung durch den oder die Gründer. – Vor diesem Hintergrund sollte der europäische Verordnungsgeber erwägen, ob er nicht bei der Verlegung des Satzungssitzes nach Art. 37 Abs. 1 den Mitgliedstaaten ebenfalls das Wahlrecht gewähren will, statt einer zuständigen Behörde einem Notar die Aufgabe zuzuweisen, die Rechtsgültigkeit der Verlegung zu überprüfen. 3. Neben der Gründungsprüfung könnte Art. 16 Abs. 5 Satz 2 SPEVO den Notaren noch ein zweites Geschäftsfeld eröffnen. In dieser Bestimmung liegt nämlich ein Verweis auf den gutgläubigen Erwerb von Geschäftsanteilen nach nationalem Recht. Schon um die Zuverlässigkeit der Gesellschafterliste zu steigern und damit das Fundament für den gutgläubigen Erwerb zu festigen, wird es sich für eine seriös geführte SPE empfehlen, allfällige Anteilsübertragungen notariell beurkunden zu lassen.

IV. Arbeitnehmer-Mitbestimmung Erwartungsgemäß bereitet die unternehmerische Mitbestimmung in der SPE einige Schwierigkeiten. Zwar haben sich sowohl das Europäische Parlament als auch die EG-Kommission zur Mitbestimmung ebenfalls in dieser Organisationsform bekannt (arg. Artt. 34/38) und überdies klargestellt, dass die SPE nicht zu dem Zweck instrumentalisiert werden darf, der Arbeitnehmerbeteiligung zu entfliehen, sie abzuschwächen oder ihr zu entgehen. Aber auch hier steckt der Teufel im regulatorischen Detail. So birgt der Grundsatz in Art. 34 Abs. 1, wonach sich die Mitbestimmung nach dem mitgliedstaatlichen Recht am Registersitz der Gesellschaft richtet, in Verbindung mit der begrüßenswerten Möglichkeit, Register- und Geschäftssitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten zu etablieren (Art. 7 Satz 2), die Gefahr ziemlich simpel gestrickter Umgehungen in sich: Die Gründer legen den Registersitz in ein mitbestimmungsfreies Land wie Spanien und belassen, mitbestimmungsrechtlich „unschädlich“, den Geschäftssitz in einem mitbestimmungsfreundlichen Land wie Dänemark oder Deutschland. Das provoziert rechtspolitische Widerstände, welche die Gefahr unendlicher Verzögerungen wie bei der SE heraufbeschwören12, wenn sie nicht gar das ganze Projekt zum Scheitern bringen könnten. 1. Abweichend vom Verordnungsvorschlag sollte sich daher die Mitbestimmung nach dem Recht des Geschäftssitz-Staates richten. Denn die unterneh-

__________ 12 Dazu Blanquet, ZGR 2002, 20.

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merische Mitbestimmung zielt darauf ab, die Arbeitnehmer über die von ihnen gewählten Vertreter an der Leitung des Unternehmens (in wenn auch unterschiedlicher Weise) zu beteiligen. Geleitet wird das Unternehmen aus der Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung heraus (arg. Art. 7), aber nicht zwingend am Registersitz. Konsequent verstößt der Gesetzgeber gegen den konzeptionellen Ansatz der Mitbestimmung, wenn er deren Statut auf den Registersitz ausrichtet, um der Einheitlichkeit des Gesellschaftsstatuts zu entsprechen. Eine solche Zwangseinheit aus Gesellschafts- und Mitbestimmungsstatut kann zu willkürlichen Ergebnissen führen und ist daher rechtsunverträglich. Im Europäischen Rat sollte Deutschland deshalb mit allem Nachdruck darauf hinzuwirken versuchen, dass die SPE-Mitbestimmung in Art. 34 Abs. 1 an den Geschäftssitz anknüpft. 2. Für die Mitbestimmung in Auslandsgesellschaften (z. B. für eine bloß scheinbar britische Limited) mit deutschem Geschäftsbesitz würde daraus nichts folgen. Denn dem deutschen Gesetzgeber ist es nach den Grundsätzen des „Inspire Art“-Urteils wohl gemeinschaftsrechtlich verwehrt, eine Auslandsgesellschaft nach deutschen Vorgaben zumindest teilweise zu organisieren. Das wäre ein Eingriff in die Entscheidungszuständigkeit des anderen Mitgliedstaats und zudem ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Anders liegen die Dinge bei der Europäischen Privatgesellschaft. Wenn der Rat, in dem Deutschland Sitz und Stimme hat, die Mitbestimmung an den Geschäftssitz auch für den Fall anknüpft, dass der Registersitz der SPE in einem anderen Mitgliedstaat liegt, dann regelt der Rat die Organisation einer Gesellschaft, die allein seiner Gesetzgebungszuständigkeit unterliegt. In die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates greift er damit nicht ein. 3. Im Anschluss an die Grundentscheidung zur Anknüpfung der Mitbestimmung muss der europäische Gesetzgeber darüber befinden, ob das Mitbestimmungsrecht am (Geschäfts-)Sitz der Gesellschaft unmittelbar gelten soll oder erst als Auffanglösung, wenn die Verhandlungen über eine Mitbestimmungsvereinbarung gescheitert sind. Der Verordnungsentwurf zur SPE will dies von der Gründungsform abhängig machen (Art. 34): bei Gründungen „auf der grünen Wiese“ unmittelbare Geltung des nationalen Mitbestimmungsrechts (Art. 34 Abs. 1), bei grenzübergreifenden Verschmelzungen Verhandlung mit Auffanglösung (Art. 34 Abs. 3). Diese Differenzierung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Geltung des nationalen Mitbestimmungsrechts kann rechtspolitisch überzeugen, weil das aufwendige Verhandlungsverfahren nicht bei jeder SPE-Gründung gleichermaßen angezeigt ist. Namentlich die kleinen und mittleren Unternehmen sind auf einfach, schnell und kostengünstig handhabbare Gründungsverfahren angewiesen; sie wären ihnen durch obligatorische Verhandlungen zur Mitbestimmung versperrt. Anders bei Großunternehmen und -konzernen. Zwar steht auch ihnen aus gutem Grund die SPE zur Verfügung – zumeist als Konzernbaustein. Für sie jedoch spielen Simplizität und Schnelligkeit keine so gewichtige Rolle. Neustrukturierungen werden bei Großunternehmen regelmäßig langfristig und sorgfältig geplant. In ihre strategischen Ablaufpläne lassen sich Mitbestimmungsverhandlungen sehr viel reibungsloser einfügen. 678

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4. Konsequent sollte der europäische Gesetzgeber über den vorgelegten Verordnungsentwurf hinaus nicht primär nach Gründungsformen differenzieren, sondern ganz vordringlich nach der Größe des Unternehmens – diese Mitbestimmungs-spezifisch bemessen nach der Zahl der in der SPE (im zweiten Jahr nach ihrer Gründung voraussichtlich) beschäftigten Arbeitnehmer. Als relevanter Schwellenwert würde sich in Fortführung der SCE-Beteiligungsrichtlinie die Zahl von 50 Arbeitnehmern anbieten. Aber diese Zahl läge deutlich zu niedrig: Unternehmen mit bloß mehr als 50 Arbeitnehmern sind in keinem EG-Mitgliedstaat Großunternehmen. Die Kommission selbst zieht die Grenze bei 250 Arbeitnehmern und knüpft damit an die Bilanzrichtlinie von 1978 an. Weniger empfehlenswert dünkt dagegen in Fortsetzung der EWIVVerordnung, die Grenzlinie auch für die mitbestimmte SPE bei 500 zu ziehen. Hierüber ist das Mitbestimmungsrecht in der Gemeinschaft mittlerweile hinweggegangen. Was folgt daraus konkret? Wird die SPE weniger als 250 Arbeitnehmer beschäftigen, kommt sogleich das Mitbestimmungsrecht des Mitgliedstaates am Geschäftssitz zum Zuge: Mitbestimmung in Dänemark und den anderen nordischen Staaten, in Deutschland Mitbestimmungsfreiheit. Bei mehr als 250 Arbeitnehmern obligatorische Mitbestimmungs-Verhandlungen und im Falle ihres Scheiterns das nationale Mitbestimmungsrecht als Auffanglösung. All das muss für die Gründung „auf der grünen Wiese“ (als Bar- oder Sachgründung) ebenso gelten wie für den Wechsel aus einer nationalen Gesellschaftsform in die der SPE. Wegen der Richtlinie zur grenzübergreifenden Verschmelzung wird man auch die SPE-Gründung auf diesem Wege (und die durch vergleichbare Spaltung zur Aufnahme) der obligatorischen Mitbestimmungs-Verhandlung unabhängig von der Zahl der Arbeitnehmer unterwerfen müssen. 5. Überarbeitet werden sollte aber auch die Mitbestimmung bei Sitzverlegungen über die Grenze. Nach dem Verordnungsentwurf knüpft die Sonderregelung in Art. 38 SPEVO an die Verlegung des Registersitzes an. Das ist vor dem Hintergrund des hier für die Unternehmensmitbestimmung vorgeschlagenen Konzepts verfehlt; anzusetzen ist beim Geschäftssitz und konsequent sollten die besonderen Regelungen des Art. 38 erst und immer dann zum Zuge kommen, wenn der Geschäftssitz verlegt wird – sei es zusammen mit dem Registersitz oder ohne ihn. Wenn jedoch allein der Registersitz über die Grenze verlegt, der Geschäftssitz aber beibehalten wird, dann ändert sich an den Rahmenbedingungen der Unternehmensleitung nichts und folgerichtig besteht für Mitbestimmungs-relevante Regelungen kein Bedarf. Wenn jedoch der Geschäftssitz tatsächlich über die Grenze verlegt wird, sollte das nicht bei jeder SPE schlechthin zur Überprüfung mit Blick auf eine Mitbestimmungsvereinbarung führen, sondern nur bei Großunternehmen mit mehr als 250 SPEMitarbeitern. Bei kleineren und mittleren Unternehmen sollte es schlicht auf das Mitbestimmungsrecht des jeweiligen Geschäftssitz-Staates ankommen – und zwar unabhängig vom Vorher-Nachher-Prinzip. Dementsprechend sollte Art. 38 SPEVO ergänzt werden.

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V. Generalbefund Gewiss – man darf das Gewicht der hier aufgelisteten Bruchstellen nicht unterschätzen. Über sie jedoch sollte die große konzeptionelle Linie nicht aus dem Blick geraten: Der Verordnungsentwurf zur Europäischen Privatgesellschaft, liberal ausgerichtet auf und durchdrungen vom Gedanken der Unternehmerfreiheit zur eigenverantwortlichen Gestaltung, ist rechtspolitisch wohl gelungen – auch insbesondere in seinem Bestreben, ein geschlossenes Regelungskonzept auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ohne größere Rückgriffe auf das Nationalrecht der Mitgliedstaaten zu verwirklichen. Sollte die Abgrenzungsformel in Artikel 4 wirklich noch Unschärfen enthalten, so müssen diese im weiteren Gesetzgebungsverfahren nachgearbeitet werden. Dabei sollten sich die Akteure jedoch geflissentlich davor hüten, das überzeugende SPEKonzept in Richtung auf ein buntscheckiges SE-Konzept zu verschieben. Das dürfen sie den kleinen und mittleren Unternehmen, den Wirtschaftsstrukturprägenden Leistungsträgern in der Europäischen Gemeinschaft nicht antun.

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MAC-Klauseln im Finanz- und Übernahmerecht Inhaltsübersicht I. Erscheinungsformen von MACKlauseln im Finanz- und Übernahmerecht 1. Die beteiligten Interessen a) Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträge b) Übernahmeangebote 2. MAC-Klauseln in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen a) Vorkommen b) Ausgestaltung 3. Typen von MAC-Klauseln in Übernahmeangeboten, insbesondere company und economy MACKlauseln a) Unterscheidungsversuche b) Company (target) MAC-Klauseln c) Economy (market) MAC-Klauseln d) Bidder MAC-Klauseln 4. Unterschiede zwischen MACKlauseln im Finanz- und Übernahmerecht a) Komplexere Interessenlage bei Übernahmeangeboten b) Geringerer Spielraum für die privatautonome Gestaltung von MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten c) Unterschiedliche Folgen von MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten II. Ausgewählte Rechtsprobleme von MAC-Klauseln 1. Die Behandlung von Bedingungen in Unternehmenskauf- und Finanzie-

rungsverträgen und in Übernahmeangeboten (§ 18 Abs. 1 und 2 WpÜG) a) Bedingungen in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen b) Bedingungen in Übernahmeangeboten (§ 18 Abs. 1 und 2 WpÜG) 2. Einzelne Grundsätze für Bedingungen in Übernahmeangeboten, insbesondere kein Ermessen des Bieters, erhebliche negative Veränderung, Bestimmtheits- und Klarheitsgebot a) Kein Ermessen des Bieters und der ihm zuzurechnenden Personen b) Erhebliche negative Veränderung (material adverse change) c) Bestimmtheitsgebot, ad hocPublizität und Feststellung des Bedingungseintritts durch einen unabhängigen Dritten d) Klarheitsgebot (§ 11 Abs. 1 Satz 4 WpÜG) e) Einschränkung der Berufung auf MAC-Klausel, Verzicht 3. Spätester relevanter Zeitpunkt III. Einzelne Formen von MAC-Klauseln und ihre Zulässigkeit im Übernahmerecht 1. Company MAC-Klauseln, Kasuistik 2. Economy MAC-Klauseln, Kasuistik IV. Zusammenfassung und Thesen

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I. Erscheinungsformen von MAC-Klauseln im Finanz- und Übernahmerecht 1. Die beteiligten Interessen a) Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträge Material adverse change-Klauseln, nach ihrer US-amerikanischen Herkunft und ihrem internationalen Gebrauch kurz MAC-Klauseln1, 2 oder seltener

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1 Monographisch Buermeyer, Bedingungen in öffentlichen Übernahmeangeboten, insbesondere Material-Adverse-Change-Klauseln, 2006; Nyenhuis, Bedingte Übernahmeangebote im Vereinigten Königreich und Deutschland, 2005; Reutter, Das bedingte Übernahmeangebot, Zürich 2002; Matthes, Das bedingte öffentliche Erwerbsangebot, 2008. Aufsätze: Busch, Aktien- und börsenrechtliche Aspekte von Force MajeureKlauseln in Aktienübernahmeverträgen, WM 2001, 1277; Busch, Bedingungen in Übernahmeangeboten, AG 2002, 145; Herbst, Bedingungen und Rücktrittsvorbehalte in Übernahmeangeboten, (ö)JBl. 2003, 693; Picot/Duggal, Unternehmenskauf: Schutz vor wesentlich nachteiligen Veränderungen der Grundlage der Transaktion durch sog. MAC-Klauseln, DB 2003, 2635; Stöcker, Widerruf oder Rücktritt von Angebotsankündigungen, NZG 2003, 993; Strunk/Behnke, Die Aufsichtstätigkeit der BaFin nach dem WpÜG im Jahr 2003, in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2003, 2004, S. 81, 83 f.; Apfelbacher/Riehmer, Übernahmerecht: Praxiserfahrung und Reformbedarf nach der 13. Richtlinie, in Hopt/Früh (Hrsg.), Bankrecht 2004, 2005, S. 175, 184 ff.; Berger/Filgut, Material-Adverse-Change-Klauseln in Wertpapiererwerbs- und Übernahmeangeboten, WM 2005, 253; Hasselbach/Wirtz, Die Verwendung von MAC-Klauseln in Angeboten nach dem WpÜG, BB 2005, 842; Lange, „Material Adverse Effect“ und „Material Adverse Change“-Klauseln in amerikanischen Unternehmenskaufverträgen, NZG 2005, 454; Schmittner, MAC-Klauseln bei M&A-Transaktionen, M&A Review 7/2005, 322; Strunk/Linke, Erfahrungen mit dem Übernahmerecht aus Sicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, in Veil/Drinkuth (Hrsg.), Reformbedarf im Übernahmerecht, 2005, S. 3, 27 f.; Henssler, Material Adverse Change-Klauseln in deutschen Unternehmenskaufverträgen – (r)eine Modeerscheinung?, in FS U. Huber 2006, S. 739; Lappe/Schmitt, Risikoverteilung beim Unternehmenskauf durch Stichtagsregelungen, DB 2007, 153; Schweitzer, Private Legal Transplants in Negotiated Deals, ECFR 4 (2007), 79; Borris, Streiterledigung bei (MAC-)Klauseln in Unternehmenskaufverträgen: ein Fall für „Fast-Track“-Schiedsverfahren, BB 2008, 294; Meyding, Die Lizenz zum Rückzug, Handelsblatt Nr. 102 v. 29.5.2008, Beilage S. 19. 2 Aus der Kommentar- und Handbuchliteratur: Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Hrsg.), WpÜG Kommentar, 2005, § 18 WpÜG Rz. 88 ff.; Thoma/Stöcker in Baums/ Thoma (Hrsg.), Kommentar zum WpÜG, Loseblatt, § 18 WpÜG Rz. 113 ff.; Bosch/ Groß, Emissionsgeschäft, 2000, 10/324; Cleary Gottlieb, Takeover Law Compendium Germany – 2007 Edition, Loseblatt, B21 et s.; Oechsler in Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG Kommentar, 2003, § 18 WpÜG Rz. 6; Geibel in Geibel/Süßmann, WpÜG Kommentar, 2002, § 18 WpÜG Rz. 26 ff.; Riehmer in Haarmann/Riehmer/Schüppen (Hrsg.), Öffentliche Übernahmeangebote, 2002, § 18 WpÜG Rz. 15; Scholz in Haarmann/Schüppen (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum WpÜG, 2. Aufl. 2005, § 18 WpÜG Rz. 57 f.; Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, darin Herfs, § 4 Rz. 101, Wolf, § 6 Rz. 32, Haag, § 23 Rz. 74 f., Schlitt/Schäfer, § 24 Rz. 17, 37, 41, Diekmann, § 25 Rz. 30, 76 ff.; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG, 2003, § 18 WpÜG Rz. 42 ff.; Wackerbarth in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 18 WpÜG Rz. 51 f.; Noack in Schwark (Hrsg.), Kapitalmarktrechtskommentar, 2004, § 18 WpÜG Rz. 18 f.; Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Hrsg.), WpÜG, 2. Aufl. 2007, § 18 WpÜG Rz. 23 ff.; Thaeter/Brandi, Hrsg., Öffentliche Übernahmen, 2003, § 18 WpÜG Rz. 212.

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MAE-Klauseln3 genannt, haben im Finanz- und Übernahmerecht Hochkonjunktur. Gelegentlich werden sie auch unscharf und nicht deckungsgleich force majeure-Klauseln4 oder status quo-Klauseln5 genannt. Beim Unternehmenskauf, wo diese Kautelarklauseln ihren Ursprung haben, liegt zwischen der Vertragsunterzeichnung (signing) und dem Übergangsstichtag (closing) ein Zeitraum, in dem sich die für den Käufer vertragswesentlichen Umstände beim Verkäufer, aber auch im wirtschaftlichen und politischen Umfeld und nicht zuletzt bei ihm selbst so erheblich ändern können, dass damit die Grundlagen für die Transaktion wesentlich verändert oder ganz entfallen sind6. Für diesen Fall sichert sich der Käufer mit einer MAC-Klausel, den Ausstieg aus dem Vertrag. Der Käufer versucht damit, einen Teil seines Käuferrisikos (caveat emptor) auf den Verkäufer rückzuverlagern. Nach der die Klausel eng auslegenden US-amerikanischen Leitentscheidung IBP v. Tyson Foods handelt es sich um „a backstop protecting the acquiror from the occurrence of unkown events that substantially threaten the overall earnings potential of the target in a durationally significant manner“7. Nach deutschem Recht geht es dabei typischerweise um Fälle der Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB, die bekanntlich nur unter erheblichen Restriktionen und Unsicherheiten in Tatbestand und Rechtsfolge eingreift. In anderen Rechtsordnungen ist das ähnlich (pacta sunt servanda). Vor allem internationale Parteien, aber auch nationale, ziehen deshalb eine im einzelnen ausgehandelte Regelung solcher Geschäftsgrundlagenfälle vor, in der insbesondere umschrieben wird, was zwischen ihnen als material adverse change gelten soll. Das bringt mehr als eine bloße allgemeine Neuverhandlungsklausel, obschon es auch unter MACKlauseln häufig zu einer renegotiation kommt8. b) Übernahmeangebote MAC-Klauseln haben sich mittlerweile auch bei Übernahmeangeboten eingebürgert. In den USA und in Großbritannien sind sie seit längerem fest etabliert. Das Takeover Panel der Londoner City spricht in seinem Practice Statement zu bedingten Übernahmeangeboten vom April 2004 davon, dass bedingte Übernahmeangebote einschließlich MAC-Klauseln „standard market practice in the UK“ seien9. Die Gründe für MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten liegen auf der Hand. Übernahmeangebote erstrecken sich über mehrere Wochen,

__________ 3 Material adverse effect. 4 Busch, AG 2002, 145 (150 f.). Vereinzelt werden nur force majeure-Klauseln als MACKlauseln bezeichnet. Damit würde aber nur ein kleiner Ausschnitt der tatsächlichen und rechtlichen Problematik erfasst. 5 Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 694. 6 Prominent sind Ereignisse wie nine eleven (11.9.2001), aufgrund deren sich amerikanische Parteien auf MAC berufen haben, aber erfolglos im IBP-Fall (unten Fn. 7). 7 IBP, Inc. v. Tyson Foods, Inc. and Lasso Acquisition Corp., June 15/18, 2001, Del. Ch., 789 A.2d 14 (2001) at 68. 8 Z. B. IBP v. Tyson Foods (Fn. 7) at 49. 9 The Takeover Panel, Practice Statement No. 5 Note 2 on Rule 13 – Invocation of Conditions, 28 April 2004.

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in Deutschland nach § 16 Abs. 1 WpÜG zwischen vier und zehn Wochen. In dieser Zeit können sich die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage und die Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft, aber auch die Branchen- oder wirtschaftlichen Verhältnisse insgesamt so ändern, dass der Bieter sein Übernahmeangebot so nicht mehr aufrechterhalten möchte. Das gilt umso mehr, als der Bieter bei einem nicht mit der Zielgesellschaft abgestimmten Übernahmeangebot keine Gelegenheit zu einer due diligence hat10. Die Interessenlage ist bei Übernahmeangeboten jedoch deutlich komplexer als bei M&A-Transaktionen11. Während bei letzteren die beiden Vertragspartner privatautonom einen ihren beiderseitigen Interessen Rechnung tragenden Vertrag aushandeln können, lösen Übernahmeangebote „gravierende Folgen für das Zielunternehmen, dessen Management und die Wertpapierinhaber der Zielgesellschaft aus …. Vor diesem Hintergrund ist es sachgerecht, den Bieter zur Abgabe eines rechtlich verbindlichen Angebots zu verpflichten, das nur unter den engen Voraussetzungen der §§ 18 und 21 WpÜG mit Bedingungen versehen oder geändert werden kann.“12 Das bedeutet, dass MAC-Klauseln ebenso wie andere Bedingungen bei Übernahmeangeboten nicht unbegrenzt zulässig sind. Denn es entspräche nicht den Interessen der Zielgesellschaft, ihrer Aktionäre und des Kapitalmarkts, wenn der Bieter sein Angebot von einer Bedingung abhängig machen könnte, die er bzw. die in seinem Lager stehenden Personen und Gesellschaften ausschließlich selbst herbeiführen und sich so entgegen seiner Ankündigung von dem Angebot lösen könnte. Eben dies untersagt § 18 WpÜG. Das Problem wesentlicher Verschlechterungen bei der Zielgesellschaft wurde bereits im Übernahmekodex von 1979 angesprochen13. MAC-Klauseln gab es damals jedoch kaum14, und die BaFin hat sie zunächst auch nicht akzeptiert. Eine MAC-Klausel wurde von der BaFin erstmals Mitte 2003 im Fall Bosch/ Buderus unter bestimmten Kautelen zugelassen15. In drei wichtigen weiteren Fällen wurde die Praxis von MAC-Klauseln weiter entwickelt und endgültig etabliert16. Der Begriff der force majeure tauchte zum ersten Mal im Februar 2004 in einem Übernahmeangebot auf17. Auch die österreichische Übernah-

__________ 10 11 12 13

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Zum due diligence-Vorbehalt s. u. II 2 a (4). Ausführlich Berger/Filgut, WM 2005, 253 f., 255. RegE BT-Drucks. 14/7034, S. 47 zu § 17. Leitsätze für Übernahmeangebote vom Januar 1979 Ziff. C 13: „Etwaiger Vorbehalt des Käufers, von dem Angebot zurückzutreten, wenn der Wert oder der Charakter des Vermögens der betroffenen Gesellschaft so beeinträchtigt wird, dass der Angebotszweck gefährdet ist“; vgl. auch Ziff. 15 betreffend Rücktrittsvorbehalt bezüglich behördlicher Genehmigungen bzw. Verbote oder wegen Dauer des Genehmigungsverfahrens länger als eine bestimmte Zeit. Abgedruckt bei Baumbach/Duden/Hopt, HGB, 28. Aufl. 1989, Anhang 18. Beispiel bei Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 88 Fn. 5: VodafoneAirtouch plc/Mannesmann AG. Robert Bosch GmbH/Buderus AG v. 8.5.2003; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 21. Näher Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22. Carlsberg Deutschland GmbH/Holsten Brauerei AG v. 12.2.2004; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22.

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mekommission ließ im Jahr 2003 zum ersten Mal eine MAC-Klausel zu18. Mittlerweile finden sich MAC-Klauseln in allen Angeboten mit ausländischen Bietern19 und sind auch sonst weit verbreitet. Von 2003 bis 2007 wurden 31 Fälle von Übernahmeangeboten mit MAC-Klauseln gezählt20. 2. MAC-Klauseln in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen a) Vorkommen MAC-Klauseln und verwandte Klauseln sind bei M&A und bei Finanzierungen gang und gäbe21 und heute auch bei Kapitalmarkttransaktionen Standard22. MAC-Klauseln finden sich beispielsweise bei Unternehmenskaufverträgen23, in den USA angeblich bei rund drei Vierteln derselben; Finanzierungsverträgen24; Aktienübernahmeverträgen25; internationalen Aktienemissionen26; Umplatzierung bestehender Aktien27; Kapitalerhöhungen (mit Bezugsangeboten)28; aktienverwandten Emissionen29; Anleiheemissionen30 und ähnlichen Transaktionen. b) Ausgestaltung MAC-Klauseln gehören in den Vertragsverhandlungen zu den am heftigsten umstrittensten Verhandlungspunkten31, was nicht verwunderlich ist, geht es doch um die Zuweisung der Tragung von Risiken in extremis, die die gesamte Transaktion oder jedenfalls ihre sorgfältig ausgehandelten Bedingungen zu Fall bringen können. Das Hauptproblem dabei ist, wie der MAC umschrieben wer-

__________ 18 Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 694. 19 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 27. 20 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 21. Zahlen bis 2005 bei Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 843. 21 Schmittner, M&A Review 7/2005, 322. In der deutschen Literatur dazu als einer der ersten ausführlich Picot/Duggal, DB 2003, 2635. 22 Busch, WM 2001, 1277; Busch, AG 2002, 145, 150. Nach einer Untersuchung der American Bar Association wiesen 78 % der untersuchten M&A-Transaktionen eine MAC-Klausel auf, Meyding (Fn. 1), S. 19. 23 Näher Lange, NZG 2005, 454; Lappe/Schmitt, DB 2007, 153, 154 f.; vor allem bei fremdkapitalfinanzierten Unternehmenskaufverträgen, Borris, BB 2008, 294, 295, dann müssen die MAC-Klauseln im Bankfinanzierungs- und im Unternehmenskaufvertrag inhaltlich und möglichst auch hinsichtlich des anwendbaren Rechts unbedingt aufeinander abgestimmt werden. 24 Franck/Lamontagne-Defriez, JIntBanking L&Reg 2004, 172, 193 ff.; Berger/Filgut, WM 2005, 253; Lappe/Schmitt, DB 2007, 153, 154. 25 Busch, WM 2001, 1277; Buermeyer (Fn. 1), S. 47 ff. 26 Herfs in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 4 Rz. 101 (Auswirkung auf Bezugsrechte); Haag in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 23 Rz. 74. 27 Wolf in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 6 Rz. 32. 28 Buermeyer (Fn. 1) S. 54 f. 29 Schlitt/Schäfer in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 24 Rz. 17, 37, 41. 30 Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 25 Rz. 30, 76 ff. 31 US-amerikanische Nachweise bei Schweitzer, ECFR 4 (2007), 79, 114–119; Lange, NZG 2005, 455.

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den soll, eher allgemein gehalten oder detailliert mit Aufzählung der verschiedenen MAC-Fälle. Dahinter steht die Sorge des Verkäufers, der Käufer könnte eine MAC-Klausel zum Ausstieg aus dem Vertrag missbrauchen, wenn er später die Transaktion für unvorteilhaft hält (buyer’s regret)32. Dass Käufer besser mit allgemein gehaltenen MAC-Bedingungen fahren, Verkäufer mit detaillierteren, lässt sich so nicht verallgemeinern33. Doch mag bei ersteren der Käufer die Transaktion eher in Frage stellen, dann mit der Folge eines Rechtsstreit mit unsicherem Ausgang, was die Aussicht auf renegotiation und Kaufpreisminderung erhöht. Umgekehrt mag die Detaillierung ein Mehr an Rechtssicherheit bringen, doch ist dann das Risiko, dass ein unvorgesehener Fall nicht aufgeführt wird und es zu einem Rechtsstreit über die Auslegung kommt, größer. Die richtige Mitte zwischen Abstraktion und Konkretisierung der MACKlausel ist deshalb für die Praxis eine Gratwanderung. Die Möglichkeiten der Ausgestaltung einer MAC-Klausel sind, da privatautonom, vielfältig. In der US-amerikanischen Unternehmenskaufpraxis werden MAC-Klauseln als tatbestandliche Voraussetzung bestimmter Zusicherungen des Verkäufers (representation and warranties), als allgemeine Zusicherung des Nichteintritts eines MAC durch den Verkäufer oder als Bedingung für den Vollzug der Transaktion (closing condition) eingesetzt34. Muss sich der Verkäufer wie in aller Regel in den US-amerikanischen Praxis auf eine MACKlausel einlassen, wird er versuchen, die ihm damit überbürdeten Risiken jedenfalls teilweise „rück-rückzuverlagern“35, also Ausnahmen von der MACKlausel zu erreichen (carve outs)36. Das bietet sich am ehesten für Risiken an, die nicht im Bereich des Verkäufers liegen, sondern der Wirtschaft oder des Käufers selbst. Das kann, was den Tatbestand der MAC-Klausel angeht, beispielsweise durch Schwellenwerte (materiality thresholds)37, zeitliche Schranken, räumliche oder konzernbezogene38 Festlegungen, die Fixierung von Eintrittswahrscheinlichkeiten, bestimmte Kausalitätsanforderungen oder schlicht die Herausnahme von bestimmten Ereignissen oder Entwicklungen aus der MAC-Klausel geschehen39. Auch Offenlegungspflichten des Verkäufers (disclosure schedules) und due diligence-Anforderungen an den Käufer spielen eine Rolle40 sowie Objektivierung durch Vorlage von legal opinions oder comfort

__________ 32 Das „cooling of affections“ ist eindrucksvoll beschrieben in IBP v. Tyson Foods (Fn. 7) at 22 et s. 33 Vgl. aber Picot/Duggal, DB 2003, 2635, 2639 f. 34 Lange, NZG 2005, 454, 455. 35 S. o. I. 1. a). 36 Zu unterscheiden von equity carve outs, Krause, AG 2002, 133, 143. Solche carve out-Regelungen fanden sich nach der oben Fn. 22 erwähnten ABA-Untersuchung in 80 % der MAC-Klauselfälle. Ausführlich Schweitzer, ECFR 4 (2007), 79, 116. 37 In der amerikanischen Unternehmensverkaufspraxis spricht man von baskets, Lange, NZG 2005, 454, 458. 38 Z. B. nur betreffend material subsidiaries, Schlitt/Schäfer in Habersack/Mülbert/ Schlitt (Fn. 2), § 24 Rz. 17. 39 Picot/Duggal, DB 2003, 2635, 2640; Buermeyer (Fn. 1), S. 201 ff. mit Aufzählungen. 40 Lange, NZG 2005, 454, 458.

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letters41. Zeitlich kommt dem Verkäufer entgegen, dass MAC-Fälle in aller Regel bis zum Vollzugsstichtag eingetreten sein müssen42. Auch die Rechtsfolgen bei Eintritt des MAC-Falls (eventuell auch bei, wie sich erst später herausstellt, unberechtigter Annahme eines solchen) näher vereinbart, wie Anpassung, Rücktritt, letzterer eingeschränkt durch kurze Rücktrittsfrist, Vertragsstrafe, break-up fee oder Schadensersatz43. Trotzdem kommt es wegen der mangelnden Vorhersehbarkeit der Risiken und ihrer einschneidenden Folgen fast immer zu Meinungsverschiedenheiten über den Eintritt des MAC-Falls. Diese werden meist im Verhandlungsweg derart gelöst, dass es bei der Transaktion bleibt, aber dem Käufer weitere Zugeständnisse gemacht werden, in der Regel bezüglich des Kaufpreises, bei Unsicherheiten über den Umfang des MAC-Falles eventuell verbunden mit einem Besserungsschein44. Nicht selten bleibt jedoch nur die Anrufung eines Schiedsgerichts aufgrund entsprechender Schiedsklauseln45, die ihrerseits Gegenstand harter Verhandlungen sein können. Vor staatlichen Gerichten werden Streitigkeiten um MAC-Klauseln dagegen schon aus Zeitgründen kaum ausgetragen, entsprechend selten sind Urteile dazu. 3. Typen von MAC-Klauseln in Übernahmeangeboten, insbesondere company und economy MAC-Klauseln a) Unterscheidungsversuche Bei MAC-Klauseln in Übernahmeangeboten ist die Bandbreite der Typen und Ausformungen geringer als bei solchen in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen, was an der komplexeren Interessenlage und in deren Folge der rechtlichen Eingrenzungen liegt. MAC-Klauseln in Übernahmeangeboten sind typischerweise als Bedingung formuliert, und zwar nach der bisherigen deutschen Erfahrung als aufschiebende Bedingung46. Zur tatsächlichen Lösung des Bieters vom Angebot kommt es jedoch allenfalls ausnahmsweise47. Bei den Bedingungen können je nach Herkunftsbereich des geregelten MAC-Falls (Zielgesellschaft, Wirtschaft, Bieter) drei Typen unterschieden werden.

__________ 41 Wolf in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 6 Rz. 32. 42 S. u. II. 3. 43 Picot/Duggal, DB 2003, 2635, 2640 f. Bei MAC-Klauseln in Aktienübernahmeverträgen bei Kapitalerhöhungen wird i. d. R. Rückabwicklung durch Veräußerung der neuen Stücke an einen zu benennenden Dritten oder freihändig (fire sale) vereinbart, Busch, WM 2001, 1277, 1278. Zu indemnification clauses in Unternehmenskaufverträgen Lange, NZG 2005, 454, 458. 44 Schmittner, M&A Review 7/2005, 322 unter 5. 45 Borris, BB 2008, 294 empfiehlt fast track-Schiedsverfahren. 46 Laut Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 843 so in 11 von 14 Fällen, keine MACKlausel bis dahin in einem Erwerbsangebot; Zahlen und Aufzählung ebenda. 47 Bis dahin kein Fall, Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 843.

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b) Company (target) MAC-Klauseln Naheliegend und am verbreitetsten sind MAC-Klauseln, die Risiken im Herkunftsbereich der Zielgesellschaft betreffen. Man spricht im Anschluss an USamerikanischen Gebrauch von target company MAC oder kürzer company MAC, so auch die BaFin48, gelegentlich auch von business MAC. Ein gerne zitiertes Beispiel49 bietet aus England das Übernahmeangebot der WPP Group plc an die Aktionäre der Tempus Group plc vom 20.8.2001: „Since 31 December 2000 and save as disclosed … in this document or as otherwise fairly disclosed in writing by Tempus to WPP, no material adverse change or deterioration having occurred in the business, assets, financial or trading position or profits or prospects of any member of the wider Tempus Group.“ c) Economy (market) MAC-Klauseln Handelt es sich um allgemeine wirtschaftliche oder andere Risiken spricht man von economy oder market MAC-Klauseln50, bezogen auf Branchen auch von industry MAC-Klauseln. Dabei geht es um aus der Geschäftsgrundlagenlehre bzw. in anderem Zusammenhang als force majeure oder hardship bekannte Ereignisse, deren Nichteintritt zur Bedingung für das Übernahmeangebot gemacht wird, beispielsweise Absturz der Börsenkurse, vorübergehende Einstellung des Bank- oder Börsenverkehrs, Verknappung von Rohstoffen am Weltmarkt, Terroranschläge u. a. d) Bidder MAC-Klauseln Risiken im Herkunftsbereich des Bieters sind grundsätzlich dessen Sache. Ausnahmsweise werden aber auch bestimmte derartige Risiken in MACKlauseln aufgenommen. Man kann dann von bidder MAC-Klauseln sprechen. Ihre Behandlung ist bei Übernahmeangeboten kritisch, weil sie dem Bieter eine an sich nicht vorgesehene Rückzugsmöglichkeit offenhalten. Anerkannt ist die Verknüpfung des Übernahmeangebots mit einem Paketkaufvertrag des Bieters51. Das gilt auch für Mindestannahmebedingungen52 oder konkurrierende Angebote53. Kritischer, weil die Finanzierungsverantwortung des Bieters54 betreffend, aber je nach Ausgestaltung noch akzeptabel ist z. B. die Bedingung des Nicht-Widerrufs der Kreditzusage bei Fremdfinanzierung des Übernahme-

__________ 48 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 27. Aber s. u. I. 3. d): bidder (company) MAC-Klauseln. 49 Busch, AG 2002, 145, 150. Ähnlich die Formulierung in den Leitsätzen für Übernahmeangebote (Fn. 13). Zur Kasuistik s. u. III. 1. 50 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 27. Zu force majeure-Klauseln in Aktienübernahmeverträgen Busch, WM 2001, 1277; allgemeiner Berger, RIW 2000, 1, 4 f. Zur Kasuistik s. u. III. 2. 51 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28; Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 845; Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 Rz. 118. 52 So die Praxis der BaFin, unten II. 2. a) (2). 53 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 106 f., aber bisher in Deutschland nicht üblich. Für Österreich Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 701. 54 § 13 WpÜG, vgl. Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 13 WpÜG Rz. 57 ff.

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angebots55. So kann es auch bei anderen den Bieter betreffenden Transaktionen, ihrem Zustandekommen und ihrer Wirksamkeit etwa nach Kartellrecht liegen56. 4. Unterschiede zwischen MAC-Klauseln im Finanz- und Übernahmerecht Die MAC-Klauseln sind heute in Übernahmeangeboten ebenso Standard wie in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen, wo sie ihren Ursprung hatten. Darüber darf man aber die erheblichen Unterschiede zwischen beiden nicht vergessen, die ihren Grund in der unterschiedlichen Interessen- und Rechtslage haben. a) Komplexere Interessenlage bei Übernahmeangeboten Bei Übernahmeangeboten geht es anders als jedenfalls beim Unternehmenskauf57 nicht nur um die Interessen von Käufer und Verkäufer, sondern auf Seiten der Zielgesellschaft auch um deren Management, Aktionäre, Arbeitnehmer und andere Gläubiger sowie funktional um den Kapitalmarkt. Auch ist der Zeitraum des Vorgangs, für den eine Risikoabsicherung gesucht wird, anders als beim Unternehmenskauf nicht beliebig gestaltbar. b) Geringerer Spielraum für die privatautonome Gestaltung von MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten Dementsprechend ist der Spielraum für die privatautonome Ausgestaltung der MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten im Vergleich zu solchen in anderen Vertragswerken erheblich enger58. Wegen der genannten Schutzinteressen Dritter sind Schranken bezüglich Potestativbedingungen, Anforderungen an die Erheblichkeit des MAC-Ereignisses und zeitliche Grenzen notwendig. Vor allem unterliegt eine MAC-Klausel im Interesse der Dritten, des Rechtsverkehrs und des Kapitalmarkts einem Bestimmtheitsgebot und muss klar und eindeutig formuliert sein. Während also beim Unternehmenskauf für die Störung der Geschäftsgrundlage § 313 BGB gilt mit weitem Gestaltungsspielraum der beiden Parteien, ob sie bestimmte Risiken abweichend von § 313 BGB zwischen ihnen beiden zur Geschäftsgrundlage machen wollen, sieht das Übernahmerecht ein zwingend geregeltes Verfahren vor und schränkt Bedingungen des Angebots nach § 18 WpÜG deutlich ein59.

__________ 55 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 68 unter Hinweis auf § 490 BGB; Thaeter (Fn. 2), 2/205; a. A. Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 64; differenzierend Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 100. 56 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 104. 57 Zu anderen Kapitalmarkttransaktionen s. o. I. 2. a). 58 Dazu näher unten II. 1. und 2. 59 Zur umstrittenen Frage der Anwendbarkeit von § 313 BGB im WpÜG s. u. II. 1. b).

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c) Unterschiedliche Folgen von MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten Unterschiede bestehen schließlich auch, was die Folgen von MAC-Ereignissen für die Transaktion sind60. Beim Unternehmenskauf wird, wenn die MACKlausel akut wird, die Transaktion als solche in aller Regel nicht in Frage gestellt, sondern der Kaufpreis reduziert. Die MAC-Klausel fungiert hier also, auch wenn sie als Bedingung des closing gestaltet ist, praktisch als Instrument der Vertragsanpassung. Das Übernahmeangebot, das unter eine MAC-Klausel oder andere Bedingung gestellt ist, wird demgegenüber bei Bedingungseintritt vor Ende der Annahmefrist61 hinfällig.

II. Ausgewählte Rechtsprobleme von MAC-Klauseln62 1. Die Behandlung von Bedingungen in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen und in Übernahmeangeboten (§ 18 Abs. 1 und 2 WpÜG) a) Bedingungen in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen Für Bedingungen in Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen und dabei für MAC-Klauseln gilt der Grundsatz der Privatautonomie, sofern nicht besondere aktien- oder kapitalmarktrechtliche Regeln entgegenstehen. Den Parteien steht es also grundsätzlich frei, Risiken zwischen ihnen beiden klarstellend oder materiell dem einen oder anderen zuzuweisen. Sie können vertraglich klarstellen, was unter ihnen als „change“, als „adverse“ und als „material“ gelten soll. Sie können aber auch Risiken, die nicht die allgemeinen Voraussetzungen der Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB erreichen – also etwa nicht schwerwiegend genug sind, vorhersehbar waren oder möglicherweise sogar verschuldet sind63, – zum MAC-Fall erklären. Umge-

__________ 60 Für Unternehmenskaufverträge mit Gestaltungshinweisen, Roschmann, ZIP 1998, 1941, 1944 ff. Zu unterscheiden von den Rechtsfolgen bei Verstößen im Zusammenhang mit MAC-Klauseln bei Übernahmeangeboten Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 846. 61 S. u. II. 3. 62 Die Behandlung von MAC-Klauseln in anderen Rechtsordnungen war geplant, würde aber leider den Rahmen sprengen. Interessant und relevant sind die insbesondere die USA, Großbritannien, Österreich, Schweiz, Frankreich und Italien. Zu den USA der Standardfall IPB (oben Fn. 7); Kenneth A. Adams, A Legal-Usage Analysis of „Material Adverse Change“ Provisions, Fordham Journal of Corporate & Financial Law 10 (2004) 9–53; Buermeyer (Fn. 1), S. 177 ff.; Lange, NZG 2005, 454, 456 f.; Schweitzer, ECFR 4 (2007), 79, 114–119. Zu Großbritannien The Takeover Panel, Ruling, Offer WPP Group plc for Tempus Group plc, 31 Oct. 2001; Practice Statement No. 5 Note 2 on Rule 13 – Invocation of Conditions (28.4.2004), http://www.thetakeoverpanel.org.uk; Buermeyer (Fn. 1), S. 187 ff.; Nyenhuis (Fn. 1), S. 230 ff. Zu Österreich Herbst, (ö)JBl. 2003 693. Zur Schweiz Reutter (Fn. 1). Zu Frankreich Viandier, OPA OPE et autres offres publiques, 3e éd. 2006, nos 971 et s. (irrévocabilité), 989 (MAC). Zu Italien Art. 102 Abs. 1 des Testo Unico v. 24.2.1998: „L’offerta è irrevocabile. Ogni clausola contraria è nulla.“ mit Art. 40 Abs. 1 des Regolamento der Consob v. 14.5.1999/6.4.2000: „L’efficacia dell’offerta non può esssere sottoposto a condizioni il cui verificarsi dipende dalla mera volontà dell’offerente.“ 63 Einzelheiten m. w. N. bei Grüneberg in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, zu § 313 BGB.

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kehrt können sie für den MAC-Fall Anforderungen an die due diligence des Käufers stellen oder weitergehende Offenlegungspflichten des Verkäufers vorsehen (disclosure schedules)64. Es liegt dann eine vertraglich vereinbarte Geschäftsgrundlage vor, die nach Voraussetzungen, Inhalt und Beweislast65 von der gesetzlichen Regelung abweichen kann66. Es steht auch nichts entgegen, dem Käufer bzw. Aktienübernehmer einen Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum hinsichtlich des Eintritts des MAC-Falls einzuräumen. In der Emissionspraxis steht eine solche Feststellung in der Regel im Ermessen der konsortialführenden Bank67. b) Bedingungen in Übernahmeangeboten (§ 18 Abs. 1 und 2 WpÜG) Für Bedingungen in Übernahmeangeboten und dabei für MAC-Klauseln gelten demgegenüber die zwingenden Regeln des WpÜG und vor allem §§ 18, 34, 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5, 25 WpÜG. Danach darf ein Angebot – vorbehaltlich der Zulässigkeit der Bedingung des Beschlusses der Gesellschafterversammlung des Bieters nach § 25 WpÜG – nicht von Bedingungen abhängig gemacht werden, deren Eintritt der Bieter, mit ihm gemeinsam handelnde Personen oder deren Tochterunternehmen oder im Zusammenhang mit dem Angebot für diese Personen oder Unternehmen tätige Berater ausschließlich selbst herbeiführen können. Das gilt für aufschiebende und auflösende Bedingungen gleichermaßen68. Das Pflichtangebot ist demgegenüber zwingend bedingungsfeindlich (§ 39 WpÜG), mit der Ausnahme gesetzlicher Vollzugsverbote wie nach § 41 GWB des Kartellvorbehalts, also einem zulässigen Kartellvorbehalt69. Die Praxis der BaFin handhabt dies restriktiv, während die Literatur zu Recht Ausnahmen für gleich gelagerte Verfahrenskonstellationen zulassen will, so auch z. B. für die Bedingung der Börsenzulassung der als Gegenleistung angebotenen neuen Aktien oder der Zustimmung bei vinkulierten Namensaktien70. In den vorstehend genannten Grenzen werden MAC-Klauseln ebenso wie andere Bedingungen von der BaFin zutreffend als zulässig behandelt71.

__________

64 Lange, NZG 2005, 454, 458. 65 Zu Beweislast-carve out-Klauseln Adams (Fn. 62), at 47. US-Urteilsnachweise bei Lange, NZG 2005, 454, 457 Fn. 30. 66 Zu den Gestaltungsmöglichkeiten schon oben I. 2. b), 4. 67 Ausnahmsweise mit Konsultationspflichten oder sogar Beteiligungsrechten des Emittenten bzw. staatlicher Stellen bei großen Privatisierungen, so Busch, WM 2001, 1277, 1278 Fn. 15; Haag in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 23 Rz. 75. 68 Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 21, aber Vorrang aufschiebender Bedingungen; für die Schweiz Reutter (Rz. 1), S. 163 ff., 170 ff. 69 Zu der den Kartellvorbehalt in der Regel unnötig machenden Praxis der BaFin Strunk/Linke (Fn. 1), S. 25 f.; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B19/20 mit Fällen; Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 39 ff.; Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 57 ff.; s. u. II. 3. 70 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 6, 7, 73 f. 71 Ebenso die ganz h. L., z. B. Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 89; Busch, AG 2002, 145, 150 f.; Hopt, ZHR 166 (2002), 383, 405. Zur Wirkung von MAC-Klauseln als Abwehrmaßnahmen unter § 33 WpÜG Hirte in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 33 WpÜG Rz. 59; Hopt in FS Lutter, 2000, S. 1361, 1389.

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Streitig ist, ob neben § 18 WpÜG die allgemeinen Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB Anwendung finden können72. Das ist mit der ü.L. zu bejahen. Denn bei einem Angebot nach WpÜG ist zwar noch kein Vertrag geschlossen, und anders als im Regelfall unter § 313 BGB scheidet auch eine Vertragsanpassung aus. Aber § 313 BGB muss als Ausprägung von Treu und Glauben auch im Vorfeld von Vertragsbeziehungen Anwendung finden. Das gilt aber anders als bei Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträgen nicht uneingeschränkt. Vielmehr darf die besondere Interessen- und Regelungslage bei Übernahmeangeboten nicht außer Acht bleiben mit der rechtlichen Konsequenz, dass Wertungen aus § 18 WpÜG auch bei der Anwendung von § 313 BGB relevant werden können. Nach §§ 18 Abs. 2, 34 WpÜG ist ein Angebot, das unter dem Vorbehalt des Widerrufs oder des Rücktritts abgegeben wird, unzulässig. Streitig ist, ob das auch für den Fall einer im übrigen zulässigen MAC-Klausel gilt73 oder § 18 Abs. 2 WpÜG insoweit einschränkend ausgelegt werden kann74. Die ü. L. nimmt ersteres an und sieht für eine teleologische Reduktion auch keine praktische Notwendigkeit. Für Österreich lässt demgegenüber § 8 öÜbG Rücktrittsvorbehalte ausdrücklich zu75. Eine ansonsten zulässige MAC-Klausel, kraft derer der Angebotspreis herabgesetzt würde, verstößt gegen § 21 Abs. 1 Nr. 1 WpÜG. 2. Einzelne Grundsätze für Bedingungen in Übernahmeangeboten, insbesondere kein Ermessen des Bieters, erhebliche negative Veränderung, Bestimmtheits- und Klarheitsgebot a) Kein Ermessen des Bieters und der ihm zuzurechnenden Personen (1) Kein Ermessen des Bieters: Nach § 18 Abs. 1 WpÜG darf die MAC-Klausel nicht eine Bedingung beinhalten, die der Bieter ausschließlich selbst herbeiführen kann. Potestativbedingungen sind ausgeschlossen. Der Bieter könnte sich sonst auf diese Weise von dem Angebot lösen, was entgegen § 18 Abs. 2 WpÜG einem freien Rücktrittsrecht gleichkäme und den berechtigten Erwartungen der Aktionäre der Zielgesellschaft und des Kapitalmarkts zuwiderlaufen würde. Dem Bieter darf auch keine Einschätzungsprärogative oder ein gewisser Beurteilungsspielraum verbleiben, ob der MAC-Fall eingetreten ist oder

__________ 72 Bejahend Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 120; Geibel/ Süßmann (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 47; Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 9; Oechsler in Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 2), § 11 WpÜG Rz. 53; Oechsler, NZG 2001, 817, 822; Thaeter (Fn. 2), 2/212; Berger/Filgut, WM 2005, 253, 256. Verneinend z. B. Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 44, 75. 73 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 117 ff.; Berger/Filgut, WM 2005, 253, 259 f.; Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 846. 74 Busch, AG 2002, 145; Stöcker, NZG 2003, 993, 994. 75 Dazu Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 695.

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nicht76. MAC-Klauseln ohne weitere Konkretisierung wie etwa Einleitung eines Gerichtsverfahrens von besonderer Bedeutung sind zwar auslegungsbedürftig, eröffnen aber keinen Ermessensspielraum des Bieters, auch keinen eingeschränkten. Sie müssen aber dem Bestimmtheitsgebot genügen77. (2) Ausnahmen und Zweifelsfälle: Eine Ausnahme ist in § 18 Abs. 1 WpÜG ausdrücklich angesprochen, nämlich die Bedingung eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung des Bieters. Dass dabei nur eine rechtlich erforderliche Zustimmung der Gesellschafterversammlung erfasst werde, wie verbreitet angenommen, entspricht weder dem Wortlaut noch der legitimen aktienrechtlichen Praxis, dass der Vorstand auch nach der „Gelatine“-Entscheidung des BGH in Zweifelsfällen die Zustimmung der Hauptversammlung einholt78. Etwas anderes gilt nur, wenn die Einholung der Zustimmung zweifelsfrei unnötig ist79 oder nur deshalb eingeholt wird, um dem Bieter eine Rückzugsmöglichkeit vorzubehalten. Die Praxis der BaFin erlaubt auch die Verknüpfung des Angebots mit einem Paketerwerb durch den Bieter, sei es direkt als Bedingung oder indirekt über eine entsprechend definierte Mindestannahmeschwelle. Doch prüft dann die BaFin zu Recht auch die Bedingungen des Paketvertrags auf ihre Vereinbarkeit mit § 18 Abs. 1 WpÜG, damit nicht der Bieter es auf diese Weise selbst in der Hand hat, ob der Paketerwerb scheitert und damit das Übernahmeangebot hinfällig wird80. (3) Zurechnung: Nach § 18 Abs. 1 WpÜG sind dem Bieter gleichgestellt mit ihm gemeinsam handelnde Personen oder deren Tochterunternehmen oder im Zusammenhang mit dem Angebot für diese Personen oder Unternehmen tätige Berater. Dass der Bieter sich nicht durch ihre Einschaltung eine Hintertür zur Lösung von dem Angebot erschleichen kann, liegt auf der Hand. Das muss auch für zwei Fallkonstellationen gelten, in denen die Interessenlage gleich liegt. So kann es zum einen bei Konzernsachverhalten liegen, etwa wenn der Bieter die Zustimmung der Gesellschafterversammlung der Mutter zur Bedingung machen will. Das ist nach Wortlaut und Sinn von §§ 18 Abs. 1, 25 WpÜG

__________ 76 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28; Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 31, 89, 90; anders offenbar Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2) § 18 WpÜG Rz. 42: „kein (oder allenfalls ein geringer) Einschätzungs- oder Beurteilungsspielraum“. 77 Unten II. 2. c). 78 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 60 mit Nachweis der strengeren Gegenstimmen. Auf Publikumsgesellschaften mit mehrheitlichem Streubesitz u. a. beschränkend Wackerbarth in MünchKomm.AktG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 31. 79 Zutreffend Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 60 a. E. 80 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 27 mit Fallbeispiel; Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 26.

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eher problematisch81. Zum anderen greift § 18 Abs. 1 WpÜG auch dann ein, wenn der wirtschaftliche Bieter eine rechtlich selbständige Zweckgesellschaft als Bieter vorschiebt (special purpose vehicle, Angebotsvehikel)82. (4) Ermessen bei der der Zielgesellschaft: § 18 Abs. 1 WpÜG schließt nur Bedingungen aus, bei denen es um ein Ermessen des Bieters geht. Ein Ermessen der Zielgesellschaft bezüglich des Bedingungseintritts ist von Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung nicht erfasst. Somit bleiben Bedingungen wie die, dass die Zielgesellschaft keine Abwehrmaßnahmen ergreift83, oder dass eine Tochter der Zielgesellschaft einen Unternehmensvertrag mit dem Bieter abschließt oder einer Verschmelzung zustimmt84, von § 18 Abs. 1 WpÜG unberührt. Derartige Bedingungen können aber gegen andere Vorschriften des WpÜG verstoßen. Das gilt nach der Praxis der BaFin etwa für eine MACKlausel, die das Angebot von der positiven Stellungnahme des Vorstands der Zielgesellschaft abhängig macht85. Denn auf diese Weise hänge die Entscheidung über das Übernahmeangebot von dem Vorstand der Zielgesellschaft ab, statt wie nach §§ 33 ff. WpÜG vorgesehen, grundsätzlich nur von den Aktionären derselben. Indessen kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats ohne Zustimmung der Aktionäre in der Hauptversammlung Verteidigungsmaßnahmen ergreifen (§ 33 Abs. 1 Satz 2 a. E. WpÜG). Eine Bedingung, die dieser Wertung nicht zuwiderläuft, müsste demnach zulässig sein. Eine solche Bedingung bedeutet, richtig gefasst, keinen Zustimmungsvorbehalt bezüglich der Stellungnahme des Vorstands zugunsten des Aufsichtsrats86, sondern lässt unberührt, dass Vorstand und Aufsichtsrat unter § 27 WpÜG jeweils eigenverantwortlich entscheiden. Die Bedingung der positiven Stellungnahme (allein) des Vorstands ist also mit der BaFin als unzulässig anzusehen, die der positiven Stellungnahmen beider Organe dagegen als zulässig.

__________ 81 In einem Fall von der BaFin zugelassen, Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 24; aber Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 66, anders nur, wenn der Bieter eine von der Mutter beherrschte Zweckgesellschaft ist, zutr. ebenda; kritisch auch Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 47. Zugelassen wurde auch die Bedingung der Zustimmung eines wichtigen Aktionärs des Bieters, etwa der Familie bei einer Familiengesellschaft, Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 24 mit Fall. 82 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 61 ff., der dies zu Recht durch Auslegung des § 18 Abs. 1 WpÜG und nicht erst wie teilweise in der Literatur über einen Missbrauchstatbestand erfassen, sondern den wirtschaftlichen Bieter als eine mit dem rechtlichen Bieter gemeinsam handelnde Person i. S. v. § 2 Abs. 5 WpÜG. Vgl. auch Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 47. 83 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28; Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 81 ff.; Busch, AG 2002, 145, 148. Für die Schweiz Reutter (Fn. 1), S. 199 ff. Zur Frage der Bestimmheit dabei unten II. 2. c). 84 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 24 mit Fall. 85 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 29; auch Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 77 ff., 80; sehr str., a. A. Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 110; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 51; Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 29 f. 86 Anders Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 109; Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 80.

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Eine Bedingung, die das Übernahmeangebot von den Erkenntnissen einer noch durchzuführenden due diligence-Prüfung bei der Zielgesellschaft abhängig macht, ist – immer vorausgesetzt, dass damit kein Ermessen des Bieters verbunden und das Bestimmtheitsgebot beachtet ist, was aber schwierig sein dürfte87 – nach denselben Grundsätzen zu behandeln, also zulässig, wenn der Vorstand der Zielgesellschaft die Zustimmung des Aufsichtsrats dafür hat88. b) Erhebliche negative Veränderung (material adverse change) Die MAC-Klausel enthält, wie schon der Name sagt, die Bedingung des Eintritts bzw. Ausbleibens eines material adverse change, also einer erheblichen negativen Veränderung in den zugrundegelegten Verhältnissen der Zielgesellschaft, der Wirtschaft oder in bestimmten Grenzen des Bieters89. Vorausgesetzt sind also eine entsprechende Veränderung und ihre Erheblichkeit. Ersteres lässt sich an einer MAC-Klausel von 2003 mit folgender Carve out-Bestimmung zum vereinbarten MAC-Fall illustrieren: „Dies gilt nicht, soweit die Tatsachen im Konzernabschluss 2002 der Gesellschaft bereits berücksichtigt oder von Buderus bis zum 7.5.2003 durch Ad-hoc-Meldung gemäß § 15 WpHG bekannt gemacht worden sind. Bei der Beurteilung sind die bisher von Buderus angewandten Ansatz-, Bilanzierung- und Bewertungsgrundsätze und die Praxis bei der Ausübung von Bilanzierungswahlrechten unverändert zugrunde zu legen.“90 Bereits berücksichtigte oder öffentlich bekannt gemachte Tatsachen stellen keine Veränderungen im Sinne der MAC-Klausel dar. Da es sich dabei in vielen Fällen um bilanzwirksame Tatsachen handelt, ist es, wie das Beispiel zeigt, zweckmäßig, in der MAC-Klausel bzw. ihrem carve out auch ihre bilanziellen Beurteilungsmaßstäbe festzuhalten. Die Veränderung muss erheblich bzw. wesentlich (material) sein. Der Bieter darf sich nach der Vorstellung des Gesetzgebers, wie aus §§ 17, 18 WpÜG ersichtlich, nicht ohne weiteres von seinem Angebot lösen können. Erheblichkeit ist dabei weder ohne weiteres mit force majeure gleichzusetzen noch liegt die Erheblichkeitsschwelle bei schwersten, der Geschäftsgrundlage nahestehenden Verschlechterungen91. Umgekehrt genügt sicher nicht jede nachteilige Veränderung, aber auch nicht schon jede geringfügige, vorübergehende oder

__________ 87 Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 31. Oben II. 2. a) und unten II. 2. c). 88 Allgemeiner zulässig nach Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 107 ff., aber mit Ausnahmen, z. B. bei Management Buy-out; KölnKomm.WpÜG/ Hasselbach (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 47; nicht zulässig nach Krause in Assmann/ Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 98 ff. Das Problem stellt sich bei Unternehmenskäufen so nicht, vgl. Lange, NZG 2005, 458. 89 Oben I. 3. 90 Robert Bosch GmbH/Buderus AG vom 8.5.2003; Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 844 Fn. 10. 91 So aber Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 44 unter Hinweis auf britische Fälle; Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 843; Oechsler, NZG 2001, 817, 822; „schwere Äquivalenzstörung“.

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nur kurzfristig relevante Veränderung92. Feste Grenzwerte wie Wertminderung um ca. 10 %93 lassen sich dazu allerdings nicht aufstellen, und auch kurzfristige Veränderungen können einschneidend sein, vielmehr kommt auf die Umstände des einzelnen Falls an. Gerade deswegen ist es wichtig, dass der als wesentlich anzusehende MAC-Fall hinreichend bestimmt beschrieben wird, wofür Schwellenwerte, Kennzahlen und mit der Praxis der BaFin eine Anknüpfung an § 15 WpHG94 sinnvoll sein können. c) Bestimmtheitsgebot, ad hoc-Publizität und Feststellung des Bedingungseintritts durch einen unabhängigen Dritten Für MAC-Klauseln gilt wie allgemeiner für Bedingungen das Bestimmtheitsgebot95. Das wird aus § 18 Abs. 1 WpÜG gefolgert, teilweise wird auch auf § 11 Abs. 1 WpÜG betreffend die Angebotsunterlage rekurriert96. Der Eintritt des MAC-Falls muss – über den Ausschluss von Ermessen des Bieters bzw. Potestativbedingungen hinaus97 – objektiv und rechtssicher feststellbar sein. Das ist im Interesse der Aktionäre der Zielgesellschaft und des Funktionierens des Kapitalmarkts unerlässlich. Die Feststellung des Eintritts des MAC-Falls kann in der Klausel auch nicht der BaFin überantwortet werden, die insoweit anders als das britische Panel on Takeovers and Mergers keine Befugnisse zur Feststellung hat98. Die BaFin hat auch keine Befugnis zu einer materiellen Inhaltskontrolle der MAC-Klausel, sie prüft nicht, ob die Bedingungen sachlich gerechtfertigt oder wirtschaftlich sinnvoll sind99. Das ist in Österreich, wo § 8 öÜbG Bedingungen einem Sachlichkeitsangebot unterwirft100, anders. Kontrovers ist, ab wann zu allgemein gehaltene bzw. nicht weiter konkretisierte MAC-Klauseln gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen. Nach der Praxis der BaFin sind in der Regel konkrete Kennzahlen notwendig101. Doch wird man nicht generalisierend immer eine Konkretisierung durch Beispiele verlangen

__________ 92 Zutreffend Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 89; Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 114, 119; Busch, AG 2002, 145, 150 f. mit amerikanischen und sehr restriktiven britischen Beispielen. 93 Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 44. 94 Unten II. 2. c). Der Bieter kann, aber braucht nicht über die Erheblichkeitsschwelle des § 15 WpHG hinauszugehen. 95 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 89 für MACKlauseln, Rz. 31 ff. für Bedingungen. 96 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 26. 97 Oben II. 2. a). 98 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 90. 99 Zutreffend Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 90; für die Praxis der BaFin Strunk/Linke (Fn. 1), S. 26, anders nur, wenn die Bedingung offensichtlich nicht eintreten kann, etwa bei einer Mindestannahmeschwelle von 99 %, weil dann die Annahmebereitschaft des Bieters überhaupt in Frage gestellt ist, ebenda S. 26. 100 Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 695, 696. 101 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 27 f.

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können102, vielmehr kommt es auch insoweit auf den Einzelfall an. Konzernweit ausgreifende MAC-Klauseln sind nicht von vornherein unbestimmt103, ebenso wenig Insolvenzklauseln104. Eine allgemeine Bedingung, dass die Zielgesellschaft keine Abwehrmaßnahmen ergreift, akzeptiert die BaFin nicht, die relevanten Verteidigungsmaßnahmen müssen klar definiert werden105. Dem Bestimmtheitsgebot ist in besonderem Maße Rechnung getragen, wenn die MAC-Klausel an dem Umstand der Veröffentlichung einer ad hocMitteilung nach § 15 WpHG gebunden ist. Die BaFin hält eine derartige Verknüpfung der Bedingung mit einer ad hoc-Meldung für sachgerecht, weil eine wesentliche Veränderung bei der Zielgesellschaft in der Regel auch die Voraussetzungen des § 15 WpHG erfüllt106. Das trifft für company MAC-Klauseln zu, nicht aber für economy MAC-Klauseln. Doch ließe sich diese Praxis entsprechend auf (zulässige) bidder MAC-Kauseln107 erweitern. In Fällen, in denen es zu einem Interessenkonflikt bei der Beurteilung als ad hoc-Information kommt, etwa wenn der Vorstand der Zielgesellschaft zugleich Verkäufer eines größeren Aktienpakets an den Bieter ist, bieten sich nach überzeugender Praxis der BaFin die Einschaltung eines unabhängigen Dritten, etwa eines Wirtschaftsprüfers, der den Eintritt der Bedingung feststellt, und die Veröffentlichung dieser Feststellung noch vor Ablauf der Annahmefrist an108. Der Dritte wird dann rechtlich als Schiedsgutachter entsprechend § 317 BGB tätig109. Bei der Einschaltung von Dritten in die Feststellung des MAC-Falls ist für die MAC-Klausel zu überlegen, wer Dritter sein kann und wer ihn benennen darf110. Der Dritte darf jedenfalls nicht aus der Einflusssphäre des Bieters stammen111. Das Problem einer Fehl- oder Nichtentscheidung des Dritten ist nicht völlig von der Hand zu weisen, doch ist das wie bei jedem Streit, ob eine

__________ 102 So aber anscheinend Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 42. Die in den USA übliche MAC-Klausel, die allgemein bei einer „wesentlichen, bei Abgabe des Angebots nicht vorhersehbaren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Zielgesellschaft“ eingreifen soll, wird teilweise unter Hinweis auf die Bindung des Bieters für zu allgemein gehalten. So Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 843; Berger/Filgut, WM 2005, 253, 254 f. 103 Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 844 mit Fällen. 104 Beispiele bei Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 43; Geibel in Geibel/Süßmann (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 33. 105 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28/29; auch Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 85; Fallauswertung bei Nyenhuis (Fn. 1), S. 239 ff. 106 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28. 107 Oben I. 3. d). 108 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28 unter Hinweis auf die Übernahmeangebote ITT Industries German Holding GmbH/WEDECO AG Water Technology v. 9.12.2003 und BCP Crystal Acquisition GmbH & Co. KG/Celanese AG v. 2.2.2004. Auch BorgWarner Germany GmbH/Beru AG v. 2.12.2004, Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 845. 109 §§ 317, 319 BGB gelten nur entsprechend, weil ein öffentliches Übernahmeangebot gegenüber §§ 315 ff. BGB Besonderheiten aufweist. 110 Berger/Filgut, WM 2005, 253, 256 f. 111 Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 25; auch Hasselbach/ Wirtz, BB 2005, 842, 845; für Österreich Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 699 f. Vgl. aber auch Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 25 f.

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Bedingung eingetreten ist, notfalls gerichtlich zu klären. Eine Klausel in der Bedingung, wonach die Entscheidung des Dritten für den Bieter und die Aktionäre bindend und unanfechtbar sein soll, ist sinnvoll, aber nur in den durch § 319 BGB gesetzten Grenzen offenbarer Unbilligkeit, die anerkanntermaßen auch schwerwiegende Verfahrensmängel umfasst. Schließlich ist daran zu denken, dass zur Feststellung, ob der MAC-Fall eingetreten ist, bei bidder MAC-Klauseln die Mitwirkung der Zielgesellschaft notwendig sein kann, etwa wenn es um bilanzrelevante Tatsachen oder andere Umstände im ihrem Bereich geht. Für solche Fälle wird die BaFin im Interesse der Aktionäre der Zielgesellschaft und des Kapitalmarkts an der tatsächlichen Bestimmbarkeit des Eintritts des MAC-Falls die Beibringung einer Verpflichtungserklärung der Zielgesellschaft, die erforderlichen Finanzdaten rechtzeitig bereitzustellen bzw. entsprechend zu kooperieren112, fordern können. d) Klarheitsgebot (§ 11 Abs. 1 Satz 4 WpÜG) Neben dem Bestimmtheitsgebot gilt das Klarheitsgebot113. Das folgt aus § 11 Abs. 1 Satz 4 WpÜG, wonach die Angebotsunterlage in einer Form abzufassen ist, die ihr Verständnis und ihre Auswertung erleichtert. Ein Beispiel bietet die Praxis der BaFin, die eine MAC-Klausel mit einer zu großen Anzahl ergebnisorientierter Indikatoren nicht anerkennt114. e) Einschränkung der Berufung auf MAC-Klausel, Verzicht Die Berufung auf die MAC-Klausel kann missbräuchlich sein115. Ob dafür ausreicht, dass die Änderung der Sachlage für den Bieter erkennbar bzw. vorhersehbar war, ist kontrovers116. Missbräuchlich soll die Berufung sein, wenn der Bedingungseintritt vom Bieter beeinflussbar war (vgl. auch § 162 BGB). Weitergehend wird sogar vertreten, dass jeweils eine Interessenabwägung zwischen den Interessen des Bieters an der MAC-Klausel und den Interessen der übrigen an dem Übernahmeangebot Beteiligten stattzufinden habe117. Dieses Letztere entspricht aber nicht dem Wortlaut des § 18 WpÜG und trägt auch den Interessen des Bieters nicht hinreichend Rechnung. Umgekehrt kann der Bieter auf eine Bedingung verzichten, wie sich klar aus § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 WpÜG ergibt.

__________ 112 Für Österreich Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 700. 113 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 32, 90. 114 Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 844, in einer Angebotsunterlage vom 24.8.2004 hat die BaFin aber immerhin vier Vergleichsgrößen als Bedingung für zulässig gehalten. 115 Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 49 ff.; Geibel in Geibel/ Süßmann (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 18, aber mit einem letztlich nicht greifenden Beispiel. Für die Schweiz Reutter (Fn. 1), S. 147 f. 116 Bejahend Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 114; verneinend Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 24. 117 Buermeyer (Fn. 1), S. 232 ff.

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3. Spätester relevanter Zeitpunkt Unternehmenskauf- und Finanzierungsverträge und erst recht Übernahmeangebote können nicht beliebig lange offen bleiben, auch nicht über Bedingungen und MAC-Klauseln. Bei Unternehmenskäufen ist der späteste relevante Zeitpunkt für den Rücktritt das closing118 bzw. bei Aktienemissionen der Abschluss der Platzierung, also der Zeitpunkt der Lieferung der Aktien an die Investoren gegen Zahlung des Kaufpreises119. Später kann die Transaktion als solche grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt werden, doch kommen vereinbarte Vertrags- und Kaufpreisanpassungen sowie Garantie- und Freistellungsansprüche in Betracht. Bei Unternehmensangeboten muss die relevante Bedingung bzw. der MAC-Fall grundsätzlich bis zum Ende der Annahmefrist nach § 16 Abs. 1 WpÜG eingetreten sein, dies unter anderem im Hinblick auf die weitere Annahmefrist nach § 16 Abs. 2 WpÜG (Zaunkönigregelung)120. Das entspricht der heutigen Praxis der BaFin und der h. L.121 Auch ein Dritter, der nach der MAC-Klausel den Eintritt der Bedingung festzustellen hat, muss sich bis dahin öffentlich ausgesprochen haben122. Die BaFin akzeptiert bisher als einzige Ausnahme den Kartellvorbehalt und besteht auch dabei darauf, dass der Bieter für den Fall, dass der Eintritt der Kartellbedingung länger als sechs Monate auf sich warten lässt, den Aktionären entweder ein Rücktrittsrecht einräumt oder die Aktien unter der neuen Wertpapierkennnummer zum Börsenhandel zugelassen werden123. Die Literatur plädiert großzügiger für den Zeitpunkt der kartellrechtlichen Entscheidung124 und will die Ausnahme des Kartellvorbehalts auf andere behördliche Genehmigungsverfahren erstrecken125. Dafür spricht wegen der ähnlichen Interessenlage viel. Das Argument, nur im Kartellrecht gebe es ein

__________ 118 Lange, NZG 2005, 454, 458 li. Sp. und Fn. 32. 119 Haag in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 1), § 23 Rz. 76. 120 Strunk/Behnke (Fn. 1), S. 84; Strunk/Linke (Fn. 2), S. 29 f. Zur Zaunkönigregelung Seiler in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 16 WpÜG Rz. 28 ff.; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 21 (on the fence or „wren-rule“). 121 Strunk/Linke (Fn. 2), S. 29 f., großzügiger noch BaFin 2003, ebenda. Aus der Literatur m. w. N. Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 108 ff. Für Einzelfallbetrachtung Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 68. Bei sachlicher Rechtfertigung Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 115, 135, Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 33. 122 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28, unten II. 2. c); Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 25. 123 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 30 f.; Strunk/Behnke (Fn. 1), S. 84 mit Fällen. Aber auch oben Fn. 69. 124 Busch, AG 2002, 145, 151; Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 115, 138; auch Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 93, 111, aber rechtspolitisch entgegen § 16 Abs. 2 Satz 1 WpÜG für Beginn der weiteren Annahmefrist erst nach Erteilung der Genehmigung. 125 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 93, 111; Geibel in Geibel/Süßmann (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 25; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 68; a. A. Berger/Filgut, WM 2005, 253, 257, 259, konsequent auch dann ablehnend, wenn ohnehin ein zeitlicher Aufschub wegen eines gleichzeitigen Kartellvorbehalts gegeben ist.

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Vollzugsverbot, im übrigen dagegen nur Stimmrechtsverbote, Wiederveräußerungspflichten und Widerruf der Zulassung, ist formal.

III. Einzelne Formen von MAC-Klauseln und ihre Zulässigkeit im Übernahmerecht 1. Company MAC-Klauseln, Kasuistik Im folgenden soll eine nicht auf Vollständigkeit ausgelegte Übersicht über einzelne Formen von MAC-Klauseln und ihre Zulässigkeit gegeben werden. Da MAC-Klauseln in Unternehmenskaufverträgen und anderen primär privatautonom gestaltbaren Finanzrechtsbeziehungen von den Parteien grundsätzlich frei ausgehandelt werden können, geht es im folgenden um die Zulässigkeit von MAC-Klauseln im Übernahmerecht. Unterschieden wird, wie oben näher dargelegt, zwischen company MAC-Klauseln und economy MAC-Klauseln. In der Praxis der BaFin126 sind unter anderem folgende Fälle von MAC-Klauseln anerkannt, die aber bestimmt sein müssen und deshalb im einzelnen zu präzisieren sind: – das Netto-Eigenkapital in der konsolidierten Bilanz der Zielgesellschaft127, – das Betriebsergebnis bzw. EBIT128, entsprechend andere konkrete Kennzahlen z. B. aus der Bilanzanalyse129, etwa betreffend Jahresüberschuss, Umsatz, Aktiva, bestimmte Auftragsvolumina, – das Konzernergebnis vor Steuern130, das EBITA bzw. operative Konzernergebnis131, – neue Verbindlichkeiten in bestimmter Höhe132, – Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung133, Eröffnung des Insolvenzverfahrens134,

__________ 126 Dazu unter vielen Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 91; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22; Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 844. 127 ITT Industries German Holding GmbH/WEDECO AG Water Technology v. 9.12. 2003; Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28. 128 ITT Industries German Holding GmbH/WEDECO AG Water Technology v. 9.12. 2003; Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28. 129 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 27. 130 Robert Bosch GmbH/Buderus AG v. 8.5.2003. 131 BCP Crystal Acquisition GmbH & Co. KG/Celanese AG v. 2.2.2004; Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22 weiteren Fällen. Vgl. für die Schweiz Reutter (Fn. 1), S. 89. 132 Delta Beteiligungen AG/Beta Systems AG v. 22.2.2006; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22. 133 Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22 mit Fällen; Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 94 ff. 134 Adecco Germany Holding GmbH/DIS Deutsche Industrie Service AG v. 9.1.2006; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22; Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 97.

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– die Zerstörung von Produktionsstätten infolge höherer Gewalt135, etwa durch Brand, Explosion, Unfall oder terroristischen Akt. In Betracht kommen aber auch z. B. – Umsatz- oder Gewinnrückgang um mehr als 10 %136, – Herabstufung des Ratings137, – der Entzug von betriebsnotwendigen Genehmigungen oder vergleichbare Umstände bei der Zielgesellschaft, die die Weiterverfolgung wichtiger Forschungsprojekte unmöglich machen138, entsprechend Erlangung solcher Genehmigungen139, – die Erhaltung der Gesamtheit der Produktions- und/oder Vertriebseinrichtungen140, – Change of control-Klauseln141, Wegbrechen bedeutsamer Vertragsbeziehungen, – Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat142, – Einleitung von behördlichen oder gerichtlichen Verfahren oder Entscheidungen, sofern von entsprechender Relevanz, Aufhebung einer grundstücksrechtlich begründeten Deponierung eines Aktienpakets oder Erlass einer Handelsregistersperre143. Möglich ist nach der Praxis der BaFin auch die Verknüpfung einer MACKlausel im Übernahmeangebot mit einem Paketkaufvertrag144. Denn der Bieter mag nur bei Zustandekommen des letzteren zur Übernahme imstande oder bereit sein. Dann kommt es kautelarisch darauf an, parallele MAC-Klauseln in das Übernahmeangebot und den Paketkaufvertrag aufzunehmen bzw. beides aufeinander abzustimmen, mangels Gleichlauf droht Ungemach. Die Abgabe eines konkurrierenden Angebots kann ebenfalls mit entsprechender Formulierung als MAC-Klausel aufgenommen werden145. Aus den Unternehmensverkäufen ist die MAC-Klausel bekannt, dass der Mitarbeiterstamm

__________ 135 Carlsberg Deutschland GmbH/Holsten Brauerei AG v. 12.2.2004; Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28. 136 Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), 18 WpÜG Rz. 42, 44 mit Hinweis auf England. 137 Vgl. Schlitt/Schäfer in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 24 Rz. 37; Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 25 Rz. 79. 138 Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842. 139 Für die Schweiz Reutter (Fn. 1), S. 89. 140 Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 844. 141 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 101 ff.; Steinmeyer in Steinmeyer/Häger (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 27. 142 Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 45. Für die Schweiz Reutter (Fn. 1), S. 89: Schlüsselpersonen im Management. 143 Für die Schweiz Reutter (Fn. 1), S. 194 f. 144 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 24 mit Fällen; oben I. 3. d), II. 2. a) (2). 145 Oben Fn. 53.

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erhalten werden muss, und dass kein off-balance sheet financing vollzogen wird146. Nicht anzuerkennen sind dagegen Finanzierungsvorbehalte des Bieters147. Das gehört zu den Umständen aus der Sphäre des Bieters, deren Risiko dieser bei einem Übernahmeangebot nicht abwälzen kann. MAC-Klauseln, die auf den Börsenkurs der Zielgesellschaft abstellen, sind dagegen zulässig148, auf jeden Fall bei Tauschangeboten, wenn die Aktien nicht zum Börsenhandel zugelassen werden oder es um wesentliche Veränderungen des Börsenkurses geht149, sowie dann, wenn die Verschiebung des Wertverhältnisses aktienrechtliche Folgen hat, etwa nach § 255 Abs. 2 AktG150. 2. Economy MAC-Klauseln, Kasuistik In der Praxis der BaFin sind auch insoweit eine Reihe von Fällen von MACKlauseln anerkannt, die ebenfalls im einzelnen zu präzisieren sind: – Absinken eines bestimmen Börsenindex, etwa des DAX151 oder des Dow Jones Industrial Average152, um eine bestimmte Zahl von Punkten, im konkreten Fall um ca. 20 %153, aber auch nur 10 %154, eventuell an mehreren Tagen155, – der Nichteintritt eines bankrechtlichen Moratoriums bzw. die vorübergehende Einstellung des Bank- oder Börsenverkehrs nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, 3 KWG156, entsprechend auf Grund von Eingriffen ausländischer Bank- und Börsenaufsichtsorgane, – keine Einstellung des Börsenhandels allgemein oder spezieller, etwa in Devisen oder Schuldverschreibungen in Deutschland oder den USA157, Einführung von Devisenkontrollen o. Ä.,

__________ 146 Lange, NZG 2005, 454, 457. 147 Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 93 ff.; Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 63 ff.; Wackerbarth in MünchKomm. AktG (Fn. 2), § 18WpÜG Rz. 35; Busch, AG 2002, 145, 147 f. 148 Thoma/Stöcker in Baums/Thoma (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 132 ff. Verneinend Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 46. 149 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 23 mit zwei Fällen; Krause in Assmann/Pötzsch/ Schneider (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 73 f., 75 f. 150 Hasselbach in KölnKomm.WpÜG (Fn. 2), § 18 WpÜG Rz. 46; wohl a. A. Busch, AG 2002, 145, 151 f. 151 Continental AG/Phoenix AG v. 26.4.2004; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22 mit weiteren Fällen. 152 US Dow Jones-Klauseln, BCP Crystal Acquisition GmbH & Co. KG/Celanese AG v. 2.2.2004; Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28; Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22. 153 Krause, NJW 2004, 3681, 3683. 154 Hasselbach/Wirtz, BB 2005, 842, 843. 155 Fallbeispiel bei Berger/Filgut, WM 2005, 253, 257 Fn. 51. 156 BCP Crystal Acquisition GmbH & Co. KG/Celanese AG v. 2.2.2004; Strunk/Linke (Fn. 1), S. 28. 157 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22 mit Fall.

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– Kartellvorbehalt, der in nahezu jedem zweiten Fall aufgenommen wird158, und Inkrafttreten bestimmter nationaler oder ausländischer Gesetze, Verordnungen oder Entscheidungen, die den Erwerb verhindern oder über einen bestimmte Zeitraum hinaus verzögern159, aber auch behördliche Auflagen, Erteilung und Versagung wesentlicher Genehmigungen160, – wesentliche Änderungen der relevanten Steuergesetze oder wesentlich nachteiliger Steuerbescheid161, – wesentliche Änderungen der einschlägigen nationalen oder internationalen Bilanzvorschriften oder ihrer Anwendung durch die maßgeblichen Gremien. In Frage kommen weiter z. B. MAC-Klauseln betreffend – Verteuerung der Rohstoffpreise und anderer Marktbedingungen, die die Wirtschaft oder die spezielle Branche betreffen, etwa Verschärfung von Emissionsgrenzwerten oder anderen wesentliche Nachrüstungen notwendig machende Umstände, sowie – Fälle höherer Gewalt wie Krieg, Revolutionen, Terroranschläge162.

IV. Zusammenfassung und Thesen 1. Material adverse change (MAC)-Klauseln kommen aus den USA und sind heute im Finanz- und Übernahmerecht international Standard. Der Käufer bzw. Bieter sichert sich damit den Ausstieg aus dem Vertrag bzw. Übernahmeangebot für den Fall, dass bis zum closing bzw. Ende der Annahmefrist erhebliche negative Veränderungen eintreten. 2. Die Möglichkeiten der Ausgestaltung einer MAC-Klausel sind, da privatautonom, vielfältig. Die Unterschiede betreffen die rechtliche Einordnung (z. B. als Zusicherung oder Bedingung), die Risikoverteilung (MAC, carve out), die tatbestandlichen Voraussetzungen für den MAC-Fall (z. B. Kennzahlen, Schwellenwerte, zeitliche Schranken, Eintrittswahrscheinlichkeiten, Kausalitätsanforderungen) und die Rechtsfolgen (z. B. Anpassung, Rücktritt, Vertragsstrafe, Schadensersatz). 3. Bei Übernahmeangeboten ist die Interessenlage komplexer, betroffen sind außer dem Bieter und der Zielgesellschaft auch die Aktionäre der letzteren und der Kapitalmarkt. Dementsprechend ist der Gestaltungsspielraum rechtlich beschränkter. MAC-Klauseln sind typischerweise als Bedingungen für das Übernahmeangebot formuliert. Diese können erhebliche Verände-

__________ 158 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 19; näher oben II. 1. b), 3. 159 Übernahmeangebot Dritte BV GmbH/Schering AG v. 13.4.2006; Cleary Gottlieb (Fn. 2). B 20, B 22 mit weiteren Fällen. 160 Cleary Gottlieb (Fn. 2), B 22. Für Österreich Herbst, (ö)JBl. 2003, 693, 697 mit dem Problem der Genehmigung unter Auflagen. 161 Tax ruling, Beispiel für die Schweiz von Reutter (Fn. 1), S. 89, 193. 162 Picot/Duggal, DB 2003, 2635, 2639; Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 2), § 24 Rz. 79.

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rungen in den Verhältnissen der Zielgesellschaft (company oder target MAC-Klauseln), der Wirtschaft (economy oder market MAC-Klauseln) oder des Bieters selbst (bidder MAC-Klauseln) betreffen. 4. Rechtlich handelt es sich bei MAC-Klauseln in der Regel um eine vertraglich vereinbarte Geschäftsgrundlage, die nach Voraussetzungen, Inhalt und Beweislast von der gesetzlichen Regelung abweichen kann. Bei Übernahmeangeboten setzen § 18 Abs. 1 und 2 WpÜG und andere Bestimmungen des Übernahmerechts deutlich engere Schranken. 5. Nach § 18 Abs. 1 WpÜG dürfen der Bieter und die ihm zuzurechnenden Personen kein Ermessen bezüglich des Eintritts des MAC-Falls haben. Eine Ausnahme gilt für die Bedingung eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung des Bieters. Bei Verknüpfung des Angebots mit einem Paketerwerb durch den Bieter ist auch der Paketerwerbsvertrag an § 18 Abs. 1 WpÜG zu messen. § 18 Abs. 1 WpÜG greift auch ein, wenn der wirtschaftliche Bieter eine Zweckgesellschaft (special purpose vehicle) vorschiebt. Ein Ermessen der Zielgesellschaft in der MAC-Klausel verstößt nicht gegen § 18 WpÜG, aber darf nicht §§ 33 ff. WpÜG konterkarieren. 6. Eine wesentliche negative Veränderung liegt nicht vor, wenn die Tatsache bereits bilanziell berücksichtigt oder öffentlich bekannt gemacht worden ist. Für die Erheblichkeitsschwelle gibt es keine festen Grenzwerte, es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an. 7. Für MAC-Klauseln in Übernahmeangeboten gelten das Bestimmtheitsgebot und das Gebot der Klarheit (§ 11 Abs. 1 Satz 4 WpÜG) sowie das allgemeine Missbrauchsverbot. 8. Spätester relevanter Zeitpunkt für den Eintritt des MAC-Falls ist bei Unternehmenskäufen grundsätzlich das closing, bei Übernahmeangeboten das Ende der Annahmefrist nach § 16 Abs. 1 WpÜG. Eine Ausnahme gilt nach der Praxis der BaFin nur für den Kartellvorbehalt und auch dann nur für sechs Monate, es sei denn die MAC-Klausel enthalte ein Rücktrittsrecht für die Erwerber. Diese Ausnahmegrundsätze sind jedoch auf andere behördliche Genehmigungsverfahren auszudehnen. 9. Die praktischen Möglichkeiten und Grenzen von MAC-Klauseln in Übernahmeangeboten erschließen sich erst aus einer ausführlichen Kasuistik der company MAC-Klauseln und der economy MAC-Klauseln. Ihr Einsatz und ihre Ausgestaltung sind eine hohe Kunst der nationalen und internationalen Kautelarjurisprudenz bei der maßgeschneiderten Risikozuweisung zwischen den Beteiligten.

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Transnationales Handelsrecht: zur Normqualität der lex mercatoria Inhaltsübersicht I. Einleitung. Rechtsangleichung in der Diskussion 1. Die Idee der spontanen Rechtsvereinheitlichung 2. Wettbewerb der Rechte II. Lex mercatoria als deskriptiver Sammelbegriff 1. Nichtstaatliche Rechtsbildung (lex mercatoria i. e. S.) 2. Staatlich gesetztes transnationales Recht 3. Methodisch-praktische Verbindungen zwischen beiden Bereichen 4. Institutionelle Verbindungen III. Grenzen der Autonomie in historischer Sicht IV. Die normativen Eigenschaften der lex mercatoria 1. Maßgeblichkeit der Perspektive des staatlichen Rechts 2. Standardisierte Vertragspraxis; lex mercatoria als AGB

3. Transnationale Auslegungsgrundsätze 4. Insbesondere Handelsbrauch 5. Allgemeine Grundsätze des Vertragsrechts 6. Transnationales Gewohnheitsrecht? V. Lex mercatoria als zusammenhängendes Rechtsgebiet? 1. Rechtswissenschaftliche Erschließung der lex mercatoria 2. Dispositive und zwingende Geltung 3. Lex mercatoria als Vertragsstatut? VI. Zwingendes Recht und lex mercatoria 1. Materielles Vertragsrecht und Wirtschaftsrecht 2. Transnationales Recht und Schiedsgerichtsbarkeit 3. Transnationaler Ordre public VII. Zusammenfassung

I. Einleitung. Rechtsangleichung in der Diskussion 1. Die Idee der spontanen Rechtsvereinheitlichung Der globalisierte Handels- und Wirtschaftsverkehr verlangt nach einheitlichen Rechtsformen und ist eine Antriebskraft für ihre Ausbildung. Die internationalen Märkte können nur unter stabilen rechtlichen Rahmenbedingungen dauerhaft funktionieren, und deren Vereinheitlichung vermindert Risiken und senkt Transaktionskosten. Die Ergebnisse dieser Vereinheitlichung kann man – in Unterscheidung vom Völkerrecht – als transnationales Handels- und Wirtschaftsrecht bezeichnen. Daneben hat sich der historische Begriff der „lex mercatoria“ eingebürgert. Er verweist primär auf das faszinierende Phänomen der spontanen, nicht durch staatliche Gesetzgeber veranlassten, Vereinheitlichungen der Vertragspraxis des internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs. 705

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Der Begriff besitzt eine kreative begriffliche Unschärfe, welche die Phantasie der rechtswissenschaftlichen Arbeit beflügelt. Die Leistungsfähigkeit des Begriffs und die juristischen Eigenschaften der damit gemeinten Sache sind seit längerem und bis heute Gegenstand einer lebhaften internationalen Diskussion. Zu dieser Diskussion hat Karsten Schmidt, vielbeschäftigter Autor nicht nur des allgemeinen Zivilrechts nebst Insolvenzrechts, des Gesellschaftsrechts und des Kartellrechts, sondern auch des Handelsrechts, in einer knappen Problemskizze eine Zwischenbilanz gezogen unter dem attraktiven Titel mit drei rhetorischen Fragen: „Lex mercatoria. Allheilmittel? Rätsel? Chimäre?“1 Der folgende Beitrag scheint mir daher zur Ehrung eines um die deutsche Rechtswissenschaft besonders verdienten Kollegen und als Ausdruck kollegialer Verbundenheit geeignet. Der internationale Handels- und Wirtschaftsverkehrs wurde schon immer von Bemühungen zur Rechtsvereinheitlichung begleitet. Beispiele bietet der Gebrauch abstrakter kaufmännischer Verpflichtungspapiere und sowie des Wechsels, der das Clearing im überörtlichen Zahlungsverkehr ermöglichte, schon im Mittelalter2, oder die Verwendung des Akkreditivs im 19. Jahrhundert. Als die Bemühungen zur Vereinheitlichung des Handelsrechts sich im 20. Jahrhundert verstärkten und die Rechtswissenschaft und Rechtspolitik zunehmend beschäftigten, hat man auf historische Vorbilder im mittelalterlichen3 und frühneuzeitlichen4 teilautonomen Recht der Kaufmannnsgilden und Kaufmannsgerichte zurückgegriffen und die Ergebnisse namentlich der spontanen Vereinheitlichung im Vertragsrecht unter den historischen Begriff der lex mercatoria gestellt5.

__________ 1 In Murakami/Marutschke/Riesenhuber (Hrsg.), Globalisierung und Recht. Beiträge Deutschlands und Japans zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert, 2007, S. 153–176. 2 L. Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts, Bd. I 1891, Nachdruck 1957, S. 308, 383 ff., 446 f.; Pohlmann, in Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur zur neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I, 1973, S. 803 ff. 3 Zum Kaufmannrecht der spätmittelalterlichen Kaufmansgerichte L. Goldschmidt, (Fn. 2), S. 150 ff., 166 ff., 172; Horn, Aequitas in den Lehren des Baldus, 1968, S. 88 ff. 4 Benvenuto Stracca, De mercatura seu mercatore Tractatus, 1553; Scaccia, Tractatus de commerciis et cambio, 1618; Gerard Malynes, Consuetudo vel lex mercatoria or the ancient law-merchant, 1622. 5 Schmitthoff (ed.), The Sources of the Law of International Trade, 1964; Goldman, Lex mercatoria et frontières du droit, Archives de Philoophie du Droit vol. 9 (1964), 177– 192; Horn, Das Recht der internationalen Anleihen, 1972, § 19; Horn, The Use of Transnational Law in the Contract Law of International Trade and Finance, in Berger (ed.), The Practice of Transnational Law, 2001, S. 67 ff.; Horn, Entgrenzung des Rechts durch wirtschaftliche Globalisierung, in Brugger/Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP Beiheft Nr. 84, 2002, 179–200; Stein, Lex mercatoria, 1995; Berger, Formalisierte oder „schleichende“ Kodifizierung des transnationalen Wirtschaftsrechts 1996; Berger (ed.), The Practice of Transnational Law, 2001. Weitere Nachweise: CENTRAL, Transnational Law Digest and Bibliography, www.tldb.net.

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Zur Normqualität der lex mercatoria

Karsten Schmidt zeichnet insgesamt ein ausgewogenes und facettenreiches Bild der heutigen Diskussion und ihres verwickelten Gegenstandes, den er weder hypostasiert noch als Phänomen bagatellisiert oder hinwegdiskutiert. Dies alles verdient im Ganzen Zustimmung. Freilich geht es im Folgenden nicht um eine Rezension, sondern darum, den wissenschaftlichen Gesprächsfaden fortzuspinnen. Dabei ist Leitfrage die nach der normativen Qualität der lex mercatoria. Sie lässt sich, wie Karsten Schmidt mit Recht feststellt, nicht einfach mit einem Ja oder Nein beantworten, sondern führt mitten in den Prozess der Rechtsbildung und Rechtsanwendung im internationalen Wirtschaftsverkehr hinein. 2. Wettbewerb der Rechte Die Komplexität und Unübersichtlichkeit der Vereinheitlichungstendenzen im Handelsrecht beruht zum Teil darauf, dass auf transnationaler Ebene vielfältige Wettbewerbsprozesse ablaufen, die teils die Vereinheitlichung befördern, teils ihr zuwiderlaufen6. Zunächst gibt es Wettbewerb als Element von Optimierungsprozessen der Vertragsgestaltung. Nicht nur der Mustervertrag oder das Regelwerk setzen sich in der Praxis durch, die am bekanntesten oder vom zuständigen Wirtschaftsverband empfohlen sind, sondern der Vertrag oder die Klausel, die darüber hinaus weitere Gestaltungsvorteile versprechen. Daneben gibt es auch weniger wünschenswerten Verdrängungswettbewerb vor allem zugunsten des weltweiten anglo-amerikanischen Einflusses7. Hier können internationale Organisationen und Agenturen, die der Vereinheitlichung des Privatrechts dienen und auf völkerrechtlicher (UNCITRAL, Unidroit) oder auf privatrechtlicher Basis arbeiten (ICC), einen ausgleichenden Einfluss ausüben. Hinzu tritt auf dem Weltmarkt für juristische Dienstleistungen im internationalen Geschäft der Kampf um den angesehensten Finanzplatz oder Transaktionsplatz. Die Anwälte von New York und London und insbesondere ihre Finanzjuristen verkünden ungerührt i. S. einer Marketingstrategie für ihre eigenen Dienstleistungen, dass ihre Vertragstechnik z. B. für Unternehmenskäufe und Fusionen, Projektfinanzierungen und strukturierte Finanzprodukte die weltbesten rechtlichen Instrumente für diese Geschäfte biete und dass das Prädikat „international maßgebliches Vertragsrecht“ mit der Praxis von New York bzw. London gleichzusetzen sei, ganz abgesehen von den Vorzügen des

__________ 6 Horn, Enforcing International Commercial Debt, in Meesen (Hrsg.), Law as an Economic Good, 2009; Horn, Entgrenzung des Rechts durch wirtschaftliche Globalisierung (Fn. 5). 7 Die vordringende Vorherrschaft anglo-amerikanischer Gestaltungsformen ist oft beschrieben worden. Vgl. z. B. zu den Amerikanisierungstendenzen im Recht des Unternehmenskaufs krit. Merkt in FS Sandrock, 2000, S. 657 ff.

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Rechts und der Gerichte an diesen Plätzen8. Schließlich gibt es hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen des internationalen Handels und Finanzverkehrs den Wettbewerb der nationalen Gesetzgeber, die im öffentlichen Wirtschaftsrecht die Rahmenbedingungen der Märkte abstecken und um den Titel des besten, liberalsten, steuergünstigsten usw. nationalen Standorts wetteifern. Dieser Wettbewerb wird in der EG durch das Gemeinschaftsrecht gemildert, freilich um den Preis einer oft praxisfernen Regulierungswut Brüssels.

II. Lex mercatoria als deskriptiver Sammelbegriff Der Begriff der lex mercatoria verweist in seiner deskriptiven Funktion schlicht auf den Prozess der Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs, der sich auf vielen Wegen vollzieht. Man kann parallel dazu und größtenteils deckungsgleich auch den Begriff des transnationalen Handelsrechts verwenden, verstanden als Recht, das in mehreren (vielen) Staaten gleichermaßen gilt und sich auf grenzüberschreitenden privaten Wirtschaftsverkehr bezieht9. 1. Nichtstaatliche Rechtsbildung (lex mercatoria i. e. S.) Der Schwerpunkt des Begriffs der lex mercatoria und der entsprechenden wissenschaftlichen Aufmerksamkeit liegt bei derjenigen Bildung von Einheitsrecht, die sich außerhalb der staatlichen Rechtssetzung vollzieht. Dazu gehören als (nicht staatliche) Kodifizierungen der allgemein anwendbaren Grundsätze des Handelsvertragsrechts die Unidroit Principles von 1994 und 200410 sowie die Lando-Principles, die beide schon ein wenig eine Gesetzgeberrolle nachahmen. Daneben geht es um die in der internationalen Praxis allgemein verwendeten Vertragsklauseln und Vertragsregeln, wie die oft als Paradebeispiel zitierten, von der Internationalen Handelskammer formulierten und regelmäßig revidierten Incoterms11 und die Richtlinien über Akkreditive12.

__________ 8 Bei einer Vorlesung in Peking im Mai 2008 wurde ich nach meiner Darstellung der US-amerikanischen Sub-prime Krise 2007 durch den Einwand meiner Studenten überrascht, amerikanische Professoren hätten ihnen erst kürzlich dargelegt, durch computergestützte Untersuchungen sei nachgewiesen, dass das anglo-amerikanische Recht für Finanztransaktionen weltweit am besten geeignet sei. Offensichtlich wurde bei dieser Untersuchung das Potenzial des amerikanischen Rechts zur Auslösung weltweiter Finanzkrisen noch nicht miterfasst. 9 In loser Anlehnung an Jessup, Transnational Law, in Selected Readings in Protection by Law of Private Foreign Investment, ed. International and Comparative Law Center (Dallas), 1964, S. 1 ff. 10 UNIDROIT (Hrsg.), Principles of International Commercial Contracts, Rom 1994; Neufassung 2004. Zur Erstfassung Berger, The Creeping Codification of the Lex Mercatoria, 1999. 11 ICC (ed.), International Commercial Terms (Incoterms). Revision 2000, ICC Publication no. 560. 12 ICC Uniform Customs and Practices for Documentary Credits, ICC Publication no. 600 (UCP 600), Paris 2006.

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Andere Standardverträge und Standardklauseln, die sich eingebürgert haben, stammen von einflussreichen Branchenorganisationen, so die FIDIC-Formverträge für Bauleistungen13 und der Rahmenvertrag für Finanzgeschäfte der Europäischen Bankenvereinigung (EMA)14. Schließlich gehören zu diesem Bestand zahlreiche weitere gebräuchliche Standardverträge und -klauseln. Dieser Bestand an Grundsätzen, Regeln und Vertragsgestaltungsformen bildet nach einer verbreiteten Ansicht sogar allein die lex mercatoria (i. e. S.). Aber auch transnationale Verhaltensrichtlinien, sofern sie international verwendet bzw beachtet werden15, kann man wohl dazu rechnen. 2. Staatlich gesetztes transnationales Recht Karsten Schmidt versteht in Übereinstimmung mit einem Großteil der Literatur unter lex mercatoria nur das soeben beschriebene spontan entstehende Einheitsrecht und kritisert, ebenfalls in Übereinstimmung mit einem starken Meinungslager, dessen Lückenhaftigkeit und unklare Geltungsweise16. Versteht man die Begriffe lex mercatoria oder transnationales Handelsrecht als Sammelbegriff für staatenübergreifende Rechtsangleichung auf dem Gebiet des Handels- und Wirtschaftsverkehrs, ist es zweckmäßig, auch das durch völkerrechtliche Konventionen und ihre Transformation in nationale Rechte geschaffene, staatlich gesetzte Einheitsrecht dazu zu zählen. Dann sind auch die New Yorker Konvention über die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen von 1958, die sich als international vereinheitlichtes staatliches Verfahrensrecht darstellt, und die Wiener Kaufrechts-Konvention von 1980 (CISG) als materielles Privatrecht der Mitgliedstaaten lex mercatoria (i. w. S.). Sie sind jedenfalls und unstreitig transnationales Handelsrecht17, was schon im Auslegungsgebot von Art. 7 Abs. 1 CISG zum Ausdruck kommt, den internationalen Charakters des CISG zu berücksichtigen. 3. Methodisch-praktische Verbindungen zwischen beiden Bereichen Diese begriffliche Einbeziehung ist in der Sache begründet. Denn es bestehen zwischen den beiden Bereichen, einerseits dem spontan (nicht staatlich) gebildeten und andererseits dem staatlich gesetzten transnationalen Handelsrecht, enge funktionale und institutionelle Verbindungen. Die funktionale Verbindung wird deutlich in der Praxis der Rechtsanwendung. Die Auslegung und Anwendung des durch Konventionen begründeten, also staatlich gesetzten Einheitsrechts führt zur Berücksichtigung auch der zur lex mercatoria i. e. S. gerechneten allgemeinen Vertragsgrundsätze und Regeln von Treu und Glau-

__________ 13 Mallmann, Bau- und Anlagenbauverträge nach den FIDIC-Standardbedingungen, 2002. 14 Gillor, Der Rahmenvertrag für Finanzgeschäfte der Europäischen Bankenvereinigung (EMA). Wertpapierpensionsgeschäfte und Wertpapierdarlehen, 2005. 15 Horn (ed.), Codes of Conduct for Multinational Enterprises, 1980. 16 In Murakami/Marutschke/Riesenhuber (Fn. 1), S. 164 ff. mit brillanter Zusammenfassung des Meinungsstreits. 17 In diesem Sinn mein Beitrag „The Use of Transnational Law“ (Fn. 5), S. 67 ff., 68.

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ben. Wenn etwa das Einheitskaufrecht für die Auslegung des CISG die Rücksichtnahme auf dessen internationalen Charakter und die Wahrung von Treu und Glauben im internationalen Handel anordnet, so führt dies zur Berücksichtigung anationaler Grundsätze und Anschauungen, wie sie im Bereich der spontan gebildeten lex mercatoria anzutreffen sind18. Hinzu kommt das weitere Gebot, Lücken seien durch Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze, auf die das UN-Kaufrecht gründet, zu füllen (Art. 7 Abs. 2 CISG). Zu diesen werden auch die Unidroit Principles und die Lando-Principles gezählt19. Auf der Ebene der Vertragsauslegung sind die Handelsbräuche, die zwischen den Parteien anerkannt sind, zu berücksichtigen (Art. 8 Abs. 3, Art. 9 CISG); auch hier fließen Sätze der spontan gebildeten lex mercatoria (i. e. S.) ein, wie sie etwa von Schiedsgerichten allgemein verwendet oder von Gerichten anerkannt werden (dazu unter 4. c). 4. Institutionelle Verbindungen Bezeichnender Weise bedienen sich die mit der internationalen Rechtsvereinheitlichung befassten Agenturen, insbesondere die auf völkerrechtlicher Grundlage arbeitende UNCITRAL, zur Erfüllung ihrer Aufgabe sowohl der Förderung der staatlichen Rechtsetzung als auch der Vereinheitlichung der privatvertraglichen Praxis. Die Instrumente von UNCITRAL zur Vereinheitlichung sind sowohl die völkerrechtliche Konvention wie das UN-Kaufrecht (CISG) und daneben das Modellgesetz, z. B. das (einflussreiche) UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration, als auch privat zu vereinbarende Musterbedingungen wie z. B. die UNCITRAL Arbitration Rules. Die beachtlichen Beiträge zur partiellen oder punktuellen Rechtsvereinheitlichung namentlich durch UNCITRAL machen zugleich die Grenzen der Möglichkeiten der staatlich getragenen Rechtsvereinheitlichung bewusst und zeigen die Notwendigkeit, die Vereinheitlichung der privatvertraglichen Praxis auch außerhalb staatlich gesetzten Rechts voranzutreiben, wie dies auch in erfolgreicher Weise durch die Unidroit-Principles geschieht.

III. Grenzen der Autonomie in historischer Sicht Für die theoretisch reizvolle, vielleicht praktisch nicht ganz so dringliche Frage, in welchem Sinn man von die lex mercatoria als von einem „autonomen“ Recht sprechen kann, ist wiederum der historische Rückblick auf die alte lex mercatoria hilfreich. Schon hier ist gesetztes, statutarisches Recht und daneben nicht kodifiziertes „spontanes“ Recht der Geschäftsformen und Vertragsgrundsätze, die aber von den Kaufmannsgerichten anerkannt wurden (z. B. Wechsel, Klagbarkeit formfreier Verträge, Vertragszinsen)20, zu unter-

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18 Einzelheiten unter IV.3–6. 19 Magnus in Staudinger, Wiener UN-Kaufrecht (CISG), Neubearb. 2005, Art. 7 CISG Rz. 14 m. Nachw.; Rosett, 46 Am. J. Comp. L. 347 (1998). 20 J. Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts I, 1891, Neudruck 1957; Horn, Aequitas (Fn. 3), S. 88 f., 182 ff., 191 ff.

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scheiden, aber zugleich als Einheit zu sehen. Die Anerkennung der korporativen Zusammenschlüsse (Bruderschaften, Zünfte) der Gewerbetreibenden und Kaufleute und ihrer eigenen Statuten sowie ihrer eigenen Gerichtsbarkeit (consules, curia mercatorum) ist Ausdruck der andersartigen und geringeren Ausbildung von Staatlichkeit und der stärkeren Bedeutung engerer Rechtsgemeinschaften. Aber ist es nicht heute ähnlich? Der heutige internationale Wirtschaftsverkehr bildet seine eigenen rechtlichen Geschäftsformen und die Wirtschaftsverbände entwickeln dazu Regelwerke und Musterverträge; im Streitfall entscheiden internationale Handelsschiedsgerichte. Beides vollzieht sich oft fern von staatlicher Einflussnahme. Betrachtet man das historische Beispiel etwas näher, werden die Bedingungen und Grenzen der damaligen Autonomie deutlich, die wir auch heute bedenken müssen. Auch das Kaufmannsrecht des hohen Mittelalters und der frühen Neuzeit lebte nicht in einer vollständig eigenen Welt. Das Verhältnis zum staatlichen (genauer: städtischen und territorialen) Recht musste in der Sicht der damals praktizierenden Juristen geklärt werden. So war es streitig, ob die Kaufmannsstatuten in den oberitalienischen Städten und anderswo auch von den staatlichen (städtischen) Gerichten anzuerkennen und anzuwenden seien. Die maßgebliche Rechtsquelle der Zeit, die Glossa ordinaria des Accursius aus dem 13. Jahrhundert, verneinte dies. Der im nächsten Jahrhundert lebende Jurist Baldus (1327–1400), der sich selbst als Fachmann des Handelsrechts bezeichnen konnte, bejahte es, falls nicht die fraglichen Kaufmannsstatuten selbst die Anwendbarkeit auf die Kaufmannsgerichte beschränkten21. Die Sache wurde insgesamt nach den kollisionsrechtlichen Regeln der Statutentheorie behandelt22, wobei die Kaufmannsstatuten ihren Platz als personal begrenzte Rechtsquelle neben den Statuten der Städte und Territorien behaupteten. Aber zur Begründung des autonomen Handelsrechts greift Baldus zugleich auf das „ius gentium“ im alten römischrechtlichen Sinn zurück23. Im antiken römischen Recht war dieser Begriff nicht auf den modernen Begriff des Völkerrechts als des Rechts der souveränen Staaten und von ihnen gebildeten zwischenstaatlichen Organisationen beschränkt, sondern bezeichnete das allgemeine (transnationale) Verkehrsrecht der Bürger und Fremden, sozusagen einen gemeinsamen Hintergrund allgemeiner Rechtsgrundsätze und Billigkeitsgrundsätze. Rechtsquellentechnisch waren Sätze des ius gentium natürlich Sätze des römischen Rechts, aber solche mit besonderer Dignität und der Vermutung, dass sie überall Anwendung finden könnten. Das bewog den für Fremdenrecht zuständigen praetor peregrinus im antiken Rom dazu, diese Sätze auf Streitigkeiten mit und zwischen Fremden in Rom anzuwenden. In

__________ 21 Horn, Aequitas (Fn. 3), S. 89 f. 22 Führender Jurist der Statutentheorie war Bartolus (1313–1357), Lehrer des Baldus. Zu seiner Bedeutung für die Entwicklung der Statutentheorie C. Neumeyer, Die gemeinrechtliche Entwicklung des Internationalen Privat- und Strafrechts bis Bartolus, 1901. 23 Horn, Aequitas (Fn. 3), S. 91.

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dieser transnationalen Funktion fanden die mittelalterlichen Juristen die als ius gentium bezeichneten Sätze des römischen Rechts in den von ihnen bearbeiteten römischen Quellentexten vor. Damit haben wir zwei Aspekte der lex mercatoria, auf die wir auch heute stoßen, wenn wir uns mit ihr beschäftigen: (1) die Notwendigkeit, ihr Verhältnis zum allgemeinen („staatlichen“) Recht zu bestimmen, und (2) die Vorstellung, letztlicher Geltungsgrund der lex mercatoria seien allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze.

IV. Die normativen Eigenschaften der lex mercatoria 1. Maßgeblichkeit der Perspektive des staatlichen Rechts Die beiden vorgenannten Fragen sind vom Standpunkt des geltenden staatlichen Rechts und seiner Rechtsquellendogmatik aus zu bestimmen. Davon geht auch Karsten Schmidt aus24. Zwar hat man im Hinblick auf die lex mercatoria i. e. S., verstanden als nichtstaatlich entstandenes Recht (oben 2 a), geltend gemacht, dass zahlreiche Rechtsfragen des internationalen Handels und Wirtschaftsverkehrs nur in den beteiligten Wirtschaftskreisen zirkulieren und verhandelt werden und dass die Befolgung der dabei verwendeten normativen Sätze meist ohne eine Befassung irgendeines staatlichen Gerichts erfolgt25. Das mag so sein, und in diesen Fällen ist natürlich die Frage nach der Normqualität vom Standpunkt des staatlichen Rechts müßig, es sei denn, es würden die Grenzen des Strafrechts oder allgemein des ordre public überschritten. Insofern besteht aber kein Unterschied zur ganz überwiegenden Zahl der innerstaatlichen Handels- und Wirtschaftsrechtsfälle, die ohne Rechtsstreit zwischen den Parteien abgewickelt werden. Ein Interesse an der Normqualität der lex mercatoria besteht nur in Fällen, in denen Rechtsfolgen daraus innerhalb der staatlichen Rechtsordnung entstehen und ggf. ein Eingreifen staatlicher Organe eingefordert werden kann, weil die nach lex mercatoria begründeten Rechte staatlich geschützt und ggf. durch staatliche Organe vollstreckt werden sollen. Hier kann die Geltungsweise der lex mercatoria nur aus der Perspektive des staatlichen Rechts beurteilt werden. 2. Standardisierte Vertragspraxis; lex mercatoria als AGB Die Haupterscheinungsformen der lex mercatoria i. e. S. sind standardisiertes Vertragsrecht in Gestalt von Musterverträgen oder sonst tatsächlich in der Praxis stereotyp verwendeten Standardvertragen und -klauseln sowie allgemeinen Vertragsregeln. Sie erlangen eine rechtliche Geltung im Einzelfall jedenfalls als Vertragsinhalt, also wenn sie von den Vertragsparteien in einen konkreten Vertrag einbezogen werden, wie dies bei AGB der Fall ist. Voraus-

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24 In Murakami/Marutschke/Riesenhuber (Fn. 1), S. 170 ff. und passim. 25 Lew, Achieving a Dream. Autonomous Arbitration, Arb. Int. 22/2 (2006), S. 179 ff.; Stein, Lex mercatoria. Realität und Theorie, 1995; Teubner (Hrsg.), Global Law without a State, 1997; De Ly, De Lex mercatoria, 1989.

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setzung dafür ist, dass die staatliche Rechtsordnung, sofern sie mit dem Fall befasst wird, diesen Gebrauch der Privatautonomie anerkennt26. Für Musterverträge und Standardklauseln (z. B. Incoterms) ist dies selbstverständlich. Aber auch für weit verbreitete und anerkannte Regelwerke wie die ICC Einheitlichen Regeln und Gebräuche für Dokumentenakkreditive wird nach deren Art. 1 ausdrückliche Bezugnahme im Vertrag gefordert. Die allgemeinen Vertragsgrundsätze von Unidroit verordnen ebenfalls eine ausdrückliche Bezugnahme. Lex mercatoria ist insoweit nur ein deskriptiver Hinweis auf die faktische Vereinheitlichung. 3. Transnationale Auslegungsgrundsätze Eine normative Qualität enthalten die Standardverträge, -klauseln (z. B. Incoterms) und -begriffe sowie Regelwerke (z. B. UCP 600) dann, wenn sie als Auslegungsgrundsätze, auch der ergänzenden Vertragsauslegung, in Fällen herangezogen werden, in denen die Parteien nicht (ausdrücklich) auf sie Bezug genommen haben. Sie haben dann die (abgeleitete) normative Qualität, die Auslegungskriterien vermittels gesetzlicher Auslegungsgebote zukommt. Hinzu tritt die Besonderheit, dass diese Auslegungsmaßstäbe in Gestalt von Musterverträgen und -klauseln oder Regelwerken selbst schon rechtlich vorgeprägt sind. Wer etwa im Vertrag bestimmte Formulierungen verwendet, die mit Standardverträgen, -klauseln und -begriffen übereinstimmen, kann und muss damit rechnen, dass diese und die ihnen allgemein beigelegte Bedeutung jedenfalls in Zweifelsfällen zur Klärung des Vertragsinhalts herangezogen werden. Diese Vorstellung liegt auch Art. 9 Abs. 2 CISG zugrunde, der eine stillschweigende Bezugnahme der Parteien auf Gebräuche, die im internationalen Handel weithin bekannt sind und beachtet werden, anordnet. Dieser Grundsatz ist aber auch außerhalb des UN-Kaufrechts anzuwenden Die einzelnen Incoterms etwa sind im ICC-Regelwerk von ausführlichen Erklärungen ihrer Bedeutung und Rechtsfolgen umgeben. Werden die Klauseln gebraucht, ohne dass auf das ICC-Regelwerk Bezug genommen wird, so dass dieses formal nicht Vertragsinhalt ist, kann es gleichwohl mangels entgegenstehender Hinweise im Vertrag zur Auslegung herangezogen werden, auch zu einer ergänzenden Auslegung. 4. Insbesondere Handelsbrauch In manchen Fällen lassen sich übliche und weithin gebrauchte Standardverträge, -klauseln und -begriffe oder Regelwerke als Handelsbrauch qualifizieren. Es handelt sich dann um allgemeine, vom Verkehr allgemein anerkannte Auslegungsmaßstäbe. Die Berücksichtigung von Handelsbrauch ist sowohl nach nationalen Rechten (vgl. § 346 HGB) vorgeschrieben als auch, wie bereits erwähnt, in staatlich gesetztem Einheitsrecht (z. B. in Art. 8 Abs. 3 und Art. 9 CISG) geboten. Dieses Gebot ist allgemein anerkannter Bestandteil der Auslegung von Verträgen im internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehr.

__________ 26 Zu den durch zwingendes Recht gezogenen Grenzen unten VI.

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Allerdings erfüllen viele Standardverträge und Regelwerke nicht ohne weiteres die Voraussetzungen des Handelsbrauchs und seines Nachweises etwa nach deutschem Handelsrecht. Für die weltweit verbreiteten UCP 600 für Akkredititive ist dies im Einzelnen umstritten27, einmal wegen der häufigen Revisionen, zum andern wegen des Konkurrenzregelwerks der ICC über Standby letters, das auf amerikanischen Druck hin geschaffen wurde, und schließlich auch deshalb, weil man den UCP seit jeher eine gewisse Bankenfreundlichkeit nachsagt, die freilich funktional durchaus begründet werden kann. Deutsche Gerichte, die mehr als Gerichte im common law zur Korrektur von Vertragsinhalten neigen, ziehen im Zweifel die Charakterisierung als bloße AGB vor, auch weil die Qualifizierung als Handelsbrauch ihnen eine weitere Inhaltskontrolle abschneiden könnte28. Allerdings ist der etwa im UN-Kaufrecht (Art. 8 Abs. 3 und Art. 9 CISG) verwendete Begriff des „Brauchs“ oder Handelsbrauchs erheblich weiter als der im HGB zugrunde gelegte Begriff. Als Auslegungshilfe geeignet sind nach CISG alle Gebräuche, mit denen die Parteien sich einverstanden erklärt haben sowie alle Gepflogenheiten, die zwischen ihnen entstanden sind (Art. 9 Abs. 1 CISG); ferner wird angenommen, dass sich die Parteien bei Vertragsschluss stillschweigend auf Gebräuche bezogen haben, die sie kannten oder kennen mussten (Art. 9 Abs. 2 CISG). Hier ist Brauch nicht nur ein objektiver, vom Verkehr allgemein anerkannter Maßstab; vielmehr gehören auch von den Parteien vereinbarten oder sonst zwischen ihnen entwickelten Maßstäbe dazu. Ferner wird nicht nur internationaler Handelsbrauch angesprochen, wie er als Element der lex mercatoria in Betracht kommt; relevant sind auch nationale oder lokale Gebräuche. Es geht also in Art. 9 CISG allgemeiner um Auslegungsmaßstäbe verschiedener Qualität. Handelsbrauch ist nur ein Maßstab unter mehreren, internationaler Handelsbrauch nur ein Unterfall des Handelsbrauchs. Immerhin kann internationaler Handelsbrauch als verobjektivierter Auslegungsmaßstab eine generelle normative Qualität erhalten, die über diejenige vereinzelter fallbezogener Auslegungsumstände hinausgeht. Aber auch solche Klausel- und Regelwerke, die im internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehr zwar verwendet werden, aber noch nicht als Handelsbrauch zu qualifizieren sind, können eine generelle normative Wirkung im oben (IV.3.) erörterten Sinn als Auslegungsmaßstab aufgrund der entsprechenden Auslegungsgebote (Art. 9 CISG) und letztlich aufgrund des Gebots der Wahrung von Treu und Glauben entfalten. Anders gesagt, die Unterscheidung von Handelsbrauch und Nichthandelsbrauch ist nur von gradueller Bedeutung.

__________ 27 Heymann/Horn, Handelsgesetzbuch Bd. 4, 2005, Anh. § 372 HGB Bankgeschäfte Rz. VI/25. 28 Es handelt sich eher um ein semantisches Problem. Bei der Feststellung von Handelsbrauch findet nämlich vorweg ebenfalls eine richterliche Kontrolle statt, ob dieser Handelsbrauch Treu und Glauben entspricht; erst dann ist er der weiteren Inhaltskontrolle nach AGB-Recht entzogen; Heymann/Horn (Fn. 27), § 346 HGB Rz. 25.

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5. Allgemeine Grundsätze des Vertragsrechts Mit der (außerhalb staatlicher Rechtssetzung erfolgten) Kodifizierung der allgemeinen Vertragsgrundsätze durch Unidroit und die Lando-Kommission ist das allgemeine Interesse an diesen Rechtsgrundsätzen belebt und der Nachweis ihrer Konkretisierbarkeit geführt worden. Hinsichtlich ihrer normtheoretischen Qualität sind wiederum drei Aspekte zu unterscheiden. (1) Sie gelten ähnlich AGB, wenn sie in den Vertrag ausdrücklich einbezogen werden. Ob sie darüber hinaus in solchen Fällen die (alleinige) Rolle der lex contractus übernehmen können, ist noch gesondert zu besprechen (unten V. 3). (2) Sie können mangels ausdrücklicher Einbeziehung als Auslegungsmaßstäbe herangezogen werden. Wenn Art. 7 Abs. 2 CISG zur Gesetzesauslegung auch die allgemeinen Grundsätze, die dem Übereinkommen zugrunde liegt, für maßgeblich erklärt, so kommen dafür, wie (oben II. 3.) bemerkt, auch diese Vertragsgrundsätze in Betracht. Vorrangig von Bedeutung für die Anwendung des CISG sind freilich die in ihm selbst beschlossenen Grundsätze, die bei seiner Auslegung in der Rechtsprechung und Schiedsrechtsprechung hervortreten (unten V. 1.). (3) Schließlich können die Principles oder ein Kernbestand davon mit der Zeit ggf zum Gewohnheitsrecht erstarken (i.F. unter 6.) oder jedenfalls, unter einem kollisionsrechtlichen Gesichtspunkt betrachtet, Teil der transnationalen Ordre public werden (unten VI. 3.). 6. Transnationales Gewohnheitsrecht? Die wirtschaftliche und informationstechnische Globalisierung weist uns darauf hin, dass wir uns im Prozess einer werdenden Weltgesellschaft befinden. Ziemlich unstreitig ist aber auch, dass der weitgespannte und vage Begriff der „Weltgesellschaft“ derzeit nicht als Bezugspunkt für die Ausbildung von Handelsgewohnheitsrecht in Betracht kommt, weil er die Kriterien der Rechtsgemeinschaft i. S. der Rechtsquellenlehre vom Gewohnheitsrecht jedenfalls im Hinblick auf Handels- und Wirtschaftsrecht nicht erfüllt. Das „umfassende Weltgewohnheitsrecht“, das Karsten Schmidt (durchaus in kritischer Absicht) als Voraussetzung für die Rechtswahltauglichkeit der lex mercatoria fordert29, ist noch nicht greifbar. Denkbar ist es, die für die Bildung von Gewohnheitsrecht vorausgesetzte Rechtsgemeinschaft in den Marktteilnehmern bestimmter Märkte zu suchen, die man nach Branchen und ggf. nach Regionen abgrenzt. Werden hier Standardverträge, -klauseln und –begriffe oder anerkannte Regelwerke gebraucht, haben diese, wie erörtert, den Rang von AGB; andernfalls können sie sich zu Maßstäben für die Auslegung entwickelt haben. Ein Bewusstsein der Marktteilnehmer und ihrer Juristen, mit einer autonomen

__________ 29 In Murakami/Marutschke/Riesenhuber (Fn. 1), S. 175 These 17. Zur Tauglichkeit der lex mercatoria als lex contractus i.F. unter V.3.

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Rechtsquelle zu arbeiten, ist aber nicht zu erkennen30. Die de facto weithin standardisierte internationale Vertragspraxis agiert ganz vorwiegend bewusstseinsmäßig im Flickenteppich der nationalen Rechtsordnungen. Daneben ist hinsichtlich der Annahme bereits existierenden transnationalen Handelsgewohnheitsrechts eine gewisse Zurückhaltung angebracht. Seine Bildung in Zukunft ist freilich eher zu erwarten. Dabei können die erörterten Unidroit und Lando Principles eine wichtige Rolle übernehmen. Aber vielleicht ist die Frage anders zu stellen. Es ist doch so, dass es nicht nur das Faktum der Vereinheitlichung der Vertragspraxis und das Bewusstsein davon gibt, was beides für die Annahme von Gewohnheitsrecht noch nicht ausreichen mag, schon weil an der Vorstellung der nationalstaatlichen Grundlage des Privatrechts festgehalten wird. Aber gleichzeitig existiert schon heute ein Bestand von gemeinsamen Rechtsgrundsätzen (nach Überzeugung der Gerichte, Regierungen, Wissenschaft und z. T. wohl auch der Marktteilnehmer) im Hinblick auf den internationalen Wirtschaftsverkehr, sozusagen als Hintergrund zum Flickenteppich der staatlichen Privatrechte. Er speist sich aus vielen Quellen und taucht innerhalb der Kategorien der staatlichen Kollisionsrechts vor allem als internationaler oder transnationaler Ordre public auf. Darauf ist noch (unten VI. 3.) einzugehen. Zu diesem Bestand gehören auch Sätze des Völkergewohnheitsrechts über die Schadensersatzpflicht von Staaten gegenüber privaten Investoren, die aufgrund (völkervertragsrechtlich begründeter) Investitionsschutzverträge zu einklagbaren transnationalen Ansprüchen gegen Gaststaaten führt31. So sind bei Verletzung der in diesen Verträgen begründeten Rechte der Investoren (treaty claims) hinsichtlich der Entschädigungsfragen auch die von der International Law Commission erarbeiteten Grundsätze über Staatenverantwortlichkeit relevant, die als Wiedergabe von Völkergewohnheitsrecht betrachtet werden32.

V. Lex mercatoria als zusammenhängendes Rechtsgebiet? 1. Rechtswissenschaftliche Erschließung der lex mercatoria Die häufig gestellte Frage, ob die lex mercatoria über die Beschreibung der spontanen, aber eher punktuellen Bildung vereinheitlichter Vertragsgestaltung hinaus ein kohärentes Rechtsgebiet darstellt, hat durch die Veröffentlichung der Unidroit Principles und der Lando-Principles und ihre Verwendung in der

__________ 30 Dies stimmt mit empirischen Studien zur internationalen Vertragspraxis von Wirtschaftsjuristen in Deutschland und anderen europäischen Ländern überein. K. P. Berger (Hrsg.), The Practice of Transnational Law (Documentation), 2000. Vgl. auch Horn, Entgrenzung (Fn. 4), S. 189. 31 Zu diesen Verträgen allg. Horn (ed.), Arbitrating Foreign Investment Disputes, 2004. 32 Und zwar unter dem doppelten Gesichtspunkt der Entschädigungspflicht und ihrer möglichen Suspension durch Staatsnotstand; dazu Schill, SchiedsVZ 2007, 178 ff.; Horn, Zwingendes Recht in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2008, 209 ff.; zum Suspensiveffekt des Staatsnotstandes im Fall der argentinischen Staatsanleihen verneinend BVerfG, NJW 2007, 2007 ff.

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Vertragspraxis in gewisser Weise eine positive Teilantwort erhalten. Zur Erarbeitung dieser Vertragsgrundätze haben erhebliche Anstrengungen der Rechtswissenschaft beigetragen, ähnlich wie dies für die jahrzehntelangen Vorarbeiten zum gesetzten transnationalen Recht, insbesondere zum Wiener UN-Kaufrecht, zutrifft. Zu den genannten Vertragsgrundsätzen hinzu kommen Bemühungen um die Erfassung weiterer Grundsätze der lex mercatoria auf empirischer Grundlage33. Die lex mercatoria als zusammenhängendes Rechtsgebiet tritt noch deutlicher erkennbar hervor, wenn man neben der spontan (nicht staatlich) entstandenenentwickelter lex mercatoria das staatlich gesetzte transnationale Einheitsrecht hinzunimmt und beide als Teile des einen transnationalen Handelsrechts zusammen sieht, wie (oben II. 3.) dargelegt. Die Rechtswissenschaft bearbeitet gleichermaßen beide Bereiche. Sie erfasst die im staatlich gesetzten Einheitsrecht, z. B. dem CISG, beschlossenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, auf die Art. 7 Abs. 2 CISG verweist und die bei seiner Auslegung und Anwendung hervortreten34. Die einschlägige Rechtsprechung wird von UNCITRAL mit Hilfe eines Netzwerks nationaler Korrespondenten erfasst und berichtet („CLOUT“) und in einem Digest zusammenfasst. In gleicher Weise geht UNCITRAL mit der Gerichtspraxis zum Modellgesetz über Schiedsgerichtbarkeit vor35. Zur Auslegung des CISG können aber auch die Unidroit Principles und Lando Principles beitragen, wie bereits (oben II. 3.) bemerkt. Der Förderung einer transnational orientierten Betrachtungsweise in der Rechtswissenschaft wie in der Arbeit der Institutionen (UNCITRAL) parallel lässt sich auch in der Rechtsprechung, etwa zum CISG, eine transnationale Betraschtung feststellen. Die deutsche Rechtsprechung zum CISG suchte von Anfang an dem Gebot der Auslegung i. S. einer internationalen Einheitlichkeit (Art. 7 Abs. 1 CISG) zu folgen. Eher bemerkenswert ist es, wenn ein US District Court in der Auslegung des CISG eine Entscheidung des BGH zitiert36. Zu den spontanen vertragsrechtlichen Rechtsentwicklungen gehört neben den bereits erwähnten Beispielen Akkreditiv, FIDIC-Verträge und Incoterms auch die transnationale Angleichung der Bankgarantie und verwandter Sicherungsformen in der internationalen Vertragspraxis. Diese Entwicklung zusammen

__________ 33 Berger (Hrsg.), Transnational Law in Commercial Legal Practice, The CENTRAL-List of Principles, Rules and Standards of the lex mercatoria, 1999, S. 121 ff., 146 ff. 34 Vgl. den Überblick bei Magnus in Staudinger (Fn. 19), Wiener UN-Kaufrecht 2005, Art. 7 CISG Rz. 40–57. 35 Als Beispiel der rechtsvergleichenden Verarbeitung von Rechtsprechung zum UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration vgl. Horn, The Arbitration Agreement in Light of Case Law of the UNCITRAL Model Law (Art. 7 and Art. 8), Int. Arb. L. R. 10/2005, 146–152. 36 Medical Marketing International, Inc. v. Internazionale Medico Scientifica, S. r. l., US District Court, Eastern District of Louisiana, 17 May 1999, Docket No.99-0380 Section K(1). Allerdings waren bis vor kurzem die US-amerikanischen Gerichte mit der Anwendung des CISG eher zurückhaltend; zum Ganzen Horn, The Use of Transnational Law (Fn. 5), S. 70–73. Die genannte Zurückhaltung scheint sich in jüngster Zeit im Rückgang begriffen; dazu demnächst eine Untersuchung meines Schülers Hennecke.

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mit dem Bedarf zur Lösung praktischer Rechtsfragen (Missbrauchsfälle) hat aufgrund rechtsvergleichender Vorarbeiten37 zu einem Konventionsentwurf von UNCITRAL geführt38. Der Konventionsentwurf stieß auf Bedenken der Bankwirtschaft, stellte aber sozusagen den erreichten, von Interessengruppen unbeeinflussten transnationalen Meinungsstand zum Problem dar. Die Bankgarantie als international allgemein gebräuchliche Rechtsform entwickelt sich auf der Basis einer breiten Rechtsprechung weiter, die heute in umfangreicher rechtsvergleichender Betrachtung verarbeitet wird39. Auch dieser bedeutsame Gegenstand spontaner transnationaler Rechtsentwicklung zeigt zugleich seine fortbestehende Verwobenheit mit der Vielfalt der nationalen Privatrechte und ihrer Rechtsprechung. 2. Dispositive und zwingende Geltung Soweit die als „lex mercatoria“ bezeichneten Vertragsgestaltungsmuster und Grundsätze mangels ausdrücklicher Bezugnahme der Vertragsparteien in der (oben IV. 3.-5.) erörterten Weise als Auslegungskriterien (einschließlich Handelsbrauch) verwendet werden, ist ihre Wirkung im Vertragsrecht derjenigen von dispositivem Gesetzesrecht durchaus ähnlich. Die Parteien können davon abweichen; aber im Zweifel dient lex mercatoria der Ermittlung des von den Parteien gemeinsam Gewollten und Vereinbarten sowie der Ausfüllung von Vertragslücken. Eine darüber hinausgehende zwingende Wirkung, die also den Willen der Vertragsparteien begrenzt, können Sätze der lex mercatoria insoweit entfalten, als sie sich als nicht umgehbare Gebote von Treu und Glauben darstellen. Man muss zwar mit diesem Begriff in internationalen Rechtsbeziehungen etwas zurückhaltender umgehen, als wir dies von der innerdeutschen Rechtspraxis gewohnt sind40. Aber dies ändert nichts daran, dass fundamentale Grundsätze von Treu und Glauben die Gesetzesauslegung beherrschen und damit (auf dem Weg über die Anwendung des CISG auf den konkreten Vertrag) sich auch gegen den Parteiwillen durchsetzen können. Insofern ist ein Kernbereich zwingenden Vertragsrechts auch in den allgemeinen Vertragsgrundsätzen enthalten. Dieser Bestand zwingenden Vertragsrechts ist dem Bereich des transnationalen Ordre public zuzurechnen (dazu unten VI.).

__________ 37 Vgl. z. B. Horn/Wymeersch, Bank Guarantees, Standby Letters of Credit and Performance Bonds in International Trade, 1990. 38 UN Convention on Independent Guarantees, 1995, G. A. Res. 50/48; dazu Horn, RIW 1997, 717 ff. 39 Bertrams, Bank Guarantees in International Trade, 3. Aufl. 2004. 40 Zum zurückhaltenden Gebrauch des Maßstabs von Treu und Glauben im Rahmen von Art. 7 CISG Magnus in Staudinger (Fn. 19), Wiener UN-Kaufrecht Art. 7 CISG Rz. 25.

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3. Lex mercatoria als Vertragsstatut? In der internationalen Vertragspraxis begegnen einzelne Verträge, die für die Auslegung nur auf die Unidroit Principles oder die lex mercatoria bzw. international übliche Rechtsgrundsätze des internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs verweisen. Bisweilen wird dabei die Anwendung eines jeglichen nationalen Privatrechts ausdrücklich ausgeschlossen; die Verträge sollen also nur den erstgenannten Regelwerken oder Regelbereichen unterstehen. In der letztgenannten Variante behandeln die Parteien die lex mercatoria oder sonstwie bezeichneten Regelbereiche (Unidroit Principles) als lex contractus im kollisionsrechtlichen Sinn, stellen sie also auf eine Stufe neben die nationalen Rechte. Diesen Status hatten mancherorts die mittelalterlichen Kaufmannsstatuten in der legistischen Statutentheorie erreicht (oben III.). Ob dies auch schon für die heutige lex mercatoria gilt, ist zweifelhaft. Der von jeder nationalen Rechtsordnung losgelöste und in diesem Sinn „rechtsordnungslose“ Vertrag zwischen Privatparteien unterschiedlicher Nationalität41 stößt noch immer auf das Bedenken, dass der Vertrag zwischen Privaten zu seiner Wirksamkeit der Verankerung in einem nationalen Recht bedarf, das zugleich sozusagen der Garant für den Schutz der Privat- und Parteiautonomie ist42. Auch Karsten Schmidt schließt sich diesen Einwänden an43. Dieser Einwand mag in Zukunft an Gewicht verlieren und die Rechtsüberzeugung, dass die Grundsätze der lex mercatoria eine ausreichende Geltungsbasis für Privatverträge und Gegenstand einer kollisionsrechtlichen Verweisung sei, mag sich durchsetzen44. Das naheliegende Risiko, dass derzeit ein Gericht noch die Loslösung eines Vertrags zwischen Privaten von jedem nationalen Recht für unwirksam hält, wird dadurch verringert, dass der Richter oder Schiedsrichter den Willen der Parteien ermittelt, ob diese bei Vertragsschluss die Anwendung eines nationalen Rechts notfalls in Kauf genommen hätten, falls die Ausschließung allen staatlichen Privatrechts nicht als gültig anerkannt wird, oder ob sie für diesen Fall lieber die Unwirksamkeit des Vertrages wollten, was ganz unwahrscheinlich ist. Im ersteren Fall kann das Gericht oder Schiedsgericht das Vertragstatut objektiv an ein nationales Recht anknüpfen45. Die Bezugnahme auf die lex mercatoria, auf die Unidroit Principles oder sonst internationale Rechtsgrundsätze kann dann als materielle Verweisung aufrechterhalten werden46. Ein weiterer Einwand gegen die Bezugnahme auf lex mercatoria geht dahin, dass es sich nicht um eine präzise und leicht zu ermittelnde Rechtsordnung

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41 Anders der internationale wirtschaftliche Vertrag, an dem mindest ein Völkerrechtssubjekt beteiligt ist; Heymann/Horn (Fn. 27), Vor § 343 HGB Rz. 108 m. Nachw. 42 Bonell, RabelsZ 42 (1978) 485, 494 ff.; Schröder/Wenner, Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 1998, Rz. 116 ff.; Heymann/Horn (Fn. 27), Vor § 343 HGB Rz. 110. 43 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 175 These 16 und 17. 44 In diesem Sinne Berger, The New Law Merchant, in Berger, The Practice of Transnational Law 2001, S. 1 ff. 45 Heymann/Horn (Fn. 27), Vor § 343 HGB Rz. 110. 46 Horn, Recht der internationalen Anleihen, 1972, S. 496; Heymann/Horn (Fn. 27), Vor § 343 HGB Rz. 110. So wohl auch Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 175 These 16.

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handele47. Dieser Einwand verliert allerdings durch die neuere Entwicklung, insbesondere bei Verwendung der Unidroit Principles, an Gewicht. Er ist außerdem dann unproblematisch, wenn man, wie erörtert, (derzeit noch) nur mit der Annahme einer materiellrechtlichen Verweisung arbeitet, so dass für alle offenen Fragen das (nolens volens) hilfsweise anwendbare nationale Privatrecht eingreifen kann, das durch objektive Anknüpfung ermittelt wird.

VI. Zwingendes Recht und lex mercatoria 1. Materielles Vertragsrecht und Wirtschaftsrecht Zwingendes Recht ist seinem Begriff nach der Parteidisposition entzogen und begrenzt die Vertragsautonomie. Die Teilnehmer am internationalen Handelsund Wirtschaftsverkehr können unerwünschtes zwingendes Recht eines bestimmten Staates, z. B. Steuerrecht, zwar etwas leichter vermeiden als bei rein internen Transaktionen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass ihre Verträge im Grundsatz der Einwirkung zwingenden Recht ausgesetzt sind. Lex mercatoria ist keine Zauberformel, diesen Zustand zu ändern. Art. 1.4 Unidroit Principles weist darauf ausdrücklich hin. Zwingendes Recht kann Teil der lex contractus sein, Teil des anwendbaren ordre public oder staatliche Eingriffsnorm48. Ist es Teil der lex contractus, so haben die Parteien die Möglichkeit, durch geeignete Rechtswahl das zwingendes Vertragsrecht eines bestimmten Staates zu vermeiden. Zwingendes staatliches Recht der lex fori setzt sich freilich auch gegenüber Verträgen, die einem anderen Recht unterstellt sind, im Rahmen der Abwehrnorm des ordre public durch (Art. 6 EGBGB). Zwingende Eingriffsnormen der lex fori sind schließlich unabhängig vom Vertragsstatut anzuwenden (Art. 34 EGBGB); denkbar ist auch die Anwendung fremder Eingriffsnormen im Rahmen eines Abwägung der Regelungsinteressen des Anwendungsstaates mit denen des Eingriffsstaates unter Gesichtspunkten der comitas49. Solches Eingriffsrecht besteht in großem und noch wachsendem Umfang als nationales öffentliches Wirtschaftsrecht der einzelnen Staaten. Auch hier ist eine Tendenz zur Harmonisierung oder Vereinheitlichung zu verzeichnen – sozusagen parallel zur lex mercatoria50. Diese Harmonisierung vollzieht sich weltweit in bilateralen Verträgen über Handelsbeziehungen, Doppelbesteuerung, Investitionsschutz, im übrigen durch eine gewisse Angleichung des Wirtschaftskollisionsrechts der einzelnen Staaten. Innerhalb der EG ist hat die Harmonisierung wichtiger Gebiete des Wirtschaftsrechts, z. B. bei der Regulie-

__________ 47 Mankowski, RIW 2003, 2, 11 ff. 48 Zum Folgenden allg. Horn, Zwingendes Recht in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2008, 209 ff. 49 Einzelheiten bei Horn, Zwingendes Recht in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2008, 209 ff. 50 Berger, Rechtliche Rahmenbedingungen der Globalisierung, in Bierbaum, So investiert die Welt, 2007, S. 33 ff.

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rung der Finanzdienstleistungen, eine Masse an harmonisiertem oder vereinheitlichtem öffentlichem Wirtschaftsrecht hervorgebracht. Weltweit harmonisiertes Wirtschaftsrecht wird z. B. hinsichtlich der Kapitalausstattung der Kreditinstitute durch die Abkommen Basel I und Basel II angestrebt. Es besteht eine unübersehbare Zahl von Richtlinien und Empfehlungen internationaler Organisationen auf weltweiter oder regionaler Ebene („soft law“). 2. Transnationales Recht und Schiedsgerichtsbarkeit Internationale Schiedsgerichte sind oft besser geeignet, dem transnationalen Charakter eines Vertragswerks Rechnung zu tragen, als staatliche Gerichte, ganz abgesehen davon, dass die Unzuverlässigkeit der Gerichtsbarkeit vieler Länder die Parteien auf den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit drängt51. Die nationalen Schiedsgerichtsgesetze, die dem UN Modellgesetz folgen (z. B. §§ 1025 ff. ZPO) und die gebräuchlichen Schiedsregeln (z. B. UNCITRAL Rules, DISRegeln) geben ferner dem Schiedsgericht größere Flexibilität in der Führung des Verfahrens. Schließlich findet auch eine volle sachliche Nachprüfung des Schiedsspruchs durch das staatliche Gericht nicht statt52. Dies alles hat dazu geführt, dass man gerade in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ein Fundament der autonomen Entwicklung und Geltung der lex mercatoria sieht. Lew, ein international angesehener Praktiker und Autor der internationalen Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, preist die gerade durch diese Schiedsgerichtsbarkeit gewonnene Autonomie i. S. einer weitgehenden Abkoppelung von den Einflüssen staatlichen Rechts als die „Erfüllung eines Traums“53. Das Schiedsgericht muss freilich im Grundsatz die Regeln des anwendbaren zwingenden materiellen Rechts und Verfahrensrechts beachten. Für die Anwendbarkeit zwingenden Verfahrensrechts ist der (rechtliche, nicht der tatsächliche) Schiedsort maßgeblich54. Die zwingenden Regeln sind allerdings im New Yorker Übereinkommen (UNÜ) und in den an ihr orientierten nationalen Schiedsverfahrensrechten weitgehend vereinheitlicht. Dazu gehören das Erfordernis, dass das Schiedsverfahren seine Grundlage im Schiedsvertrag haben muss, die Gebote der Gleichbehandlung der Parteien und des rechtlichen Ge-

__________ 51 Zum letzteren Aspekt vgl. z. B. die Beiträge in Horn/Norton (Hrsg.), Non-Judicial Dispute Settlement in International Financial Transactions, 2000, z. B. Kautz, S. 136 f., und in Horn (Hrsg.), Arbitrating Foreign Investment Disputes, 2004. 52 BGHZ 142, 204, 206. 53 Achieving a Dream. Autonomous Arbitration (Fn. 25). Zur engen Beziehung zwischen internationaler Handelsschiedsgerichtsbarkeit und Theorie der lex mercatoria vgl. statt vieler die differenzierte Darstellung bei Dasser, Internationale Schiedsgerichte und lex mercatoria (Schweizer Studien zum int. Recht 59), 1989. 54 Zum Territorialitätsprinzip in diesem Sinn Redfern/Hunter, Law and Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rz. 2–08; Fouchard/Gaillard/ Goldman, On international Commercial Arbitration, 1999, Rz. 1178; RaeschkeKeßler/Berger, Recht und Praxis des Schiedsverfahrens, 3. Aufl. 1999, Rz. 132; Kreindler/Schäfer/Wolf, Schiedsgerichtsbarkeit, 2006, Rz. 237.

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hörs, die Respektierung des Ordre public sowie die wichtigsten Gründe für Anerkennung oder Aufhebung von Schiedssprüchen55. 3. Transnationaler Ordre public Bei der Anwendung zwingenden Rechts ergeben sich Unterschiede zur Tätigkeit eines staatlichen Gerichts. Zwar muss das Schiedsgericht zwingende privatrechtliche Normen der lex contractus, die nach IPR angeknüpft werden, beachten bzw. anwenden. Bei der Anwendung von staatlichen Eingriffsnormen i. S. v. Art. 34 EGBGB, die gesondert angeknüpft werden, ergibt sich die Besonderheit, das der Schiedsort das Schiedsgericht nicht mit gleicher Sicherheit wie die lex fori das staatliche Gericht zu einem „einheimischen“ Eingriffsrecht führt. Das Schiedsgericht kann nur die oben (VI. 1.) erörterten allgemeinen Anknüpfungsregeln für Eingriffsnormen von Drittstaaten verwenden. Es kann ferner in geeigneten Fällen auf materielle Regeln eines „transnationalen Ordre public“ zurückgreifen56. Der Begriff des Ordre public wird kollisionsrechtlich dann verwendet, wenn es um die Kontrolle und Abwehr unerwünschter Folgen einer „fremden“ lex contractus geht. Das staatliche Gericht prüft dies anhand seines (nationalen) ordre public der lex fori (Art. 6 EGBGB). Für das Schiedsgericht ergibt der vereinbarte Schiedsort aber nicht mit gleicher Sicherheit einen Maßstab für die „Fremdheit“ einer lex contractus; auch fehlt ein überzeugender Grund dafür, dass es zur Verteidigung des nationalen ordre public gerade dieses Schiedsorts berufen sei. Man befürwortet daher als Prüfungsmaßstab einen transnationalen Ordre public (transnational public policy). Dazu gehören die allgemein (transnational) anerkannten Grundsätze des Verbots von Korruption, Schmuggel, Menschenhandel, Drogenhandel oder illegalem Waffenhandel57. Aber es geht nicht nur um solche Fälle58. Vielmehr sind auch fundamentale Gerechtigkeitsgrundsätze des Privatrechts, Wirtschaftsrechts und Verfahrensrechts dazuzuzählen59. Damit kommen auch die wichtigsten und grundlegenden Rechtsgrundsätze der Unidroit Principles und der Lando Principles in den Blick.

__________ 55 Art. II und Art. V UNÜ; Art. 7, 18, 34, 36 UNCITRAL Model Law; Lew, Arb. Int. 22/2, 2006, 189 ff. 56 Der Begriff des „internationalen ordre public“ wird in vielfältigen Bedeutungen verwendet; dazu Horn, SchiedsVZ 2008, 209 ff. Der BGH verwendet ihn, um ausländische Schiedssprüche (ausländischer Schiedsort) einem weniger strengen Prüfungsmaßstab zu unterwerfen, BGHZ 138, 331, 334; BGH, SchiedsVZ 2006, 161, 163 ff. 57 Lew/Mistelis/Kröll, Comparative International Commercial Arbitration, 2003, Rz. 17–36 m. Nachw. 58 Zur missbräuchlichen Verwendung entsprechender Ordre public-Einwendungen zur Abwehr gültiger Schiedssprüche krit. Harbst, SchiedsVZ 2007, 22 ff. 59 Zum Wirtschaftsrecht in diesem Sinn Horn, Die Entwicklung des internationalen Wirtschaftsrechts durch Verhaltensrichtlinien. Elemente eines internationalen Ordre public, RabelsZ 44 (1980), 423–454; Lalive, Ordre public transnational (ou réellement international) et arbitrage international, Rev. arb. 1986, 329 ff.

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Die rechtstheoretische Qualifizierung aller vorgenannten Grundsätze ist umstritten, zumal sie aus heterogenen (auch völkerrechtlichen60) Quellen gespeist werden. Ihre Beachtung durch Gerichte und Schiedsgerichte im Bewusstsein ihrer Rechtsgeltung ist jedoch ein Faktum61. Es steht nichts im Wege, dies als Normbereich zwingenden Rechts des transnationalen Handelsrechts oder der lex mercatoria anzusehen. Basis ist die allgemeine Überzeugung, dass dies als Grundbestand allgemeiner Rechtsregeln gilt, der die Grundlage transnationalen Verkehrs bildet, ähnlich wie dies für das alte Konzept des ius gentium der Römer galt. „Was die natürliche Vernunft bei allen Menschen anordnet, das wird von allen gleichermaßen beachtet und Recht der Völker genannt.“62 Es ist dieser Grundkonsens, der das Fundament des internationalen Rechtsverkehrs und damit auch des transnationalen Handelsrechts bildet. Dieses Fundament ist von staatlichen Gerichten wie von Schiedsgerichten gleichermaßen zu respektieren.

VII. Zusammenfassung 1. Der Begriff „transnationales Handelsrecht“ bezeichnet alles über den Geltungsbereich eines Staates hinaus geltende einheitliche Recht, das die privaten Geschäfte im internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs regelt. 2. Der Begriff „lex mercatoria“ verweist primär auf die spontane Bildung einheitlicher (transnationaler) Gestaltungsformen des internationalen Handels und Kapitalverkehrs (lex mercatoria i. e. S.). Es ist aber zweckmäßig, auch das staatlich, insbesondere aufgrund völkerrechtlicher Konventionen und von Modellgesetzen, geschaffene transnationale Handelsrecht dazu zu zählen, zumal zwischen beiden Bereichen enge praktisch-methodische und institutionelle Verbindungen bestehen (lex mercatoria i. w. S.). 3. Die Rechtsquellenqualifizierung der lex mercatoria ist bei staatlich gesetztem transnationalem Einheitsrecht unproblematisch und vorgegeben (insbes. völkerrechtliche Konventionen und ihre Transformation in staatliches Recht). Sie ist auch bei dem spontan (nicht staatlich) entwickelten Einheitsrecht des internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs anhand derjenigen Rechtsquellenkategorien vorzunehmen, die auf der Grundlage des staatlichen Rechts (einschließlich Völkerrechts) gebräuchlich sind. 4. Das als lex mercatoria (i. e. S.) bezeichnete spontane einheitliche Vertragsrecht stellt sich häufig als AGB dar. Daneben gilt es auch ohne ausdrückliche Einbeziehung in den Vertrag, indem es zulässige und gebotene Aus-

__________ 60 Vgl. z. B. BGHZ 59, 82 (nigerianische Masken) im Hinblick auf UN-Übk zur Bekämpfung der unerlaubten Ausfuhr von Kulturgütern v. 14.11.1970. Zur Anwendung von völkerrechtlichen Staatshaftungsgrundsätzen bei Schädigung privater Investoren oben bei Fn. 32. 61 v. Hoffmann, International Mandatory Rules of Law before Arbitral Tribunals, in Böckstiegel (Hrsg.), Acts of State and Arbitration, 1997, S. 3 ff., S. 22.ff. 62 „Quod vero naturalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes peraeque custoditur vocaturque ius gentium“; Gaius, D. 1.1.9.

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legungskriterien darstellt, z. T. in Gestalt von Handelsbrauch. Diese, durch gesetzliche Auslegungsgebote vermittelte, Rechtsgeltung ist derjenigen von dispositivem Gesetzesrecht ähnlich. 5. Daneben gibt es zwingendes transnationales Handelsrecht. Dazu zählen nicht alle Grundsätze, die zum nationalen Ordre public gehören, und nicht alle staatlichen Eingriffsnormen, wohl aber ein Grundbestand transnational anerkannter Rechtsgrundsätze, die man im Rahmen kollisionsrechtlicher Überlegungen als transnationalen Ordre public bezeichnet. Dieser ist insbesondere für die Arbeit internationaler Schiedsgerichte bedeutsam. 6. Die lex mercatoria wächst mit dem Fortschreiten der spontanen und gesetzten Einheitsrechtsbildung unter rechtswissenschaftlicher Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung und Schiedsrechtsprechung zu einem kohärentem Rechtsgebiet. Die Wahl der lex mercatoria oder bestimmter ihr zugerechneter Regelwerke als Vertragsstatut unter Ausschließung eines jeden staatlichen Rechts wirft aber derzeit noch ungelöste Geltungsprobleme auf. 7. Der Gedanke der Autonomie der lex mercatoria ist nur insoweit sinnvoll, als dies auf spontane Rechtsbildung sowie auf die relativ unabhängige Arbeitsweise der internationalen Schiedsgerichte verweist. Der Gedanke ist insofern missverständlich, als die Teilnehmer des internationalen Handelsund Finanzverkehrs im Grundsatz zwingendes staatliches Recht nach allgemeinen Regeln beachten müssen.

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Abstrakte Schadensberechnung des Käufers Inhaltsübersicht I. § 376 Abs. 2 HGB als Ausgangspunkt

Käufers als Berechnung der fiktiven Kosten eines hypothetischen Deckungsgeschäfts

II. Die erweiterte Anwendung der abstrakten Berechnungsmethode III. Der Standpunkt der Rechtsprechung: Die abstrakte Schadensberechnung als Berechnung des entgangenen Gewinns aus der Weiterveräußerung der Ware oder der mit ihrer Hilfe hergestellten Produkte IV. Die Kritik der Literatur V. Der Gegenstandpunkt der Literatur: Die abstrakte Schadensberechnung des

VI. Die abstrakte Schadensberechnung i. S. d. § 376 Abs. 2 HGB: Berechnung des Käuferschadens anhand des objektiven Verkehrswerts der vorenthaltenen Leistung VII. Die analoge Anwendung des § 376 Abs. 2 HGB auf Kaufverträge ohne Fixklausel: Maßgeblichkeit des Marktpreises zur Zeit und am Ort der geschuldeten Lieferung

I. § 376 Abs. 2 HGB als Ausgangspunkt Das Recht des Käufers, den Schadensersatz wegen Nichterfüllung der Lieferpflicht des Verkäufers „abstrakt“ auf der Grundlage des Markt- oder Börsenpreises zu berechnen, gehört zum klassischen Bestand des Handelsrechts. Es ist deshalb vielleicht nicht verfehlt, die folgenden Überlegungen Karsten Schmidt freundschaftlich zuzueignen, der durch sein meisterhaftes Lehrbuch des Handelsrechts (zuerst 1980) neue Maßstäbe für die Darstellung und das Verständnis dieses Rechtsgebiets gesetzt hat. Die abstrakte Schadensberechnung des Käufers ist gesetzlich erstmals normiert in der Regelung des Fixhandelskaufs durch das ADHGB von 1861. Im Fall des Verzugs des Verkäufers hatte der Käufer, damals wie heute, die Wahl, weiterhin Erfüllung oder aber sofort Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu verlangen. Hierfür war in Art. 357 Abs. 3 ADHGB bestimmt: „Wenn der Käufer statt der Erfüllung Schadensersatz wegen Nichterfüllung fordert, so besteht, im Falle die Ware einen Markt- oder Börsenpreis hat, der Betrag des von dem Verkäufer zu leistenden Schadensersatzes in der Differenz zwischen dem Kaufpreise und dem Markt- und Börsenpreise zur Zeit und am Orte der geschuldeten Lieferung, unbeschadet des Rechts des Käufers, einen erweislich höheren Schaden geltend zu machen“.

Diese Bestimmung hat § 376 Abs. 2 HGB praktisch unverändert übernommen, aber verallgemeinert, indem nunmehr auch der dem ADHGB noch unbekannte

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Schadensersatzanspruch des Verkäufers wegen Nichterfüllung der Kaufpreiszahlungspflicht erfaßt wird1. Es heißt jetzt: „Wird Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt und hat die Ware einen Börsenoder Marktpreis, so kann der Unterschied des Kaufpreises und des Börsen- oder Marktpreises zur Zeit und am Orte der geschuldeten Leistung verlangt werden“.

Daß hierdurch der Anspruch auf Ersatz eines „erweislich höheren“ Schadens nicht ausgeschlossen werden soll, ergibt sich jetzt indirekt aus § 376 Abs. 3 HGB, der besonderen Regeln und Beschränkungen für die „konkrete“ Schadensberechnung auf der Grundlage eines nach Ablauf der Leistungszeit tatsächlich abgeschlossenen Deckungsgeschäfts aufstellt – eine Berechnung, die natürlich nur dann sinnvoll ist, wenn der konkret entstandene Schaden höher ist als der auf der Grundlage des § 376 Abs. 2 HGB „abstrakt“ berechnete Schaden. Festzuhalten ist, daß die „abstrakte“ Schadensberechnung nach der unzweideutigen Anordnung des § 376 Abs. 2 HGB immer zulässig ist, auch dann, wenn es gelungen ist, nachträglich ein Deckungsgeschäft zu einem günstigeren Preis abzuschließen als dem Marktpreis zur Zeit der geschuldeten Leistung.

II. Die erweiterte Anwendung der abstrakten Berechnungsmethode Die Frage, worin der rechtfertigende Grund für die in § 376 Abs. 2 HGB zugelassene abstrakte Schadensberechnung besteht, läßt sich mit unterschiedlichen Erklärungsmodellen beantworten. Für § 376 Abs. 2 HGB selbst ist das eine Frage von eher theoretischem Interesse. Die Bestimmung ist so klar formuliert, daß ihre Auslegung und Anwendung unproblematisch ist. Für die praktische Handhabung ist es deshalb unerheblich, welchem Erklärungsmodell man folgt. Das ändert sich indessen, sobald man den unmittelbaren und verhältnismäßig engen Anwendungsbereich des § 376 HGB verläßt. Auch Waren, die einen Börsen- oder Marktpreis haben, werden überwiegend nicht im Weg des Fixgeschäfts, sondern im Weg von gewöhnlichen Kaufverträgen verkauft bzw. eingekauft. Dann entsteht der Anspruch des Käufers auf Ersatz des Nichterfüllungsschadens nicht, wie beim Fixgeschäft, automatisch mit Ablauf der Lieferzeit, sondern gemäß § 281 Abs. 1 Satz 1 BGB erst, wenn der Käufer

__________ 1 Das ADHGB verwies den Verkäufer nach Ablauf einer dem Käufer für Zahlung und Abnahme gesetzten Nachfrist, beim Fixgeschäft nach Ablauf des Zahlungs- und Abnahmetermins, auf den Weg des Selbsthilfeverkaufs für Rechnung des Käufers gemäß Art. 343 (jetzt § 373 HGB) unter den dort vorgesehenen strengen Kautelen; nur soweit der Nettoerlös des Selbsthilfeverkaufs zur Deckung des Kaufpreises nicht ausreichte, war der Verkäufer berechtigt, wegen der Differenz Schadensersatz zu verlangen (vgl. Art. 354, 357 Abs. 2 ADHGB). Damit wollte das Gesetz verhindern, daß der Verkäufer einen freihändigen Deckungsverkauf der Schadensberechnung zugrundelegte. Durch das BGB (§ 326 a. F.) ist diese unterschiedliche Behandlung von Verkäufer und Käufer aufgegeben, und daran ist das HGB bei der Abfassung des § 376 angepaßt worden. Die abstrakte Schadensberechnung des Verkäufers ist mit anderen Fragen und Problemen behaftet als die abstrakte Schadensberechnung des Käufers; sie wird hier, um den Rahmen des Beitrags nicht zu sprengen, nur ganz am Rande berücksichtigt.

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nach Ablauf einer dem Verkäufer gesetzten Nachfrist erklärt, er verlange Schadensersatz2. Hat der Verkäufer die Lieferung, aus welchem Grund auch immer, unberechtigterweise ernsthaft und endgültig verweigert, bedarf es zwar keiner Nachfristsetzung (§ 281 Abs. 2 BGB), aber auch hier entsteht der Schadensersatzanspruch erst dadurch, daß der Käufer erklärt, er verlange Schadensersatz statt der Leistung. Erst durch diese Erklärung wird der bisher weiterbestehende Erfüllungsanspruch durch den Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung („statt der Leistung“) ersetzt (während es sich beim Fixgeschäft gerade umgekehrt verhält: nur wenn der Käufer sofort nach Ablauf der Erfüllungszeit erklärt, daß er weiterhin Erfüllung verlange, wird der mit Zeitablauf sofort entstehende Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung durch den Erfüllungsanspruch verdrängt). Daß der Käufer auch in diesen durch § 376 HGB (und früher durch Art. 357 ADHGB) nicht erfaßten Fällen die Möglichkeit der abstrakten Schadensberechnung haben muß, wenn die Ware einen Marktpreis hat, ist seit jeher anerkannt3. Das läßt sich auch schwer bezweifeln, denn der Schaden des Käufers als solcher ändert sich ja nicht je nachdem, ob der Ersatzanspruch sofort bei Verstreichen des Fälligkeitstermins oder erst nach Ablauf einer zusätzlichen Nachfrist entsteht. Allerdings kann jetzt die Frage nach der dogmatischen Rechtfertigung der abstrakten Schadensberechnung und nach dem ihr zugrundeliegenden Erklärungsmodell nicht mehr offen bleiben. In diesem Punkt besteht seit langem ein tiefgreifender Dissens zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft.

III. Der Standpunkt der Rechtsprechung: Die abstrakte Schadensberechnung als Berechnung des entgangenen Gewinns aus der Weiterveräußerung der Ware oder der mit ihrer Hilfe hergestellten Produkte Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs sieht die abstrakte Schadensberechnung als einen Sonderfall der Berechnung des ent-

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2 Zur Gestaltungswirkung der Erklärung vgl. § 281 Abs. 4 BGB. Gleichbedeutend ist die Erklärung des Rücktritts gemäß § 323 BGB. Denn auch sie führt zum Erlöschen des Erfüllungsanspruchs (vgl. § 346 Abs. 1 BGB), der durch den Schadensersatzanspruch gemäß § 281 Abs. 1 BGB ersetzt wird. Die Erklärungen können mit der Nachfristsetzung, als bedingt-befristete Erklärungen, verbunden werden (vgl. BGHZ 74, 193, 204 zur insoweit übereinstimmenden Rechtslage nach dem einheitlichen Kaufrecht). 3 Dies ist die gemeinsame und unbestrittene Grundlage der im folgenden zitierten Rechtsprechung und Literatur. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs der abstrakten Schadensberechnung geht zurück bis auf die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts zu Art. 357 ADHGB; vgl. ROHG 11, 182, 183; 14, 140, 141; 18, 215 f. Die Erstreckung betrifft nur den Kauf beweglicher Sachen, nicht von Grundstücken, weil es für diese, ihrer individuellen Beschaffenheit wegen, keinen „Marktpreis“ i. S. d. § 376 Abs. 2 HGB geben kann, BGH, ZIP 1995, 220, 221 f. „Marktpreis“ ist der zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort für Waren einer bestimmten Gattung gezahlte „Durchschnittspreis“, BGH, NJW 1979, 758, 759. Eine offizielle Preisnotierung ist nicht begriffsnotwendig; der Marktpreis kann auch nachträglich durch Auskunft sachverständiger Marktteilnehmer ermittelt werden. Vgl. U. Huber in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1991, § 453 BGB Rz. 3 m. w. N.

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gangenen Gewinns gemäß § 252 BGB an4. Ausgangspunkt ist die Vorstellung eines hypothetischen Weiterverkaufs der Ware durch den Käufer. Hätte der Verkäufer seine Lieferpflicht erfüllt, so wäre der Käufer imstande gewesen, die Kaufsache zum Marktpreis weiterzuverkaufen und hierdurch einen Gewinn in Höhe der Differenz zwischen dem Marktpreis und dem Kaufpreis des Einkaufsgeschäfts zu erzielen. Die Absicht und die Fähigkeit, einen solchen Gewinn zu erzielen, sei bei Kaufleuten zu vermuten; sie entspreche dem „gewöhnlichen Lauf der Dinge“ i. S. d. § 252 Satz 2 BGB. In der Konsequenz des Ansatzes der Rechtsprechung liegt es an sich, daß dann, wenn der Verkaufsmarkt des Käufers mit dem Einkaufsmarkt nicht identisch ist (z. B. bei Einkauf im Großmarkt zum Zweck des Weiterverkaufs im Einzelmarkt), der Marktpreis am Markt des beabsichtigten Weiterverkaufs für die Berechnung maßgeblich sein müßte. Mit § 376 Abs. 2 HGB ist das allerdings nicht recht zu vereinbaren. Auch entstehen Schwierigkeiten, wenn der Käufer die Ware für die eigene Produktion verwenden wollte und seinen Gewinn also nicht durch die Weiterveräußerung der gekauften Ware, sondern durch die Veräußerung der mit ihrer Hilfe hergestellten Produkte erzielen wollte. Mit Rücksicht auf solche Fälle räumt die Rechtsprechung dem Käufer ein Wahlrecht ein, indem sie ihm gestattet, den entgangenen Gewinn bei der Weiterveräußerung wahlweise, statt auf der Basis eines hypothetischen Weiterverkaufs, auch auf der Basis eines „hypothetischen Deckungskaufs“ zu berechnen, als Differenz zwischen dem mit dem Verkäufer vertraglich vereinbarten Preis und dem Marktpreis für einen hypothetischen Deckungskauf, dem „Markteinkaufspreis“5. Dafür, daß der Weiterveräußerungsgewinn des Käufers sich um diese Differenz vermindert habe, spreche eine Vermutung. Die Vermutung sei widerlegt, wenn feststehe (also unstreitig oder vom Verkäufer nachgewiesen sei), daß der Käufer tatsächlich einen Deckungskauf zu einem günstigeren Preis als dem Marktpreis abgeschlossen habe6. Das soll allerdings

__________ 4 Vgl. u. a. RGZ 68, 163, 164 f.; 90, 305, 306; 90, 423, 425; 91, 99, 103; 98, 213, 214 f.; 99, 46, 48 (für die weitere Rechsprechung grundlegend); 101, 217, 218; 101, 240, 241 f.; 101, 421, 423; 105, 285, 286; 105, 293, 294; BGHZ 2, 310, 313; 29, 393, 399; 62, 103, 105 f.; zuletzt BGH, NJW-RR 2001, 1542; 2006, 243, 244. Weitere Nachweise bei Bardo, Die „abstrakte“ Berechnung des Schadensersatzes wegen Nichterfüllung beim Kaufvertrag, 1989, S. 35 ff.; U. Huber, Leistungsstörungen Bd. II, 1999, S. 245 Fn. 53. Abweichend OLG Düsseldorf, NJW-RR 1988, 1382, 1383 und die Rechsprechung des ROHG; vgl. die Nachweise in Fn. 3 sowie ROHG 6, 225, 226. Dazu auch Bardo, a. a. O. S. 25 ff. 5 BGH, WM 1998, 931; ebenso BGH, BB 1998, 1499, 1500 = NJW 1998, 2901, 2903. Ist das richtig, so wäre § 376 Abs. 2 HGB als ein gesetzlich besonders geregelter Fall der Berechnung des entgangenen Weiterveräußerungsgewinns auf der Basis des gestiegenen „Markteinkaufspreises“ anzusehen. 6 BGH, WM 1998, 931 f. Die Vermutung soll außerdem dann widerlegt sein, wenn der Verkäufer nachweise, „der Käufer hätte die Ware in Wahrheit nicht weiterverkaufen können“. Der Fall ist indessen, wenn die Ware wirklich einen Marktpreis hat, nur schwer vorstellbar. Wo es einen Marktpreis gibt, muß es auch einen Markt geben, auf dem die Ware verkäuflich ist, notfalls mit Hilfe eines Maklers. Dagegen ist natürlich im Fall, daß der Käufer die Ware zum Zweck der Weiterverarbeitung erworben hat, durchaus möglich, daß das Produkt, das der Käufer mit Hilfe der an sich marktgängi-

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dann nicht gelten, wenn der günstigere Preis auf „überobligationsmäßigen Bemühungen“ des Käufers beruhe7. Im grundlegenden Fall des BGH8 waren 80 bis 100 Tonnen Himbeeren für 2,13 DM pro Kilogramm verkauft. Mit einer Teilmenge von 54 Tonnen geriet der Verkäufer in Verzug, und der Käufer verlangte nach erfolgloser Nachfristsetzung gemäß § 326 BGB a. F. (jetzt § 281 BGB) Schadensersatz wegen Nichterfüllung (jetzt „Schadensersatz statt der Leistung“). Der Schadensberechnung legte er einen gestiegenen Marktpreis für den Einkauf von 4,30 DM pro Kilogramm zugrunde. Aus der Differenz zum Vertragspreis in Höhe von 2,17 DM errechnete er eine Schadensersatzforderung von 117.800 DM. Die Instanzgerichte verneinten den Anspruch mit der Begründung, der Käufer habe den Abschluß eines entsprechenden Deckungskaufs nicht schlüssig dargelegt. Der BGH entschied, auf die tatsächliche Durchführung des Deckungskaufs komme es nicht an; für die schlüssige Begründung des Anspruchs auf Ersatz von entgangenem Gewinn im Weg der abstrakten Schadensberechnung reiche es aus, daß der Käufer die Möglichkeit eines Deckungskaufs zum Preis von 4,30 DM dargelegt habe.

Ein Wahlrecht soll nach der Rechtsprechung auch im Hinblick auf den Zeitpunkt bestehen, der für die abstrakte Schadensberechnung maßgeblich ist. Der Käufer könne sich entscheiden zwischen dem Zeitpunkt des Verzugseintritts (also normalerweise dem Fälligkeitszeitpunkt, erforderlichenfalls dem Zeitpunkt der Mahnung) und dem Zeitpunkt der Entstehung des Schadensersatzanspruchs9. Das ist im Fall der früher in § 326 BGB a. F. vorgesehenen Nachfristsetzung mit Ablehnungsandrohung der Zeitpunkt des Ablaufs der Nachfrist10 und im Fall der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung der Zeitpunkt, zu dem der Käufer erklärt, er verlange statt der verweigerten Leistung Schadensersatz wegen Nichterfüllung (und nicht schon der Zeitpunkt, zu dem er dies erklären könnte, also nicht schon der Zeitpunkt, zu dem der Verkäufer seine Weigerung erklärt11; folgerichtig müßte im Fall der nunmehr durch § 281 BGB zugelassenen Nachfristsetzung ohne Ablehnungsandrohung12 ebenfalls der Zeitpunkt maßgeblich sein, zu dem der Käufer nach Ablauf der Nachfrist erklärt, er verlange Schadensersatz, und nicht schon den Zeitpunkt, zu dem er es erklären könnte). Denn der Käufer könne gemäß § 249 BGB verlangen, so gestellt zu werden, als ob der Verkäufer den bis dahin noch bestehenden Anspruch zum letztmöglichen Zeitpunkt, seiner Verpflichtung

__________

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gen Ware herstellen wollte, unverkäuflich war. Dasselbe gilt, wenn der Käufer den Weiterverkauf auf einem vom Einkaufsmarkt verschiedenen Absatzmarkt plant und die Ware auf diesem Markt unverkäuflich ist. BGH, WM 1998, 931, 932 im Anschluß an BGHZ 136, 52, 56. BGH, WM 1998, 931. RGZ 90, 423, 424; 91, 30, 31; 96, 158, 160; 98, 213, 214; 103, 292, 293; weitere Nachweise bei U. Huber (Fn. 4), S. 246 Fn. 56. RGZ 90, 423, 425. RGZ 90, 30, 31; 103, 292, 293; weitere Nachweise bei U. Huber (Fn. 4), S. 251 Fn. 84. Bei der weiterhin zulässigen Nachfristsetzung mit (automatisch wirkender) „Ablehnungsandrohung“ (vgl. oben Fn. 2) bleibt natürlich der Fristablauf maßgeblich.

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entsprechend, noch erfüllt hätte13. Allerdings könne der Käufer im Weg des Schadensersatzes verlangen, so gestellt zu werden, nicht nur als ob überhaupt erfüllt worden wäre, sondern als ob rechtzeitig erfüllt worden wäre. Deshalb könne er, wenn der Marktpreis zwischen Verzugseintritt und Entstehung des Schadensersatzanspruchs gefallen sei, wahlweise auch den höheren Markpreis zur Zeit des Verzugseintritts der Schadensberechnung zugrundelegen14. Der gesetzlichen Regel des § 376 Abs. 2 HGB ist ein solches Wahlrecht fremd; es wäre hier – da Fälligkeit, Verzugseintritt und Entstehung des Schadensersatzanspruchs praktisch zusammenfallen – auch praktisch gegenstandslos. Macht der Käufer von der ihm durch die Rechtsprechung ermöglichten Alternative Gebrauch, den Anspruch auf der Grundlage eines hypothetischen Deckungskaufs zum „Markteinkaufspreis“ zu berechnen, so kann hierfür nur der Zeitpunkt maßgeblich sein, zu dem ein regulärer Deckungskauf möglich ist, also der Zeitpunkt der Entstehung des Schadensersatzanspruchs15. Da selbstverständlich bei fallenden Marktpreisen dem Käufer die Berufung darauf, er habe bei rechtzeitiger Lieferung die Ware zum damaligen Marktpreis weiterveräußert, jedenfalls dort nicht versagt werden kann, wo mit einer solchen Weiterveräußerungsbereitschaft ernsthaft zu rechnen ist, erfährt durch diesen Ansatz das Recht des Käufers, den für die Schadensberechnung maßgeblichen Zeitpunkt frei zu wählen, eine zusätzliche Verstärkung. Ausgeschlossen ist nach der Rechtsprechung die – als Berechnung des entgangenen Gewinns verstandene – abstrakte Schadensberechnung dann, wenn die Absicht oder die Möglichkeit eines gewinnbringenden Einsatzes der Kaufsache beim Käufer nicht besteht16. Nun mag man sagen, daß, wenn ein Kaufmann Käufer ist, eine solche Absicht immer zu unterstellen ist – obwohl das auch anders sein kann (z. B. beim Kauf für die Werkskantine oder für sonstige Bedürfnisse der Belegschaft oder für kulturelle oder philanthropische Zwecke, die ein kaufmännisches Unternehmen fördern will). Anders ist es jedenfalls, wenn der Kaufvertrag von der öffentlichen Hand für öffentliche Zwecke oder von

__________ 13 Vgl. RGZ 90, 423, 425: „… das alte Vertragsverhältnis dauert weiter, bis der Käufer die in § 326 BGB vorgesehene Umwandlung herbeiführt. Hat aber der Käufer bis dahin den ursprünglichen Erfüllungsanspruch gehabt, dann entspricht es der Vorschrift des § 249 Satz 1, wenn bei der Berechnung seines Schadens nicht die im Vertrage vorgesehene Leistungszeit, also die Fälligkeit, als entscheidend angesehen wird, sondern die Folgen der Nichterfüllung nach dem Zeitpunkte beurteilt werden, in dem der Erfüllungsanspruch erlischt und durch den Schadensersatzanspruch ersetzt wird“. 14 Vgl. RGZ 90, 423, 425: „Statt dieses Zeitpunktes kann der Käufer freilich auch den ihm vielleicht vorteilhafteren Zeitpunkt des Eintritts des Verzugs seiner Berechnung zugrundelegen. Diese Vergünstigung rechtfertigt sich daraus, daß der säumige Schuldner, wie die Vorschriften der §§ 286, 287 BGB ergeben, für die dem Gläubiger nachteiligen Folgen seines Verzugs einzustehen hat“ (die hier zitierte Bestimmung des § 286 BGB a. F. ist jetzt ersetzt durch § 280 Abs. 1, 2 BGB). 15 Aus der grundlegenden Entscheidung BGH, WM 1998, 931, 932 geht nicht hervor, von welchem Stichtag der Käufer bei seiner Schadensberechnung ausgegangen ist. Vom Ablauf der Nachfrist geht die Folgeentscheidung BGH, BB 1998, 1499, 1500 f. = NJW 1998, 2901, 2903 als selbstverständlich aus. 16 RGZ 99, 46, 48 f.; BGH, WM 1998, 931 f. (dazu auch oben Fn. 6).

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Privatleuten oder privaten Institutionen für private Zwecke ohne Gewinnerzielungsabsicht abgeschlossen wird. Nun mag man das nicht für so schlimm halten, weil ja immer noch die Möglichkeit besteht, tatsächlich einen Deckungskauf abzuschließen und den Mehraufwand im Weg der „konkreten“ Schadensberechnung geltend zu machen, so daß der Vertragsbruch des Verkäufers nicht sanktionslos bleiben muß. Aber die Erfahrung lehrt, daß solche Deckungsgeschäfte aus den verschiedensten Gründen nicht abgeschlossen werden (etwa weil der Mehraufwand hoch ist und der Käufer nicht sicher ist, ob er ihn beim Verkäufer beitreiben kann). Auch kann es für einen Käufer, der eine Vielzahl von Geschäften abschließt, schwierig sein, bestimmte einzelne Geschäfte als Deckungsgeschäft für die ausgefallene Lieferung zu identifizieren. Im Fall des § 376 Abs. 2 HGB, also beim Fixgeschäft, droht allerdings keine Sanktionslücke. Denn die Bestimmung gilt auch bei einseitigen Handelsgeschäften (§ 345 HGB), also auch, wenn der Käufer ein Nichtkaufmann ist, sofern nur der Verkäufer Kaufmann ist, und sie unterscheidet nicht danach, welche Absichten der Käufer mit dem Kaufvertrag verfolgt. Dagegen droht eine Sanktionslücke für den Vertragsbruch bei „normalen“, nicht unter § 376 HGB fallenden Kaufverträgen, insbesondere dann, wenn der Käufer kein Kaufmann ist. Um dies zu vermeiden, ist die Rechtsprechung gelegentlich in der Unterstellung einer Weiterveräußerungsabsicht des Käufers sehr weit gegangen – manchmal über die Grenzen dessen hinaus, was als Begründung noch glaubwürdig wirkt. Berühmt-berüchtigt sind in diesem Zusammenhang die „Fiskusfälle“17. Im ersten Weltkrieg hatte der Militärfiskus in großem Umfang und zum Teil mit beträchtlichen Lieferfristen Lebensmittel und sonstigen Bedarf für die Truppe eingekauft: Rum, Erbsen, Schinken, Prothesenleder18. Bis zum Liefertermin waren die Marktpreise scharf angestiegen, und die Heereslieferanten wurden vertragsbrüchig. Nach erfolgloser Nachfristsetzung verlangte der Fiskus Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Eine konkrete Schadensberechnung war nicht durchführbar, denn es war nicht möglich, unter der Vielzahl der vom Fiskus durchgeführten Einkaufsgeschäfte einzelne Geschäfte nach Zeitpunkt, Quantität und Zweckbestimmung den gebrochenen Verträgen zuzuordnen. Der Fiskus berechnete den Schaden deshalb abstrakt auf der Grundlage des Marktpreises als Differenz zwischen dem Vertragspreis und dem Tagespreis bei Entstehung des Schadensersatzanspruchs. Das RG prüfte jeweils, von seinem Ausgangspunkt aus folgerichtig, ob eine Absicht des Fiskus in Betracht kam, die Ware gewinnbringend weiterzuveräußern19. Im Hinblick auf den Rum wurde das verneint, mit der Folge, daß die Schadensersatzklage abgewiesen wurde und dem Verkäufer die Vorteile des Vertragsbruchs zugute

__________ 17 Vgl. dazu auch U. Huber (Fn. 4), S. 249 f. 18 RGZ 99, 46; 101, 217; 105, 285; 105, 293; vorher auch schon LZ 1920, 610 (Lammfleisch); Gruchot 65 Nr. 57 (Käse). Dazu Steindorff, AcP 158 (1959/60), 431, 460; Keuk, Vermögensschaden und Interesse, 1972, S. 182. 19 Abweichend nur die erste Entscheidung RG, LZ 1920, 610: ohne Rücksicht auf eine mögliche Weiterveräußerung „erscheint er (sc. der Fiskus), wenn er die Ware entbehren muß, wenn nicht um mehr, so doch jedenfalls um ihren allgemeinen Verkehrswert in seinem Vermögen beeinträchtigt“. Vgl. dazu auch unten bei Fn. 61. Der 2. Senat des RG hat aber an seiner hier geäußerten Auffassung in der Folgezeit nicht festgehalten.

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Ulrich Huber kamen20. Hinsichtlich der Erbsen, des Schinkens und selbst des Prothesenleders wurde dagegen, offenbar um dieses Ergebnis zu vermeiden, der Schadensersatzklage stattgegeben, aufgrund der gewagten Annahme, der Fiskus hätte, statt die Truppe und die Lazarette zu versorgen, mit der Ware auf dem Markt gewinnbringende Geschäfte machen können21.

IV. Die Kritik der Literatur In der Literatur wird die Rechtsprechung, im Anschluß an Ernst Rabel, ganz überwiegend abgelehnt22. Kritisiert wird vor allem die Gleichsetzung von abstrakter Schadensberechnung und entgangenem Gewinn, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Auf der einen Seite sei es einem Käufer, der mit Gewinnerzielungsabsicht handele, gerade bei Waren mit einem Börsen- oder Marktpreis in aller Regel möglich und zumutbar, sich anstelle der nicht gelieferten Ware Ersatz zu verschaffen. Sei es dem Käufer aber möglich und zumutbar, auf diese Weise den Gewinn des Anschlußgeschäfts, und sei es zu einem Teil, zu retten, so verletze er seine Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB), wenn er den Deckungskauf unterlasse und die Hände in den Schoß lege, um den entgangenen Gewinn mit Hilfe der „abstrakten“ Schadensberechnung dem Verkäufer in Rechnung zu stellen23. Das betrifft insbesondere den Fall, in dem der Käufer die Ware auf einem anderen Markt als seinem Einkaufsmarkt weiterzuveräußern beabsichtigt.

__________ 20 RGZ 99, 46, 48 f. 21 RGZ 101, 217, 218 ff.; 105, 285, 286 f.; 105, 293, 294 f. 22 Rabel, Das Recht des Warenkaufs Bd. I, 1936, S. 170 ff., 454 ff. Seither sind etwa zu nennen (ohne Vollständigkeit anzustreben) Steindorff, AcP 158 (1959/60), 431, 459 ff.; v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, 1962, S. 8 (= Gesammelte Schriften Bd. I, 1968, S. 411, 419); Keuk (Fn. 18), S. 112, 129 ff., 182 ff.; Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. 1969, § 33 I 4 a S. 193 f.; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts Bd. I, 14. Aufl. 1987, § 29 III a S. 513; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl. 2003, § 6 X 6 S. 345 ff.; Hefermehl in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1982, § 376 HGB Rz. 24; Wiedemann in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, § 325 BGB Rz. 41 ff., 46; Schiemann in Staudinger, BGB, Bearb. 2005, § 252 BGB Rz. 22 f.; Bardo (Fn. 4), S. 93 ff.; Halfpap, Der entgangene Gewinn, 1999, S. 149 ff.; Christian Knütel, AcP 202 (2002), 555, 564 ff.; vgl. auch U. Huber (Fn. 4), S. 243 ff. Aus der der Rechtsprechung zustimmenden Literatur sind hervorzuheben Lehmann in Enneccerus, Recht der Schuldverhältnisse, 15. Bearb. 1958, § 53 II 2 a; Prölss, Beweiserleichterung im Schadensersatzprozeß, 1966, S. 39 ff.; Heinrichs in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 281 BGB Rz. 30; zumindest im Ergebnis auch Emmerich in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, vor § 281 BGB Rz. 58 f. Weitere Nachweise bei Bardo (Fn. 4), S. 35 ff.; U. Huber (Fn. 4), S. 244 f. Fn. 50, 53; Lange/ Schiemann (a. a. O.) Fn. 659, 669, 671. 23 Rabel (Fn. 22), S. 172 f.; Steindorff, AcP 158 (1959/60), 431, 460 f.; v. Caemmerer (Fn. 22), S. 9; Keuk (Fn. 18), S. 186 f.; Lange/Schiemann (Fn. 22), § 6 X 6 b S. 347 f.; Hefermehl (Fn. 22), § 376 HGB Rz. 25; Bardo (Fn. 4), S. 135 ff.; Christian Knütel, AcP 202 (2002), 555, 570, 588 f.; vgl. auch U. Huber (Fn. 4) S. 254 f. (m. w. N. in Fn. 103).

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Auf der anderen Seite sei es verfehlt, die abstrakte Schadensberechnung von der Gewinnerzielungsabsicht des Käufers abhängig zu machen. Auch nicht gewerblich tätige Käufer hätten ein schutzwürdiges Interesse daran, ihren Schaden abstrakt berechnen zu können, wie sich insbesondere an der „Fiskusrechtsprechung“ des Reichsgerichts24 gezeigt habe25. Überhaupt dürfe es bei der abstrakten Schadensberechnung nicht auf die besonderen Umstände des Einzelfalls ankommen. Es handele sich um einen pauschal berechneten Mindestschaden, der in jedem Fall zu ersetzen sei. Insbesondere müsse der Käufer sich auch nicht entgegenhalten lassen, es sei ihm tatsächlich gelungen, einen Deckungskauf zu einem günstigeren Preis abzuschließen als zum Marktpreis des für die Schadensberechnung maßgeblichen Stichtags26. Kritisiert wird ferner das dem Käufer eingeräumte Wahlrecht, das heißt das Recht, für die abstrakte Schadensberechnung zwischen dem Marktpreis bei Verzugseintritt und dem Marktpreis bei Entstehung des Schadensersatzanspruchs zu wählen. Dieses Wahlrecht gebe dem Käufer die Möglichkeit, einseitig auf Kosten des Verkäufers zu spekulieren27. Eine solche Spekulationsmöglichkeit besteht insbesondere dann, wenn der Marktpreis zwischen Vertragsabschluß und Verzugseintritt gestiegen ist. Für den Käufer lohnt es sich jetzt, die Nachfristsetzung und damit den Schadensersatzanspruch in der Hoffnung auf weiter steigende Preise hinauszuzögern. Sind die Preise bis zum Ablauf der Nachfrist weiter gestiegen, erhöht sich der Schadensersatzanspruch des Käufers. Sind sie gefallen, kann er auf den Markpreis zur Zeit des Verzugseintritts zurückgreifen (allerdings mit dem Risiko, daß ihm der Verkäufer in diesem Fall zuvorkommt, indem er die Leistung noch vor Ablauf der Nachfrist erbringt). Das Reichsgericht hat den Einwand gesehen, sich aber insoweit mit einem Hinweis auf den „allgemeinen Grundsatz“ begnügt, „daß der Gläubiger bei der Fristbestimmung nicht gegen die Anforderung von Treu und Glauben verstoßen, insbesondere nicht auf Kosten des Schuldners spekulieren“ dürfe28.

__________ 24 Vgl. oben Fn. 18. 25 Steindorff, AcP 158 (1959/60), 431, 460; Keuk (Fn. 18), S. 182; Lange/Schiemann (Fn. 22), § 6 X 6 b S. 348. 26 Rabel (Fn. 22), S. 459; v. Caemmerer (Fn. 22), S. 8 f.; Knobbe-Keuk, VersR 1976, 401, 405; Hefermehl (Fn. 22), § 376 HGB Rz. 24; vgl. auch U. Huber (Fn. 4), S. 251 f. Abweichend Wiedemann (Fn. 22), § 325 BGB Rz. 46; Bardo (Fn. 4), S. 112 ff. 27 Rabel (Fn. 22), S. 464 f.; Blomeyer (Fn. 22), § 33 I 4 S. 193; Wiedemann (Fn. 22), § 325 BGB Rz. 49; Bardo (Fn. 4), S. 101 f.; vgl. auch U. Huber in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts Bd. I, 1981, S. 849 f. Die Spekulationsmöglichkeit wird bestritten von Keuk (Fn. 18), S. 152 f. und von Christian Knütel, AcP 202 (2002), 555, 584 mit dem Argument, gegen die Spekulation könne „sich der Schuldner jederzeit durch die Erbringung der Leistung schützen“. Hierdurch kann der Verkäufer indessen bei gestiegenen Preisen einen bereits eingetretenen Spekulationsgewinn des Käufers nicht zunichte machen. 28 RGZ 90, 423, 425. Es handelt sich um ein vorsorgliches obiter dictum. Mir ist keine Entscheidung bekannt, in der der auf abstrakte Schadensberechnung gestützte Anspruch des Käufers tatsächlich mit der Begründung zurückgewiesen worden ist, er habe die Nachfristsetzung bzw. die Erklärung, er verlange Schadensersatz, entgegen den Geboten von Treu und Glauben in spekulativer Absicht verzögert.

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V. Der Gegenstandpunkt der Literatur: Die abstrakte Schadensberechnung des Käufers als Berechnung der fiktiven Kosten eines hypothetischen Deckungsgeschäfts In der Literatur hat sich deshalb – wieder im Anschluß an Ernst Rabel29 – ein anderes Erklärungsmodell für die abstrakte Schadensberechnung des Käufers durchgesetzt30. Grundlage sei nicht ein hypothetischer Weiterverkauf der Ware durch den Käufer, sondern ein hypothetischer Deckungskauf, den der Käufer zu Marktpreisen abschließen konnte. Diese durch die Rechtsprechung nur wahlweise zugelassene Art der abstrakten Schadensberechnung31 hält die weitaus überwiegende Lehre also für die einzig zulässige. Von einem hypothetischen Deckungskauf des Käufers zu dem für den Lieferort des fehlgeschlagenen Kaufvertrags maßgeblichen Marktpreis geht auch das Einheitskaufrecht aus. Der Käufer kann entweder einen wirklichen Deckungskauf abschließen und den hierfür aufgewendeten Kaufpreis der Schadensberechnung zugrundelegen (Art. 75 CISG), oder er kann, wenn er kein Deckungsgeschäft abschließt, den Betrag zugrundelegen, den er hätte aufwenden müssen, wenn er zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Vertragsaufhebung erklärt hat, einen Deckungskauf zu dem für den Lieferort des aufgehobenen Kaufvertrags gültigen Marktpreis abgeschlossen hätte. Das Einheitskaufrecht folgt insoweit vor allem dem Common Law, in dem der auf diese Weise berechnete Schadensersatzanspruch den regulären Rechtsbehelf des Käufers bei Nichterfüllung der Lieferpflicht des Verkäufers darstellt32. Die Regelung des Einheitskaufrechts ist übernommen worden in den „Principles of European Contract Law“

__________ 29 Rabel (Fn. 22), S. 170 ff., 454 ff. In gleichem Sinn vorher schon die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts, vgl. oben Fn. 3 und 4 a. E.; vgl. auch Adler, ZHR 86 (1923), 1, 45 ff. 30 Steindorff, v. Caemmerer, Keuk, Blomeyer, Larenz, Lange/Schiemann, Hefermehl, Bardo, Christian Knütel (wie Fn. 22); Otto in Staudinger, BGB, Bearb. 2001, § 325 BGB Rz. 64; im Ergebnis auch Halfpap (Fn. 22), S. 156 ff.; so auch meine Darstellung in Leistungsstörungen II (Fn. 4), S. 248 ff. 31 Dazu oben bei Fn. 5–8. 32 Vgl. Rabel (Fn. 22), S. 282 ff.; Cerutti, Das U.S. amerikanische Warenkaufrecht, 1998, Rz. 716 ff. In Detailfragen bestehen Unterschiede, vor allem was den für die Feststellung des Marktpreises maßgeblichen Zeitpunkt betrifft. Da nach Common Law bei Nichtlieferung marktgängiger Ware der Schadensersatzanspruch – als einziger Rechtsbehelf des Gläubigers (kein Anspruch auf „specific performance“) – unmittelbar mit Verstreichen der Lieferfrist gegeben ist, ist dies auch der maßgebliche Zeitpunkt für die abstrakte Schadensberechnung, genau wie bei uns im Fall des § 376 Abs. 2 HGB. Wenn der Verkäufer die Lieferung schon vor Fälligkeit ernsthaft und endgültig verweigert, ist dieser Zeitpunkt maßgeblich; vgl. dazu den bei Cerutti, Rz. 727 referierten Fall Tex Par Energy v. Murphy Oil, Federal Reporter (3d Series) 45 (1995) 1111 ff.; dazu auch U. Huber (Fn. 4), S. 252 Fn. 89.

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(PECL)33 und, im Anschluß hieran, in den „Model Rules“ des „Draft Common Frame of Reference“ (DCFR)34. Was den Zeitpunkt betrifft, steht die Literatur, übereinstimmend mit dem Einheitskaufrecht35, überwiegend auf dem Standpunkt, daß der Marktpreis zum Zeitpunkt der Entstehung des Schadensersatzanspruchs wegen Nichterfüllung maßgeblich sei, weil dem Käufer erst jetzt ein Deckungskauf möglich sei36. Dieser bei Entstehung des Schadensersatzanspruchs mögliche Deckungskauf gilt als die Grundlage der abstrakten Schadensberechnung; die hierfür aufzuwendenden Kosten werden als der Mindestschaden angesehen, der normalerweise die Folge der Nichtbelieferung des Käufers sei. Das stimmt im Ergebnis mit dem Zeitpunkt überein, den auch die Rechtsprechung zugrundelegt37. Rabel hatte dagegen, um Spekulationen des Käufers38 möglichst zu beschränken, die Ansicht vertreten, entscheidend sei nicht die Entstehung des Schadensersatzanspruchs, sondern die Möglichkeit ihn geltend zu machen, also im Fall der Erfüllungsverweigerung des Verkäufers nicht erst die Erklärung des Käufers, er verlange Schadensersatz, sondern schon die Möglichkeit, diese Erklärung abzugeben39. Im Fall der jetzt zulässigen Nachfristsetzung ohne Ablehnungsandrohung (§ 281 Abs. 1 BGB) wäre demnach der Ablauf der Nachfrist maßgeblich40 und nicht erst der Zeitpunkt des Schadensersatzverlangens oder des Rücktritts des Käufers.

__________ 33 Art. 4: 506; in Lando/Beale (Hrsg.), The Principles of European Contract Law: Part I and II Combined and Revised, 2000; deutsche Übersetzung: v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts – Teil I und II, 2002. Zum Konzept der „Principles“ vgl. Zimmermann, JZ 1995, 477 ff. 34 Art. III. – 3: 707; in v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definations and Model Rules of European Private Law, 2008. Es handelt sich dabei um einen im Rahmen des „European Commission’s Action Plan on a More Coherent European Contract Law“ von unabhängigen wissenschaftlichen Gremien ausgearbeiteten Vorentwurf für ein Europäisches Obligationenrecht. Vgl. dazu Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/ Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529 ff.; Pfeiffer, AcP 208 (2008), 227 ff.; Ernst, AcP 208 (2008), 248 ff. 35 Art. 76 CISG. 36 Nach früherem Schuldrecht (§ 326 BGB a. F.) wurde somit in erster Linie der Ablauf der Nachfrist als maßgeblich angesehen, vgl. Rabel (Fn. 22), S. 464 f.; v. Caemmerer (Fn. 22), S. 8; Blomeyer (Fn. 22), § 33 I 4 a; Wiedemann (Fn. 22), § 325 BGB Rz. 49; Bardo (Fn. 4), S. 102; so auch U. Huber (Fn. 4), S. 250 m. w. N. in Fn. 79. Im Fall der Erfüllungsverweigerung des Verkäufers wird der Zeitpunkt als maßgeblich angesehen, zu dem der Käufer erklärt, daß er vom Erfüllungsanspruch auf den Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung übergeht, Wiedemann (Fn. 22), § 325 BGB Rz. 49; Bardo (Fn. 4), S. 103; Christian Knütel, AcP 202 (2002), 555, 584; vgl. auch U. Huber (Fn. 4), S. 251 m. w. N. in Fn. 84. Dementsprechend müßte nach neuem Schuldrecht (§ 281 BGB) der Zeitpunkt maßgeblich sein, in dem der Käufer nach Ablauf der Nachfrist erklärt, daß er Schadensersatz verlangt (vgl. dazu auch oben nach Fn. 11), oder gleichbedeutend: wenn er gemäß § 323 BGB den Rücktritt erklärt; übereinstimmend mit Art. 76 CISG. So auch Christian Knütel aaO. 37 Vgl. oben Fn. 9–11. 38 Dazu oben nach Fn. 27. 39 Rabel (Fn. 22), S. 465 f.; de lege ferenda auch U. Huber (Fn. 27), S. 850. 40 So auch Heinrichs (Fn. 22), § 281 BGB Rz. 34; Emmerich (Fn. 22), vor § 281 BGB Rz. 58.

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Ein Wahlrecht des Käufers zwischen dem Zeitpunkt der Fälligkeit des Lieferanspruchs und dem Zeitpunkt der Entstehung des Schadensersatzanspruchs (bzw. dem Zeitpunkt der Möglichkeit, ihn geltend zu machen) wird von der Literatur zwar abgelehnt41. De facto läßt es sich aber nach beiden in ihr vertretenen Ansichten nicht ausschließen. Denn dem Käufer, der nach Ablauf einer von ihm gesetzten Nachfrist Schadensersatz verlangt, kann die Berufung darauf, er habe tatsächlich mit Weiterveräußerungsabsicht gehandelt (also mit der Absicht, die gekaufte Ware bei günstiger Gelegenheit wieder zu verkaufen), nicht abgeschnitten werden. Mit dieser Absicht ist vor allem auf Märkten mit einem ausgeprägt spekulativen Charakter zu rechnen. Dann aber kann der Käufer nach § 252 BGB jedenfalls verlangen, die Differenz des Kaufpreises zu dem bei Verzugseintritt bestehenden Marktpreis als Schadensersatz zu erhalten. Je nachdem, ob der Marktpreis bei Verzugseintritt oder bei Ablauf der Nachfrist höher ist, wird er sich für die eine oder andere Variante entscheiden42. Die damit gegebene einseitige Spekulationsmöglichkeit wird nur dann ausgeschlossen, wenn man den Berechnungszeitpunkt der nachträglichen Disposition des Käufers entzieht, indem man ihn auf den Zeitpunkt der geschuldeten Lieferung ein für allemal fixiert43. Das wird in der Literatur zwar vereinzelt, allerdings von gewichtigen Stimmen, vorgeschlagen44, verträgt sich aber nicht mit der Konzeption, daß Grundlage der abstrakten Schadensberechnung ein hypothetisches Deckungsgeschäft sei. Denn ein Deckungsgeschäft ist vor Ablauf der nach Fälligkeit zunächst gesetzten Nachfrist, von Ausnahmefällen abgesehen, eben nicht möglich. Hierauf ist noch zurückzukommen. Die überwiegende Meinung in der Literatur geht dahin, daß die abstrakte Schadensberechnung des Käufers auf der Basis eines hypothetischen Deckungskaufs immer möglich sein müsse, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls, und daß dem Verkäufer insbesondere der Einwand nicht gestattet werden dürfe, der Käufer habe tatsächlich ein Deckungsgeschäft zu einem günstigeren Preis abgeschlossen als zum Marktpreis am Berechnungsstichtag45. Dafür sprechen zweifellos Praktikabilitätserwägungen. Zur Begründung wird darüber hinaus angeführt, die Wiederbeschaffungskosten für die Ware am Berechnungsstichtag repräsentierten den „objektiven Wert“, um den

__________ 41 Vgl. die Nachweise in Fn. 27. 42 Vgl. Wiedemann (Fn. 22), § 325 BGB Rz. 49; Lange/Schiemann (Fn. 22), S. 349; U. Huber (Fn. 4), S. 250 f. 43 So die Rechtslage nach Common Law, vgl. oben Fn. 32. Allerdings hängt dort eben der Anspruch auf Schadensersatz „statt der Leistung“ nicht von der vorherigen Setzung einer Nachfrist ab. 44 So Keuk (Fn. 18), S. 132; Hefermehl (Fn. 22), § 376 HGB Rz. 24. Keuk will allerdings mit einer mir nicht verständlichen Begründung dem Käufer wahlweise das Recht geben, die Berechnung auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem sein Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung entstanden ist, was die praktischen Vorteile ihres Lösungsvorschlags gänzlich zunichte macht. 45 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 26; Christian Knütel, AcP 202 (2002), 555, 586; zustimmend OLG Düsseldorf, NJW-RR 1988, 1382, 1383.

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der Käufer jedenfalls geschädigt sei46. Dies ist allerdings auf entschiedenen und bedenkenswerten Widerspruch gestoßen47. Die Behauptung, der objektive Wert einer dem Schuldnervermögen entzogenen oder vorenthaltenen Sache sei der Mindestbetrag des zu ersetzenden Schadens, sei mit der schadensersatzrechtlichen Differenzhypothese unvereinbar, nach der es nicht auf den objektiven Wert ankomme, sondern darauf, wie sich der zum Ersatz verpflichtende Umstand gerade im Vermögen des Ersatzberechtigten ausgewirkt habe, und verstoße daher gegen das für das Schadensersatzrecht grundlegende „Bereicherungsverbot“48. Darüber hinaus werde das Vermögen des Käufers durch die Lieferung der Kaufsache nicht um den Wert der aktuellen Wiederbeschaffungskosten vermehrt, sondern nur um den Wert, den gerade er mit Hilfe der Sache hätte erzielen können49. Deshalb scheide eine Schadensberechnung anhand der Kosten eines fiktiven Deckungsgeschäfts insbesondere dann aus, wenn feststehe, daß der Käufer tatsächlich überhaupt keinen Ersatz für die ihm entgangene Ware beschafft habe50. Ist das richtig, muß eine Schadensberechnung anhand eines fiktiven Deckungsgeschäfts auch dann ausscheiden, wenn feststeht, daß der Käufer tatsächlich ein Deckungsgeschäfts zu einem günstigeren Preis abgeschlossen hat (z. B. indem er das Deckungsgeschäft aufgeschoben hat bis zu einem Termin, zu dem die Preise gefallen waren51, oder indem er eine besondere „Okkasion“ – einen Ausverkauf oder die Auflösung einer Konkursmasse – oder Tagespreisschwankungen ausgenutzt hat, oder indem er besondere Findigkeit und Mühe aufgewendet hat). Eine Mindermeinung in der Literatur will deshalb dem Verkäufer genau diesen zuletzt genannten Einwand gestatten52. Auf demselben Standpunkt stehen das Einheitskaufrecht53 und im Anschluß hieran die europäischen „Principles“54 und „Model Rules“55, und nicht zuletzt der Bundesgerichts-

__________ 46 Vgl. Rabel (Fn. 22), S. 455 („dem Käufer wird … der Vermögenswert zugebilligt, den er bei Lieferung der richtigen Ware am richtigen Ort und zum richtigen Zeit haben würde“); Keuk (Fn. 18), S. 109 ff.; Halfpap (Fn. 22), S. 156, 158; U. Huber (Fn. 4), S. 248 f. Vgl. auch RG, LZ 1920, 610: auch ohne Rücksicht auf eine Weiterveräußerungsabsicht erscheine der Käufer, „wenn er die Ware entbehren muß, wenn nicht um mehr, so doch jedenfalls um ihren allgemeinen Verkehrswert in seinem Vermögen beeinträchtigt“. Hieran hat das RG allerdings in der Folgezeit nicht festgehalten, vgl. oben bei Fn. 18–21. 47 Lange/Schiemann (Fn. 22), § 6 I S. 248 ff., § 6 X 6 S. 348 f. Fn. 680; Ulrike Picker, Die Naturalrestitution durch den Geschädigten, 2003, S. 124 Fn. 66, S. 157 Fn. 145. 48 Lange/Schiemann (Fn. 22), § 6 I S. 248. 49 Ulrike Picker (Fn. 47), S. 124 Fn. 66. 50 Ulrike Picker (Fn. 47), S. 157 f. Fn. 145. 51 Vgl. dazu den oben Fn. 32 zitierten Fall aus der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung. 52 Vgl. Wiedemann (Fn. 22), § 325 Rz. 46; Bardo (Fn. 4), S. 112 ff., die allerdings für den praktisch wichtigsten Fall – Abschluß des Deckungsgeschäfts zu einem späteren Termin bei günstigeren Marktpreisen – eine Unterausnahme zulassen will. 53 Vgl. Art. 76 CISG: abstrakte Schadensberechnung ist überhaupt nur zulässig, wenn kein Deckungsgeschäft abgeschlossen worden ist. 54 Art. 4: 506 PECL (dazu oben Fn. 33). 55 Art. III. – 3: 707 DCFR (dazu oben Fn. 34).

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hof56. Die abstrakte Schadensberechnung wird dann abgeschwächt zu einer bloßen Vermutung57, daß der Käufer mindestens einen Schaden erlitten hat, der den Kosten des Deckungsgeschäfts am Berechnungsstichtag entspricht, und die Vermutung ist widerlegt, wenn nachgewiesen wird, daß der nach der schadensersatzrechtlichen Differenztheorie berechnete Schaden tatsächlich geringer war. Hiergegen sind wohl keine dogmatischen Einwände zu erheben außer der Frage, woher eine solche freigeschaffene Vermutung eigentlich ihre Legitimation bezieht; materielle Prinzipien des Schadensersatzrechts sind nicht verletzt. Um so stärker wiegen die praktischen Bedenken. Ob der Verkäufer etwas von einem günstigen Deckungsgeschäft erfährt, hängt vom Zufall ab; auf erfolgreiche Tarnung wird eine Prämie ausgesetzt; der Käufer, der fallende Preise abwartet, muß (wenn er ehrlich ist) den Erfolg dem Verkäufer zugute kommen lassen und den Mißerfolg (weil er durch den Aufschub den Schaden erhöht hat) selber tragen; ob ein bestimmtes Geschäft ein Deckungsgeschäft ist, kann zweifelhaft sein; und anderes mehr. Der Vereinfachungseffekt, der sich mit der abstrakten Schadensberechnung verbinden soll, geht zu einem guten Teil verloren.

VI. Die abstrakte Schadensberechnung i. S. d. § 376 Abs. 2 HGB: Berechnung des Käuferschadens anhand des objektiven Verkehrswerts der vorenthaltenen Leistung Als kritisches Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß weder das Erklärungsmodell der Rechtsprechung – abstrakte Schadensberechnung als Sonderfall der Berechnung von entgangenem Gewinn – noch das Erklärungsmodell der Literatur – abstrakte Schadensberechnung als Berechnung der Kosten eines fiktiven Deckungskaufs – wirklich zu überzeugen vermag. Deshalb ist es vielleicht angebracht, den Blick zurückzuwenden zum Ausgangspunkt, der Vorschrift des § 376 Abs. 2 HGB. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß auf diese Bestimmung keines der beiden Erklärungsmuster paßt. Zunächst einmal ist offensichtlich, daß es sich bei dem gemäß § 376 Abs. 2 HGB zu ermittelnden Differenzbetrag in den Augen des Gesetzgebers um einen Mindestschaden handelt, der in jedem Fall zu ersetzen ist, unter der einzigen Voraussetzung, daß der Marktpreis zum Lieferungszeitpunkt gegenüber dem Vertragspreis gestiegen ist. Keiner der Einwände, die im Zusammenhang mit der abstrakten Schadensberechnung diskutiert werden, wird zugelassen: weder der Einwand, der Käufer habe nicht in der Absicht der gewinnbringenden Weiterveräußerung gehandelt, noch der Einwand, er habe in Wirklichkeit einen Deckungskauf zu einem günstigeren Preis abgeschlossen als dem Marktpreis am Berechnungsstichtag, noch der Einwand, er habe überhaupt kein Deckungsgeschäft abgeschlossen. Es handelt sich somit in § 376 Abs. 2 HGB um den Ersatz eines

__________ 56 BGH, WM 1998, 931, 932 (mit einer Ausnahme für den Fall „überobligationsmäßiger Bemühungen“ des Käufers, die dem Einheitsrecht fremd ist); dazu oben bei Fn. 7. 57 So auch der BGH a. a. O.; dazu oben bei Fn. 6.

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Mindestschadens, der vom Gesetz objektiv bestimmt wird, ohne daß es auf die individuellen Verhältnisse beim Geschädigten ankommt58. Bei diesem Mindestschaden handelt es sich einfach um den objektiven Wert oder Verkehrswert der Kaufsache zur Lieferzeit und am Lieferort, berechnet nach dem laufenden Börsen- oder Marktpreis. An die Stelle der nichtgelieferten Sache tritt ihr Wert, und zwar derjenige Wert, den der Markt der Sache hier und jetzt beilegt59. Der Anspruch auf die Sache wird durch den Anspruch auf den Ersatz ihres aktuellen Wertes ersetzt60. Zugrunde liegt die Vorstellung, daß der Käufer, wenn er die Ware nicht erhält, „jedenfalls um ihren allgemeinen Verkehrswert in seinem Vermögen beeinträchtigt ist“61. Entgegen der bisher auch von mir geteilten62 vorherrschenden Ansicht in der Literatur63 kann dieser Wert mit Aufwendungen eines „typisierten Deckungskaufs“64 nicht gleichgesetzt werden. Die Regel des § 376 Abs. 2 HGB und die Vorstellung eines typischen Deckungskaufs passen nicht zusammen. Der typische Deckungskauf wird (wovon auch § 376 Abs. 3 HGB als selbstverständlich ausgeht) nicht vor, sondern nach Verstreichen des Liefertermins abgeschlossen; infolgedessen könnte hierfür nicht der Marktpreis „zur Zeit der geschuldeten Leistung“, sondern es müßte der erste nach Ablauf der Lieferfrist feststellbare Marktpreis maßgeblich sein, zu dem ein „anderweit vorgenommener Kauf“ möglich wäre. Bei Distanzkäufen ist der Ort der geschuldeten Leistung (also im allgemeinen der Versendungs- oder Abladeort) für ein Deckungsgeschäft nicht unbedingt geeignet (was in der Literatur zu komplizierten Anpassungsüberlegungen geführt hat65, die mit § 376 Abs. 2 HGB nicht recht vereinbar sind). Auch sieht § 376 Abs. 2 HGB einen Ersatz für die typischen Kosten des Deckungskaufs nicht vor66.

__________ 58 v. Caemmerer (Fn. 22), S. 7 f. 59 Vgl. Rabel (Fn. 22), S. 455: „Der Marktpreis am Erfüllungsort tritt an die Stelle der Ware, ist ihr Ersatz … Dem Käufer wird … der Vermögenswert zugebilligt, den er bei Lieferung der richtigen Ware am richtigen Ort und zur richtigen Zeit bekommen haben würde“. 60 Vgl. auch Keuk (Fn. 18), S. 109 ff.; Hefermehl (Fn. 22), § 376 HGB Rz. 24; Christian Knütel, AcP 202 (2002), 555, 571 ff. Wie Rabel gehen alle drei Genannten davon aus, daß der „Wert“ der Ware mit den fiktiven Anschaffungskosten am Bewertungsstichtag indentisch sei; so auch U. Huber (Fn. 4), S. 248. 61 RG, LZ 1920, 610. Mit dem „allgemeinen Verkehrswert“ ist hier zweifellos der Preis gemeint, zu dem man die Ware verkaufen kann. Daß der Käufer hiernach keinen Schadensersatz erhält, wenn der Marktpreis zum Lieferzeitpunkt gegenüber dem Vertragspreis gefallen ist, liegt in der Natur der Sache. In diesem Fall kann der Käufer froh sein, wenn ihm der Verkäufer durch seinen Verzug den Rücktritt von dem ungünstigen Vertrag ermöglicht. Allerdings wird der Verkäufer das wahrscheinlich nicht tun, sondern sich zum Marktpreis eindecken, um seinen Anspruch auf den (höheren) Vertragspreis aufrechtzuerhalten. 62 U. Huber (Fn. 4), S. 248 ff. 63 Vgl. oben Fn. 22, 29, 30. 64 So v. Caemmerer (Fn. 22), S. 8. 65 Vgl. U. Huber (Fn. 4), S. 251 und die dort gegebenen Nachweise. 66 Anders v. Caemmerer (Fn. 22), S. 8.

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Zu diesen Bedenken ex lege lata kommt ein Bedenken grundsätzlicher Art hinzu. Der „objektive Wert“ oder „allgemeine Verkehrswert“ einer Sache kann mit den Wiederbeschaffungskosten, auch den typischen Wiederbeschaffungskosten, nicht gleichgesetzt werden. Für den Schuldner, der eine ihm entzogene oder vorenthaltene Sache wiederbeschaffen will, repräsentieren die Kosten den Wert, den die Sache für ihn besitzt. Der allgemeine „Verkehrswert“ einer Sache ist dagegen der Wert, den sie sozusagen für jedermann besitzt. Dieser Wert aber ist gleich dem Preis, der sich bei einem Verkauf der Sache auf einem allgemein zugänglichen Markt erzielen läßt. Nun scheint der Unterschied bei Waren, die einen Börsen- oder Marktpreis haben, bedeutungslos, denn hier gibt es keinen unterschiedlichen Preis für „Einkauf“ und „Verkauf“, sondern die Preise sind sich, wenn man die Transaktionskosten beiseite läßt, genau gleich. So erklärt es sich, daß in der Vielzahl der einfach gelagerten Fälle auch solche Käufer, die tatsächlich ein Deckungsgeschäft durchführen, es bei der Schadensberechnung des § 376 Abs. 2 HGB bewenden lassen können und nur, wenn die Kosten im Einzelfall fühlbar höher sind, auf die konkrete Schadensberechnung ausweichen müssen. Für ein vertieftes Verständnis der in § 376 Abs. 2 HGB getroffenen Regelung ist es aber doch wichtig, sich klar zu machen, daß der Verkehrswert der Ware, der hier der Schadensberechnung zugrundegelegt ist, der Preis ist, der bei einer Veräußerung der Ware zur Lieferzeit und am Lieferort, und zwar prinzipiell von jedermann, erzielt werden könnte. Entgegen der Annahme, die sich in der Rechtsprechung durchgesetzt hat67, bedeutet das aber nicht, daß gemäß § 376 Abs. 2 HGB dem Käufer „entgangener Gewinn“ im Sinn des § 252 BGB zu ersetzen wäre. Um es zu wiederholen: Ersetzt wird der Wert der zu liefernden Sache, abzüglich des vom Käufer noch nicht bezahlten Kaufpreises; dieser Wert wird bemessen nach dem „Marktpreis“, der durch Veräußerung der Sache zur Zeit und am Ort der geschuldeten Lieferung auf dem offenen Markt von jedermann erzielt werden könnte. Dieser Wert bleibt sich vollkommen gleich, welchen konkreten Zweck der Käufer mit der Ware auch immer verfolgen mag. Der zu ersetzende Schaden ist nach der Bestimmung des § 376 Abs. 2 HGB einfach darin zu sehen, daß dieser Wert dem Vermögen des Käufers vorenthalten wird, wobei der durch die Nichtbezahlung des Kaufpreises eintretende Vorteil auszugleichen ist. Teleologisch betrachtet, sprechen für die in § 376 Abs. 2 HGB aufgestellte Regel vor allem zwei Gründe. Erstens wird dem Käufer die prozessuale Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs erleichtert, weil es sich beim Marktpreis um einen verhältnismäßig leicht zu ermittelnden und nachzuweisenden, objektiven Umstand handelt. Zweitens wird dem Verkäufer – was zumindest im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 376 Abs. 2 HGB nicht zweifelhaft sein kann – der Einwand abgeschnitten, der dem Käufer im konkreten Fall individuell entstandene Schaden sei geringer als die Differenz zwischen Vertragspreis und Marktpreis. Auf diese Weise wird sichergestellt, daß der Ver-

__________ 67 Vgl. die Nachweise in Fn. 4, 5.

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tragsbruch des Verkäufers in jedem Fall mit einer Mindestsanktion versehen ist und daß es sich für den Verkäufer nicht lohnt, den Vertrag zu brechen, um die Ware anderweit zu gestiegenen Preisen abzusetzen oder um die gestiegenen Beschaffungskosten zu vermeiden68. Die abstrakte Schadensberechnung dient auf diese Weise der Stabilisierung des Prinzips „pacta sunt servanda“. Der Verkäufer kann also gegen den auf § 376 Abs. 2 HGB gestützten Anspruch nicht einwenden, daß es dem Käufer tatsächlich gelungen sei, bei gesunkenem Marktpreis später ein günstigeres Deckungsgeschäft abzuschließen; der Erfolg dieser nach dem Erfüllungstermin vorgenommenen Spekulation auf fallende Preise wird dem Käufer zugewiesen, wie es der vertraglichen Risikozuweisung entspricht. Der Verkäufer kann nicht einwenden, der Käufer habe von vornherein die Absicht gehabt, die Kaufsache zu altruistischen Zwecken zu verwenden (etwa als Hilfe bei Hungersnot) und habe von diesem Plan, ohne ein Deckungsgeschäft abzuschließen, Abstand genommen. Auf diese Weise wird eine schadensersatzrechtliche Diskriminierung nicht gewinnorientierter Zielsetzungen vermieden. Und der Verkäufer kann sich nicht auf den Einwand der „überholenden Kausalität“ berufen, indem er z. B. geltend macht, das (hiergegen nicht versicherte) Warenlager des Käufers wäre unmittelbar nach dem Liefertermin Opfer einer Hochwasserkatastrophe geworden69. Das kann als Preis für die mit der abstrakten Berechnungsmethode verbundene Vereinfachung doch wohl in Kauf genommen werden. Die abstrakte Schadensberechnung des Verkäufers bei Nichtabnahme der Ware und Nichtbezahlung des Kaufpreises zum vorgesehenen Abnahme- und Zahlungstermin ist zwar nicht Gegenstand dieses Beitrags, soll aber wenigstens mit einem Seitenblick gestreift werden. Kaufverträge mit hinausgeschobenem Liefertermin, die sich auf Waren mit einem laufenden Marktpreis beziehen, enthalten immer ein mehr oder minder ausgeprägtes spekulatives Element, das sich aus den möglichen Preisveränderungen in der Zeitspanne zwischen dem Abschlußzeitpunkt und dem Lieferzeitpunkt des Vertrags ergibt. Der Verkäufer „gewinnt“ bei dieser Spekulation, wenn der Marktpreis fällt. Für ihn realisiert also die Differenz zwischen dem Vertragspreis und dem niedrigeren Marktpreis zur Zeit und am Ort der Lieferung den Gewinn des Geschäfts, den er bei vertragsmäßiger Abwicklung realisiert hätte und den der Käufer ihm durch die Nichtbezahlung des Kaufpreises vorenthält. Denn im Fall der Durchführung des Vertrags wäre der Kaufpreis dem Vermögen des Verkäufers zugeflossen und der Wert, zu dem die Kaufsache zum damaligen Zeitpunkt nach Marktpreisen zu bewerten war, aus dem Vermögen abgeflossen. Diese Differenz ist der „objektive“ Schaden, der im Vermögen des Verkäufers infolge der Nichtdurchführung des Vertrags eingetreten ist und der gemäß § 376 Abs. 2 HGB zu ersetzen ist. Von der Vorstellung eines hypothetischen „Deckungsverkaufs“ sollte man sich hier ganz frei machen. Wenn der Verkäufer seinen Schaden gemäß § 376 Abs. 2 HGB abstrakt berechnet, bekommt er den Gewinn, der ihm aufgrund des fehlgeschlagenen Geschäfts zusteht. Eine anderweitige Veräußerung der Ware steht ihm frei und geht auf seine eigene Rechnung.

__________ 68 Bei gefallenen Marktpreisen genügt schon das Eigeninteresse, um den Verkäufer vom Vertragsbruch abzuhalten, es bedarf keiner weiteren Sanktion, vgl. oben Fn. 61. 69 v. Caemmerer (Fn. 22), S. 7 f.

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VII. Die analoge Anwendung des § 376 Abs. 2 HGB auf Kaufverträge ohne Fixklausel: Maßgeblichkeit des Marktpreises zur Zeit und am Ort der geschuldeten Lieferung Alle voranstehenden Überlegungen haben mit dem in § 376 Abs. 2 HGB vorausgesetzten Fixcharakter des Geschäfts nichts zu tun. Der Unterschied des „gewöhnlichen“ Kaufs zum Fixkauf besteht nur darin, daß der Käufer dem Verkäufer zunächst erfolglos Nachfrist nach Maßgabe des § 281 (früher § 326) BGB setzen muß, ehe er Schadensersatz statt der Leistung verlangen kann. Der zu ersetzende Schaden ist in beiden Fällen dagegen genau derselbe. Ist die Nachfrist erfolglos verstrichen, so hat der Käufer einen Anspruch darauf, durch Geldentschädigung so gestellt zu werden, als ob der Kaufvertrag erfüllt – und das heißt: rechtzeitig und richtig erfüllt worden wäre, zur vorgeschriebenen Zeit und am vorgeschriebenen Ort70. Auf die Schadensberechnung ist § 376 Abs. 2 HGB analog anzuwenden. Maßgeblich muß also auch hier der Wert der zu liefernden Sache, und da dieser Wert durch den Marktpreis repräsentiert wird, der Marktpreis zum vertraglich festgelegten Lieferzeitpunkt sein71. Denn dies ist der Wert, den der Verkäufer dem Vermögen des Käufers vorenthalten hat. Auch hier ist gleichgültig, ob der Käufer die Sache mit der Absicht gekauft hat, sie bei günstiger Gelegenheit auf demselben Markt, auf dem er sie eingekauft hat, weiterzuveräußern. Es genügt, daß die abstrakte Möglichkeit bestand, bei einer Weiterveräußerung zum Zeitpunkt der Lieferung einen bestimmten Kaufpreis zu erzielen. Die analoge Anwendung des § 376 Abs. 2 HGB betrifft zunächst den Fall, daß ein Handelskauf (also ein Kaufvertrag, an dem mindestens auf einer Seite ein kaufmännisches Unternehmen beteiligt ist) über Sachen mit einem Börsen- oder Marktpreis ohne Fixklausel abgeschlossen ist. In einem Karsten Schmidt gewidmeten Beitrag darf der Hinweis nicht fehlen, daß keine Bedenken dagegen bestehen, die Anwendung der Bestimmung in einem zweiten Analogieschritt auch auf den Fall zu erstrecken, in dem zwei Nichtkaufleute einen Kaufvertrag, sei es mit sei es ohne Fixklausel, über Waren mit einem laufenden Marktpreis abschließen. Nehmen wir an, der große Krieg hätte ein vorzeitiges glückliches Ende genommen, und der Militärfiskus verfügt über große Bestände an Rum, Erbsen, Schinken und Prothesenleder72, die er im Zug der Demobilisierung an humanitäre Organisationen verkauft. Wenn nun der Fiskus, aus welchem Grund auch immer (etwa weil eine neue weltpolitische Krise droht), bei Fälligkeit nicht liefert und auch eine ihm gesetzte Nachfrist verstreichen läßt, kann die Käuferin (also z. B. die Welthungerhilfe) als abstrakten Schaden die Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem höheren Marktpreis zur Zeit und am Ort der Lieferung verlangen. Denn dies ist der Wert, der ihrem Vermögen rechtswidrig vorenthalten ist, und für die rechtliche Beurteilung dieser Lage kann es keinen Unterschied machen, ob derjenige, der ihr diesen Wert vorenthält, ein Kaufmann oder ein sonstiger Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr ist.

Maßgeblich für die abstrakte Schadensberechnung ist auch im Fall der analogen Anwendung des § 376 Abs. 2 HGB der für den Lieferzeitpunkt ermittelte

__________

70 So im Ausgangspunkt auch Rabel (Fn. 59). 71 Im Ergebnis übereinstimmend Hefermehl (Fn. 22), § 376 HGB Rz. 24; mit Einschränkungen auch Keuk (Fn. 18), S. 132 (dazu oben Fn. 44). 72 Vgl. dazu die „Fiskusfälle“ aus dem ersten Weltkrieg oben Fn. 18.

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Marktwert der Ware am Erfüllungsort, also der Wert auf dem Markt, auf dem der Käufer die Ware eingekauft hat. Beabsichtigt der Käufer, die Ware auf einem anderen Markt weiterzuveräußern, so mag er versuchen, die Gewinnspanne, die zwischen dem Einkaufspreis und dem auf dem Absatzmarkt erzielbaren Preis besteht, als entgangenen Gewinn aus dem fehlgeschlagenen Geschäft geltend zu machen. Die Rechtsprechung nennt das die „abstrakte“ Berechnung des entgangenen Gewinns, die, wenn der Käufer Kaufmann ist, ohne weiteres zulässig sein soll73. Demgegenüber ist – auf die Gefahr hin, oft Gesagtes bis zum Überdruß zu wiederholen74 – daran festzuhalten, daß es sich hierbei weder um „abstrakte“ noch um eine allgemein zulässige Art der Schadensberechnung handelt. Zwar ist es richtig, daß ein Käufer, der als Anbieter auf einem bestimmten Absatzmarkt tätig ist und entgangenen Gewinn geltend macht, nicht nachweisen muß, daß infolge der Nichterfüllung ihm ein bereits eingeleitetes konkretes Anschlußgeschäft fehlgeschlagen ist, sondern es genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, daß ein solches Anschlußgeschäft bei vertragsmäßiger Leistung des Verkäufers möglich gewesen wäre75. Das ergibt sich aus der Beweiserleichterung des § 252 Satz 2 BGB. Voraussetzung des Schadensersatzes wegen entgangenen Gewinns ist aber, daß der Gewinn tatsächlich entgangen ist. Steht fest, daß der Käufer ein Deckungsgeschäft abgeschlossen und auf diese Weise den geplanten Weiterveräußerungsgewinn realisiert hat, kann er natürlich nicht zusätzlich Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns aufgrund der sogenannten „abstrakten“ Berechnung dieses Gewinns verlangen. War ein solches Deckungsgeschäft möglich und zumutbar und ist ihm der Weiterveräußerungsgewinn nur deshalb entgangen, weil er seine Durchführung unterlassen hat, so entfällt der Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Obliegenheit zur Schadensabwendung. Erwirbt aber ein Kaufmann Waren zum Zweck der Weiterveräußerung, für die es auf dem Einkaufsmarkt einen „Marktpreis“ gibt, so spricht zumindest eine starke prima-facie-Vermutung dafür, daß ein Deckungsgeschäft auch noch nach Entstehung des Schadensersatzanspruchs möglich und zumutbar war76. Der Käufer, der den entgangenen Weiterveräußerungsgewinn nach der Ausdrucksweise der Rechtsprechung „abstrakt“ berechnen will, muß also zumindest darlegen, daß er ein Deckungsgeschäft zur Wahrung seiner Gewinnchance weder abgeschlossen hat noch abschließen konnte, und die dahingehende prima-facie-Vermutung entkräften. Die Frage, ob der Käufer, um die Weiterveräußerungschance durch ein rechtzeitiges Deckungsgeschäft zu wahren, nach § 254 Abs. 2 BGB verpflichtet ist, zum frühestmöglichen Zeitpunkt vom Erfüllungsanspruch abzugehen und auf den Schadensersatzanspruch überzuwechseln, ist hier nicht näher zu untersuchen77. Um ein Problem der abstrakten Schadensberechnung handelt es sich dabei nicht.

__________ 73 74 75 76 77

So zuletzt besonders deutlich BGH, NJW-RR 2001, 1542; 2006, 243, 244. Vgl. oben Fn. 23. BGH, NJW-RR 2001, 1542; 2006, 243, 244; vgl. auch U. Huber (Fn. 4), S. 252 f. Vgl. U. Huber (Fn. 4), S. 240, 255. Verneinend aus prinzipiellen Gründen, vielleicht allzu apodiktisch, U. Huber (Fn. 4), S. 256 f. im Anschluß an RGZ 83, 176 (dazu a. a. O. S. 166 ff.) und im Widerspruch zu BGH, ZIP 1997, 646 (dazu a. a. O. S. 168 ff.; beide Entscheidungen betreffen den Fall des Abnahme- und Zahlungsverzugs des Käufers). Man muß das aber wohl pragmatischer und differenzierter beurteilen; vgl. auch die von mir a. a. O. S. 170 ff. erörterten Beispielfälle.

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Der Wert der Kaufsache am Erfüllungsort zum Erfüllungszeitpunkt, der im Weg der abstrakten Schadensberechnung analog § 376 Abs. 2 HGB allein ersatzfähig ist, ist eine ein für allemal feststehende Größe. Er kann vom Käufer durch Hinauszögern der Nachfristsetzung nicht manipuliert werden. Ist der Marktpreis bis zum Ablauf der Nachfrist gestiegen und hat das dazu geführt, daß die tatsächlichen Aufwendungen des Käufers für das Deckungsgeschäft höher sind als der Marktpreis zum Erfüllungszeitpunkt, so bleibt es dem Käufer unbenommen, seinen Schaden konkret zu berechnen. Dann muß er allerdings dartun, daß er nach Ablauf der Nachfrist tatsächlich ein Deckungsgeschäft zum höheren Preis abgeschlossen hat, ohne dabei seine Obliegenheit zur Schadensminderung gemäß § 254 Abs. 2 BGB verletzt zu haben. Für die abstrakte Schadensberechnung bleibt es dagegen beim ursprünglichen Erfüllungszeitpunkt. Ein Recht, zwischen verschiedenen Zeitpunkten zu wählen, besteht nicht. Hierdurch ist dem Käufer die Möglichkeit genommen, bei steigenden Marktpreisen die Nachfristsetzung oder, nach Ablauf der Nachfrist, den Übergang vom Erfüllungs- zum Schadensersatzanspruch nur zu dem Zweck zu verzögern, seine Position bei der abstrakten Schadensberechnung zu verbessern78. Damit entfällt ein wesentlicher Anreiz für einen mißbräuchlichen Aufschub der Nachfristsetzung. Der Käufer, der bei steigenden Marktpreisen ein wirklich geplantes Deckungsgeschäft willkürlich verzögert, erhöht erst einmal die eigenen Kosten, um sie anschließend vom Verkäufer wieder beizutreiben, und nicht nur die Kosten eines lediglich auf dem Papier stehenden fiktiven Deckungsgeschäfts, die ohne weiteres den Verkäufer belasten sollen. Das schränkt das Mißbrauchsrisiko wesentlich ein. In den Mißbrauchsfällen, die auch bei der konkreten Schadensberechnung denkbar sind, bleibt immer noch die Möglichkeit, der auf einer in spekulativer Absicht verzögerten Nachfristsetzung aufbauenden konkreten Schadensberechnung den Einwand des Rechtsmißbrauchs entgegenzusetzen79. Aber das ist ein Problem, das außerhalb des Gegenstandes unserer Untersuchung liegt. Aufgabe der Lehre von der abstrakten Schadensberechnung kann es nur sein, dieses Rechtsinstitut so auszugestalten, daß es einerseits möglichst einfach zu handhaben ist und daß andererseits jedenfalls mit seiner Hilfe kein Verstoß gegen das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot, kein Verstoß gegen die Obliegenheit des Gläubigers zur Schadensminderung und -abwendung und, last but not least, kein spekulativer Mißbrauch möglich ist. Dieses Ziel wird erreicht, indem § 376 Abs. 2 HGB auf den Fall des „gewöhnlichen“ Kaufs von beweglichen Sachen, die einen laufenden Börsen- oder Marktpreis haben, schlicht analog angewendet wird. Die Folge ist, daß nach erfolglosem Ablauf einer für die Lieferung gesetzten Nachfrist (und im Fall der Erfüllungsverweigerung auch ohne Nachfristsetzung) als „abstrakter“ Schadensersatz statt der Leistung stets die Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem Marktpreis zur

__________ 78 Vgl. oben Fn. 27. 79 Vgl. oben Fn. 28.

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Zeit und am Ort der geschuldeten Lieferung geltend gemacht werden kann, während der Zeitpunkt des Ablaufs der Nachfrist oder der Erklärung des Käufers, Schadensersatz statt der Leistung zu verlangen, keine Rolle spielt; daß der Verkäufer gegen den so berechneten Anspruch niemals einwenden kann, der dem Käufer tatsächlich entstandene Schaden sei geringer; und daß umgekehrt der Käufer, der einen höheren Schaden geltend machen will, insbesondere entgangenen Weiterveräußerungsgewinn auf einem nachgelagerten Markt oder einen höheren Aufwand für ein nach Ablauf der Nachfrist tatsächlich abgeschlossenes Deckungsgeschäft, diesen Schaden konkret und unter Beachtung seiner Obliegenheiten aus § 254 BGB berechnen muß. Damit sind die kollidierenden Interessen der beiden Parteien, so gut es eben geht, durch eine einfache Regel zum Ausgleich gebracht.

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Konsortialverträge im Rahmen der Mitteilungspflichten nach § 20 AktG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Problemaufriss; Plan der Darstellung III. Mitteilungspflichten im Standardfall: Stimmrechtspool als Innengesellschaft ohne Gesamthandsvermögen 1. Mitteilungspflichten der Aktionäre? a) Unternehmenseigenschaft? b) Schachtel- oder Mehrheitsbeteiligung? aa) Keine Zurechnung nach § 16 Abs. 4, 1. Fall AktG bb) Keine Zurechnung nach § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG 2. Mitteilungspflicht des Stimmrechtspools? a) Unternehmenseigenschaft? aa) Kein eigener Aktienbesitz bb) Keine Zurechnung nach § 16 Abs. 4 AktG

cc) Keine tragfähige anderweitige Begründung b) Keine Beteiligung 3. Zwischenergebnis zu III. IV. Mitteilungspflichten bei atypischen Erscheinungsformen des Pools 1. Der Pool als Aktionär a) Mitteilungspflicht der vormaligen Aktionäre (Poolmitglieder)? b) Mitteilungspflicht des Pools? aa) Aktionärseigenschaft bb) Anderweitige Interessenbindung 2. Der Pool als Außengesellschaft ohne eigenen Anteilsbesitz 3. Zwischenergebnis zu IV. V. Ausblick

I. Einführung Die Verletzung von Mitteilungspflichten, etwa nach § 20 AktG oder nach § 21 WpHG, kann wegen des in § 20 Abs. 7 AktG bzw. in § 28 WpHG angeordneten Rechtsverlusts weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Ihre genaue Beachtung ist deshalb ratsam, aber nicht immer einfach; sowohl die Voraussetzungen der verschiedenen Mitteilungspflichten wie auch die Art und Weise ihrer Erfüllung können Schwierigkeiten bereiten. Der Beitrag konzentriert sich auf die Voraussetzungsseite und dort auf die Bedeutung, die Konsortialabsprachen von Aktionären zukommt. Dabei geht er von folgendem Grundfall aus: A, B und C sind an der X-AG mit jeweils 20 % des Kapitals und der Stimmen beteiligt. Zwischen ihnen besteht ein Konsortialvertrag, nach dem die Stimmrechtsausübung durch die Aktionäre nach vorgängiger Abstimmung einheitlich erfolgen soll (Stimmrechtspool). Bestehen Mitteilungspflichten nach § 20 Abs. 1 AktG oder nach § 20 Abs. 4 AktG?

Das Thema führt Fragen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) und des Unternehmensbegriffs der §§ 15 ff. AktG zusammen. Mit beiden Fragenkrei747

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sen hat sich der Jubilar intensiv beschäftigt1. Das rechtfertigt die Hoffnung, dass der Beitrag zumindest sein Interesse, wenn nicht gar seine Zustimmung findet.

II. Problemaufriss; Plan der Darstellung Schuldner einer Mitteilung nach § 20 AktG könnten die Aktionäre A, B und C sein. Eine Mitteilungspflicht könnte aber auch den zwischen ihnen bestehenden Stimmrechtspool treffen, und zwar entweder derart, dass der Pool an die Stelle von A, B und C tritt, oder so, dass die Aktionäre und ihr Pool nebeneinander mitteilungspflichtig sind. Lösungsentscheidend sind nach § 20 AktG die Unternehmenseigenschaft der Aktionäre oder ihres Pools, die Zuordnung des Beteiligungsbesitzes zum Unternehmen und schließlich das Überschreiten bestimmter Schwellenwerte; insoweit ist vor allem die Zurechnungsvorschrift des § 16 Abs. 4 AktG zu beachten. Konsortial- oder Poolverträge sind Gesellschaftsverträge im Sinne der §§ 705 ff. BGB, begegnen aber in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Im Beispielsfall liegt die übliche Gestaltung vor, nämlich eine bloße Innengesellschaft zwischen den Aktionären A, B und C2. So ist es, weil sie ihre Stimmrechte im eigenen Namen ausüben, der Pool also nicht als solcher in Erscheinung tritt. Eine Gestaltungsalternative läge darin, dass A, B und C ihre Aktien auf den Pool übertragen, so dass es zu einem Wechsel in der Rechtszuständigkeit kommt. Eine Zwischenform wäre mit einer Außengesellschaft ohne eigenes Vermögen gegeben. Dann müssten A, B und C zwar Aktionäre geblieben sein, aber die Stimmrechtsausübung dem Pool überlassen, der dabei durch einen Stimmrechtsvertreter agieren könnte3. Deutlich wird schon hier, dass die Untersuchung in schwieriges Gelände führt. Sie geht zunächst vom Standardfall aus, nämlich dem Stimmrechtspool als bloßer Innengesellschaft unter fortbestehender Aktionärseigenschaft der Poolmitglieder. Mitteilungspflichtig könnten bei dieser Fallgestaltung zunächst die Aktionäre als Konsortialmitglieder sein, doch kommt auch der Pool selbst als Normadressat des § 20 AktG in Betracht (III.). Fraglich ist sodann, ob sich die Untersuchungsergebnisse verändern, wenn der Stimmrechtspool seine Erscheinungsform wechselt, also selbst Aktionär oder zumindest Außengesellschaft wird (IV.). Am Ende ist das Thema noch in einen weiteren Rahmen einzustellen (V.).

__________ 1 Vgl. zur GbR Karsten Schmidt in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. III 1983, S. 413 ff.; dens., JZ 1985, 909 ff.; dens., NJW 2001, 993 ff.; zum Unternehmensbegriff Karsten Schmidt, ZGR 1980, 277 ff.; ders., AG 1994, 189 ff.; ders. in FS Koppensteiner, 2001, S. 191 ff. 2 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 133 AktG Rz. 26; Krieger in Münchener Hdb. des Gesellschaftsrechts, Bd. 4: Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 68 Rz. 9; Joussen, Gesellschafterabsprachen neben Satzung und Gesellschaftsvertrag, 1995, S. 57 f.; ders., AG 1998, 329 f.; Odersky in FS Lutter, 2000, S. 557, 560. 3 Vgl. noch IV 2.

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Konsortialverträge und die Mitteilungspflichten nach § 20 AktG

III. Mitteilungspflichten im Standardfall: Stimmrechtspool als Innengesellschaft ohne Gesamthandsvermögen 1. Mitteilungspflichten der Aktionäre? Mitteilungspflichtig könnten zunächst die Aktionäre A, B und C selbst sein, und zwar sowohl nach § 20 Abs. 1 AktG (Schachtelbeteiligung) als auch nach § 20 Abs. 4 AktG (Mehrheitsbeteiligung). Beide Vorschriften setzen voraus, dass die Aktionäre der AG als Unternehmen gegenüber treten und jedem Unternehmensaktionär mehr als ein Viertel der Aktien bzw. eine Mehrheitsbeteiligung gehört. a) Unternehmenseigenschaft? Für die Unternehmenseigenschaft der Aktionäre gelten die allgemeinen Grundsätze4. Nach der durchgedrungenen teleologischen Interpretation des Unternehmensbegriffs müssten A, B und C also jeder für sich neben ihrer Beteiligung an der AG anderweitige wirtschaftliche Interessenbindungen aufweisen, die nach Art und Intensität ernsthaft besorgen lassen, sie könnten wegen dieser Bindungen ihren mitgliedschaftlichen Einfluss nachteilig ausüben5. Weitergehende Ansichten, nach denen mehr oder minder jeder Aktionär zumindest im Sinne des § 20 AktG Unternehmen sein soll, wenn er sich nicht strikt auf die Verwaltung seines Privatvermögens beschränkt6, was offenbar schon bei einem konsortialen Zusammenwirken gegeben sein soll, haben sich nicht durchgesetzt und können auch nicht überzeugen. Sie vernachlässigen nämlich den systematischen Standort und den Zweck der Norm und setzen sich schließlich auch in Widerspruch zu ihrer Entstehungsgeschichte. § 20 AktG bezweckt Informationen im Vorfeld von Beherrschung und Konzernierung, weshalb es folgerichtig ist, nur denjenigen als möglichen Schuldner einer Mitteilungspflicht anzusehen, der, abgesehen vom Mehrheitseinfluss, für seine Person die für §§ 17, 18 AktG typische Gefährdungslage begründet hat. Nach der Entstehungsgeschichte des § 20 AktG soll das Erfordernis der Unterneh-

__________ 4 OLG Stuttgart, AG 1992, 459, 460 li. Sp.; Bayer in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 20 AktG Rz. 6; Hüffer (Fn. 2), § 20 AktG Rz. 2; Heinrich in Anwaltskommentar Aktienrecht, 2. Aufl. 2007, § 20 AktG Rz. 4; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, Bd. 6, 3. Aufl. 2004, § 20 AktG Rz. 31; Nolte in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 20 AktG Rz. 6; Sester in Spindler/Stilz, AktG, Bd. 1, 2007, § 20 AktG Rz. 1; Veil in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, Bd. 1, 2008, § 20 AktG Rz. 13; Windbichler in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 10. Lfg. 1999, § 20 AktG Rz. 16; Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 118; siehe auch BGHZ 114, 203, 210 f. 5 Vgl. z. B. BGHZ 69, 334 336 ff.; BGHZ 95, 330, 337; BGHZ 135, 107, 113; BGHZ 148, 123, 125; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 31 II 1a (S. 937); Hüffer (Fn. 2), § 15 AktG Rz. 8. 6 So vor allem Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 20 AKtG Rz. 14 ff.; ähnlich Klosterkemper, Abhängigkeit von einer Innengesellschaft, 2004, S. 137 ff.; in der Tendenz noch weitergehend Burgard, Die Offenlegung von Beteiligungen, Abhängigkeits- und Konzernlagen bei der Aktiengesellschaft, 1990, S. 45 ff.

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menseigenschaft eine sachgerechte und vor allem rechtssichere Eingrenzung der Mitteilungspflichten erreichen7. Die Ausklammerung nur des eng verstandenen Privataktionärs wäre in Methode und Ergebnis aber eher das Gegenteil. Dem im Beispielsfall mitgeteilten Sachverhalt können anderweitige wirtschaftliche Interessenbindungen der Aktionäre nicht entnommen werden, so dass sie schon deshalb als Normadressaten des § 20 Abs. 1 oder 4 AktG ausscheiden8. Weil § 20 AktG Informationen im Vorfeld von Beherrschung und Konzernierung bezweckt, ist es auch folgerichtig, nur denjenigen als möglichen Schuldner einer Mitteilungspflicht anzusehen, der, abgesehen vom Mehrheitseinfluss, für seine Person die für §§ 17, 18 AktG typische Gefährdungslage begründet hat. b) Schachtel- oder Mehrheitsbeteiligung? Käme man über das Erfordernis der Unternehmenseigenschaft hinweg, so müssten A, B und C jeweils mit einer Schachtel oder einer Mehrheit an der X-AG beteiligt sein. Die eigene Beteiligung der einzelnen Aktionäre in Höhe von jeweils 20 % des Kapitals und der Stimmen reicht dafür ersichtlich nicht aus. Etwas anderes könnte sich jedoch aus der Zurechnungsvorschrift des § 16 Abs. 4 AktG ergeben. aa) Keine Zurechnung nach § 16 Abs. 4, 1. Fall AktG Geht man prüfungshalber von der Unternehmenseigenschaft der Aktionäre A, B und C aus, so wären jedem von ihnen 40 % der X-Aktien zuzurechnen, wenn sie einem Unternehmen gehören würden, das von ihnen (mehrfach) abhängig wäre (§ 17 AktG). Als solches Unternehmen kommt allein das Stimmrechtskonsortium in Betracht. Ob sich das hier vorliegende Innenkonsortium als Unternehmen qualifizieren lässt, kann in diesem Zusammenhang jedoch offen bleiben; denn jedenfalls „gehören“ ihm die in Frage stehenden Aktien mangels eigener Aktionärseigenschaft nicht (weshalb es auch nur um die Zurechnung von 40 % aus dem Besitz der Mitglieder und nicht von 60 % gehen kann). Damit sind die Voraussetzungen des Zurechnungstatbestands nicht erfüllt. Ob das allseits so gesehen wird, ist zwar wegen der im Folgenden zu erörternden von einer Mindermeinung für richtig gehaltenen Zurechnungsvariante und wegen ihrer fehlenden Zuordnung zu den verschiedenen Fällen des § 16 Abs. 4 AktG nicht gänzlich klar. Jedenfalls eine Zurechnung nach § 16 Abs. 4, 1. Fall AktG scheidet aber aus den dargelegten Gründen aus.

__________ 7 Vgl. zum Normzweck BGHZ 114, 203, 215; zur Entstehungsgeschichte Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 38 ff., besonders S. 41 f. Zutreffend gegen Erweiterungs- und Fortbildungstendenzen z. B. Veil (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 5. 8 Vgl. dazu OLG Hamburg, AG 2001, 479, 481 re.Sp.; OLG Hamm, AG 2001, 146, 147 re.Sp.; OLG Köln, AG 2002, 89, 90; LG Heidelberg, AG 1998, 47, 48 li. Sp.; Hüffer (Fn. 2), § 15 AktG Rz. 10; Bayer (Fn. 3), § 15 AktG Rz. 28 f.; Fett in Bürgers/Körber (Fn. 4), § 15 AktG Rz. 20; Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 9.

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bb) Keine Zurechnung nach § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG aaa) Eine Zurechnung von 40 % der X-Aktien hätte nach § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG zu erfolgen, wenn die Aktien einem anderen als den Aktionären A, B oder C für deren Rechnung oder für Rechnung eines von ihnen abhängigen Unternehmens gehören würden. Gemeint sind Geschäftsbesorgungs-, besonders Treuhandverhältnisse9. Bezweckt ist Umgehungsschutz: Wer sonst kraft Zurechnung Mehrheitsbesitz an einer Aktiengesellschaft hat oder gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 AktG eine Schachtelbeteiligung hält, soll das Ergebnis nicht dadurch vermeiden können, dass er die Aktien auf einen Dritten überträgt, der sie zu seiner Verfügung hält10. bbb) Die schon erwähnte Mindermeinung instrumentalisiert § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG in dem Sinne, dass Stimmbindungsverträge in zumindest entsprechender Anwendung der Norm wie Geschäftsbesorgungs- oder Treuhandverhältnisse behandelt werden11. Gedacht ist dabei vor allem an eine Zurechnung nach dem Vorbild der bilanzrechtlichen Vorschrift des § 290 Abs. 3 Satz 2 HGB, die in ihrer gängigen Auslegung auch Stimmbindungsverträge erfasst12. Die weit überwiegende Meinung widerspricht zwar einer derartigen Auslegung des § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG13. Träfe sie jedoch zu und wäre bei den Aktionären des Grundfalls eine anderweitige wirtschaftliche Interessenbindung zu bejahen, so wäre es folgerichtig, jedem poolgebundenen Aktionär die Aktien der anderen Poolmitglieder zuzurechnen, so dass sich Schachtel- und weitergehend Mehrheitsbeteiligungen ergeben würden. ccc) Prüft man die Frage durch, so zeigt sich, dass die Stimmbindung nicht als Zurechnungstatbestand i. S. d. § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG aufgefasst werden kann. Den Vorzug verdient danach die einen Mehrheitsbesitz ebenfalls ablehnende herrschende Meinung. Zunächst versteht es sich von selbst, dass der Wortlaut des § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG für das hier abgelehnte Ergebnis keine Stütze bietet. Aber auch eine analoge Anwendung lässt sich nicht rechtfertigen; denn der Rechtsgedanke der Vorschrift beschränkt sich darauf, den Zurechnungstatbestand der Abhängigkeit des Anteilsinhabers gegenüber sonst nahe liegenden Umgehungsstrategien abzusichern14. Die Norm steht deshalb in einer Reihe mit §§ 56 Abs. 3, 71a Abs. 2, 71d, 134 Abs. 1 Satz 3 und 4 AktG. Dagegen ist die Mindermeinung

__________ 9 Hüffer (Fn. 2), § 16 AktG Rz. 12; ausführlich Vedder, Zum Begriff „für Rechnung“ im AktG und im WpHG, 1999, S. 154 ff. 10 Vgl. z. B. Vedder (Fn. 9), S. 153. 11 In diesem Sinne, wenn auch weitgehend ohne Benennung einer klaren Rechtsgrundlage, Bayer (Fn. 4), § 16 AktG Rz. 41, 48; Emmerich (Fn. 6), § 16 AktG Rz. 18a, 25; Klosterkemper (Fn. 6), S. 42 ff.; Mertens in FS Beusch, 1993, S. 583, 589 ff. 12 Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 290 HGB Rz. 12; Kindler in Großkomm.HGB (Staub), 4. Aufl., Bd. 3/2 2002, § 290 HGB Rz. 56. 13 Ausdrücklich ablehnend z. B. Fett (Fn. 8), § 16 AktG Rz. 15; J. Vetter in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 4), § 16 AktG Rz. 29, 37 ff.; Windbichler (Fn. 3), § 16 AktG Rz. 29, 37 ff.; Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 27; Vedder (Fn. 9), S. 135 m. w. N. in Fn. 56. 14 Regierungsbegründung bei Kropff (Fn. 7), S. 30.

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darauf gerichtet, Stimmrechtsvereinbarungen als neuen Zurechnungsgrund neben das Abhängigkeitsverhältnis zu stellen, um die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, Privataktionäre aus dem Geltungsbereich des Konzernrechts auszuklammern15, partiell zurückzunehmen. Darin liegt eine rechtspolitisch motivierte und wegen eines spürbaren Verlusts an Rechtssicherheit schon als solche problematische Korrektur, nicht eine lückenschließende Anwendung des § 16 Abs. 4 AktG. Weil es dafür auf eine planwidrige Regelungslücke ankommt, müsste sich zeigen lassen, dass nach dem eigenen Konzept des Gesetzgebers ein weiterer Zurechnungstatbestand erforderlich ist. Das gelingt aber nicht, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der §§ 22 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz WpHG, 30 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz WpÜG, die kapitalmarktrechtliche Sondervorschriften darstellen16, und des § 290 Abs. 3 Satz 2 HGB. Die insoweit maßgebende Regelung in Art. 1 Abs. 1 Buchstabe d) Unterbuchstabe bb) der 7. Richtlinie über den konsolidierten Abschluss17 führt vielmehr dazu, dass sich der Konsolidierungskreis mit dem Kreis verbundener Unternehmen wie auch in anderen Zusammenhängen nicht vollständig deckt. Ein solches Auseinanderfallen mag nicht in jeder Hinsicht glücklich sein, erklärt sich aber daraus, dass die Vorschriften über die Konzernrechnungslegung Teil einer Sonderordnung sind, die Konzernabschluss und Konzernlagebericht als Informationsmedien auch für Kapitalanleger sieht18 und deshalb die Konsolidierungspflicht in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem eigentlichen Kapitalmarktrecht früher eingreifen lässt als das Aktiengesetz die von ihm geschaffenen Vorschriften für verbundene Unternehmen. Nach allem gibt es im Rahmen des § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG keine Sonderrolle von Stimmrechtsvereinbarungen. Deshalb bleibt es für § 20 Abs. 4 AktG wie für § 20 Abs. 1 AktG dabei, dass bloße Innenkonsortien eine Mitteilungspflicht der Aktionäre nicht begründen können. 2. Mitteilungspflicht des Stimmrechtspools? Zu prüfen bleibt, ob zwar nicht die Aktionäre A, B und C, wohl aber der von ihnen errichtete Stimmrechtspool nach § 20 Abs. 1 und 4 AktG mitteilungspflichtig ist. Auch insoweit müssten die Unternehmenseigenschaft und eine Beteiligung in entsprechender Höhe gegeben sein.

__________ 15 Vgl. speziell im Kontext der Mitteilungspflichten nach § 20 AktG Ausschussbericht bei Kropff (Fn. 7), S. 41 f.; zur Kritik von Emmerich (Fn. 6), § 20 AktG Rz. 14 ff. siehe oben III.1.a). 16 Heinrich in AnwaltKomm. Aktienrecht, 2. Aufl. 2007, § 21 WpHG Rz. 1 f.; Schwark in Kapitalmarktrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2004, § 22 WpHG Rz. 1; Veil (Fn. 4), Anh. § 22 AktG: Vor §§ 21 ff. WpHG Rz. 4 ff. 17 Richtlinie 83/349 EWG vom 13.6.1983 (ABl. EG Nr. L 193/1); siehe dazu Kindler (Fn. 12), Vor § 290 HGB Rz. 16 f. 18 Siehe Kropff in FS Claussen, 1997, S. 659, 668 f.

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a) Unternehmenseigenschaft? aa) Kein eigener Aktienbesitz Nach dem maßgeblichen allgemeinen Begriff des (herrschenden) Unternehmens kommt es darauf an, ob das Konsortium der X-AG als ein Aktionär gegenübertritt, von dem aufgrund seiner anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindungen angenommen werden kann, dass von ihm die konzerntypischen Gefahren für die (abhängige) Gesellschaft ausgehen19. Das ist nach dem Sachverhalt schon deshalb zu verneinen, weil das Konsortium nicht selbst Aktionär ist. In dieser Eigenschaft liegt aber nach richtiger Ansicht20 deshalb die Basis des Unternehmensbegriffs, weil es dabei um die Voraussetzungen geht, unter denen die nachteilige Ausübung des aus der Mitgliedschaft folgenden Einflusses befürchtet werden muss, und es ohne Aktienbesitz einen solchen mitgliedschaftlichen Einfluss nicht geben kann. bb) Keine Zurechnung nach § 16 Abs. 4 AktG Über die fehlende Aktionärseigenschaft des Konsortiums ist auch nicht durch eine Zurechnung der von A, B und C gehaltenen Aktien nach § 16 Abs. 4 AktG hinwegzukommen. Dabei mag offen bleiben, ob sich die hier schon im Ansatz fehlende Unternehmenseigenschaft überhaupt durch eine Zurechnung nach § 16 Abs. 4 AktG begründen lässt oder ob die Zurechnung umgekehrt die Unternehmenseigenschaft voraussetzt21. Letzteres hat zwar manches für sich, passt aber damit schlecht zusammen, dass der Mehrheitsbesitz nach ganz herrschender Meinung auch allein durch Zurechnung begründet werden kann22. Selbst wenn man deshalb § 16 Abs. 4 AktG weiter prüft, scheitert die Zurechnung jedoch, weil jedenfalls ihre weiteren Voraussetzungen nicht vorliegen. Die Aktionäre A, B und C sind nämlich nicht ein von ihrem Konsortium abhängiges Unternehmen (§ 16 Abs. 4, 1. Fall AktG) und halten ihre Anteile auch nicht für dessen Rechnung (§ 16 Abs. 4, 2. Fall AktG). Weil die Aktionäre nicht dem Konsortium dienlich sind, sondern dieses das Instrument der Aktionäre darstellt, handelt es sich auch nicht um einen Sachverhalt, der dem Zurverfügunghalten von Aktien rechtsähnlich wäre. cc) Keine tragfähige anderweitige Begründung aaa) Nach der Gegenthese kann ein Stimmrechtskonsortium auch ohne eigenen Aktienbesitz herrschendes Unternehmen sein. Soweit sich für diesen

__________

19 Oben III.1.a). 20 BAG, AG 2005, 533, 535 re.Sp.; Geßler/Hefermehl, AktG, Bd. 1 1973, § 20 AktG Rz. 5; Koppensteiner (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 40; Rodemann, Stimmbindungsvereinbarungen in den Aktien- und GmbH-Rechten Deutschlands, Englands, Frankreichs und Belgiens, 1998, S. 165. 21 Vgl. dazu BGHZ 148, 123, 126 f. 22 OLG Hamm, AG 1998, 588 re.Sp.; Hüffer (Fn. 2), § 16 AktG Rz. 13; Bayer (Fn. 4), § 16 AktG Rz. 44; Koppensteiner (Fn. 4), § 16 AktG Rz. 34; Windbichler (Fn. 4), § 16 AktG Rz. 28.

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Standpunkt eine Begründung findet, wird teils die bloße Möglichkeit eines Aktienerwerbs für ausreichend gehalten23, teils eine spezielle Konzernrechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts erwogen24, teils eine relative Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts bemüht25, für die es im Verständnis ihrer Befürworter auf eine eigene Mitgliedschaft oder auf ein sonstiges Gesamthandsvermögen (§§ 718, 719 BGB) nicht ankommt. bbb) Die erwähnten Begründungsansätze überzeugen wenig. Das gilt zunächst für die angeblich relevante bloße Erwerbsmöglichkeit. Zutreffend ist insoweit nur, dass Stimmrechtskonsortien als Gesellschaften bürgerlichen Rechts mitgliedsfähig sind. Das führt aber nicht weiter, wenn die Parteien des Konsortialvertrags von den dadurch begründeten Möglichkeiten gerade keinen Gebrauch gemacht haben. Nicht tragfähig ist ferner der Gedanke an eine spezielle, nämlich von der so genannten „Rechtsnatur der BGB-Gesellschaft“ abgekoppelte Konzernrechtsfähigkeit26. Bekannt ist zwar die umgekehrte Fragestellung, ob die prinzipiell als rechtsfähig anerkannte Gesamthandsgesellschaft diese Eigenschaft auch für spezielle rechtliche Zusammenhänge hat (etwa: Grundbuchfähigkeit, Wechsel- oder Scheckfähigkeit). Der Gedanke, es könne im Konzernrecht eine Rechtsfähigkeit ohne Entsprechung im allgemeinen Zivilrecht geben, ist aber dogmatisch ähnlich defizitär wie die vermeintliche und durch die neuere Gesamthandslehre falsifizierte Sonderrolle der OHG nach § 124 HGB27. Soweit es schließlich um die relative Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts geht, knüpft eine frühe konzernrechtliche Meinungsrichtung ausdrücklich an die unter diesem Titel wenige Jahre zuvor von Fabricius angestellten Überlegungen an28. Insoweit ist für das Verständnis wesentlich, dass als Rechtsfähigkeit abweichend vom üblichen Sprachgebrauch nicht in erster Linie die Zuordnungsfähigkeit, sondern die Handlungsfähigkeit bezeichnet wird. Diese Lehre ist für das allgemeine Gesellschaftsrecht überwunden29. Sie überzeugt auch nicht, weil sie zum einen begründet, was ohnehin nicht bestreitbar ist, nämlich die durch Organfunktionen vermittelte Handlungsfähigkeit auch solcher Verbände, die nicht juristische Person sind, und zum anderen nicht erklären kann, worauf es ankommt, nämlich die Zuordnungsfähigkeit des als Einheit handelnden Verbandes, die deshalb durch eine „kollektive Rechtsfähigkeit“ der Mitglieder ersetzt wird. Der Versuch, die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und damit auch das Stimmrechtskonsortium und letztlich das Unternehmen auf diese Weise zum „Endzurechnungssubjekt konzernrecht-

__________ 23 Marchand, Abhängigkeit und Konzernzugehörigkeit von Gemeinschaftsunternehmen, 1985, S. 68. 24 Tendenziell Noack, Gesellschaftsvereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 264. 25 Vgl. namentlich Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 131 ff., 158 f. 26 Noack, a. a. O. (Fn. 24). 27 Vgl. Hüffer, Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2007, § 8 Rz. 7. 28 Siehe namentlich Koppensteiner, ZHR 131 (1968), 289, 314 f. mit Fn. 65 und 72; im Wege der Hilfsbegründung auch Geßler in FS Knur, 1972, S. 145, 157. 29 Flume, ZHR 136 (1972), 177, 192; John, Die organisierte Rechtsperson, 1977, S. 224; Rittner, Die werdende juristische Person, 1973, S. 270.

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licher Rechte und Pflichten“ zu machen30, beruht danach auf einer überholten und auch nicht tragfähigen konzeptionellen Basis. b) Keine Beteiligung Die Überlegungen zur fehlenden Unternehmenseigenschaft ergeben zugleich, dass dem Konsortium keine Aktien „gehören“, die eine Schachtel- oder Mehrheitsbeteiligung ausmachen könnten. Auch unabhängig von dem Fehlen der Unternehmenseigenschaft liegen deshalb die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 und Abs. 4 AktG nicht vor. Sie lassen sich auch durch eine Zurechnung nach § 16 Abs. 4 AktG nicht schaffen. Daran ließe sich zwar hier eher denken als bei der Begründung der Unternehmenseigenschaft31, weil es um die bloße Beteiligung geht. Es bleibt jedoch dabei, dass jedenfalls die weiteren Zurechnungsvoraussetzungen des § 16 Abs. 4 AktG nicht erfüllt sind. 3. Zwischenergebnis zu III. Das Fazit dieses Untersuchungsabschnitts ist nach allem klar: Bei den Aktionären A, B und C mag zwar eine Unternehmenseigenschaft gegeben sein. Sie erfüllen jedoch mangels einer entsprechenden Beteiligungshöhe weder die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 AktG noch die des § 20 Abs. 4 AktG. Eine andere Beurteilung lässt sich insbesondere nicht aus § 16 Abs. 4 AktG herleiten. Bei dem von A, B und C errichteten Stimmrechtskonsortium ohne eigenen Aktienbesitz fehlt dem Konsortium notwendig die Unternehmenseigenschaft, so dass deshalb auch das Konsortium nicht mitteilungspflichtig sein kann.

IV. Mitteilungspflichten bei atypischen Erscheinungsformen des Pools Atypische Erscheinungsformen des Pools liegen vor, wenn er selbst zum Aktionär wird, die bisherigen Aktionäre sich also auf mittelbare Beteiligungen an der AG zurückziehen, oder wenn er zwar nicht die Aktien erwirbt, aber gegenüber der AG als Außengesellschaft auftritt. 1. Der Pool als Aktionär a) Mitteilungspflicht der vormaligen Aktionäre (Poolmitglieder)? Bei der Untersuchung des Stimmrechtspools als Innengesellschaft hat sich gezeigt, dass die Aktionäre als ihre Mitglieder nicht nach § 20 AktG mitteilungspflichtig sind, weil sie weder die Unternehmenseigenschaft aufweisen noch über eine Schachtel- oder Mehrheitsbeteiligung verfügen32. Übertragen die bisherigen Aktionäre ihre Anteilsrechte auf den Pool, so entfällt mit der

__________ 30 Koppensteiner, ZHR 131 (1968), 289, 314. 31 Oben III.2.a)bb). 32 Oben III.1.

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Gesellschafterstellung schon die Basis der Unternehmenseigenschaft33. Auch sind die Schwellenwerte des § 20 AktG mangels jeglicher Beteiligung von vornherein kein Thema mehr34. Eine Mitteilungspflicht der vormaligen Aktionäre scheidet damit aus. Ein anderes Ergebnis wäre auch unstimmig: Es kann nicht sein, dass die Poolmitglieder als Aktionäre der X-AG keiner Mitteilungspflicht unterliegen, aber zu Mitteilungen über einen Aktienbesitz verpflichtet sind, nachdem sie diesen auf den Pool übertragen haben. b) Mitteilungspflicht des Pools? Zu prüfen bleibt, ob der Pool selbst mitteilungspflichtig ist, was wiederum zu den Erfordernissen der Unternehmenseigenschaft und einer die Schwellenwerte des § 20 Abs. 1 oder 4 AktG erreichenden Beteiligung führt. aa) Aktionärseigenschaft Nach dem abgewandelten Sachverhalt ist der Pool selbst Aktionär der X-AG, weil ihm A, B und C ihre Aktien übertragen haben. Durch den Erwerb wird der Pool zum rechtstatsächlichen Normalfall der GbR, nämlich zur Außengesellschaft mit Gesamthandsvermögen35. Dass die GbR in dieser Variante mitgliedsfähig und auch weitergehend rechtsfähig ist36, braucht nicht mehr vertieft zu werden. Sie kommt daher vorbehaltlich einer anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindung37 auch als Unternehmen gegenüber der AG in Betracht. Anders könnte es nur noch sein, wenn die GbR aufgrund ihrer Rechtsform nicht Unternehmen sein könnte. Eine derartige Annahme verbietet sich aber wegen der anerkannten Rechtsformneutralität des Unternehmensbegriffs38. bb) Anderweitige Interessenbindung Für die Unternehmenseigenschaft und wegen des Erwerbs von 60 % der X-Aktien auch schon für den Bestand von Mitteilungspflichten der ABC-GbR gegenüber der X-AG nach § 20 Abs. 1 und 4 AktG kommt es auf die Existenz einer anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindung an, und zwar der GbR selbst, nicht ihrer Mitglieder. Der zur Diskussion gestellte Sachverhalt ergibt dafür nichts, was bei Stimmrechtskonsortien auch nicht ungewöhnlich ist.

__________ 33 Oben III.2.a). 34 Oben III.2.b). 35 Vgl. zu den Strukturtypen der GbR Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 5), § 58 II 2; Ulmer in MünchKomm.BGB, Bd. 5, 4. Aufl. 2004, Vor § 705 BGB Rz. 85 ff., § 705 BGB Rz. 253 ff. 36 BVerfG, NJW 2002, 3533 re.Sp.; BGHZ 146, 341, 343 ff.; BGH, NJW 2002, 1207; BGHZ 154, 88, 94; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 5), § 8 III; ders., NJW 2001, 993 ff.; Hüffer, Gesellschaftsrecht (Fn. 35), § 8 Rz. 4 ff. mit Meinungsübersicht. 37 Dazu oben III.1.a). 38 BGHZ 69, 334, 338; BGHZ 122, 123, 127; Regierungsbegrüngung bei Kropff (Fn. 7), S. 27; Hüffer (Fn. 2), § 15 AktG Rz. 6, 11; Ulmer in FS Goerdeler, 1987, S. 623, 626 f.

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Bleibt es dabei, so scheidet eine Mitteilungspflicht des Pools trotz seiner Aktionärseigenschaft aus. Ein anderes Ergebnis ist aber durchaus möglich. Es tritt ein, wenn die PoolGbR die vorausgesetzte Interessenbindung als solche aufweist oder wenn entsprechende Interessenbindungen der Poolmitglieder auf die GbR durchschlagen. Das erste wäre vor allem der Fall, wenn die Pool-GbR noch an einer zweiten AG mehrheitlich und damit maßgeblich beteiligt wäre, etwa weil A, B und C auch 60 % der Y-Aktien in das Poolvermögen überführt hätten. Das zweite ist nicht schon dann anzunehmen, wenn einzelne Mitglieder des Pools anderweitige unternehmerische Interessen durch eigene Betätigung oder durch maßgebliche anderweitige Beteiligung verfolgen39, wohl aber, wenn diese Mitglieder auf die Willensbildung der Pool-GbR maßgeblichen Einfluss ausüben können40. Das kann auch bei der hier untersuchten paritätischen Beteiligung der Fall sein, nämlich dann, wenn z. B. der Gesellschafter zum Alleingeschäftsführer der Pool-GbR bestellt ist (und in dieser Eigenschaft die Poolstimmen in der Hauptversammlung der X-AG ausübt)41. Im übrigen kommt für die Annahme eines maßgeblichen Einflusses vor allem in Betracht, dass der anderweitig involvierte Gesellschafter den Pool seinerseits im Sinne des § 17 AktG beherrscht42. Zu resümieren bleibt: Wird der Pool zum Aktionär, so ist damit die Basis für seine Unternehmenseigenschaft gelegt. Ob sie konkret gegeben ist, hängt von der anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindung ab. Sie fehlt bei einem bloßen Stimmrechtskonsortium, doch sind auch andere Gestaltungen denkbar. Wenn die Unternehmenseigenschaft zu bejahen ist, bleiben noch die Schwellenwerte des § 20 AktG zu prüfen. 2. Der Pool als Außengesellschaft ohne eigenen Anteilsbesitz Abschließend ist die Frage aufzugreifen, ob ein Stimmrechtspool nach § 20 AktG mitteilungspflichtig sein kann, wenn er zwar nicht Aktionär, aber immerhin Außengesellschaft ist. Der Jubilar würde die Frage wohl als falsch gestellt betrachten, weil es eine Außengesellschaft ohne Gesamthandsvermögen nach seinem Verständnis ohnehin nicht gibt43. Nach der überwiegenden und auch eher zutreffenden Ansicht ist die GbR dagegen Außengesellschaft, wenn sie als solche am Rechtsverkehr teilnimmt, was ihre organschaft-

__________ 39 Anders noch RGZ 146, 71, 74 zum Stimmrechtsausschluss. 40 BGHZ 49, 183, 193 f.; BGHZ 51, 209, 219; BGHZ 116, 353, 358; OLG Brandenburg, NZG 2001, 129, 130 re.Sp.; OLG Hamburg, NZG 2000, 421 f.; OLG München, NZG 2005, 554, 555; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. 2, 10. Aufl. 2007, § 47 GmbHG Rz. 159 f.; Ulmer/Hüffer in Großkomm.GmbHG, Bd. 2, 2006, § 47 GmbHG Rz. 133 m. w. N. 41 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 40), § 47 GmbHG Rz. 160; Ulmer/Hüffer (Fn. 40), § 47 GmbHG Rz. 134; Wank, ZGR 1979, 222, 230. 42 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 40), § 47 GmbHG Rz. 159 f.; Ulmer/Hüffer, § 47 GmbHG Rz. 133; Wank, ZGR 1979, 222, 230. 43 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 5), § 43 II 3 a; ders., NJW 2001, 993, 1001.

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liche Vertretung durch einen, mehrere oder alle Gesellschafter bedingt44. Das ist ohne Gesellschaftsvermögen gewiss selten, aber möglich, beim Stimmrechtskonsortium etwa so, dass die Aktionäre die Pool-GbR zur Ausübung ihrer Stimmrechte in der Hauptversammlung der AG bevollmächtigen und die GbR die Vollmacht durch ihren geschäftsführenden Gesellschafter ausübt. Verbreitet wird auch bei dieser Gestaltung keine Unternehmenseigenschaft des Konsortiums angenommen45. Eine Gegenansicht, der ich mich, wenn auch zögerlich, angeschlossen habe, spricht der Außengesellschaft jedoch auch dann die Unternehmenseigenschaft zu, wenn sie nicht Aktionärin ist46. Eine nochmalige Überprüfung ergibt, dass diese Position nicht aufrechterhalten werden sollte. Richtig ist zwar, dass eine Außengesellschaft Adressatin konzernrechtlicher Normen sein könnte, soweit sie verhaltensfähig ist und die konzernrechtlichen Vorschriften sich gerade auf dieses Verhalten – hier die Stimmrechtsausübung – beziehen. Das geltende Recht hat seinen Anknüpfungspunkt aber enger gewählt, indem es auf die fremdbeeinflusste Wahrnehmung mitgliedschaftlicher Rechte abhebt. Weil diese nur den Aktionären oder allgemeiner den Gesellschaftern zustehen, scheidet eine Außengesellschaft ohne eigenen Aktienbestand als Unternehmen notwendig aus. Es gibt deshalb auch keine Mitteilungspflicht des Pools nach § 20 AktG. Stattdessen bleiben die Aktionäre Adressaten der Vorschrift; dies freilich nur, soweit sie als einzelne Aktionäre mit Unternehmereigenschaft sind und wenigstens über eine Schachtelbeteiligung verfügen. Oder umgekehrt: Wenn sich eine Mitteilungspflicht der Aktionäre nicht begründen lässt, kommt eine Mitteilungspflicht des bloßen Stimmrechtspools nicht als Ersatzlösung in Betracht. Für die Innengesellschaft ist das offenkundig. Es gilt aber aus den dargelegten Gründen auch für die Außengesellschaft. 3. Zwischenergebnis zu IV. Im Ergebnis zeigt die Untersuchung atypischer Erscheinungsformen ein klares Bild: Ist der Pool Aktionär und Außengesellschaft, so kann er Unternehmer sein und ist dann auch nach § 20 AktG mitteilungspflichtig, wenn die jeweiligen Schwellenwerte von ihm erreicht werden. Wenn der Pool dagegen Außengesellschaft ohne eigenen Aktienbesitz ist, kommt er als Unternehmen nicht in Betracht. Mitteilungspflichtig sind daher nur die Poolmitglieder in ihrer fortdauernden Aktionärseigenschaft, sofern sie die Voraussetzungen des § 20 AktG in ihrer Person erfüllen.

__________ 44 BGHZ 12, 308, 314 f.; BGH, NJW 1960, 1851 f.; BGH, WM 1965, 793; BGH, WM 1973, 296 f.; Ulmer in MünchKomm.BGB (Fn. 35), § 705 BGB Rz. 254, 279 ff.; Klosterkemper (Fn. 6), S. 9 ff.; zu einzelnen Schwierigkeiten Koppensteiner in FS Ulmer, 2003, S. 349, 356. 45 Vgl. z. B. Koppensteiner (Fn. 4), § 15 AktG Rz. 16; Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 9. 46 Hüffer (Fn. 2), § 15 AktG Rz. 10; Schall in Spindler/Stilz (Fn. 4), § 15 AktG Rz. 41; Windbichler (Fn. 4), § 15 AktG Rz. 48.

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Konsortialverträge und die Mitteilungspflichten nach § 20 AktG

V. Ausblick Einer neuerlichen Zusammenfassung bedarf es nicht. Sinnvoll ist es jedoch, die zum Stimmrechtskonsortium gewonnenen Erkenntnisse in den weiteren rechtstatsächlichen und normativen Rahmen einzustellen. Zunächst ergibt sich eine einheitliche Behandlung von Konsortien, Koordinationsorganen eines Gemeinschaftsunternehmens und Holdinggesellschaften: Wer nicht selbst Aktionär ist (Normalfall des Konsortiums und der koordinierenden GbR eines Gemeinschaftsunternehmens), kann auch nicht Unternehmen sein. Unternehmen sind nur die Aktionäre, sofern sie den Erfordernissen des teleologischen Unternehmensbegriffs genügen47. Wer selbst Aktionär ist (Zwischenholding), kann dagegen auch anstelle des bisherigen Aktionärs Unternehmen sein48. Dieser bleibt jedoch Anknüpfungssubjekt der konzernrechtlichen Pflichten, wenn er mit der Zwischenholding nur eine Art Umgehungssachverhalt schafft49. Zum normativen Umfeld des § 20 AktG gehören die weitere Regelung der Mitteilungspflichten (§ 21 AktG; §§ 21 ff. WpHG; § 30 WpÜG) und die Sondervorschrift zur Konzernrechnungslegung in § 290 Abs. 3 Satz 2 HGB. In Stichworten ergibt sich hierzu: Im Kontext des § 21 AktG kommt es bei der Bestimmung des Mitteilungspflichtigen nicht auf die Unternehmenseigenschaft an, weil sich das Gesetz nur an die „Gesellschaft“ wendet. Für die Feststellung einer Schachtel- oder Mehrheitsbeteiligung gelten jedoch dieselben Grundsätze wie bei § 20 AktG50. Für Aktien eines Emittenten im Sinne des § 21 Abs. 2 WpHG (vulgo: börsennotierte Gesellschaften) treten §§ 20, 21 AktG nach ihren jeweiligen Schlussabsätzen hinter §§ 21 ff. WpHG zurück51. Sie lassen für die Übertragung aktienrechtlicher Grundsätze wenig Raum: Mitteilungspflichtig kann nach § 21 WpHG jedermann sein („Wer“). Für die Zurechnung von Stimmrechten enthält § 22 WpHG (inhaltsgleich: § 30 WpÜG) eine eigenständige Regelung, die insbesondere den Konsortialvertrag als zurechnungsbegründend anerkennt (§ 22 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz WpHG; ebenso: § 30 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz WpÜG)52.

__________ 47 Vgl. zum Gemeinschaftsunternehmen BGHZ 62, 193, 196; BAG, AG 2005, 533, 535 re.Sp.; OLG Hamm, AG 2001, 146, 147 li. Sp.; Bayer (Fn. 4), § 17 AktG Rz. 83; Hüffer (Fn. 2), § 17 AktG Rz. 14; Koppensteiner (Fn. 4), § 17 AktG Rz. 86 f.; Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 5 MitbestG Rz. 48. Anders das ältere Schrifttum, vgl. z. B. Kropff, BB 1965, 1281, 1285. 48 Bayer (Fn. 4), § 15 AktG Rz. 26 f., 30 f.; Hüffer (Fn. 2), § 15 AktG Rz. 10; Emmerich (Fn. 6), § 15 AktG Rz. 16; Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 8; Cahn, AG 2002, 30, 32 ff. 49 Hüffer (Fn. 2), § 15 AktG Rz. 10; Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 8; Bayer, ZGR 2002, 933, 943; weitergehend z. B. Schall (Fn. 46), § 15 AktG Rz. 39. 50 Dazu oben III.1.b). 51 Das dient (seit 1998) der zunächst unterbliebenen Koordination aktien- und kapitalmarktrechtlicher Mitteilungspflichten; vgl. Hüffer (Fn. 2), § 21 AktG Rz. 18. 52 Vgl. schon oben III.1.b)bb)ccc).

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Wer auch im Rahmen der §§ 20, 21 AktG weitergehende Mitteilungspflichten für wünschenswert hält53,sollte bedenken, dass die rigiden Rechtsfolgen der §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 AktG54 zur Zurückhaltung mahnen. Insbesondere bei verschachtelten Familiengesellschaften ist es ohnehin schwierig, den Kreis der Mitteilungspflichtigen anhand des Unternehmensbegriffs zuverlässig festzulegen. Die Anforderungen des Kapitalmarktrechts taugen insoweit nicht als Regelungsvorbild, sondern ergeben eher die Grundlage für einen Umkehrschluss, wenn es darauf noch ankommen sollte. Ähnliches gilt schließlich für die in § 290 HGB geregelte Verpflichtung zur Konzernrechnungslegung. Der dort verwandte Unternehmensbegriff ist wie dargelegt mit dem des Konzernrechts nicht vollständig deckungsgleich („control concept“) und § 290 Abs. 3 Satz 2 HGB erfasst wie ebenfalls dargelegt auch Konsortialabsprachen55. Die Regelung taugt aber nicht als Vorbild für eine Erweiterung des § 16 Abs. 4, 2. Fall AktG, weil sie Teil einer richtlinienbedingten Sonderordnung ist56, die über die herkömmlichen Zwecke der Rechnungslegung hinaus auch auf Belange des Kapitalmarkts abzielt, während das kodifizierte Recht der verbundenen Unternehmen anderen Interessen dient, nämlich dem Schutz der Gläubiger und der außenstehenden Aktionäre.

__________ 53 Vor allem Emmerich (Fn. 6), § 20 AktG Rz. 15: mangelnde Sinnfälligkeit der Unterscheidung zwischen Unternehmens- und Privataktionären; Burgard (Fn. 6), S. 45 ff.; ders., AG 1992, 41, 47 ff. 54 Vgl. zu den Sanktionen vor allem Krieger (Fn. 2), § 68 Rz. 131 ff.; Hüffer in FS Boujong, 1996, S. 277, 278 ff. 55 III.1.b)bb)bbb). 56 7. Richtlinie über den konsolidierten Abschluss vom 13.6.1983 (83/349/EWG), ABl. Nr. L 193/1.

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Überschuldung, Überschuldungsstatus und Unternehmensbewertung* Inhaltsübersicht I. Einführung II. Der „neue“ Überschuldungsbegriff 1. Rückkehr zur Kombinationsmethode 2. Kein zwingender Ansatz von Liquidationswerten 3. Fortführungsprognose als Element der Bewertung a) Geänderte Funktion der Fortführungsprognose b) Ansatz von Liquidationswerten trotz Fortführungsabsicht des Schuldners c) Ansatz von Fortführungswerten trotz fehlender Fortführungsabsicht d) Ansatz von Fortführungswerten trotz unzureichender Finanzkraft des Schuldners 4. Zum Verhältnis von Liquidationsund Fortführungsbewertung

III. Zur Bewertung mit „Fortführungswerten“ 1. Keine Maßgeblichkeit der Handelsbilanz 2. Standpunkt der h. M.: Überschuldungsstatus zu „Fortführungswerten“ 3. Gegenthese: Ertragswert als richtiger Fortführungswert a) Gebot der realistischen Bewertung b) Unternehmensbewertung und Schuldendeckungskontrolle c) Überschuldungsprüfung und Prognoseunsicherheiten IV. Auswirkungen des neuen Rechts auf die Überschuldungsprüfung 1. Die These des Jubilars 2. Zahlungsfähigkeitsprognose und Schuldendeckungskontrolle 3. Ergebnis

I. Einführung Neben der Zahlungsunfähigkeit ist bei Körperschaften und Personengesellschaften, in denen keine natürliche Person unbeschränkt haftet, auch die Überschuldung ein zwingender Insolvenzgrund. Überschuldung liegt nach § 19 Abs. 2 InsO vor, „wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.“

Mit der Überschuldungsdefinition in § 19 Abs. 2 InsO hat sich der Gesetzgeber vom sog. „zweistufigen Überschuldungsbegriff“ lösen wollen, den Karsten

__________ * Das Manuskript wurde im Mai 2008 abgeschlossen. Die befristete Änderung des § 19 Abs. 2 InsO durch Art. 5 des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes v. 17.10.2008 konnte daher noch nicht berücksichtigt werden.

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Schmidt in mehreren Aufsätzen seit Ende der 1970er Jahre entwickelt hat1 und der sich in Rechtsprechung2 und Literatur3 rasch durchgesetzt hatte. Überschuldung liegt danach vor, „wenn das Vermögen bei Ansatz von Liquidationswerten die bestehenden Verbindlichkeiten nicht decken würde (rechnerische Überschuldung) und die Finanzkraft mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht (Überlebens- oder Fortbestehensprognose)“4. In den Materialien zu § 19 Abs. 2 InsO heißt es dagegen:5 „Der Ausschuss weicht damit entschieden von der Auffassung ab, die in der Literatur vordringt und der sich kürzlich auch der Bundesgerichtshof angeschlossen hat (BGHZ 119, 201, 214). Wenn eine positive Prognose stets zu einer Verneinung der Überschuldung führen würde, könnte eine Gesellschaft trotz fehlender persönlicher Haftung weiter wirtschaften, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zur Verfügung steht. Dies würde sich erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken, wenn sich die Prognose – wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – als falsch erweist.“

Nach den Vorstellungen der Gesetzesverfasser soll eine positive Fortbestehensprognose also eine Überschuldungsprüfung nicht überflüssig machen, sondern nur für die Bewertung des Schuldnervermögens im Überschuldungsstatus von Bedeutung sein. Der Jubilar hat die These aufgestellt, auch unter der Geltung des § 19 Abs. 2 InsO werde es dabei bleiben, dass bei einer positiven Fortbestehensprognose eine Überschuldung ausscheidet6. Andere Autoren haben dagegen die Praxis aufgefordert, die „Rückkehr zur alten zweistufigen Bewertungsmethode“ zu respektieren7. Auch der BGH hat inzwischen apodiktisch festgestellt, dass „mit der Neufassung des Überschuldungstatbestandes … der Rechtsprechung des Senats zum sog. ‚zweistufigen Überschuldungsbegriff’ (BGHZ 119, 201, 214) die Grundlage entzogen“ sei8. Wie groß indes die Unsicherheiten im Schrifttum sind, zeigt exemplarisch der Streit um die Aktivierbarkeit eines Geschäfts- oder Firmenwertes (good will) im Überschuldungsstatus9. Der nach-

__________ 1 Vgl. Karsten Schmidt, AG 1978, 334; ders., ZIP 1980, 233; ders., JZ 1982, 165; ders., WPg 1982, 634; ders., Möglichkeiten der Sanierung von Unternehmen durch Maßnahmen im Unternehmens-, Arbeits-, Sozial- und Insolvenzrecht, in: Verhandlungen des 54. DJT, 1982, D 64; ders., Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, Köln 1990; ders., ZGR 1998, 633; ders., Insolvenzordnung und Unternehmensrecht – Was bringt die Reform, in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl. 2000, S. 1199; ders. in Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003, Rz. 852 ff. 2 Grundlegend BGHZ 119, 201, 214 („Dornier“). 3 Statt vieler nur Ulmer, KTS 1981, 469; Hommelhoff in FS Döllerer, 1988, S. 247; a. A. aber Drukarczyk, ZGR 1979, 553; ders., WM 1994, 1737. 4 Karsten Schmidt, JZ 1982, 165, 170; siehe auch BGHZ 119, 201, 214. 5 Vgl. BT-Drucks. 12/7302, S. 157. 6 Karsten Schmidt, ZGR 1998, 633, 653 f.; ders. in Karsten Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 1), Rz. 852 ff. 7 Statt vieler Hüffer in FS Wiedemann, 2002, S. 1047, 1055. 8 BGH, ZIP 2006, 2171; BGH, BB 2007, 791. 9 Vgl. die Nachweise zum Meinungsstand bei Müller in Jaeger, InsO, 2003, § 19 InsO Rz. 51 ff.; Habersack in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 92 AktG Rz. 47 ff.; Müller/ Haas in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl. 2000, S. 1799, 1809.

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folgende Beitrag zu Ehren von Karsten Schmidt ist deshalb der Frage gewidmet, wie eine Überschuldungsprüfung nach „neuem“ Recht zu erfolgen hat und was sich durch § 19 Abs. 2 InsO gegenüber dem früheren zweistufigen Überschuldungsbegriff geändert hat.

II. Der „neue“ Überschuldungsbegriff 1. Rückkehr zur Kombinationsmethode Mit dem „neuen“ Überschuldungsbegriff hat der Gesetzgeber zur herkömmlichen Kombinationsmethode zurückkehren wollen10. Im Unterschied zum früheren zweistufigen Überschuldungsbegriff soll die positive Fortführungsprognose eine rechnerische Überschuldungsprüfung nicht ersetzen, sondern nur eine andere Art der Bewertung – mit Fortführungswerten statt mit Liquidationswerten – ermöglichen. Allgemein heißt es dazu in den Gesetzesmaterialien:11 „Dabei ist das vorhandene Vermögen realistisch zu bewerten, damit das Ziel einer rechtzeitigen Verfahrenseröffnung nicht gefährdet wird. Betreibt der Schuldner ein Unternehmen, so dürfen nur dann Fortführungswerte angesetzt werden, wenn die Fortführung des Unternehmens beabsichtigt ist und das Unternehmen wirtschaftlich lebensfähig erscheint; anderenfalls sind die Werte zugrunde zu legen, die bei einer Liquidation des Unternehmens zu erzielen wären. Eine positive Prognose für die Lebensfähigkeit des Unternehmens – die leicht vorschnell zugrunde gelegt wird – darf die Annahme einer Überschuldung noch nicht ausschließen; sie erlaubt nur, wenn sie nach den Umständen gerechtfertigt ist, eine andere Art der Bewertung des Vermögens.“

2. Kein zwingender Ansatz von Liquidationswerten Vergleicht man die „neue“ Definition mit der von Karsten Schmidt entwickelten „zweistufigen“ Prüfungsmethode, so stimmen beide Ansätze darin überein, dass eine rechnerische Überschuldung nicht ausschließlich anhand von Liquidationswerten festzustellen ist. Von der Liquidation des Unternehmens, d. h. regelmäßig der Einzelverwertung der Vermögensgegenstände, soll vielmehr nur dann ausgegangen werden, wenn die Fortführungsprognose negativ ausfällt. Auf diese Weise will der Gesetzgeber auch im neuen Recht untragbare Wertungswidersprüche zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht vermeiden, auf die im Schrifttum schon vielfach hingewiesen worden ist12. Denn angesichts der sehr niedrigen Mindestkapitalgrenzen – die letztlich nur eine Art „Seriositätsgewähr“ sind – wären viele Kapitalgesellschaften schon bei ihrer Errichtung rechnerisch überschuldet, wenn man allein auf fiktive Liquidations-

__________ 10 Für einen Überblick über die Entwicklung des Überschuldungsbegriffs vgl. Egner/ Wolff, AG 1977, 99; Drukarczyk, WM 1994, 1737; Drukarczyk/Schüler in Kölner Schrift zur InsO (Fn. 9), S. 95, 119 ff.; siehe auch Drews, Der Insolvenzgrund der Überschuldung bei Kapitalgesellschaften, Diss. Osnabrück 2003, S. 29 ff. 11 Siehe BT-Drucks. 12/2443, S. 115. 12 Statt vieler nur Drukarczyk, ZGR 1979, 553, 569; Karsten Schmidt, JZ 1982, 165, 168 f.

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werte abstellen würde, wie sie bei Einzelveräußerung der Vermögensgegenstände erzielt werden könnten. Ein so weitgehender Schutz der Gläubiger ist weder gesamtwirtschaftlich sinnvoll noch rechtspolitisch geboten13. 3. Fortführungsprognose als Element der Bewertung a) Geänderte Funktion der Fortführungsprognose Anders als nach dem früheren zweistufigen Überschuldungsbegriff soll eine positive Fortführungsprognose nach neuem Recht eine Überschuldungsprüfung nicht ersetzen, sondern nur eine andere Art der Bewertung des Unternehmensvermögens erlauben. Dieser Funktionswandel muss aber auch bei der Auslegung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO berücksichtigt werden. Dies bedingt – wie im Weiteren zu zeigen ist – eine Ausrichtung der Fortführungsprognose auf das Unternehmen an sich und seine Ertragsfähigkeit. Dagegen ist es für die Bewertung des „Unternehmens an sich“ – entgegen verbreiteter Ansicht14 – unerheblich, ob der Schuldner „sein“ Unternehmen fortführen kann oder will. b) Ansatz von Liquidationswerten trotz Fortführungsabsicht des Schuldners Zunächst ist der Fall denkbar, dass das Unternehmensvermögen zwar zu Liquidationswerten die Schulden deckt (z. B. weil das Unternehmen über wertvollen unbelasteten Grundbesitz verfügt), aber wegen anhaltender Verluste zu „Fortführungswerten“ überschuldet wäre. In diesem Fall müsste eine wortlautgetreue Auslegung des § 19 Abs. 2 InsO – „… die Fortführung ist zugrunde zu legen …“ – dazu führen, dass eine Fortführungsabsicht des Schuldners (ausreichende Finanzkraft vorausgesetzt) die Insolvenz auslösen würde, weil zwingend die niedrigeren Fortführungswerte anzusetzen sind, obwohl die Gläubigerinteressen in einer fiktiven Liquidation gewahrt wären. Ein solches Ergebnis ist offensichtlich sinnwidrig und wird zu Recht im Schrifttum allgemein abgelehnt15. Denn solange das Schuldnervermögen selbst unter der Prämisse einer Einzelverwertung ausreicht, um die bestehenden Verbindlichkeiten abzudecken, ist eine Überschuldung sicher nicht gegeben. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO ist also dahin auszulegen, dass die Berücksichtigung eines gegenüber dem Fortführungswert höheren Liquidationswertes immer zulässig ist. Die geänderte Funktion der Fortführungsprognose zeigt sich auch in dem Fall, dass das Unternehmen nur noch Verluste erwirtschaftet, der Schuldner aber (noch) über hinreichendes Eigenkapital verfügt, um „sein“ Unternehmen aus privaten oder öffentlichen Gründen einstweilen fortzuführen. Die h. M. hält unter diesen Umständen eine positive Fortführungsprognose für möglich, weil es nicht auf die Ertragsfähigkeit des Unternehmens, sondern die Zahlungs-

__________ 13 Vgl. auch Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, S. 112. 14 Statt vieler Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 36. 15 So auch IdW FAR 1/96, WPg 1997, 22, 23; aus dem Schrifttum statt vieler nur Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2007, § 64 GmbHG Rz. 12; Lutter, ZIP 1999, 641, 644.

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fähigkeit und Finanzkraft des Schuldners ankommen soll16. Dem ist zum alten Recht nur vereinzelt widersprochen worden17. Dieser Widerspruch war unter der Geltung des zweistufigen Überschuldungsbegriffs sicher unberechtigt, da eine Überschuldung zwingend ausschied, wenn der Schuldner über die finanziellen Mittel verfügte, um das Unternehmen zumindest mittelfristig fortzuführen. Im neuen Recht stellt sich das Problem indes anders dar: Es geht – wie es in den Gesetzesmaterialien heißt – um die „realistische“ Bewertung des Schuldnerunternehmens. Der wirtschaftliche Wert eines verlustbringenden Unternehmens bestimmt sich aber ausschließlich nach seinem voraussichtlichen Liquidationserlös. Selbst wenn der Schuldner das Unternehmen fortführen will und er sich weitere Verluste finanziell (noch) „leisten kann“, ist eine Fortführungsbewertung der Unternehmenssubstanz aus ökonomischer Sicht (und auch aus der Sicht der Gläubiger) unsinnig. Denn durch die Unternehmensfortführung wird nur zusätzliches Kapital vernichtet (durch Betriebsverluste und weitere Abnutzung der Unternehmenssubstanz)18. Nichts anderes klingt auch in der eingangs zitierten Gesetzesbegründung an, in der der Ansatz von Fortführungswerten davon abhängig gemacht wird, ob „das Unternehmen wirtschaftlich lebensfähig erscheint“. Ob ein rein defizitäres Unternehmen überschuldet ist, hängt folglich davon ab, ob der Liquidationserlös unter Berücksichtigung des vorhandenen Eigenkapitals noch ausreicht, um die bestehenden Schulden zu decken. Dies wird auch nach neuem Recht wesentlich von der „Finanzkraft“ des Schuldners abhängen, die aber nunmehr über das zum Stichtag im Unternehmen noch vorhandene Eigenkapital in die Bewertung einfließt. c) Ansatz von Fortführungswerten trotz fehlender Fortführungsabsicht In der Realität dürften indes die Fortführungswerte regelmäßig über den Liquidationswerten liegen, d. h. ein Unternehmen ist häufig unter der Prämisse einer Einzelverwertung der Vermögensgegenstände überschuldet, während bei Ansatz von Fortführungswerten das Vermögen die Schulden noch deckt19. Auch in diesem Fall hängt die Insolvenzantragspflicht nach dem Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO scheinbar davon ab, ob der Schuldner das Unternehmen tatsächlich fortführen will. In der Tat findet sich die Auffassung, dass eine positive Fortführungsprognose auch eine Fortführungsabsicht des Schuldners voraussetzt20. Diese Einschränkung ist aber mit dem Zweck des Über-

__________ 16 Vgl. etwa BGHZ 119, 201; IdW FAR 1/96, WPg 1997, 22, 24; Drukarczyk/Schüler (Fn. 10), S. 127, Rz. 92; Früh/Wagner, WPg 1998, 907, 911; Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 36; Bork, ZIP 2000, 1709, 1711. 17 Vgl. Wolf, DStR 1998, 126, 127 f.; ähnlich Müller/Haas (Fn. 9), S. 1800 Rz. 3, 1806 Rz. 16; noch weitergehend – Gewinnerzielung erforderlich – Bähner, KTS 1988, 443, 446 f. 18 Anders wäre nur zu entscheiden, wenn eine verzögerte Liquidation ex ante wegen erwarteter Wertsteigerungen des Anlagevermögens wirtschaftlich sinnvoll erscheint. 19 Ebenso die Begründung zu § 23 RegE, BT-Drucks. 12/7302, S. 157. 20 Vgl. statt vieler nur Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 32; ebenso auch BGH, ZIP 2007, 2171.

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schuldungstatbestandes nicht zu vereinbaren. Der Wert des Unternehmens als Haftungsmasse für die Gläubiger kann nicht von den Absichten des Schuldners, sondern nur von den objektiven Verwertungsmöglichkeiten am Stichtag abhängen. Solange der Schuldner die Geschäftstätigkeit noch nicht tatsächlich eingestellt und dadurch eine unveränderte Unternehmensfortführung objektiv unmöglich gemacht hat (z. B. weil Lieferbeziehungen abgebrochen oder Arbeitnehmer entlassen worden sind), ist eine Liquidationsbewertung nicht zwingend geboten, wenn das Unternehmen an sich wirtschaftlich lebensfähig ist. Nichts anderes ist gemeint, wenn im Schrifttum bei fehlender Fortführungsabsicht zwar eine „Liquidationsbewertung“ gefordert wird, diese aber zu „Fortführungswerten“ erfolgen soll, „wenn begründete Aussicht besteht, einen Erwerber zu finden, der das Unternehmen als Ganzes erwerben und weiter betreiben will“21. Diese Lösung ist aber nicht nur unnötig kompliziert, sondern verhindert auch eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Liquidations(d. h. Zerschlagungs-) und Fortführungsbewertung. Wenn man erkennt, dass es im Rahmen von § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO nur auf die „realistische“ Bewertung aus der Sicht der Gläubiger ankommt, dann ist ein Unternehmen, wenn seine Fortführung – und sei es auch durch einen Erwerber – „überwiegend wahrscheinlich ist“, auch mit Fortführungswerten zu bewerten. d) Ansatz von Fortführungswerten trotz unzureichender Finanzkraft des Schuldners Nach bisher ganz h. M. setzt eine positive Fortführungsprognose im Rahmen von § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO voraus, dass die Finanzkraft des Schuldners für eine mittelfristige Fortführung des Unternehmens ausreicht22. Auch diese aus dem früheren Recht übernommene Definition der Fortführungsprognose erweist sich, wenn man die Fortführungsprognose im neuen Recht vorrangig als Bewertungsvorgabe versteht, nicht mehr als zutreffend. Angenommen, das Schuldnerunternehmen verfügt über ein erfolgreiches Unternehmenskonzept mit erheblichem Ertragspotential, die Umsetzung der vorhandenen Konzeption macht aber in den nächsten Jahren umfangreiche Investitionen erforderlich, die die Finanzkraft des Schuldners übersteigen. Eine solche Situation kann z. B. vorkommen, wenn die Gewährung zusätzlicher Kredite voraussichtlich daran scheitern wird, dass das Schuldnerunternehmen über eine zu niedrige Eigenkapitalausstattung verfügt (Basel II). In diesem Fall ist zwar eine Unternehmensfortführung durch den Schuldner nicht „überwiegend wahrscheinlich“, weil eine Zahlungsunfähigkeit droht (vgl. § 18 InsO). Gleichwohl wäre eine Liquidationsbewertung angesichts des vorhandenen Ertragspotentials des Unternehmens nicht realistisch und deshalb ungerechtfertigt. Teilweise wird angenommen, dass das Schuldnerunternehmen auch bei einer (für den Schuldner) negativen Fortführungsprognose ausnahmsweise mit den höheren Fortführungswerten bewertet werden dürfe, wenn eine Veräußerung des Unterneh-

__________ 21 So etwa Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 32; ähnlich Habersack (Fn. 9), § 92 AktG Rz. 54. 22 Siehe Nachweise in Fn. 17.

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mens (wegen der positiven Ertragsaussichten) als Ganzes ernsthaft in Betracht komme23. Daran ist richtig, dass es im Rahmen von § 19 Abs. 2 InsO auf den „objektivierten“ Wert des Unternehmens ankommen muss. Anders ausgedrückt: Welche Bewertung des Unternehmens „realistisch“ ist, hängt nicht von der Finanzkraft des Schuldners, sondern von den Ertragsaussichten des Unternehmens in seiner vorhandenen Konzeption ab. Ein erfolgreiches Unternehmenskonzept hat für die Gläubiger selbst dann einen selbständigen wirtschaftlichen Wert, wenn der Schuldner diesen Wert mangels hinreichender finanzieller Mittel nicht ausnutzen kann. Denn die Gläubiger haben immer die Möglichkeit, das Schuldnerunternehmen als Ganzes an einen finanzstarken Investor zu veräußern, der das Unternehmen fortführen kann. Auch dieses Beispiel zeigt, dass der Ansatz von Fortführungswerten nicht davon abhängen kann, was der Schuldner vorhat oder leisten kann. 4. Zum Verhältnis von Liquidations- und Fortführungsbewertung Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass sich mit § 19 Abs. 2 InsO die Funktion und der Bezugspunkt der Fortführungsprognose gewandelt haben. Es geht nicht mehr – wie unter der Geltung des zweistufigen Überschuldungsbegriffs – um die Feststellung, ob der Schuldner sein Unternehmen noch eine gewisse Zeit fortführen kann (und will), sondern es geht um eine „realistische“ Bewertung des Schuldnervermögens aus der Sicht der Gläubiger. Um festzustellen, ob die Gläubigeransprüche durch das Schuldnervermögen gedeckt sind, müssen alle wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten berücksichtigt werden, die nach den Verhältnissen des Unternehmens – nicht des Schuldners – am Stichtag ernsthaft in Betracht kommen. Da ein Unternehmen grundsätzlich jederzeit eingestellt und liquidiert werden kann, ist der Liquidationswert immer und ganz unabhängig von den Fortführungsabsichten des Schuldners – gleichsam als „Mindestgröße“ – bei der Schuldendeckungskontrolle zu berücksichtigen. Ob zusätzlich auch der Fortführungswert beachtlich ist, hängt nach § 19 Abs. 2 InsO davon ab, ob eine Fortführung des Unternehmens „nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist“. Wie die vorstehenden Beispiele gezeigt haben, kommt es insoweit nicht mehr darauf an, ob der Schuldner das Unternehmen fortführen will und kann, sondern entscheidend ist, ob das Unternehmen an sich aus der Sicht eines gedachten Erwerbers „fortführungswürdig“ ist. Denn die durch § 19 Abs. 2 InsO gebotene Schuldendeckungskontrolle verlangt keine subjektive Bewertung des Unternehmens aus der Sicht des Schuldners, sondern eine objektivierte Bewertung des Unternehmens aus der Sicht der Gläubiger. Liegt der Fortführungswert aber über dem Liquidationswert, weil das Unternehmen über ein erfolgreiches Unternehmenskonzept verfügt, ist die Fortführung des Unternehmens zugleich „überwiegend wahrscheinlich“, weil sich eine Liquidation aus der Sicht der Gläubiger nicht lohnt. Ist der Liquidationswert wegen schlechter Ertragsaussichten dagegen höher als der Fortführungswert, kommt es für die

__________ 23 Vgl. bereits Ulmer, KTS 1981, 469, 478 f.; Habersack (Fn. 9), § 92 AktG Rz. 54.

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Schuldendeckungskontrolle ohnehin nur auf den Liquidationswert an, weil die Fortführungsbewertung nur zu Gunsten, aber nicht zu Lasten des Schuldners eingreift. Nicht die Überlebensprognose des Unternehmens in den Händen des Schuldners, sondern die richtige Ermittlung von „Fortführungswerten“ steht also im Mittelpunkt des „neuen“ Überschuldungsbegriffs.

III. Zur Bewertung mit „Fortführungswerten“ 1. Keine Maßgeblichkeit der Handelsbilanz Es entspricht ganz h. M., dass für die Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO die Ansatz- und Bewertungsvorschriften der §§ 238 ff. HGB (oder der IFRS) nicht gelten24. Zwar hätte eine Anknüpfung der Überschuldungsprüfung an die Handelsbilanz, wie sie verschiedentlich im Schrifttum gefordert worden ist25, den Vorzug einer größeren Praktikabilität und würde auch zu einer besseren Abstimmung von Insolvenz- und Gesellschaftsrecht führen (Verlustanzeige nach § 49 Abs. 3 GmbHG oder Auszahlungsverbot nach § 30 GmbHG)26. Eine Anwendung handelsrechtlicher Ansatz- und Bewertungsvorschriften im Rahmen der Überschuldungsprüfung widerspricht indes dem Zweck des Überschuldungstatbestandes27. Während die Handelsbilanz der Ermittlung eines ausschüttungsfähigen Gewinns dient, soll bei der Schuldendeckungskontrolle der „realistische“ Wert des Schuldnervermögens für Zwecke der Gläubigerbefriedigung ermittelt werden. So sind die handelsrechtlichen Buchwerte wegen des Anschaffungskosten- und Vorsichtsprinzips generell nicht zur Beurteilung der Befriedigungsaussichten der Gläubiger geeignet, weil stille Reserven – und damit verwertbares Schuldendeckungspotential – nicht ausgewiesen werden28. Richtig ist, dass solche Abweichungen zwischen Handelsbilanz und Überschuldungsprüfung bei einem IFRS-Abschluss wegen einer stärkeren Orientierung am fair value tendenziell geringer ausfallen dürften als bei einer klassischen HGB-Bilanz29. Es bleiben aber prinzipielle Unterschiede, da auch beim IFRS-Abschluss die periodengerechte Gewinnermittlung durch Einzelbewertung im Vordergrund steht. So darf z. B. nach IFRS ein originärer Firmenwert (good will) selbst dann nicht angesetzt werden, wenn seine wirtschaftliche Verwertbarkeit in einem Insolvenzverfahren hinreichend gesichert erscheint. Dass Handelsbilanzwerte für die Überschuldungsmessung nicht maßgebend sind, hat schließlich auch der Gesetzgeber der Insolvenzordnung aner-

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24 Vgl. zum alten Recht BGHZ 119, 201; zum neuen Recht statt vieler nur SchulzeOsterloh (Fn. 15), § 64 GmbHG Rz. 14; Habersack (Fn. 9), § 92 AktG Rz. 46; Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 43; Uhlenbruck (Fn. 1), Rz. 882; Gischer/Hommel, BB 2003, 945. 25 Vgl. etwa Drukarczyk, ZGR 1979, 553, 574 ff.; ders., WM 1994, 1737; Mertens in FS Forster 1992, 415, 421; Vonnemann, BB 1991, 867. 26 Dazu etwa Drukarczyk/Schüler (Fn. 10), S. 95 ff. 27 Statt vieler nur Schulze-Osterloh (Fn. 15), § 64 GmbHG Rz. 14; Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 43. 28 Zu weiteren Unterschieden vgl. nur Uhlenbruck in Karsten Schmidt/Uhlenbruck (Fn. 1), Rz. 882. 29 Vgl. zuletzt Hirte, ZGR 2008, 284, 289 ff.

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kannt. So hat der von der Kommission für Insolvenzrecht aufgestellte Leitsatz 1.2.6 Abs. 330 in den späteren Entwürfen und in der Gesetz gewordenen Fassung des § 19 Abs. 2 InsO keine Rolle mehr gespielt. 2. Standpunkt der h. M.: Überschuldungsstatus zu „Fortführungswerten“ Die Einsicht, dass die Ansatz- und Bewertungsvorschriften des HGB für die Überschuldungsprüfung keine Rolle spielen können, macht die Entwicklung eigenständiger Ansatz- und Bewertungsgrundsätze erforderlich. Repräsentativ für die in Schrifttum und Insolvenzpraxis vorherrschende Auffassung sind auch heute noch die „Empfehlungen zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen“ des Fachausschusses Recht des IdW aus dem Jahr 1996 (FAR 1/1996)31. Darin heißt es zur Überschuldungsprüfung (4.1.):32 „Die Beurteilung, ob eine Überschuldung vorliegt, wird auf der Grundlage einer Gegenüberstellung des Vermögens und der Schulden in einem stichtagsbezogenen Status (Überschuldungsstatus) vorgenommen. Das Ergebnis der Fortführungsprognose prägt dabei die dem Überschuldungsstatus zugrunde liegenden Ansatz- und Bewertungsgrundsätze.“

Zu der Frage, mit welchen Beträgen die einzelnen Vermögensgegenstände und Schulden anzusetzen sind, heißt es an anderer Stelle unter 4.2. („Ansatz und Bewertungsgrundsätze bei positiver Fortbestehensprognose“):33 „Die Vermögenswerte und Schulden sind grundsätzlich mit dem Betrag anzusetzen, der ihnen als Bestandteil des Gesamtkaufpreises des Unternehmens bei konzeptgemäßer Fortführung beizulegen wäre.“

In eine ähnliche Richtung zielt der Vorschlag einiger Autoren, die das Bewertungsproblem in der Überschuldungsbilanz mit dem Hinweis auf den steuerlichen Teilwert zu erledigen versuchen34. Andere Autoren sprechen sich dafür aus, die Vermögensgegenstände des Unternehmensvermögens bei positiver Fortführungsprognose mit den Wiederbeschaffungskosten zu bewerten35. Zum Teil werden die Wiederbeschaffungskosten – nicht zuletzt mit Blick auf die steuerlichen Teilwertdefinitionen – auch nur als Bewertungsobergrenze angesehen36. Die Beschränkung der Wertansätze auf die Wiederbeschaffungskosten führt zu der Frage, ob zusätzlich zu den einzelnen Vermögensgegenstände und Schulden auch noch ein Geschäfts- oder Firmenwert angesetzt werden darf, wenn

__________ 30 Vgl. Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, S. 112: „Auf die Prognose zur Ertragsfähigkeit kommt es nicht mehr an, wenn eine nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung erstellte Handelsbilanz ausweist, dass das Eigenkapital durch Verluste aufgezehrt ist“. 31 WPg 1997, 22. 32 WPg 1997, 22, 25. 33 WPg 1997, 22, 25. 34 So etwa Altmeppen, ZIP 1997, 273; Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 46; Habersack (Fn. 9), § 92 AktG Rz. 55. 35 Dafür etwa Habersack (Fn. 9), § 92 AktG Rz. 55. 36 Vgl. Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 47.

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der geschätzte Gesamtkaufpreis des Unternehmens, aus dem die Einzelfortführungswerte (bzw. Teilwerte) abgeleitet werden sollen, höher als die Summe der Wiederbeschaffungskosten (Substanzwert) ist. Welche Unsicherheiten insoweit bestehen, zeigt wiederum die Stellungnahme FAR 1/1996 des IdW, wo es dazu heißt (4.2.):37 „Falls dem Unternehmen nach Ansatz der erwähnten selbst geschaffenen immateriellen Werte darüber hinaus noch ein Firmenwert zuzumessen ist, gelten für dessen Ansatz und Bewertung strenge Maßstäbe, da es sich nicht um einen selbständig verwertbaren Vermögenswert handelt. Es ist daher eine konkrete Veräußerungsmöglichkeit für das Unternehmen als Ganzes oder eines entsprechenden Unternehmensteiles nachzuweisen. Nur in diesen Fällen ist der Firmenwert – ggf. anteilig – auf der Grundlage objektivierter Maßstäbe bestimmbar und dessen Ansatz auch unter Gläubigerschutzgesichtspunkten zu rechtfertigen.“

Während einige juristische Autoren dieser Auffassung zustimmen38, einzelne Stimmen sogar eine Aktivierung ganz ablehnen39, wollen andere den Ansatz eines Geschäfts- oder Firmenwertes schon dann zulassen, wenn sich „nach sachverständigem Urteil auf dem Markt voraussichtlich ein Erwerber finden lässt, der bereit ist, dafür einen Preis zu zahlen“40. 3. Gegenthese: Ertragswert als richtiger Fortführungswert a) Gebot der realistischen Bewertung § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO lässt es zu, dass bei der Bewertung des unternehmerischen Vermögens „die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen“ ist, wenn die Fortführung überwiegend wahrscheinlich ist. Die Zulässigkeit der Fortführungsbewertung entspringt – wie man in den Gesetzesmaterialien lesen kann41 – dem Wunsch der Gesetzesverfasser nach einer „realistischen“ Bewertung der Unternehmenssubstanz. Nimmt man diese Vorgabe ernst, dann ist allein der Ertragswert eines Unternehmens der richtige „Fortführungswert“. Denn nach dem heutigen Stand der Bewertungslehre ergibt sich der Wert eines Unternehmens – wenn man vom Liquidationswert als Wertuntergrenze absieht – „grundsätzlich aufgrund der finanziellen Überschüsse, die bei Fortführung des Unternehmens und Veräußerung etwaigen nicht betriebsnotwendigen Vermögens erwirtschaftet werden (Zukunftserfolgswert).“42 Überträgt man

__________ 37 WPg 1997, 22, 25. 38 Vgl. Müller/Haas (Fn. 9), S. 1799, 1809 Rz. 25 („schuldrechtlicher Kaufvertrag“); einschränkend auch Schulze-Osterloh (Fn. 15), § 64 GmbHG Rz. 16 („greifbare Aussichten“). 39 Grundsätzlich ablehnend Pape in Kübler/Prütting, InsO, Stand 2008, § 19 InsO Rz. 11. 40 So Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 52; ebenso wohl auch Uhlenbruck (Fn. 28), Rz. 889. 41 BT-Drucks. 12/2443, S. 115. 42 Vgl. IdW S 1, WPg 2005, 1303, 1305. Zur Unternehmensbewertung vgl. aus dem juristischen Schrifttum Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung im Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002; Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 70 ff.; Kuhner/Maltry, Unternehmensbewertung, 2006; Adolff, Unternehmensbewertung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007; ferner Fleischer, ZGR 1997, 368; Hüttemann, ZHR 162 (1998), 563; ders., WPg 2007, 812.

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diese Erkenntnis auf die Überschuldungsprüfung, dann ergeben sich gegenüber der h. M. zwei wesentliche Abweichungen: Erstens ist auch im Rahmen von § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO der Fortführungswert des Schuldnervermögens als Unternehmensgesamtwert durch eine Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode (oder dem DCF-Verfahren) zu ermitteln. Zweitens ist die Aufstellung einer Überschuldungsbilanz bei einer Fortführungsbewertung nicht geboten, weil eine (mehr oder weniger willkürliche) Aufteilung des Unternehmensgesamtwertes auf die einzelnen Vermögensgegenstände und Schulden (Substanzwert) sowie einen Geschäfts- und Firmenwert dem Rechtsanwender keine weiteren für die Überschuldungsfeststellung erforderlichen Erkenntnisse vermittelt. Die Einsicht, dass allein der Ertragswert den theoretisch richtigen „Fortführungswert“ i. S. v. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO darstellt, ist natürlich nicht neu43. Dies führt zu der Frage, weshalb sich diese Gegenthese bisher im gesellschafts- und insolvenzrechtlichen Schrifttum nicht hat durchsetzen können. b) Unternehmensbewertung und Schuldendeckungskontrolle Repräsentativ für die verbreiteten Vorbehalte, die im juristischen Schrifttum gegenüber einer ertragswertbezogenen Überschuldungsprüfung bestehen, sind etwa die Ausführungen von Hüffer gegen eine Verknüpfung des Überschuldungstatbestands mit der Unternehmensbewertung:44 „Was diese Methode in ihrem Kern kennzeichnet und zugleich betriebswirtschaftlich reizvoll sowie juristisch unergiebig macht, ist der zwangsläufige Verzicht auf eine Einzelbewertung der Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten. Eine derartig weitgehende ‚Dynamisierung’ wird sich mit einer Schuldendeckungskontrolle im Sinne der gesetzlichen Anforderungen schwerlich vereinbaren lassen; nach den tendenziellen Verschärfungen in § 19 Abs. 2 InsO sind entsprechende Bemühungen in rechtlichem Zusammenhang als chancenlos zu beurteilen.“

Diese Sätze erwecken den Eindruck, als gäbe es ein praktisch anwendbares und theoretisch fundiertes Verfahren zur Ermittlung von „Einzelfortführungswerten“. Ökonomen haben aber schon lange erkannt, dass es solche „Betriebsbestehenswerte“ nicht gibt und nach dem Erkenntnisstand der Bewertungslehre auch nicht geben kann45. Auch der Jubilar hat bereits vor über 30 Jahren festgestellt, es sei „ungereimt, wenn auch bei Berücksichtigung von Unternehmensbestehenswerten von Einzelansätzen ausgegangen wird“46. Die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten bei der Ermittlung von „Einzel-

__________ 43 Siehe etwa Egner/Wolff, AG 1978, 99, 103 („Also bleiben lediglich Ertragswerte“); Drukarczyk, ZGR 1979, 553, 566: „Die theoretisch exakte Lösung erforderte die Ermittlung von Unternehmenswerten, also die Aufgabe insbesondere des Einzelbewertungsprinzips“; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 64 GmbHG Rz. 20 f.; Spliedt, DB 1999, 1941 f.; Götz, ZInsO 2000, 77; Gischer/Hommel, BB 2003, 945, 948; Drews (Fn. 10), S. 158 ff. 44 Vgl. Hüffer in FS Wiedemann, 2002, 1047, 1060; ablehnend zur Ertragswertmethode auch Schulze-Osterloh (Fn. 15), § 64 GmbHG Rz. 14; Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 26. 45 Statt vieler nur Egner/Wolff, AG 1978, 99, 103; Drukarczyk, ZGR 1979, 553, 566 f. 46 AG 1978, 334, 337.

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fortführungswerten“ lassen sich auch nicht durch den Verweis auf die steuerlichen Teilwerte überwinden. Die Teilwertlehre gilt unter Bilanzsteuerrechtlern allgemein als gescheitert47. Der Teilwert wird daher auch mitunter als der Betrag bezeichnet, „auf den sich Steuerpflichtiger und Finanzverwaltung einigen“48. Vor allem übersieht der Hinweis auf § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, dass der Teilwert im Steuerrecht spezifische Bewertungsfunktionen übernimmt (z. B. bei Einlagen, Entnahmen und außerplanmäßigen Wertminderungen), die sich bei der Überschuldungsprüfung nicht stellen. Ohne theoretische Fundierung ist auch der Vorschlag, die Vermögensgegenstände im Überschuldungsstatus mit Wiederbeschaffungskosten anzusetzen. Für eine „realistische“ Bewertung des Unternehmensvermögens ist es ohne Belang, was der „Nachbau“ der vorhandenen Unternehmenssubstanz am Stichtag kosten würde, sondern es kommt allein darauf an, welchen Ertrag das Unternehmen in Zukunft abwerfen wird. Aus diesem Grund spielt der Substanzwert bei allen anderen rechtlichen Bewertungsanlässen (z. B. bei der Abfindung ausscheidender Aktionäre) heute keine Rolle mehr49. Weshalb sich der Schuldner im Rahmen von § 19 Abs. 2 InsO auf eine derart „unrealistische“ Bewertung soll verweisen lassen müssen, ist nicht erkennbar. Vor allem ist festzustellen, dass sich auch hinter dem zu Fortführungswerten aufgestellten Überschuldungsstatus der h. M. letztlich keine „Einzelbewertung“, sondern ein Gesamtfortführungswert auf der Grundlage der Ertragswertmethode verbirgt. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Vorgehensweise des IdW, bei der „Einzelfortführungswerte“ aus einem Gesamtkaufpreis des Unternehmens abgeleitet werden. Ein solcher Gesamtkaufpreis lässt sich aber – was die Stellungnahme allerdings verschweigt – nur durch eine Unternehmensbewertung schätzen: Anders formuliert: Ausgangsgröße für die Überschuldungsbilanz nach IdW ist immer der Ertragswert, der dann (mehr oder weniger willkürlich) auf einzelne Aktiva und Passiva und ggf. einen Geschäftswert verteilt wird50. Gerade der Ansatz eines solchen Geschäfts- oder Firmenwertes steht aber in offenem Widerspruch zum bilanziellen Einzelbewertungsprinzip, da sich der Geschäfts- oder Firmenwert gerade einer selbständigen Bewertung entzieht51. Zudem ist nicht zu erkennen, weshalb man den Unternehmensgesamtwert überhaupt noch mühsam in einer Überschuldungsbilanz auf einzelne Positionen verteilt, da es für die Frage, ob das (Gesamt-)Vermögen die Schulden deckt, ohnehin nur auf den Saldo ankommen kann. Anders formuliert: Wer den Ansatz eines Geschäfts- oder Firmenwertes für zulässig hält,

__________ 47 Statt vieler nur Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, S. 175 f. 48 So Maaßen, Der Teilwert im Steuerrecht, 1968, S. VI. 49 Statt vieler nur IdW S 1, WPg 2005, 1303, 1319; ebenso bereits BGH, WM 1978, 401 („Kali und Salz“). 50 WPg 1997, 22, 25. 51 Dieser Zusammenhang bleibt im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum, soweit eine „Einzelbewertung“ gefordert wird, zumeist unerörtert, vgl. etwa Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 26 einerseits und Rz. 52 andererseits.

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kann auch gleich auf eine Überschuldungsbilanz verzichten und es bei einer Unternehmensbewertung nach der Ertragswertmethode belassen52. Die Notwendigkeit einer Überschuldungsbilanz lässt sich schließlich auch nicht aus den Gesetzesmaterialien ableiten. Zwar kann man in der Begründung zu § 19 Abs. 2 InsO lesen:53 „Die Feststellung, ob Überschuldung vorliegt oder nicht, kann also stets nur auf der Grundlage einer Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden getroffen werden.“

Aus diesem Grund wollen sogar manche Autoren, die sich grundsätzlich für den Ansatz von Ertragswerten aussprechen, am Überschuldungsstatus festhalten, aber den Ertragswert (ohne Berücksichtigung der laufenden finanziellen Belastungen) dem Barwert der Schulden gegenüber stellen54. Richtigerweise ist eine Überschuldungsbilanz bei der Ermittlung des Fortführungswertes nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO weder rechtlich erforderlich noch betriebswirtschaftlich sinnvoll55. Was die rechtlichen Vorgaben anbetrifft, so verlangt § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO nur eine „Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden“, also eine Schuldendeckungskontrolle. Wie ein solcher Vergleich bewertungstechnisch durchzuführen ist, regelt das Gesetz dagegen nicht. Auch im Rahmen der Ertragswertmethode findet ein „Vergleich von Vermögen und Schulden“ statt, wenn auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Unternehmen nicht zerschlagen, sondern in seiner vorhandenen Konzeption als lebende Einheit fortgeführt werden soll56. Ist der Gesamtunternehmenswert größer oder gleich Null, dann liegt eine Überschuldung nicht vor, weil die künftigen Erträge (noch) ausreichen, um die künftigen finanziellen Aufwendungen abzudecken. c) Überschuldungsprüfung und Prognoseunsicherheiten Ein weiterer Einwand gegen die Verknüpfung von Überschuldungsprüfung und Unternehmensbewertung wird in der mangelnden „Objektivierbarkeit“ und „Justiziabilität“ einer Unternehmensbewertung gesehen57. Auch diese Bedenken sind indes unbegründet. Zunächst erweist sich der Hinweis auf die Schätzungs- und Prognoseunsicherheiten der Ertragswertmethode schon deshalb als nicht überzeugend, weil auch die von der h. M. geforderte Überschuldungs-

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52 Es ist daher bezeichnend, wenn auch Hüffer in FS Wiedemann, 2002, S. 1047, 1055 letztlich auf den Wert abstellen will, den „die Gesellschaft für ihr Unternehmen erzielen würde“. Dies ist aber nichts anderes als der Ertragswert (!). 53 BT-Drucks. 12/2443, S. 115. 54 Vgl. etwa Drews (Fn. 10), S. 169. 55 Vgl. nur Drukarczyk/Schüler, DStR 1999, 646, 648; Gischer/Hommel, BB 2003, 945, 948. 56 Grundlegend Moxter in Büschgen (Hrsg.), Handwörterbuch der Finanzwirtschaft, 1976, Sp. 636. 57 Vgl. zur „Manipulationsanfälligkeit“ von Ertragswertkalkülen vor allem Drukarczyk, ZGR 1979, 561 ff.; zurückhaltender aber Drukarczyk/Schüler, DStR 1999, 646, 648 („diskutable Idee“); gegen Anwendung der Ertragswertmethode im Rahmen von § 19 Abs. 2 InsO auch Müller/Haas (Fn. 9), S. 1799, 1807 f.: „mangelnde Objektivierbarkeit“.

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bilanz – insbesondere wenn man einen Geschäftswertansatz zulässt – nicht ohne eine Ertragswertermittlung auskommt, da sich der gedachte „Gesamtkaufpreis“ als Ausgangsgröße nicht anders feststellen lässt58. Schätzunsicherheiten sind auch kein Grund, den Ansatz eines Geschäfts- oder Firmenwertes von zusätzlichen Voraussetzungen – z. B. einer konkreten Verwertungsmöglichkeit – abhängig zu machen59. Ein solcher zusätzlicher „Markttest“ ist schon deshalb untauglich, weil er in der Praxis zu mehr oder weniger willkürlichen Ergebnissen führt, weil der Ausgang der Überschuldungsprüfung dann davon abhängt, ob das Management zufälligerweise (oder in weiser Voraussicht einer möglichen Insolvenzprüfung) ein entsprechendes Kaufangebot in der Schublade hat. Zudem führt die Nichtberücksichtigung künftiger Ertragsaussichten zu bedenklichen Ungleichbehandlungen zwischen verschiedenen Branchen, weil z. B. Geschäfts- oder Firmenwerte in den „modernen“ Dienstleistungs- und Technologiebranchen eine größere Bedeutung haben als in der old economy. Grundsätzliche Bedenken gegen die Verwendung von Ertragsprognosen in der Überschuldungsprüfung sind auch deshalb unbegründet, weil der Gesetzgeber ungeachtet seiner Vorbehalte gegen den von Karsten Schmidt entwickelten zweistufigen Überschuldungsbegriff mit der Fortführungsbewertung nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO an einer „prognostischen“ Bewertung festgehalten hat. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass selbst Zerschlagungswerte bei einer negativen Fortführungsprognose keineswegs „sicher“ sind. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Ertragswerte trotz der mit ihnen verbundenen Unsicherheiten auch bei vielen anderen gesellschaftsrechtlichen Bewertungsanlässen (Bewertung von Unternehmen als Sacheinlage60, Ermittlung der Vorbelastungshaftung61, Abfindung ausscheidender Aktionäre62) maßgebend sind, weil nur sie eine zweckentsprechende Bewertung ermöglichen. Der schlichte Hinweis auf „Bewertungsunsicherheiten“ rechtfertigt also weder die Anwendung einer theoretisch fehlerhaften Bewertungsmethode (z. B. Einzelfortführungswerte in Gestalt von steuerlichen Teilwerten) noch die pauschale Nichtberücksichtigung künftiger Ertragsaussichten (durch Nichtaktivierung eines Geschäftswertes), denen nach der betriebswirtschaftlichen Bewertungslehre ein tatsächlicher Vermögenswert zukommt. Die Insolvenzpraxis sollte deshalb die (vergebliche) Suche nach „scheingenauen“ Bilanzziffern in der Überschuldungsbilanz aufgeben und sich dem Prognoseproblem bei der Überschuldungsprüfung offensiv stellen. Dies könnte z. B. in der Weise geschehen, dass eine Überschuldung nur dann vorliegt, wenn der Unternehmensgesamtwert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit negativ ist. Durch einen solchen Ansatz würde anerkannt, dass es den einen „richtigen“ bzw. „wirklichen“ Unternehmenswert ohnehin nicht gibt, sondern die Bewertungs-

__________ 58 Zutreffend Spliedt, DB 1999, 1941, 1945. 59 Statt vieler etwa Schulze-Osterloh (Fn. 15), § 64 GmbHG Rz. 16 („greifbare Aussichten“); Müller/Haas (Fn. 9), S. 1799, 1809. 60 Vgl. dazu nur Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 15), § 5 GmbHG Rz. 34. 61 Dazu BGHZ 140, 35; Fleischer, GmbHR 1999, 752; Hüttemann in FS Huber, 2006, S. 757; zurückhaltender Hennrichs, ZGR 1999, 837. 62 Grundlegend BGH, WM 1978, 401 („Kali und Salz“).

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fachleute immer nur eine gewisse Bandbreite von „objektivierten“ Werten schätzen können.

IV. Auswirkungen des neuen Rechts auf die Überschuldungsprüfung 1. Die These des Jubilars Nachdem gezeigt worden ist, wie eine Bewertung zu „Fortführungswerten“ nach neuem Recht zu erfolgen hat, bleibt noch die Ausgangsfrage nach den praktischen Auswirkungen der neuen Überschuldungsdefinition im Vergleich zum früheren zweistufigen Überschuldungsbegriff zu beantworten. Ist die Skepsis des Jubilars gegenüber dem „neuen“ Überschuldungsbegriff berechtigt, weil dieser zu keinen anderen Ergebnissen führt, so dass die „Kehrtwende“ des Gesetzgebers in der Praxis folgenlos bleiben wird? Die Gesetzesverfasser sind der Frage letztlich ausgewichen. In den Materialien findet sich nur der Satz, bei einer positiven Fortführungsprognose werde „häufig“ eine Überschuldung nicht vorliegen63. Eine Klärung dieser Frage macht einige Überlegungen zum Verhältnis von Fortführungsprognose nach altem Recht und Fortführungsbewertung nach neuem Recht erforderlich. 2. Zahlungsfähigkeitsprognose und Schuldendeckungskontrolle Nach dem zweistufigen Überschuldungsbegriff war eine Überschuldung schon dann ausgeschlossen, wenn die Finanzkraft des Schuldners voraussichtlich ausreichte, um das Unternehmen mittelfristig fortzuführen64. Es handelte sich mithin erstens um eine Zahlungsfähigkeitprognose, d. h. die Quellen der Liquidität (Ertragsfähigkeit des Unternehmens oder sonstige finanzielle Mittel des Schuldners) spielten keine Rolle. Zweitens war der Prognosezeitraum beschränkt und sollte regelmäßig nur das laufende und das folgende Geschäftsjahr umfassen65. Vergleicht man diese Art der Fortführungsprognose mit dem durch § 19 Abs. 2 InsO vorgegebenen Bewertungskalkül, so ergeben sich zwei Unterschiede: Während die Fortführungsprognose (auch) von der Zahlungsfähigkeit des Schuldners abhing, spielt die Finanzkraft des Schuldners für die Bewertung des Unternehmens als wirtschaftlicher Einheit nur insoweit eine Rolle, als ein zum Stichtag vorhandenes Eigenkapital den Unternehmenswert erhöht. Und in zeitlicher Hinsicht ist der Planungszeitraum der Fortführungsprognose auf einen kurzen oder mittleren Zeitraum befristet, während die Ertragswertmethode grundsätzlich die gesamte künftige Lebensdauer des Unternehmens einbezieht66. Keine Unterschiede zwischen „altem“ und „neuem“ Recht ergeben sich, wenn die Ertragskraft des Unternehmens nach den Verhältnissen am Stichtag vor-

__________ 63 64 65 66

Vgl. Begr. RegE § 23, BT-Drucks. 12/7302, S. 157. Vgl. oben Fn. 16. Statt vieler FAR 1/96, WPg 1997, 22, 24; Müller (Fn. 9), § 19 InsO Rz. 36. Ebenso Drukarczyk/Schüler (Fn. 10), S. 95, 136.

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aussichtlich ausreicht, um auf Dauer mindestens die laufenden Fremdkapitalaufwendungen zu erwirtschaften. In diesem Fall ist die Fortführungsprognose unabhängig davon, ob man auf die Zahlungsfähigkeit des Schuldners oder die Ertragskraft des Unternehmens abstellt, immer positiv. Ein solches Unternehmen ist aber, wenn man Fortführungswerte als Ertragswerte definiert, auch niemals überschuldet, da eine Kapitalisierung von Erträgen und Aufwendungen, die sich dauerhaft mindestens ausgleichen, auch einen Unternehmensgesamtwert von mindestens Null ergibt. Anders ausgedrückt: Ein „wirtschaftlich lebensfähiges“ Unternehmen kann zu Ertragswerten nicht überschuldet sein. Auf diesen bewertungstechnischen Zusammenhang haben Egner/Wolff bereits in den 1970er Jahren hingewiesen und deshalb eine Überschuldungsprüfung zu „Betriebsbestehenswerten“ bei positiver Fortführungsprognose als überflüssige „Bestätigungsrechnung“ kritisiert67. Ihre Überlegungen zum Zusammenhang von Überlebensprognose und Fortführungsbewertung sind auch heute noch zutreffend, d. h. eine dauerhaft positive Ertragsprognose macht eine Fortführungsbewertung nach § 19 Abs. 2 InsO an sich überflüssig68. Dabei spielt es letztlich auch keine Rolle, ob man den Ertragswert als Unternehmensgesamtwert zugrunde legt oder – mit der noch h. M. – eine „Überschuldungsbilanz“ unter Einschluss eines aus dem Ertragswert abgeleiteten Geschäfts- oder Firmenwert aufstellt69. Ist die Ertragsprognose dagegen nicht dauerhaft positiv, dann kann aus dem Umstand, dass das Unternehmen noch einige Zeit gewisse Überschüsse abwerfen wird, noch nicht darauf geschlossen werden, dass das Vermögen die Schulden zum Stichtag deckt. Anders ausgedrückt: Ist bereits am Stichtag absehbar, dass das Unternehmen in zwei Jahren nur noch „rote Zahlen“ schreiben wird, dann bedarf es einer genaueren Prüfung, ob der Barwert der Erträge aus der Restlaufzeit einschließlich des Barwerts eines künftigen Liquidationserlöses noch ausreicht, um den Barwert aller bestehenden Verbindlichkeiten abzudecken. Bei dieser Bewertung handelt es sich zwar immer noch um eine „Fortführungsbewertung“ nach dem Ertragswertkalkül, weil es darum geht, den wirtschaftlichen Wert bei einer zeitlich begrenzten Fortführung des Unternehmens zu ermitteln. Sie hat aber nach den Grundsätzen zu erfolgen, die bei der Bewertung von Unternehmen mit einer begrenzten Lebensdauer Anwendung finden70, d. h. es handelt sich um eine Kombination aus Ertrags- und Liquidationsbewertung. Man denke an eine Zechengesellschaft, die bisher von staatlichen Subventionen „gelebt“ hat. Beschließt die Regierung, die Subvention in zwei Jahren auslaufen zu lassen, dann ist diese Gesellschaft bereits heute als überschuldet anzusehen, wenn die finanziellen Überschüsse der „Restlaufzeit“ und der künftige Liquidationserlös voraussichtlich nicht aus-

__________ 67 Vgl. Egner/Wolff, AG 1978, 99. 68 Ebenso etwa Gischer/Hommel, BB 2003, 945, 947: Positive Überlebensprognose nur dann, wenn ein positiver Ertragswert gegeben ist. 69 Zutreffend Gischer/Hommel, BB 2003, 945, 948; Spliedt, DB 1999, 1941, 1944 f. 70 Vgl. dazu IDW S 1, WPg 2005, 1303, 1312.

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Überschuldung, Überschuldungsstatus und Unternehmensbewertung

reichen, um den Barwert der bestehenden Verbindlichkeiten (einschließlich der mit der Zechenstilllegung verbundenen Aufwendungen für Rekultivierungsmaßnahmen und Sozialpläne) abzudecken. Im alten Recht hätte man sich dagegen einfach mit der Feststellung begnügen können, dass die Ertragskraft noch ausreicht, um das Unternehmen mittelfristig (ein bis zwei Jahre) fortzuführen71. Das neue Recht zwingt demgegenüber zu einer genaueren Prüfung der Schuldendeckung und dürfte tendenziell zu einer früheren Insolvenzeröffnung führen. Schließlich bleibt der bereits oben72 behandelte Fall übrig, dass ein Unternehmen nach den Verhältnissen zum Stichtag dauerdefizitär ist, aber der Schuldner entschlossen ist, das Unternehmen trotzdem fortzuführen. Dieser Fall entspricht der typischen Situation öffentlicher Unternehmen der Daseinsvorsorge in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft, die trotz nachhaltiger Verlusterzielung im öffentlichen Interesse fortgeführt werden und deren Betriebsverluste von den öffentlich-rechtlichen Gesellschaftern durch laufende Betriebsmittelzuschüsse bzw. Gesellschaftereinlagen abgedeckt werden. Ob ein solches Unternehmen überschuldet ist, wäre unter der Geltung des früheren zweistufigen Überschuldungsbegriffs davon abhängig gewesen, ob die Finanzkraft des Unternehmens (unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Gesellschafterleistungen) für eine mittelfristige Fortführung ausreichte. Nach neuem Recht muss man die Frage anders stellen. Denn im Rahmen von § 19 Abs. 2 InsO kommt es allein auf den „realistischen“ Wert des Unternehmens an, den die Gläubiger bei einer Verwertung der Unternehmenssubstanz erzielen können. Ein gedachter Erwerber wird aber nicht bereit sein, für ein ertragloses Unternehmen mehr als den Verkehrswert der einzelnen Vermögensgegenstände (d. h. den Liquidationswert) zu bezahlen. Auch eine Bewertung ertragloser Unternehmen mit dem Substanz- oder Rekonstruktionswert73 kommt nicht in Betracht, weil sich der „Nachbau“ eines defizitären Unternehmens nicht lohnt. Die Überschuldung eines defizitären Unternehmens hängt folglich davon ab, ob der Liquidationswert die vorhandenen Schulden deckt. Die Zahlungsfähigkeit des Schuldners spielt dabei nur noch insoweit eine Rolle, als ein vorhandenes oder von den Gesellschaftern verbindlich zugesagtes Eigenkapital den Liquidationswert erhöht. Gegenüber dem früheren Recht ergibt sich damit eine Vorverlagerung der Insolvenzantragspflicht, die dem Ziel der Insolvenzrechtsreform entspricht.

__________ 71 Einschränkend aber FAR 1/96, WPg 1997, 22, 24: „Für Unternehmen mit längeren Produktionszyklen (Langfristfertigung) können längere Prognosezeiträume sachgerecht sein“. 72 Unter II.3.b). 73 Soweit nach IDW S 1, WPg 2005, 1303 bei Unternehmen mit Leistungserstellungszwecken eine Bewertung zum Rekonstruktionswert für möglich gehalten wird, kann dies für die Bewertung im Rahmen des § 19 Abs. 2 InsO nicht gelten, weil die Gläubiger einer kommunalen Eigengesellschaft nicht dem Gemeinwohl verpflichtet sind.

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3. Ergebnis Die vorstehende Analyse bestätigt zunächst die These des Jubilars, dass der Grundgedanke des zweistufigen Überschuldungsbegriffs – eine positive Fortführungsprognose schließt eine rechtliche Überschuldung aus – auch im neuen Recht zutreffend bleibt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Ertragsprognose dauerhaft positiv ausfällt, d. h. das Unternehmen voraussichtlich auf Dauer in der Lage sein wird, die künftigen finanziellen Aufwendungen zu tragen. In diesem Fall kann eine „Fortführungsbewertung“, wenn sie zweckentsprechend auf der Grundlage der Ertragswertmethode erfolgt, nur die Ertragsprognose bestätigen. Abweichungen gegenüber dem zweistufigen Überschuldungsbegriff ergeben sich dagegen bei solchen Unternehmen, deren Ertragserwartungen nicht dauerhaft positiv sind, sowie bei ertraglosen Unternehmen. In diesen Fällen zwingt § 19 Abs. 2 InsO zu einer genaueren Schuldendeckungskontrolle, weil man sich nicht mehr mit der Feststellung begnügen kann, dass die Zahlungsfähigkeit des Schuldners zur mittelfristigen Unternehmensfortführung noch ausreicht. Für diese Fälle bestätigt sich also der Vorbehalt der Gesetzesverfasser74, dass eine positive Fortführungsprognose zwar „häufig“, aber nicht zwingend bedeutet, dass das Vermögen die Schulden deckt.

__________ 74 BT-Drucks. 12/7302, S. 157.

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Zum Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften Inhaltsübersicht I. Zur Bedeutung von § 57 AktG bei der Abspaltung durch eine AG 1. Problemstellung a) Ausgangspunkt b) Der gesetzliche Rahmen c) Der vernachlässigte Rechtsformunterschied zwischen GmbH und AG 2. Zum Diskussionsstand a) Die Gesetzesmaterialien b) Das Schrifttum 3. Kritische Stellungnahme a) Ausgangspunkt b) Spezifische Zwecksetzung der Spaltung c) Wertung des § 145 UmwG d) Anderweitige Befriedigung der Gläubigerbelange

e) Zwischenergebnis und Weiterverweisung II. Zur Reichweite des Zugriffs auf die Rücklagen 1. Fragestellung 2. Meinungsstand 3. Stellungnahme a) Keine Schonung der freien Rücklagen b) Zum Zugriff auf die gebundenen Rücklagen 4. Ergebnis III. Zugriff auf die stillen Reserven? 1. Fragestellung 2. Meinungsstand zur Sachdividende 3. Stellungnahme IV. Zusammenfassung

Mit der Spaltung hat der Gesetzgeber des Umwandlungsgesetzes 1995 das rechtstechnische Instrumentarium zur Umstrukturierung von Unternehmen nachhaltig erweitert. Das hat die Praxis dankbar aufgenommen; sie macht von der Möglichkeit, Teile einer Vermögensgesamtheit im Wege der partiellen Gesamtrechtsnachfolge auf einen neuen oder schon bestehenden, aufnehmenden Rechtsträger zu transferieren, regen Gebrauch, z. B. zur Bildung einer neuen Konzernstruktur oder zur Durchführung eines Teilunternehmensverkaufs, bei dem das abzugebende Vermögen in einem so genannten special purpose vehicle, häufig in der Rechtsform einer GmbH, separiert und dieses im Wege des share deals an den Erwerber übertragen wird1.

__________ 1 Der Spaltungsweg ist gegenüber der Vermögensübertragung im Wege der Einzelrechtsübertragung aus einer Reihe von Gründen attraktiv, namentlich bedarf es für die Übertragung von Schuldverhältnissen nicht der Zustimmung hiervon berührter Dritter, und der Vermögensübergang vollzieht sich uno actu mit der Eintragung der Spaltung im Handelsregister des übertragenden Rechtsträgers. Mit der Streichung von § 132 UmwG hat der Gesetzgeber die Attraktivität der Spaltung weiter erhöht; vgl. das Zweite Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes vom 19.4.2007 (BGBl. I 542), zur Aufhebung von § 132 UmwG als so genannte „Spaltungsbremse“ siehe die Begr. zum RegE dazu, BT-Drucks. 16/2919 v. 12.10.2006, 19 li. Sp.

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Nicht selten stehen indessen nicht Belange einer sachgerechten Konzernstruktur, sondern das schlichte Interesse der Gesellschafter an einem Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen ganz im Vordergrund. Insbesondere dann stellt sich in der Aktiengesellschaft die Frage nach dem Verhältnis zu den aktienrechtlichen Kapitalschutzregeln, also ein Problemkreis, der in den vom Jubilar entwickelten Kategorien dem institutionellen Gläubigerschutz, in Abgrenzung zum individuellen Gläubigerschutz, zuzuweisen ist2.

I. Zur Bedeutung von § 57 AktG bei der Abspaltung durch eine AG 1. Problemstellung a) Ausgangspunkt Das UmwG definiert die Abspaltung in § 123 Abs. 2 UmwG als die Übertragung eines Teilvermögens als Gesamtheit auf einen übernehmenden oder neuen Rechtsträger gegen Gewährung von Anteilen dieses übernehmenden Rechtsträgers an die Anteilshaber des übertragenden Rechtsträgers. Weil die als Gegenleistung für den Vermögensabgang zu gewährenden neuen Anteile, anders als bei der Ausgliederung, nicht dem übertragenden Rechtsträger gewährt werden, bedeutet die Abspaltung für den übertragenden Rechtsträger eine Vermögensabgabe, die kompensationslos bleibt. Die Gegenleistung ist vielmehr definitionsgemäß den Gesellschaftern des übertragenden Rechtsträgers zu gewähren. Deshalb ist die Abspaltung der Sache nach eine Vermögenszuwendung des übertragenden Rechtsträgers an seine Gesellschafter3. Im Hinblick auf diese Wirkung tritt die Abspaltung also funktional vergleichbar an die Seite der Gewinnausschüttung, namentlich in Gestalt der Sachdividende, und der Kapitalherabsetzung zum Zwecke der Rückzahlung des Grundkapitals durch Sachausschüttung. Sieht man vom Sonderfall einer Abspaltung auf die Muttergesellschaft ab, führt die Abspaltung anders als eine Sachdividende oder Sachausschüttung infolge einer Kapitalherabsetzung allerdings nicht zu einer unmittelbaren Zuwendung der abgespaltenen Vermögenswerte an die Aktionäre, sondern nur zu einer mittelbaren Vermögenszuwendung in Gestalt von Anteilen an dem aufnehmenden Rechtsträger. Gleichwohl bedarf es keiner weiteren Darlegung, dass damit der Anwendungsbereich von § 57 AktG berührt ist. Denn die Leistung der Aktiengesellschaft an einen Dritten, die auf Veranlassung des Aktionärs erfolgt, ist diesem i. S. v. § 57 AktG stets und sogar unabhängig davon zuzurechnen, ob der Aktionär hieraus einen unmittelbaren oder mittelbaren Vorteil zieht, und erst recht gilt diese natürlich für die Zuwendung an ein verbundenes Unternehmen bei

__________ 2 Grundlegend zur Unterscheidung zwischen institutionellem und individuellem Gläubigerschutz Karsten Schmidt, ZGR 1993, 366 ff.; weitere wegweisende Beiträge des Jubilars zum neuen Umwandlungsrecht finden sich u. a. in ZGR 1990, 580 ff.; FS Heinsius, 1991, S. 715 ff.; AcP 191 (1991), 495 ff.; ZGR 1993, 366 ff. 3 Zum Ausschüttungs- bzw. Entnahmecharakter der Abspaltung Priester in FS Schippel, 1996, S. 487, 488; Schöne, Die Spaltung unter Beteiligung von GmbH, 1998, S. 66.

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Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften

gleichzeitiger Anteilsgewähr an den Aktionär4. Deshalb stellt sich, wenn der übertragende Rechtsträger eine Aktiengesellschaft ist, namentlich die Frage, inwieweit die Abspaltung mit § 57 AktG vereinbar ist. Darin verbietet das AktG bekanntlich jedwede Vermögenszuwendung an die Aktionäre, die nicht die Ausschüttung eines Bilanzgewinnes ist. § 57 Abs. 1 Satz 2 AktG nimmt hiervon die Zahlung des Erwerbspreises beim zulässigen Erwerb eigener Aktien ausdrücklich aus. Anerkannte Ausnahme ist weiter die Kapitalherabsetzung nach den hierfür geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Auch die Abspaltung könnte eine solche Ausnahme sein. Sie wird indessen in keinem der Standardkommentare zu § 57 AktG als Ausnahmefall von der strengen aktienrechtlichen Kapitalbindung genannt5. b) Der gesetzliche Rahmen Eine Gesetzesbestimmung, die die Abspaltung explizit vom Anwendungsbereich des § 57 AktG ausnimmt, fehlt. Immerhin adressieren aber die §§ 139 und 140 UmwG den Kapitalschutz des abspaltenden Rechtsträgers, soweit es sich um eine GmbH handelt, und die §§ 145 und 146 UmwG enthalten entsprechende Bestimmungen für die Abspaltung durch eine Aktiengesellschaft oder Kommanditgesellschaft auf Aktien. Danach kann, wenn zur Durchführung der Abspaltung eine Kapitalherabsetzung erforderlich ist, diese auch in vereinfachter Form vorgenommen werden6. Außerdem hat das Vertretungsorgan bei der Anmeldung der Abspaltung zu erklären, „dass die durch Gesetz und Satzung vorgesehenen Voraussetzungen für die Gründung dieser Gesellschaft unter Berücksichtigung der Abspaltung … vorliegen“7, was mit Recht ganz vorrangig auf die Stamm- oder Grundkapitalausstattung der übertragenden Gesellschaft nach Wirksamwerden der Spaltung bezogen wird8. Damit wird jedenfalls zweierlei klargestellt: Erstens darf die Abspaltung nicht dazu führen, dass das der abspaltenden Gesellschaft verbleibende Vermögen, genauer das Nettoreinvermögen zu Buchwerten9, infolge des Verlustes des abgespaltenen Vermögensteils das in der Satzung bestimmte Stamm- oder Grundkapital nicht mehr deckt, aufgrund der Abspaltung also eine Unterbilanz entsteht. Und zweitens darf die abspaltende Gesellschaft, damit dies nicht ge-

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4 Vgl. nur Bayer in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 57 AktG Rz. 71, 74 mit umf. Nachw. 5 Vgl. Bayer (Fn. 4), § 57 AktG Rz. 134; Fleischer in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 57 AktG Rz. 45 ff.; Cahn/Senger in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 57 AktG Rz. 116 ff.; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 57 AktG Rz. 6; Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2000, § 57 AktG Rz. 182 ff.; H. P.Westermann in Bürgers/Körber, Heidelberger Kommentar zum AktG, 2007, § 57AktG Rz. 27 f. 6 § 139 Satz 1 UmwG für die GmbH, gleichlautend § 145 Satz 1 UmwG für die AG und die KGaA. 7 § 140 UmwG für die GmbH, gleichlautend § 146 Abs. 1 UmwG für die AG und die KGaA. 8 Vgl. nur Priester in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 140 UmwG Rz. 4 zur GmbH, und Hommelhoff/Schwab, ebenda, § 146 UmwG Rz. 10 zur AG. 9 Zur Nichtberücksichtigung stiller Reserven vgl. nur Diekmann in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 145 UmwG Rz. 5.

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schieht, in dem erforderlichen Umfang ihr Stamm- oder Grundkapital im Wege der vereinfachten Kapitalherabsetzung entsprechend herabsetzen. c) Der vernachlässigte Rechtsformunterschied zwischen GmbH und AG Lässt man es dabei bewenden, so ist dies jedenfalls für die GmbH im Ausgangspunkt ein schlüssiges Kapitalschutzkonzept, weil bei der GmbH die Rücklagen dem Zugriff der Gesellschafter grundsätzlich offen stehen – bis zur Stammkapitalgrenze können die GmbH-Gesellschafter auf das Gesellschaftsvermögen zugreifen. Bei der AG ist dies anders, denn bei ihr kann nur ein Bilanzgewinn an die Aktionäre ausgekehrt werden; Rücklagen stehen dem Gesellschafterzugriff nur offen, wenn und soweit sie in einen ausschüttungsfähigen Bilanzgewinn umgewandelt werden können, also andere Gewinnrücklagen sind, die nicht der Kapitalbindung nach § 150 AktG unterliegen. Die Kapitalrücklage und die gesetzliche Gewinnrücklage stehen für Ausschüttungen an die Aktionäre demgegenüber nicht zur Verfügung10. Insoweit bleibt im Rahmen von § 150 Abs. 4 Nr. 3 AktG nur der Weg über eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln, an die sich eine Kapitalherabsetzung unmittelbar anschließen kann. Dass das UmwG diesen fundamentalen Unterschied der Kapitalschutzsysteme jedenfalls seinem Wortlaut nach nicht reflektiert, überrascht – offenbar sind die für die GmbH in den §§ 139 und 140 UmwG getroffenen Bestimmungen kurzerhand in den Folgeabschnitt für die AG überführt worden11. Gleichwohl versteht es sich nicht von selbst, hieraus, wie dies das Schrifttum teilweise aber zumindest implizit tut, ohne weiteres abzuleiten, die Abspaltung von Vermögen könne wie bei der GmbH auch in der AG bis zur Grenze des statutarischen Grundkapitals erfolgen, bevor eine Kapitalherabsetzung im Sinne von § 145 AktG erforderlich wird12. Die Gesetzesbegründung jedenfalls deutet in die gegenläufige Richtung. 2. Zum Diskussionsstand a) Die Gesetzesmaterialien Die Gesetzesmaterialien äußern sich zum Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Kapitalschutzregeln und dem Recht der Abspaltung zwar nur knapp, aber doch eindeutig. So heißt es in der Regierungsbegründung zum UmwG13 betreffend die GmbH als übertragender Rechtsträger kurz und bündig: „Dass die §§ 30, 31 GmbHG zu beachten sind, ergibt sich daraus, dass in allgemeines

__________ 10 Vgl. nur Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, S. 20 ff. 11 Dazu auch Rieger in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Stand 1996, § 145 UmwG Rz. 4. 12 Deutlich Rieger (Fn. 11), § 145 UmwG Rz. 10; zum Meinungsstand näher noch unten sub II. 13 BT-Drucks 12/6699 vom 1.2.1994 (gleichlautend Begründung zum Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU und FDP), vor § 138 UmwG zur Spaltung unter Beteiligung von GmbH, 124 re. Sp.

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Organisationsrecht nicht eingegriffen wird“. Und zur AG heißt es dann: „Wie im GmbH-Recht die §§ 30, 31 GmbHG, bleibt im AktG § 57 unberührt.“14 Diese Feststellungen trifft die Gesetzesbegründung ohne weitergehende Erläuterungen. Sie können aber wohl nur so verstanden werden, dass sich danach der Spaltungsvorgang selbst an den Kapitalschutzschranken der §§ 30, 31 GmbHG und § 57 AktG messen lassen muss. Das ist für die Aufspaltung kein Problem, weil bei ihr der übertragende Rechtsträger liquidationslos erlischt. Bei der Ausgliederung erledigt sich die Frage in der Praxis zumindest im Regelfall schon deshalb, weil an die Stelle des auszugliedernden Vermögens die Beteiligung an dem aufnehmenden Rechtsträger tritt15. Demgegenüber stellt sich bei der Abspaltung die Frage nach der Reichweite der Kapitalschutzregeln in aller Schärfe, weil bei ihr definitionsgemäß die übertragende Gesellschaft ein Teilvermögen abgibt, während die Gegenleistung den Gesellschaftern zusteht. Aus der Gesetzgebungsgeschichte lässt sich für die Klärung der Fragestellung nichts Erhellendes herleiten. Der Diskussionsentwurf16, der die Abspaltung noch gesondert in einem dritten Buch in den §§ 167 ff. regelte, enthält in seiner Begründung keine Aussage zur Reichweite der Kapitalbindungsregeln bei der Spaltung. Der Diskussionsentwurf sah im Übrigen aber schon das Grundprinzip vor, dass bei der Abspaltung eine Erklärung von Geschäftsführung bzw. Vorstand abgegeben werden sollte, wonach auch unter Berücksichtigung der Abspaltung die Voraussetzungen für die Gründung der Gesellschaft noch gegeben sind (§ 178 DiskE zur GmbH, § 182 DiskE zur AG). Der Referentenentwurf, der die dann Gesetz gewordene systematische Gliederung des UmwG bereits vorzeichnete, enthielt sodann in seiner Begründung bereits gleichlautend die Aussagen zur Anwendbarkeit der §§ 30, 31 GmbHG und § 57 AktG, wie sie vorstehend zitiert sind17. b) Das Schrifttum Auch das Schrifttum gibt für die Bedeutung von § 57 AktG bei der Abspaltung nicht sehr viel her, ein breiterer Meinungsstand fehlt. Ich selbst habe, freilich

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14 BT-Drucks. 12/6699, vor § 141 UmwG, 126 1.Sp. 15 Allerdings verkürzt das Schrifttum die Problembehandlung verbreitet mit der These, es finde ein bloßer Aktiventausch statt; exemplarisch Hommelhoff/Schwab (Fn. 8), § 145 UmwG Rz. 2; Diekmann (Fn. 9), § 145 UmwG Rz. 14; siehe auch schon W. Müller, WPg 1996, 857, 866 und Naraschweski, GmbHR 1995, 697, 703. Unproblematisch ist dies nämlich nur dann, wenn der Wert des an die Stelle des auszugliedernden Vermögens tretenden Anteils an dem aufnehmenden Rechtsträger dem Wert des Vermögens, das ausgegliedert wird, mindestens entspricht. Daran kann es je nach der Vermögensausstattung des aufnehmenden Rechtsträgers und den Beteiligungsverhältnissen an diesem fehlen. Zutr. Sagasser/Sickinger in Sagasser/Bula/Brünger, Umwandlungen, 3. Aufl. 2002, Abschn. N Rz. 81; Rieger (Fn. 11), § 145 UmwG Rz. 7; nur im Ergebnis, aber mit unzutreffender Begründung, auch Teichmann in Lutter (Fn. 8), § 123 UmwG Rz. 11. 16 Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechts (DiskE) vom 3.8.1988, Beilage Nr. 214a zum BAnz vom 15.11.1988. 17 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts vom 15.4.1992, Beilage Nr. 112 zum BAnz vom 20.6.1992.

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ohne nähere Problembehandlung, die Regierungsbegründung beim Wort genommen und ohne Einschränkung einen Vorrang des umfassenden Kapitalschutzes angenommen18. Demgegenüber haben Priester und Rieger das Spaltungsrecht explizit als ein den Kapitalschutz verdrängendes Sonderrecht erkannt19. Im übrigen fehlen ausdrückliche Auseinandersetzungen mit § 57 AktG. Weithin scheint das Schrifttum, namentlich die Kommentarliteratur zum UmwG, aber davon auszugehen, dass das Spaltungsrecht § 57 AktG verdrängt. Dabei wird teilweise die Auffassung vertreten, dass sich der Kapitalschutz in der AG bei der Abspaltung auf den Schutz des Grundkapitals beschränkt20, teilweise wird die Grenze unter Einbeziehung der Kapitalrücklage und der gesetzlichen Rücklage gezogen21. 3. Kritische Stellungnahme a) Ausgangspunkt Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass jedenfalls die Annahme eines uneingeschränkten Vorrangs der Kapitalschutzregeln nicht überzeugt, sofern man dies dahin verstehen wollte, dass die Abspaltung wegen der – in der Gesetzesbegründung22 allerdings angenommenen – umfassenden Geltung von § 57 AktG in keiner Weise zur einer Vermögensverminderung führen dürfe, die spiegelbildlich mit einer entsprechenden Vermögensmehrung bei den Aktionären der abspaltenden AG einhergeht. Dafür kann freilich nicht schon angeführt werden, dass es andernfalls überhaupt keine Spaltung unter Beteiligung einer AG als übertragender Rechtsträger geben könnte. Sofern der aufnehmende Rechtsträger nämlich eine Personengesellschaft ist, bedarf es nicht notwendig der Abspaltung eines per saldo positiven Vermögenswertes. Dasselbe gilt für die Kapitalgesellschaft als aufnehmenden Rechtsträger, solange dieser eigene Anteile hat und diese den Aktionären der übertragenden Gesellschaft gewähren kann, es also nicht zu einer

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18 Vgl. Ihrig, ZHR 160 (1996), 317, 323; wohl auch noch Priester, DB 1991, 2373, 2377 (zum SpTrUG). 19 Vgl. Priester in FS Schippel, 1996, S. 487, 489, zu Recht aber mit dem Vorbehalt, dass über Voraussetzungen und Grenzen der Zulässigkeit damit freilich noch nicht entschieden sei; Rieger (Fn. 11), § 145 UmwG Rz. 5; außerdem Petersen, Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001, S. 306, sowie jüngst Tillmann/Rieckhoff, AG 2008, 486, 491. 20 Das ist schon in der Diskussion zum Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen (SpTrUG), angeklungen, vgl. Ganske, DB 1991, 791, 795 vor lit. b); zum UmwG 1995 vgl. Teichmann in Lutter (Fn. 8), § 123 UmwG Rz. 12; Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, UmwStG, 4. Aufl. 2006, § 145 UmwG Rz. 4; Sagasser/Bula/Brünger, UmwG, 3. Aufl. 2002, Abschn. Rz. 81; Goutier/Knopf/Tulloch Komm. z. UmwR, 1996, § 145 UmwG; in diesem Sinne dürfte auch die Stellungnahme des Hauptfachausschusses des Instituts der Wirtschaftsprüfer, HFA 1/1998: „Zweifelsfragen bei Spaltungen“ zu verstehen sein, vgl. Stellungnahme HFA 1/1998, Ziff. 2, WPg 1998, 508, 510. 21 Vgl. Diekmann (Fn. 9), § 145 UmwG Rz. 5; Hommelhoff/Schwab (Fn. 8), § 145 UmwG Rz. 19; Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 145 UmwG Rz. 1. 22 Siehe oben Fn. 14.

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Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften

Kapitalerhöhung mit der Notwendigkeit der Einlagendeckung kommt. Im Übrigen sind auch von einer Kapitalgesellschaft als aufnehmenden Rechtsträger dann keine (neuen) Anteile zu gewähren, wenn alle Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers darauf verzichten, § 54 Abs. 1 Satz 3 UmwG, § 68 Abs. 1 Satz 3 UmwG23. Und selbst in den Fällen, in denen auf den neuen oder aufnehmenden Rechtsträger zwingend ein per saldo positives Vermögen zum Zwecke der Kapitaldeckung übertragen werden muss, wäre es, wenn man die Spaltung lediglich als andere Rechtstechnik für die Übertragung von Vermögen vom übertragenden auf den aufnehmenden Rechtsträgers begreift24, nicht per se ausgeschlossen, die Anteilseigner als verpflichtet anzusehen, im Gegenzug für die von der AG an sie bewirkte Zuwendung von Anteilen am aufnehmenden Rechtsträger eine angemessene, den Vermögensabgang bei der AG ausgleichende Gegenleistung in das AG-Vermögen zu leisten25, oder aber die übertragende AG auf die Möglichkeit einer Kapitalherabsetzung zu verweisen. b) Spezifische Zwecksetzung der Spaltung Indessen würde es die Intention des Gesetzgebers konterkarieren, wenn man die Spaltung in diesem Sinne lediglich als andere Form des Vermögenstransfers ansehen wollte, bei dem die partielle Gesamtrechtsnachfolge an die Stelle der Einzelrechtsübertragung tritt, bei der die Frage nach dem den Vermögenstransfer legitimierenden Rechtsgrund aber unverändert den allgemeinen Regeln überlassen bliebe. Denn mit der Spaltung sollte nicht etwa lediglich der Einzelrechtsübertragung die partielle Gesamtrechtsnachfolge als vereinfachte Modalität für eine Vermögensübertragung an die Seite gestellt werden, sondern es sollte die Spaltung von Unternehmen ermöglicht werden als Gegenstück zur Verschmelzung und mit dem erklärten Ziel, die Auseinandersetzung und Trennung von Familienstämmen zu ermöglichen26. Das aber impliziert die Vermögenszuwendung an die Gesellschafter unter Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen. Es ist deshalb zutreffend, das Spaltungsrecht insoweit als lex specialis zu § 57 AktG anzuerkennen; die Gesetzesbegründung darf also nicht beim Wort genommen werden. c) Wertung des § 145 UmwG Das findet in § 145 UmwG deutliche Bestätigung. Denn dort behandelt das Gesetz den Fall, dass die Spaltung eine Kapitalherabsetzung bei der übertragenden Aktiengesellschaft oder KGaA erforderlich macht. Wie immer man

__________ 23 Jeweils in der Neufassung nach dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes vom 19.4.2007 (BGBl. I 542). 24 Dazu pointiert Zöllner in FS Claussen, 1997, S. 423, 443. 25 Zur Möglichkeit der Gesellschafter, einen sonst entstehenden Spaltungsverlust durch entsprechende Einschüsse in das Gesellschaftsvermögen zu vermeiden, siehe schon D. Mayer, DB 1995, 861, 865; Priester in FS Schippel, 1996, S. 487, 489. 26 Vgl. Begr.RegE, BT-Drucks. 12/6699, zu § 126, S. 118 re. Sp.

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aber das Merkmal der Erforderlichkeit definiert (dazu noch sogleich), muss es sich um Fallkonstellationen handeln, bei denen die übertragende Gesellschaft eine Vermögenseinbuße erleidet, also ein per saldo positives Teilvermögen an den aufnehmenden Rechtsträger abgibt. Wenn dafür sogar auf das gebundene Vermögen zugegriffen werden darf, wenn auch um den Preis einer Herabsetzung der Grundkapitalziffer, so kann dies nur bedeuten, dass das Gesetz den Vermögensabgang trotz des spezifischen Zuwendungscharakters zugunsten der Aktionäre, der der Abspaltung wesensimmanent ist, gutheißt und also § 57 AktG zurückstehen lässt. d) Anderweitige Befriedigung der Gläubigerbelange Das danach gefundene Zwischenergebnis, dass die Abspaltung nicht mit § 57 AktG kollidiert, sondern zu einer Vermögenszuwendung an die Aktionäre führen darf, die über eine Dividendenausschüttung aus dem Bilanzgewinn hinausgeht, ist auch wertungsgerecht. Die Belange der Gläubiger der übertragenden Aktiengesellschaft sind nämlich anders als bei der Gewinnausschüttung in zweierlei Hinsicht weitergehend geschützt. Zum einen können die Gläubiger unter den Voraussetzungen der §§ 133 Abs. 1 Satz 2, 125 i. V. m. § 22 UmwG Sicherheit verlangen, sofern sie glaubhaft machen können, dass die Spaltung die Erfüllung ihrer Forderung gefährdet. Zum anderen führt die in § 133 Abs. 1 S. 1 UmwG begründete gesamtschuldnerische Haftung der an der Spaltung beteiligten Rechtsträger dazu, dass das abgespaltene Teilvermögen des übertragenden Rechtsträgers für den in § 133 Abs. 3 UmwG bestimmten Fünfjahreszeitraum auch weiterhin zu Zwecken der Gläubigerbefriedigung verhaftet bleibt. e) Zwischenergebnis und Weiterverweisung Steht danach fest, dass die Abspaltung einen Ausnahmetatbestand von der umfassenden Vermögensbindung nach § 57 AktG darstellt, ist noch nicht entschieden, unter welchen Voraussetzungen und zu Lasten welcher Eigenkapitalposten Vermögen der AG an den aufnehmenden Rechtsträger abgespalten werden darf27. Insoweit würde es zu weit gehen, aus § 146 Abs. 1 AktG, wonach der Vorstand der übertragenden AG bei der Anmeldung der Abspaltung zur Eintragung ins Handelsregister zu erklären hat, „dass die durch Gesetz und Satzung vorgesehenen Voraussetzungen für die Gründung dieser Gesellschaft unter Berücksichtigung der Abspaltung (oder der Ausgliederung) im Zeitpunkt der Anmeldung vorliegen“, kurzerhand die Schlussfolgerung zu ziehen, bis zur Grundkapitalgrenze könne das Gesellschaftsvermögen im Wege der Abspaltung beliebig an die Aktionäre transferiert werden28. Zwar wird die Norm im Ausgangspunkt mit Recht einhellig dahin verstanden, dass der Vorstand der übertragenden AG bei der Anmeldung insbesondere zu erklären habe, dass das „satzungsmäßige Grundkapital durch das bei der AG nach der Abspaltung

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27 Siehe auch den Vorbehalt bei Priester in FS Schippel, 1996, S. 487, 489. 28 So aber die in Fn. 20 Genannten.

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Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften

verbleibende Nettoaktivvermögen noch gedeckt ist“, und demgemäß „keine Unterbilanz entsteht“29. Damit ist aber zunächst nur die absolute Untergrenze des Vermögensschutzes bei der übertragenden AG definiert, ohne dass entschieden wäre, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen auf welche Eigenkapitalpositionen zugegriffen werden kann, und weiter, ob es etwa zunächst einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln bedarf, bevor eine Kapitalherabsetzung nach § 146 Satz 1 UmwG in Betracht kommt. Wollte man den Kapitalschutz auf das Grundkapital reduzieren, im Übrigen aber den freien Zugriff auf die übrigen Eigenkapitalpositionen erlauben, wäre die AG im Spaltungsfall der GmbH gleichgestellt. Damit wären für einen wichtigen Fall des Eingriffs in die Vermögenssubstanz der Gesellschaft die rechtformspezifischen Unterschiede zwischen AG und GmbH nivelliert, ohne dass das Gesetz dafür einen Anhalt gibt, und damit wäre der Gesetzesbegründung widersprochen, nach der § 57 AktG zu beachten ist. Zur Feststellung des Umfangs der Kapitalbindung bei der Abspaltung aus der AG ist stattdessen von dem Befund auszugehen, dass sich die Abspaltung sowohl bei der AG als auch bei ihren Aktionären im Ergebnis wie eine Gewinnausschüttung auswirkt, dieser also, wenngleich rechtstechnisch anders ausgestaltet, doch funktionsähnlich ist. Das ist auch richtig verstanden die mit dem Hinweis der Gesetzesbegründung auf die uneingeschränkte Fortgeltung von § 57 AktG getroffene Aussage. Jedenfalls in dem Umfang, in dem das Gesellschaftsvermögen an die Aktionäre ausgekehrt werden könnte, ist auch die Abspaltung zulässig. Für die Feststellung, in welchem Umfang Vermögen der AG abgespalten werden darf, ohne dass es einer Kapitalherabsetzung bedarf, ist also, ausgehend von der der Abspaltung zugrunde liegenden Schlussbilanz, zu prüfen, in welchem Umfang und zu Lasten welcher Eigenkapitalpositionen hieraus eine Ausschüttung an die Aktionäre erfolgen könnte. Daraus ergibt sich, dass jedenfalls Vermögen bis zur Summe von Gewinnvortrag und freien ausschüttungsfähigen Gewinnrücklagen abfließen darf. Ob darüber hinaus auch ein Zugriff auf die gebundenen Rücklagen in Betracht kommt, und wenn ja unter welchen Voraussetzungen, ist sogleich unter II. näher zu prüfen.

II. Zur Reichweite des Zugriffs auf die Rücklagen 1. Fragestellung Der bei der Spaltung von den Gläubigern hinzunehmende Vermögensabgang bei dem übertragenden Rechtsträger, der treffend als Spaltungsverlust bezeichnet werden kann, muss in der Bilanz der abspaltenden Aktiengesellschaft verbucht werden. Zu Lasten welcher Eigenkapitalpositionen dies geschehen darf oder muss, wird in der Literatur streitig diskutiert. Als gesichert darf einerseits gelten, dass der Spaltungsverlust jedenfalls gegen einen vorgetragenen Gewinn

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29 Vgl. Zimmermann in Kallmeyer (Fn. 21), § 146 UmwG Rz. 3; Diekmann (Fn. 9), § 146 UmwG Rz. 1; Hommelhoff/Schwab (Fn. 8), § 146 UmwG Rz. 1, 10; Limmer in Limmer, Handbuch der Unternehmensumwandlung, 3. Aufl. 2007, Rz. 1684; Priester in FS Schippel, 1996, S. 487, 502.

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und gegen die einer Umwandlung in einen ausschüttungsfähigen Bilanzgewinn zugänglichen freien Gewinnrücklagen, die nicht nach § 150 Abs. 3 und 4 AktG gebunden sind, verbucht werden darf30; die Frage, ob die Deckung auch vorrangig hieraus erfolgen muss, steht auf einem anderen Blatt. Andererseits steht außer Streit, dass eine Rücklage für eigene Anteile nach § 272 Abs. 4 HGB nicht angetastet werden darf31. Alles andere ist streitig, wobei die Frage, auf welche Eigenkapitalpositionen zugegriffen werden darf oder muss, mit Recht zusammen mit der Frage erörtert wird, unter welchen Voraussetzungen eine Kapitalherabsetzung zur Durchführung der Spaltung i. S. v. § 145 Satz 1 UmwG „erforderlich“ ist. 2. Meinungsstand Das Meinungsbild zeigt zwei Grundpositionen. Nach der einen Auffassung darf ein Spaltungsverlust nur gegen die ungebundenen Rücklagen gebucht werden; ihre gesetzlich gebundenen Rücklagen, also die gesetzliche Rücklage nach § 150 AktG und die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 HGB, dürfe die übertragende Aktiengesellschaft dagegen nicht angreifen32. Soweit danach ein nicht gedeckter Spaltungsverlust verbleibt, müsse das Grundkapital herabgesetzt werden. Nach der anderen Auffassung darf (und muss) auch auf die gesetzliche Rücklage und die Kapitalrücklagen zugegriffen werden33, nach teilweise vertretener Auffassung allerdings nur in einem Umfang, dass noch 10 % des nach einer etwaigen Kapitalherabsetzung verminderten Grundkapitals als gesetzliche Rücklage verbleibt34. Soweit danach ein Zugriff auf die gesetzliche und die Kapitalrücklage für zulässig gehalten wird, ist dann noch streitig, ob dieser nur nachrangig, also nach Abzug der Gewinnrücklagen, erfolgen darf35, oder ob die übertragende Aktiengesellschaft frei darin ist, sogleich auch auf die gebundenen Rücklagenanteile zuzugreifen36.

__________ 30 Vgl. Diekmann (Fn. 9), § 145 UmwG Rz. 5; Hommelhoff/Schwab (Fn. 8), § 145 UmwG Rz. 19; Kallmeyer (Fn. 21), § 145 UmwG Rz. 1; Hörtnagl (Fn. 20), § 145 UmwG Rz: 3; Zeidler, WPg 2004, 324, 325. 31 Vgl. Hörtnagl (Fn. 20), § 145 UmwG Rz. 3; Stellungnahme HFA 1/1998, WPg 1998, 508, 510 unter 2. Anderes muss gelten, wenn die eigenen Anteile im Zuge der Abspaltung abgegeben werden. 32 Diekmann (Fn. 9), § 145 UmwG Rz. 5; Hommelhoff/Schwab (Fn. 8), § 145 UmwG Rz. 19; Kallmeyer (Fn. 21), § 145 UmwG Rz. 1. 33 Hörtnagl (Fn. 20), § 145 UmwG Rz: 3; Stellungnahme HFA 1/1998, WPg 1998, 508, 510; W. Müller, WPg 1996, 857, 865 f. 34 Hörtnagl (Fn. 20), § 145 UmwG Rz. 3; Sagasser/Sickinger (Fn. 20), Abschn. N Rz. 85; Zeidler, WPg 2004, 324, 325 ff. 35 So im Anschluss an W. Müller, WPg 1996, 857, 865 die wohl vorherrschende Auffassung, vgl. Stellungnahme HFA 1/1998, WPg 1998, 508, 509; Hörtnagl (Fn. 20), § 145 UmwG Rz: 3; Ott in Bonner Handbuch Rechnungslegung, Abschn. 5 „Bilanzierung bei Umwandlungen“, Rz. 192; Winnefeld in Bilanzhandbuch, 4. Aufl. 2006, Abschn. N Rz. 340d, sowie Budde/Klingberg in Sonderbilanzen, 3. Aufl. 2002, Abschn. G, Rz. 331. 36 Dafür Förschle/Hoffmann in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 6. Aufl. 2006, § 272 Rz. 161; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1995 ff., § 272 HGB Rz. 51 f.; Zeidler, WPg 2004, 324, 327.

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Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften

Weder die Auffassung, die die gesetzlich gebundene Rücklage gegen eine Verrechnung mit einem Spaltungsverlust sperrt, noch die Gegenauffassung, die einen Zugriff erlaubt und vor einer Kapitalherabsetzung für geboten erachtet, setzt sich indessen mit § 150 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 AktG auseinander, wonach die gesetzliche Rücklage und die Kapitalrücklage, soweit sie zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals übersteigen, abgesehen von dem Verlustausgleich nach § 150 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 AktG nur für eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln verwandt werden darf. Deshalb ist die Fragestellung dahin zu erweitern, ob es vor einer Herabsetzung des Grundkapitals nicht vorrangig einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln bedarf. 3. Stellungnahme a) Keine Schonung der freien Rücklagen Bei der Würdigung der Diskussion empfiehlt es sich, zunächst die Frage zu erörtern, ob ein Wahlrecht zur Schonung freien Rücklagen besteht, oder ob ein Spaltungsverlust vorrangig aus den freien, ausschüttungsfähigen Rücklagen gedeckt werden muss. Dazu lässt sich § 229 Abs. 2 AktG eine klare Wertungsvorgabe entnehmen, der die vereinfachte Kapitalherabsetzung davon abhängig macht, dass zunächst die Gewinnrücklagen vorweg aufzulösen sind und ein Gewinnvortrag nicht vorhanden sein darf. Zwar ist in § 145 Satz 1 UmwG auf die vereinfachte Kapitalherabsetzung nicht im Sinne einer Rechtsgrundverweisung dergestalt verwiesen, dass eine vereinfachte Kapitalherabsetzung zum Zwecke der Durchführung einer Abspaltung die Erfüllung von § 229 Abs. 2 AktG voraussetzt – das scheitert schon an der in § 145 Satz 2 UmwG angeordneten Eintragungsreihenfolge. Wohl aber ergibt sich aus der Norm, dass die rechnerischen Voraussetzungen von § 229 Abs. 2 AktG prospektiv nach Wirksamwerdens der Abspaltung erfüllt sein müssen. Die vereinfachte Kapitalherabsetzung darf also auch im Fall des § 145 UmwG nicht dazu benutzt werden, freie Rücklagen zu Lasten des gebundenen Kapitals zu schonen37. Ein Spaltungsverlust ist deshalb vorrangig zu Lasten eines Gewinnvortrags und der freien Rücklagen auszugleichen. b) Zum Zugriff auf die gebundenen Rücklagen Fraglich ist dann weiter, ob vor einer Herabsetzung des Grundkapitals auf die gebundenen Rücklagen jedenfalls insoweit zuzugreifen ist, als diese zusammen zehn Prozent des Grundkapitals übersteigen, oder ob es stattdessen einer Herabsetzung des Grundkapitals bedarf. Der Auffassung, die den Zugriff ausschließt und stattdessen auf die Herabsetzung des Grundkapitals im vereinfachten Verfahren verweist, ist zuzugeben, dass dem Gesetz ein passender Erlaubnistatbestand, der den Rücklagenzugriff legitimiert, nicht entnommen werden kann. Insbesondere überzeugen die Versuche der Gegenauffassung, aus

__________ 37 Richtig und treffend Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 58a GmbHG Rz. 8; im Ergebnis außerdem die oben in Fn. 35 Genannten.

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§ 150 Abs. 3 Nr. 1 und Abs. 4 Nr. 1 AktG einen Analogieschluss zu ziehen38, deshalb nicht, weil sie die spezifische Ausschüttungswirkung zugunsten der Aktionäre, die mit dem Entstehen des Spaltungsverlustes einher geht, nicht berücksichtigen. Zu weitgehend ist es aber, dabei stehen zu bleiben und unter Schonung der gebundenen Rücklagen den unmittelbaren Zugriff auf das Grundkapital im Wege der vereinfachten Kapitalherabsetzung zu eröffnen. Mit der abgestuften Bindungswirkung der verschiedenen Eigenkapitalpositionen39 in der Aktiengesellschaft ist dies nicht in Einklang zu bringen. Systemgerecht erscheint demgegenüber allein die Schlussfolgerung, dass vor einer Herabsetzung des bestehenden Grundkapitals zunächst die gebundene Rücklage in dem von § 150 Abs. 4 Nr. 3 AktG vorgegebenen Umfang im Wege einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln in Grundkapital umgewandelt werden muss, bevor alsdann, ausgehend von der dann entsprechend erhöhten Grundkapitalziffer, eine vereinfachte Kapitalherabsetzung nach § 145 Satz 1 UmwG erfolgen kann. Die Notwendigkeit einer vorangehenden Umwandlung der gebundenen Rücklage in Grundkapital durch eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln ist keine bloße Förmelei. Sie entspricht vielmehr den Verfahrensschritten, die auch sonst einzuhalten sind, wenn den Aktionären an einem Zugriff auf die gebundenen Rücklagen gelegen ist. Abgesehen von der Publizitätswirkung, die damit zum Schutz des Rechtsverkehrs verbunden ist, setzt die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln die Versicherung der Anmeldenden nach § 210 Abs. 1 Satz 2 AktG voraus, dass sich nach ihrer Kenntnis seit dem Stichtag der zugrunde gelegten Bilanz bis zum Tag der Anmeldung keine Vermögensminderung ergeben haben, die der Kapitalerhöhung entgegenstünden, wenn sie am Tag der Anmeldung beschlossen worden wäre. Zudem und vor allem knüpft aber die Verpflichtung zur Bildung der gesetzlichen Rücklage nach § 150 Abs. 1 AktG an einer entsprechend erhöhten Grundkapitalziffer an. Demgegenüber sind die Verfahrenserschwernisse im Sinne der Systemstimmigkeit und des gebotenen Gläubigerschutzes hinzunehmen. Sie sind im Übrigen beherrschbar, namentlich kann über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln, die nachfolgende Kapitalherabsetzung im vereinfachten Verfahren und die Abspaltung in derselben Hauptversammlung beschlossen werden. 4. Ergebnis Danach ergibt sich ein dem Grad der Eigenkapitalbindung in der Aktiengesellschaft entsprechendes Stufenverhältnis: Der Spaltungsverlust ist vorrangig gegen die freien, ausschüttbaren Rücklagen zu buchen, bevor auf die gebundenen Rücklagen zugegriffen werden kann. Dieser Zugriff setzt indessen die vorgängige Umwandlung in Grundkapital im Wege der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln voraus, der alsdann eine Kapitalherabsetzung im vereinfach-

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38 Eingehend namentlich Zeidler, WPg 2004, 324, 325 ff. 39 Eingängig dazu Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, S. 24 f.

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ten Verfahren nachfolgen kann. Nur nachrangig und in letzter Linie kommt sodann eine noch weitergehende Eigenkapitalminderung auch zu Lasten der ursprünglichen Grundkapitalziffer in Betracht.

III. Zugriff auf die stillen Reserven? 1. Fragestellung Ist danach der geklärt, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen im Wege der Abspaltung ein Vermögenstransfer an die Aktionäre in Betracht kommt, ist noch kurz auf die soweit ersichtlich kaum diskutierte Frage einzugehen, ob dabei die Buchwerte maßgeblich sind, oder ob es auf den Verkehrswert des abzuspaltenden Vermögens ankommt. Praktische Relevanz hat dies naturgemäß dann, wenn der Verkehrswert des abzuspaltenden Vermögens über dem Buchwert liegt, also ein Zugriff auf die stillen Reserven in Rede steht. Dabei stellen sich, anders als je nach Sachlage bei der Sachdividende, keine Gleichbehandlungsprobleme, weil die Vermögenszuwendung an die Aktionäre in Gestalt der Anteile an dem aufnehmenden Rechtsträger erfolgt, abgesehen von der gebotenen Angemessenheit der jeweiligen quotalen Beteiligung also jeder Aktionär mit demselben Sachgegenstand ausgestattet wird. Die Frage nach dem Schutz der stillen Reserven des übertragenden Rechtsträgers erledigt sich nicht schon deshalb, weil § 24 UmwG, der gemäß § 125 Satz 1 UmwG auch für die Spaltung gilt, von der Buchwertverknüpfung ausgeht. Damit ist nicht mehr gesagt, als dass der aufnehmende Rechtsträger als Anschaffungskosten die in der der Spaltung zugrunde liegenden Schlussbilanz des übertragenden Rechtsträgers angesetzten Buchwerte fortführen kann. Damit ist also nur eine Bilanzierungsregel für den übernehmenden Rechtsträger statuiert; die Frage der Reichweite des Kapitalschutzes bei dem übertragenden Rechtsträgers ist davon unberührt. Ebenso wenig lässt sich etwas daraus herleiten, dass es für die erforderliche Kapitaldeckung bei dem übertragenden Rechtsträger auf die Buchwerte des zurückbleibenden Vermögens ankommt und stille Reserven dabei keine Berücksichtigung finden können40. Mehr Ertrag verspricht demgegenüber die Diskussion zum maßgeblichen Wertansatz im Rahmen der Sachdividende nach § 58 Abs. 5 AktG. 2. Meinungsstand zur Sachdividende Die Frage, ob es bei der Sachdividende auf den gegebenenfalls höheren Verkehrswert der an die Aktionäre auszukehrenden Sachwerte ankommt, oder ob auf die Buchwerte abgestellt werden darf, wird in der Literatur streitig diskutiert; präjudizierende Rechtsprechung fehlt. Der Gesetzgeber hat die Frage offengelassen und statt dessen auf die Fortentwicklung der wissenschaftlichen Abklärung verwiesen41. Die deutlich im Vordringen begriffene, inzwischen

__________ 40 Dazu oben bei Fn. 9. 41 RegBegr. BT-Drucks. 14/8769, S. 13 li. Sp.

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wohl vorherrschende Auffassung hält den Ansatz des Verkehrswertes für zwingend und den Transfer stiller Reserven an die Aktionäre folglich für unzulässig42. Diese Auffassung verweist insbesondere auf die zwingende Vermögensbindung in der AG und die Unzulässigkeit, an die Aktionäre mehr als den Bilanzgewinn als Dividende zu verteilen. Demgegenüber hält es die Gegenauffassung für zulässig, die Buchwerte in Ansatz zu bringen mit der Folge, dass etwa mit den auszuschüttenden Sachwerten verbundene stille Reserven den Aktionären zu Gute kommen43. Soweit sich diese Auffassung auf die angeblich anerkannte Zulässigkeit der Buchwertabspaltung beruft44, beruht dies allerdings auf der noch zu belegenden Annahme, dass die Spaltung den Transfer stiller Reserven erlaubt. Gewichtiger ist demgegenüber das Argument, dass die Gläubiger nur auf die Erhaltung des in der Bilanz ausgewiesenen Vermögens, also die Buchwerterhaltung, vertrauen und vertrauen können. 3. Stellungnahme Im Ergebnis sprechen bei der Sachdividende die besseren Gründe dafür, dass aufgrund der strikten Vermögensbindung nach § 57 AktG und der Beschränkung der Aktionäre auf den Bilanzgewinn die Verkehrswerte der auszuschüttenden Sachgegenstände zugrunde zu legen sind. Im Vergleich zur Dividendenausschüttung bestehen bei der Abspaltung aber zu Gunsten der Gläubiger weitergehende Sicherungsinstrumente. Namentlich haben die Gläubiger bei der Spaltung das Recht auf Sicherheitsleistung nach § 22 i. V. m. § 125 Satz 1 UmwG und es besteht die gesamtschuldnerische Mithaftung aller beteiligten Rechtsträger nach § 133 AktG. Im Übrigen fehlt es an einer Bezugsgröße, wie sie bei der Gewinnausschüttung der Bilanzgewinn darstellt. Und schließlich wird § 57 AktG – wie gezeigt – vom Spaltungsrecht überlagert. Die besseren Gründe sprechen deshalb dafür, dass es bei der Abspaltung nur auf die Buchwerte ankommt, stille Reserven also ohne Rückwirkung auf die bilanziellen

__________ 42 Vgl. für den Ansatz des Verkehrswertes: Cahn/Senger (Fn. 5), § 58 AktG Rz. 109 f.; Fleischer (Fn. 5), § 58 AktG Rz. 60; Förschle/Büssow in Beck’scher Bilanzkommentar (Fn. 36), § 278 HGB Rz. 137; Heine/Lechner, AG 2005, 269, 270; Hüffer (Fn. 5), § 58 AktG Rz. 33; Ihrig/Wagner, BB 2002 2002, 789, 796; W. Müller, NZG 2002, 752, 758; Schnorbus, ZIP 2003, 509, 514 ff.; Orth, WPg 2004, 777, 783 f.; Schulze-Osterloh in FS Priester, 2007, S. 749, 753; ebenso zumindest im Falle eines Börsengangs einer Tochtergesellschaft und ein Erwerb von deren Aktien durch die Aktionäre der Muttergesellschaft Kowalewski, Das Vorerwerbsrecht der Mutteraktionäre beim Börsengang einer Tochtergesellschaft, 2008, S. 411 f. Für einen Ansatz des Verkehrswertes oder aber des steuerlichen Teilwerts (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG) plädiert Waclawik, WM 2003, 2266, 2269 ff. 43 Für einen Ansatz des Buchwertes bzw. ein Wahlrecht der Gesellschaft zwischen Buchwert und Verkehrswert: Leinekugel, Die Sachdividende im deutschen und europäischen Aktienrecht, 2001, S. 150 ff., 155 ff.; ebenso Bayer (Fn. 4), § 58 AktG Rz. 109 f.; Holzborn/Bunnemann, AG 2003, 671, 674; Lutter/M. Leinekugel/Rödder, ZGR 2002, 205, 215 ff.; Menner/Broer, DB 2003, 1075, 1078; Schüppen, ZIP 2002, 1269, 1277; Stern in FS Doralt, 2004, S. 625, 634 ff.; siehe auch Kropff in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 170 AktG Rz. 55 ff. 44 Vgl. Waclawik, WM 2003, 2266, 2270.

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Kapitalschutz bei der Spaltung von Aktiengesellschaften

Verhältnisse bei der übertragenden Gesellschaft auf den aufnehmenden Rechtsträger übertragen werden können.

IV. Zusammenfassung Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die Abspaltung hat zugunsten der Aktionäre der übertragenden Aktiengesellschaft ausschüttungsähnlichen Charakter. Gleichwohl steht § 57 AktG nicht entgegen; das Spaltungsrecht regelt einen Ausnahmetatbestand zur strikten Kapitalbindung nach § 57 AktG. 2. Ein mit der Spaltung eintretender Spaltungsverlust ist vorrangig zu Lasten eines Gewinnvortrags und der freien, ausschüttbaren Gewinnrücklagen zu buchen. Sofern diese Bilanzpositionen verbraucht sind, kann (und muss) im Rahmen von § 150 Abs. 4 Nr. 3 AktG auf die gebundene Rücklage zugegriffen werden. Dies setzt eine vorangehende Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln voraus, an die sich eine alsdann erforderliche Kapitalherabsetzung im vereinfachten Verfahren anschließen kann. Nur in letzter Linie kommt schließlich eine weitergehende Herabsetzung des Grundkapitals zu Lasten der ursprünglichen Kapitalziffer in Betracht, wofür § 145 Satz 1 UmwG wiederum die vereinfachte Kapitalherabsetzung zur Verfügung stellt. 3. Maßgeblich sind die Buchwerte. Die Abspaltung erlaubt also den Transfer stiller Reserven.

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Privatautonome Unternehmensmitbestimmung in der SE Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gestaltungsfreiheit und deren Grenzen bei der privatautonomen Unternehmensmitbestimmung 1. Mitbestimmungsautonomie 2. Schranken der Gestaltungsfreiheit a) Binnenschranken aa) Mitbestimmung der Arbeitnehmer bb) SE-Gründung durch Umwandlung b) Außenschranken aa) Verfassungsrechtliche Grenzen bb) Einfachgesetzliche Grenzen III. Auswirkungen auf mögliche Inhalte von Mitbestimmungsvereinbarungen 1. Größe des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans 2. Festlegung der Arbeitnehmervertreter des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans

a) Aufteilung der Sitze und Stimmrechtsverteilung b) Wahlverfahren und Bestellung 3. Rechte der Mitglieder des Aufsichtsoder Verwaltungsorgans 4. Weitere Inhalte a) Gesetzliche Auffanglösung und andere Mitbestimmungsmodelle b) Reduzierung von Mitbestimmung c) Verfassung der SE d) Innere Ordnung des Aufsichtsoder Verwaltungsorgans aa) Aufsichtsorgan bb) Verwaltungsorgan e) Arbeitnehmervertretungsorgan außerhalb des Verwaltungsorgans f) „Arbeitsdirektor“ g) Strukturelle Änderungen IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Privatautonome Vereinbarungen über die Ausgestaltung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat sind auf dem Vormarsch. Die nationalen Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung in Deutschland enthalten zwar bislang keine Regelungen zu solchen Mitbestimmungsvereinbarungen, diese sind aber jedenfalls in Teilbereichen gelebte Praxis1. Viel wichtiger ist indessen eine Entwicklung, die vor einigen Jahren durch europäische Vorgaben angestoßen worden ist. Seitdem die langjährige Diskussion über die Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft (societas europaea, SE) in die SE-VO2 und später die SCE-VO3

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1 Dazu statt aller als Überblick Ulmer/Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 1 MitbestG Rz. 16 ff. m. w. N. 2 VO (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft, ABl. EG Nr. L 294/1. 3 VO (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22.7.2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft, ABl. EG Nr. L 207/1.

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und die Verschmelzungs-RL4 gemündet ist, gibt es europaweit ein Modell der Mitbestimmung im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan, das vorrangig dessen privatautonome Ausgestaltung vorsieht, allerdings durch eine gesetzliche Auffangregelung abgesichert ist: Die entsprechenden Richtlinien5 – für die SE die SE-RL6 – sind in Deutschland durch das SEBG7, das SCEBG8 und das MgVG9 umgesetzt worden. Diskutiert wird zu Zeit außerdem der Vorschlag über eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft (SPE), die grundsätzlich derjenigen Mitbestimmung unterliegen soll, die – falls vorhanden – in dem Mitgliedstaat gilt, in dem die SPE ihren eingetragenen Sitz hat (Art. 34 Abs. 1 VO-Entwurf10). Das SEBG erwähnt die Mitbestimmungsvereinbarung an verschiedenen Stellen. Bestimmungen über deren Inhalt sind allerdings lediglich in § 21 SEBG zu finden11, in dem die Vorgaben des Art. 4 SE-RL in nationales Recht umgesetzt werden und der an §§ 17 ff. EBRG12, die Vereinbarungen über die grenzübergreifende Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen und Unternehmensgruppen vorsehen, angelehnt ist13. Für den Fall, dass eine Mitbestimmungsvereinbarung geschlossen wird, ist deren Inhalt festzulegen (§ 21 Abs. 3 Satz 1 SEBG). Außerdem sollen gemäß § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Var. 1 SEBG die Zahl der Mitglieder des Aufsichtsoder Verwaltungsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen oder bestellen können (Repräsentationsmodell)14, das Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mitglieder wählen oder bestellen können (Nr. 2), sowie die Rechte

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4 RL 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. EU Nr. L 301/1. 5 Neben der schon erwähnten RL 2005/56/EG (Fn. 4) noch RL 2003/72/EG des Rates vom 22.7.2003 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. EU Nr. L 207/25. 6 RL 2001/86/EG des Rates vom 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. EG Nr. L 294/22. 7 Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft vom 22.12.2004, BGBl. I S. 3675, 3686. 8 Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in einer Europäischen Genossenschaft vom 14.8.2006, BGBl. I S. 1911, 1917. 9 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung vom 21.12.2006, BGBl. I S. 3332. 10 Stand: 27.7.2008. 11 § 21 SCEBG und § 22 MgVG sind § 21 SEBG nachgebildet. 12 Gesetz über Europäische Betriebsräte vom 28.10.1996, BGBl. I S. 1548, 2022; zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.2000, BGBl. I S. 1983. 13 Eine Vereinbarung nach § 21 SEBG kann nicht nur über die Unternehmensmitbestimmung, sondern ebenfalls über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer geschlossen werden (vgl. §§ 2 Abs. 10 und 11, 21 SEBG, zur gesetzlichen Auffangregelung §§ 22 ff. SEBG); wird ein SE-Betriebsrat errichtet, ist das EBRG auf die SE grundsätzlich nicht anwendbar, § 47 Abs. 1 Nr. 2 SEBG. 14 § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Var. 2 und Nr. 2 Var. 2 SEBG („oder deren Bestellung sie empfehlen oder ablehnen können“) meinen das Kooptationsmodell nach § 2 Abs. 12 Nr. 2 SEBG, das in Europa derzeit keine Rolle spielt und deshalb im Folgenden außen vor bleibt, dazu Jacobs in Kropff/Semler/Goette/Habersack (Hrsg.), MünchKomm. AktG, Band 9/2, 2. Aufl. 2006, § 2 SEBG Rz. 21.

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dieser Mitglieder (Nr. 3) vereinbart werden. § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG spricht im Gegensatz zu § 22 Abs. 1 MgVG, in dem abweichend von „wird“ die Rede ist, von „sollen“; die Vorschrift enthält deshalb keine zwingenden inhaltlichen Mindestvorgaben15. § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG – die Vorschrift ist nicht dispositiv – ordnet für den Fall der SE-Gründung durch Umwandlung die Aufrechterhaltung des bisherigen Mitbestimmungsstandards in der umzuwandelnden Gesellschaft an. § 21 Abs. 4 SEBG, der keine Entsprechung in der SE-RL findet, ergänzt im Übrigen § 18 Abs. 3 SEBG und stellt klar, dass auch vor geplanten strukturellen Änderungen der SE Verhandlungen über eine Mitbestimmungsvereinbarung aufgenommen werden können16. Auf dieser Grundlage haben mittlerweile alleine in Deutschland fünf bedeutende Konzerne den Schritt zur SE vollzogen17. Nichtsdestotrotz wirft die Mitbestimmungsvereinbarung zahlreiche schwierige Rechtsfragen auf18. Gerichtliche Entscheidungen liegen bislang – sieht man von wenigen Ausnahmen, die nicht die Vereinbarung selbst betreffen, ab19 – nicht vor. Für die Vereinbarung über den Europäischen Betriebsrat, die eine Orientierung geben könnte, gilt nichts anderes20. Vor dem geschilderten Hintergrund lohnt sich ein näherer Blick auf die Mitbestimmungsvereinbarung nach § 21 SEBG. Dogmatisch spannend und praktisch wichtig ist dabei die Frage nach dem mitbestimmungsrechtlichen Inhalt solcher Vereinbarungen und damit nach der Reichweite der Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien und deren Grenzen, die nur unvollkommen kodifiziert worden sind. Die folgenden Überlegungen berühren mit dem Recht der Unternehmensmitbestimmung eine Schnittstelle zwischen dem Arbeitsrecht und dem Gesellschaftsrecht. Man darf deshalb hoffen, dass

__________ 15 Wie hier etwa Henssler in Ulmer/Habersack/Henssler (Fn. 1), Einl SEBG Rz. 87; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 18; Joost in Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeitsund Sozialrecht (EAS), Loseblatt, Stand: Oktober 2006, B 8200 Rz. 125; a. A. offenbar Köklü in van Hulle/Maul/Drinhausen (Hrsg.), Handbuch zur Europäischen Gesellschaft (SE), 2007, 6 Rz. 142 („ist“); Habersack, ZHR 171 (2007), S. 613, 627; Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 3. Aufl. 2008, F Rz. 137d (jew.: „Mindestinhalt“). 16 Eine entsprechende Regelung muss also nicht getroffen werden, Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 25; Rieble, BB 2006, 2018, 2021. 17 Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Allianz SE vom 20.9.2006; Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der BASF SE vom 15.11.2007; Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Fresenius SE vom 13.7.2007; Vereinbarung zur künftigen Beteiligung der Arbeitnehmer in der MAN Diesel SE vom 27.4.2006; Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Porsche Automobil Holding SE vom 22.6.2007; weitere Nachweise unter www.worker-participation.eu. 18 Ausführlich dazu Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635 ff. m. w. N. 19 LG Hamburg, ZIP 2005, 2017 ff.; ArbG Stuttgart, Beschluss vom 24.10.2007 – 12 BVGa 4/07, n. v.; Beschluss vom 29.4.2008 – 12 BV 109/07, n. v. 20 Dazu näher statt aller Oetker in Gemeinschaftskommentar zum BetrVG, Band II, 8. Aufl. 2005, vor § 106 BetrVG Rz. 124 ff. m. w. N.; aus der Rechtsprechung (wiederum nicht zur Vereinbarung selbst) BAG, AP Nr. 1 zu § 18 EBRG; AP Nr. 6 zu § 5 EBRG; AP Nr. 3 zu § 5 EBRG; AP Nr. 1 zu EWG-Richtlinie Nr. 94/45.

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sie auf das Interesse des Jubilars stoßen21. Sie sind zugleich Ausdruck eines tief empfundenen Danks für die gemeinsame Zeit an der Bucerius Law School, die ohne ihren Spiritus Rector nicht das wäre, was sie heute ist.

II. Gestaltungsfreiheit und deren Grenzen bei der privatautonomen Unternehmensmitbestimmung Das SEBG enthält weder in § 21 SEBG noch an anderer Stelle ausdrückliche Vorgaben zum Umfang der Gestaltungsfreiheit und deren Grenzen beim Abschluss von Mitbestimmungsvereinbarungen. 1. Mitbestimmungsautonomie Es beruht – im Einklang mit der SE-RL – auf dem Grundsatz, vorrangig im Wege von Verhandlungen eine maßgeschneiderte Unternehmensmitbestimmung für die zu gründende SE zu schaffen22. Nicht zufällig betont § 21 Abs. 1 SEBG deshalb die „Autonomie der Parteien“23. Der erwähnte § 17 EBRG ist sogar ausdrücklich mit „Gestaltungsfreiheit“ überschrieben und betont in Satz 1 ebenfalls, dass die Parteien „frei vereinbaren“ können, wie die grenzübergreifende Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ausgestaltet wird. Auch im Schrifttum zum SEBG hebt man – wenn auch meist nur beiläufig – hervor, die Inhalte der Vereinbarung könnten „weitgehend frei ausgehandelt“ werden24, es entspreche der „Autonomie der Verhandlungsparteien, den Inhalt der Beteiligungsvereinbarung auszugestalten“25, oder die Vereinbarung unterliege dem „Grundsatz der Verhandlungsfreiheit“26. Zur „Autonomie der Parteien“ gehört zunächst – ein Paradigmenwechsel für das deutsche Mitbestimmungsrecht – die Frage nach dem „Ob“ der Mitbestimmungsvereinbarung, über das die Vertragsparteien grundsätzlich frei entscheiden können27. Dafür sprechen nicht nur der Wortlaut des § 21 Abs. 3 Satz 1 SEBG sowie die Begründung zum Regierungsentwurf28, sondern – wenn auch nur mittelbar – § 16 Abs. 2 SEBG, wonach ein Beschluss des besonderen Verhandlungsgremiums mit qualifizierter doppelter Mehrheit zur Nichtaufnahme von

__________ 21 Zum Recht der Unternehmensmitbestimmung näher Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 16 IV (S. 476 ff.). 22 Näher statt aller Jacobs (Fn. 14), Vor § 1 SEBG Rz. 13, § 1 SEBG Rz. 5, jew. m. w. N. 23 Nach der Begr. RegE können die Inhalte der Vereinbarung „weitgehend frei ausgehandelt werden“, BR-Drucks. 438/04, S. 128. 24 Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 186, ähnlich Rn. 187: „frei gestaltbare Inhalte“; ähnlich ebenso Joost (Fn. 15), B 8200 Rz. 115 („im Wesentlichen frei vereinbaren“); Kleinsorge in Wlotzke/Wißmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2008, EG-Recht Rz. 14, 37 (Inhalt „grundsätzlich freigestellt“). 25 Oetker in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, § 21 SEBG Rz. 19; ähnlich Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 627; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 9. 26 Köklü (Fn. 15), 6 Rz. 140. 27 Siehe etwa Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 13; Joost (Fn. 15), B 8200 Rz. 121; Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 31; Rieble, BB 2006, 2018, 2019 f. 28 BR-Drucks. 438/04, S. 129.

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Verhandlungen oder zum Abbruch von bereits aufgenommenen Verhandlungen (§ 16 Abs. 1 SEBG) bewirkt, dass die SE mitbestimmungsfrei bleibt. Eine Ausnahme bildet lediglich der schon erwähnte § 21 Abs. 6 SEBG. Darauf ist gleich zurückzukommen. Entscheiden sich die Parteien, eine Mitbestimmungsvereinbarung zu schließen, können sie im Ausgangspunkt über das „Wie“ ebenfalls frei entscheiden. Einen ersten Anhaltspunkt für mögliche mitbestimmungsrechtliche Inhalte bietet der erwähnte Katalog des § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG. Auch darauf ist noch näher einzugehen. 2. Schranken der Gestaltungsfreiheit Die Mitbestimmungsautonomie besteht indessen nicht schrankenlos. Welche Schranken ihr entgegenstehen, ist allerdings in vielen Punkten noch ungeklärt. Im Schrifttum werden, wenn überhaupt, oft nur inhaltliche Mindestanforderungen erwähnt29. a) Binnenschranken Binnenschranken sind § 21 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 6 SEBG zu entnehmen. Die Tatbestände des § 21 Abs. 3 Satz 2 Nrn. 1–3 SEBG konkretisieren mögliche Regelungegegenstände und sind deshalb keine Schranke30. aa) Mitbestimmung der Arbeitnehmer Die Mitbestimmungsautonomie wird nicht zum Selbstzweck gewährt. Gemäß § 21 Abs. 3 Satz 1 SEBG muss es sich um eine Vereinbarung „über die Mitbestimmung“ handeln, die ihrerseits in § 2 Abs. 12 SEBG gesetzlich definiert ist31. § 2 Abs. 12 Nr. 1 SEBG nennt vor allem die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft wählen oder bestellen zu können (Unternehmensmitbestimmung). Die Mitbestimmung muss dabei unmittelbar betroffen sein. Bestimmungen, welche sich auf die Organkompetenz oder auf die Organisationsautonomie der SE als solche beziehen, betreffen zwar auch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan, aber lediglich reflexartig; sie sind deshalb keine „Mitbestimmung“32.

__________ 29 Köklü (Fn. 15), 6 Rz. 140; ähnl. auch Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 186; Seibt (Fn. 15), F Rz. 137d. 30 Missverständlich Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 32. 31 Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 630 f.; ders., AG 2006, 345, 351; Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 33; ders., ZIP 2006, 1113, 1116 f.; ders. in FS Konzen, 2006, S. 635, 649 f.; zu weitgehend Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 95: „Beteiligung“ i. S. d. § 2 Abs. 8 SEBG und damit jedes Verfahren, „mittels dessen die Arbeitnehmervertreter auf die Beschlussfassung in der Gesellschaft Einfluss nehmen können“. 32 Vgl. Habersack, AG 2006, 345, 354; ders., ZHR 171 (2007), 613, 635.

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bb) SE-Gründung durch Umwandlung § 21 Abs. 6 SEBG schränkt die Mitbestimmungsautonomie – wie schon erwähnt – für die SE-Gründung durch Umwandlung ein. In diesem Fall muss in der Vereinbarung „in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß“ gewährleistet werden, welches in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll (§ 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG). Dass „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“, zu der auch die Mitbestimmung gemäß § 2 Abs. 12 Nr. 1 SEBG gehört, unverändert auf die SE übertragen werden müssen, bedeutet nicht, dass zum Beispiel neben dem Anteil der Arbeitnehmervertreter auch die Größe des Aufsichtsorgans, das Wahlverfahren, Vorschlagsrechte (§§ 15 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 16 MitbestG), der Arbeitsdirektor (§ 33 MitbestG), die Sitzgarantie der leitenden Angestellten (§ 15 Abs. 1 Satz 2 MitbestG) oder die Verteilung der Sitze auf unternehmensangehörige und externe Arbeitnehmer (§§ 7 Abs. 2, 4 Abs. 2 Satz 2 DrittelbG) unverändert übernommen werden müssen33. Gemeint ist trotz des missverständlichen Wortlauts nicht die deckungsgleiche Weitergeltung der bislang geltenden Mitbestimmungsvorschriften, sondern lediglich die qualitativ gleichwertige Übernahme des Mitbestimmungssystems, zum Beispiel im Sinne einer proportionalen Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan34. Das bedeutet auch, dass die nach § 7 Abs. 1 MitbestG bislang zwingend maßgebenden Mindestzahlen unterschritten werden können35. Für dieses Verständnis spricht der systematische Zusammenhang mit § 2 Abs. 12 SEBG, wonach unter Mitbestimmung ausschließlich das Recht der Arbeitnehmer zu verstehen ist, „einen Teil“ der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans zu stellen. Der Verweis in Anhang Teil 3 lit. a SE-RL, der sich mit der SE-Gründung durch Umwandlung befasst, spricht zwar von „allen Komponenten der Mitbestimmung“, bezieht sich aber ausdrücklich auf die „diesbezüglich sinngemäße“ Geltung von Anhang Teil 3 lit. b SE-RL, der seinerseits maßgeblich auf „einen Teil“ der Arbeitnehmervertreter abstellt. Lediglich eine Minderung von Mitbestimmungsrechten ist nicht möglich (§ 15 Abs. 5 SEBG). Zu beachten ist andererseits, dass § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG keine Sperrwirkung für weitergehende Regelungen entfaltet36. Zu bedenken ist schließlich, dass die Sperre des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG gemäß Satz 2 auch beim Wechsel der Gesellschaft von einer dualistischen in eine monistische Verfassung und umgekehrt gilt37.

__________ 33 So wohl Krause, BB 2005, 1221, 1226; differenzierend Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 192; Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 34. 34 Wie hier Hohenstatt/Dzida in Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), Arbeitsrecht Kommentar, 3. Aufl. 2008, SEBG Rz. 37; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 21; Oetker in FS Birk, 2008, S. 557, 569 f. (offen gelassen für den Arbeitsdirektor, S. 571). 35 Oetker in FS Birk, 2008, S. 557, 569 f. 36 Grobys, NZA 2005, 84, 88; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 22. 37 Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 23; abeichend Kienast in Jannott/Frodermann (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft – Societas Europaea, 2005, 13 Rz. 398 Fn. 358.

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b) Außenschranken Bei den Außenschranken der Mitbestimmungsautonomie sind zahlreiche verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Schranken zu unterscheiden. Die wichtigsten sind im Folgenden hervorzuheben. aa) Verfassungsrechtliche Grenzen Zu den möglichen verfassungsrechtlichen Außenschranken kann man kaum etwas lesen. Vereinbarungen, die eine Verteilung der Arbeitnehmersitze im Aufsichtsrat einer Holding-SE nach der Zahl der Teilkonzerne vorsehen, ohne deren unterschiedliche Belegschaftsgrößen zu berücksichtigen, lassen an eine Verletzung von Art. 20 Abs. 2 GG und die dort normierten demokratischen Grundsätze, insbesondere den Grundsatz der Gleichheit aller Stimmen, sowie des in Art. 3 Abs. 1 GG fixierten allgemeinen Gleichheitssatzes denken38. Darauf ist zurückzukommen. Gegen eine Begrenzung der Mitbestimmungsautonomie durch Art. 14 Abs. 1 GG39, der etwa durch die Verabredung einer Überparität für die Arbeitnehmerseite – in der monistischen SE mag sogar die Vereinbarung der Parität genügen40 – verletzt sein könnte, spricht schon, dass die Anteilseignerseite bei Abschluss der Mitbestimmungsvereinbarung nicht strukturell unterlegen ist: Die Hauptversammlung muss der Vereinbarung zustimmen, damit sie wirksam wird (vgl. Art. 23 Abs. 2 Satz 2, 32 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 2 SE-VO)41, dem besonderen Verhandlungsgremium sind Arbeitskampfmaßnahmen verboten42, und die gesetzliche Auffangregelung greift nur unter bestimmten Voraussetzungen ein. Keine Schranke bildet ebenfalls der durch Art. 4, 140, 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, 21, 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützte Tendenzschutz. Wegen der systematischen Stellung des § 39 SEBG, der Regelungen zum Tendenzschutz für die gesetzliche Auffangregelung enthält, und dessen Wortlaut ist die Mitbestimmung kraft Vereinbarung tendenzschutzfrei43. Dem entspricht der Zweck des Tendenzschutzes: Dem Tendenzträger werden zwar bestimmte Vorrechte eingeräumt, der Schutz soll ihm aber nicht aufgezwungen werden.

__________

38 Vieles spricht dafür, dass die Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung nicht unmittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind (so aber die st. Rspr. des BAG für die Tarifvertragsparteien und den Tarifvertrag, weil es sich beim Gleichheitssatz um ein fundamentales Rechtsprinzip handele, siehe nur BAG, AP Nr. 26 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; die Rechtsprechung ist aber auf die Parteien der Mitbestimmungsvereinbarung nicht übertragbar, weil sie mit dem Tarifvertrag nur begrenzt vergleichbar ist, insbesondere nicht normativ wirkt, Jacobs [Fn. 14], § 21 SEBG Rz. 6 f.; a. A. die wohl h. M., statt aller Oetker [Fn. 25], § 21 SEBG Rz. 14 ff., jew. m. w. N.), sondern dass der Gleichheitssatz über die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten mittelbar wirkt (zum Meinungsstand für die Tarifvertragsparteien Lieb/Jacobs, Arbeitsrecht, 9. Aufl. 2006, Rz. 471). 39 Seibt, AG 2005, 413, 416, 422. 40 Zur Verfassungswidrigkeit des § 35 SEBG näher Jacobs (Fn. 14), § 35 SEBG Rz. 16 ff. m. w. N. 41 Seibt, AG 2005, 413, 418 m. w. N. 42 Jacobs (Fn. 14), § 13 SEBG Rz. 3, § 21 SEBG Rz. 6. 43 Jacobs (Fn. 14), § 39 SEBG Rz. 1.

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bb) Einfachgesetzliche Grenzen Keine einfachgesetzliche Außenschranke der Mitbestimmungsautonomie ist die gesetzliche Auffangregelung (§§ 34 ff. SEBG), die gerade von der Mitbestimmung kraft Vereinbarung zu unterscheiden ist. Hervorzuheben sind als Schranken dagegen vor allem neben allgemeinen Grundsätzen wie dem Missbrauchsverbot (§§ 43 SEBG, 242 BGB) die zwingenden Vorgaben der SE-VO und des SEAG sowie des nationalen Gesellschaftsrechts, insbesondere des AktG, sofern diese der Mitbestimmungsvereinbarung nicht ihrerseits den Vorrang einräumen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a und lit. c i und ii SE-VO)44. Damit kann in einer Mitbestimmungsvereinbarung zunächst nur das geregelt werden, was auch Regelungsgegenstand der Satzung sein kann45. Das folgt vor allem aus Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 SE-VO, wonach die Satzung der SE der Mitbestimmungsvereinbarung nicht widersprechen darf und gegebenenfalls anzupassen ist: Eine solche Anpassung schiede aus, könnten in der Vereinbarung Regelungen getroffen werden, die der Satzung nicht zugänglich sind46. Somit ist auch der Grundsatz der Satzungsstrenge zu beachten, der für die SE in doppelter Hinsicht gilt47. Sie unterliegt zunächst den Bestimmungen der Satzung neben denjenigen der SE-VO (Art. 9 Abs. 1 lit. a SE-VO) nur bei ausdrücklicher Zulassung durch die SE-VO (Art. 9 Abs. 1 lit. b SE-VO), so dass Satzungsbestimmungen, welche von der SE-VO abweichen oder sie – anders als bei § 23 Abs. 5 Satz 2 AktG – ergänzen, ausgeschlossen sind48. Etwas anderes gilt für die nicht oder nur teilweise durch die SE-VO geregelten Bereiche: Insoweit unterliegt die SE auch dem in § 23 Abs. 5 AktG verankerten Gebot der Satzungsstrenge (Art. 9 Abs. 1 lit. c ii SE-VO) sowie den Bestimmungen ihrer Satzung unter den gleichen Voraussetzungen wie eine nach deutschem Aktienrecht gegründete Aktiengesellschaft (Art. 9 Abs. 1 lit. c iii SE-VO)49. Abweichungen von Vorschriften des AktG sind danach grundsätzlich unzulässig, wenn sie nicht ausdrücklich zugelassen sind, satzungsmäßige Ergänzungen sind möglich, wenn das Gesetz – das ist gegebenenfalls durch Auslegung zu

__________ 44 Habersack, AG 2006, 345, 348; Hennings in Manz/Mayer/Schröder (Hrsg.), Europäische Aktiengesellschaft, 2005, Art. 4 SE-RL Rz. 7; Hommelhoff in Lutter/ Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 5, 16; Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 33; ders. in FS Konzen, 2006, S. 635, 649; Seibt, AG 2005, 413, 416. 45 Austmann in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 3. Aufl. 2007, § 85 Rz. 37; Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 629; ders., AG 2006, 345, 346, 348; Hommelhoff (Fn. 44), S. 5, 16; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 656; ders. (Fn. 35), § 21 SEBG Rz. 33; Seibt (Fn. 15), F Rz. 137d; ders., AG 2005, 413, 416; Windbichler in FS Canaris, 2007, S. 1423, 1429 f., 1431; a. A. Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 94 f.: Art. 12 Abs. 4 Satz 2 SE-VO drücke lediglich aus, dass es Überschneidungen zwischen Satzung und Vereinbarung geben könne; ferner Hommelhoff/Teichmann in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, Anh. Art. 9 SE-VO (§ 1 SEAG) Rz. 53, 58; überzeugend dagegen Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 629 f. 46 Habersack, AG 2006, 345, 348; ders., ZHR 171 (2007), 613, 628; Seibt in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, Art. 6 SE-VO Rz. 12. 47 Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 348 f. 48 Hommelhoff/Teichmann (Fn. 45), Art. 9 SE-VO (§ 1 SEAG) Rz. 41. 49 Hommelhoff/Teichmann (Fn. 45), Art. 9 SE-VO (§ 1 SEAG) Rz. 54 f., 56 f.

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ermitteln – keine abschließende Regelung enthält. Vor diesem Hintergrund darf die Mitbestimmungsvereinbarung auch nicht in die Organisationsautonomie des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans eingreifen50. Eine weitere Schranke ist der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Aufsichtsratsmitglieder51. § 38 Abs. 1 SEBG nennt ihn ausdrücklich zwar nur für die gesetzliche Auffangregelung. Diese Nennung hat indessen lediglich deklaratorische Bedeutung, so dass ein Umkehrschluss ausscheidet52. § 20 SEAG steht auch für das monistische System nicht entgegen, da die Vorschrift den Rückgriff auf das nationale Recht nicht verwehrt, wenn allgemeine Grundsätze zur Funktionsweise von Kollegialorganen betroffen sind53.

III. Auswirkungen auf mögliche Inhalte von Mitbestimmungsvereinbarungen Welche Konsequenzen aus der skizzierten Gestaltungsfreiheit und deren Grenzen zu ziehen sind, ist im Folgenden für die wichtigsten Regelungsbereiche der Mitbestimmungsvereinbarung näher zu untersuchen. Dabei ist mit dem Katalog des § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG zu beginnen. 1. Größe des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Var. 1 SEBG bestimmt, dass die Zahl der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der SE, die durch die Arbeitnehmer gewählt oder bestellt werden können, vereinbart werden kann. Sehr streitig ist, ob die Parteien auch über die Gesamtzahl der Mitglieder des Aufsichtsoder Verwaltungsorgans und damit über dessen Größe disponieren können. Dafür werden der in Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 SE-VO verankerte Vorrang der Vereinbarung gegenüber der in Art. 40 Abs. 3, 43 Abs. 2 SE-VO normierten Satzungsautonomie sowie der Vorbehalt in §§ 17 Abs. 2, 23 Abs. 2 SEAG, wonach die Arbeitnehmerbeteiligung nach dem SEBG mit Blick auf die Vorgaben der §§ 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 SEAG unberührt bleibt, angeführt54. Außerdem könnten in der Vereinbarung, wie §§ 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 15 Abs. 4 Nr. 1, 2 Abs. 12 SEBG belegten, Zahl und (An-)Teil der Arbeitnehmervertreter festge-

__________ 50 Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37; Habersack, AG 2006, 345, 349. 51 Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 635; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 654; vgl. auch Seibt, AG 2005, 413, 423; a. A. Köklü (Fn. 15), 6 Rz. 242; zum Grundsatz der Gleichberechtigung näher BGHZ 64, 325, 330 f.; 83, 106, 112 f.; 106, 54, 65. 52 Habersack in Ulmer/Habersack/Henssler (Fn. 1), § 38 SEBG Rz. 9. 53 Teichmann in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar, 2008, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 20 SEAG) Rz. 2 f. m. w. N. 54 Dafür namentlich Oetker, ZIP 2006, 1113 ff.; ders. in FS Konzen, 2006, S. 635, 650 f.; ders. (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 36; ferner etwa Hennings (Fn. 44), Art. 4 SE-RL Rz. 28; Hohenstatt/Dzida (Fn. 34), SEBG Rz. 36; Kallmeyer, AG 2003, 197, 199; Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 386; Kleinsorge (Fn. 24), EG-Recht Rz. 39; Neye/Teichmann, AG 2003, 169, 176; Schwarz, Kommentar zur SE-VO, 2006, Art. 40 SE-VO Rn. 82, Einleitung Rz. 288; Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 94 f.; in diese Richtung auch Seibt, AG 2005, 413, 422 f., jew. m. w. N.

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legt werden. Dadurch könne jedenfalls mittelbar auch die Größe des Organs bestimmt werden. Die Vereinbarungsautonomie ist demgegenüber auf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer beschränkt, die Bestimmung der Größe des mitbestimmten Organs ist aber eine unternehmerische (Planungs-)Entscheidung, die der Mitbestimmung vorangeht55. Nicht zufällig bestimmen Art. 40 Abs. 3 und 43 Abs. 2 SE-VO, dass sich die Größe des mitbestimmten Organs – konkretisiert durch §§ 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 SEAG – nach der Satzung richtet. §§ 17 Abs. 2, 23 Abs. 2 SEAG ändern daran nichts: Die Satzungsautonomie wird nur insoweit eingeschränkt, als Satzungsregelungen untersagt sind, die zwar in Einklang mit §§ 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 SEAG stehen, aber den Anteil, der nach der Mitbestimmungsvereinbarung auf die Arbeitnehmer entfällt, nicht abbilden können. § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Var. 1 SEBG meint folglich nur die Zahl der Arbeitnehmervertreter in Relation zu der durch die Satzung vorgegebenen absoluten Größe des mitbestimmten Organs56. Insoweit überzeugt auch der skizzierte Schluss von der Kompetenz zur Festlegung der Zahl oder des (An-)Teils auf die Befugnis zur Festlegung der Größe nicht. 2. Festlegung der Arbeitnehmervertreter des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans Die Parteien können das Verfahren regeln, nach dem die Arbeitnehmer die Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans wählen oder bestellen (§ 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 SEBG). Dazu gehören zum Beispiel die Aufteilung der Sitze der Arbeitnehmervertreter auf die Mitgliedstaaten oder – bei einer Holding-SE – auf deren Teilkonzerne, außerdem Einzelheiten zum Wahlverfahren sowie Fragen des aktiven und passiven Wahlrechts. a) Aufteilung der Sitze und Stimmrechtsverteilung Die Sitze der Arbeitnehmervertreter können nach anderen sachlichen Kriterien als dem in § 36 Abs. 1 SEBG kodifizierten Repräsentationsprinzip wie zum Beispiel nach Sparten, Geschäftsbereichen oder geographischen Regionen aufgeteilt werden57. Zulässig ist auch eine „Dynamisierung“ der Sitzverteilung mit Blick auf den Eintritt künftiger Ereignisse58. § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Var. 1

__________ 55 Gegen eine Regelungskompetenz zu Recht v. a. Habersack, AG 2006, 345, 351 ff.; ders., Der Konzern 2006, 105, 107; ders., ZHR 171 (2007), 613, 632 ff.; ders. in Ulmer/ Habersack/Henssler (Fn. 1), § 35 SEBG Rz. 6 a. E.; ferner z. B. Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37; Kallmeyer, AG 2003, 197, 199; Müller-Bonanni/Melot de Beauregard, GmbHR 2005, 195, 197; Reichert/Brandes in MünchKomm.AktG (Fn. 14), Art. 40 SE-VO Rz. 70, Art. 43 SE-VO Rz. 67; Rieble, BB 2006, 2018, 2021; Seibt (Fn. 15), F Rz. 137d; Windbichler in FS Canaris, 2007, S. 1423, 1428 ff., jew. m. w. N. 56 Näher Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 633 f.; ders., AG 2006, 345, 353; a. A. Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 95. 57 Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 634; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 651; ders. (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 37; Seibt, AG 2005, 413, 423. 58 Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 635.

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SEBG gestattet ferner Regelungen, die eine Repräsentanz von leitenden Angestellten oder Gewerkschaftsvertretern im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan unabhängig von den Voraussetzungen der §§ 36 Abs. 3 Satz 2, 6 Abs. 3 und 4 SEBG festschreiben oder ein besonderes Verfahren für deren Bestellung – zum Beispiel eine Wahl durch Mitglieder des Sprecherausschusses – vorsehen59. Möglich sind auch – ebenfalls entgegen § 36 Abs. 1 SEBG – Regelungen über die Einbeziehung von Arbeitnehmervertretern aus Drittstaaten, um internationalen Konzernstrukturen Rechnung tragen zu können60. Umgekehrt kann die in §§ 36 Abs. 3 Satz 2, 6 Abs. 3 und 4 SEBG vorgesehene „Zwangsrepräsentation“ von Gewerkschaftsvertretern und leitenden Angestellten ausgeschlossen werden, selbst wenn sich die Parteien auf eine (teilweise) Geltung der gesetzlichen Auffangregelung geeinigt haben. Noch ungeklärt ist die Zulässigkeit von Regelungen, die bei der Verteilung der Arbeitnehmersitze im Aufsichtsrat einer Holding-SE nicht die Belegschaftsgrößen der jeweiligen Teilkonzerne abbilden, sondern pro Teilkonzern die gleiche Zahl von Sitzen vorsehen. Da die Parteien – wie eben gesehen – nicht die Repräsentativitätsanforderungen des § 36 SEBG übernehmen müssen, spricht vieles dafür, dass sie auch nicht dazu gezwungen sind, das Verhältnis der verschiedenen Belegschaftsgrößen zu berücksichtigen; abgesehen davon ist eine entsprechende Regelung nicht einmal für die gesetzliche Auffangregelung vorhanden und auch sonst nicht im SEBG enthalten, wie ein Blick auf § 5 Abs. 1 SEBG (Zusammensetzung des besonderen Verhandlungsgremiums) oder § 7 Abs. 2 SEBG (Verteilung der auf das Inland entfallenden Sitze des besonderen Verhandlungsgremiums) belegt. Eine Regelung wie § 11 MitbestG zur Errechnung der Zahl der Delegierten in den Betrieben fehlt genauso wie eine § 47 Abs. 7 BetrVG für den Gesamtbetriebsrat oder § 55 Abs. 3 BetrVG für den Konzernbetriebsrat entsprechende Bestimmung zum gleichmäßigen Stimmrecht61. Auch im Übrigen geht das Mitbestimmungsrecht nicht stets von einer gleichmäßigen Repräsentation aller Arbeitnehmer aus. Bei Schwellenwerten werden kleine Belegschaften etwa von der Mitbestimmung im Aufsichtsrat ausgenommen (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG). Eine „ungerechte“ Verteilung von Sitzen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan der SE kann daraus folgen, dass in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Arbeitnehmerbegriffe gelten. Sie ist außerdem in der Konkurrenz der Mitbestimmung in der SE zur nationalen Mitbestimmung angelegt, die den jeweiligen Arbeitnehmern von vornherein unterschiedliche Mitbestimmungsrechte ver-

__________

59 Vgl. Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 634 f.; Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2528; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 651; ders. in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 300; Seibt, AG 2005, 413, 423. 60 Freis in Nagel/Freis/Kleinsorge (Hrsg.), Die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gesellschaft – SE, 2005, § 21 SEBG Rz. 23; Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 634; Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 187; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19. 61 Beide Regelungen kompensieren Ungleichbehandlungen, die bei der Sitzverteilung entstehen können, vgl. § 47 Abs. 2 Satz 1 BetrVG für den Gesamtbetriebsrat und § 55 Abs. 1 Satz 1 BetrVG für den Konzernbetriebsrat; bei der Zusammensetzung des Einzelbetriebsrats ist dagegen lediglich die Soll-Vorschrift des § 15 BetrVG zu beachten.

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leihen. Auch innerhalb Deutschlands können Mitbestimmungskultur und -stukturen und damit faktische Mitbestimmungsmacht – das zeigen die Beispiele Volkswagen AG einerseits und Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG andererseits – unterschiedlich stark ausgestaltet sein. Aus einem wie auch immer verstandenen Demokratieprinzip folgt nichts anderes. Das in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Demokratieprinzip ist ein staatsverfassungsrechtlicher Grundsatz, nicht ein mitbestimmungsrechtlicher und auch kein privatrechtlicher. Eine SE ist kein Staat. Eine Grenze für solche Vereinbarungen liegt deshalb lediglich im Missbrauchsverbot (§ 43 SEBG), das freilich restriktiv auszulegen ist62, sowie im allgemeinen Gleichsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), der jedenfalls in diesem Zusammenhang, in dem der Gesetzgeber die „Autonomie der Parteien“ ausdrücklich betont (§ 21 Abs. 1 SEBG), lediglich als Willkürverbot zu verstehen ist63. Der allgemeine Gleichheitssatz ist danach nur verletzt, wenn kein vernünftiger Grund für die Differenzierung, der aus der Natur der Sache folgt oder sonst wie sachlich einleuchtend ist, besteht. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt weder die zweckmäßigste noch die gerechteste Lösung, sie muss nur sachlich vertretbar sein64. Vor diesem Hintergrund ist eine Sitzverteilung unabhängig von der Belegschaftsgröße der Teilkonzerne jedenfalls nicht willkürlich, wenn sie an die erwähnte ungleiche Mitbestimmungsmacht in den einzelnen Teilkonzernen anknüpft. Die Belegschaft des „unterrepräsentierten“ Teilkonzerns ist im Übrigen ausreichend dadurch geschützt, dass die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Holding-SE auch dem Unternehmenswohl in seiner Gesamtheit verpflichtet sind65 und gerade nicht die Partikularinteressen der Belegschaften einzelner Teilkonzerne verfolgen dürfen66. b) Wahlverfahren und Bestellung Für das Wahlverfahren ist zunächst zu beachten, dass die Bestimmung durch die Arbeitnehmer zu erfolgen hat. Entsendungsrechte zugunsten von außenstehenden Dritten sind demzufolge einerseits unzulässig67, andererseits können die Arbeitnehmer die Auswahl aber auf Vertreter übertragen, die wie etwa ein Wahlgremium – zum Beispiel bestimmt analog dem Verfahren nach § 36

__________ 62 Jacobs (Fn. 14), § 43 SEBG Rz. 1. 63 So zu Art. 3 Abs. 1 GG die ältere Rspr. des BVerfG, BVerfGE 1, 14, 52; später z. B. BVerfGE 91, 118; zur späteren Ausdifferenzierung in der Rechtsprechung (sog. „neue Formel“) statt aller Dieterich/Schmidt in Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2008, Art. 3 GG Rz. 31 ff. m. w. N.; zu dem vom EuGH (st. Rspr. seit EuGHE 1977, 1753, 1769 f. [„Ruckdeschel“]) entwickelten allgemeinen Gleichsatz auf europäischer Ebene, dessen Inhalt ungeachtet des abweichenden Anwendungsbereichs weitgehend mit Art. 3 Abs. 1 GG übereinstimmt, statt aller Hergenröder in Henssler/Willemsen/Kalb (Fn. 34), Art. 3 GG Rz. 13 f. m. w. N. 64 Hergenröder (Fn. 63), Art. 3 GG Rz. 56. 65 Dazu statt aller Ulmer/Habersack (Fn. 1), § 25 MitbestG Rz. 93 ff. m. w. N. auch zur Rspr. 66 Vgl. auch Seibt, AG 2005, 413, 423. 67 Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 651 f.; ders. (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 37; a. A. Seibt, AG 2005, 413, 423.

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Abs. 3 SEBG oder durch den SE-Betriebsrat – durch sie legitimiert sind68. Im Übrigen können Regelungen zu den geltenden Wahlgrundsätzen, zu Formerfordernissen, zum Wahlsystem oder zur Wahlanfechtung (zum Beispiel Anfechtungsberechtigung und Anfechtungsfrist) getroffen werden. Entzogen ist den Parteien indessen die Regelungskompetenz zur Bestellung der Arbeitnehmervertreter69. Die (konstitutive) Bestellung kann nicht dem SEBetriebsrat oder den Arbeitnehmern übertragen werden, sondern erfolgt ausschließlich durch die Hauptversammlung (Art. 40 Abs. 2 Satz 1, 43 Abs. 3 Satz 1 SE-VO). Art. 40 Abs. 2 Satz 3, 43 Abs. 3 Satz 3 SE-VO gelten lediglich für das erste Aufsichts- oder Verwaltungsorgan, wie sich aus deren systematischer Stellung ergibt70. Dem entspricht auch der Normzweck der Öffnungsklausel: Nur in der Gründungsphase der SE bedarf es einer solchen Regelung, um die Arbeitnehmerbeteiligung zu sichern, damit das Aufsichts- oder Verwaltungsorgan entgegen den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften (vgl. nur § 30 AktG, Art. 40 Abs. 2 Satz 2, 43 Abs. 3 Satz 2 SE-VO) nicht ohne Arbeitnehmervertreter gebildet wird. Der Hinweis auf Art. 42 Satz 2, 45 Satz 2 SEVO hilft nicht weiter, da diese Vorschriften lediglich die innere Ordnung des mitbestimmten Organs betreffen. Die Mitbestimmungsvereinbarung kann ferner Regelungen zum aktiven und passiven Wahlrecht enthalten71. Dabei ist zu differenzieren. Zwingend zu beachten und deshalb der Satzungs- und damit auch der Mitbestimmungsautonomie entzogen sind bestimmte persönliche Voraussetzungen der Mitglieder des mitbestimmten Organs (§§ 100 AktG, 27 SEAG). Wie sich aus § 27 Abs. 2 SEAG ergibt, können in einer Vereinbarung für die Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsorgan weitere persönliche Voraussetzungen – etwa eine Mindestbeschäftigungsdauer der Arbeitnehmervertreter in den Gründungsgesellschaften oder in der SE oder eine bestimmte (berufliche) Qualifikation – aufgestellt werden, die über die sonstigen gesetzlichen Anforderungen hinausgehen72. Das gleiche Ergebnis folgt für den Aufsichtsrat aus dem Rechtsgedanken des § 100 Abs. 3 AktG, der – ungeschrieben – auch auf das SEBG und damit die Mitbestimmungsvereinbarung verweist. 3. Rechte der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans Zulässig sind ferner Regelungen über die Rechte der Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan gemäß § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SEBG, der an die individuelle Rechtsstellung anknüpft, die aus der Organmitgliedschaft

__________ 68 Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 652. 69 Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 652 f.; a. A. Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2525 f., 2528, 2529; Reichert/Brandes (Fn. 55), Art. 40 SE-VO Rz. 26, 29, Art. 43 SE-VO Rz. 26, 29. 70 Dass insoweit eine Mitbestimmungskompetenz besteht, ist unumstritten, siehe etwa Henssler (Fn. 15), Einl. SEBG Rn. 187; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 652 f. 71 Vgl. Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 651. 72 Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19.

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folgt und das Recht auf Teilnahme, Beratung und Abstimmung sowie Auskunfts- und Einsichtsrechte erfasst. Denkbar sind außerdem Bestimmungen über einen Ausbau des Kündigungsschutzes (§ 42 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 Nr. 1 SEBG), da die Arbeitnehmervertreter im mitbestimmten Organ anders als etwa Betriebsratsmitglieder (§ 15 KSchG) keinen gesetzlichen Kündigungsschutz genießen73. Vereinbart werden können außerdem zusätzliche Schutzbestimmungen, die den Arbeitnehmervertretern etwa ein Recht auf Freistellung von ihrer beruflichen Tätigkeit in der SE zusprechen, das – entgegen den nationalen Gepflogenheiten74 – nicht nur bei zeitlicher Unvereinbarkeit von Tätigkeiten im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan und geschuldeter Arbeitsleistung besteht. Empfehlenswert sind Regelungen zur Vergütung der Aufsichtsratstätigkeit (vgl. §§ 113 AktG, 38 Abs. 1 SEBG) sowie daneben unter Umständen Entgeltfortzahlung während der Tätigkeit im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan, da die Rechtslage im nationalen Recht insoweit umstritten ist (§ 42 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 Nr. 3 SEBG)75, schließlich über die Teilnahme an Schulungs- oder Weiterbildungsveranstaltungen oder die Erstattung notwendiger Auslagen76. Umstritten ist, ob in der Mitbestimmungsvereinbarung das Stimmrecht der Arbeitnehmervertreter gegenüber demjenigen der Anteilseignervertreter eingeschränkt oder ausgeschlossen werden darf. Bedeutsam wäre eine solche Regelung insbesondere im monistischen System, um etwa den Einfluss der Arbeitnehmervertreter auf Überwachungs- und Kontrollaufgaben zu begrenzen oder Interessenkonflikte der Arbeitnehmervertreter einzuschränken, die im Verwaltungsorgan auf Unternehmens- und Arbeitnehmerinteressen verpflichtet sind. Zum Teil hält man die Einführung von Stimmverboten oder -beschränkungen für zulässig, wenn Zuständigkeiten ausgenommen sind, denen sich das mitbestimmte Organ wie etwa bei den Plenarvorbehalten der §§ 107 Abs. 3 Satz 2 AktG, 34 Abs. 4 Satz 2 SEAG nicht entziehen darf77. Zwar steht der Wortlaut von § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SEBG einer das Stimmrecht ausschließenden oder einschränkenden Regelung nicht entgegen. Die Differenzierung zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern verstößt aber gegen den erwähnten Grundsatz der Gleichberechtigung aller Mitglieder des Aufsichtsoder Verwaltungsorgans. Mitbestimmungsvereinbarungen alleine über das Stimmrecht der Arbeitnehmervertreter sind folglich unzulässig78. § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SEBG erwähnt nicht die Pflichten der Arbeitnehmervertreter. Entsprechende Regelungen in der Mitbestimmungsvereinbarung müssen aber ergänzend zu Bestimmungen über die Rechte zulässig sein79. Denkbar sind Regelungen über die Pflicht, sich auf Sitzungen vorzubereiten

__________ 73 74 75 76 77 78

Etwa Jacobs (Fn. 14), § 42 SEBG Rz. 6; Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 420. Dazu etwa Raiser, Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl. 2002, § 26 MitbestG Rz. 6. Dazu Jacobs (Fn. 14), § 42 SEBG Rz. 9 m. w. N. Vgl. Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 653. Näher z. B. Kallmeyer, ZIP 2004, 1442, 1444 m. w. N. I. E. wie hier z. B. Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 653 f.; Seibt, AG 2005, 413, 423; Teichmann, BB 2004, 53, 57, jew. m. w. N. 79 Wie hier Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 655; ders. (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 40.

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und an ihnen teilzunehmen, an Aufgaben des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans mitzuwirken oder das eigene Handeln auch am Wohl des Unternehmens auszurichten. Möglich ist auch eine Verschärfung der gesetzlichen Geheimhaltungspflicht nach § 41 SEBG80, wegen des erwähnten Gleichberechtigungsgrundsatzes indessen nicht einseitig für die Arbeitnehmerseite81. 4. Weitere Inhalte Da der Katalog des § 21 Abs. 3 Satz 2 SEBG nicht abschließend ist („insbesondere“)82, sind weitere Regelungsgegenstände denkbar. a) Gesetzliche Auffanglösung und andere Mitbestimmungsmodelle Die Parteien können zunächst die gesetzliche Auffangregelung vollständig oder teilweise verabreden (§ 21 Abs. 5 SEBG). Deren Anwendung kann sich konkludent ergeben, wenn die Mitbestimmungsvereinbarung Lücken zu Regelungsgegenständen enthält, ohne die sie nicht vollzogen werden kann83. Dabei können die betriebliche und die unternehmerische Mitbestimmung kraft Gesetzes oder nur eine von beiden gesetzlichen Auffangregelungen vereinbart werden, während für den jeweils anderen Teilbereich eine Vereinbarungslösung gefunden wird84. Ebenso kann die gesetzliche Auffangregelung im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen SE privatautonom ergänzt und modifiziert werden. Zwar ist es im Ausgangspunkt außerdem zulässig, das Mitbestimmungsmodell eines anderen Mitgliedstaats zu verabreden85 oder ein neues Mitbestimmungssystem zu entwickeln86. Ob dafür mit Blick auf die skizzierten Schranken (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. c SE-VO) allerdings viel Spielraum bleibt, ist zweifelhaft. Auf Einzelheiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. b) Reduzierung von Mitbestimmung Da die Parteien – wie gesehen – auf eine Regelung über die Mitbestimmung verzichten können, ist es ihnen unbenommen, auch eine Minderung von Mitbestimmungsrechten – etwa durch die Vereinbarung einer Reduzierung auf

__________ 80 Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19; Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 391, 435; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 654. 81 Wie hier Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 656; a. A. Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 391. 82 Statt aller Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 18. 83 Hohenstatt/Dzida (Fn. 34), SEBG Rz. 34; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 15. 84 Hohenstatt/Dzida (Fn. 34), SEBG Rz. 34; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 10; Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 360. 85 Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 95; Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 187; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19; Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 361, 388; wohl auch Joost (Fn. 15), B 8200 Rz. 123. 86 So dezidiert Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 95; Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 187; Joost (Fn. 15), B 8200 Rz. 123; sehr weitgehend Seibt, AG 2005, 413, 422 („jegliche Formen der Unternehmensmitbestimmung“).

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eine Drittelparität – vorzusehen87, wenn sie die Vorgaben des § 15 Abs. 3 und 4 SEBG beachten88. Außerdem kann die Parität im Verwaltungsorgan einer SE auf die nicht geschäftsführenden Mitglieder bezogen werden89. Auf diese Weise kann der qualitative Machtzuwachs der Arbeitnehmervertreter in Form einer „Überparität“ vermieden werden, wenn die geschäftsführenden Direktoren aus dem Kreis des Verwaltungsorgans bestellt werden und dann die Mehrheit der nicht geschäftsführenden Mitglieder aus Arbeitnehmervertretern bestünde. c) Verfassung der SE Die Mitbestimmungsvereinbarung darf nicht die Organisationsverfassung der SE, die bindend durch die Satzung der SE vorgegeben ist (Art. 38 lit. b SE-VO), regeln90. Eine entsprechende Regelungskompetenz überschritte überdies die Binnenschranke des § 2 Abs. 12 SEBG, da die Wahl der Organisationsverfassung die SE als solche und die Stellung der Arbeitnehmervertreter nur mittelbar betrifft. d) Innere Ordnung des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans Denkbar sind ferner Regelungen zur inneren Ordnung des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans, etwa zur Beschlussfassung (zum Beispiel über die Behandlung von Stimmenenthaltungen) und zur Beschlussfähigkeit, die zum Beispiel von der Anwesenheit einer bestimmten Zahl von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern abhängig gemacht werden kann, zur Wahl von Funktionsträgern, zur Bildung und Zusammensetzung von Ausschüssen, zu Sitzungsmodalitäten und -frequenzen, ferner Vorgaben zu Ladungsfristen, zur Arbeitssprache oder zu Zustimmungsvorbehalten. Die Zulässigkeit kann für das Aufsichtsorgan und das Verwaltungsorgan unterschiedlich zu beurteilen sein91. aa) Aufsichtsorgan Voraussetzung ist zunächst, dass die innere Ordnung Gegenstand der Satzung sein kann. Maßgeblich ist dafür zunächst der schon erwähnte Art. 9 Abs. 1 lit. b SE-VO. Fragen der inneren Ordnung sind in Art. 42 (Wahl des Aufsichts-

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87 Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2526, 2528; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 19. 88 Näher Jacobs (Fn. 14), § 15 SEBG Rz. 5 ff. 89 Ebenso Henssler (Fn. 15), SEBG Einl. Rz. 187; Seibt, AG 2005, 413, 425; für ein entsprechendes Verständnis bei der gesetzlichen Auffangregelung etwa Jacobs (Fn. 14), § 35 SEBG Rz. 23; Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767, 790; Teichmann, BB 2004, 53, 56 f.; a. A. z. B. Henssler (Fn. 15), Einl. SEBG Rz. 204; Kämmerer/Veil, ZIP 2005, 369, 376; Kienast (Fn. 37), 13 Rz. 280; Oetker (Fn. 25), § 35 SEBG Rz. 14; Schwarz (Fn. 54), Art. 43 SE-VO Rz. 83, jew. m. w. N. 90 Unstr., etwa Habersack, AG 2006, 345, 351; Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 41. 91 Grundlegend gegen die Zulässigkeit Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 41 (für Bestimmungen zur Binnenorganisation des Aufsichts- und Verwaltungsorgans, zur Bildung und Zusammensetzung von Ausschüssen sowie zur Geschäftsordnung); ferner ders. in FS Konzen, 2006, S. 635, 655 f.

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ratsvorsitzenden), 48 (Festsetzung von Zustimmungsvorbehalten) und 50 SEVO (Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung) geregelt. Art. 42 SE-VO enthält keine ausdrückliche Satzungsermächtigung, außerdem gehört die Wahl von Funktionsträgern und damit auch diejenige des Vorsitzenden in die ausschließliche Organisationsautonomie des Aufsichtsorgans, so dass die Regelung in einer Mitbestimmungsvereinbarung unzulässig ist92. Das folgt für das dualistische System auch aus der Funktionstrennung zwischen Aufsichts- und Leitungsorgan93. Anders ist es mit Zustimmungsvorbehalten und der Beschlussfassung und Beschlussfähigkeit. Art. 48 Abs. 1 Var. 2 und 50 Abs. 1 SE-VO lassen – vorbehaltlich der zwingenden Vorgabe des Art. 50 Abs. 2 Satz 2 SEVO – insoweit ausdrücklich Satzungsregelungen zu. Im Übrigen ist mangels weiterer Regelungen in der SE-VO zur inneren Ordnung auf §§ 107 ff. AktG zurückzugreifen (Art. 9 Abs. 1 lit. c ii SE-VO). Die Zulässigkeit einer entsprechenden Satzungsregelung bestimmt sich nach § 23 Abs. 5 AktG (Art. 9 Abs. 1 lit. c iii SE-VO). Hinsichtlich der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 107 Abs. 1 AktG) scheidet eine Satzungsregelung – wie gesehen – aus. Das Gleiche gilt für die Bildung, die Größe, die Zusammensetzung und die Auflösung von Ausschüssen94, die nach herrschender Meinung der Organisationsautonomie des Aufsichtsrats unterliegen (vgl. § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG)95. Aus diesem Grund können solche Regelungen nicht Inhalt der Satzung96 und damit auch nicht Gegenstand einer Mitbestimmungsvereinbarung sein97. Im Übrigen sind die skizzierten Regelungsgegenstände jedenfalls nicht mitbestimmungsrelevant. Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Aufsichtsrats stärken zwar reflexartig die Rechte der Arbeitnehmervertreter98. Sie regeln aber die Kompetenz des Aufsichtsrats als Gesamtorgan und dessen Verhältnis zum Leitungsorgan, nicht das Verhältnis zwischen Aufsichtsorgan und Arbeitnehmervertretern99. Nichts anderes gilt für Beschlussfassung und Beschlussfähigkeit und solche Fragen der Geschäftsordnung, die Gegenstand der Satzung sein können100.

__________ 92 Wie hier Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37; Habersack, AG 2006, 345, 349; ders., ZHR 171 (2007), 613, 631; Seibt, AG 2005, 413, 416 f.; a. A. Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2528; Seibt (Fn. 15), F Rz. 137d. 93 Näher Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 631. 94 Ebenso Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37 (für den Aufsichtsrat und den Verwaltungsrat). 95 Statt aller Habersack in MünchKomm.AktG (Hrsg.: Goette/Habersack), Band 2, 3. Aufl. 2008, § 107 AktG Rz. 95 m. w. N. 96 Siehe nur BGHZ 122, 342, 355; 83, 106, 107. 97 Anders Freis (Fn. 60), § 21 SEBG Rz. 23 a. E.; Köstler in Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2005, S. 331, 351. 98 Habersack, AG 2006, 345, 354; ders., ZHR 171 (2007), 613, 635. 99 I. E. wie hier Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37; Habersack, AG 2006, 345, 354; a. A. wohl Freis (Fn. 60), § 21 SEBG Rz. 23. 100 Wie hier Habersack, AG 2006, 345, 354; ders., ZHR 171 (2007), 613, 635; i. E. auch Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37; diff. Windbichler in FS Canaris, 2007, S. 1423, 1431 f. (zur Beschlussfähigkeit); a. A. zur Beschlussfassung und Beschlussfähigkeit Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2528 f.

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bb) Verwaltungsorgan Für das Verwaltungsorgan folgt die Satzungsautonomie zur Festlegung der Sitzungsfrequenzen aus Art. 44 Abs. 1 SE-VO, für Geschäfte, die einen ausdrücklichen Beschluss des Verwaltungsorgans erfordern, aus Art. 48 Abs. 1 Var. 2 SE-VO und für dessen Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung aus Art. 50 Abs. 1 SE-VO. Die Wahl des Vorsitzenden des Verwaltungsorgans gehört indessen alleine zu dessen Organisationsautonomie (vgl. § 45 Satz 1 SE-VO)101. Im Übrigen kann das Verwaltungsorgan durch die Satzung zur Wahl eines stellvertretenden Vorsitzenden verpflichtet werden (§ 34 Abs. 1 Satz 1 SEAG). Außerdem kann die Satzung Einzelfragen der Geschäftsordnung des Verwaltungsorgans bindend festlegen (§ 34 Abs. 2 Satz 2 SEAG), Formvorgaben für die Beschlussfassung im Verwaltungsorgan und seinen Ausschüssen aufstellen (§ 35 Abs. 2 SEAG) und die Teilnahme an dessen Sitzungen für Personen eröffnen, die nicht dem Verwaltungsorgan angehören, wenn dessen Mitglieder verhindert sind (§ 36 Abs. 3 SEAG). Auch insoweit haben diese Gegenstände aber keine Mitbestimmungsrelevanz, so dass sie nicht in einer Mitbestimmungsvereinbarung geregelt werden können102. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, Mitbestimmungsvereinbarungen könnten für das Verwaltungsorgan die Installation eines Systems von Ausschüssen vorsehen, um die Mitbestimmung auf die Kontrollaufgaben des Verwaltungsorgans zu fokussieren103, etwa durch die Einrichtung eines arbeitnehmervertreterfreien Ausschusses für die strategische Unternehmensplanung, eines Exekutivausschusses für die laufende Geschäftsführung oder eines ausschließlich mit nicht geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsorgans besetzten Ausschusses104. Für das monistische System gilt indessen nichts anderes als für das dualistische: Weder die SE-VO noch das SEAG enthalten Regelungen zur Einsetzung von Ausschüssen, das Recht zur Bestellung ist in § 34 Abs. 4 Satz 1 SEAG, der § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG nachgebildet ist, vielmehr ausdrücklich dem Verwaltungsrat zugewiesen. Die Einsetzung von Ausschüssen fällt deshalb wie beim Aufsichtsrat ausschließlich in die Organisationsautonomie des Verwaltungsrats105, so dass ihre Regelung in einer Mitbestimmungsvereinbarung ausscheidet.

__________ 101 102 103 104

A. A. Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2529. Vgl. Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 655; z. T. abw. Seibt, AG 2005, 413, 426 f. So noch Jacobs (Fn. 14) § 21 SEBG Rz. 19. Zu diesen Vorschlägen näher Frodermann in Jannott/Frodermann (Fn. 37), 5 Rz. 224; Gruber/Weller, NZG 2003, 297, 300 f.; Heinze/Seifert/Teichmann, BB 2005, 2524, 2529; Reichert/Brandes (Fn. 55), Art. 44 SE-VO Rz. 48, 52, 57 und passim. 105 Wie hier Austmann (Fn. 45), § 85 Rz. 37; Habersack, AG 2006, 345, 346, 349; Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 656; Schwarz (Fn. 54), Art. 43 SE-VO Rz. 93; Seibt, AG 2005, 413, 426 f.

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Privatautonome Unternehmensmitbestimmung in der SE

e) Arbeitnehmervertretungsorgan außerhalb des Verwaltungsorgans Im Schrifttum wird außerdem vorgeschlagen, das Verwaltungsorgan als Leitungsorgan mitbestimmungsfrei zu stellen, diese Freistellung aber durch Einrichtung eines zusätzlichen Arbeitnehmervertretungsorgans zu kompensieren, in dem die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Form von regelmäßiger Information und Konsultation stattfinden kann („Konsultationsrat“)106. Auch auf diese Weise könne der Einfluss der Arbeitnehmerseite auf die Wahrnehmung von Kontrollaufgaben begrenzt werden. Gegen diesen Vorschlag spricht, dass – wie schon erwähnt – die Grundentscheidung zwischen dualistischem und monistischem System nicht in der Mitbestimmungsvereinbarung getroffen werden kann. Sie betrifft grundlegend die Organisationsstruktur der SE, ist durch Art. 38 lit. b SE-VO bindend vorgegeben und berührt die Mitbestimmung durch die Arbeitnehmer außerdem nur mittelbar. Die Verlagerung der Mitbestimmung in ein externes Arbeitnehmervertretungsorgan weicht davon aber ab. Sie kann deshalb in einer Mitbestimmungsvereinbarung nicht geregelt werden107. f) „Arbeitsdirektor“ Streitig ist, ob in Anlehnung an § 38 Abs. 2 Satz 2 SEBG verabredet werden kann, dass eines der Vorstandsmitglieder oder einer der geschäftsführenden Direktoren für den „Bereich Arbeit und Soziales“ zuständig, mithin ein „Arbeitsdirektor“ sein soll108. Dabei geht es zwar um eine Verteilung von Ressortzuständigkeiten, die durch Satzung bindend geregelt werden kann (vgl. §§ 40 Abs. 4 Satz 2 SEAG, 77 Abs. 2 Satz 2 AktG). Aber selbst wenn dadurch die „Mitbestimmung“ betroffen ist, da der „Arbeitsdirektor“ als Bindeglied zwischen der Leitung der SE und der Arbeitnehmerseite fungiert109, fällt der „Arbeitsdirektor“ doch in die Organisationsautonomie des Leitungsorgans (oder der geschäftsführenden Direktoren), so dass die entsprechende Regelung in einer Mitbestimmungsvereinbarung unwirksam ist110. g) Strukturelle Änderungen § 21 Abs. 4 SEBG bezieht sich auf strukturelle Änderungen in einer bestehenden SE und ergänzt insoweit § 18 Abs. 3 SEBG111. Sind strukturelle Änderun-

__________ 106 Müller-Bonanni/Melot de Beauregard, GmbHR 2005, 195, 199; Roth, ZfA 2004, 431, 459 ff.; Seibt, AG 2005, 413, 423, 426; ders. (Fn. 15), F Rz. 137d; Schwarz (Fn. 54), Einleitung Rz. 291, Art. 43 SE-VO Rz. 79 Fn. 78; Teichmann, BB 2004, 53, 57. 107 Wie hier Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 41; Schwarz (Fn. 54), Einleitung 286. 108 Dafür Joost (Fn. 15), B 8200 Rz. 123; Seibt, AG 2005, 425, 427; ders. (Fn. 15), F Rz. 137d. 109 Siehe auch Schwarz (Fn. 54), Art. 43 SE-VO Rz. 99. 110 Wie hier Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 42. 111 Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 24.

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Matthias Jacobs

gen geplant, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, finden nach § 18 Abs. 3 Satz 1 SEBG auf Veranlassung der Leitung der SE oder des SE-Betriebsrats Verhandlungen über die Mitbestimmung statt. Wird in den Verhandlungen keine Einigung erzielt und eine Vereinbarung nach § 21 SEBG nicht geschlossen, sind §§ 34 ff. SEBG über die Mitbestimmung kraft Gesetzes anzuwenden (§ 18 Abs. 3 Satz 3 SEBG). Daran knüpft § 21 Abs. 4 SEBG an und beschreibt den Inhalt einer möglichen Vereinbarung: Sie kann ungeachtet der Regelung in § 18 Abs. 3 SEBG, der auch im Rahmen des § 21 Abs. 4 SEBG unabdingbar ist112, festlegen, dass vor strukturellen Änderungen der SE – andere Tatbestände sind von § 21 Abs. 1 Nr. 6 Hs. 2 SEBG erfasst113 – Verhandlungen über die Mitbestimmung aufgenommen werden. Insoweit besteht aber keine einklagbare Pflicht, wie die geschilderte „Sanktion“ des § 18 Abs. 3 Satz 3 SEBG – das Nicht-Verhandeln steht der Nicht-Einigung nach Verhandeln gleich – erkennen lässt114. Es kommt mithin nicht darauf an, ob die strukturellen Veränderungen dazu geeignet sind, die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern. Soweit Tatbestände des § 18 Abs. 3 SEBG betroffen sind, kann die Vereinbarung dagegen lediglich für eine Klarstellung sorgen. Praktisch bedeutsam ist insoweit, dass die Parteien nach § 21 Abs. 4 Satz 2 SEBG das für solche Verhandlungen anzuwendende Verfahren und damit zum Beispiel das Verhandlungsgremium (etwa den SE-Betriebsrat) oder die Verhandlungsdauer vorab regeln können.

IV. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Mitbestimmungsautonomie der Verhandlungspartner bei der Mitbestimmungsvereinbarung nach § 21 SEBG bei näherem Hinsehen weniger weit reicht, als es der erste Blick vermuten lässt. Insbesondere die Binnenschranke der „Mitbestimmung“ (§ 2 Abs. 12 Nr. 1 SEBG) als auch die Außenschranken des nationalen Gesellschaftsrecht – insbesondere der Grundsatz der Satzungsstrenge – stehen einer allumfassenden Zuständigkeit der Verhandlungspartner entgegen. In einer Mitbestimmungsvereinbarung können deshalb insbesondere nicht die Größe des Aufsichtsoder Verwaltungsorgans sowie Regelungsgegenstände, welche die innere Ordnung des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans betreffen, verabredet werden, ferner nicht die Organisationsverfassung der SE, ein „Arbeitsdirektor“ oder die Verlagerung der Mitbestimmung in einen „Konsultationsrat“ bestimmt werden. Kann ein Regelungsgegenstand Gegenstand einer Mitbestimmungsvereinbarung sein, ist der Spielraum, den die Verhandlungspartner haben, dagegen grundsätzlich groß. So muss beispielsweise die Verteilung der Sitze der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat einer Holding-SE die unterschiedlichen

__________ 112 Siehe nur Henssler (Fn. 15), Einl SEBG Rz. 187; Jacobs (Fn. 14), § 18 SEBG Rz. 8, § 21 SEBG Rz. 25; a. A. offenbar Oetker in FS Konzen, 2006, S. 635, 647. 113 Dazu Oetker (Fn. 25), § 21 SEBG Rz. 26. 114 Hohenstatt/Dzida (Fn. 34), SEBG Rz. 37; Jacobs (Fn. 14), § 21 SEBG Rz. 25.

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Privatautonome Unternehmensmitbestimmung in der SE

Belegschaftsgrößen der einzelnen Teilkonzerne nicht zwingend abbilden. Erheblicher Gestaltungsspielraum besteht zum Beispiel auch bei der Regelung des Wahlverfahrens (§ 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 SEBG) sowie der Rechte und Pflichten der Arbeitnehmervertreter, sieht man von ungleichen Stimmrechtsregelungen für die Arbeitnehmer- und die Anteilseignervertreter ab. Ferner können die gesetzliche Auffangregelung vollständig oder modifiziert verabredet und die Mitbestimmung in den gesetzlichen Grenzen reduziert werden.

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Detlev Joost

Betrachtungen zur handelsrechtlichen und versicherungsrechtlichen Vertretungsmacht Inhaltsübersicht I. Die Prokura II. Die Handlungsvollmacht III. Die Vollmacht des Versicherungsvertreters 1. Die Entstehungsgrundlage der Vertretungsmacht

2. Die Beschränkung der Vertretungsmacht 3. Der Schutz des guten Glaubens IV. Rechtsgeschäftliche Vollmacht und gesetzliche Vertretungsmacht V. Überblick

Das Bürgerliche Recht hat, was das Recht der Stellvertretung betrifft, viel vom Handelsrecht partizipiert. Grundlegende Strukturen wie etwa die Trennung und die Abstraktion der Vollmacht vom Grundgeschäft sind ursprünglich für das Handelsrecht erdacht1 und später in das Bürgerliche Recht übernommen worden. Die umfassende Kodifikation des Rechts der Stellvertretung im Bürgerlichen Gesetzbuch wirft aber die Frage auf, welcher zusätzliche relevante Normregelungsbereich danach für eine handelsrechtliche Vertretungsmacht noch verbleibt. Einer Kodifikation des Vertretungsrechts stellen sich vor allem drei normativ zu beantwortende Fragen: Wie entsteht die Vertretungsmacht? Welchen Umfang hat sie? Kann sich der Rechtsverkehr auf die Vertretungsmacht und deren Umfang verlassen bzw. inwieweit soll er sich auf sie verlassen können dürfen? Aus der Sicht des Handelsrechts ist zu fragen: Welche Lücken enthält das Bürgerliche Recht insoweit und welche Besonderheiten des Handelsverkehrs sollte das Handelsrecht normativ zur Geltung bringen?

I. Die Prokura Nach Bürgerlichem Recht entsteht die Vertretungsmacht durch ein privatautonom vorgenommenes Rechtsgeschäft, das legaliter als Vollmacht definiert wird (§ 166 Abs. 2 Satz 1 BGB); auf diese Definition wird in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein. Mit dem Rechtsgeschäft wird zugleich, wiederum privatautonom, der Umfang der Vollmacht und damit die Vertretungsmacht für die jeweilige Willenserklärung bestimmt. Verlass auf die Vertretungsmacht besteht bei der Innenvollmacht für den Rechtsverkehr kaum: Er vermag das wirksame Bestehen des die Vertretungsmacht erteilenden Rechtsgeschäfts so wenig zuverlässig zu beurteilen wie den mit ihm vorgegebenen

__________ 1 Laband, ZHR 10 (1866), 183 ff.

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Umfang der Vertretungsmacht. Er trägt auch das Risiko des Widerrufs der Vollmacht. Der gute Glaube wird nur in engen Grenzen geschützt (§§ 171 bis 173 BGB), so eng, dass ein Bedürfnis bestand, praeter legem die Anscheinsvollmacht und die Duldungsvollmacht zu entwickeln. Dem Handelsverkehr – auf Schnelligkeit und die Vermeidung von Händeln bedacht – sind derartige Unsicherheiten nicht zuträglich. Sie werden (weitgehend) durch das Institut der Prokura vermieden, deren Daseinsberechtigung, wenn nicht sogar Notwendigkeit außer Zweifel steht. Durch die Eintragung im Handelsregister, verbunden mit dem Registerschutz (§ 15 Abs. 3 HGB), bekommt die Erteilung der Vertretungsmacht eine verlässliche Grundlage für den Handelsverkehr, wobei lediglich anzumerken ist, dass die bis zum Jahre 1969 bestehende legislatorische Versagung des positiven Vertrauensschutzes gänzlich dysfunktional war, was durch die – notdürftige – Herausbildung zusätzlicher ungeschriebener Rechtssätze2 unterstrichen wird. Die Unbeschränkbarkeit der Prokura sichert darüber hinaus das Vertrauen auf deren Umfang. Das Institut der Prokura beseitigt also glanzvoll die Insuffizienzen des Bürgerlichen Rechts und gibt der Vertretung eine für den Rechtsverkehr verlässliche Grundlage. Indessen ist nichts ohne Fehler. Gelegentlich ist auf die Verlässlichkeit nicht unbedingt Verlass. Dabei ist weniger an die rechtspolitisch höchst fragwürdige3 Einschränkung zu denken, dass die Prokura nicht zur Veräußerung und Belastung von Grundstücken ermächtigt; dies ist eine gesetzliche Festlegung, mit welcher der Rechtsverkehr rechnen kann und muss. Sinnwidrig im Hinblick auf das mit der Prokura zu erreichende Ziel ist vielmehr die Regelung über die Niederlassungsprokura. Diese Prokura ist gesetzlich auf den Betrieb der Niederlassung beschränkt (§ 50 Abs. 3 HGB). Der Rechtsverkehr kann zwar auch davon durch die Eintragung im Handelsregister Kenntnis erhalten. Allein, dadurch weiß er im Einzelfall nicht, welches Geschäft tatsächlich zum Betrieb der Niederlassung gehört. Der Umfang der Niederlassungsprokura wird von den jeweiligen Verhältnissen des kaufmännischen Gewerbes abhängig gemacht, die sich dem Rechtsverkehr nicht ohne weiteres erschließen. Dies ist unvereinbar mit dem die Prokura konstituierenden Grundsatz, dass die Vertretungsmacht für alle Geschäfte irgendeines Handelsgewerbes besteht. Leider hat dieser Systembruch im Recht der Prokura die große Reform des Handelsrechts im Jahre 1998 überlebt, genauso wie die entsprechende Regelung der Vertretungsmacht der Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft in § 126 Abs. 3 HGB. Die Stabilität der Prokura im Hinblick auf den Schutz des Rechtsverkehrs besteht nicht nur bei der Feststellung ihrer Entstehung und ihres Umfangs, sondern auch bei ihrer Beendigung. Das Erlöschen der Prokura ist eintragungspflichtig (§ 53 Abs. 2 HGB), womit im Normalfall der Registerschutz ausgelöst wird (§ 15 Abs. 1 HGB). Gleichwohl können Unsicherheiten entstehen. Die

__________ 2 S. dazu Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 14 III. 1. a). 3 S. Joost in Staub, HGB, 5. Auf. 2008, § 49 HGB Rz. 28.

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Die handelsrechtliche und versicherungsrechtliche Vertretungsmacht

Vorschriften des § 15 HGB sind hinsichtlich eines Insolvenzverfahrens nicht anzuwenden, § 32 Abs. 2 Satz 2 HGB. Die Prokura erlischt nach § 117 Abs. 1 InsO mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, soweit sie nicht nach § 117 Abs. 2 InsO weiter besteht. Nach h. M. gilt dies nicht in der Zeit zwischen der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Eröffnung. Hier soll die Prokura selbst dann, wenn dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO) und die Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergeht (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO), bestehen bleiben4. Als Begründung wird das Fehlen einer § 117 InsO entsprechenden Regelung angegeben5. Die daraus folgenden Ergebnisse überzeugen nicht. Trotz des Bestehenbleibens der Vollmacht kann der Bevollmächtigte nicht wirksam Verfügungen vornehmen, da sie gemäß §§ 22 Abs. 1 Satz 1, 24 Abs. 1, 81, 82 InsO auch dem Schuldner, von dem der Bevollmächtigte seine Vollmacht ableitet, untersagt sind6. Das Verfügungsverbot nach §§ 21 Abs. 2 Nr. 2, 22 Abs. 1 Satz 1, 24 Abs. 1 InsO soll sich aber nach einer verbreiteten, wenn auch bestrittenen Ansicht nicht auf Verpflichtungsgeschäfte des Schuldners beziehen7. Danach behält der Schuldner trotz der Bestellung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters seine Handlungsbefugnis in Bezug auf Verpflichtungsgeschäfte, so dass er insoweit nachmalige Insolvenzforderungen begründen kann. Das Verfügungsverbot bezieht sich demzufolge auch nicht auf Verpflichtungsgeschäfte eines Bevollmächtigten, der seine Vollmacht von dem Schuldner ableitet. Folgt man der zum Insolvenzrecht wohl herrschenden Auffassung, so ergibt sich folgendes Bild. Die Prokura bleibt von der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch dann unberührt, wenn ein starker vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt wird. Sie vermittelt aber keine Vertretungsmacht mehr für Verfügungen. Dagegen bleibt die Vertretungsmacht für Verpflichtungsgeschäfte unverändert erhalten. Die Handlungsbefugnis des Prokuristen wäre also gespalten, was der Prokura als einer umfassenden Vertretungsmacht in keiner Weise entspricht. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens – bei gleich bleibender Rechtslage hinsichtlich der Verfügungsbefugnis – er-

__________ 4 Berscheid in Uhlenbruck, InsO, 12. Auf. 2003, § 117 InsO Rz. 16; Ahrendt in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 2006, § 117 InsO Rz. 7; Marotzke in Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Aufl. 2006, § 117 InsO Rz. 11; Ott/Vuia in MünchKomm.InsO, 2. Auf. 2008, § 117 InsO Rz. 12 (der dortige Hinweis auf BFH v. 24.6.2003 – I B 30/03 ist insofern unergiebig, als die Entscheidung einen schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter betraf). 5 Berscheid in Uhlenbruck (Fn. 4), § 117 InsO Rz. 16. 6 Berscheid in Uhlenbruck (Fn. 4), § 117 InsO Rz. 16; Ott/Vuia in MünchKomm.InsO (Fn. 4), § 117 InsO Rz. 12. 7 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht (Fn. 4), § 24 InsO Rz. 3; Uhlenbruck (Fn. 4), § 24 InsO Rz. 5 a. E.; Haarmeyer in MünchKomm.InsO (Fn. 4), § 24 InsO Rz. 13; wohl auch Kirchhof in Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung (Fn. 4), § 24 InsO Rz. 10. Für eine Erstreckung des Verfügungsverbots auf Verpflichtungsgeschäfte Gerhardt in Jaeger, Insolvenzordnung, 2004, § 22 InsO Rz. 177 m. w. N.; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Aufl. 2006, § 24 InsO Rz. 5.

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lischt die Prokura entweder oder bleibt nach §§ 117 Abs. 2, 115 Abs. 2 vorübergehend in vollem Umfang bestehen. Seltsame Ergebnisse zeigen sich auch, wenn man vor diesem Hintergrund die Stellung des Bevollmächtigten betrachtet. Nach einer Entscheidung des OLG Bamberg8 soll eine Vollmacht als solche im Eröffnungsverfahren trotz eines allgemeinen Verfügungsverbots bestehen bleiben. Die auf ihrer Grundlage vorgenommenen Handlungen sollen jedoch wegen §§ 24 Abs. 1, 81 Abs. 1 Satz 1 InsO weder gegen die Masse noch gegen den ursprünglichen Vollmachtgeber wirken. Der Bevollmächtigte hat also trotz wirksam bestehender Vollmacht keine Vertretungsmacht. Damit handelt er als oder zumindest wie ein falsus procurator9. Dies löst seine persönliche Haftung nach § 179 BGB aus, obwohl er von einer bestehenden Vollmacht Gebrauch gemacht hat. Davor soll er durch eine analoge Anwendung von § 117 Abs. 3 InsO geschützt werden10. Die Annahme wirksam bestehender Vollmachten ohne entsprechende Vertretungsmacht ist seltsam und überzeugt so wenig wie die Auffassung, dass der Bevollmächtigte unbeschränkt Verpflichtungsgeschäfte vornehmen kann, welche die Insolvenzgläubiger sogar mehr schädigen können als Verfügungen. Dies gibt Anlass, das Verhältnis der Regelung über das Eröffnungsverfahren zu § 117 InsO zu überdenken. Dem in der Literatur hervorgehobenen Umstand, dass in der Regelung über das Eröffnungsverfahren nicht auf § 117 InsO verwiesen wird, kommt keine maßgebliche Bedeutung zu. Das Erlöschen der Prokura durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beruht nur in einem positivistischen Sinne auf § 117 Abs. 1 InsO. Im materialen Sinne ist das Erlöschen eine Folge des Wegfalls der Verfügungsbefugnis des Kaufmanns11. Die Prokura beruht auf seinem Vertrauen und unterstützt seine Führung des Handelsgeschäfts. Demzufolge war schon vor der legislatorischen Schaffung von § 117 InsO anerkannt, dass die Eröffnung des Konkursverfahrens zum Erlöschen der Prokura führt12. Sind also Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis vor und nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei Bestellung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters gleich, so sollte auch das Schicksal der Prokura jeweils das gleiche sein. Dabei ist es nicht von Bedeutung, dass im Eröffnungsverfahren die spätere Eröffnung noch nicht endgültig feststeht; eine erloschene Prokura kann ggf. unschwer neu erteilt werden, so dass praktische Probleme nicht zu befürchten sind. Für den Gleichlauf spricht auch, dass der vorläufige Insolvenzverwalter eher mehr denn weniger als der Insolvenzverwalter auf die Mitwirkung des Prokuristen beim Betrieb des Handelsgewerbes angewiesen ist, soweit mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist (§ 115 Abs. 2 InsO). § 117 InsO ist daher bei Bestellung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters entsprechend anzuwenden.

__________ 8 9 10 11 12

OLG Bamberg, InVo 2006, 184, 185 ff. zur Prozessvollmacht. So OLG Bamberg, InVo 2006, 184, 186. OLG Bamberg, InVo 2006, 184, 187. Karsten Schmidt, BB 1989, 229, 234; Canaris, Handelsrecht, 24. Auf. 2006, § 12 Rz. 8. Karsten Schmidt in Kilger, KO, 16. Aufl. 1993, § 23 KO Rz. 8.

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Die handelsrechtliche und versicherungsrechtliche Vertretungsmacht

II. Die Handlungsvollmacht Die für die Prokura festzustellende weitgehende Zielerreichung im Hinblick auf die legislatorisch anzustrebenden Ziele lässt sich der gesetzlichen Regelung über die Handlungsvollmacht nicht attestieren. Im Gegenteil: Die wichtigen Ziele werden klar verfehlt. Auf das Bestehen einer Handlungsvollmacht ist kein Verlass, weil es keinen Registerschutz gibt. Der Rechtsverkehr muss also auf eigenes Risiko aufklären, ob eine Handlungsvollmacht gegeben ist. Es bleibt das typische Risiko einer Innenvollmacht für den Rechtsverkehr bestehen. Hilfreich ist dabei nicht das Handelsrecht, sondern das allgemeine Bürgerliche Recht mit seinen (ungeschriebenen) Regeln über Rechtsscheinvollmachten. Gleiches gilt für den Umfang der Handlungsvollmacht. Zwar gibt § 54 HGB hierfür einige Regeln, die geradezu als Kernstück der Regelung über die Handlungsvollmacht anzusehen sind. Dem Rechtsverkehr ist damit aber wenig geholfen. Der Kaufmann als Vollmachtgeber kann die Handlungsvollmacht mit Wirkung gegenüber Dritten auf eine bestimmte Art von Geschäften oder auf einzelne Geschäfte beschränken. Dem Rechtsverkehr bleibt es wiederum überlassen, insoweit den genauen Inhalt der Handlungsvollmacht festzustellen. Das ist das Gegenteil einer verlässlichen Grundlage für die Handlungsvollmacht. Auch hinsichtlich des genauen Umfangs einer bestehenden Handlungsvollmacht bleibt der Rechtsverkehr weitgehend auf eigene Nachforschungen angewiesen, da sich die Handlungsvollmacht nur auf Rechtshandlungen erstreckt, die das jeweilige Handelsgewerbe des Kaufmanns oder die Vornahme der Geschäfte gewöhnlich mit sich bringt. Dem Rechtsverkehr wird also angesonnen, diesbezügliche Feststellungen zu treffen und Bewertungen vorzunehmen. Das unterscheidet sich nicht wesentlich von der Aufgabe, Bestehen und Umfang einer Vollmacht nach Bürgerlichem Recht aufzuklären: Auch diese wird sich in aller Regel auf gewöhnliche Rechtshandlungen erstrecken. Die gegenüber dem Bürgerlichen Recht besondere Beweislastregelung für noch weitergehende Beschränkungen der Handlungsvollmacht in § 54 Abs. 3 HGB13 wirkt sich hier nicht aus. Die gesetzliche Regelung der allgemeinen Handlungsvollmacht gleicht mithin die für den Rechtsverkehr bestehenden Schwächen des Rechts der Stellvertretung nach Bürgerlichem Recht nicht aus. Die eingangs dargestellten Zielprojektionen haben bei Schaffung des Handelsgesetzbuchs ohnehin keine Rolle gespielt. In der Denkschrift heißt es zu den legislatorischen Zielen der Regelung über die Handlungsvollmacht lapidar, die Regelung schließe sich im Wesentlichen an das (bis dahin) geltende Recht an14. Die Devise, alles beim Alten zu lassen, ist nicht immer die beste Lösung. Der Wegfall der Regelung,

__________ 13 Karsten Schmidt (Fn. 2), § 16 IV. 4. b) sieht darin die hauptsächliche Bedeutung von § 54 HGB. 14 Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs und eines Einführungsgesetzes, abgedruckt bei Schubert/Schmiedel/Krampe, Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Bd. II, Zweiter Halbband, 1988, S. 990.

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so, wie sie nun einmal ist, wäre aus vertretungsrechtlicher Sicht kein großer Verlust15. Was ist zu tun? Die Handlungsvollmacht ist nach allgemeiner Ansicht mangels einer entsprechenden gesetzlichen Regelung nicht in das Handelsregister einzutragen16. Eben darin liegt die crux. Die Registereintragung und der damit verbundene Schutz des guten Glaubens machen den wesentlichen Unterschied zu der unsicheren Lage nach Bürgerlichem Recht aus. Einen zwingenden Grund, die Handlungsvollmacht von der Eintragung im Handelsregister generell auszuschließen, gibt es nicht. Gewiss ist das Register von überflüssigen Eintragungen freizuhalten. Diese Eintragung wäre aber keineswegs überflüssig. Die Ausgestaltung könnte so erfolgen, dass die Handlungsvollmacht eintragungsfähig ist, verbunden mit einer positiven Publizität. Dem Kaufmann würde die Eintragung nicht aufgezwungen; der Rechtsverkehr könnte aber im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage dem Register entnehmen, ob auf das Bestehen der Handlungsvollmacht Verlass ist. Fehlt die Eintragung, so gemahnt dies zur Vorsicht und zeigt dem Rechtsverkehr, dass er weitgehend auf eigenes Risiko handelt, wenn er sich auf die Vollmacht verlässt. Ein unpraktisches Anschwellen der Registereintragungen ist im Hinblick auf die nunmehrige elektronische Führung des Registers auch nicht zu befürchten. Eine entsprechende legislatorische Änderung sollte zugleich die seltsame Dreiteilung der Handlungsvollmacht in Generalhandlungsvollmacht, Arthandlungsvollmacht und Spezialhandlungsvollmacht beseitigen. Sie ist für den Rechtsverkehr schwer durchschaubar und zum Schutz des Kaufmanns nicht nötig. Eine einzige Handlungsvollmacht, die sich auf Rechtshandlungen erstreckt, die der Betrieb eines derartigen Handelsgewerbes gewöhnlich mit sich bringt, genügt vollauf, jedenfalls für eine im Handelsregister eingetragene Handlungsvollmacht. Vor ungewöhnlichen Rechtshandlungen wäre der Kaufmann geschützt und der Rechtsverkehr wäre von weiteren Nachforschungen über den Umfang der Handlungsvollmacht entbunden. Die nach § 54 Abs. 3 HGB für den Kaufmann bestehende Möglichkeit, den Umfang der Handlungsvollmacht weiter einzuschränken, könnte beibehalten werden, da der mit der Registereintragung verbundene Schutz des guten Glaubens die Erreichung des Ziels, dem Rechtsverkehr eine feste Grundlage für die Beurteilung der Vertretungsmacht zu geben, ausreichend gewährleistet. Die Unzulänglichkeit der Regelung der Handlungsvollmacht ist der Grund für die zusätzliche Regelung über die Vollmacht des Ladenangestellten (§ 56 HGB), mit welcher die Insuffizienz der Regelung der Handlungsvollmacht für einen Sonderfall beseitigt wird. Deren legislatorische Formulierung ist zwar arg missglückt und lässt Raum für eine erstaunliche Vielzahl von Deutungsmög-

__________ 15 Nicht von ungefähr wird der Handlungsvollmacht attestiert, sie sei nichts als eine normale Vollmacht mit minimalen Besonderheiten: Canaris (Fn. 11), § 13 Rz. 1. 16 Karsten Schmidt (Fn. 2), § 16 IV. 2. a) dd); Weber in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2008, § 54 HGB Rz. 6.

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Die handelsrechtliche und versicherungsrechtliche Vertretungsmacht

lichkeiten17. Die Bestimmung ist aber der Regelung über die Handlungsvollmacht insofern klar überlegen, als sie jedenfalls einen Verkehrsschutz gewährt18, so dass sich der gutgläubige Rechtsverkehr auf die Vertretungsmacht verlassen kann. Dieses Regelungsziel wird für die Ladenvollmacht ohne Eintragung im Handelsregister durch die bloße Bezugnahme auf alle Ladenangestellten erreicht. Für die allgemeine Handlungsvollmacht ist ein solcher Weg nicht gangbar. Der Rechtsverkehr kann nicht davon ausgehen, dass alle Mitarbeiter im Betrieb des Handelsgewerbes eine Vertretungsmacht im Umfang einer Handlungsvollmacht haben; eine entsprechende allgemeine Verkehrsschutzregelung wäre dem Kaufmann nicht zumutbar. Erst die auf eine bestimmte Person bezogene Verlautbarung seiner Entscheidung, Vertretungsmacht zu erteilen, rechtfertigt einen Verkehrsschutz. Die geeignete Grundlage dafür ist die Eintragung im Handelsregister.

III. Die Vollmacht des Versicherungsvertreters 1. Die Entstehungsgrundlage der Vertretungsmacht Eine Spezialregelung zur Handlungsvollmacht19 ist die besondere Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters. Nach der ursprünglichen Fassung des Versicherungsvertragsgesetzes galt ein Versicherungsagent (dieser schöne Ausdruck ist im Jahre 2006 durch die Bezeichnung Versicherungsvertreter ersetzt worden) als bevollmächtigt zu allerlei Rechtshandlungen wie etwa der Entgegennahme von Versicherungsverträgen oder Kündigungs- und Rücktrittserklärungen des Versicherungsnehmers (§ 43 VVG a. F.). Bereits unter dem früheren Recht war streitig, wie die Entstehung einer derartigen Vertretungsmacht zu erklären war. Im Wesentlichen20 standen sich zwei Auffassungen gegenüber. Die eine nahm eine Vertretungsmacht kraft Gesetzes an21, also eine gesetzliche Vertretungsmacht. Die andere, insbesondere von Hans Möller vertretene Ansicht ging von einer durch Rechtsgeschäft entstehenden Vertretungsmacht aus22. Sie wahrte in verdienstvoller Weise den Zusammenhang mit dem privatrechtlichen Vertretungsrecht und der Handlungsvollmacht. Ohne Probleme war sie aber nicht. Sie wurde damit erklärt, dass die Bevollmächtigung nach § 43 VVG a. F. damit verbunden war, dass der Versicherungsagent mit der Vermittlung (und dem Abschluss) von Versicherungsgeschäften von dem Versicherer betraut war23. Nach dem vertretungsrechtlichen Trennungsprinzip beruht die Vollmacht aber nicht auf dem mit der Vermittlungsbetrauung angesprochenen Innenverhältnis zwischen Versicherungsvertreter

__________ 17 S. dazu Karsten Schmidt (Fn. 2), § 16 V. 2. a); Canaris (Fn. 11), § 14 Rz. 1 ff.; Joost in Staub (Fn. 3), § 56 HGB Rz. 4. 18 Karsten Schmidt (Fn. 2), § 16 V. 2. a). 19 S. Bruck/Möller, VVG, 8. Auf. 1961, § 43 VVG Anm. 25. 20 Zu weiteren Ansichten s. Bruck/Möller (Fn. 19), § 43 VVG Anm. 3. 21 Kollhosser in Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl. 2004, § 43 VVG Rz. 16. 22 Bruck/Möller (Fn. 19), § 43 VVG Anm. 3. 23 Bruck/Möller (Fn. 19), § 43 VVG Anm. 3.

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und Versicherer, sondern auf dem selbstständigen Rechtsakt der Vollmachtserteilung. Dieser Akt setzt einen entsprechenden Erklärungswillen des Versicherers voraus. Hat er diesen Willen erkennbar nicht, so entsteht rechtsgeschäftlich keine Vollmacht, so dass auch deren Umfang gesetzlich nicht festgelegt werden kann. Es war aber unzweideutig der Zweck von § 43 VVG a. F., der Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters eine feste, für den Versicherungsnehmer verlässliche Grundlage auch dann zu geben, wenn ein Bevollmächtigungswille des Versicherers nicht feststellbar war. Auf rein rechtsgeschäftlicher Grundlage war das allenfalls zu erreichen, wenn der Schutz des guten Glaubens, der sich nach § 47 VVG a. F. nur auf Beschränkungen bezieht, auch auf die gänzliche Nichterteilung und damit den Ausschluss der Vollmacht erstreckt wird. Diese Probleme wurden vermieden, wenn die Vertretungsmacht nach früherem Recht als auf dem Gesetz beruhend angesehen wurde. Bezeichnenderweise hieß es in der Entwurfsbegründung denn auch, dass die Befugnisse des Agenten ihm „durch das Gesetz“ beigelegt seien24. Wie dem auch sei: In die Neufassung des Versicherungsvertragsgesetzes aus dem Jahre 2007 ist die frühere Regelung zwar sachlich übernommen worden, aber mit keineswegs unerheblichen Änderungen. Nach § 69 VVG gilt der Versicherungsvertreter wiederum zu allerlei Rechtshandlungen „als bevollmächtigt“. Auf die Betrauung mit der Vermittlung (oder dem Abschluss) von Versicherungsgeschäften wird in der Bestimmung nicht mehr eigens abgestellt; sie gehört aber ohnehin zum Begriff des Versicherungsvertreters (§ 59 Abs. 2 VVG). Diese Bevollmächtigung wird in der (neuen) amtlichen Überschrift zu § 69 VVG als „gesetzliche Vollmacht“ bezeichnet. Die Bezeichnung ist perplex. Die Vollmacht ist legaliter exklusiv definiert als eine durch Rechtsgeschäft erteilte Vertretungsmacht (§ 166 Abs. 2 Satz 1 BGB), also das genaue Gegenteil einer kraft Gesetzes ohne rechtsgeschäftlichen Erklärungswillen entstehenden Vertretungsmacht. Es ist müßig, die Formulierung in § 69 VVG als Fehlbezeichnung zu kritisieren oder sie als eine Aufgabe des Definitionsmonopols von § 166 Abs. 2 Satz 1 BGB zu verstehen. Die legislatorische Absicht gelangt jedenfalls im Gesetz klar zum Ausdruck: Der Versicherungsvertreter hat kraft Gesetzes25 eine Vertretungsmacht wie bei einer Bevollmächtigung, ohne dass es auf einen entsprechenden Erklärungswillen des Versicherers ankommt. Es handelt sich um eine gesetzliche Vertretungsmacht als Folge der Betrauung mit Versicherungsgeschäften, welche die Wirkungen einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht hat. 2. Die Beschränkung der Vertretungsmacht Die kraft Gesetzes bestehende Vertretungsmacht unterliegt, wie schon nach früherem Recht (§ 47 VVG a. F.), der rechtsgeschäftlichen Beschränkung. Im

__________

24 Begründung der Reichstagsvorlage, 1906, S. 57. 25 So auch ausdrücklich die Begründung des Regierungsentwurfs, BT−Drucks. 16/3945, S. 77. Dort wird aber widersprüchlich auch von einer „vertraglichen Vertretungsbefugnis“ gehandelt; damit werden die Vertretungsmacht kraft Gesetzes und das vertragliche Innenverhältnis miteinander verwechselt.

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Gesetz gelangt dies freilich nicht unmittelbar zum Ausdruck, sondern erschließt sich nur mittelbar. Die Beschränkbarkeit als solche wird im Gesetz nicht eigens geregelt. In § 69 Abs. 2 Satz 2 VVG wird aber im Falle einer Beschränkung ein Schutz des guten Glaubens des Versicherungsnehmers vorgesehen. Außerdem schließt § 72 VVG eine Beschränkung der Vertretungsmacht durch allgemeine Versicherungsbedingungen aus. Das ergibt nur einen Sinn, wenn die Vertretungsmacht überhaupt rechtsgeschäftlich beschränkbar ist. Die sachliche Rechtfertigung der Beschränkungsmöglichkeit liegt darin, dass die Verhältnisse bei den einzelnen Versicherern sehr unterschiedlich sein können26. Eine Beschränkung der Beschränkung sieht das Gesetz nicht vor. Es kann daher ggf. sogar der gänzliche Ausschluss der Vertretungsmacht erklärt werden27. Die Beschränkung erfolgt durch eine entsprechende Erklärung des Versicherers, die sich auf die Vertretungsmacht als solche beziehen muss; rein interne Bindungen des Versicherungsvertreters im Innenverhältnis zum Versicherer genügen dafür nicht. Im Gesetz ist auch nicht unmittelbar geregelt, auf welche Weise genau die Beschränkung der Vertretungsmacht erfolgen kann. Da eine Vertretungsmacht wie bei einer rechtsgeschäftlichen Bevollmächtigung bestehen soll, kann die Beschränkung wie bei einer (echten) Vollmacht einseitig durch den Versicherer erfolgen28. Erklärungsempfänger kann der Versicherungsvertreter29 oder der Versicherungsnehmer sein. Dafür kann an § 168 Satz 3 BGB angeknüpft werden, wonach ungeachtet der Entstehungsart der Vertretungsmacht (Innenvollmacht oder Außenvollmacht) der Widerruf der Vertretungsmacht dem Vertreter oder dem Dritten erklärt werden kann. Die erwähnte Regelung in § 72 VVG über den Ausschluss einer Beschränkung der Vertretungsmacht durch Allgemeine Versicherungsbedingungen ist durch die Reform des Jahres 2007 neu in das Gesetz aufgenommen worden und ohne Vorbild im vorherigen Versicherungsvertragsgesetz. Die Aufnahme beruht darauf, dass der Bundesgerichtshof Beschränkungen der Vertretungsmacht in Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Inhaltskontrolle nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterwirft30. Sensu stricto liegt aber keine Allgemeine Versicherungsbedingung bzw. Allgemeine Geschäftsbedingung vor. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei der anderen Vertragspartei bei Abschluss des Vertrages stellt, § 305 Abs. 1 BGB. Die Beschränkung der Vertretungsmacht des Versicherungs-

__________ 26 Begründung der Reichstagsvorlage, 1906, S. 57. 27 So schon zum früheren Recht für § 43 Nr. 2 VVG a. F. Kollhosser in Prölss/Martin (Fn. 21), § 47 VVG Rz. 1. 28 In der Begründung des Regierungsentwurfs wird demgegenüber von einer Vereinbarung zwischen Versicherer und Versicherungsvertreter ausgegangen, BT-Drucks. 16/3945, S. 78. Nach Reiff, VersR 2007, 717, 728 soll eine Individualvereinbarung nach § 305 Abs. 1 BGB nötig sein, also eine Vereinbarung mit dem Versicherungsnehmer. 29 Vgl. § 47 VVG a. F., wo der Versicherungsnehmer bezüglich der Beschränkung der Vertretungsmacht des Versicherungsagenten als „Dritter“ angesehen wird. 30 BGH, NJW 1999, 1633, 1635 m. w. N.; BGHZ 141, 137, 150 ff. m. w. N.

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vertreters ist keine Vertragsbedingung und nicht Inhalt des Versicherungsvertrages. Sie erfolgt vielmehr durch eine einseitige Erklärung des Versicherers, mit der er eine gesetzliche Befugnis seines Vertreters beschränkt. Sie bedarf keineswegs des für die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen notwendigen Einverständnisses des Vertragspartners (§ 305 Abs. 2 BGB). Die formale Aufnahme der Beschränkungserklärung in die Allgemeinen Versicherungsbedingungen ändert daran materiell nichts. Sie dient der Erklärung bzw. Offenlegung der Beschränkung. Die Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, dass die formularmäßige Beschränkung der Vertretungsmacht in die Rechtsposition des Versicherungsnehmers, wie sie sich aus der gesetzlichen Vertretungsmacht ergibt, eingreift, also nicht wie bei einer gewöhnlichen Vollmachtsbeschränkung nur das Vertretungsverhältnis regelt. Hierin liegt in der Tat ein Unterschied, der aber nicht den Begriff der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ändern kann. Es handelt sich vielmehr um eine (verdeckte) Analogie wegen einer gleichen Interessenlage. Für das neue Recht ist die Frage nicht mehr von Bedeutung. Zwar heißt es im Gesetz, dass eine Beschränkung der Vertretungsmacht „durch“ Allgemeine Versicherungsbedingungen unwirksam ist. Durch Allgemeine Versicherungsbedingungen wird die Vertretungsmacht nicht beschränkt, da eine Allgemeine Versicherungsbedingung insoweit begrifflich eben nicht vorliegt. Die Beschränkung erfolgt in Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Das gesetzliche Regelungsziel bezieht sich aber unzweideutig auch darauf31. Mit dem Wegfall der Möglichkeit zur Regelung in Allgemeinen Versicherungsbedingungen entfällt zugleich die Möglichkeit der Inhaltskontrolle nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. 3. Der Schutz des guten Glaubens Nach dem Versicherungsvertragsgesetz in der ursprünglichen Fassung wurde dem Versicherungsnehmer ein weit reichender Schutz des guten Glaubens an die Unbeschränktheit der Vertretungsmacht des Versicherungsagenten gewährt. Beschränkungen der Vertretungsmacht brauchte ein Dritter und damit der Versicherungsnehmer gemäß § 47 VVG a. F. nur gegen sich gelten zu lassen, wenn er die Beschränkung bei der Vornahme des Geschäfts oder der Rechtshandlung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Der Schutz des guten Glaubens betraf alle Beschränkungen der dem Versicherungsagenten gesetzlich eingeräumten Vertretungsmacht. Eine gleiche Bestimmung enthält das neue Versicherungsvertragsgesetz nicht mehr. Die frühere Bestimmung wird in der Begründung des Regierungsentwurfs zwar zitiert, dann aber in unverständlicher Weise mit dem generellen Ausschluss einer Beschränkung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen ver-

__________ 31 BT-Drucks. 16/3945, S. 78: Beschränkungen „über die AVB“ sollen nicht entgegen gehalten werden können.

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quickt. Legislatorisch bestand wohl die Auffassung, der Ausschluss der Beschränkung in Allgemeinen Versicherungsbedingungen sei zum Schutz des Versicherungsnehmers ausreichend. Das ist jedoch nicht der Fall, da die Beschränkung auch anders als in Allgemeinen Versicherungsbedingungen gegenüber dem Versicherungsnehmer erklärt werden kann, nämlich getrennt davon gegenüber dem Versicherungsvertreter. Bezeichnenderweise enthält das neue Gesetz, diese Möglichkeit offenbar voraussetzend, eine singuläre Bestimmung über den Schutz des guten Glaubens. Nach § 69 Abs. 2 Satz 2 VVG muss ein Versicherungsnehmer eine Beschränkung der Vertretungsmacht zur Annahme von Zahlungen nur gegen sich gelten lassen, wenn er die Beschränkung bei der Vornahme der Zahlung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Diese Regelung ist schon vor der Neufassung des Versicherungsvertragsgesetzes im Jahre 2006 als § 42f Abs. 1 in das Versicherungsvertragsgesetz aufgenommen worden. Die Einfügung beruht auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 lit. a) der Richtlinie der Europäischen Union vom 9. Dezember 200232 (Richtlinie 2002/92/EG; Vermittlerrichtlinie), wonach die Kunden davor zu schützen sind, dass der Versicherungsvermittler nicht in der Lage ist, die Prämie an den Versicherer weiterzuleiten; dies geschieht durch die Einführung der gesetzlichen Empfangsvollmacht des Versicherungsvermittlers, die dazu führt, dass die Prämienzahlung an den Versicherungsvermittler gegenüber dem Versicherer eine Erfüllung des Zahlungsanspruchs bewirkt. Die gesetzliche Regelung ist augenscheinlich wegen der europarechtlichen Vorgabe unverändert in das neue Versicherungsvertragsgesetz übernommen worden. Ob sie insofern, als sie den Versicherungsnehmer nicht schützt, wenn er die Beschränkung der Vertretungsmacht infolge grober Fahrlässigkeit nicht kennt, noch richtlinienkonform ist, soll hier nicht beurteilt werden. Trotz ihres europarechtlichen Hintergrundes ist sie jedenfalls eine Regelung nationalen Rechts und damit in das nationale Recht einzupassen. Weshalb nun aber der Schutz des guten Glaubens an die Vertretungsmacht bei Zahlungen richtig ist, nicht aber wie früher auch den Regelungsbereich von § 69 Abs. 1 VVG umfasst, ist nicht ersichtlich und erschließt sich aus der Begründung des Regierungsentwurfs nicht. Ein Hauptanliegen der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes war eine Stärkung des Versicherungsnehmers im Sinne eines modernen Verbraucherschutzrechts. Dieses Ziel würde partiell verfehlt, wenn es bei der Ersetzung der allgemeinen Bestimmung über den Schutz des guten Glaubens (§ 47 VVG a. F.) durch das Verbot von Beschränkungen der Vertretungsmacht in Allgemeinen Versicherungsbedingungen (§ 72 VVG) bliebe. Dies und der allgemeine Gleichheitssatz sprechen dafür, eine unbeabsichtigte Regelungslücke anzunehmen und durch Analogie zu § 69 Abs. 2 Satz 2 VVG zu schließen. Erst damit wird das Ziel erreicht, dem Versicherungsnehmer eine verlässliche Grundlage für die Beurteilung der Vertretungsmacht zu geben.

__________ 32 ABl. EG Nr. L 9, S. 3.

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IV. Rechtsgeschäftliche Vollmacht und gesetzliche Vertretungsmacht Worauf beruht der Dualismus von rechtsgeschäftlich erteilter Handlungsvollmacht und gesetzlich eingeräumter Vertretungsmacht im Sonderfall der Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters? Im Sinne der eingangs formulierten legislatorischen Ziele ist die Ausgangslage für beide Vertretungsmächte völlig gleich: Die Vertretungsmacht muss bestehen, die Beschränkbarkeit ihres Umfangs muss geregelt und der Schutz des guten Glaubens muss gewährleistet werden. Im Hinblick darauf sind die beiden Erscheinungsformen der Vertretungsmacht funktional austauschbar, weil die Ziele mit beiden Gestaltungen erreicht werden können, insbesondere auch die gesetzliche Vertretungsmacht dispositiv ausgestaltet und damit wie die rechtsgeschäftliche Vollmacht der privatautonomen Bestimmung des Vertretenen unterstellt werden kann, sofern es sich nicht wie bei einer organschaftlichen Vertretungsmacht um einen zwingend festgelegten Umfang handelt. Man muss sich also darüber klar werden, dass der Unterschied zwischen rechtsgeschäftlicher Vollmacht und gesetzlicher Vertretungsmacht dogmatisch groß, funktional aber klein ist. Von einer gesetzlichen Vertretungsmacht sollte aber nur dann ausgegangen werden, wenn im Rahmen der festgelegten tatsächlichen Voraussetzungen für das Entstehen der gesetzlichen Vertretungsmacht die Annahme einer Vertretungsmacht für alle darunter fallenden Personen interessengerecht ist. So liegt es in der Tat bei der Vertretungsmacht des Versicherungsvertreters. Der Versicherungsvertreter ist damit betraut, gewerbsmäßig Versicherungsverträge zu vermitteln oder abzuschließen. Die Handlungen, für die nach § 69 Abs. 1 VVG Vertretungsmacht besteht, betreffen die typische Tätigkeit des Versicherungsvertreters, mit der er betraut ist. Interessengerecht ist diese gesetzliche Vertretungsmacht auch gegenüber dem Versicherer, weil ihr Umfang vergleichsweise schmal ist. Dem Versicherer wird nichts oktroyiert, was nicht ohnehin schon mit der Betrauung mit der Vermittlung oder den Abschlüssen von Versicherungsverträgen im Außendienst sinnvollerweise verbunden ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Vertretungsmacht des Ladenangestellten nach § 56 HGB erklären und systematisch einordnen. Von einigen Autoren wird diese Vertretungsmacht als gesetzliche Vertretungsmacht beurteilt33, eine Auffassung, die der Jubilar bündig abgelehnt hat34. Aus funktionaler Sicht ist eine gesetzliche Vertretungsmacht durchaus möglich, da die rechtsgeschäftliche Vollmacht und die gesetzliche Vertretungsmacht funktional austauschbar sind. Indessen liegen die Voraussetzungen dafür, dass eine gesetzliche Vertretungsmacht interessengerecht ist, nicht vor. Es ist nicht so, dass normalerweise und regeltypisch das gesamte, in einem Laden beschäftigte Personal mit

__________ 33 In neuerer Zeit vor allem Krebs in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2005, § 56 HGB Rz. 5; früher bereits Weimar, MDR 1968, 901; Hadding, JuS 1976, 729; Th. Honsell, JA 1984, 22 (den aber Karsten Schmidt (Fn. 2), § 16 V. 2. anders versteht); aus der Rechtsprechung BGH, NJW 1975, 642, 643: „gesetzliche Ermächtigung“. 34 Karsten Schmidt (Fn. 2), § 16 V. 2.: „Sicherlich handelt es sich nicht um eine gesetzliche Vertretungsmacht“.

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Die handelsrechtliche und versicherungsrechtliche Vertretungsmacht

dem Abschluss und der inhaltlichen Ausgestaltung (wenn auch nur im Rahmen des Gewöhnlichen) von Verkaufsverträgen betraut ist. Die Entscheidung darüber, welcher Person eine derart weitgehende Stellung eingeräumt wird, obliegt vielmehr regeltypisch dem Kaufmann als Geschäftsinhaber. Der Interessenlage entspricht daher eine Regelung, die auf der Erteilung einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht mit Erklärungswillen des Kaufmanns beruht.

V. Überblick Was hat der Streifzug ergeben? Es ist unübersehbar, dass die Gesetzgebung konzeptionelle Überlegungen zu stark vernachlässigt. Die verlässliche Feststellbarkeit des Bestehens und des Umfangs einer Vertretungsmacht ist für den Handelsverkehr von ganz erheblicher Bedeutung. In diesem Sinne kann von einer Zielerreichung nur bei der Regelung der Prokura gesprochen werden. Die Handlungsvollmacht genügt dagegen konzeptionellen Erwägungen nicht. Die Regelung der Handlungsvollmacht ist eine Festschreibung eines vor langer Zeit erreichten Rechtszustandes, der gegenüber der Regelung des Vertretungsrechts im Bürgerlichen Recht keine entscheidenden Vorteile mehr bringt. Bei der Vollmacht des Ladenangestellten wird man sogar sagen müssen, dass eine befriedigende legislatorische Konzeption nicht erkennbar ist, so dass die Ausdeutung von § 56 HGB weitgehend ohne diese Bestimmung auskommen muss. An der Vollmacht des Versicherungsvertreters schließlich zeigt sich, dass auch die neueste Gesetzgebung konzeptionellen Erwägungen viel zu wenig Beachtung schenkt. Die Regelung weist im Grundsätzlichen zu viele Unklarheiten auf, als das sie aus konzeptioneller Sicht als geglückt bezeichnet werden kann. Das Ziel, eine verlässliche Feststellbarkeit des Bestehens und des Umfangs der Vertretungsmacht herbeizuführen, wird verfehlt.

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Die Business Judgment Rule – ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts? – Zur Geltung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG außerhalb des Aktienrechts –

Inhaltsübersicht I. Herrschende Meinung und die Ansicht von Karsten Schmidt II. Tragende und weniger überzeugende Argumente für die haftungsrechtliche Privilegierung von Geschäftsleitern 1. Acht klassische Rechtfertigungsversuche 2. Kritische Würdigung a) Vergleich zum Haftungsmaßstab anderer Entscheidungsträger b) Vergleich zur Geschäftsleiterhaftung im Außenverhältnis III. Das Interesse der Gesellschafter an risikoneutral agierenden Geschäftsleitern als zentraler Rechtfertigungsgrund der Business Judgment Rule 1. Diversifikation und risikoreiche Investitionsentscheidungen – ein Beispielsfall 2. Folgerungen a) Grenzen der mit der Business Judgment Rule einhergehenden Privilegierung der Geschäftsleiter b) Erneuter Vergleich zur Haftung von anderen Entscheidungsträgern und zur Außenhaftung

c) Bestehen der Haftung gegenüber dem Verband als Gegenargument? IV. Zwischenergebnis: kein Institut des allgemeinen Verbandsrechts V. Zur Geltung der Business Judgment Rule im Körperschaftsrecht und in Sonderkonstellationen 1. Differenzierung nach Art und Struktur des Unternehmens? a) Die nahe liegenden Konsequenzen b) Die Probleme der Abgrenzung in der Praxis und der Gesellschaften mit heterogener Gesellschafterstruktur 2. Konsequenzen einer rechtsformabhängigen Typisierung der Unternehmenseignerstruktur a) Aktienrecht b) GmbH-Recht c) Immobilienfonds in der Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts d) GmbH & Co. KG e) Andere körperschaftliche Rechtsformen VI. Summa

I. Herrschende Meinung und die Ansicht von Karsten Schmidt Als der Gesetzgeber die Business Judgment Rule im Jahr 2005 zum Bestandteil des geschriebenen Rechts machte, war sie jedenfalls seit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des Bundesgerichtshofs1 der Sache nach längst als Bestand-

__________ 1 BGHZ 135, 244.

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teil des deutschen Aktienrechts anerkannt2. Positivrechtlich verankert ist sie zwar auch heute nur in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, doch geht die ganz herrschende Meinung davon aus, diese Vorschrift sei zumindest auf das Recht der GmbH3 und der Genossenschaft4 analog anzuwenden. Selbst für den Verein und für die Stiftung lassen sich Stimmen finden, die in diese Richtung gehen5, und ganz ähnlich lauten Aussagen zur GmbH & Co. KG6. Die Business Judgment Rule wird teilweise sogar ohne viel Federlesens „auf die Leitungsorgane aller wirtschaftlich handelnden Gesellschaften“ erstreckt7, und nach Auffassung des Gesetzgebers findet sich der „Grundgedanke eines Geschäftsleiterermessens … in allen Formen unternehmerischer Betätigung“8. So überrascht es wenig, wenn die Business Judgment Rule mitunter sogar als „rechtsformübergreifendes Prinzip“9 oder als „Sachgesetzlichkeit unternehmerischen Entscheidens“10 erachtet wird. All das legt nahe, die Business Judgment Rule als ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts zu begreifen. Allein: Ausgerechnet der Jubilar, dem es in seinem wissenschaftlichen Oeuvre stets um Institutionenbildung und gerade im Gesellschaftsrecht um die Herausarbeitung von „Allgemeinen Lehren“11 geht, zeigt Zurückhaltung in der Frage, ob Geschäftsleiter unabhängig von der Rechtsform des Unternehmensträgers durch die Business Judgment Rule geschützt werden. Zwar erkennt Karsten Schmidt in der Business Judgment Rule eine „Vernunftregel“12. Doch zugleich betont er schon im Hinblick auf das GmbH-Recht, dass „der Geschäftsführer viel stärker an das Vertrauen der Gesellschafter gebunden und in weit größerem Maße gehalten ist, deren Konsens

__________ 2 Vgl. Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827, 836 f.; ders. in Spindler/Stilz, 2007, § 93 AktG Rz. 55; Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 297 f.; Lutter, ZIP 2007, 841; vgl. hingegen noch Hopt in FS Mestmäcker, 1996, S. 909, 920 f.; Abeltshauser, Leitungshaftung im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 161 ff. 3 Vgl. nur Altmeppen in Roth/Altmeppen, 5. Aufl. 2005, § 43 GmbHG Rz. 8; Hommelhoff/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 16. Aufl. 2004, § 43 GmbHG Rz. 14; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, 2006, § 43 GmbHG Rz. 22 und 52; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 23; Fleischer, ZIP 2004, 685, 692; ders., GmbHR 2008, 673, 679; im Ergebnis auch U. H. Schneider in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 43 GmbHG Rz. 54; zurückhaltender und differenzierender Kuntz, GmbHR 2008, 121 ff. – Vgl. zum GmbH-Recht auch BGHZ 152, 280, 284; LG Stuttgart, GmbHR 2003, 835, 836. 4 Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, 3. Aufl. 2007, § 34 GenG Rz. 1. 5 v. Hippel, Grundprobleme von Nonprofit-Organisationen, 2007, S. 88; Hüttemann/ Herzog in Walz/Hüttemann/Rawert, Non Profit Law Yearbook 2006, 2007, S. 33, 37 ff.; vgl. dagegen aber Lee, 103 Colum. L. Rev. 925 (2003); Eichler, Haftung von Vorstandsmitgliedern einer Stiftung, Diss. Hamburg (im Erscheinen), passim. 6 Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 10. Aufl. 2005, § 9 Rz. 22. 7 Berger/Frege, ZIP 2008, 204. 8 BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 9 Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 2), § 43 GmbHG Rz. 22. 10 Arbeitskreis „Externe und interne Überwachung der Unternehmung“ der Schmalenbach Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., DB 2006, 2189, 2190; ähnlich auch Fleischer, ZIP 2004, 685, 692. 11 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, §§ 1–21. 12 Karsten Schmidt (Fn. 11), § 28 II 4 a).

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Die Business Judgment Rule – ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts?

in schwierigen Ermessensentscheidungen einzuholen“13. Damit zweifelt Karsten Schmidt einmal mehr zu Recht die herrschende Meinung an: Hier wird zu zeigen sein, dass die Business Judgment Rule nicht als Institut des allgemeinen Verbandsrechts verstanden werden kann und dass sich entgegen der ganz herrschenden Meinung die analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG außerhalb des Aktienrechts verbietet.

II. Tragende und weniger überzeugende Argumente für die haftungsrechtliche Privilegierung von Geschäftsleitern Die gerichtliche Überprüfung von Prognosen und Ermessensentscheidungen ist stets schwierig. Häufig beschränkt sie sich auf die Frage, ob bestimmte Prozeduren – zum Beispiel hinreichende Dokumentations- oder Aufklärungsstandards – eingehalten wurden. Zudem ist es häufig angezeigt, Entscheidungsträgern einen Ermessensspielraum einzuräumen. Doch das ist nicht das Thema14. Die Business Judgment Rule schafft einen weitergehenden Schutz15: Sie nimmt bestimmte Entscheidungen ganz von einer gerichtlichen Kontrolle aus, indem sie unter bestimmten Voraussetzungen objektiv pflichtgemäßes Verhalten der Geschäftsleiter unwiderleglich vermutet. Anders als in vielen anderen Rechtsgebieten entsteht damit ein echter und für die Praxis bedeutsamer Unterschied zwischen dem „Standard of Conduct“, der Geschäftsleitern abzuverlangen ist, und dem „Standard of Review“, den Gerichte anlegen16. Auf diese Weise wird – freilich wird das zum Teil anders gesehen17 – für die Geschäftsleiter ein echter „Safe Harbor“ geschaffen, denn wann immer die in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG enthaltenen Voraussetzungen vorliegen, besteht für die Geschäftsleiter keine Haftungsgefahr. Doch selbst wenn der Schutz durch die Business Judgment Rule nicht greift, liegt deswegen nicht automatisch eine Pflichtverletzung vor18. Mit anderen Worten: Das Anlegen im Hafen ist sicher, aber auch

__________ 13 Karsten Schmidt (Fn. 11), § 36 II 4 a). 14 Vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Lohse, Unternehmerisches Ermessen, 2005, passim, die verwaltungsrechtliche Fehlerlehre und das Konzept der negativen Kontrolle auf die Entscheidungen des Vorstands zu übertragen. 15 Vgl. dazu, dass Ermessensspielraum und Business Judgment Rule auseinander zu halten sind, nur Hopt/M. Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1992 ff., § 93 Abs. 1 Satz 2 u. 4 AktG n. F. Rz. 48 ff. 16 Grundlegend Eisenberg, 62 Fordham L. Rev. 437 (1993); vgl. auch Allen/Jacobs/ Strine, 56 Bus. Law 1287, 1295 f. (2001). 17 Vgl. Hopt/M. Roth in Großkomm.AktG (Fn. 15), § 93 Abs. 1 Satz 2 u. 4 AktG n. F. Rz. 12 m. w. N.; vgl. auch Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2068 f. 18 Zutreffend Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 4c; Krieger/Sailer in Karsten Schmidt/Lutter, 2008, § 93 AktG Rz. 11; Fleischer, ZIP 2004, 685, 689; pointiert zum US-Recht Bainbridge, 57 Vand. L. Rev. 83 (2004); vgl. ferner Allen/Jacobs/Strine, 56 Bus. Law 1287, 1295 f. (2001); Miller/Rutledge, 30 Del. J. Corp. L. 343, 352 ff. (2005); Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 167 ff. – Aus diesem Grunde kritisch in Bezug auf die Business Judgment Rule Lohse (Fn. 14), S. 257 ff.

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ein Ankern außerhalb der schützenden Hafenmauern bedeutet nicht zwangsläufig den Untergang. 1. Acht klassische Rechtfertigungsversuche Betrachten wir die für die Business Judgment Rule typischerweise vorgebrachten Rechtfertigungsgründe19, um ermessen zu können, ob sie tatsächlich für alle Gesellschaftsformen überzeugen: Erstens seien, so wird häufig argumentiert, unternehmerische Entscheidungen komplex; sie hingen zwangsläufig von Prognosen ab und seien daher typischerweise mit Unsicherheiten behaftet20. Zudem seien sie in der Regel einzigartig21 und verlangten dem Geschäftsleiter, der als Mensch in der konkreten Entscheidungssituation gesehen werden müsse, viel unternehmerische Intuition, mitunter auch Phantasie22 und Emotion23 ab. Zweitens seien die zur Überprüfung von unternehmerischen Entscheidungen berufenen Richter nicht die besseren oder erfahreneren Geschäftsleiter24, zumal sie – drittens – aus der ex post-Perspektive urteilen müssten, was stets die Gefahr von Rückschaufehlern mit sich bringe (hindsight bias)25. Wenn die Haftungsgefahren durch eine zu strenge gerichtliche Kontrolle unternehmerischer Entscheidungen zu groß seien, würde viertens kaum noch jemand den Job eines Managers übernehmen26 bzw. würden die sog. D&O-Versicherungen unbezahlbar.

__________ 19 Vgl. Block/Barton/Radin, The Business Judgment Rule, 5. Aufl. 1998, S. 12 ff.; Letsou, 77 Chi.-Kent L. Rev. 179, 181 f. (2001); Hopt/M. Roth in Großkomm.AktG (Fn. 15), § 93 Abs. 1 Satz 2 u. 4 AktG n. F. Rz. 8; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung und unternehmerisches Ermessen, 2001, S. 21 ff. (jeweils m. w. N.). 20 Kennedy, 52 Geo. Wash. L. Rev. 624, 633 f. (1984); Smith v. Brown-Borhek Co., 200 A.2d 398, 401 (Pa. 1964); vgl. auch BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 21 Eisenberg, 51 U. Pitt. L. Rev. 945, 964 (1990); ähnlich U. H. Schneider in Scholz (Fn. 3), § 43 GmbHG Rz. 52; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 93 AktG Rz. 24. 22 Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 23 Greenfield/Nilsson, 63 Brook. L. Rev. 799, 831 ff. (1997). 24 International Insurance Co. v. Johns, 874 F.2d 1447, 1458 (in Fn. 20) (11th Cir. 1989); Kamen v. Kemper Financial Services Inc., 908 F.2d 1338, 1343 (7th Cir. 1990); Federal Deposit Insurance Corporation v. Stahl, 89 F.3d 1510, 1517 (11th Cir. 1996); Fischel, 35 Vand. L. Rev. 1259, 1288 (1982); Fleischer in FS Wiedemann (Fn. 2), S. 827, 831; vgl. auch Auerbach v. Bennett, 47 N.Y. 2d 619, 630 (1979); In re Caremark International Inc. Derivative Litigation, 698 A.2d 959, 967 (Del. Ch. 1996); Posner, 94 Nw. U. L. Rev. 749, 758 (2000); deutlich auch schon Dodge v. Ford Motor Co. 170 N.W. 668, 684 (Mich. 1919): „The judges are not business experts.“ 25 Joy v. North, 692 F.2d 880, 886 (2nd Cir. 1982), cert. denied, 460 U.S. 1051 (1983); vgl. auch Bainbridge, Corporation Law and Economics, 2002, S. 260; Fleischer, ZIP 2004, 685, 686; Arkes/Schipani, 73 Or. L. Rev. 587 (1994). – Grundlegend zu Rückschaufehlern in Gerichtsentscheidungen Fischhoff, 1 Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance 288 (1975); vgl. zu empirischen Studien aus jüngerer Zeit Guthrie/Rachlinski/Wistrich, 86 Cornell L. Rev. 777, 799 ff. (2001). 26 Saltoun, 29 B.C.L. Rev. 481, 492 (1988); Davis, 2000 Wis. L. Rev. 573, 575; vgl. auch Air Line Pilots Association v. UAL Corp., 717 F. Supp. 575, 582 (N.D. Ill. 1989), affirmed, 897 F.2d 1394 (7th Cir. 1990).

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Die Business Judgment Rule – ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts?

Fünftens sei es prägender Grundsatz des Kapitalgesellschaftsrechts – in Deutschland jedenfalls des Aktienrechts –, dass die Leitung des Unternehmens den Geschäftsleitern und gerade nicht den Gesellschaftern zugeordnet sei27. Sechstens griffen im Gesellschaftsrecht andere Kontrollmechanismen, sodass eine drohende Haftung zur Disziplinierung der Geschäftsleiter gar nicht sonderlich wichtig sei28: Bei den „internen“ Kontrollmechanismen sei an die Möglichkeit der Abberufung und an die Änderung/Neuverhandlung des Anstellungsvertrages zu denken29, bei den „externen“ an die Kontrolle durch den Kapitalmarkt – Schlagworte sind: Unternehmensbewertung sowie Gefahr von Unternehmensübernahmen30 – sowie (jedenfalls in manchen Rechtsordnungen) an die Directors Disqualification und sogar an Berufsverbote. In jüngerer Zeit ist, siebtens, betont worden, dass Vorstandsentscheidungen Entscheidungen einer Gruppe seien. Durch die den Entscheidungsfindungsprozessen innewohnende eigene Dynamik entstünden – auch aufgrund der gegenseitigen internen Kontrolle – besonders ausgewogene und sachgerechte Ergebnisse. Wenn die Entscheidungsfindung in der Gruppe hingegen allzu sehr der Gefahr einer externen Überprüfung ausgesetzt sei, gingen all diese Vorteile – zum Nachteil der Gesellschafter – wieder verloren31. Achtens und letztens wird häufig darauf hingewiesen, dass Geschäftsleiter auch risikoreiche Entscheidungen treffen32 und neue Geschäftsfelder erschließen können sollen33. Mitunter wird dies dahin präzisiert, dass Geschäftsleiter risikoneutral agieren können sollen: Aus Sicht der Gesellschafter sei es optimal, wenn alle Investitionen, die einen positiven Erwartungswert haben, unabhängig vom Ausmaß des der Geschäftschance inhärenten (unsystemati-

__________ 27 Dooley, 47 Bus. Law. 461, 470 (1992); Block/Barton/Radin (Fn. 19), S. 17 f. m. w. N. 28 Vgl. Fischel/Bradley, 71 Cornell L. Rev. 261, 274 ff. (1986); Arkes/Schipani, 73 Or. L. Rev. 587, 627 ff. (1994). 29 Shoen v. Amerco, 885 F.Supp. 1332, 1340 (D. Nev. 1994); Hilton Hotels Corp. v. ITT Corp., 978 F.Supp. 1342, 1351 (D. Nev.1997); vgl. auch Eckert/Grechenig/Stremitzer in Kalss (Hrsg.), Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern, 2005, S. 118 ff.; sehr zurückhaltend Arnold, Die Steuerung des Vorstandshandelns, 2007, S. 231 ff. 30 Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 96 f.; vgl. mit Blick auf das deutsche Corporate Governance-System auch Roe, 1998 Colum. Bus. L. Rev. 167, 181; kritisch etwa Arnold (Fn. 29), S. 235 ff.; Bainbridge, 57 Vand. L. Rev. 83, 122 (2004). 31 Bainbridge, 55 Vand. L. Rev. 1, 48 ff. (2002); ders., 57 Vand. L. Rev. 83, 124 ff. (2004); ders., The New Corporate Governance in Theory and Practice, 2008, S. 124 ff.; vgl. auch schon den Ansatz bei Easterbrook/Fischel (Fn. 30), S. 99. – Vgl. dazu aber auch Grundei/v. Werder, AG 2005, 825, 828 f. 32 Easterbrook/Fischel (Fn. 30), S. 99 f.; American Law Institute, Principles of Corporate Governance: Analysis and Recommendations, St. Paul 1994, § 4.01 (S. 135); Fischel/Bradley, 71 Cornell L. Rev. 261, 270 (1986); Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827, 830; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 2), § 43 GmbHG Rz. 52; Oltmanns (Fn. 19), S. 21 ff.; vgl. auch Fischel, 40 Bus. Law. 1437, 1442 (1985). – Zurückhaltender in Bezug auf die Überzeugungskraft dieses Arguments Bainbridge, 57 Vand. L. Rev. 83, 110 ff. (2004); ders. (Fn. 31), S. 114 f. 33 Vgl. Rosenfield v. Metals Selling Corp., 643 A.2d 1253, 1262 (Connecticut 1994); vgl. BGHZ 134, 392, 398.

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schen) Risikos getätigt würden34. Denn die risikoaversen Gesellschafter35 könnten dieses Risiko – im Gegensatz zum systematischen Risiko/Marktrisiko – durch Diversifikation ihres Portfolios, also durch Investition in mehrere Gesellschaften, eliminieren36 und würden von ebenfalls risikoavers handelnden Geschäftsleitern nicht weiter profitieren37. 2. Kritische Würdigung So häufig sie auch schon angeführt worden sind, kaum eines dieser Argumente kann bei näherer Betrachtung vollends überzeugen. Sie mögen die Schwierigkeit, unternehmerische Entscheidungen zu treffen bzw. im Nachhinein zu überprüfen, beschreiben. Doch sie rechtfertigen nicht den durch die Business Judgment Rule geschaffenen, in dieser Form einzigartigen „Safe Harbor“ für Geschäftsleiter. Denn die meisten dieser Argumente können zwei Fragen nur völlig unzureichend beantworten: Warum gibt es beispielsweise nicht auch eine ähnlich wirkende „Medical Judgment Rule“ im Arzthaftungsrecht oder eine „Design Judgment Rule“ im Produkthaftungsrecht? Und warum gilt die Business Judgment Rule nur im Verhältnis der Geschäftsleiter zur Gesellschaft, nicht aber auch im Außenverhältnis, etwa zu Deliktsgläubigern? a) Vergleich zum Haftungsmaßstab anderer Entscheidungsträger Die vier erstgenannten Rechtfertigungen der Business Judgment Rule sind nicht geschäftsleiterspezifisch38. Sie gelten, cum grano salis, auch für Ärzte, Anlageberater, Wirtschaftsprüfer, Architekten etc. Dennoch haben mangelnde Sachkunde und die Gefahr, Rückschaufehlern zu erliegen, Gerichte nie davon abgehalten, risikobehaftete und von Prognosen abhängige Entscheidungen dieser und anderer Berufsträger zu überprüfen39; und ungeachtet der daraus resultierenden Haftungsgefahr drängen Menschen nach wie vor in diese Berufe.

__________ 34 Deutlich: Gagliardi v. TriFoods International, Inc., 683 A.2d 1049, 1052 (Del.Ch. 1996); vgl. auch Kuntz, GmbHR 2008, 121, 122; Bainbridge (Fn. 31), S. 115 ff. 35 Risikoaversität von Gesellschaftern ist Grundlage konventioneller finanzwirtschaftlicher Theorien; vgl. allgemein nur Klein/Coffee, Business Organization and Finance, 10. Aufl. 2007, S. 248 f.; Posner, 43 U. Chi. L. Rev. 499, 502 (1976); vgl. mit Blick auf Investitionsentscheidungen durch die Gesellschaft bzw. die Geschäftsleiter auch Eckert/Grechenig/Stremitzer (Fn. 29), S. 107 f. – Vgl. im Übrigen noch III.1. 36 Vgl. nur Gilson/Black, (Some of) the Essentials of Finance and Investment, 1993, S. 95 ff. 37 Joy v. North, 692 F.2d 880, 886 (2nd Cir. 1982), cert. denied, 460 U.S. 1051 (1983); Gagliardi v. TriFoods International, Inc., 683 A.2d 1049, 1052 (Del.Ch. 1996); Letsou, 77 Chi.-Kent L. Rev. 179 (2001); Bainbridge (Fn. 25), S. 259 f.; Easterbrook/Fischel (Fn. 30), S. 99 f.; vgl. auch schon Jungmann, ZGR 2006, 638, 670. 38 Ausführlich Gevurtz, 67 S. Cal. L. Rev. 287, 304 f. (1994); Letsou, 77 Chi.-Kent L. Rev. 179, 182 (2001); Arkes/Schipani, 73 Or. L. Rev. 587 (1994); vgl. auch Fischel, 40 Bus. Law. 1437, 1439 (1985); Arnold (Fn. 29), S. 175 f.; Kuntz, GmbHR 2008, 121, 122. 39 Ausführlich dazu, dass die Lösung nicht etwa darin liegen kann, auf die gerichtliche Kontrolle ärztlichen Fehlverhaltens zu verzichten, Arkes/Schipani, 73 Or. L. Rev. 587 (1994).

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Strahlkraft behält in gewissen Grenzen allein die Aussage, dass unternehmerische Entscheidungen einzigartig sein können und dass es nicht in jeder Situation typisierende Handlungsmaximen analog etwa den Regeln ärztlicher Kunst oder DIN-Normen gibt40. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass an Business Schools Kurse zu Investitionsstrategien, Marketingfragen, Finanzierungswegen etc. zum Standard gehören und dass viele Entscheidungen in der Unternehmenspraxis nicht weniger stark von festen Parametern abhängen und nicht weniger stereotyp getroffen werden als zum Beispiel eine bestimmte ärztliche Behandlungsmethode gewählt wird. Es zeigt sich: Unternehmerische Entscheidungen mögen schwierig sein, doch das sind andere Entscheidungen auch. Eine überzeugende Begründung dafür, warum gerade und nur Geschäftsleiter von der Rechtsordnung privilegiert werden, ist mit den vier erstgenannten Rechtfertigungsgründen noch nicht gegeben. b) Vergleich zur Geschäftsleiterhaftung im Außenverhältnis In Bezug auf die vier weiteren Erklärungen der Business Judgment Rule verfängt der Hinweis auf die fehlende Privilegierung anderer Berufsgruppen nicht. Alle diese Argumente sind gesellschaftsrechtsspezifisch. Das spricht ihnen zunächst eine gewisse Überzeugungskraft zu. Doch bleibt zu klären, inwiefern sie mit Konstellationen harmonieren, in denen nicht die Binnenhaftung der Geschäftsleiter, sondern ihre – typischerweise deliktische – Haftung gegenüber Dritten in Rede steht41. Entscheiden sich die Geschäftsleiter beispielsweise für ein bestimmtes Verfahren zur Aufbereitung von Abwasser und stellt sich dieses später als unzureichend und umweltschädlich heraus, dann können die Geschäftsleiter gegenüber Dritten auch nach allgemeinen delikts- oder besonderen umweltrechtlichen Normen haften42. Welche Bedeutung hat es, dass es sich auch insofern um eine unternehmerische Entscheidung handelt – getroffen durch die gesellschaftsrechtlich dazu bestimmten und befugten Personen, zustande gekommen unter Geltung der anderen gesellschaftsrechtlichen Kontrollmechanismen, sich darstellend als Ergebnis eines Findungsprozesses in der Gruppe? In Deutschland wird in Bezug auf die Insolvenzverschleppungshaftung einerseits43 und in Bezug auf die Haftung der Mitglieder des Vertretungs- bzw. Aufsichtsorgans eines übertragenden Rechtsträgers (§ 25 UmwG) andererseits44

__________

40 Kennedy, 52 Geo. Wash. L. Rev. 624, 634 (1984); Arkes/Schipani, 73 Or. L. Rev. 587, 624 (1994); vgl. auch Fischel, 40 Bus. Law. 1437, 1439 (1985). 41 Vgl. auch Gevurtz, 67 S. Cal. L. Rev. 287, 325 f. (1994); ebenso Letsou, 77 Chi.-Kent L. Rev. 179, 196 u. 209 (2001). 42 Vgl. etwa BGHZ 109, 297, 302; vgl. im Übrigen nur Karsten Schmidt (Fn. 11), § 14 V 2; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 2), § 93 AktG Rz. 269 ff.; Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 21), § 93 AktG Rz. 165 ff.; ausführlich Sandberger, Die Außenhaftung des GmbH-Geschäftsführers, 1997. 43 BGHZ 75, 96; BGHZ 126, 181, 199; Fleischer, ZGR 2004, 437, 458 ff.; M. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001, S. 268 ff., insb. S. 270 f. 44 Schnorbus, ZHR 167 (2003), 666, 681 ff.; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 25 UmwG Rz. 6; Pöllath/Philipp, DB 2005, 1503, 1506 f.

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dafür gestritten, auch bei Ansprüchen von Gesellschaftsgläubigern einen weiten Ermessensspielraum für unternehmerische Entscheidungen anzuerkennen. Doch selbst einmal davon abgesehen, dass die Einräumung eines Ermessensspielraums nicht dasselbe ist wie der durch die Business Judgment Rule gewährte Schutz45, begnügen sich die Begründungen für diese Sichtweise damit, auf die „Komplexität“ der Entscheidungen46 hinzuweisen, bzw. entpuppen sich – etwa wenn gefordert wird, im Verhältnis zu Gläubigern müsse dasselbe wie im Verhältnis zur Gesellschaft/zu den Gesellschaftern gelten47 – als petitio principii. Die Business Judgment Rule ist, wie hier noch dargelegt werden wird, entscheidend davon geprägt ist, dass den Geschäftsleitern unternehmerische Freiheit gerade von denjenigen eingeräumt worden ist, denen die Anspruchsverfolgung durch die Business Judgment Rule erschwert wird: von den Gesellschaftern48, nicht aber von den Gesellschaftsgläubigern49. Deshalb lässt sich aus den Sonderkonstellationen der Insolvenzverschleppungshaftung und der Haftung nach § 25 UmwG kein allgemeines Prinzip entwickeln50 und deshalb ist eine allgemeine Privilegierung der Geschäftsleiter im Außenverhältnis abzulehnen; dies entspricht im Übrigen zum Beispiel auch dem Verständnis im USamerikanischen und im englischen Recht51. Damit steht zugleich fest, dass als Rechtfertigung der Business Judgment Rule zur Privilegierung im Innenverhältnis kaum Argumente überzeugen können, die im Innen- und im Außenverhältnis gleichermaßen von Bedeutung sind.

__________ 45 46 47 48

Vgl. Fn. 15. Pöllath/Philipp, DB 2005, 1503, 1506. Schnorbus, ZHR 167 (2003), 666, 682. Vgl. Smith v. Van Gorkom, 488 A.2d 858, 872 (Del. 1985): „The business judgment rule exists to protect and promote the full and free exercise of the managerial power granted to … directors.“ (Hervorhebung vom Verfasser); Bainbridge, 1 J. Bus. & Tech. L. (2006) 335, 341 f.; vgl. ferner Jungmann, ZGR 2006, 638, 669 f. 49 Vgl. auch noch Fn. 53. 50 A. A. wohl Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 2), § 93 AktG Rz. 73; ders., ZIP 2004, 685, 691 f.; nicht so weitgehend hingegen wohl im Ergebnis M. Roth (Fn. 43), S. 261 ff., dessen mit „Schutz des Ermessens auch gegenüber Dritten“ überschriebene Ausführungen sich nur auf Ermessensfehler in der wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft beziehen. 51 Mit Blick auf das US-Recht ist deutlich zum Ausdruck gebracht worden, dass die Business Judgment Rule allgemeine Prinzipien des Deliktsrechts nicht aushebeln kann und dass Geschäftsleiter im Verhältnis zu Dritten genauso haften wie jede andere Person (vgl. Frances T. v. Village Green Owners Association, 723 P.2d 573, 582 f. (Ca. 1986); Bainbridge (Fn. 31), S. 126 f.). Und selbst wenn sich in Großbritannien nur ungefähre Entsprechungen zur Business Judgment Rule ausmachen lassen (vgl. Fleischer in FS Wiedemann (Fn. 2), S. 827, 835 f.; Bedkowski, Die Geschäftsleiterpflichten, 2006, S. 159 ff.; vgl. ferner Re City Equitable Fire Insurance Co. Ltd. [1925] Ch. 407, 429 zur Analyse der Rechtslage nach Common Law), so ist doch auch dort anerkannt, dass vergleichbare Privilegierungen – etwa in Form von Sec. 1157 Companies Act 2006 – nur das Innenverhältnis, nicht aber auch das Verhältnis der Geschäftsleiter zu außenstehenden Dritten berühren können (Commissioners of Customs and Excise v Hedon Alpha Ltd. [1981] Q.B. 818, 824 (per Stephenson LJ); vgl. Davies, Principles of Modern Company Law, 8. Aufl. 2008, Rz. 16–96).

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III. Das Interesse der Gesellschafter an risikoneutral agierenden Geschäftsleitern als zentraler Rechtfertigungsgrund der Business Judgment Rule Es deutet sich damit bereits an, dass allein der an achter Stelle genannte Rechtfertigungsgrund zu überzeugen vermag. Pauschale Forderungen, unternehmerischer Mut müsse sich lohnen dürfen, die Innovationskraft von Unternehmen müsse durch die Chance zu risikoreichen Entscheidungen gefördert werden etc., können die Haftungsprivilegierung allerdings nicht rechtfertigen. Ganz in den Mittelpunkt zu rücken ist im Folgenden stattdessen die als überzeugendes Erklärungsmuster dienende Erkenntnis, dass es im ureigenen Interesse rational handelnder Gesellschafter liegt und dass sie davon profitieren, wenn Geschäftsleiter risikoneutral handeln können52 und dementsprechend nicht haften, solange sie auf der Basis angemessener Information Entscheidungen zum Wohl des Unternehmens treffen. Dies wird das folgende Beispiel verdeutlichen. 1. Diversifikation und risikoreiche Investitionsentscheidungen – ein Beispielsfall Ein Unternehmen verfügt – das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für alle nachfolgenden Überlegungen, um die Belange der Unternehmensgläubiger ausblenden zu können53 – über genügend Liquidität. Ihm bieten sich zwei In-

__________ 52 Vgl. auch Joy v. North, 692 F.2d 880, 886 (Fn. 6) (2nd Cir. 1982), cert. denied, 460 U.S. 1051 (1983); Klein/Coffee (Fn. 35), S. 243; Kuntz, GmbHR 2008, 121, 122. 53 Es gilt, einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Bei allen folgenden Beispielen und Überlegungen darf eine einzelne Investitionsentscheidung grundsätzlich sehr wohl zu einem Totalverlust des investierten Geldes führen. Sie darf hingegen nicht zur Folge haben, dass das Unternehmen insolvent wird (zutreffend Lutter, ZIP 2007, 841, 845: „keine Hazard-Entscheidung“; ähnlich schon ders., GmbHR 2000, 301, 305). Insofern ist die Aussage zutreffend, dass bei unternehmerischen Entscheidungen zu berücksichtigen ist, „ob der unwahrscheinliche, aber nicht auszuschließende negative Ausgang des beabsichtigten Geschäfts zu unangemessen hohen Risiken für den Bestand und die Entwicklung der Firma führen kann“ (OLG Jena, NZG 2001, 86, 87; vgl. dazu aber auch Brömmelmeyer, WM 2005, 2065, 2069). Gerät ein Unternehmen nämlich in die Krise, treffen Investitionsentscheidungen nicht nur die Gesellschafter, sondern auch (und primär) die Unternehmensgläubiger (vgl. Credit Lyonnais Bank Nederland, N. V. v. Pathe Communications Corp, Not Reported in A.2d, 17 Del. J. Corp. L. 1099, 1155 (in Fn. 55) (Del. Ch. 1991)). Sofern man davon ausgeht, dass für die Geschäftsleiter in der Unternehmenskrise auch Pflichten gegenüber den Unternehmensgläubigern entstehen (vgl. dazu etwa Bainbridge (Fn. 25), S. 429 ff.; dens., 1 J. Bus. & Tech. L. 335 ff. (2007); Davies, EBOR 2006, 301 ff.; Hertig/Kanda in Kraakman u. a., The Anatomy of Corporate Law, 2004, S. 71, 88 f.; Klöhn, ZGR 2008, 110, 122 ff.), gibt es hinsichtlich der Verletzung solcher Pflichten keinen Schutz der Geschäftsleiter durch die Business Judgment Rule (vgl. Cieri/Riela, 2 DePaul Bus. & Comm. L.J. 295, 304 (2004); a. A. Spindler, EBOR 7 (2006), 339, 349 f.; Veil, ZGR 2006, 374, 394 f.; vgl. auch Bainbridge, 1 J. Bus. & Tech. L. 335 ff. (2007)). Denn die Unternehmensgläubiger haben an der Haftungsprivilegierung der Geschäftsleiter kein Interesse, weil sie von risikoneutral handelnden Geschäftsleitern nicht profitieren, sondern durch sie eher ihre Forderungen gefährdet sehen (vgl. zum damit einher-

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vestitionsmöglichkeiten, die beide einen Einsatz von 100.000 Euro erfordern. Bei einer Investition in Projekt A werden 120.000 Euro nach Ablauf eines Jahres sicher zurückfließen. Projekt B sieht wie folgt aus: Es besteht eine 25 %Chance dafür, dass nach einem Jahr 280.000 Euro als Einnahme verbucht werden können; mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % werden es 140.000 Euro sein. Allerdings kann es auch – insofern beträgt die Wahrscheinlichkeit 25 % – zu einem Totalverlust kommen. Es springt ins Auge, dass der zu erwartende Gewinn von Projekt A 20.000 Euro beträgt und dieser ohne Risiko zu haben ist. Projekt B ist augenscheinlich risikoreicher, ist aber auch durch einen deutlich höheren Erwartungswert54 und einen doppelt so hohen erwarteten Gewinn (40.000 Euro) geprägt. Welches der beiden Projekte vorzugswürdig ist, hängt allein von der Risikobereitschaft des jeweiligen Investors (bzw. Entscheidungsträgers) ab. Risikoaverse Investoren werden Projekt A, risikoneutrale hingegen Projekt B bevorzugen. Die Wirtschaftswissenschaften sowie die ökonomische Analyse des Rechts konzentrierten sich lange Zeit auf das Bild des homo oeconomicus, das von einem stets profitmaximierungsorientierten Menschen ausging55. Schon rationale Gründe sprechen allerdings für ein risikoaverses Verhalten. Dies lässt sich mit der Beziehung zwischen Einkommen und Nutzen aus diesem Einkommen begründen: Solange der Verlust von Einkommen eine überproportionale Abnahme des Nutzens bedeutet (Theorie vom abnehmenden Grenznutzen des Eigentums)56, besteht bei den meisten Menschen keine lineare Beziehung zwischen Einkommen und Nutzen. Hinzu kommen irrationale Gründe, die Menschen davon abhalten, stets und ohne Rücksicht auf die Risiken in das Projekt mit dem höheren Erwartungswert zu investieren. Die heute herrschenden finanzwirtschaftlichen Theorien berücksichtigen dies: Sie stellen den – aus rationalen wie aus irrationalen Gründen – risikoaversen Investor in den Vordergrund57. Von solchen risikoaversen Anlegern wird daher auch hier ausgegangen. Wie sollen sich nun Geschäftsleiter – insbesondere aus Sicht der Gesellschafter – verhalten? Vordergründig betrachtet erschließt sich nicht, warum sich die Sichtweise der Kapitaleigner des Unternehmens – mit ihrem persönlichen Vermögen risikoarme Projekte bevorzugend – ändern sollte, nur weil ihr Vermögen lediglich mittelbar berührt wird, wenn Geschäftsleiter mit dem Unter-

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gehenden sog. Chilling Effect etwa Klöhn, ZGR 2008, 110, 141 f.). – Zu zeigen, dass bei den Gesellschaftern das Gegenteil der Fall ist und dass diese von der Haftungsprivilegierung profitieren, ist zentrales Anliegen dieses Beitrags. Berechnung des Erwartungswerts: µ = 280.000 Euro * 0,25 + 140.000 Euro * 0,50 + 0 Euro * 0,25 = 140.000 Euro. Vgl. dazu und zur heutigen Bedeutung der „Behavioral Economics“ im Allgemeinen und zur „Bounded Rationality“ im Besonderen Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 1051, 1075 ff. (2000); vgl. auch Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; kritisch hingegen Rittner, JZ 2005, 668 ff. Vgl. Posner, 43 U. Chi. L. Rev. 499, 502 (1976) (in Fn. 9); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 135 ff. Vgl. schon Fn. 35; vgl. auch Bainbridge (Fn. 31), S. 115.

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nehmensvermögen handeln. In der Tat: Hätte ein Anleger sein gesamtes Vermögen in das Unternehmen investiert, würden sich seine persönliche Risikoeinstellung und die Erwartung, welche Risikoeinstellung der Geschäftsleiter des Unternehmens haben sollte, decken. Doch für eine allgemeine Beurteilung der Frage, welche Risikoeinstellung der Geschäftsleiter für die Investoren – auch unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Risikoaversität – vernünftig ist, sind die Diversifikationsmöglichkeiten der Anleger von entscheidender Bedeutung. Hätte ein Investor seine Anlage von 100.000 Euro gleichmäßig auf 100 verschiedene Unternehmen verteilt, die jeweils vor der Wahl zwischen Projekt A und Projekt B stünden, hätten die Investitionsentscheidungen auf Unternehmensebene für ihn persönlich die folgenden Auswirkungen: Handelten alle Geschäftsleiter risikoavers und bevorzugten Projekt A, hätte unser Investor am Ende des Jahres einen (anteiligen) Gewinn von 20.000 Euro. Präferierten alle Geschäftsleiter, nunmehr risikoneutral handelnd, Projekt B, dann läge der Erwartungswert für den (anteiligen) Gewinn unseres Investors bei 40.000 Euro – dank der Diversifikation allerdings bei einem sehr geringen Risiko. Denn es ist extrem unwahrscheinlich58, dass es einhundert Mal zu einem Totalverlust kommt. Wenn die Ergebnisse der einhundert Projekte sich nicht gegenseitig beeinflussen, die Investitionsentscheidungen also nicht miteinander korrelieren59, besteht die 95%ige Chance, dass ein Gewinn zwischen 26.000 Euro und 54.000 Euro erzielt wird60. Dies zeigt: Ein Gesellschafter hat es durch Diversifikation selbst in der Hand, einen Teil des Risikos – die Finanzwirtschaft spricht vom spezifischen bzw. unsystematischen Risiko61 – zu eliminieren. Da er in Bezug auf seine eigenen Investitionsentscheidungen risikoavers handelt, wird er diversifizierte Investitionsstrategien verfolgen. Zugleich zeigt sich, dass ein Anleger von risikoaversem Handeln auf Unternehmensebene nicht profitiert: Würden Geschäftsleiter ihrerseits eine Diversifikationsstrategie befolgen, brächte dies dem Investor keinen Nutzen, den er nicht auch selbst – durch noch weitere Diversifizierung – erreichen könnte62. Und würden Geschäftsleiter mit Investitionsmöglichkeiten wie in unserem Beispielsfall sich jeweils für Projekt A entscheiden, brächte dies dem Investor mit hoher Wahrscheinlichkeit – sie beträgt 99,79 %, denn nur in 0,21 % der Fälle wird mit Projekt B ein Gewinn von weniger als 20.000 Euro erzielt – einen niedrigeren Gewinn.

__________ 58 Die Wahrscheinlichkeit beträgt 1:1,267 Quintillionen. 59 Angenommen wird also, dass die Kovarianz gleich Null und damit der Korrelationskoeffizient ρ = 0 ist. 60 Für das Beispiel mit 100 Investitionsentscheidungen errechnet sich die Standardabweichung σ = 7000 Euro. Da die Wahrscheinlichkeiten normalverteilt sind, konnte aus Vereinfachungsgründen die „3-Standardabweichungen-Regel“ (vgl. Ross/Westerfield/Jaffe, Corporate Finance, 7. Aufl. 2005, S. 248) angewendet werden. 61 Vgl. etwa Gilson/Black (Fn. 36), S. 96 f. 62 Vgl. dazu und zu empirischen Studien, dass der Kapitalmarkt Unternehmen niedriger bewertet, die ihrerseits (zu) diversifiziert sind, Booth, 53 Bus. Law. 429, 451 (1998).

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2. Folgerungen Das Beispiel hat vor Augen geführt, dass rational handelnde Gesellschafter ihre Investments diversifizieren63 und dass es dem Interesse rational denkender Gesellschafter entspricht, wenn Geschäftsleiter risikoneutral handeln und sich bei Investitionsentscheidungen an folgende Maximen halten64: Es werden alle Investitionen mit einem positiven Erwartungswert ungeachtet des darin enthaltenen Risikos getätigt65. Steht dafür nicht genügend Kapital zur Verfügung, werden die Investitionen mit den höchsten (positiven) Erwartungswerten getätigt66. Nun sind Geschäftsleiter schon wegen des in der Gesellschaft gebündelten Investments „Humankapital“ tendenziell risikoavers67, und daher nicht ohne Weiteres gewillt, die genannten Entscheidungsmaximen zu beachten. Diese Grundrisikoaversität verstärkt sich, je größer die Gefahr der Haftung für unternehmerische Fehlentscheidungen ist. Deshalb wird den rationalen Interessen der Gesellschafter nur eine rechtliche Regel gerecht, die es Geschäftsleitern ermöglicht, ohne zu große Haftungsgefahr risikoneutral68 und gemäß den genannten Entscheidungsmaximen zu handeln69. Denn bei einer zu strengen gerichtlichen Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit müssten Geschäftsleiter risikoavers entscheiden. Dann würden Investoren schlechter dastehen70.

__________ 63 Vgl. Booth, 53 Bus. Law. 429, 444 (1998); vgl. auch noch III.2.c) sowie Fn. 88. – Kritisch dazu, auf diversifiziert investierende Anleger abzustellen, Arnold (Fn. 29), S. 55. 64 Vgl. Gagliardi v. TriFoods International, Inc., 683 A.2d 1049, 1052 (Del.Ch. 1996); Brealey/Myers/Allen, Principles of Corporate Finance, 9. Aufl. 2008, S. 17. 65 Nicht im Sinne rational handelnder Gesellschafter daher Koppensteiner in Rowedder/ Schmidt-Leithoff, 4. Aufl. 2002, § 43 GmbHG Rz. 18: „Es muß im Regelfall wahrscheinlich sein, dass sich das in Frage stehende Verhalten als für die Gesellschaft vorteilhaft erweist (RGZ 129, 272, 275); Ausnahmen kommen nur in Betracht, wenn einem vergleichsweise geringfügigen Risiko eine besonders hohe Gewinnchance gegenübersteht“. 66 Natürlich kann es gute Gründe geben, im Einzelfall Investitionsentscheidungen zu treffen, die sich nicht an diesen Maximen orientieren. So mag es sinnvoll sein, darauf zu achten, dass Investitionen nicht zu sehr miteinander korrelieren oder dass im Sinne einer langfristig stabilen Entwicklung besonders risikoreiche Investitionen nicht getätigt werden – etwa um einen Dividendenrückgang oder andere Signale zu vermeiden, die am Kapitalmarkt überinterpretiert werden könnten. 67 Bainbridge, 57 Vand. L. Rev. 83, 113 (2004); Easterbrook/Fischel (Fn. 30), S. 99. 68 Vgl. dazu und zu den unterschiedlichen Anreizstrukturen von Erfolgs- und Verschuldenshaftung Eckert/Grechenig/Stremitzer (Fn. 29), S. 111 ff. 69 Folgen sie diesen Regeln, handeln sie korrekt, und zwar auch dann, wenn sich das einkalkulierte Risiko realisiert. – Vgl. auch Lutter, ZIP 2007, 841, 843: „Greift die Business Judgment Rule ein, so bleibt am Vorstand kein Staubkorn eines Vorwurfs hängen – allenfalls der, dass er ohne Glück und Fortune gehandelt hat“. 70 Easterbrook/Fischel (Fn. 30), S. 93; Gagliardi v. TriFoods International, Inc., 683 A.2d 1049, 1052 (Del.Ch. 1996); vgl. auch Law Commission/Scottisch Law Commission: Company Directors: Regulating Conflicts of Interests and Formulating a Statement of Duties, Joint Consultation Paper (Law Commission, Consultation Paper No 153/Scottish Law Commission, Discussion Paper No 105), Kommentar zu Empfehlung Nr. 6.15: „[The Business Judgment Rule] is based on the argument that a greater likelihood of judicial review of business decisions will lead boards to choose overly conservative courses of action instead of making decisions with regard to optimal results, thereby damaging corporate performance.“

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Es liegt daher im wohlverstandenen Interesse der Gesellschafter, dass die Rechtsordnung den Geschäftsleitern durch die Business Judgment Rule einen originären, gerichtlicher Nachprüfung entzogenen Entscheidungsspielraum einräumt. Dass unter Geltung einer solchen Regel im Einzelfall „schlechte“ unternehmerische Entscheidungen nicht sanktioniert werden, ist für die Gesellschafter mit anderen Worten der (gern bezahlte!) Preis dafür, in der großen Mehrzahl der Fälle davon zu profitieren, freiwillig das Risiko eingegangen zu sein71, dass Geschäftsleiter risikoneutral agieren72. a) Grenzen der mit der Business Judgment Rule einhergehenden Privilegierung der Geschäftsleiter Ganz harmonisch fügt sich in diese Rechtfertigung der Business Judgment Rule ein, dass in nahezu allen Rechtsordnungen die Privilegierung der Geschäftsleiter nur greift, wenn diese auf der Grundlage ausreichender Information und zum Wohle der Gesellschaft gehandelt haben73. Das ist in sich stimmig, denn es geht gerade nicht darum, dass Geschäftsleiter – etwa aus volkswirtschaftlichen Gründen, um technischen Fortschritt und Innovation zu ermöglichen o. ä. – ermutigt werden sollen, ohne Weiteres risikoreiche Entscheidungen zu treffen. Vielmehr sollen sie ja, wie dargestellt, nur in die Lage versetzt werden, Investitionen mit einem positiven Erwartungswert zu tätigen, ohne befürchten zu müssen, im Fall der Realisierung des Projektrisikos zu haften. Ausreichende Information über die Risiken des Projekts ist aber gerade denklogische Voraussetzung dafür, dieser Investitionsstrategie folgen zu können, weil sich ohne Bewertung des Risikos – welche in der Praxis freilich nicht mit der mathematischen Exaktheit wie im oben angeführten Beispiel möglich ist74 – gar nicht feststellen lässt, welchen Erwartungswert eine Investitionsmöglichkeit hat. Darüber hinaus kann es nicht dem Interesse der Gesellschafter entsprechen, den Geschäftsleitern eine Haftungsprivilegierung auch in Bezug auf Handlungen einzuräumen, die einen Verstoß gegen Treupflichten darstellen, die also nicht zum Wohle der Gesellschaft, sondern aus Eigennutz

__________ 71 Vgl. Joy v. North, 692 F.2d 880, 885 (2nd Cir. 1982), cert. denied, 460 U.S. 1051 (1983); Arkes/Schipani, 73 Or. L. Rev. 587, 629 f. (1994). 72 Damit wird den Geschäftsleitern aber kein „Recht auf Irrtum“ (so Paefgen (Fn. 18), S. 176 f.) eingeräumt, sondern lediglich ein Recht zum Risiko. Wenn sich das Risiko realisiert, hat das mit einem Irrtum nichts zu tun. 73 In § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kommt das deutlich zum Ausdruck; vgl. auch BT-Drucks. 15/5092, S. 11; M. Roth (Fn. 43), S. 57 ff.; Oltmanns (Fn. 19), S. 304 ff. – Allerdings lässt sich aus der Rechtsprechung zum US-amerikanischen Recht nur schwer eine einheitliche Linie zu der Frage herausarbeiten, ob die Business Judgment Rule Geschäftsleiter auch bei Verstößen gegen die Duty of Loyalty schützt (in diese Richtung: Block/Barton/Radin (Fn. 19), S. 264; zutreffend kritisch hingegen Bainbridge (Fn. 25), S. 306 f.; einschränkend zu Recht auch Abeltshauser (Fn. 2), S. 271 ff.). 74 Vgl. insofern Grundei/v. Werder, AG 2005, 825 ff. – In der Praxis kommt zum Risiko daher noch Unsicherheit hinzu; grundlegend zur Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit Knight, Risk, Uncertainty and Profit, 1921 (passim).

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getroffen werden75. Von solchen Handlungen können die Gesellschafter per se nicht profitieren. b) Erneuter Vergleich zur Haftung von anderen Entscheidungsträgern und zur Außenhaftung Zu untersuchen bleibt, ob der hier als maßgeblich herausgearbeitete Rechtfertigungsgrund, dass es dem ureigenen Interesse der Gesellschafter entspricht, wenn Geschäftsleiter risikoneutral handeln können, den kritischen Vergleichen standhält, denen die übrigen für die Privilegierung der Geschäftsleiter durch die Business Judgment Rule sprechenden Gründe unterzogen wurden76. Dabei wird schnell deutlich: Weder Patienten noch Konsumenten noch Mandanten von Rechtsanwälten, Abschlussprüfern, Architekten usw. haben die Möglichkeit, in entsprechendem Maße ihre Risiken durch Diversifikation zu minimieren oder zu eliminieren, wie es Finanzinvestoren können77. Daher liegt es in ihrem Interesse, wenn ihre natürliche Risikoaversität, aufgrund der sie beispielsweise konservative, langwierigere Behandlungsmethoden neuen, erfolgversprechenderen, aber risikoreicheren medizinischen Verfahren vorziehen, auf der Ebene des Entscheidungsträgers – um im Beispiel zu bleiben: des Arztes – erhalten bleibt. Zugleich wird deutlich, dass im Verhältnis der Geschäftsleiter zu außenstehenden (Delikts-)Gläubigern eine Privilegierung nicht in Betracht kommt. Außenstehende Dritte sind im Gegensatz zu den Gesellschaftern nicht freiwillig ein Risiko eingegangen. Sie profitieren nicht, sondern werden allein höheren Schadensrisiken ausgesetzt, wenn Geschäftsleiter risikoneutral handeln. Zwischen ihnen und außenstehenden Dritten besteht keine Sonderverbindung; und anders als die Gesellschafter haben außenstehende Dritte den Geschäftsleitern keinen der gerichtlichen Nachprüfung entzogenen Handlungsspielraum eingeräumt78. c) Bestehen der Haftung gegenüber dem Verband als Gegenargument? Gegen die hier vertretene Sichtweise, die aus der Perspektive der Gesellschafter heraus argumentiert, mag sich aus dogmatischer Sicht der folgende Einwand ergeben, der letztlich die wichtige Streitfrage anspricht, ob es ein vom Gesellschafterwillen verschiedenes Eigeninteresse der Gesellschaft, ein Unter-

__________ 75 So viel zu Bainbridge (Fn. 31), S. 119. – Zur Geltung der Unterscheidung zwischen der Duty of Care und der Duty of Loyalty auch im deutschen Recht vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band II, 2004, § 3 II a) aa) m. w. N.; vgl. ferner Arnold (Fn. 29), S. 167 ff. 76 Vgl. oben II.2. 77 Tendenziell a. A. Gevurtz, 67 S. Cal. L. Rev. 287, 315 (1994). 78 Vgl. Fn. 48.

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nehmensinteresse, gibt79: Die Pflichten der Geschäftsleiter bestehen gegenüber dem Verband und Pflichtverletzungen werden – jedenfalls im Regelfall – auch vom Verband geltend gemacht. Ist es trotzdem, so bleibt zu fragen, zulässig, auf die hinter dem Verband stehenden Gesellschafter statt auf den Verband selbst abzustellen, wenn es um die Frage der Risikopräferenz geht80? Zwar sind Gesellschafts- und Gesellschafterebene im Grundsatz voneinander zu trennen, und es mögen auch für einen Stakeholder-Ansatz, der das vom Interesse der Gesellschafter zu unterscheidende Unternehmensinteresse betont, gute Gründe sprechen81. Doch ist die Geschäftsleiterhaftung gegenüber dem Verband nun einmal ausgeschlossen, wenn die Gesellschafter eine Geschäftsleitungsmaßnahme vorab gebilligt haben82. Mit Einwilligung der Gesellschafter lässt sich die Gesellschaft also – solange Gläubigerinteressen nicht berührt sind83 – schädigen. Damit kommt dem Gesellschafterwillen im Hinblick auf die Haftung der Geschäftsleiter entscheidendes Gewicht zu84. Denn festzuhalten ist immerhin: Die Gesellschaft hat noch nicht einmal einen Anspruch auf Gewährleistung ihres Bestandes, weil die Gesellschafter die Existenz der Gesellschaft im Grundsatz jederzeit mittels der vom Gesetz zur Verfügung gestellten Liquidationsverfahren beenden können85. Das ist ein wichtiges Ausgangsdatum. Versteht man nun noch die Business Judgment Rule als den ihrem eigenen Interesse entsprechenden und im Voraus erklärten Verzicht der Gesellschafter auf die Nachprüfbarkeit unternehmerischer Entscheidungen – was nichts anderes ist als die vorab erklärte Billigung aller dieser Maßnahmen –, so wird offenkundig, dass es insofern nur auf das Interesse, die Sichtweise und die Risikoneigung der Gesellschafter ankommen kann. Rechtliche Haftungsregeln müssen deshalb an den rational denkenden Gesellschafter anknüpfen. Maßgeblich für den Haftungsmaßstab bzw. das Maß an gerichtlicher Kontrolle unternehmerischer Entscheidungen ist damit, jeden-

__________ 79 Vgl. dazu etwa Fleischer in Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 129 ff.; Arnold (Fn. 29), S. 40 ff.; Klöhn, ZGR 2008, 110, 118 ff. – Zum U.S.-Recht vgl. Bainbridge (Fn. 25), S. 418 ff.; dens., 1 J. Bus. & Tech. L. 335, 338 ff. (2007). 80 Vgl. auch Booth, 53 Bus. Law. 429 (1998). 81 Das britische Gesellschaftsrecht sieht die Berücksichtigung der Belange einer Reihe von Stakeholdern inzwischen in Sec. 172 Companies Act 2006 ausdrücklich vor. 82 Vgl. § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG für das Aktienrecht, BGHZ 31, 258, 278 sowie Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 2), § 43 GmbHG Rz. 114 ff. für das GmbH-Recht. – Im US-amerikanischen Aktienrecht ist es in den meisten Bundesstaaten sogar möglich (vgl. etwa § 102(b)(7) Delaware General Corporation Law), durch sog. Raincoat Provisions die Haftung der Geschäftsleiter gegenüber der Gesellschaft in der Satzung vollständig auszuschließen (vgl. dazu Block/Barton/Radin (Fn. 19), S. 226 ff.). 83 Vgl. erneut Klöhn, ZGR 2008, 110 ff. 84 Vgl. auch Brady v. Brady (1987) 3 BCC 535, 552 (CA): „The interests of a company, an artificial person, cannot be distinguished from the interests of the persons who are interested in it“ (per Nourse LJ). 85 BGHZ 151, 181, 186; vgl. auch Röhricht in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 83, 103.

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falls im Ausgangspunkt, derjenige Gesellschafter, der Investitionen diversifiziert tätigt86.

IV. Zwischenergebnis: kein Institut des allgemeinen Verbandsrechts Erkennt man, dass die Business Judgment Rule maßgeblich risikoreiche, aber ertragsstarke Investitionen fördert, weil die Gesellschafter das unsystematische Risiko durch Diversifikation selbst minimieren bzw. eliminieren können, wird offenkundig, dass die These, die Business Judgment Rule sei ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts, verworfen werden muss: Denn die Anwendung der Business Judgment Rule kommt in denjenigen Gesellschaften nicht in Betracht, für deren Verbindlichkeiten zumindest einige Gesellschafter unbeschränkt persönlich haften. Insofern würde Diversifikation – gemeint ist damit an dieser Stelle die Gesellschafterstellung in mehreren solcher Gesellschaften – nämlich nicht zu einer Eliminierung des unsystematischen Risikos führen, sondern dieses nur steigern. Gesellschafter in solchen Gesellschaften können also gerade kein Interesse daran haben, dass Geschäftsleiter risikoneutral entscheiden. Solche Gesellschaften bleiben deshalb nachfolgend außer Betracht87.

V. Zur Geltung der Business Judgment Rule im Körperschaftsrecht und in Sonderkonstellationen 1. Differenzierung nach Art und Struktur des Unternehmens? Nach der hier als allein maßgeblich herausgearbeiteten Rechtfertigung der Business Judgment Rule und der soeben vorgenommenen Einschränkung gilt theoretisch Folgendes: Die Business Judgment Rule privilegiert Geschäftsleiter in all den Unternehmen, die – ohne dass es im Übrigen auf ihre Rechtsform ankommt – ihrer Art und Struktur nach darauf angelegt sind, von (einer Gesellschaft mit) diversifiziert investierenden Kapitalgebern getragen zu werden. Typischerweise sind dies Publikumsgesellschaften, und typischerweise sind die Gesellschafter dann eher bloße Investoren als echte Unternehmer. Demgegenüber ist nicht entscheidend, wie viele Gesellschafter vorhanden sind und ob diese weitere Geschäftsanteile in anderen Gesellschaften halten. Allein maßgeblich ist vielmehr, ob nach der tatsächlichen Unternehmensstruktur

__________ 86 Insofern ebenso Booth, 53 Bus. Law. 429, 461 (1998). 87 Eine tatsächliche – also nicht durch werthaltige Regressansprüche kompensierte – Haftungsgefahr besteht für die Gesellschafter zwar nur in der Krise der Gesellschaft. In Bezug auf Investitionsentscheidungen, welche in der Krise getroffen werden oder unmittelbar die Krise herbeiführen, schützt die Business Judgment Rule die Geschäftsleiter ohnehin nicht, weil Gläubigerinteressen berührt sind (vgl. den ausführlichen Text in Fn. 53). Doch auch die Realisierung der Risiken anderer Investitionsentscheidungen erhöht die Haftungsgefahr der persönlich haftenden Gesellschafter, weil es zur Krise oder sogar Insolvenz der Gesellschaft auch im Zusammenspiel mit anderen Ereignissen kommen kann.

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typischerweise eine Diversifikationsmöglichkeit besteht88. Nur dann kann das Recht – in typisierender Betrachtung – nämlich davon ausgehen, dass die Gesellschafter ein Interesse an risikoneutral handelnden Geschäftsleitern haben. Was würde das bedeuten? a) Die nahe liegenden Konsequenzen Die nahe liegenden Konsequenzen seien anhand eines Beispiels verdeutlicht: Wenn ein Vater mit seinen beiden Kindern ein Unternehmen betreibt und diese drei Personen zugleich die alleinigen Gesellschafter sind, dann dürften Entscheidungen des Geschäftsleiters – ob nun Familienmitglied oder Externer – nicht durch die Business Judgment Rule privilegiert werden. In einem solchen Familienunternehmen, das seiner Struktur nach auf Gesellschafter angelegt ist, die den wesentlichen Teil ihres Finanzkapitals und ihr Humankapital in das Unternehmen eingebracht haben, muss die risikoaverse Einstellung der Gesellschafter auf die Risikoneigung der Geschäftsleiter durchschlagen89. Würde das Unternehmen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft betrieben, wäre es also nicht gerechtfertigt, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anzuwenden90. Angezeigt wäre eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs der Business Judgment Rule. Umgekehrt scheint zunächst einmal alles dafür zu sprechen, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG analog im GmbH-Recht anzuwenden, wenn ein in der Rechtsform der GmbH betriebenes Unternehmen seiner Struktur nach darauf angelegt ist, dass Gesellschafter nur durch den Anteilsbesitz am Gesellschaftsvermögen miteinander verbunden sind und wie anonyme Investoren agieren, also jeweils nur geringe Teile ihres Vermögens einbringen und primär an Rendite und weniger am Schicksal des Unternehmens im engeren Sinne interessiert sind. Wenn Kommanditisten eine solche Position innerhalb einer (typischen) GmbH & Co. KG einnehmen, müsste die Business Judgment Rule auch in dieser Gesellschaft auf die Haftung der Geschäftsleiter nach §§ 105 Abs. 3, 161 Abs. 2 HGB, § 708 BGB entsprechend anzuwenden sein. Sogar in der BGB-Gesellschaft könnte dann § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG unter Umständen an die Stelle von § 708 BGB treten, etwa wenn ein Immobilienfonds in dieser Rechtsform betrieben wird und die Gesellschafter nur pro rata für Gesellschaftsverbindlichkeiten haften91.

__________ 88 Es ist dann nicht Aufgabe des Rechts, diejenigen zu schützen, die trotz gegebener Möglichkeit auf eine Diversifikation ihrer Investments verzichtet haben (Joy v. North, 692 F.2d 880, 886 (2nd Cir. 1982), cert. denied, 460 U.S. 1051 (1983)). 89 Unter Hinweis auf Sinn und Zweck der „beschränkten Haftung“ tendenziell a. A. Eckert/Grechenig/Stremitzer (Fn. 29), S. 113. 90 Diesbezügliche Erwägungen fehlen bei Kuntz, GmbHR 2008, 121, 123. 91 Im Recht der GbR ist es nach BGHZ 150, 1 (in Ausnahme zu BGHZ 142, 315 und BGHZ 146, 341) für geschlossene Immobilienfonds, die reine Kapitalanlagegesellschaften sind, möglich, durch formularmäßige Vereinbarungen zu erreichen, dass alle Gesellschafter nur pro rata für die Gesellschaftsverbindlichkeiten haften.

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b) Die Probleme der Abgrenzung in der Praxis und der Gesellschaften mit heterogener Gesellschafterstruktur Dies sind die logischen und damit theoretisch auch maßgeblichen Ableitungen aus der Erkenntnis, dass die Privilegierung der Geschäftsleiter durch die Business Judgment Rule dem ureigenen Interesse der Gesellschafter entspricht. Allein, es zeigt sich ein wohl kaum zu überwindendes Problem: Mit diesen Ableitungen ließe sich in der Praxis nicht arbeiten. Das hat weniger damit zu tun, dass es dort ganz allgemeine Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Frage geben würde, ob ein Unternehmen im Einzelfall seiner Art und Struktur nach darauf angelegt ist, von diversifiziert investierenden Gesellschaftern getragen zu werden. Das Kernproblem sind Unternehmen mit heterogener Gesellschafterstruktur, also mit risikoneutralen und risikoaversen Gesellschaftern. Grundannahme der hier angestellten Überlegungen war schließlich, dass Gesellschafter ihrerseits risikoavers sind, dass sie aber rational handeln, wenn sie Geschäftsleitern Anreize geben, risikoneutral zu entscheiden; genau das setzt – ohne dass Gesellschafter im Einzelfall etwas Entsprechendes regeln müssten – die Rechtsordnung durch die Business Judgment Rule um. Wenn aber Gesellschafter eine Gesellschaft ist, die ihrerseits bereits (vermittelt durch die Geschäftsleiter) eine risikoneutrale Einstellung hat, dann müsste sich eigentlich ohne Weiteres ergeben, dass die Geschäftsleiter der Tochtergesellschaft risikoneutral handeln können und handeln sollen. Für 100%ige Töchter ergibt sich insofern auch sicher kein Problem. Aber was ist beispielsweise mit einem Joint Venture zwischen einer größeren Aktiengesellschaft und – um einen Extremfall zu bilden – einem Einzelunternehmer, der sein Patent einbringt, wenn dieses Joint Venture in der Rechtsform der GmbH betrieben wird? Dieses Joint Venture setzt bewusst auf die Einbeziehung des Einzelunternehmers und die Nutzung dessen Patents. Doch ändert der Einzelunternehmer seine Risikoeinstellung sicher nicht, nur weil er nunmehr nicht mehr unmittelbar, sondern gleichsam „durch eine Gesellschaft“ unternehmerisch tätig wird und so von seinem Patent profitiert92. Da ein solches Joint Venture seiner Art und Struktur nach gerade nicht darauf angelegt ist, von diversifiziert investierenden Gesellschaftern getragen zu werden, wären die Geschäftsleiter der Joint Venture-GmbH – wenn die dargestellten theoretischen Ableitungen maßgeblich wären – auch nicht durch die Business Judgment Rule geschützt. Das allerdings wäre aus Sicht der am Joint Venture beteiligten Aktiengesellschaft nicht zu erklären: Sie müsste es hinnehmen, die schon erreichte Gewissheit wieder einzubüßen, dass Entscheidungen risikoneutral getroffen werden können – eine Folge, die dem Interesse der Gesellschafter der Aktiengesellschaft erkennbar widerspricht. Sollte sich dann beim Zusammentreffen mehrerer Gesellschaftertypen der risikoneutrale Gesellschafter stets durchsetzen? Oder sollte dies von Beteiligungsverhältnissen abhängen? Welche Grenzen wären dann maßgeblich?

__________ 92 Vgl. schon oben III.1.

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Dies zeigt: Die in der Praxis auftretenden Schwierigkeiten wären so enorm, dass die theoretisch richtige Regel – also die Differenzierung nach Art und Struktur des Unternehmens – zur Anwendbarkeit der Business Judgment Rule schlicht nicht handhabbar ist. In solchen Fällen muss das Recht eine andere Lösung wählen, und diese besteht im vorliegenden Kontext in der Typisierung der Unternehmenseignerstruktur durch Schaffung verschiedener Regeln für die einzelnen Gesellschaftsformen. 2. Konsequenzen einer rechtsformabhängigen Typisierung der Unternehmenseignerstruktur a) Aktienrecht Die Aktiengesellschaft ist – in den Worten des Jubilars – „ohne Zweifel die bestgeeignete Rechtsform für die Risikokapitalversorgung und Steuerung größerer Unternehmen“ und „die Hauptform der kapitalistisch strukturierten Unternehmungen“93. Dabei entspricht die „Publikums-AG dem historischen Leitbild der Aktiengesellschaft am besten“94. Wie sich gezeigt hat, ist auch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur auf Gesellschaften mit diversifiziert investierenden Gesellschaftern zugeschnitten, weil sich nur für solche Gesellschaften sagen lässt, dass es im wohlverstandenen Interesse der Gesellschafter liegt, dass die Geschäftsleiter risikoneutral agieren und dementsprechend durch die Business Judgment Rule geschützt werden. Durch entsprechende Vereinbarungen in der Satzung könnten die Gesellschafter selbst weder den Haftungsmaßstab herabsetzen noch einen „Safe Harbor“ schaffen und folglich auch nicht selbst eine risikoneutrale Einstellung der Geschäftsleiter erreichen. Dies würde gegen das Prinzip der formellen Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) und § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG verstoßen. Deswegen musste der Gesetzgeber – Rechtsentwicklung durch Richterrecht kann freilich dieselbe Funktion erfüllen – im Interesse der Gesellschafter aktiv werden und die Business Judgment Rule im Aktienrecht verankern. Auf der Basis der hier gewonnenen Erkenntnisse lohnt es sich aber, rechtspolitisch darüber nachzudenken, ob für die „kleine AG“ nicht die Möglichkeit geschaffen werden sollte, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in der Satzung abzubedingen. De lege lata ist das wegen § 23 Abs. 5 AktG nicht möglich, sodass die Business Judgment Rule auch in echten Familienunternehmen, die in der Rechtsform der AG betrieben werden, und sogar in der Einpersonen-AG ohne Einschränkungen gilt95. Dort entspricht dies aber, wie gezeigt, regelmäßig nicht dem Interesse der Gesellschafter.

__________ 93 Karsten Schmidt (Fn. 11), § 26 II 1 c). 94 Karsten Schmidt (Fn. 11), § 26 III 2 a). 95 Allerdings ist bei solchen Gesellschaften zu bedenken, dass der Anwendungsbereich der Business Judgment Rule wegen gesteigerter Treupflichten kleiner sein kann. – Vgl. auch Peeples, 60 Notre Dame L. Rev. 456, 492 ff. (1985) zur Bedeutung des „Intrinsic Fairness“-Tests bei der Anwendung der Business Judgment Rule in Close Corporations.

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b) GmbH-Recht Der Typenreichtum ist bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung ungleich größer als bei Aktiengesellschaften. Auch wenn die Praxis durchaus Beispiele für kapitalistisch strukturierte GmbHs liefert, hat man schon aufgrund des heutigen Dualismus von Aktiengesellschaft und GmbH, vor allem aber vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der GmbH davon auszugehen, dass die GmbH trotz des im Ausgangspunkt noch an einer kapitalistischen Struktur orientierten Gesetzes in der Praxis personalistisch strukturiert ist96. Sie ist die typische Rechtsform für ein Unternehmen, das von tatsächlicher Mitarbeit der Gesellschafter geprägt ist, in dem die Gesellschafter also eher Unternehmer als Investoren sind97. Humankapital kann ohnehin kaum diversifiziert investiert werden, und auch hinsichtlich des Vermögens der Gesellschafter besteht eine solche Möglichkeit in diesen Fällen nicht wirklich. Das Kapital ist nämlich im Unternehmen gebunden und kann ihm nur schwer entzogen werden; zudem sollen nicht weitere Gesellschafter aufgenommen werden. Weil solche Gesellschaften dem Leitbild des GmbH-Gesetzes letztlich am ehesten gerecht werden und die allein maßgebliche Rechtfertigung der Business Judgment Rule bei solchen Gesellschaften nicht verfängt98, ist es sehr vernünftig, dass § 43 GmbHG die Business Judgment Rule nicht enthält. Dass – entgegen der ganz herrschenden Meinung – eine analoge Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im GmbH-Recht nicht pauschal angezeigt ist, sollte nach den bisherigen Ausführungen auf der Hand liegen99. Erwägenswert bleibt damit eine Analogie allenfalls im Einzelfall, nämlich bei kapitalistisch strukturierten GmbHs und bei 100%igen Töchtern von Aktiengesellschaften. Doch insofern ist zusätzlich zu den schon angesprochenen, ggf. auch dort bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten zu bedenken, dass die Gesellschafter im GmbH-Recht nicht auf den Gesetzgeber bzw. Richter angewiesen sind, um die Risikoaversität der Geschäftsleiter zu überwinden. Schließlich haben sie es – in Bezug auf Konzerntöchter ist das besonders augenfällig – selbst in der Hand, den Haftungsmaßstab des § 43 GmbHG im Gesellschaftsvertrag zu verän-

__________ 96 Ulmer in Ulmer/Habersack/Winter, 2005, Einl. GmbHG Rz. A 72; Fleischer, GmbHR 2008, 673 ff. 97 Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, Einl. GmbHG Rz. 3, 24 und 30; H. P. Westermann in Scholz, 10. Aufl. 2006, Einleitung GmbHG Rz. 39. 98 Dies konzediert auch Kuntz, GmbHR 2008, 121, 122; wenig überzeugend sodann aber ders., GmbHR 2008, 121, 123 f. – Konsequent hingegen Booth, 53 Bus. Law. 429, 436 und 470 ff. (1998) zur typischen Risikoeinstellung und zu Diversifizierungsmöglichkeiten von Gesellschaftern in Close Corporations. 99 Im Übrigen passen auch einige andere der „klassischen“ Rechtfertigungen der Business Judgment Rule im GmbH-Recht nicht wirklich, denn zum Beispiel gibt es dort keine Kontrollmechanismen des Kapitalmarkts (vgl. Peeples, 60 Notre Dame L. Rev. 456, 487 (1984)) und die Geschäftsleitung liegt regelmäßig nicht in den Händen einer Gruppe, sondern in denen von ein oder zwei Geschäftsführern.

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dern100, der Business Judgment Rule in ihrer Gesellschaft zur Geltung zu verhelfen und so den Geschäftsleitern jeden notwendigen Anreiz zu geben, Entscheidungen risikoneutral zu fällen101. Selbst wenn es an einer solchen Regelung im Gesellschaftsvertrag fehlt, bleibt es den Gesellschaftern unbenommen, den Geschäftsleitern Weisungen zu erteilen, wenn risikoreiche Entscheidungen zu treffen sind. Im Einzelfall – etwa bei erkennbar kapitalistisch strukturierten oder als Konzerntochter einer Aktiengesellschaft fungierenden GmbHs – mag man auch an eine ergänzende Satzungsauslegung statt an eine analoge Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG denken, wenn Geschäftsleitern im Einzelfall Schutz vor der Haftung für unternehmerische Fehlentscheidungen zukommen sollte, wie er durch die Business Judgment Rule gewährt wird. Der Jubilar liegt also ganz richtig, wenn er mahnt, die Business Judgment Rule nicht unbesehen auf das GmbH-Recht anzuwenden102. Die von ihm betonte, in der GmbH viel ausgeprägtere Bindung der Geschäftsleiter an das Vertrauen der Gesellschafter, die Geschäftsleiterentscheidungen durch Weisungen beeinflussen können, korrespondiert ja gerade damit, dass GmbH-Gesellschafter nicht per se ein Interesse an der Risikoneutralität der Geschäftsleiter haben und dass der Gesetzgeber deshalb auch nicht gehalten ist, diese Risikoneutralität durch eine „default rule“ im GmbH-Recht zu schaffen. c) Immobilienfonds in der Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts Wegen der akzessorischen Haftung der Gesellschafter für Gesellschaftsverbindlichkeiten ist die Anwendung der Business Judgment Rule in Gesellschaften bürgerlichen Rechts grundsätzlich ausgeschlossen103. Geht es aber wie in einigen Immobilienfonds nur um eine pro-rata-Haftung104 und damit gleichsam um eine „Personengesellschaft mit beschränkter Haftung“, scheint einiges dafür zu sprechen, dass die Geschäftsleiter ebenso risikoneutral agieren können sollen wie in anderen Gesellschaften, die auf eine entsprechende Gesellschafterstruktur angelegt sind. Insbesondere können sich hier keine Abgrenzungsprobleme ergeben, weil die Rechtsprechung die formularmäßige Vereinbarung der pro-rata-Haftung, ohne die sich die Frage der Anwendbarkeit der Business Judgment Rule gar nicht stellen würde, gerade nur in den ganz besonderes gelagerten Fällen der Immobilienfonds, die stets auf einen größeren Gesellschafterkreis angelegt sind, als zulässig erachtet hat.

__________ 100 Zu den Möglichkeiten, § 43 Abs. 2 GmbHG durch Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag zu modifizieren, vgl. etwa Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 2), § 43 GmbHG Rz. 7; BGH, GmbHR 2002, 1197 (zur Verkürzung der Verjährungsfrist); OLG Stuttgart, GmbHR 2003, 835, 837; Joussen, GmbHR 2005, 441, 446 f. 101 Vgl. zur vertraglichen Regelung des Haftungsmaßstabs Miller/Rutledge, 30 Del. J. Corp. L. 343, 379 ff. (2005). 102 Vgl. Fn. 13. 103 Vgl. dazu oben IV. 104 Vgl. dazu Fn. 91.

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An dem für Gesellschaften bürgerlichen Rechts im Ausgangspunkt maßgeblichen Haftungsmaßstab des § 708 BGB, der auf die eigenübliche Sorgfalt abstellt, hat Karsten Schmidt früh Kritik geübt. Er hat diese Norm de lege lata als Auslegungsregel erachtet und de lege ferenda ihre Abschaffung empfohlen105. Die Rechtsprechung wendet § 708 BGB in der Massengesellschaft nicht an106, und diese teleologische Reduktion hat, wie Ulmer107 dargelegt hat, in allen kapitalistischen, von persönlichen Bindungen unabhängigen Gesellschaftsverhältnissen ihre Berechtigung108. Aber eröffnet dies Spielraum für die Anwendbarkeit der Business Judgment Rule? Für den GbR-Immobilienfonds liegt die sachgerechte Lösung erneut in der Vertragsgestaltung und nicht in der analogen Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Da § 708 BGB eine dispositive Norm ist109, kann – ähnlich wie im GmbH-Recht – der Gesellschaftsvertrag eines Immobilienfonds vorsehen, dass die Geschäftsleiter von der Business Judgment Rule geschützt werden. Wenn Anleger davon profitieren sollen, dass Geschäftsleiter risikoneutral handeln, sollte eine entsprechende Regelung in Gesellschaftsverträgen von Immobilienfonds nicht fehlen. So bleibt es Sache der jeweiligen Fondsinitiatoren, im Gesellschaftsvertrag den Haftungsmaßstab festzulegen, und so können Anleger aufgrund einer entsprechenden Information im Fondsprospekt eine bewusste Entscheidung für diesen oder jenen Immobilienfonds treffen. d) GmbH & Co. KG Die Typenvielfalt der GmbH & Co. KGs dürfte die der GmbHs noch übertreffen. Für die hier angestellten Überlegungen ist vor allem an die typische GmbH & Co. KG zu denken, wenn diese als Publikums-KG auf den Beitritt zahlreicher Gesellschafter/Kapitalanleger ausgerichtet ist. Bei ihr dominiert die kapitalistische Struktur ganz eindeutig. Weil die Haftung der Kapitalanleger auf ihre Haftsumme begrenzt ist, führt Diversifikation ganz wie in der Kapitalgesellschaft zur Risikominimierung. Daher liegt es wiederum im Interesse der Anleger, wenn die Geschäftsleiter risikoneutral handeln. Geschäftsleiter einer solchen typischen GmbH & Co. KG ist der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH, der auch gegenüber der Kommanditgesellschaft nach § 43 GmbHG haftet110. Es lassen sich die Ausführungen zur Anwendung

__________

105 Karsten Schmidt, Gesellschaft bürgerlichen Rechts, in: Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts III, 1983, S. 413, 525 ff.; vgl. auch heute noch dens. (Fn. 11), § 59 III 2. 106 BGHZ 69, 207, 209 f.; BGHZ 75, 321, 327 f. 107 In diese Richtung schon Ulmer in MünchKomm.BGB, 1. Aufl. 1980, § 708 BGB Rz. 5; deutlicher sodann ders. in MünchKomm.BGB, 2. Aufl. 1986, § 708 BGB Rz. 5. 108 So auch Karsten Schmidt (Fn. 11), § 59 III 2 b); ebenso schon ders. (Fn. 105), S. 413, 526. 109 Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 708 BGB Rz. 3. 110 BGHZ 75, 321; vgl. zu GmbH & Co. KGs mit kleinerem Kommanditistenkreis auch BGHZ 76, 326, 337 f. und BGH, GmbHR 2002, 588; vgl. im Übrigen – auch zur dogmatischen Begründung – Karsten Schmidt (Fn. 11), § 56 IV 3 b); Binz/Sorg (Fn. 6), § 9 Rz. 14 ff.

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der Business Judgment Rule im GmbH-Recht übertragen: Auch hier wird § 43 GmbHG nicht durch eine entsprechende Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG modifiziert. In der Publikums-GmbH & Co. KG sind dann Regelungen in den Gesellschaftsverträgen – es ist hier nur auf die richtige Verzahnung von GmbH- und KG-Statut zu achten – vernünftig, die die Business Judgment Rule ins Recht der GmbH & Co. KG transportieren. In stärker personalistisch strukturierten GmbH & Co. KGs, insbesondere in Familien-GmbH & Co. KGs, kann ein im Ergebnis ähnlich gelagerter Schutz der Geschäftsleiter erforderlich sein. Das hat dann aber nichts mit dem Interesse der Gesellschafter an risikoneutral agierenden Geschäftsleitern zu tun, sondern mit dem besonderen Vertrauensverhältnis und der engeren persönlichen Verbundenheit in kleineren Personengesellschaften. Unter Umständen kann sich so der Haftungsmaßstab des § 708 BGB auf § 43 GmbHG auswirken111. e) Andere körperschaftliche Rechtsformen Es erscheint müßig, die bislang angestellten Überlegungen auf alle anderen körperschaftlichen Rechtsformen auszudehnen. Das Grundprinzip sollte deutlich geworden sein. Immerhin sei mit Blick auf Verein und Genossenschaft angemerkt: Für die analoge Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Vereinsrecht spricht wenig: Erstens ist durch § 27 Abs. 3 BGB und dessen Verweisung auf § 280 BGB und das Auftragsrecht mit § 276 BGB ohnehin ein flexibler Haftungsmaßstab vorgegeben, der daran denken lässt, dass sich – gerade bei ehrenamtlicher Tätigkeit – aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses auch ein „milderer“ Haftungsmaßstab ergeben kann. Damit ist zu bezweifeln, ob die Anwendung der Business Judgment Rule überhaupt erforderlich ist112. Zweitens sind Vereinsmitglieder kaum einmal mit reinen Kapitalanlegern zu vergleichen, die Interesse an risikoneutralem Handeln des Vorstands haben113; jedenfalls entsprechen Vereine mit entsprechender wirtschaftlicher Tätigkeit nicht dem Leitbild des Vereinsrechts im BGB. Da § 27 Abs. 3 BGB abdingbar ist114, liegt die Lösung auch im Vereinsrecht in der Aufnahme der Business Judgment Rule in die Vereinssatzung, nicht aber im Analogieschluss. Und im Genossenschaftsrecht – hier können entsprechende Überlegungen ohnehin nicht für Genossenschaften mit unbeschränkter Nachschusspflicht gelten – legen der Verbandszweck „verbandsmäßig organisierte Selbsthilfe“ und die damit einhergehende Unmöglichkeit der Genossen, ihr Engagement zu diversi-

__________ 111 Vgl. Ulmer in MünchKomm.BGB (Fn. 109), § 708 BGB Rz. 3. 112 Vgl. dazu Eichler (Fn. 5), § 13. 113 Vgl. allgemein für das Recht der Non-Profit-Organisationen Lee, 103 Colum. L. Rev. 925, 945 ff. (2003). 114 Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 11. Aufl. 2007, Rz. 3417b (noch deutlicher 10. Aufl. 2005, Rz. 3384).

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Carsten Jungmann

fizieren, nahe, dass Risikoneutralität des Vorstands nicht im Interesse der Genossen liegen kann115.

VI. Summa 1. Anleger sind risikoavers. Durch Diversifikation ihrer Investments können sie das spezifische bzw. unsystematische Risiko ihrer Investition weitgehend eliminieren. An risikoaversen und/oder auf Diversifikationsstrategien auf Gesellschaftsebene setzenden Geschäftsleitern haben sie kein (schützenswertes) Interesse. 2. Aus diesem Grund sollen Geschäftsleiter risikoneutral agieren und sich – solange Gläubigerinteressen nicht auf dem Spiel stehen, insbesondere nicht die Insolvenz der Gesellschaft droht – an die Maxime halten können, alle der Gesellschaft möglichen Investitionen mit einem positiven Erwartungswert zu tätigen, und zwar ungeachtet des darin enthaltenen Risikos. Realisiert sich dieses Risiko, darf dies im Interesse des rational denkenden Anlegers keine Haftung der Geschäftsleiter nach sich ziehen. Diesen Schutz der Geschäftsleiter garantiert die Business Judgment Rule. Sie erweist sich damit als eine Regel, die im ureigenen Interesse der Anleger/Gesellschafter liegt. Das ist ihre allein maßgebliche Rechtfertigung. 3. Fehlende (unbeschränkte) persönliche Haftung ist Grundvoraussetzung dafür, dass rational denkende Anleger ein Interesse an risikoneutralem Handeln der Geschäftsleiter haben. Nur dann führt Diversifikation zu einer Risikominimierung. Deshalb lässt sich die Business Judgment Rule überhaupt nur in Gesellschaften rechtfertigen, in denen kein Gesellschafter persönlich unbeschränkt für die Gesellschaftsverbindlichkeiten haftet. Schon aus diesem Grund ist die Business Judgment Rule kein Institut des allgemeinen Verbandsrechts. 4. Theoretisch müsste die Business Judgment Rule Geschäftsleiter in all den Unternehmen privilegieren, die – ohne dass es im Übrigen auf ihre Rechtsform ankommt – ihrer Art und Struktur nach darauf angelegt sind, von (einer Gesellschaft mit) diversifiziert investierenden Kapitalgebern getragen zu werden. Die mit einem solchen Ansatz verbundenen Abgrenzungsprobleme in der Praxis sind jedoch nicht vernünftig zu lösen. 5. Sachgerechter ist es daher, in einem typisierenden Ansatz die Frage der Anwendbarkeit der Business Judgment Rule von der Rechtsform des Unternehmens abhängig zu machen. Nur das Aktienrecht ist ganz auf kapitalistisch strukturierte Unternehmen zugeschnitten. Wegen der Satzungsstrenge des Aktienrechts hat die Verankerung der Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ihre volle Berechtigung, weil die Gesellschafter die

__________ 115 Vgl. noch RGZ 13, 43, 46 zur Einschränkung der Haftung des Vorstands durch die Satzung.

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Die Business Judgment Rule – ein Institut des allgemeinen Verbandsrechts?

Risikoneutralität der Geschäftsleiter nicht durch Satzungsbestimmungen erreichen können. 6. Außerhalb des Aktienrechts kommt eine (analoge) Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht in Betracht. Die Lösung im GmbH-Recht, aber auch im Recht der anderen Körperschaften, des Immobilienfonds in Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und der (typischen) GmbH & Co. KG liegt in der entsprechenden Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags. Wenn das Unternehmen seiner Art und Struktur nach darauf angelegt ist, von (einer Gesellschaft mit) diversifiziert investierenden Gesellschaftern getragen zu werden, sollte der Gesellschaftsvertrag eine Regelung enthalten, die der Business Judgment Rule zur Geltung verhilft. Nur im klar gelagerten Einzelfall kann dasselbe Ergebnis durch ergänzende Satzungsauslegung erreicht werden.

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Susanne Kalss

Der Einfluss von Begünstigten in der österreichischen Privatstiftung Inhaltsübersicht I. Das Besondere der Stiftung II. Privatstiftung – Unternehmerische Komponente III. Begünstigte – Typenbildung IV. Wahrung der gesetzlichen Begünstigtenrechte V. Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Stifters

VI. Einflussmöglichkeiten der Begünstigten VII. Begünstigter – Stifter VIII. Besondere Rechte der Begünstigten 1. Festlegung der Zuwendungen 2. Festlegung der Vorstandsvergütung IX. Geschäftsführung durch den Vorstand X. Ausblick

I. Das Besondere der Stiftung Karsten Schmidt beschäftigt sich schon seit langem mit grundlegenden Fragen der Rechtsform der Stiftung1. Stets klingt ein aufgeschlossener, – angesichts der Besonderheit der Rechtsform der Stiftung – aber auch zurückhaltender Ton durch. Bekanntlich liegen die Besonderheiten der Stiftung darin, dass diese juristische Personen ohne verbandsmäßige Organisation und ohne Mitglieder bzw. Eigentümer eine Tendenz zur Abkapselung und Verselbständigung ohne Kontrolle zeigen2; wegen dieser Besonderheit sollte sie – nach Karsten Schmidt – nur zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden können, widrigenfalls werde sie dem Odium der Beliebigkeit und vollkommenen Austauschbarkeit ausgesetzt. Klar positioniert sich Karsten Schmidt für die Beschränkung der Rechtsform der Stiftung auf privilegierte stiftungsadäquate Zwecke, nämlich vor allem zugunsten der gemeinwohlbezogenen Allzweckstiftung3. Wie sehr muss das Konzept der österreichischen Privatstiftung, das nicht auf gemeinnützige Zwecke beschränkt ist, sondern für alle erlaubten Zwecke, ins-

__________ 1 S. nur Karsten Schmidt, Stiftungswesen – Stiftungsrecht – Stiftungspolitik, 1987; Karsten Schmidt, Wohin steuert die Stiftungspraxis, DB 1987, 261; Karsten Schmidt, Konzessionssystem und Stiftungsrecht, in v. Campenhausen/Kronke/Werner (Hrsg.), Stiftungen in Deutschland und Europa, 1998, S. 229 ff.; Karsten Schmidt, Ersatzformen der Stiftung und selbständige Stiftung, Treuhand und Stiftungskörperschaft, in Hopt/Reuter (Hrsg.), Stiftungsrecht in Europa, 2001, S. 175 ff.; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 173 ff. 2 Karsten Schmidt, DB 1987, 261; Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 5. 3 Ausdrücklich Karsten Schmidt, Brave New World, Deutschland und seine Unternehmenserben auf dem Weg in ein Stiftungs-Dorado, ZHR 166 (2002), 145, 149.

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besondere auch eigennützige Zwecke offen ist, den Jubilar befremden? Dennoch scheint das österreichische Privatstiftungsgesetz für maßgebliche Gedanken Karsten Schmidts offen, nämlich etwa für die Notwendigkeit der Stiftungsorganisation, um das Funktionieren der Stiftung sicherzustellen. Ausdrücklich anerkennt er – etwa für die unselbständige Stiftung – den Stifter als QuasiStiftungsaufsicht4. An dieser Stelle soll nun aber nicht die Einwirkungs- und Aufsichtsbefugnis, somit die Rolle des Stifters im Rahmen der Governance einer österreichischen Privatstiftung ausgelotet werden5. Vielmehr sollen die Rechte und Einflussmöglichkeiten der Begünstigten in der Privatstiftung angesprochen werden, was in der gemeinwohlbezogenen Allzweckstiftung zwar kaum vorstellbar ist. In der österreichischen Privatstiftung, die mit der Öffnung zur Eigennützigkeit auch die bloß relativierte Abkapselung und Emanzipation der Stiftung vom Stifter anerkennt, können sich diese Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten einzelner bestimmter Begünstigter durchaus als sinnvoll erweisen. Karsten Schmidt hat in so vielfältiger und nachhaltiger Weise das österreichische Unternehmensrecht inspiriert und geprägt6. Vielleicht und hoffentlich kann er aus den Überlegungen zum österreichischen Privatstiftungsrecht Inspiration für die Lösung von Stiftungsfragen zum deutschen Recht beziehen.

II. Privatstiftung – Unternehmerische Komponente Das österreichische Privatstiftungsgesetz (PSG) ist fast genau 15 Jahre alt und damit auch die Einrichtung der Privatstiftung. Selbst wenn der Stiftung gerade zuletzt in der öffentlichen – internationalen – Diskussion starker Wind entgegenbläst7, erfreut sich diese Rechtsform großer Beliebtheit. Im Frühjahr 2008 sind über 3.000 Privatstiftungen in das österreichische Firmenbuch eingetragen. Viele Privatstiftungen sind nun bereits älter als 10 Jahre. Die Stifter, die ihre Unternehmen bzw. Beteiligungen an Unternehmen und sonstige Vermögenswerte in Stiftungen eingebracht haben, leben zum Teil nicht mehr, zum Teil sind sie aus Altersgründen nicht mehr in der Lage, die Geschicke ihrer Unternehmen bzw. Stiftungen zu lenken. Stiftungen dienen zum Teil der Abschirmung des Vermögens bzw. des Unternehmens des Stifters vor seinen Nachkommen, viel häufiger aber der Bestandsicherung in der Hand der Familie. Damit ist die Nachfolgegeneration in der Privatstiftung angesprochen. Teilweise findet sie sich als Zweit- oder Nebenstifter in der Stifterstellung, typischerweise aber vor allem in der Begünstigtenrolle wieder.

__________ 4 Karsten Schmidt in Stiftungsrecht in Europa (Fn. 2), S. 175, 186 f. 5 S. dazu nur Keller, Einflussnahmen des Stifters, 2006; Kalss/Zollner, Ausübung und Änderung von Stifterrechten bei einer Stiftermehrheit, GesRZ 2006, 227; Nowotny, Stifterrechte – Möglichkeiten und Grenzen, JBl 2003, 779. 6 S. nur Krejci/Schmidt, Vom HGB zum Unternehmergesetz, 2002, S. 67 ff. 7 S. nur Finanzminister Steinbrück anlässlich eines Treffens der EU-Finanzminister in Brüssel, zitiert nach Handelsblatt v. 15.5.2008, S. 6.

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Der Einfluss von Begünstigten in der österreichischen Privatstiftung

In der öffentlichen Diskussion wird zum Teil beklagt, dass Stiftungen die Unternehmerpersönlichkeiten fehlen8; zu oft sollen primär auf die Begrenzung der Eigenhaftung bedachte Fremdverwalter am Werk sein9. Stiftungen können bei zunehmender Entfernung der Stiftung vom Stifter in die Gefahr geraten, nicht von unternehmerisch agierenden Vorstandsmitgliedern gelenkt, sondern nur passiv verwaltet zu werden. Die notwendige unternehmerische Rückbindung fehlt. Dies schadet nicht allein der einzelnen Stiftung, sondern insgesamt der Volkswirtschaft, wird doch eine Vielzahl maßgeblicher Unternehmen von Stiftungen gehalten bzw. geleitet. Begünstigte als typische Nachkommen der ersten Stiftergeneration sind durchaus nicht bloß unfähige Rentiers, sondern vielfach unternehmerisch talentiert, sodass deren aktive Rolle in der Stiftung naheliegt.

III. Begünstigte – Typenbildung Begünstigte bilden ein maßgebliches Element bei der Festlegung des Stiftungszwecks; das Gesetz geht von der Existenz von Begünstigten aus10. Begünstigte gehören nicht zur Organisation der Stiftung, sie sind außenstehende Dritte und keine Organe. Der Privatstiftung liegt – nach seinen teils zwingenden, teils dispositiven Regelungen – das gesetzgeberische Leitbild zugrunde, zwar alles für die Begünstigten, aber nicht durch die Begünstigten zu können. Zugleich sind Begünstigte einer eigennützigen Privatstiftung aber am ehesten mit einem Eigentümer des Vermögens vergleichbar11, da sie typischerweise an der Werterhaltung und -steigerung des in der Stiftung gebündelten und in seinem Wohl dienenden Vermögens interessiert sind12. Als stiftungsinteressierte Personen13 sind Begünstigte vom Gesetz jedenfalls anerkannt (§§ 5, 6, 30, 35, 36 PSG).

__________ 8 Vgl auch die Artikel in der Wirtschaftspresse: Format v. 2.5.2008, S. 32; Die Presse v. 14.10.2006; Die Presse v. 23.9.2006. 9 Vielfach übernehmen Wirtschaftstreuhänder und Rechtsanwälte gleichsam im Rahmen der Betreuung eines Unternehmens auch das Mandat des Stiftungsvorstands. Abgesehen vom Problem der Ämterkumulierung (zum Teil über 40 Stiftungsvorstandsmandate!) stellen sich dabei vielfach auch Fragen von Inkompatibilitäten und – schwer ausgleichbaren – Interessenkonflikten. 10 Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, 1995, § 1 PSG Rz. 34; in Österreich ist jüngst aber eine Diskussion über die Notwendigkeit von Begünstigten begonnen worden, s. dazu Nowotny, Zum Mythos des Verbots der Selbstzweckstiftung, ZFS 2006/1, 4; Kuhn, Überlegungen zum Gespenst der Selbstzweckstiftung, in Eiselsberg (Hrsg.), Jahrbuch Stiftungsrecht 07, 2007, S. 79; umgekehrt Eiselsberg, Mythos, Gespenst oder Goldenes Kalb, Nachwort des Herausgebers, in Eiselsberg (Hrsg.), Jahrbuch Stiftungsrecht 07, 2007, S. 353; s. aber nunmehr auch OGH, GesRZ 2007, 134; ferner Kodek, Die Löschung der Selbstzweckstiftung im Spannungsfeld von materiellem Recht, Rechtssicherheit und Verfahrensrecht, GesRZ 2008, 6. 11 Ausdrücklich ErlBem 1132 BlgNR 18. GP 27; Nowotny, Fragen des neuen Privatstiftungsgesetzes, GesRZ 1994, 4. 12 Kalss, Die Privatstiftung als Baustein des Gesellschaftsrechts, in Doralt/Kalss (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Privatstiftungsrechts, 2001, S. 61. 13 Zum Begriff Kalss (Fn. 12), S. 62.

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Der Wortlaut des Gesetzes kennt bloß einen Begünstigtenbegriff, die Praxis hat hingegen eine unterschiedliche Typologie von Begünstigen entwickelt. Griffig lassen sich die unterschiedlichen Typen als Begünstigte mit klagbarem Anspruch, als aktuell Begünstigte sowie als potentiell Begünstigte umschreiben14. Neben den Begünstigten, die einen klagbaren Anspruch auf ihre Begünstigung in Form einer jährlichen oder zumindest periodisch aufzuklärenden Zuwendung haben, kennt die Kautelarjurisprudenz vor allem Begünstigte, die zwar keinen klagbaren Anspruch auf eine Zuwendung haben, denen gegenüber aber die Beschlussfassung durch den Vorstand bloß eine rechtlich formale Angelegenheit ist (aktuell Begünstigte). Das Anwartschaftsrecht ist in der Stiftungsurkunde bzw. Zusatzurkunde bereits so klar formuliert ist, sodass dem Vorstand praktisch kein Ermessen über die Auswahl der Zuwendungsempfänger zukommt und er jedenfalls einen bestimmten Betrag oder allenfalls einen Betrag im Rahmen einer vorgegebenen Bandbreite zu bestimmten hat. Fallen hingegen bestimmte Personen zwar grundsätzlich in den Kreis der Begünstigten, kommt ihnen aber keine unmittelbare Anwartschaft auf eine Zuwendung der Stiftung zu, sondern ist die Zuwendung vielmehr noch vom Eintritt einer Bedingung oder einer Befristung abhängig, so ist von potenziell Begünstigten auszugehen. Als Beispiel möge eine Formulierung dienen, wonach Begünstigte alle Angehörigen einer bestimmten Familie sind. Für die tatsächliche Begünstigtenzuwendung reicht aber nicht die Mitgliedschaft in der Familie, vielmehr hängt die unmittelbare Anwartschaft vom Erreichen z. B. des 30. Lebensjahrs ab. Bis zum Erreichen des 30. Lebensjahres ist die betreffende Person bloß als potentiell Begünstigter anzusehen. Ab dem Erreichen des 30. Lebensjahrs ist sie aktuell begünstigt. Ähnliche Fallkonstellationen finden sich bei Gestaltungen, wenn die unmittelbare Anwartschaft einer Person vom Vorversterben einer anderen abhängt, etwa bei nach Stämmen ausgerichteten Familienstiftungen, bei denen stets nur die dem Stifter nächstfolgende Generation zum Zug kommen soll. Begünstigte sind etwa die leiblichen Nachfolger des Stifters, jeweils aber nur die nächste dem Stifter nachfolgende Generation. Hat der Stifter zwei Töchter, die jeweils zwei Kinder haben und einen Sohn, der drei Kinder hat, aber vorverstorben ist, so sind die zwei Töchter und die drei vom Sohn stammenden Enkel aktuell begünstigt. Die Kinder der noch lebenden Töchter sind hingegen nur potenziell Begünstigte.

IV. Wahrung der gesetzlichen Begünstigtenrechte Das Gesetz räumt Begünstigten nur wenig Rechte ein, nämlich das Informationsrecht, das Recht auf vorzeitige Abberufung von Organen und Rechte in Zusammenhang mit der Auflösung der Privatstiftung. Die Ausdifferenzierung der Begünstigtentypen ist keineswegs bloß akademische Ordnungsübung, vielmehr ist sie erforderlich, um im Lichte der Zwecksetzung der einzelnen Regelungen des Privatstiftungsrechts tatsächlich inte-

__________ 14 Ausführlich dazu Kalss/Zollner, Die gesetzlichen Begünstigtenrechte, GesRZ 3/2008.

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ressengerechte und ausgewogene Lösungen zu erzielen. Dies zeigt sich bei den gesetzlichen Rechten der Begünstigten ebenso wie bei satzungsmäßig eingeräumten Befugnissen. Begünstigte haben Informationsrechte gemäß § 30 PSG. Sie beziehen sich primär auf ihre vermögensrechtliche Stellung. Einem Begünstigten steht nach dieser Regelung das Recht auf Auskunft über die Erfüllung des Stiftungszwecks zu15. Er hat ein Recht auf Einsichtnahme in den Jahresabschluss, in den Lagebericht, in den Prüfungsbericht, in die Bücher, in die Stiftungsurkunde und in die Stiftungszusatzurkunde. Selbst wenn das Gesetz nur ausdrücklich von Einsicht in die Stiftungsurkunde und Stiftungszusatzurkunde spricht, ist ähnlich wie im GmbH-Recht davon auszugehen, dass der Begünstigte auch – wohl auf eigene Kosten – Kopien ziehen kann16. Das Informationsrecht kommt als Instrument der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Bemessung der Zuwendung dem Begünstigten mit einem klagbaren Anspruch ebenso zu, wie einem Begünstigten, der eine aktuelle Anwartschaft auf die Zuwendung hat. Bei einem potentiell Begünstigten reicht die Einbeziehung in den allgemeinen Kreis der Begünstigten nicht aus, vielmehr muss ein qualifizierendes Element, nämlich insbesondere etwa die zeitliche Nähe zur Zuwendung, das Fehlen sonstiger Begünstigter oder auch die Gravität eines Informationsanlasses, hinzutreten, um auch diesem die Informationsrechte gemäß § 30 PSG zuzuerkennen17. Begünstigte haben weiters das Recht, gemäß § 27 PSG bei Gericht den Antrag auf vorzeitige Abberufung von Vorstandsmitgliedern zu stellen. Jedenfalls kommt dieses Recht Begünstigten mit klagbarem Anspruch und aktuell Begünstigten zu18. Bei potentiell Begünstigten sind wieder die vorhin angestellten Überlegungen von Relevanz. Schließlich haben Begünstigte gemäß § 35 Abs. 3 PSG ein nachgeordnetes Antragsrecht auf Auflösung der Privatstiftung durch das Gericht bzw. das Recht, einen rechtswidrigen Auflösungsbeschluss zu bekämpfen.

V. Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Stifters Trotzdem das Gesetz den Begünstigten nur wenige Recht einräumt, ordnet es nicht zwingend den vollständigen Ausschluss der Begünstigten von Gestaltungs- und Entscheidungsaufgaben in der Privatstiftung an. Das PSG ist gerade umgekehrt von einer gesetzlichen Offenheit mit einer weitgehenden Gestaltungsfreiheit des Stifters gekennzeichnet. Er kann die Stiftungserklärung in hohem Maß nach seinen Vorstellungen gestalten. Das Gesetz sieht für diese grundsätzlich bestehende weitgehende privatautonome Gestaltungsfreiheit nur wenige Einschränkungen und explizite gesetzliche Begrenzungen vor.

__________ 15 S. dazu Hofmann, Der Auskunftsanspruch des Begünstigten einer Privatstiftung, GesRZ 2006, 17 ff.; Kalss/Zollner, GesRZ 3/2008. 16 S. auch Arnold, Privatstiftungsgesetz, 2. Aufl. 2007, § 30 PSG Rz. 10a. 17 S. dazu Kalss/Zollner, GesRZ 3/2008. 18 S. nur Kalss, Die vorzeitige Abberufung des Stiftungsvorstands aus wichtigem Grund, in GS Walz, 2007, S. 330.

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Beispiele dieser gesetzlichen Beschränkungen sind etwa die Inkompatibilitätsregelungen für die Besetzung von Organfunktionen durch die Begünstigten. § 15 Abs. 2 PSG schließt Begünstigte (Ehegatte, Verwandte in gerader Linie oder bis zum dritten Grad der Seitenlinie) nach dem Gesetzeswortlaut vom Vorstandsamt aus. § 20 Abs. 3 PSG normiert den Ausschluss vom Amt des Stiftungsprüfers und schließlich dürfen gemäß § 23 Abs. 2 PSG Begünstigte nicht die Mehrheit in einem gesetzlich vorgesehenen Aufsichtsrat stellen. Auch im Bereich der Unvereinbarkeiten ist es sinnvoll, den unter III. herausgearbeiteten differenzierten Begünstigtenbegriff anzuwenden und nach dem jeweiligen Zweck einzusetzen. Ein genauerer Blick zeigt dabei, dass eine schematische Anwendung der Unvereinbarkeitsregelungen auf alle Typen von Begünstigten zu zum Teil überschießenden Ergebnissen führt. Hat etwa ein Begünstigter einen klagbaren Anspruch, der in der Höhe feststeht, so besteht an und für sich kein Interessenkonflikt, der ihn von einem Vorstandsamt ausschließen würde. Ein Interessenkonflikt ist wohl auch nicht gegeben, wenn der Begünstigte einen klar umrissenen Zuständigkeitsbereich im Stiftungsvorstand ausfüllt und er jedenfalls nicht über das Ausmaß der Zuwendung mitentscheidet und seine Tätigkeit jedenfalls keinen Einfluss auf die Höhe der Zuwendung hat. Vom entgegengesetzten Blickwinkel aus betrachtet, ist davon auszugehen, dass eine Regelung, die potentiell Begünstigte, die frühestens in etlichen Jahren erst in den Genuss einer Zuwendung der Stiftung kommen, von jeglicher Vorstandstätigkeit ausschließt, überschießend ist, da Interessenkonflikte bei vielen Gestaltungen eben nicht bestehen. Ähnlich wie für das Informationsrecht müssen qualifizierende Elemente (zeitliche Nähe der möglichen Zuwendung, Wahrscheinlichkeit des Anfalls etc.) hinzutreten, damit die Unvereinbarkeit tatsächlich greift. Neben den Unvereinbarkeitsbestimmungen von Begünstigten- und Organträgerrollen markieren die gesetzliche Ausgestaltung des Vorstands und die Reichweite seiner autonomen Geschäftsführung und Entscheidungsgewalt die Grenzen der satzungsmäßigen Ausgestaltung durch den Stifter19.

VI. Einflussmöglichkeiten der Begünstigten Dem Stifter stehen im Wesentlichen drei Gestaltungsebenen offen, um Einflussmöglichkeiten zugunsten der Begünstigten zu etablieren: a) Mitwirkung an Grundlagenentscheidungen (Stifterrechte) b) Zuerkennung eigenständiger Rechte (Zuwendung, Vorstandsvergütung) c) Geschäftsführung (Einfluss auf den Vorstand, Strategie – Einzelmaßnahmen)

__________ 19 S. dazu Arnold (Fn. 16), § 15 PSG Rz. 18 ff.

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VII. Begünstigter – Stifter Ein Stifter kann sich in der Stiftungsurkunde weitreichende Rechte vorbehalten, um seinen Einfluss in der Stiftung nachhaltig abzusichern. Von Bedeutung ist vor allem die Einräumung des Änderungs- und Widerrufsrechts gemäß §§ 33 f. PSG. Die Stifterstellung und die Stellung als Begünstigter schließen einander nicht aus. Ein Begünstigter kann daher auch Stifter sein und damit grundsätzlich auch alle Stifterrechte ausüben, es sei denn, sie sind von Gesetzes wegen mit der Begünstigtenstellung inkompatibel, wie etwa die Übernahme eines statutenmäßig eingeräumten Vorstandsmandats durch den (die) Stifter. Zu beachten sind dabei aber die oben unter V. angesprochenen Differenzierungen. In der Praxis wird gerade bei Familienstiftungen vielfach der Weg gewählt, möglichst viele Stifter in die Stiftungssatzung aufzunehmen, um auch der nachfolgenden – begünstigten – Generation die Gestaltungsrechte des Stifters in die Hand zu geben. Die nachträgliche Begründung der Stifterstellung ist generell und daher auch für einen Begünstigten nicht möglich20. Ist der Begünstigte einer von mehreren Stiftern, obliegt die Ausübung der Stifterrechte mangels abweichender Regelung in der Stiftungserklärung den Stiftern gemeinsam21. Die Stiftungserklärung kann aber auch vorsehen, dass nur ein Stifter oder die Stifter und damit auch der Stifter-Begünstigte nur in abgestufter Weise an der Entscheidungsfindung mitwirken. Typischerweise werden die Rechte zunächst dem Hauptstifter allein, anschließend den Zeit- oder Nebenstiftern zugeordnet22. Die Gestaltung der Ausübung der Stifterrechte kann bei entsprechendem Änderungsvorbehalt in der Stiftungssatzung auch nachträglich geändert werden23. Ist der Begünstigte hingegen nicht zugleich als Stifter in der Stiftungserklärung ausgewiesen, so ist es dennoch zulässig, die Ausübung der Stifterrechte, insbesondere etwa das Änderungs- und Widerrufsrecht, an die Zustimmung eines Dritten, daher auch des Begünstigten, zu binden24. Bei der Zustimmung eines sonstigen Familienangehörigen, eben des Begünstigten, können auch die Wertungen von § 364c ABGB, wonach Belastungs- und Veräußerungsverbote für Liegenschaften nur im engsten Familienkreis greifen, auf das stiftungsrechtliche Gestaltungsrecht übertragen werden. Sieht man in dem Zustimmungsrecht des Begünstigten bloß eine Modalität der Ausübung des stifterlichen Gestaltungsrechts, so erscheint es zulässig, ein derartiges Zustimmungs- oder Vetorecht eines Begünstigten bei Vorliegen eines entsprechenden Änderungsvorbehalts in der ursprünglichen Stiftungssatzung auch nachträglich zu etab-

__________ 20 OGH, ZfS 2006, 118. 21 OGH, GeS 2004, 391. 22 S. dazu OGH v. 13.3.2008 – 6 Ob 49/07k; OGH v. 13.3.2008 – 6 Ob 50/07g; Kalss/ Zollner, GesRZ 2006, 227. 23 OGH v. 13.3.2008 – 6 Ob 50/07g; OGH, GeS 2004, 391. 24 OGH v. 13.3.2008 – 6 Ob 50/07g; OLG Linz v. 13.12.2001 – 6R 206/01h (Vorstand); Hochedlinger/Hasch, „Exekutionssichere“ Gestaltung von Stiftungserklärungen, RdW 2002, 196; zurückhaltender Arnold (Fn. 16), § 33 PSG Rz. 76.

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lieren bzw. umgekehrt aufzugeben25. Der Begünstigte erlangt damit einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausübung zentraler Gestaltungsrechte in der Privatstiftung. Die angesprochenen Mitwirkungsrechte der Begünstigten hängen unmittelbar an den Gestaltungsrechten des Stifters. Sobald diese Rechte – durch Tod des Stifters – erlöschen, fallen die daran anknüpfenden Rechte der Begünstigten ebenso weg. Die Rechtsposition der Begünstigten ist damit unmittelbar an die Gestaltungskraft des Stifters gebunden. Wird ein Änderungsrecht vom Stifter ausgeübt, das an die Zustimmung bzw. das mangelnde Veto eines Begünstigten geknüpft ist, liegt eine wirksame Änderungserklärung des Stifters erst bei Zustimmung des Begünstigten vor. Die rechtmäßig zustande gekommene Erklärung muss dem Stiftungsvorstand zugehen. Der Vorstand hat die Änderung bei Gericht unter Vorlage der Änderungserklärung zu beantragen; antragsbefugt ist allein der Stiftungsvorstand26. Zwar kommt weder dem Vorstand ein Zustimmungsrecht noch dem Gericht ein Genehmigungsrecht der Änderung durch den Stifter zu27, dennoch hat das Firmenbuchgericht im Rahmen des Eintragungsverfahrens jedenfalls ein Prüfungsrecht auf die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens der Änderungserklärung nach den Regelungen der Stiftungsurkunde. Aus der Pflicht des Vorstands nur rechtskonforme Anträge bei Gericht einzubringen, ist ein Prüfungsrecht und eine -pflicht bezogen auf das rechtskonforme Zustandekommen der Änderungserklärung abzuleiten. Weder der Stifter noch der Begünstigte haben – nach der allgemeinen restriktiven Judikatur des OGH28 – im Firmenbuchverfahren Parteistellung, sodass ein Begünstigter, dessen Zustimmung bei eine Änderung nicht eingeholt wurde und die Eintragung dennoch vorgenommen wird, gegen den Eintragungsbeschluss mangels Aktivlegitimation nicht Rekurs erheben kann. Anders als vielfach im Gesellschaftsrecht steht ihm auch kein Anfechtungsrecht der Erklärung des Stifters bzw. der allfälligen Beschlussfassung zu. Naturgemäß kann ein Begünstigter eine Überprüfung der Eintragung gemäß § 10 FBG anregen. Inwieweit aber das Gericht verpflichtet ist, bei mangelnder Zustimmung des Begünstigten zu einer Änderung durch den Stifter eine bereits vollzogene Eintragung aufzuheben, ist offen, erscheint aber letztlich sehr zweifelhaft. Abseits des firmenbuchrechtlichen Verfahrens kann ein Begünstigter den satzungswidrig handelnden Stifter und den statutenwidrig anmeldenden Vorstand bei Eintritt eines Schadens zur Haftung heranziehen. Regelmäßig ist aber der Weg der Haftungsklage schwierig und oft auch ökonomisch nicht sinnvoll. Zulässig ist auch ein Unterlassungsbegehren abgesichert durch eine einstweilige Verfügung.

__________ 25 26 27 28

S. dazu Arnold (Fn. 16), § 3 PSG Rz. 51, § 33 PSG Rz. 41. OGH, GesRZ 2007, 349. S. nur Arnold (Fn. 16), § 33 PSG Rz. 37. S. nur OGH, RdW 2007/630, 602.

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Sowohl das firmenbuchrechtliche Anregungsrecht gemäß § 10 FBG als auch die Erhebung einer Unterlassungsklage sowie die Beantragung der einstweiligen Verfügung scheitern oft an der mangelnden Information des Begünstigten. Selbst wenn man den Begünstigten in relativ weitem Umfang (s. oben IV.) das Informationsrecht gegenüber der Stiftung zusichert, ist damit die für die beschriebenen Rechtsmittel notwendige Informationsversorgung keineswegs sichergestellt. Viel realistischer ist das Szenario, dass gerade bei Ausschaltung von Mitwirkungsrechten des Begünstigten die Information absichtlich und gezielt zurückgehalten wird.

VIII. Besondere Rechte der Begünstigten Das PSG sieht an mehreren Stellen die Möglichkeit vor, für bestimmte Aufgaben bzw. Rechte eine Stelle einzurichten. Beispiele dafür sind § 9 Abs. 1 Z 3 PSG für die Bezeichnung des Begünstigten sowie die Festlegung der Zuwendung oder § 19 Abs. 1 PSG für die Festsetzung der Vergütung des Stiftungsvorstands. 1. Festlegung der Zuwendungen Gemäß § 9 Abs. 1 Z 3 i. V. m. § 5 PSG ist eine Stelle eine Einrichtung, die vom Stifter in der Stiftungsurkunde zur Feststellung der Begünstigten oder zur Bestimmung der Höhe der Zuwendung etabliert wird. Eine derartige Stelle kann von einem Organ, z. B. dem Stiftungsvorstand oder einem Stiftungsbeirat, ausgefüllt werden. Umgekehrt fällt eine Stelle, die nur mit der Feststellung der Begünstigten oder der Höhe der Zuwendung betraut ist, sonst aber keine Funktionen in der Stiftung inne hat, mangels umfassender Leitungs- und Überwachungsfunktion nicht automatisch unter den stiftungsrechtlichen materiellen Organbegriff29. Da es dem Stifter freisteht, ob er eine Stelle etabliert und wer die Stelle besetzt, ist es ihm auch möglich, einen oder mehrere Begünstigte (Beirat) in der Stiftungssatzung als Stelle zu etablieren30. Einem Begünstigten kann daher bei der Frage der Auswahl der Begünstigten sowie der Festlegung der konkreten Zuwendung durch die Stiftung eine maßgebliche Gestaltung eingeräumt werden. Der Vorstand ist an die Entscheidung der Stelle grundsätzlich gebunden. Somit besteht ein Weisungsrecht der Stelle und damit des Begünstigten gegenüber dem Vorstand bei Feststellung der Begünstigten bzw. Festlegung der Höhe der Zuwendung31. Allein wenn die Entscheidung der Stelle mit dem Stiftungszweck unvereinbar ist und mit der Zuwendungssperre ge-

__________ 29 Torggler, Reformanliegen zum Privatstiftungsgesetz, ÖStZ 2004, 397. 30 Arnold (Fn. 16), § 5 PSG Rz. 45. 31 Vgl Briem, Die rechtliche Stellung eines Begünstigen einer Privatstiftung, in Gassner/Göth/Gröhs/Lang (Hrsg.), Privatstiftungen, 2001, S. 87; Löffler in Doralt/ Nowotny/Kalss, 1995, § 5 PSG Rz. 14.

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mäß § 17 Abs. 2 PSG konfligiert, darf der Vorstand der Stelle und damit dem Begünstigten nicht Folge leisten. Im Bereich der funktionalen Eigentümerrechte (Zuwendung!) kann dem Begünstigten somit eine sehr starke Stellung zuerkannt werden. Zu überlegen ist allerdings, ob das Recht der Begünstigten eine Stelle i. S. v. § 5 PSG zu bekleiden und das Determinierungsrecht der Begünstigten über die Höhe der Zuwendung insofern eingeschränkt ist, als der konkret Begünstigte nicht darüber entscheiden darf, ob er selbst Begünstigter und in den Kreis der Zuwendungsempfänger einzubeziehen ist bzw. dass er nicht selbst die Höhe der ihm zufließenden Zuwendung festlegen darf. Die Problematik liegt – leicht nachvollziehbar – schlicht darin, dass hier materiell ein In-Sich-Geschäft vorliegt, das formal naturgemäß durch die Einbindung des Vorstands unterbrochen wird, aber dennoch entscheidet der konkret Begünstigte über seine Zuwendung. Damit wird das Verbot der Zuwendungsbestimmung in eigener Sache berührt, das durch Einschaltung oder einer anderen Person oder letztlich endgültige Delegation an den Vorstand bewältigt werden kann. Folgt der Stiftungsvorstand zu Unrecht der Entscheidung der Stelle nicht, begeht er eine Pflichtverletzung, die ihn verantwortlich gegenüber der Privatstiftung macht. Zugleich widersetzt er sich der Stelle (entscheidender Begünstigte) sowie auch einem allenfalls übergangenen Begünstigten, sodass auch Haftungsansprüche der Genannten gegenüber dem Vorstand nicht auszuschließen sind, wobei die jeweiligen Haftungsgrundlagen in Gestalt zivilrechtlicher Sonderbeziehungen unterschiedlich sind. 2. Festlegung der Vorstandsvergütung Das Gesetz gewährt dem Stifter bei Regelung der Festsetzung der Vergütung des Stiftungsvorstands gemäß § 19 PSG einen weiten Gestaltungsspielraum, insbesondere lässt das Gesetz es auch zu, dass vom Stifter ein oder mehrere Begünstigte zur Entscheidung über die Vergütung der Vorstandsmitglieder berufen werden. Wiederum kann den Begünstigten dadurch eine bedeutende Stellung eingeräumt werden, legt doch die Stelle die Vergütung ausschließlich fest. Die Zulässigkeit einer derartigen Gestaltung gründet wiederum auf der Überlegung, dass es sich bei der Vergütungsregelung um eigentümergleiche Rechte handelt.

IX. Geschäftsführung durch den Vorstand Einem Begünstigten ist es naturgemäß nicht gestattet, ein Vorstandsmandat, in der Privatstiftung zu übernehmen, die Stiftung zu prüfen oder die Mehrheit in einem gesetzlich eingerichteten Aufsichtsrat zu stellen. Ein oder mehrere Begünstigte können aber berechtigt werden, den Vorstand zu bestellen. Die Position des Begünstigten kann insofern noch gestärkt werden, als ihm auch die Möglichkeit zur bloß befristeten Bestellung des Vorstands gewährt werden kann. Nach der Firmenbuchpraxis ist von der Bestelldauer von mindestens 866

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einem Jahr auszugehen, um den Vorstand vor einem allzu starken Einfluss von Seiten des Bestellenden abzuschirmen32. Die Kompetenz der Abberufung des Stiftungsvorstands kann Begünstigten grundsätzlich ebenfalls zuerkannt werden33. Aus der Inkompatibilitätsregelung sowie aus der Anerkennung der autonomen Stellung des Vorstands in bestimmtem Ausmaß folgen Grenzen für das Abberufungsrecht, sodass der Vorstand generell und insbesondere auch von Begünstigten nur aus wichtigem sachlichem Grund34 abberufen werden kann35. Das PSG steckt den normativen Rahmen für die Einflussnahme auf die Geschäftsführung nicht genau ab. Das Aktiengesetz sieht hingegen gemäß § 70 AktG die weisungsfreie Aufgabenerfüllung des Vorstands vor, § 20 GmbHG statuiert das Weisungsrecht ausdrücklich. Vielmehr ist der Rahmen zulässiger Einflussnahme – auch von Begünstigten – auf die Geschäftsführung und Entscheidungsfindung der Privatstiftung offen und aus dem gesamten Privatstiftungsrecht zu ermitteln. Wenn das Gesetz dem Stifter bereits die Möglichkeit einräumt, den Begünstigten ein so weitgehendes Entscheidungsrecht für eine der maßgeblichen Fragen der Verwaltung der Privatstiftung, nämlich die Festlegung des Ausmaßes der Zuwendung bzw. die Festlegung der Begünstigten zu überlassen, ließe sich mit einem einfachen Größenschluss ableiten, dass auch geringfügigere und weniger weitreichende Entscheidungen an die Weisung eines Begünstigten oder sonst außerhalb des Vorstands Stehenden gebunden werden können. Gerade die letztgenannte Überlegung darf aber nicht zu schematisch auf das komplexe Verwaltungsgefüge der Privatstiftung übertragen werden, vielmehr ist das im PSG verwirklichte Geschäftsführungskonzept zu beachten, wonach dem Stiftungsvorstand, der sich aus mindestens drei Personen zusammensetzt, ein bestimmtes Mindestmaß an eigenständiger Entscheidungsbefugnis zukommen muss. Jedenfalls unantastbar sind die dem Stiftungsvorstand durch das Gesetz eingeräumten Kernzuständigkeiten, wie etwa die Beschlussfassung über die Auflösung der Privatstiftung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen oder die Feststellung des Jahresabschlusses oder die Vertretung der Privatstiftung nach außen. Wo sind die Grenzen der autonomen Geschäftsführungsbefugnis des Stiftungsvorstands gezogen? Der Stifter kann den Vorstand völlig weisungsfrei stellen und ihn damit in seiner Position stärken. Umgekehrt erscheint es aber auch zulässig, den Stiftungsvorstand in seiner Entscheidungsbefugnis einzuschränken, ohne dass damit die gesetzlich notwendige autonome Entscheidungsgewalt verletzt wird. Unzulässig ist eine Regelung, die einem Begünstigten oder einem Begünstigtenbeirat das Recht einräumt, jeder-

__________ 32 Micheler in Doralt/Nowotny/Kalss, 1995, § 15, § 16 PSG Rz. 22; Hochedlinger, Zum Inhalt von Stiftungserklärungen, GeS 2006, 354. 33 Vgl OLG Wien, GesRZ 1999, 259. 34 Vgl Keller (Fn. 5), S. 172 ff.; distanzierter Arnold (Fn. 16), § 15 PSG Rz. 120. 35 OGH, RdW 2001/502, 406; OGH, RdW 2006/412, 439.

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zeit und in jeder Angelegenheit ein unbeschränktes Weisungsrecht auszuüben36. Damit wäre der autonome Entscheidungsspielraum des Stiftungsvorstands in überzogener Weise ausgehöhlt. Zulässig ist es aber umgekehrt, dass der Stifter einem Begünstigten bzw. einem Begünstigtenbeirat das Recht einräumt, für bestimmte ausgewählte Fragen eine Weisungsbefugnis zu etablieren. Bei der genauen Festlegung dieses Weisungsrechts ist jedenfalls darauf Bedacht zu nehmen, dass der Vorstand der Privatstiftung noch über einen ausreichenden Bereich eigenständiger Entscheidungsbefugnis verfügt. Sinnvoll ist es daher, die Maßnahmen, die der Weisung unterliegen, klar festzulegen. Anerkennt man die Befugnis des Stifters, ein Weisungsrecht in dem genannten Ausmaß festzulegen, indem etwa Angelegenheiten sachlich beschrieben bzw. Betragsgrenzen für bestimmte Geschäfte eingezogen werden, so ist es nur konsequent, auch die Befugnis zur Zustimmung zu bestimmten Rechten anzuerkennen, wenn wiederum ein bestimmtes Ausmaß an Entscheidungsfreiheit des Vorstands gewährleistet ist. Die Firmenbuchpraxis anerkennt gerade Zustimmungsrechte weitestgehend, verlangt aber eben zur Sicherung eines privatautonomen Entscheidungsspielraums des Vorstands die Festlegung nach inhaltlichen Gesichtspunkten sowie nach dem Volumen des jeweiligen Geschäfts. Der Unterschied zwischen Weisungs- und Zustimmungsrecht besteht darin, dass beim Weisungsrecht die Initiative bei den Begünstigten liegt, während sie beim Zustimmungsrecht jedenfalls beim Stiftungsvorstand liegt. Der Stifter kann für die Begünstigten auch eine Richtlinienkompetenz etablieren. Folgt der Stiftungsvorstand einer zulässig erteilten Weisung nicht oder beachtet er einen Zustimmungsvorbehalt nicht, so verletzt er eine Bestimmung der Stiftungssatzung, macht sich daher bei Eintritt eines Schadens gegenüber der Privatstiftung verantwortlich. Ob ein einzelner Begünstigter sich gegen die Vorgangsweise des Vorstands wehren kann, hängt von der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Einflussrechte ab, sei es dass es individuell oder organmäßig eingeräumt wird. Eine Weisung oder eine Zustimmung des Begünstigten oder des Begünstigtenbeirats hat ähnlich wie im Gesellschaftsrecht haftungsbefreiende Wirkung. Der Vergleich muss mit der General- bzw. Hauptversammlung einer Gesellschaft und nicht mit einem Aufsichtsorgan gezogen werden: Während etwa die Zustimmung eines Aufsichtsrats in der GmbH oder AG zu einer bestimmten Maßnahme des Vorstands nicht haftungsbefreiend wirkt, weil wiederum nur der Fremdverwalter Aufsichtsrat zustimmt, wirkt die Genehmigung durch die Generalversammlung oder die Hauptversammlung haftungsbefreiend. Begünstigte stehen funktional deutlich näher dem Eigentümer als einem fremdverwaltenden Organträger. Daher liegt es nahe, die Brücke zur Haftungsbefreiung zugunsten des Stiftungsvorstands bei – rechtlich völlig korrekter – Intervention einer oder mehrerer Begünstigten zu schlagen.

__________ 36 Vgl nur Kraus, Richtig Stiften, 2004, S. 90.

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X. Ausblick Das dispositive Gesetzesrecht drängt den Begünstigten der Privatstiftung zurück, die Offenheit und Gestaltungsautonomie des PSG erlauben es dem Stifter aber, den Begünstigten eine sehr starke Rolle in der Stiftung und viele Mitwirkungsrechte einzuräumen. Der Zweck der gesetzlichen und statutenmäßig eingeräumten Rechte der Begünstigten verlangt eine Differenzierung je nach Ausgestaltung der konkreten Begünstigtenstelle. Je stärker Begünstigte in die Entscheidungsfindung eingebunden sind, desto eher kann ein langfristiges Funktionieren der Privatstiftung sichergestellt werden, sind sie doch die wirtschaftlich Interessierten und funktionalen Eigentümer des Vermögens der Privatstiftung.

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Der Kommanditist hinter dem Kommanditisten – Zur Treugeberhaftung in der Insolvenz der Publikums-GmbH & Co. KG Inhaltsübersicht I. Die Publikums-GmbH & Co. KG: ein Kapitalanlagemodell mit Tücken 1. Grundstruktur und typische Haftungslage 2. Wesentlicher Inhalt des Treuhandvertrages 3. Wesentlicher Inhalt des Gesellschaftsvertrages 4. Beitritt zur KG und Ausschüttungen an die Anleger 5. Fragestellung II. Haftung der Anleger als Kommanditisten 1. Wortlaut des Gesellschaftsvertrages und der Beitrittserklärung 2. Einräumung wesentlicher Gesellschafterrechte in der KG 3. Begründung wesentlicher Gesellschafterpflichten in der KG 4. Nichtgesellschafter als Träger mitgliedschaftlicher Rechte und Pflichten? a) Auslegung des Gesellschaftsvertrags im Einzelfall b) Typenzwang im Personengesellschaftsrecht

5. Kommanditistenstellung des Anlegers in der KG 6. Grundlagen der Kommanditistenhaftung in der Insolvenz der Gesellschaft III. Haftung der Anleger als gesellschaftsnahe Dritte 1. Haftung als Schein-Kommanditist 2. Haftung als „Hintermann“ a) Rechtslage im Kapitalgesellschaftsrecht b) Schlussfolgerungen für das Recht der KG 3. Grundlagen der Treugeberhaftung in der Insolvenz der Gesellschaft IV. Irrelevanz eines Widerrufs der Beitrittserklärung für die Kommanditistenhaftung V. Verjährung 1. „Wiederaufgelebte“ Außenhaftung 2. Außenhaftung mangels Eintragung VI. Ergebnisse

I. Die Publikums-GmbH & Co. KG: ein Kapitalanlagemodell mit Tücken 1. Grundstruktur und typische Haftungslage Das Recht der Publikums-KG ist in Bewegung. Dies gilt vor allem für Haftungsfragen, die sich in neuerer Zeit gerade aus der Sicht des Treuhand-Kommanditisten als Kapitalanleger verschärft stellen1. Typisch ist etwa die folgen-

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1 So etwa im Fall BGH, ZIP 2007, 2074; ferner LG Mosbach, EWiR 2008, 19 mit Kurzkomm. Reischl/Keller; Berufungsinstanz: OLG Karlsruhe zu Az. 6 U 148/07; der nach

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de Fallsituation: Der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer als GmbH & Co. KG organisierten Publikumsgesellschaft nimmt die Kapitalanleger aus dem Gesichtspunkt der Kommanditistenhaftung nach §§ 171, 172, 176 HGB in Anspruch. Die Anleger hatten sich über einen Beteiligungstreuhänder an der KG beteiligt. Dabei war nur dieser Treuhänder als Kommanditist im Handelsregister eingetragen. Die Einzelheiten der Beteiligung sind in Treuhandverträgen zwischen den Anlegern und dem Beteiligungstreuhänder sowie im Gesellschaftsvertrag der KG geregelt. Der Verf. hofft, schon mit diesem ersten Problemaufriss das Interesse des Jubilars geweckt zu haben, gehören doch das Recht der Kommanditgesellschaft wie auch das Insolvenzrecht zu den seit jeher von Karsten Schmidt besonders gepflegten Gebieten2. 2. Wesentlicher Inhalt des Treuhandvertrages Zunächst zum Treuhandvertrag, der ersten Säule des Anlagemodells: Im Treuhandvertrag beauftragt der Anleger den Beteiligungstreuhänder, nach Maßgabe der Beitrittserklärung und des Gesellschaftsvertrages eine Kommanditbeteiligung an der KG zu erwerben. Der Treuhänder hält die Beteiligung im eigenen Namen, doch obliegt die Wahrnehmung der vermögensrechtlichen Ansprüche des Anlegers als Treugeber aus der Beteiligung an der Fondgesellschaft dem Treugeber selbst. Er soll gesellschaftsvertraglich Inhaber dieser Ansprüche sein. Auch die mit der Beteiligung verbundenen Verwaltungsrechte übt der Anleger grundsätzlich selbst aus, nur ausnahmsweise der Treuhänder auf Weisung des Anlegers. 3. Wesentlicher Inhalt des Gesellschaftsvertrages Im Gesellschaftsvertrag selbst – der zweiten Säule des Anlagemodells – werden die Anleger mehrfach als „Kommanditisten“ bezeichnet. Sie haben umfangreiche Pflichten gegenüber der Gesellschaft, wie die Pflicht zur Leistung der Einlage unmittelbar an die KG, die Pflicht zur Entrichtung eines Aufgeldes („Agio“) zur Einlage an die KG und die Pflicht zur Entrichtung von Zinsen bei verspäteter Leistung der Einlage. Der Beteiligungstreuhänder hingegen soll nur im Außenverhältnis Kommanditist sein, insbesondere im Verhältnis der KG zu ihren Gläubigern. Dagegen soll der Anleger als Treugeber im Verhältnis der Gesellschafter zueinander und zur KG unmittelbar berechtigt und verpflichtet sein. Der Anleger ist „Kommanditist“ im Sinne des Gesellschaftsvertrags, soweit nicht ausdrücklich eine andere Regelung getroffen ist. Nach dem Gesellschaftsvertrag übernehmen die Kommanditisten über die Verpflichtung zur Leistung der Einlage hinaus weder gegenüber der Gesellschaft, noch gegenüber ihren Mitgesellschaftern oder Dritten Verpflichtungen oder eine Haftung. Der

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Drucklegung dieses Beitrags erschienene Aufsatz von Pfeifle/Heigl (WM 2008, 1485 ff.) konnte nur noch in den Fußnoten berücksichtigt werden. 2 Vgl. nur die Erläuterung der §§ 171 bis 177a HGB im MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2007; jüngst etwa Karsten Schmidt, ZIP 2008, 481 ff. (zur Mittelaufbringung und Mittelverwendung bei der GmbH & Co. KG); ferner Schmidt/Uhlenbruck (Hrsg.), Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003.

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Treuhänder haftet für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wenn und soweit die Kommanditeinlage nicht geleistet oder zurückgewährt wird. Der Anleger hat das Recht zur Mitwirkung in der Gesellschafterversammlung, insbesondere durch Ausübung seines Stimmrechts, und zwar auch in Fragen der Geschäftsführung. Der Treuhänder ist in der Gesellschafterversammlung zur Ausübung der Stimmrechte der weiteren Kommanditisten bevollmächtigt. Er darf jedoch diese Vollmacht nur ausüben, wenn der betreffende Kommanditist in der Gesellschafterversammlung nicht anwesend oder vertreten ist und ihm keine gegenteiligen Weisungen erteilt. Ferner hat der Treugeber-Kommanditist – über das Recht zur Mitwirkung in der Gesellschafterversammlung hinaus – weitere Gesellschafterrechte, wie das Recht zur Kündigung seines Gesellschaftsverhältnisses, das Recht auf Unterrichtung über wesentliche Angelegenheiten der Gesellschaft, das Recht auf Auskunft, Bucheinsicht und Prüfung der Rechnungslegung, das Recht auf Ausschüttungen unmittelbar von der Gesellschaft, das Recht auf Abfindung bei Ausscheiden. 4. Beitritt zur KG und Ausschüttungen an die Anleger Der Beitritt der Anleger zur KG erfolgt mit einer bestimmten Beteiligungssumme durch eine gegenüber dem Beteiligungstreuhänder abgegebene Beitrittserklärung, die von diesem angenommen wird. In der Beitrittserklärung wird die angestrebte Beteiligung als eine solche des Anlegers bezeichnet3, und der Anleger verpflichtet sich zur Einzahlung der Kommanditeinlage auf ein Sonderkonto der Gesellschaft. Bei nicht rechtzeitiger Zahlung kann die Gesellschaft nach dem Gesellschaftsvertrag Verzugszinsen fordern. In der Widerrufsbelehrung wird die Erklärung des Anlegers ausdrücklich als dessen Erklärung über den Beitritt zur X GmbH & Co. KG bezeichnet. Die vereinbarte Beteiligungssumme zahlt der Anleger an die KG. In der Folge erhält er sodann mehrere Ausschüttungszahlungen unmittelbar aus den liquiden Mitteln der KG. Bereits mit Vornahme der ersten Ausschüttung sinkt der Kapitalanteil der einzelnen Anleger unter die geleistete Einlage. Auch später erzielt die KG keine Gewinne, die ausgereicht hätten, die Einlagesumme wieder zu erreichen oder gar zu überschreiten. Der Beteiligungstreuhänder hat seine Freistellungsansprüche aus dem Gesichtspunkt des Aufwendungsersatzes gegenüber den Anlegern (§ 670 BGB) an den Insolvenzverwalter abgetreten. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erklärt eine Reihe von Anlegern gegenüber dem Treuhänder den „Widerruf des Treuhandvertrages“, ferner den Widerruf ihres Beitritts zur KG. Dabei stützten sie sich jeweils auf die Vorschriften über Haustürgeschäfte. 5. Fragestellung Die nachfolgenden Überlegungen gelten der Frage, ob der Anspruch auf Erbringung der Hafteinlage (Haftsumme) bei einer derartigen Vertragsgestaltung vom

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3 Typische Klausel: „Ich bin damit einverstanden, dass die Treuhandgesellschaft meine Beteiligung nach außen im eigenen Namen hält …“.

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Insolvenzverwalter unmittelbar gegenüber den Anlegern geltend gemacht werden kann und welche Vorschriften hinsichtlich der Verjährung gelten. Aus Raumgründen unberücksichtigt bleibt die nicht eigentlich gesellschaftsrechtliche Problematik eines Vorgehens des Insolvenzverwalters aus dem abgetretenen Freistellungsanspruch des Beteiligungstreuhänders. Ein Anspruch aus §§ 171, 172, 176 HGB setzt u. a. voraus, dass die Anleger insoweit passiv legitimiert sind. Auf diesen Teilaspekt sind die nachfolgenden Ausführungen beschränkt. Der Haftung nach §§ 171, 172, 176 HGB unterliegen Kommanditisten (nachfolgend unter II.), sowie bestimmte gesellschaftsnahe Dritte, die sich wie ein Kommanditist behandeln lassen müssen (nachfolgend unter III.)4. Ergänzende Überlegungen gelten dem Widerruf nach Verbraucherrecht (nachfolgend unter IV.) und der Verjährung (nachfolgend unter V.).

II. Haftung der Anleger als Kommanditisten Nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung in § 161 Abs. 1 HGB ist ein Gesellschafter einer KG Kommanditist, wenn bei ihm die Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern auf den Betrag einer bestimmten Vermögenseinlage beschränkt ist. Zu prüfen ist daher, ob der Anleger überhaupt Gesellschafter der KG wurde (nachfolgend unter II.1.–4.), und ob – bejahendenfalls – bei ihm eine Haftungsbeschränkung i. S. d. § 161 Abs. 1 HGB wirksam vereinbart wurde (nachfolgend unter II.5.). Besonderheiten gelten für die Kommanditistenhaftung in der Insolvenz (nachfolgend unter II.6.) Ob der Anleger Gesellschafter der KG wurde, beurteilt sich anhand des Gesellschaftsvertrages der KG sowie der Beitrittserklärung des Anlegers selbst. Aus dem Gesamtbild dieser beiden Rechtsgeschäfte muss sich der konkrete Rechtsfolgewillen aller Beteiligten ergeben, den Anleger unmittelbar als Gesellschafter an der KG zu beteiligen5. Dieser konkrete Rechtsfolgewille (Geschäftswille) ist im Wege der Auslegung zu ermitteln6. 1. Wortlaut des Gesellschaftsvertrages und der Beitrittserklärung Schon dem Wortlaut des oben unter I.3. skizzierten Gesellschaftsvertrages lässt sich an zahlreichen Stellen entnehmen, dass der Anleger (Treugeber) Gesellschafter der KG sein soll, und zwar als Kommanditist. So stellt der Vertrag klar, dass die „unmittelbar“ über den Treuhänder beteiligten Gesellschafter „im folgenden als Kommanditisten bezeichnet“ werden, ohne dass dem ein einschränkender Zusatz beigefügt wäre. Dass in Wirklichkeit gar keine bloß

__________ 4 Koller in Koller/Roth/Morck, HGB, 6. Aufl. 2007, §§ 171, 172 HGB Rz. 7 mit Verweis auf Treugeber eines Kommanditisten als mögliche Haftungsadressaten. 5 So zutreffend im Ansatz Brömmelmeyer, Fehlerhafte Treuhand? – Die Haftung der Treugeber bei der mehrgliedrigen Treuhand an Beteiligungen, NZG 2006, 529, 530 nach Fn. 19. 6 Vgl. nur Larenz/Wolf, AT des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 24 Rz. 9 ff., § 28 Rz. 12.

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mittelbare Beteiligung gewollt ist, zeigt die weitere Regelung im Gesellschaftsvertrag, wonach die Treugeber „unmittelbar“ berechtigt und verpflichtet sein sollen, ihnen also eigene mitgliedschaftliche Rechte und Pflichten zukommen sollen. Diese Treugeber – erläutert der Gesellschaftsvertrag – „sind daher Kommanditisten im Sinne dieses Gesellschaftsvertrages“. Und in der „Beitrittserklärung“ erklärt der Anleger seinen „Beitritt zu der … KG“. Umgekehrt heißt es an keiner Stelle des Gesellschaftsvertrages oder der Beitrittserklärung, der Treugeber solle in Wirklichkeit nicht Gesellschafter der KG sein. Mit Recht hat daher auch das OLG Frankfurt a. M. in einem Urteil vom 30.11.2004 schon allein in der Bezeichnung der Anleger als „Gesellschafter“ ein ganz starkes Indiz für eine tatsächlich gewollte Gesellschafterstellung der Anleger erblickt7. Im dort entschiedenen wie auch im hier zugrunde gelegten Fall werden die Anleger mithin nicht „wie ein Gesellschafter“ beteiligt, und sie werden auch nicht bloß so gestellt, „als seien sie Kommanditisten“8. Gewollt ist vielmehr eine unmittelbare Beteiligung der Anleger an der KG als Gesellschafter. 2. Einräumung wesentlicher Gesellschafterrechte in der KG Bestätigt wird diese Wortlautauslegung des Gesellschaftsvertrages und der Beitrittserklärung durch die Einräumung wesentlicher Gesellschafterrechte in der KG (Kündigung seines „Gesellschaftsverhältnisses“; Mitwirkung in der Gesellschafterversammlung, insbesondere durch Ausübung seines Stimmrechts; Unterrichtung über wesentliche Angelegenheiten der Gesellschaft; Auskunft, Bucheinsicht und Prüfung der Rechnungslegung; Ausschüttungen; Abfindung bei Ausscheiden). Diese Rechte stehen dem Anleger originär zu, d. h. sie leiten sich nicht von Rechten des Treuhänders ab; der Treuhandvertrag (oben I.2.) besagt dies ausdrücklich9. Für die Ausübung seiner Rechte aus der Beteiligung ist der Anleger daher nicht auf den Treuhänder angewiesen10. Speziell für das Stimmrecht wird im Gesellschaftsvertrag sogar ausdrücklich hervorgehoben, dass der Treuhänder zur Ausübung der Stimmrechte der weiteren Kommanditisten „bevollmächtigt“ ist: Dies setzt voraus, dass Inhaber des Stimmrechts der TreugeberKommanditist selbst ist, denn für die Ausübung eines ihm selbst zustehenden Gesellschafterrechts bedürfte der Treuhänder keiner Vollmacht. Rechtsinhaber und daher Vollmachtgeber ist nach dem Vertrag – wie ausgeführt – der Treugeber-Kommanditist. Eine solche eigenständig – d. h. im Gesellschaftsvertrag

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7 Vgl. Brömmelmeyer, Fehlerhafte Treuhand? – Die Haftung der Treugeber bei der mehrgliedrigen Treuhand an Beteiligungen, NZG 2006, 529, 530 zu Fn. 13 (das Urteil ist unveröffentlicht, Az. 24 U 55/03); dazu auch Pfeifle/Heigl, WM 2008, 1485, 1488 f. 8 So die Formulierung in BGH, WM 1987, 811 = NJW 1987, 2677 Ls. 2. 9 Zur Unterscheidung von derivativer und originärer Berechtigung des Treuhänders vgl. eingehend Tebben, Die qualifizierte Treuhand im Personengesellschaftsrecht, ZGR 2001, 586, 596 ff. 10 Typische Klausel: „Im Innenverhältnis, im Verhältnis der Gesellschafter zueinander und zur Gesellschaft, werden auch diese Treugeber entsprechend ihren Anteilen an der von dem Beteiligungstreuhänder gehaltenen Kommanditanteile unmittelbar berechtigt und verpflichtet.“ (Hervorhebung nicht im Original).

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selbst – begründete Berechtigung des Treugebers nimmt auch die Rechtsprechung im Regelfall an11. In einer derartigen Konstellation liegt es nahe, mit dem erwähnten Urteil des OLG Frankfurt a. M. vom 30.11.200412 aus dem Umfang und der Ausgestaltung der gesellschaftsvertraglich begründeten Rechtsstellung des Treugebers dessen Gesellschafterstellung als solche zur folgern. Parallelen zum dort entschiedenen Sachverhalt bestehen bei dem hier vorausgesetzten Kapitalanlagemodell (oben I.) in mehrfacher Hinsicht: Den Anlegern werden umfassende, den Kernbereich einer Kommanditbeteiligung ausmachende Mitgliedschaftsrechte eingeräumt. Ihnen wird nicht bloß die Ausübung bestimmter, an sich dem Treuhänder zustehender Gesellschafterrechte gestattet. Die Position des Treugebers ist daher gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren13. Der BGH drückt dies so aus: Durch die Begründung der qualifizierten (offenen) Treuhand werde der Treugeber in das Gesellschaftsverhältnis einbezogen; durch die Vereinbarung mit dem Treugeber werde das Innenverhältnis unter den Gesellschaftern gestaltet; die Gestaltung führe zu einer direkten Beteiligung des Treugebers an der Gesellschaft14. Weil neben dem Treugeber aber der Treuhänder Gesellschafter ist und bleibt, spricht der BGH zutreffend von einer Verdoppelung der Gesellschafterstellung15. Insbesondere die Einräumung des Stimmrechts zeigt, dass eine Beteiligung des Anlegers als Gesellschafter gewollt ist. Denn in der Personengesellschaft gibt es keine eigenständigen Entscheidungsbefugnisse ohne das Korrektiv der gesellschaftsrechtlichen Bindung gegenüber den Mitgesellschaftern und der – im Falle der KG unter bestimmten Voraussetzungen beschränkbaren – Haftung gegenüber den Gläubigern16. Wer mit Zustimmung aller Gesellschafter eigenständige Entscheidungsbefugnisse in der Gesellschaft ausübt, beteiligt sich an der gemeinsamen Verfolgung des Gesellschaftszwecks und wird damit zum Gesellschafter17. Der Erwerb der Gesellschafterstellung ist also die selbstverständliche Rechtsfolge der Einräumung originärer Stimmrechte.

__________ 11 Vgl. Tebben, ZGR 2001, 586, 596 ff., 599; nachfolgend etwa BGH, NZG 2003, 915, m. w. N.; ferner BGH, WM 1987, 811; BGHZ 10, 44, 49 f. 12 Az. 24 U 55/03; berichtet bei Brömmelmeyer, NZG 2006, 529, 530. 13 H. M.: Wiesner, Zur Haftung des Treugeberkommanditisten bei der qualifizierten Treuhand, in FS Ulmer, 2003, S. 673, 678; Tebben, Die qualifizierte Treuhand im Personengesellschaftsrecht, ZGR 2001, 586, 599 ff., 601; Ulmer in MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2004, § 705 BGB Rz. 92 f. („vertragliche Einbeziehung des Treugebers in das Rechtsverhältnis der Gesellschafter“). 14 So nahezu wörtlich BGH, WM 1987, 811; dazu Tebben, ZGR 2001, 586, 600 f. 15 BGHZ 118, 107, 113; ebenso schon Lutter, Neues zum Gesellschaftsdarlehen? Zur Entscheidung „Hamburger Stahlwerke“ (HSW) des BGH, ZIP 1989, 477, 483; ferner etwa Ulmer, Zur Treuhand an GmbH-Anteilen: Haftung des Treugebers für Einlageansprüche der GmbH?, ZHR 156 (1992), 377, 388; weitere Nachw. bei Armbrüster, Die treuhänderische Beteiligung an Gesellschaften, 2001, S. 186 f. 16 Grdl. Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, § 21 II 3c, S. 341. 17 So wörtlich Kübler/Assmann (Fn. 16), S. 342.

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Nur diese Betrachtung entspricht auch dem Grundsatz der Selbstorganschaft im Personengesellschaftsrecht: Anerkannt ist nämlich, dass die Gesellschafter als Organe der Gesellschaft tätig werden, soweit sich das Stimmrecht – wie hier – auf Fragen der Geschäftsführung bezieht18. Eine gesellschaftsvertragliche Regelung, die einer Person gesellschaftsrechtliche Mitentscheidungsbefugnisse in Geschäftsführungsangelegenheiten einräumt, ist also nur dann wirksam, wenn dieser Person zugleich die Gesellschafterstellung eingeräumt wird. Denn als Nichtgesellschafter könnte sie mangels Organfähigkeit nicht über Geschäftsführungsangelegenheiten entscheiden. Auch weil der Wille der Vertragsparteien im Zweifel auf eine den Vertragszweck – hier: die Verschaffung des Stimmrechts in Geschäftsführungsangelegenheiten – nicht gefährdende Gestaltung gerichtet ist19, ist die Einräumung einer Gesellschafterstellung mit der Einräumung des Stimmrechts zwingend verbunden. Letztlich ist die Einstufung des Anlegers als Gesellschafter mithin also nur die von allen Beteiligten gewollte Folge des mitgliedschaftlichen Charakters der ihm eingeräumten Rechte, denn: „Es gibt kein Mitgliedschaftsrecht ohne Mitgliedschaft.“ (Beuthien)20. Speziell für das Stimmrecht steht hinter diesem Satz der auf dem Abspaltungsverbot (§ 717 Satz 1 BGB) fußende Gedanke, dass nicht ein Außenstehender zu Lasten der Gesellschafter ohne unmittelbares eigenes Haftungsrisiko gegenüber den Gesellschaftsgläubigern die gesellschaftliche Willensbildung mitbestimmen können soll21. Wesentliche Gesellschafterrechte stehen dem Anleger ferner in Gestalt der gesellschaftsvertraglichen Informations- und Kontrollrechte für alle „Kommanditisten“ zu (Auskunft, Bucheinsicht, Prüfung der Rechnungslegung), die sogar weit über den gesetzlichen Rahmen des § 166 HGB hinausgehen. Auch die insofern starke, vom Treuhänder gänzlich unabhängige Rechtstellung des Treugebers deutet auf eine unmittelbare gesellschaftsrechtliche Beteiligung des Treugebers an der KG hin22. Dass in der Einräumung wesentlicher Gesellschafterrechte zugleich der auf Verschaffung der Gesellschafterstellung selbst gerichtete Rechtsfolgewillen der Beteiligten zum Ausdruck kommt, zeigt schließlich folgende Kontrollüberlegung: Wer kein Stimmrecht, kein Gewinnrecht und keinen Liquiditätsanteil besitzt, ist kein Gesellschafter23. Denn diese Rechte machen den Kern der Gesellschafterstellung aus. Wenn aber im Entzug dieser Kernrechte der Entzug

__________ 18 Ulmer in MünchKomm.BGB (Fn. 13), § 709 BGB Rz. 62; Wiesner in FS Ulmer, 2003, S. 673, 678 f. 19 BGHZ 152, 153, 158 = NJW 2003, 819, 820; Heinrichs in Palandt, BGB, 66. Aufl., 2007, § 133 Rz. 24. 20 So Beuthien (ZGR 1974, 26, 55) in seiner grundlegenden Untersuchung über die „Treuhand an Gesellschaftsanteilen“. 21 Beuthien, ZGR 1974, 26, 55; plastisch Tebben, ZGR 2001, 586, 607 f.: „Richtigkeitsgewähr durch Selbstbetroffenheit“. 22 Ebenso das OLG Frankfurt a. M. im zitierten Urteil v. 30.11.2004, vgl. Brömmelmeyer, NZG 2006, 529, 530 bei Fn. 14. 23 BGHZ 14, 264, 270.

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der Gesellschafterstellung selbst liegt24, dann bewirkt – umgekehrt – ihre Einräumung zugleich auch die Einräumung der Gesellschafterstellung. 3. Begründung wesentlicher Gesellschafterpflichten in der KG Zudem sehen der Gesellschaftsvertrag und die Beitrittserklärung des hier untersuchten Anlagemodells neben den Gesellschafterrechten (soeben unter II.2.) eine Reihe von Gesellschafterpflichten vor, die den Anleger unmittelbar kraft des Gesellschaftsverhältnisses treffen (Leistung der Einlage unmittelbar an die KG, Entrichtung eines Aufgeldes/„Agio“ zur Einlage, Entrichtung von Zinsen bei verspäteter Leistung der Einlage). Auch diese Pflichtenstellung folgt „unmittelbar“ – so der Gesellschaftsvertrag – aus dem Gesellschaftsverhältnis und bestätigt die oben unter II.1. vorgenommene Wortlautauslegung des Gesellschaftsvertrages und der Beitrittserklärung, wonach die Anleger echte Gesellschafter der KG sind. Besonders deutlich wird dies aus der Pflicht zur Leistung der Einlage unmittelbar an die Gesellschaft. Wer diese klassische Gesellschafterpflicht übernimmt (§§ 705, 706 BGB), beteiligt sich aktiv an der gemeinsamen Zweckverfolgung (§ 705 BGB) und ist schon deshalb ein Mitglied der Gesellschaft25. 4. Nichtgesellschafter als Träger mitgliedschaftlicher Rechte und Pflichten? Nach einigen Urteilen zur Treuhand können einem Treugeber, der nicht selbst Gesellschafter wird, für den aber – wie hier – ein Gesellschafter treuhänderisch Anteile hält, durch Vereinbarung mit allen Gesellschaftern unmittelbare gesellschaftsrechtliche Rechte und Ansprüche eingeräumt werden26. Dabei soll sich deren Umfang allein nach dieser Vereinbarung richten, weshalb etwa die KG-Gesellschafter bestimmen könnten, dass die Treuhandvereinbarung mit einem gesellschaftsfremden Dritten im Innenverhältnis zu einer direkten Beteiligung an der Gesellschaft führt27. Weil nach dieser Betrachtungsweise der Treugeber kein Gesellschafter ist, soll er auch nicht den für Gesellschafter zwingenden Vorschriften unterliegen, z. B. über die Außenhaftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern28. Diese Grundsätze sprechen in der hier vorausgesetzten Fallkonstellation jedoch nicht gegen das oben II.1.-3. heraus gearbeitete Zwischenergebnis, dass der Anleger Gesellschafter der KG ist. Denn die Verschaffung der Gesellschafterstellung war schon bisher Auslegungsfrage im Einzelfall (nachfolgend unter a), und sie dürfte in Zukunft vor dem Hintergrund der neueren BGH-Rechtsprechung zum Typenzwang im Personengesellschaftsrecht sogar gänzlich ausscheiden (nachfolgend unter b).

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24 Vgl. BGHZ 14, 264, 270. 25 Grdl. Lutter, Theorie der Mitgliedschaft, AcP 180 (1980), 84, 147 ff.; dazu auch Armbrüster (Fn. 15), S. 186; zur Beteiligung an der Verfolgung des Gesellschaftszwecks als Ausdruck des auf Erwerb der Gesellschafterstellung gerichteten Rechtsfolgewillens s. nochmals Kübler/Assmann (Fn. 16), § 21 II 3c, S. 342. 26 So fast wörtlich BGH, NZG 2003, 915 (Ls.). 27 So BGH, WM 1987, 811, 812 = NJW 1987, 2677. 28 So z. B. Armbrüster (Fn. 15), S. 421, 426; Tebben, ZGR 2001, 597, 612 f.

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a) Auslegung des Gesellschaftsvertrags im Einzelfall Zunächst ist zu betonen, dass der BGH in den angeführten Urteilen vom 13.5.195329, 30.3.198730 und 23.6.200331 das von ihm gefundene Ergebnis einer Einbeziehung des Treugebers bloß in das Innenverhältnis des Gesellschaftsverbandes – ohne Verschaffung einer echten Gesellschafterstellung – stets anhand einer Auslegung der im Einzelfall abgeschlossenen Treuhand- und Gesellschaftsverträge gefunden hat. Die hier untersuchte Fallsituation liegt anders, weil sich die Gesellschafterstellung des Anlegers im Wege der Auslegung ja gerade aus den relevanten Verträgen ergibt (oben II.1.-3.). Dass der BGH in den drei genannten Urteilen die Möglichkeit von gesellschaftsrechtlichen Mitgliedschaftsrechten in der Person von Nicht-Mitgliedern bejaht hat, besagt also nicht, dass dies auch in der hier vorausgesetzten Fallsituation so sein muss. b) Typenzwang im Personengesellschaftsrecht Zudem erscheint höchst zweifelhaft, ob der BGH bei nochmaliger Prüfung an der zuletzt im Urteil vom 23.6.200332 beiläufig getroffenen Aussage festhalten würde, einem Nichtgesellschafter könnten nach freiem Belieben der Gesellschafter bestimmte gesellschaftsrechtliche Rechte und Ansprüche eingeräumt werden. Denn diese Aussage ist mit den neueren Grundsatzurteilen zum Typenzwang im Gesellschaftsrecht schlechterdings unvereinbar: Wegweisend ist in diesem Zusammenhang das „GbRmbH“-Urteil vom 27.9.199933. Im dort zugrundeliegenden Fall wurde der Gesellschafter einer GbR persönlich auf Zahlung von Mietzins für die Überlassung einer technischen Anlage an die Gesellschaft in Anspruch genommen. Er verteidigte sich u. a. mit dem Hinweis darauf, dass die Gesellschaft stets unter dem Namen „D-Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit beschränkter Haftung“ aufgetreten sei. Der BGH verwarf diesen Einwand. Dabei bezog er sich auf den allgemeinen Grundsatz des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts, dass derjenige, der als Einzelperson oder in der Gemeinschaft mit anderen Geschäfte betreibt, für die daraus entstehenden Verpflichtungen mit seinem gesamten Vermögen haftet, solange sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt oder mit dem Vertragspartner keine Haftungsbeschränkung vereinbart wird34. Als gesetzlichen Hauptfall des Ausschlusses einer persönlichen Gesellschafterhaftung betrachtet der BGH die GmbH (§ 13 Abs. 2 GmbHG), wobei hier aber der „Preis“ in Form der Aufbringung und Erhaltung eines Mindestkapitals und der Registerpublizität zu zahlen sei; Gleiches – und das ist für unseren Zusammenhang

__________ 29 30 31 32 33 34

BGHZ 10,44. BGH, WM 1987, 811 = NJW 1987, 2677. BGH, NZG 2003, 915. BGH, NZG 2003, 915. BGHZ 142, 315. So unter B.I.1a der Entscheidungsgründe, BGHZ 142, 315, 319.

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von hoher Bedeutung – gelte im Hinblick auf die KG35. Wer durch anderweitige Gestaltungen – z. B. durch Auftreten als „GbRmbH“ – die persönliche Gesellschafterhaftung ausschließen wolle, verstoße daher gegen den gesellschaftsrechtlichen Typenzwang: Es würde nämlich entgegen dem System des geltenden Rechts eine neue Gesellschaftsform geschaffen, bei der den Gläubigern nur das ungesicherte Gesellschaftsvermögen haftet36. Dieses Urteil hat der BGH nachfolgend mehrfach bestätigt37. Der Typenzwang ist nun freilich auch bei einer gesellschaftsvertraglichen Gestaltung berührt, wonach jemand – wie hier – im Innenverhältnis mit weitreichenden Stimmrechten in den Gesellschafterverband aufgenommen wird, folglich mit den übrigen Gesellschaftern gemeinschaftlich i. S. der „GbRmbH“Entscheidung38 „Geschäfte betreibt“, dabei aber weder persönlich für die Gesellschaftsverbindlichkeiten haftet (GbR/OHG), noch zur Erhaltung des Mindestkapitals und zur Registerpflicht (GmbH) verpflichtet ist, noch der Kommanditistenhaftung unterliegt (KG). Genau diesen Status nimmt der Anleger hier aber für sich in Anspruch, wenn er geltend macht, in Wirklichkeit kein Kommanditist zu sein. Von einem Gesellschaftsverhältnis als „abgestimmte Einheit von Rechten, Pflichten und Verantwortung“, wie es der BGH klassischer Weise versteht39, könnte dabei nicht mehr die Rede sein40. Strukturell betrachtet liefe dies nämlich auf eine KG mit drei Gruppen von Gesellschaftern hinaus: Neben die beiden gesetzlich vorgesehenen Gruppen der persönlich haftenden Gesellschafter und der Kommanditisten (§ 161 Abs. 1 HGB) träte als dritte Gruppe die der „Innen-Kommanditisten“. Den Regeln des Außenverhältnisses (§§ 170 ff. HGB) würden sie nicht unterliegen, sondern die Gläubiger insoweit auf die „echten Kommanditisten“ verweisen dürfen. Ein solches Konstrukt verstieße gegen den im „GbRmbH“-Urteil41 festgehaltenen Grundsatz der persönlichen Haftung – wahlweise: Kapitalaufbringung und -erhaltung – beim Betreiben von Geschäften in Gemeinschaft mit anderen. Die Rechtsprechung zum TreugeberKommanditisten, der nach Art eines Rosinenpickens nur bestimmte Rechtsfolgen im Innenverhältnis der Gesellschafter für sich in Anspruch nimmt, ist daher nicht aufrechtzuerhalten. Insbesondere ist diese Rechtsprechung auch nicht durch die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter im Innenverhältnis (§§ 109, 163 HGB) zu legitimieren42. Denn an diesem Innenverhältnis ist der Treugeber nach der Konstruktion der Rechtsprechung überhaupt nicht betei-

__________ 35 So unter B.I.4 der Entscheidungsgründe, BGHZ 142, 315, 322. 36 BGHZ 142, 315, 322. 37 BGHZ 150, 1, 3; BGH, NZG 2005, 209, 210; dazu Kindler, Grundkurs Handels- und Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, § 10 Rz. 81, S. 229 f. 38 BGHZ 142, 315, 319. 39 BGH, WM 1976, 1247, 1250. 40 A. A. Tebbens, ZGR 2001, 586, 607, 611. 41 BGHZ 142, 315. 42 So aber wohl BGH, WM 1987, 811, 812: „Nur die Gesellschafter … konnten den Anlegern die einem Kommanditisten vergleichbare Stellung verschaffen.“

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ligt43, und über das Außenverhältnis zu den Gläubigern können die Gesellschafter nicht bestimmen. Wie im Fall „GbRmbH“ ist daher auch im vorliegenden Zusammenhang eine Außenhaftung derjenigen Personen geboten, die sich einer gegen den Typenzwang verstoßenden Gestaltung bedienen. Diese Außenhaftung setzt die Gesellschafterstellung voraus; sie kann aber durchaus – wie im Falle eines Kommanditisten – beschränkt sein. 5. Kommanditistenstellung des Anlegers in der KG Steht sonach fest, dass der Anleger Gesellschafter der KG wurde44, so bleibt nur die Frage nach der Zuordnung zu einer der beiden gesetzlich vorgesehenen Gesellschaftergruppen. Einer KG kann man nur als Kommanditist oder als persönlich haftender Gesellschafter beitreten. Andere Formen der Mitgliedschaft – als sonstiger Gesellschafter – sieht § 161 Abs. 1 HGB nicht vor. KG-Gesellschafter haften grundsätzlich persönlich für die Gesellschaftsverbindlichkeiten (§ 128 HGB i. V. m. § 161 Abs. 2 HGB), es sei denn, sie wären Kommanditisten (§ 161 Abs. 1 HGB). Dabei hängt die Kommanditistenstellung von der zusätzlichen Voraussetzung ab, dass bei dem betreffenden Gesellschafter die Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern auf den Betrag einer bestimmten „Vermögenseinlage“ beschränkt ist. Gemeint ist damit die den Gesellschaftsgläubigern gegenüber maßgebliche Haftsumme i. S. d. §§ 171 ff. HGB, nicht die nach §§ 705, 706 BGB i. V. m. §§ 105 Abs. 3, 161 Abs. 2 HGB der Gesellschaft gegenüber geschuldete Einlage45. Das Gesetz regelt nicht, wie die Beschränkung der Haftung eines Gesellschafters, aus der sich dann die Kommanditistenstellung ergibt, herbeizuführen ist. Die Vorschriften des § 176 HGB zeigen aber immerhin, dass die Kommanditistenstellung weder von der Eintragung der Gesellschaft selbst als KG noch von der Eintragung des Kommanditisten in das Handelsregister abhängt. Ausreichend – aber auch erforderlich – ist danach, dass im Gesellschaftsvertrag die Beschränkung der Außenhaftung des Gesellschafters auf eine bestimme Haftsumme ihren Ausdruck findet46. Unerheblich für den Erwerb der Kommanditistenstellung ist, ob es wirklich gelungen ist, im Außenverhältnis die Haftung zu beschränken47. Im Gesellschaftsvertrag müssten mithin die beschränkte Haftung der als Kommanditisten anzusehenden Gesellschafter und die Höhe dieser Haftung vereinbart sein48. Mit Blick auf die – wie hier – nicht eingetragenen Komman-

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43 So zutreffend schon Beuthien, ZGR 1974, 26, 52. 44 Es gibt keine „Zwitterstellung zwischen Gesellschaft und Treuhand“; so aber Giesecke, Besondere Probleme bei der unmittelbaren Beteiligung an einer Publikums-KG durch einen Treuhand-Kommanditisten, DB 1984, 970, 973; dazu Armbrüster (Fn. 15), S. 184. 45 Schilling in Staub/Schilling, HGB, 4. Aufl. 1987, § 161 HGB Rz. 15 a. E. 46 Vgl. Hüffer, Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2007, § 24 Rz. 3: „Der Gesellschaftsvertrag der KG muss die Vereinbarung enthalten, dass wenigstens einer der Gesellschafter nur beschränkt haftet.“ 47 Grunewald in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2007, § 161 HGB Rz. 2. 48 Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 21. Aufl. 2008, § 18 Rz. 6, S. 201.

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ditisten bestimmt der hier zugrunde gelegte Gesellschaftsvertrag (oben unter I.3.) aber nur, dass über die Verpflichtung zur Leistung der Einlage hinaus die Kommanditisten weder gegenüber der Gesellschaft, noch gegenüber ihren Mitgesellschaftern oder Dritten Verpflichtungen oder eine Haftung übernehmen, insbesondere keine Ausgleichsverpflichtung gegenüber den persönlich haftenden Gesellschaftern oder eine Nachschusspflicht. Die Kernaussage dieser Klausel ist, dass die Kommanditisten gegenüber Dritten nicht haften. Zu diesen Dritten zählen auch die Gläubiger der KG. Drei verschiedene Auslegungen dieser Klausel sind denkbar: (1) Nach dem Wortlaut der Klausel liegt ein Haftungsausschluss gegenüber den Gesellschaftsgläubigern vor. Ein derartiger Haftungsausschluss erfüllt nach dem Wortlaut des § 161 Abs. 1 HGB nicht das Erfordernis einer bloßen Beschränkung der Haftung auf einen bestimmten Betrag. Bei dieser Auslegung der Klausel wären die „Kommanditisten“ daher nicht Kommanditisten, sondern – wegen ihrer Gesellschafterstellung, oben unter II.1.–3. – sogar persönlich haftende Gesellschafter der KG. Als solche könnten sie ihre Haftung nicht mit Wirkung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern ausschließen (§§ 161 Abs. 2, 128 Satz 2 HGB). Die Gläubigeransprüche könnte der Insolvenzverwalter direkt gegen sie geltend machen (§ 93 InsO). (2) Gegen eine solch reine Wortauslegung spricht, dass die Treugeber nach ihrem erklärten Willen und dem der übrigen Gesellschafter Kommanditisten der Gesellschaft werden sollten, nicht persönlich haftende Gesellschafter (oben II.1.–3.). Mit diesem rechtsgeschäftlichen Willen wäre an sich eine Auslegung der Klausel vereinbar, die diese nicht als Haftungsausschluss, sondern als Beschränkung der Haftung i. S. d. § 161 Abs. 1 HGB deutet, und zwar auf eine Haftsumme von null Euro. Die Festlegung einer solchen Haftsumme begegnet keinen grundsätzlichen Bedenken, da das Gesetz keine Mindestsumme normiert49. Vielmehr ist die Festlegung einer „Haftsumme Null“ nur die radikalste Form der Haftungsbeschränkung. Bedenken aus dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes bestünden insoweit nicht, da den Gläubigern diese Haftsumme erst ab Handelsregistereintragung entgegengehalten werden kann. Dies folgt aus § 176 Abs. 1 und 2 HGB. (3) Die dritte – und überzeugendste – Auslegungsvariante besteht freilich darin, die Klausel als Festlegung einer Haftsumme in Höhe der Einlageverpflichtung zu deuten. Denn dafür spricht schon die anerkannte Vermutungsregel, dass bei Festlegung nur der Pflichteinlage diese zugleich den Betrag der Haftsumme bezeichnet50. Auch wird in der Klausel auf die im Innenverhältnis bestehende Einlageverpflichtung ausdrücklich Bezug genommen, indem eine darüber hinausgehende Haftung ausgeschlossen wird („Über die Verpflichtung zur Einlage hinaus …“; oben I.3.). Diese Formulierung der Klausel legt den Gegenschluss nahe, dass bis zur Höhe der Einlageverpflichtung auch im Außenverhältnis gehaftet werden soll. Wie eine „Haftsumme Null“ – vgl. soeben

__________ 49 Vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2007, §§ 171, 172 HGB Rz. 21. 50 Zu dieser Vermutungsregel Schilling in Staub/Schilling (Fn. 45), § 161 HGB Rz. 17.

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unter (2) – könnte auch diese Haftsumme den Gläubigern erst ab Handelsregistereintragung entgegengehalten werden kann. Dies folgt wiederum aus § 176 Abs. 1 und 2 HGB. Im Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass der Anleger in der KG die Stellung eines Kommanditisten hat, da der Gesellschaftsvertrag seine Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern betragsmäßig beschränkt hat (§ 161 Abs. 1 HGB). Die entsprechende gesellschaftsvertragliche Regelung ist als Vereinbarung einer Haftsumme in Höhe der in der Beitrittserklärung übernommenen Einlageverpflichtung zu verstehen. 6. Grundlagen der Kommanditistenhaftung in der Insolvenz der Gesellschaft Ist – wie hier – keine Haftsumme im Handelsregister eingetragen, so haftet der Kommanditist dem Insolvenzverwalter nach § 176 Abs. 2 HGB i. V. m. § 176 Abs. 1 HGB und § 93 InsO. Auf die Kenntnis der einzelnen Gläubiger von der Gesellschaftszugehörigkeit des Kommanditisten kommt es dabei nicht an51. Da hier allerdings eine GmbH & Co. KG vorliegt, ist die Haftung analog §§ 171, 172 HGB auf den im Gesellschaftsvertrag (i. V. m. der Beitrittserklärung) vereinbarten Einlagebetrag beschränkt. Dies folgt aus der typischen Verkehrserwartung, dass bei der GmbH & Co. KG nur die juristische Person unbeschränkt haftet, während die an der Gesellschaft beteiligten natürlichen Personen allesamt Kommanditisten sind; wie der Jubilar schon früh herausgearbeitet hat, kann eine solche Verkehrserwartung freilich nur entstehen, wenn die Gesellschaft – was hier unterstellt werden soll – den nach § 19 Abs. 2 HGB gebotenen Rechtsformzusatz tatsächlich auch im Geschäftsverkehr verwendet52. Eine unbeschränkte Haftung nach §§ 128, 161 Abs. 2 HGB, § 93 InsO tritt demgegenüber ein, wenn man den Anleger entgegen der hier vertretenen Auffassung – mangels Festlegung einer Haftsumme im KG-Vertrag – sogar als persönlich haftenden Gesellschafter ansehen sollte, oben unter II.5. bei (1). Wäre für den Anleger – wie hier nicht – eine Haftsumme im Handelsregister eingetragen, so würde er als Kommanditist im Falle der Einlagenrückgewähr in den Grenzen von § 172 Abs. 4 HGB haften. Weil die Rechtsfolge im Wiederaufleben der nach § 171 Abs. 1 HGB angeordneten Haftung besteht, kommt insoweit auch die Aktivlegitimation des Insolvenzverwalters zum Zuge, § 171 Abs. 2 HGB. Dass daneben u. U. die Kommanditistenhaftung des Treuhänders eingreift, ist unschädlich. Seit jeher betrachtet die Rechtsprechung eine Verdoppelung der Haftsumme in bestimmten Konstellationen des Eintritts eines neuen Kommanditisten als unproblematisch53.

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51 BGHZ 82, 209, 212 f. = NJW 1982, 883; Hüffer, Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2007, § 26 Rz. 33. 52 So tendenziell schon früh Karsten Schmidt, ZHR 144 (1980), 192, 202 ff.; ders., NJW 1983, 2260 f. (Anm. zu BGH, NJW 1983, 2258); Karsten Schmidt in MünchKomm. HGB (Fn. 49), § 176 HGB Rz. 50; vgl. dazu zuletzt OLG Frankfurt a. M., ZIP 2007, 1809 = NZG 2007, 625 mit zahlr. Nachw.; Specks, RNotZ 2008, 143, 149 f. 53 Zuletzt BGH, DStR 2006, 50 unter III.1. a. E. der Entscheidungsgründe, mit zust. Anm. Goette = NZG 2006, 15 = NJW-RR 2006, 107.

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III. Haftung der Anleger als gesellschaftsnahe Dritte Im Folgenden wird unterstellt, die Anleger seien – entgegen den Ausführungen oben unter II. – nicht Gesellschafter der KG geworden. In Betracht kommt dann eine Haftung als Schein-Kommanditist (nachfolgend unter III.1.) oder als Hintermann des Treuhand-Kommanditisten (nachfolgend unter III.2.). Ergänzende Überlegungen sind in der Insolvenz der Gesellschaft anzustellen (nachfolgend unter III.3.). 1. Haftung als Schein-Kommanditist Scheingesellschafter ist, wer den Anschein erweckt oder unterhält, als Gesellschafter einer scheinbaren oder – wie hier – tatsächlich bestehenden Gesellschaft anzugehören, während er in Wirklichkeit Nichtgesellschafter ist54. Im Verhältnis zu gutgläubigen Dritten, die auf das Vorliegen einer Gesellschaftsbeteiligung konkret vertraut haben und deshalb mit der Gesellschaft Geschäfte getätigt haben, muss sich der Scheingesellschafter wie ein wirklicher Gesellschafter behandeln lassen55. Je nach dem, ob der Scheingesellschafter als persönlich haftender Gesellschafter oder als Kommanditist aufgetreten ist, richtet sich die Haftung nach §§ 128 ff. HGB bzw. §§ 171 ff. HGB. Dies gilt gerade auch für Scheingesellschafter, die zugleich als Treugeber in einem Treuhandverhältnis zu einem echten Gesellschafter stehen56. Wer als Kommanditist auftritt, ohne im Handelsregister eingetragen zu sein, haftet daher nach § 176 Abs. 2 HGB57. In der hier angenommenen Fallsituation (oben unter I.) würde eine solche Haftung freilich den Nachweis durch den Insolvenzverwalter (§ 93 InsO) erfordern, dass ein Anleger gegenüber den Gläubigern als Kommanditist aufgetreten ist. Die Teilnahme an Gesellschafterversammlungen in der KG als verbandsinterne Tatsache reicht hierfür – mangels Erkennbarkeit für die Gläubiger – nicht aus. 2. Haftung als „Hintermann“ a) Rechtslage im Kapitalgesellschaftsrecht Im Kapitalgesellschaftsrecht unterliegt auch der „Hintermann“ eines Gesellschafters den Regeln über die Kapitalaufbringung und -erhaltung. So erstreckt § 46 Abs. 5 AktG die Haftungstatbestände für die Gesellschaftsgründer in § 46 AktG (u. a. unrichtige oder unvollständige Angaben, Auswahl einer ungeeigneten Zahlstelle, Schädigung der Gesellschaft, Ausfallhaftung für leistungsunfähige Mitaktionäre) auf Personen, für deren Rechnung die Gründer Aktien

__________ 54 Kindler, Grundkurs Handels- und Gesellschaftsrecht (Fn. 37), § 10 Rz. 46, S. 217. 55 Vgl. Koller in Koller/Roth/Morck (Fn. 4), § 105 HGB Rz. 29. 56 So ausdrücklich Koller in Koller/Roth/Morck (Fn. 4), § 105 HGB Rz. 20; Schiemann, Haftungsprobleme bei der Treuhand an Gesellschaftsanteilen, in FS Zöllner, 1998, S. 503, 511; ferner etwa Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), § 105 HGB Rz. 260. 57 Koller in Koller/Roth/Morck (Fn. 4), § 176 HGB Rz. 8.

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übernommen haben. Ferner sieht § 62 Abs. 1 AktG einen Rückgewähranspruch der Gesellschaft gegen den Aktionär hinsichtlich solcher Leistungen vor, die der Aktionär entgegen den aktienrechtlichen Vorschriften (insbesondere § 57 AktG) von der Gesellschaft erhalten hat. Auch diese Haftung greift nach herrschender Lehre analog § 46 Abs. 5 AktG gegenüber einem Hintermann, und zwar insbesondere dann, wenn der Aktionär die Aktien treuhänderisch für einen Treugeber hält und dieser eine verbotene Zuwendung aus dem Gesellschaftsvermögen erhält58. Grundlage dieser analogen Anwendung der Hintermann-Haftung (§ 46 Abs. 5 AktG) auf die Fälle der verbotenen Auszahlung (§§ 57, 62 AktG) ist die Korrelation von Einwirkungsmöglichkeiten und Verantwortung: Der Treugeber kann nicht einerseits eine Person als Gesellschafter vorschieben, vermittels derer er wie ein Gesellschafter Einfluss ausübt, sich aber andererseits den haftungsrechtlichen Konsequenzen entziehen und gesellschaftsrechtlich verbotene Auszahlungen für sich behalten59. In BGHZ 31, 258 hatte der Bundesgerichtshof diesen Gedanken bereits herangezogen und den Treugeber eines GmbH-Gesellschafters als Hintermann analog § 39 Abs. 5 AktG 1937 (§ 46 Abs. 5 AktG 1965) zentralen Regeln der Kapitalaufbringung und -erhaltung unterworfen60. Dabei stellte das Gericht darauf ab, dass der Treugeber schon wegen seines Weisungsrechts gegenüber dem Treuhandgesellschafter bei der Ausübung des Stimmrechts wirtschaftlich der alleinige Gesellschafter sei61. Der Treugeber könne aber einen Treuhandgesellschafter vorschieben, dessen Haftung wertlos ist, und so könne die Aufbringung des Stammkapitals gefährdet werden. Weil das Deliktsrecht die Gesellschaft und ihre Gläubiger in derartigen Fällen nur unzureichend schütze, hafte auch der Treugeber als Hintermann für die Rückerstattung verbotener Auszahlungen (§§ 30, 31 GmbHG); ferner unterliege er dem Aufrechnungsverbot (§ 19 Abs. 2 GmbHG)62. Einen Gläubigerschutz auf Umwegen lehnt der BGH ab: Man könne nicht die Gesellschaft und ihre Gläubiger auf die Geltendmachung von – gepfändeten oder abgetretenen – Befreiungsansprüchen des Treuhänders gegen den Treugeber verweisen, da dann schuldrechtliche Einwendungen aus dem Treuhandverhältnis die Kapitalaufbringung und -erhaltung gefährden würden63. Die Analogie zu § 39 Abs. 5 AktG 1937 (1965 § 46 Abs. 5 AktG) stützte der BGH im Kern auf „die Überlegung, dass derjenige, der sich der Vorteile der gesetzlichen Möglichkeit einer Haftungsbeschränkung durch Gründung einer GmbH bedient, sich auch so behandeln lassen muss, als ob er Gesellschafter wäre und die Pflichten eines Gesellschafters zu erfüllen hätte64.“

__________ 58 Canaris, Die Rückgewähr von Gesellschaftereinlagen durch Zuwendungen an Dritte, in FS Rob. Fischer, 1979, S. 31, 37; Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 62 AktG Rz. 17 f., § 57 AktG Rz. 53 f. 59 Grundlegend Canaris in FS Rob. Fischer, 1979, S. 31, 40 f.; anders etwa Armbrüster (Fn. 15), S. 414 f.; dazu schon oben im Text unter II.2. bei Fn. 16. 60 Urt. v. 14.12.1959 – II ZR 187/57. 61 BGHZ 31, 258, 264 unter Hinweis auf den Treuhandvertrag und § 665 BGB. 62 BGHZ 31, 258, 265 f. 63 BGHZ 31, 258, 266. 64 BGHZ 31, 258, 267; zusammenfassend hierzu auch Armbrüster (Fn. 15), S. 384 f.

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Hierauf aufbauend hat der Gesetzgeber im Zuge der GmbH-Gesetz-Novelle von 1980 einen neuen § 9a in das GmbHG eingefügt, der u. a. nach dem Vorbild des § 46 AktG eine Haftung der Hintermänner normiert65. Auch der BGH hat die in BGHZ 31, 258 begonnene Rechtsprechungslinie fortgesetzt, und so ist es heute ganz h. M., dass der Treugeber eines GmbH-Gesellschafters unmittelbar und persönlich auf Rückerstattung verbotener Auszahlungen an die Gesellschaft haftet; dabei muss die Gesellschaft nicht den Umweg über eine Pfändung/Abtretung des Regressanspruchs des Treuhänders gegen den Treugeber gehen66. b) Schlussfolgerungen für das Recht der KG Zu untersuchen ist nunmehr, inwieweit sich diese Grundsätze auf den Treugeber eines Kommanditisten übertragen lassen. Dagegen spricht nicht schon im Ausgangspunkt, dass das Personengesellschaftsrecht grundsätzlich keine Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft kennt67. Denn das Personengesellschaftsrecht verwirklicht den Gläubigerschutz nicht durch die Aufbringung und Erhaltung eines Mindestkapitals, sondern durch die Außenhaftung der Gesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern. Eine Parallele zum GmbH-Gesellschafter zeigt sich freilich gerade beim Kommanditisten: Auch er haftet zwar grundsätzlich im Außenverhältnis (§ 176 HGB). Wie bei einem GmbH-Gesellschafter ist seine Haftung aber im Falle der Registerpublizität auf einen bestimmten Betrag begrenzt, und sie entfällt, sobald und soweit die Einlage geleistet wird (§ 171 Abs. 1 HGB). Ab diesem Zeitpunkt entspricht die haftungsrechtliche Situation des Kommanditisten der eines GmbH-Gesellschafters: Er muss weder eine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft noch eine Außenhaftung gegenüber deren Gläubigern fürchten. Diese Parallele zum Kapitalgesellschaftsrecht setzt sich bei den Rechtsfolgen einer Einlagenrückgewähr an den Gesellschafter fort. Führt die Einlagenrückgewähr zu einer Unterdeckung, so lebt die Haftung des Gesellschafters wieder auf: Bei der GmbH besteht die Unterdeckung in der „Unterbilanz“, d. h. das Zurückbleiben des Aktivvermögens hinter dem satzungsmäßigen Stammkapital (§ 30 GmbHG)68, und die Innenhaftung des Gesellschafters lebt – in Gestalt einer Rückgewährverpflichtung (§ 31 GmbHG) – insoweit wieder auf. So wird das Gesellschaftsvermögen im Interesse des Gläubigerschutzes wiederherge-

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65 Vgl. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 9a GmbHG Rz. 1. 66 BGHZ 75, 334, 335; BGHZ 95, 188, 193; BGHZ 107, 7, 11 f.; BGH, NJW 1991, 1057, 1058; BGHZ 118, 107, 110; näher Altmeppen in Roth, GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 30 GmbHG Rz. 33; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 65), § 31 GmbHG Rz. 12, § 30 Rz. 19; zum Aktienrecht z. B. Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 58), § 62 AktG Rz. 17 f., § 57 AktG Rz. 53 f.; a. A. z. B. Armbrüster (Fn. 15), S. 395 ff., 401. 67 Diesen Gesichtspunkt betont Armbrüster (Fn. 15), S. 417; zur Hintermann-Haftung auch Pfeifle/Heigl, WM 2008, 1485, 1491 f. 68 Zuzüglich Fremdkapital einschließlich der Rückstellungen, Altmeppen in Roth (Fn. 66), § 30 GmbHG Rz. 8.

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stellt. Bei der KG besteht die Unterdeckung individuell in Bezug auf die Haftsumme des einzelnen Kommanditisten; der Jubilar spricht treffend von einer „Haftsummen-Unterdeckung“69. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: (1) Bei gleich hoher Einlageverpflichtung und Haftsumme entsteht durch jede Einlagenrückgewähr automatisch eine Unterdeckung; (2) war die Einlageverpflichtung höher als die Haftsumme, so entsteht eine Unterdeckung, soweit ein die Haftsumme übersteigender Betrag zurückbezahlt wird70. Konsequenz ist in beiden Fällen das Wiederaufleben der Außenhaftung: Die Vorschrift des § 172 Abs. 4 Satz 1 HGB („Soweit die Einlage eines Kommanditisten zurückbezahlt wird, gilt sie den Gläubigern gegenüber als nicht geleistet.“) lässt die aus § 171 Abs. 1 1. Halbs. HGB sich ergebende Außenhaftung wieder eintreten71; der Gläubigerschutz ist wiederhergestellt. Das Gleiche gilt in den Fällen des § 172 Abs. 4 Satz 2 HGB (haftungsschädliche Gewinnentnahmen), den Karsten Schmidt zutreffend als bloße Erläuterung von § 172 Abs. 4 Satz 1 HGB einstuft72. Wie §§ 30, 31 GmbHG ist § 172 Abs. 4 HGB also eine Einlagensicherungsnorm73. Das rechtsformübergreifende Prinzip lautet daher: Die Einlageleistung an die Gesellschaft ist die Voraussetzung für das Haftungsprivileg des Gesellschafters (§§ 13 Abs. 2 GmbHG, 171 Abs. 1 1. Halbs. HGB)74. Wird die Einlage zurückgewährt, so tritt die Haftung des Gesellschafters wieder ein, beim GmbH-Gesellschafter als Innenhaftung nach § 31 GmbHG, beim Kommanditisten als Außenhaftung nach § 171 Abs. 1 1. Halbs. i. V. m. § 172 Abs. 4 HGB75. Der Preis für das Privileg der fehlenden persönlichen Gesellschafterhaftung ist in beiden Fällen die Pflicht zur Aufbringung und Erhaltung eines Haftungssubstrats auf der Ebene der Gesellschaft, d. h. eines „Mindestkapitals“ bei der GmbH76 und einer „Haftsumme“ bei der KG. Diese zwingende Verknüpfung zwischen Haftungssubstrat und Haftungsprivileg bringt das Gesetz im Falle

__________ 69 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 65. 70 BGHZ 84, 383, 387 f.; BGH, DB 2007, 2198 = BB 2007, 2249 = BeckRS 2007, 15401; Kindler, Grundkurs (Fn. 37), § 13 Rz. 28, S. 297. 71 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 62. 72 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 77, siehe ferner Rz. 80 zur alleinigen Maßgeblichkeit der Haftsumme auch in diesem Fall. 73 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 72; ebenso Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, § 9 III 5, S. 807, der den kapitalgesellschaftsrechtlichen Rückgewähranspruch ebenso wie das Wiederaufleben der Kommanditistenhaftung als funktional gleichwertige Instrumente zur Sicherung der Kapitalerhaltung begreift. 74 So ausdrücklich – zur GmbH – BGHZ 142, 315, 322 (GbRmbH); ferner – zur KG – Wiedemann, GesR II (Fn. 73), § 9 III 2, S. 798: „Die Erfüllung der Pflichteinlage stellt das Gesetz … als Mittel zum Haftungsausschluss zur Verfügung. Der Anreiz, von jeglicher Haftung befreit zu sein, soll den Kommanditisten veranlassen, seinen Beitrag zur Eigenkapitalbildung zu leisten und diesen Beitrag auch stehenzulassen. Die Einlageleistung ist also der Preis für die Haftungsbefreiung.“ 75 Auch Canaris (in FS Rob. Fischer, 1979, S. 31, 37) betont die „dogmatische Parallele“ von §§ 57, 62 AktG und § 172 Abs. 4 HGB. 76 Vgl. nochmals BGHZ 142, 315, 322 (GbRmbH).

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der KG sogar wörtlich zum Ausdruck: „Die Haftung ist ausgeschlossen, soweit die Einlage geleistet ist.“ (§ 171 Abs. 1 2. Halbs. HGB)77. Wenn es sich hier aber um ein rechtsformübergreifendes Prinzip handelt, dann besteht kein Anlass, den Schutz gegen Umgehungsstrategien je nach Rechtsform unterschiedlich auszugestalten78: Wenn die Einlagenrückgewähr an den Treugeber des Gesellschafters einer GmbH zur Innenhaftung des Treugebers führt79, dann muss die Einlagenrückgewähr an den Treugeber des Kommanditisten zur Außenhaftung des Treugebers führen80. Denn das Wiederaufleben der Außenhaftung des Kommanditisten nacch § 172 Abs. 4 HGB entspricht funktional der Innenhaftung des GmbH-Gesellschafters aus § 31 GmbHG. Beide Instrumente sind eine Reaktion des Gesetzes auf die Schwächung des Haftungssubstrats der Gesellschaft durch Auszahlungen an den Gesellschafter. Wer in diesen Fällen die Innenhaftung des Treugebers eines GmbH-Gesellschafters annimmt (wie die ganz h. M.), muss also folgerichtig die Außenhaftung des Treugebers eines Kommanditisten befürworten81. Dies gilt jedenfalls in der Insolvenz der KG, da hier die Außenhaftung des Kommanditisten – wegen der Aktivlegitimation des Insolvenzverwalters nach §§ 171 Abs. 2 HGB, 93 InsO – wie eine Innenhaftung wirkt. Eine derartige Sperrfunktion für die Einzelansprüche der Gläubiger ist in der Rspr. des BGH anerkannt82. Gerade in der vorliegenden Fallsituation (oben unter I.) ist dieses Ergebnis sachgerecht, weil die Treugeber nach dem Gesellschaftsvertrag im Innenverhältnis unmittelbar berechtigt und verpflichtet sein sollen. Ein nur abgeschwächter Umgehungsschutz im Recht der KG – d. h. ohne Einbeziehung der Treuhandfälle – würde es dem Treugeber erlauben, jederzeit Entnahmen aus dem Gesellschaftsvermögen zu beschließen (oder über den Treuhänder beschließen zu lassen, § 665 BGB), ohne zur Erstattung verpflichtet zu sein. Ein solches Ergebnis lässt das „GbRmbH“-Urteil83 aber nur um den Preis der persönlichen Haftung zu. Dieser unterliegt der Treugeber-Kommanditist hier nach § 172 Abs. 4 Satz 1 HGB i. V. m. § 171 Abs. 1 Halbs. 1 HGB.

__________

77 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 63:„Der Kommanditist verdient sich Haftungsbefreiung nur, indem er seine Anlage im haftenden Kapital der Gesellschaft belässt.“ 78 Auch Canaris (in FS Rob. Fischer, 1979, S. 31, 57) sieht im Hinblick auf § 172 Abs. 4 HGB das „Umgehungsproblem nicht wesentlich anders als bei der AG und bei der GmbH.“ 79 Vgl. die zahlreichen Nachweise oben Fn. 66. 80 So zutreffend Canaris in FS Rob. Fischer, 1979, S. 31, 58, 62 f.; gegen ihn Armbrüster (Fn. 15), S. 426. 81 So im Ergebnis auch Zacher, Alte und neue Haftungsrisiken für Publikumskommanditisten und Treugeber, DStR 1996, 1813, 1817 f.; Schiemann in FS Zöllner, 1998, S. 503, 511. 82 BGHZ 82, 209, 216: „(Der Konkursverwalter) hat nicht den auf dem Rechtsverhältnis des jeweiligen Gläubigers zur KG beruhenden Anspruch weiterzuverfolgen, sondern den der Gesamtheit der Gesellschaftsgläubiger zustehenden Anspruch auf Zahlung der offenstehenden Haftsumme geltend zu machen.“; dazu Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 100 (Sperrfunktion für die einzelnen Gläubiger). 83 BGHZ 142, 315, 322.

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3. Grundlagen der Treugeberhaftung in der Insolvenz der Gesellschaft Ist – wie hier – eine Haftsumme des Treuhänders im Handelsregister eingetragen, so haftet der Treugeber im Falle der Einlagenrückgewähr in den Grenzen von § 172 Abs. 4 HGB. Weil die Rechtsfolge im Wiederaufleben der nach § 171 Abs. 1 HGB angeordneten Außenhaftung besteht, kommt insoweit auch die Aktivlegitimation des Insolvenzverwalters zum Zuge, § 171 Abs. 2 HGB. Ist keine Haftsumme des Treuhänders im Handelsregister eingetragen, so haftet der Treugeber dem Insolvenzverwalter nach § 176 Abs. 2 HGB i. V. m. § 176 Abs. 1 HGB und § 93 InsO. Da es dabei auf die Kenntnis des Gläubigers von der Gesellschaftszugehörigkeit des Kommanditisten nicht ankommt84, ist auch eine Kenntnis des Gläubigers von der Existenz des Hintermannes nicht zu verlangen. Weil eine GmbH & Co. KG vorliegt, ist auch in dieser Konstellation die Haftung des Anlegers aber auf den für ihn individuell maßgeblichen Einlagebetrag beschränkt85.

IV. Irrelevanz eines Widerrufs der Beitrittserklärung für die Kommanditistenhaftung Sollte der Anleger wirksam seinen Gesellschaftsbeitritt nach § 312 BGB widerrufen haben, so bringt dies grundsätzlich nur einen Abfindungsanspruch zur Entstehung (§ 738 Abs. 1 Satz 2 BGB i. V. m. §§ 105 Abs. 3, 161 Abs. 2 HGB), nicht aber einen Anspruch auf Einlagenrückgewähr gegen die Gesellschaft oder die Mitgesellschafter. Dies folgt aus der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft86. Gleiches gilt, sollte der Anleger über die Fondsbeteiligung arglistig getäuscht worden sein und daher von seinem Recht auf fristlose Kündigung des Gesellschaftsverhältnisses Gebrauch gemacht haben87. Ein wirksamer Widerruf ist daher als fristlose Kündigung der Gesellschaftsbeteiligung zu werten. Als solche wirkt der Widerruf aber nur für die Zukunft. Soweit gegen den Kommanditisten daher im Zeitpunkt des Ausscheidens eine Haftung nach § 171 HGB bereits begründet war, bleibt diese auch bei einem Widerruf bestehen88. Das Gleiche gilt, wenn der Anleger nur seine Erklärung zum Abschluss des Treuhandvertrages wirksam widerrufen hat, sollte man einen solchen Widerruf überhaupt auf den Gesellschaftsbeitritt erstrecken wollen.

__________ 84 BGHZ 82, 209, 212 f. = NJW 1982, 883; Hüffer, Gesellschaftsrecht, 7. Aufl. 2007, § 26 Rz. 33. 85 Vgl. dazu nochmals OLG Frankfurt a. M., ZIP 2007, 1809 = NZG 2007, 625 mit zahlr. Nachw. (o. Fn. 52). 86 Vgl. statt aller Kindler, Durchgriffsfragen der Bankenhaftung beim fehlerhaften finanzierten Gesellschaftsbeitritt, ZGR 2006, 167, 175; st. Rspr., siehe BGHZ 156, 46, 51 ff.; BGHZ 167, 239 Rz. 27 f.; BGH, ZIP 2006, 1388; BGH, NJW 2007, 1127 = NZG 2007, 180 Rz. 18. 87 Zu diesem Recht des Anlegers im Falle der arglistigen Täuschung siehe BGHZ 167, 239 = NJW 2006, 1955 Rz. 27. 88 KG, ZIP 2008, 882 (nicht rechtskräftig; die Revision ist anhängig beim BGH unter dem Az. II ZR 269/07); Koller in Koller/Roth/Morck (Fn. 4), §§ 171, 172 HGB Rz. 21; Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 116.

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Zwar hat der BGH nunmehr dem EuGH die Fragen vorgelegt, ob Beitritte zu Personengesellschaften mit dem vorrangigen Ziel einer Kapitalanlage der Haustürgeschäftsrichtlinie89 unterliegen, und ob die Richtlinie der Rechtsprechung entgegensteht, nach welcher der widerrufende Verbraucher bis zum Wirksamwerden des Widerrufs als zunächst wirksam beigetretener Gesellschafter behandelt wird90. Dort ging es freilich um die Rückabwicklung des Vertrages im Innenverhältnis. Hintergrund im dortigen Verfahren ist, dass die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft für den Verbraucher dazu führen kann, dass sein Abfindungsguthaben geringer als seine Einlage oder gar negativ ist, so dass er seinerseits Zahlungen an die Gesellschaft leisten muss. Für die hier interessierende Frage der Außenhaftung des Verbraucher-Gesellschafters hat die Vorlage aber keine unmittelbare Bedeutung.

V. Verjährung Steht sonach die Haftung des Anlegers als Kommanditist (oben II.) oder – hilfsweise – als Hintermann des Treuhandkommanditisten (oben III.) fest, so bleiben noch die zeitlichen Grenzen dieser Haftung zu erörtern. 1. „Wiederaufgelebte“ Außenhaftung Soweit es um die Einlagenrückgewähr nach oder analog § 172 Abs. 4 HGB geht, unterliegt die hieraus folgende Haftung im Rahmen der eingetragenen Haftsumme keiner eigenständigen Verjährung91. Anders als im Kapitalgesellschaftsrecht (§§ 57, 62 AktG; 30, 31 GmbHG) führt die Einlagenrückgewähr nämlich nicht zu einem Anspruch der Gesellschaft auf Wiederherstellung des Gesellschaftsvermögens, der nach § 194 Abs. 1 BGB der Verjährung unterliegen könnte92. Die Frist für die Verjährung der Gesellschafterhaftung beginnt daher – anders als im Falle der §§ 62 Abs. 3 AktG, 31 Abs. 5 GmbHG – nicht erst dem Tag der Auszahlung an den Gesellschafter. Rechtsfolge des § 172 Abs. 4 HGB ist vielmehr bloß das Wiederaufleben der Außenhaftung des Kommanditisten, weil seine Einlage als nicht geleistet gilt und daher die Haftungsbefreiung nach § 171 Abs. 1 Halbs. 1 HGB wieder wegfällt93. Handelte es sich um einen Fall der Innenhaftung, bedürfte der Insolvenzverwalter nicht der Aktivlegitimation nach §§ 171 Abs. 2 HGB, 93 InsO, weil dann schon § 80 InsO zum Zuge käme94.

__________ 89 RL 85/577/EWG. 90 Beschluss vom 5.5.2008 (II ZR 292/06), ZIP 2008, 1018; dazu Kindler/Libbertz, DStR 2008, 1335 ff. 91 Die „Enthaftung“ nach § 160 HGB ist kein Fall der Verjährung, vgl. nur § 160 Abs. 1 Satz 3 HGB. 92 Ein derartiger Anspruch kann allenfalls aus §§ 129 ff. InsO folgen, vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 62 mit Fn. 205. 93 Deutlich Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 62. 94 Vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 98 zur Geltendmachung von Einlageforderungen.

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Dass die Außenhaftung „gebündelt“ vom Insolvenzverwalter geltend gemacht wird (§ 171 Abs. 2 HGB), wirkt sich auf die Verjährung der einzelnen Gläubigeransprüche nicht aus. Im Hinblick auf die Verjährung findet daher im Verhältnis zu dem in Anspruch genommenen Gesellschafter § 129 HGB Anwendung (§ 161 Abs. 2 HGB)95. Zu § 129 Abs. 1 HGB ist u. a. anerkannt, dass sich der in Anspruch genommene Gesellschafter auf die eingetretene Verjährung berufen kann, soweit sich die Gesellschaft noch auf diese berufen darf; dies gilt auch dann, wenn die Gesellschaft selbst sich noch nicht auf die Verjährung berufen hat96. Nur bezüglich der rechtzeitig im Insolvenzverfahren angemeldeten Gläubigerforderungen kann sich die Gesellschaft – und damit der haftende Anleger – nicht mehr auf die Einrede der Verjährung berufen, da Hemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 10 BGB eingetreten ist. 2. Außenhaftung mangels Eintragung Auch soweit es um die unbegrenzte Kommanditistenhaftung nach oder analog § 176 Abs. 2 HGB i. V. m. § 93 InsO97 geht, findet § 129 HGB Anwendung98. Die soeben unter 1. gemachten Ausführungen gelten daher entsprechend.

VI. Ergebnisse 1. Der Anspruch auf Erbringung der Hafteinlage (Haftsumme) kann vom Insolvenzverwalter direkt gegenüber den Treugeber-Kommanditisten als Anlegern geltend gemacht werden, wenn diese nach dem Gesellschaftsvertrag alle wesentlichen Gesellschafterrechte und -pflichten besitzen (oben II., III.). Auch ein etwa erfolgter Widerruf der Beitrittserklärung nach § 312 BGB ändert daran nichts, soweit die zugrundeliegenden Gläubigerforderungen zum Zeitpunkt des Widerrufs bereits entstanden waren (oben IV.). 2. Hinsichtlich der Verjährung gelten die für die einzelnen Gläubigerforderungen maßgeblichen Vorschriften, da die Haftung nach oder analog §§ 171, 172 HGB eine Außenhaftung gegenüber den Gläubigern ist. Die Geltendmachung durch den Insolvenzverwalter ändert daran nichts. Der Hemmungstatbestand des § 204 Abs. 1 Nr. 10 BGB findet Anwendung (oben V.).

__________ 95 Vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), §§ 171, 172 HGB Rz. 17. 96 Koller in Koller/Roth/Morck (Fn. 4), § 129 HGB Rz. 3. 97 Zur Anwendbarkeit von § 93 InsO auf die Haftung nach § 176 HBG siehe nur Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), § 176 HGB Rz. 34. 98 Vgl. Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 49), § 176 HGB Rz. 44; Koller in Koller/Roth/Morck (Fn. 4), § 176 HGB Rz. 5.

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Geschäftsführerhaftung nach der GmbH-Reform Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Verdeckte Sacheinlagen 1. Reformdebatte 2. Die Vorschläge des Regierungsentwurfs 3. Korrekturen durch den Gesetzgeber III. Hin- und Herzahlungen IV. Sonstige Kreditgewährungen an Gesellschafter

V. Zwischenergebnis VI. Insolvenzverursachende Zahlungen an Gesellschafter 1. Grundlagen 2. Kausalitätserfordernis a) Der Vorschlag des RefE b) Änderungen im RegE c) Folgerungen 3. Resümee

I. Einleitung Am 26. Juni 2008 verabschiedete der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)“, das für die umfassendste Reform des GmbH-Gesetzes seit dessen Verabschiedung im Jahre 1892 sorgt. Der Novelle ging eine intensive Diskussion voraus. Im Mai 2006 hatte das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf (RefE) vorgelegt1, dem ein Jahr später der Regierungsentwurf (RegE) folgte2. Der Deutsche Bundestag hat das Gesetz schließlich in der Fassung der Beschlussempfehlungen seines Rechtsausschusses3 beschlossen. Der Jubilar hat die Reformdiskussion mit einer Vielzahl von Beiträgen begleitet und dabei auch zu Fragen der Geschäftsführerhaftung Stellung genommen4. In der Gesamtschau ist er – noch auf der Basis des RegE – zu dem Ergebnis gekommen, dass die Lockerungen im Recht der Kapitalaufbringung und -erhaltung zu Risikoverlagerungen zum Nachteil der Geschäftsführer führen5: die für die Liberalisierung des GmbH-Rechts zu begleichende Rechnung werde

__________ 1 Abrufbar unter http://www.bmj.bund.de/files/-/1236/RefE MoMiG.pdf (zuletzt abgerufen am 1.9.2008). Instruktive Einführung in den RefE MoMiG bei Seibert, ZIP 2006, 1157. 2 Der RegE wird im Folgenden zitiert nach BT-Drucks. 16/6140 vom 25.7.2007 (lektorierte Druckfassung); darin sind auch die Stellungnahme des Bundesrates zum RegE sowie die Gegenäußerung der Bundesregierung dokumentiert. 3 BT-Drucks. 16/9737 vom 24.6.2008 (im Folgenden wird auf die elektronische VorabFassung Bezug genommen). Zusammenfassend Seibert/Decker, ZIP 2008, 1208. 4 Hingewiesen sei insbesondere auf die Aufsätze GmbHR 2007, 1 ff.; GmbHR 2007, 1072 ff.; GmbHR 2008, 449 ff. sowie den Beitrag in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 143 ff. 5 Karsten Schmidt, GmbHR 2008, 449, 455.

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allein auf die Geschäftsführer ausgestellt6. Die folgenden Zeilen gehen Teilaspekten jener Gewichtsverschiebungen zu Lasten der Geschäftsführer nach; zunächst mit Blick auf die Rechtsfolgenkorrektur bei verdeckten Sacheinlagen und sog. Hin- und Herzahlungen (§ 19 Abs. 4 und 5 GmbHG n. F.), sodann mit einem Seitenblick auf die Kapitalerhaltung bei Kreditgewährungen an Gesellschafter (§ 30 Abs. 1 GmbHG n. F.) und schließlich unter Betrachtung der Haftungserweiterung nach § 64 Satz 3 GmbHG n. F.

II. Verdeckte Sacheinlagen 1. Reformdebatte Mit dem neuen § 19 Abs. 4 GmbHG (und seiner entsprechenden Anwendung bei Kapitalerhöhungen: § 56 Abs. 2 GmbHG) trägt der Gesetzgeber Forderungen aus der Wissenschaft und Praxis Rechnung, die drastischen Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen7 zu korrigieren. Weil der Inferent nach bisherigem Recht von seiner Pflicht zur Bareinlageleistung nicht frei geworden war, musste er seine Einlageleistung ggf. ein zweites Mal erbringen – selbst wenn er den Nachweis führen konnte, dass der Wert der verdeckten Sachleistung den Betrag der Stammeinlage erreichte oder gar überstieg. Dass sich solche drakonischen Folgen mit den Belangen des Gläubigerschutzes nicht überzeugend begründen lassen, hat nicht zuletzt der Jubilar wiederholt dargelegt8. Vor diesem Hintergrund waren im Schrifttum schon vor mehr als einem Jahrzehnt Korrekturvorschläge entwickelt worden9, die vor dem 66. Deutschen Juristentag 2006 in Stuttgart – der über den RefE zum MoMiG debattierte – erneut zur Diskussion gestellt wurden10. In ihrem Mittelpunkt stand die Konzentration auf eine Differenzhaftung des Gesellschafters im Umfang fehlender Wertdeckung, wobei diesen die Beweislast für die Werthaltigkeit trifft. Die Wirtschaftsrechtliche Abteilung des Juristentages hatte sich mit großer Mehrheit diesen Vorschlägen angeschlossen: Die Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlage entsprechend dem geltenden Recht solle beibehalten, die Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage aber auf eine Differenzhaftung im Leistungszeitpunkt reduziert werden11. Ganz in diesem Sinne fiel auch die Stel-

__________ 6 Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1080. 7 Zu ihnen weiterführend etwa Becker, RNotZ 2005, 569, 573 ff.; Heidenhain, GmbHR 2006, 455 ff.; umfassende Bestandsaufnahme bei Ulmer in Ulmer, GmbHG, 2005, § 19 GmbHG Rz. 85 ff.; zuletzt H.Winter/H.P.Westermann in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 5 GmbHG Rz. 76 ff. 8 Vgl. nur Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 37 II 4 b (S. 1124 f.); ders., GmbHR 2007, 1072, 1073. 9 S. insbesondere Brandner in FS Boujong, 1996, S. 37, 45 f.; Einsele, NJW 1996, 2681, 2688 f.; Krieger, ZGR 1996, 674, 691 f.; zuvor schon, freilich de lege lata argumentierend, Grunewald in FS Rowedder, 1994, S. 111, 114 ff. 10 Kleindiek, Referat auf dem 66. DJT 2006, in Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006, Bd. II/1, 2006, P 45, 53 f. 11 Beschlüsse Ziff. 8 b; veröffentlicht in Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006, Bd. II/1, 2006, P 141 ff.

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lungnahme des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins zum RefE MoMiG vom Februar 2007 aus, mit der zugleich ein konkreter Gesetzesvorschlag unterbreitet wurde12. Er sah für den Fall der verdeckten Sacheinlage die fortbestehende Verpflichtung zur Zahlung des Nennbetrages der Bareinlage vor, jedoch „gemindert um den von ihm zu beweisenden Wert seiner Sacheinlage im Zeitpunkt ihrer Leistung oder, wenn die Leistung früher erfolgt ist, im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung im Handelsregister“13. 2. Die Vorschläge des Regierungsentwurfs Der RegE MoMiG ging über jene Vorschläge deutlich hinaus. Er hielt an den unterschiedlichen gesetzlichen Kautelen für Bar- und Sachgründungen (respektive Kapitalerhöhungen) zwar ausdrücklich fest, wollte aber – selbst bei vorsätzlicher Umgehung der gesetzlichen Formvorschriften – die (Teil-)Erfüllung der Bareinlagepflicht durch die Erbringung einer verdeckten Sacheinlage anerkennen, soweit der Wert der Sacheinlage den Betrag der übernommenen Bareinlage erreicht; im Umfang des Unterschiedsbetrages war die Differenzhaftung entsprechend § 9 GmbHG vorgesehen. § 19 Abs. 4 GmbHG-RegE sah vor: „Ist eine Geldeinlage eines Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung und aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sachleistung zu bewerten (verdeckte Sacheinlage), so steht das der Erfüllung der Einlageschuld nicht entgegen. § 9 gilt in diesem Fall entsprechend, wenn der Wert des Vermögensgegenstandes im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister oder im Zeitpunkt seiner Überlassung an die Gesellschaft, falls diese später erfolgt, nicht den entsprechenden Betrag der übernommenen Stammeinlage erreicht. Die Beweislast für die Werthaltigkeit des Vermögensgegenstandes trägt der Gesellschafter. Die Verjährung des Anspruchs der Gesellschaft beginnt nicht vor dem Zeitpunkt der Überlassung des Vermögensgegenstandes.“

Dem Verstoß gegen die gesetzlichen Vorgaben im Sachgründungsverfahren sollte – wie die Begründung zum RegE formulierte – mit einem „Sanktionsgefälle in mehrfacher Hinsicht“ Rechnung getragen werden14: Einerseits zu Lasten der Gesellschafter mit der Beweislastumkehr und dem hinausgeschobenen Verjährungsbeginn nach § 19 Abs. 4 Satz 3 und 4 GmbHG-RegE sowie der Schadensersatzhaftung nach § 9a Abs. 2 GmbHG, wenn der Gesellschaft infolge der verdeckten Sacheinlage ein Schaden entsteht. Andererseits zu Lasten der Geschäftsführer mit der Schadensersatzhaftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG15. Diese Sanktionen seien ausreichend, um die Beteiligten davon abzuhalten, die Verpflichtung zur Offenlegung der Sacheinlage bewusst zu miss-

__________ 12 DAV-Stellungnahme Nr. 06/07; dokumentiert in NZG 2007, 211 ff. 13 DAV-Stellungnahme Nr. 06/07, NZG 2007, 211, Tz. 115. S. auch den ähnlichen Formulierungsvorschlag bei M. Winter in FS Priester, 2007, S. 867, 878. 14 Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 40. 15 Zum Vorrang von Ansprüchen aus § 9a Abs. 1 GmbHG gegenüber solchen aus der allgemeinen Geschäftsführerhaftung nach § 43 GmbHG s. aber etwa Ulmer in Ulmer (Fn. 7), § 9a GmbHG Rz. 56 ff.

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achten. Das Strafrecht erscheine indes als Sanktion unangemessen, weshalb § 82 GmbHG den Fall der Versicherung bei verdeckter Sacheinlage nicht aufgreife16. Es wird kaum jemand behaupten wollen, dass der Vorschlag des RegE Ausdruck einer in sich konsistenten Regelung war17. Das gilt schon mit Blick auf die ausdrückliche Anordnung der Erfüllungswirkung verdeckter Sacheinlagen (trotz Erbringung einer gänzlich anderen als der geschuldeten Leistung), die offenbar sofort, d. h. im Moment der verdeckten Sachleistung, einsetzen sollte. Unter solchen Ausgangsdaten die strafrechtliche Sanktionierung der falschen Anmeldeversicherung als „unangemessen“ anzusehen, mag man einerseits zwar als wertungskonform nachvollziehen. Im selben Atemzug die zivilrechtliche Haftung wegen falscher Angaben nach Maßgabe von § 9a GmbHG (bzw. eine Schadensersatzhaftung aus § 43 Abs. 2 GmbHG) als „angemessen“ zu bewerten, leuchtet aber schon nicht ohne weiteres ein. Andererseits sollten nach dem RegE MoMiG alle gesetzlichen Vorgaben für die Festsetzung und Offenlegung von Sacheinlagen bei Gründung der Gesellschaft unangetastet bleiben. Dann jedoch ist die Errichtung der Gesellschaft im Wege verdeckter (verschleierter) Sacheinlagen zwangsläufig mit „falschen Angaben“ gegenüber dem Registergericht verbunden, was nicht nur zur Haftung aus § 9a GmbHG führt18, sondern zugleich (bei vorsätzlicher Begehung) das Tor zur strafrechtlichen Sanktion nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG (bei der Kapitalerhöhung: Nr. 3) aufstößt: Der Tatbestand „falscher Angaben über die Leistung der Einlagen“ im Sinne dieser Vorschrift erfasst richtigerweise auch jene Konstellationen, die mit der zivilrechtlichen Kategorie der verdeckten (verschleierten) Sacheinlage umschrieben werden19. Der RegE MoMiG hatte insoweit keine Korrektur im Text des § 82 GmbHG vorgesehen. Die Annahme in der Entwurfsbegründung, die unterlassene Offenlegung einer verdeckten Sacheinlage stelle keine Strafbarkeit nach § 82 GmbHG mehr dar, beruhte offenbar auf der Prämisse, dass es künftig belanglos sei, wie die Einlage erbracht und ob das offen gelegt werde20. Ob dies einer Überprüfung durch die Strafgerichte standgehalten hätte, mag dahinstehen. Im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum war jedenfalls Widerspruch angemeldet worden21.

__________ 16 Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 40. 17 Nachdrückliche Kritik bei Ulmer, ZIP 2008, 45, 50 ff. („Denkmal für systematisch abschreckende Gesetzgebungskunst“); abl. auch Büchel, GmbHR 2007, 1065, 1069 ff.; Wirsch, GmbHR 2007, 736, 738 ff. 18 Dazu etwa Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 9a GmbHG Rz. 4; Ulmer in Ulmer (Fn. 7), § 9a GmbHG Rz. 27; H. Winter/Veil in Scholz (Fn. 7), § 9a GmbHG Rz. 15. 19 S. nur Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff (Fn. 18), § 82 GmbHG Rz. 10; Ransiek in Ulmer (Fn. 7), § 82 GmbHG Rz. 46. 20 In diesem Sinne Ransiek in Ulmer, GmbHG, 2008, § 82 GmbHG Rz. 36; ebenso Karsten Schmidt, GmbHR 2008, 449, 452. 21 Bormann, GmbHR 2007, 897, 900; Bormann/Urlichs, GmbHR 2008, 119, 120; Ulmer, ZIP 2008, 45, 51.

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3. Korrekturen durch den Gesetzgeber In der Tat war der RegE MoMiG mit seinen Überlegungen zur Neuordnung der Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen auf Abwege geraten. Denn den Befürwortern einer Rechtsfolgenkorrektur ging es gerade nicht um eine Nivellierung der Sondervorschriften für Sacheinlagen oder den Verzicht auf eine angemessene Sanktion im Falle des Verstoßes gegen jene Vorschriften. Ihr Anliegen bestand vielmehr darin, die „überschießende“ Rechtsfolge drohender Doppelleistung des Inferenten auf die Einlageschuld zu beseitigen, wie sie sich in der Gesellschaftsinsolvenz häufig realisierte. Anknüpfungspunkt entsprechender Reformvorschläge war – in den Worten des Jubilars – „diese Inkonsistenz von Tatbestand und Rechtsfolge, diese Überreaktion des Rechts auf einen formalen Fehler22.“ Jenem Ziel will – das war zuletzt von Martin Winter klar herausgearbeitet worden23 – die vorgeschlagene Differenzhaftung dienen: In den Konstellationen verdeckter Sacheinlagen soll die Bareinlageverpflichtung bestehen bleiben; jedoch soll hierauf der Wert der verdeckt erbrachten Sachleistung (schuldmindernd) anzurechnen sein. Das läuft – sobald die Anrechnung wirksam wird – im wirtschaftlichen Ergebnis zwar auf eine (Teil-)Erfüllung hinaus, ändert indes nichts an der Tatsache, dass die verdeckte Sacheinlage und die im Zusammenhang mit ihr abgegebene falsche Anmeldeversicherung der Geschäftsführer Haftungsrisiken aus § 9a GmbHG sowie (bei Vorsatz) die Strafsanktion nach § 82 Abs. 1 GmbHG auslöst. Im Konzept der Befürworter der Differenzhaftung bleiben jene Sanktionen wichtige Instrumente zur Bekämpfung von Umgehungsstrategien, weil sie Anreize zu gesetzeskonformem Verhalten schaffen24. § 19 Abs. 4 GmbHG in der vom Deutschen Bundestag beschlossenen Fassung trägt dem nunmehr Rechnung. Die neue Vorschrift stellt fest, dass die Leistung einer verdeckten Sacheinlage den Gesellschafter nicht von seiner Einlageverpflichtung befreit, auf die fortbestehende Geldeinlagepflicht aber der Wert des Vermögensgegenstandes angerechnet wird. Diese Anrechnung erfolgt indes nicht vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister25. Wie die Begründung zum entsprechenden Beschlussvorschlag des Rechtsausschusses erläutert, soll so klargestellt werden, dass einerseits der Geschäftsführer in der Anmeldung nach § 8 GmbHG nicht versichern könne und dürfe, die Geldeinlage sei (zumindest durch Anrechnung) erfüllt. Andererseits könne der Registerrichter die Eintragung auch dann nach § 9c GmbHG ablehnen, wenn der Wert der verdeckten Sacheinlage den Wert der geschuldeten Geldein-

__________ 22 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 37 II 4 b (S. 1124). 23 M. Winter in FS Priester, 2007, S. 867, 872 ff.; zustimmend Priester, ZIP 2008, 55, 56; auch insoweit ablehnend aber Ulmer, ZIP 2008, 45, 52. 24 S. noch einmal M. Winter in FS Priester, 2007, S. 867, 875; Betonung der Steuerungsfunktion gerade des Strafrechts in diesen Fällen schon bei Grunewald in FS Rowedder, 1994, S. 111, 116, 117 f. 25 S. dazu Seibert/Decker, ZIP 2008, 1208, 1210; erste dogmatische Würdigung bei Maier-Reimer/Wenzel, ZIP 2008, 1449, 1450 ff.

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lage erreiche. Damit werde die verdeckte Sacheinlage gegenüber der Lösung im RegE „stärker sanktioniert“26. Das schließt folgerichtig auch die Strafbarkeit nach § 82 Abs. 1 GmbHG ein, wenn der Geschäftsführer die Umstände der verdeckten Sacheinlage kennt, er also vorsätzlich eine falsche Anmeldeversicherung abgibt27.

III. Hin- und Herzahlungen Auch in den Fällen des sog. Hin- und Herzahlens außerhalb des Tatbestandes der verdeckten Sacheinlage – im RegE MoMiG noch in § 8 Abs. 2 Satz 2 GmbHG-E thematisiert – hat sich der Gesetzgeber um einen präventiv wirkenden Regelungsmechanismus bemüht. Die jetzt in § 19 Abs. 5 GmbHG n. F. verortete Regelung betrifft Konstellationen, die deshalb nicht unter den Tatbestand der verdeckten Sacheinlage fallen, weil der Gesellschafter (auch bei wirtschaftlicher Betrachtung) keinen sacheinlagefähigen Gegenstand eingebracht hat. Paradigmatisch sind jene Fälle, in denen der „hingezahlte“ Bareinlagebetrag als Darlehen deklariert an ihn zurückfließt („Herzahlung“). Der II. Zivilsenat des BGH bewertete das Hin- und Herzahlen bislang als einen einheitlichen, sich selbst neutralisierenden Vorgang (ein „Nullum“), bei dem es an jeder Leistung des Gesellschafters fehlt, so dass auch keine Erfüllung der Einlageschuld (durch Leistung zur endgültig freien Verfügung der Geschäftsführer) eintritt28. Hier setzt die Korrektur in § 19 Abs. 5 GmbHG n. F. an, dem – insoweit in Parallele zur Korrektur im Recht der Kapitalerhaltung (§ 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG neu) – der „Gedanke der bilanziellen Betrachtungsweise“ zugrunde liegt29. Die vor der Einlage vereinbarte Leistung an den Gesellschafter befreit diesen von seiner Einlageverpflichtung allein dann, wenn sie durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch gedeckt ist. Verschärfend gegenüber dem Vorschlag des RegE gilt dies nach der vom Bundestag beschlossenen Regelung aber nur, wenn der Rückgewähranspruch jederzeit fällig ist oder durch fristlose Kündigung fällig werden kann. Zudem ist eine solche Leistung oder die Vereinbarung einer solchen Leistung in der Anmeldung nach § 8 GmbHG anzugeben. Die gesetzlich vorgeschriebene Offenlegung des Hin- und Herzahlens in der Anmeldung soll dem Registergericht die Prüfung erlauben, ob die Voraussetzungen einer Erfüllungswirkung gegeben sind30. Versäumt der Geschäftsführer

__________ 26 So Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/9737, S. 97. 27 Seibert/Decker, ZIP 2008, 1208, 1210. Irrig Wälzholz, GmbHR 2008, 841, 845, der meint, mit § 19 Abs. 4 GmbHG n. F. werde die künftige Straflosigkeit einer vorsätzlich verdeckten Sacheinlage klargestellt; das Gegenteil ist richtig. 28 S. zur einschlägigen Rechtsprechung des BGH instruktiv BGHZ 165, 113. 29 So die Formulierung in der Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 35. 30 In diesem Sinne Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks. 16/9737, S. 98.

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diese Offenlegung, setzt er sich (bei vorsätzlicher Begehung) wiederum der Strafsanktion nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 oder 3 GmbHG aus; entsprechendes dürfte gelten, wenn er vorsätzlich falsche Angaben zur (tatsächlich nicht gegebenen) Vollwertigkeit des Rückgewähranspruchs macht31. Daneben droht die Inanspruchnahme insbesondere aus § 9a Abs. 1 GmbHG.

IV. Sonstige Kreditgewährungen an Gesellschafter Die schon angesprochene Korrektur im Recht der Kapitalerhaltung reagiert bekanntlich auf das sog. „November-Urteil“ des II. Zivilsenats vom 24.11. 200332, das für erhebliche Unruhe und Rechtsunsicherheit gesorgt hatte. Es bewertete Kreditgewährungen an Gesellschafter, die nicht aus Rücklagen oder Gewinnvorträgen, sondern zu Lasten des gebundenen Vermögens der Gesellschaft bestritten werden, grundsätzlich auch dann als verbotene Auszahlung von Gesellschaftsvermögen i. S. v. § 30 GmbHG, wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter vollwertig sein sollte. Ob darin eine generelle „Abkehr von der bilanziellen Betrachtungsweise“ bei Darlehensvergaben an Gesellschafter zum Ausdruck kommen sollte oder der Senat nur Konstellationen einer schon bestehenden Unterbilanz erfassen wollte, war eine der offenen Fragen, die jene Entscheidung aufwarf. Der Gesetzgeber des MoMiG hat sie mit der Ergänzung in § 30 Abs. 1 GmbHG geklärt. Nach § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG ist das Auszahlungsverbot aus Satz 1 der Vorschrift nicht verletzt bei Leistungen, die bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages erfolgen, oder die durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gegen den Gesellschafter gedeckt sind. Die so verordnete „Rückkehr zur bilanziellen Betrachtungsweise“33 entlastet zugleich den Geschäftsführer der GmbH: Wo – wegen Vollwertigkeit des Rückgewähranspruchs – in der Darlehensvergabe an den Gesellschafter keine verbotene Auszahlung liegt, droht ihm auch nicht die Haftung aus § 43 Abs. 3 GmbHG. Allerdings muss der Geschäftsführer fortlaufend überwachen, ob der Rückgewähranspruch gegen den Gesellschafter weiterhin werthaltig bleibt. Ist das nicht mehr der Fall – bahnt sich in Cash Pool – Systemen gar die Illiquidität des Konzernverbundes an –, muss er die überlassenen Mittel zurückfordern. Hierauf und auf die andernfalls entstehende Schadensersatzpflicht des Geschäftsführers nach § 43 Abs. 2 GmbHG hatte der BGH schon in seiner Entscheidung „Bremer Vulkan“ nachdrücklich hingewiesen34. Jedenfalls wo der Ausfall des Rückzahlungsanspruchs die eigene Existenz der darlehensgebenden Gesellschaft gefährdet, könnte sich der Geschäftsführer auch nicht auf eine etwaige Weisung der Gesellschafter berufen, still zu halten. Denn in den Fällen der Existenzvernichtung wirkt das Einverständnis der Gesellschafter nicht

__________ 31 32 33 34

Maier-Reimer/Wenzel, ZIP 2008, 1449, 1454. BGHZ 157, 72. Dazu etwa Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1074 f. BGHZ 149, 10, 19 f.

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haftungsbefreiend (ebenso wenig wie unter den Voraussetzungen des § 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG)35. Entsprechendes gilt im Übrigen auch in den von § 19 Abs. 5 GmbHG n. F. erfassten Konstellationen: Auch hier hat der Geschäftsführer die Vollwertigkeit des Rückgewähranspruchs fortlaufend zu überprüfen und den Anspruch ggf. geltend zu machen; andernfalls macht er sich schadensersatzpflichtig.

V. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Die Neuordnung der Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen und (sonstiger) Fälle des Hin- und Herzahlens führt nicht zu einer Verschärfung der Haftungsrisiken des GmbH-Geschäftsführers im Vergleich zur lex lata. Nach neuem wie nach altem Recht drohen ihm Haftungssanktionen insbesondere nach § 9a Abs. 1 GmbHG und (bei vorsätzlich falschen Angaben) auch die Strafbarkeit aus § 82 Abs. 1 GmbHG. Ebenso wenig ist die Liberalisierung im Recht der Kapitalerhaltung – d. h. die „Rückkehr zur bilanziellen Betrachtungsweise“ durch § 30 Abs. 1 GmbHG n. F. – mit einer Haftungsverschärfung zu Lasten des Geschäftsführers verbunden; die haftungsbewehrte Pflicht zur fortgesetzten Kontrolle der Werthaltigkeit von Rückgewähransprüchen (und zum Handeln, wenn der Anspruch notleidend zu werden droht) traf ihn früher ebenso wie heute. Die Neuregelungen in § 19 Abs. 4 GmbHG entlastet freilich den Inferenten; insoweit mag man zugleich von einer Gewichtsverschiebung zu Lasten des Geschäftsführers sprechen. Aber diese Verschiebung ist sachgerecht, weil mit ihr die „überschießende“ Rechtsfolge drohender Doppelzahlung korrigiert wird. Nicht minder sachgerecht ist es, den Geschäftsführer als Akteur im registergerichtlichen Gründungsverfahren im Haftungsrisiko zu belassen: die drohenden Sanktionen bei Verstoß gegen die gesetzliche Vorgaben wirken verhaltenssteuernd.

VI. Insolvenzverursachende Zahlungen an Gesellschafter Zu einer deutlichen Risikoerhöhung scheint indes die neue Bestimmung des § 64 Satz 3 GmbHG zu führen. Denn sie erweitert die schon bislang bestehende Erstattungspflicht des Geschäftsführers für Zahlungen nach Insolvenzeintritt um eine entsprechende Haftung bei Herbeiführung der Zahlungsunfähigkeit. 1. Grundlagen Die im bisherigen § 64 Abs. 2 GmbHG normierte Verpflichtung der Geschäftsführer zum Ersatz veranlasster Zahlungen war auf solche Zahlungen beschränkt, die nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der

__________ 35 S. auch dazu BGHZ 149, 10, 20; zuletzt BGH, ZIP 2008, 1232, 1237, Tz. 39 („GAMMA“).

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Gesellschaft geleistet wurden; auf den Zahlungsempfänger kam es dabei nicht an. Das neue Recht übernimmt jene Regelung in § 64 Satz 1 und 2 GmbHG. Satz 3 der Vorschrift erstreckt die Erstattungspflicht zunmehr aber zugleich auf Zahlungen, soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit führen mussten, es sei denn, dies war auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes nicht erkennbar. Erfasst sind davon freilich nur Zahlungen an Gesellschafter. Die neue Regelung verlagert mithin das in § 64 GmbHG enthaltene Auszahlungsverbot36 zeitlich vor: Nunmehr sind nicht nur Zahlungen nach Eintritt der materiellen Insolvenzreife, sondern auch insolvenzverursachende Zahlungen erfasst. Allerdings betrifft dies nur Zahlungen an Gesellschafter (nicht an außenstehende Dritte) und auch nur solche Zahlungen, die gerade den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit zur Folge haben. Im Übrigen bleibt die neue Regelung dem Normkonzept des früheren § 64 Abs. 2 GmbHG – wie es jedenfalls vom BGH in ständiger Rechtsprechung interpretiert wird37 – treu: Der Geschäftsführer ist zur Erstattung der veranlassten Zahlungen verpflichtet, ohne dass diese Pflicht an den Nachweis eines Schadens in (mindestens) der Zahlungshöhe gebunden wäre. Die Erstattungspflicht nach § 64 GmbHG ist aber auch dann auf den Betrag der veranlassten Zahlungen begrenzt, wenn der daraus resultierende Schaden höher ausfällt. Daneben kann sich der Geschäftsführer freilich mit konkurrierenden Schadensersatzverpflichtungen insbesondere aus § 43 GmbHG, §§ 826, 830 BGB konfrontiert sehen. Dass auch die Neuregelung jener Grundsatzkritik des Jubilars ausgesetzt ist, die er mit Nachdruck und wiederholt gegenüber dem bisherigen § 64 Abs. 2 GmbHG (und dessen Interpretation durch die Rechtsprechung) vorgetragen hat38, wird niemanden überraschen39. Darüber ist hier nicht zu handeln. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, in welchem Ausmaß § 64 Satz 3 GmbHG die Verhaltenspflichten und Haftungsrisiken des GmbH-Geschäftsführers verschärft. Gemessen an den Etiketten, mit denen die Vorschrift bereits bedacht worden ist, scheinen die Veränderungen beträchtlich zu sein: Der neue Satz 3, so ist etwa geltend gemacht worden, belege eine klare Richtungsänderung im Zweck des § 64 GmbHG, indem der Gläubigerschutz zeitlich deutlich nach vorn verlagert werde40. Andere Stimmen wollen darin den Ausdruck eines Konzeptwechsels im Rahmen der Insolvenzverschleppungshaftung in Richtung des englischen Systems des „wrongful trading“41 oder jedenfalls eines „Paradig-

__________ 36 Dazu etwa Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 287; dies., NZG 2008, 565, 566, je m. w. N. 37 Überblick über den Stand der Rechtsprechung etwa bei Lutter/Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff (Fn. 18), § 64 GmbHG Rz. 58 ff.; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 64 GmbHG Rz. 78 ff.; zuletzt BGH, ZIP 2007, 1006; BGH, ZIP 2008, 1026. 38 Eingehend Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 637 ff.; zuletzt ders., ZIP 2008, 1401 ff. 39 Näher Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1, 5 ff.; ders., GmbHR 2007, 1072, 1078 ff. 40 So Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 684. 41 Breitenstein/Meyding, BB 2006, 1457, 1462.

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menwechsels“ im Sinne der Loslösung vom bilanzbasierten Konzept des Kapitalschutzes42 sehen. Nach verbreiteter Einschätzung hat sich der Gesetzgeber mit § 64 Satz 3 GmbHG aber doch jedenfalls – in Ergänzung zum überkommenen Kapitalschutzkonzept der §§ 30, 31 GmbHG – einem (situativen, liquiditätsorientierten) Ausschüttungsverbot „neuer Prägung“ nach dem Vorbild des „solvency test“ angenähert43. – Was aus all’ dem für die Auslegung und Anwendung des § 64 Satz 3 GmbHG in der Praxis gefolgert werden muss, ist indes noch längst nicht geklärt. 2. Kausalitätserfordernis In welchem Ausmaß § 64 Satz 3 GmbHG neue Haftungsrisiken zu Lasten des GmbH-Geschäftsführers begründet, hängt entscheidend von der Interpretation des Kausalitätserfordernisses (Zahlungen, die „zur Zahlungsunfähigkeit führen mussten“) ab. Auf die damit verbundenen (Auslegungs-)Probleme ist frühzeitig aufmerksam gemacht worden44. Hier wird die Praxis mit Rechtsunsicherheiten leben müssen, bis die höchstrichterliche Rechtsprechung Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt hat. Der Vergleich zwischen dem (vom Bundestag beschlossenen) Formulierungsvorschlag in § 64 Satz 3 GmbHG-RegE und dem abweichenden Wortlaut von § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG-RefE sowie die Ausführungen in den jeweiligen Entwurfsbegründungen liefern freilich wichtige Auslegungshilfen. a) Der Vorschlag des RefE § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG-RefE wollte auf Zahlungen abstellten, durch welche die Zahlungsunfähigkeit „herbeigeführt wird“. Über den erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Zahlung an die Gesellschafter und der hierdurch „herbeigeführten“ Zahlungsunfähigkeit – unmittelbar oder auch mittelbar; kurzfristig, mittelfristig oder gar auch langfristig – gaben aber weder der vorgeschlagene Gesetzeswortlaut noch die Entwurfsbegründung explizit Auskunft. Allerdings ließen schon die Ausführungen in der Begründung des RefE – die sich (neben den zugleich zu erörternden Ergänzungen) auch in der Begründung des RegE wiederfinden – doch jedenfalls erkennen, welche Fallkonstellationen im Hintergrund des Regelungsvorschlags standen und stehen.

__________ 42 Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1763. 43 Stellvertretend Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1, 5; Hölzle, GmbHR 2007, 729, 730; Knof, DStR 2007, 1536, 1537 und 1580, 1585; Theiselmann/Redeker, GmbHR 2008, 961, 967; von einer „vorsichtigen Neuorientierung des GmbH-Rechts vom präventiv bilanzorientierten zum solvenzbasierten Gläubigerschutzsystem“ sprechen Greulich/ Rau, NZG 2008, 284, 286. – Zur rechtspolitischen Debatte um das alternative Kapitalschutzmodell eines Solvenztestes s. zuletzt etwa Arnold, Der Konzern 2007, 118 ff.; Böcking/Dutzi, Der Konzern 2007, 435 ff.; Fuchs/Stibi, BB-Special 5/2007, S. 19 ff.; Hennrichs, Der Konzern 2008, 42 ff.; ders., ZGR 2008, 361, 366 ff.; Kleindiek, BB-Special 5/2007, S. 2, 5; Lienau, KoR 2008, 79 ff., je m. w. N. 44 Noack, DB 2006, 1475, 1479; ferner Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1763; Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 685.

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Mit der Erweiterung der Erstattungspflicht zu Lasten des Geschäftsführers – so die Entwurfsbegründungen45 – würden die bestehenden Mechanismen ergänzt, welche die Gesellschaftsgläubiger gegen Vermögensverschiebungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern schützten: Über § 30 Abs. 1 GmbHG hinaus würden künftig auch solche Zahlungen erfasst, die zwar das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Gesellschaftsvermögen nicht antasteten, aber doch die Zahlungsunfähigkeit zur Folge hätten. Zudem helfe die geplante Regelung, wenn die kurzen Fristen der Insolvenzanfechtung abgelaufen seien, der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und die entsprechende Kenntnis des Empfängers nicht bewiesen werden könnten oder die Vermutungsregeln namentlich gegenüber nahe stehenden Personen nicht erfüllt seien. Mit ihrem starken insolvenzrechtlichen Bezug erleichtere die vorgeschlagene Regelung die insolvenzrechtliche Qualifikation der gesamten Vorschrift des § 64 GmbHG im Interesse einer Anwendung auf EU-Auslandsgesellschaften46. Der erweiterte § 64 GmbHG richte sich gegen den Abzug von Vermögenswerten, welche die Gesellschaft bei objektiver Betrachtung zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten benötige und erfasse so einen Teilbereich jener Haftung, die – wenngleich als Sanktion gegenüber den Gesellschaftern – unter dem Stichwort „existenzvernichtender Eingriff“ bekannt geworden sei. Die Bestimmung setze aber nicht beim Empfänger der existenzbedrohenden Vermögensverschiebung an, sondern beim Geschäftsführer „als deren Auslöser und Gehilfen“. Überdies fänden sich in ihr „Parallelen zum sog. ‚solvency test‘“. Insbesondere der Hinweis auf die gemeinsame Schnittmenge mit der Existenzvernichtungshaftung, die der BGH gerade an Fällen gezielter Entkernungsoder Stilllegungsstrategien unter Missachtung der gesetzlichen Regeln ordnungsgemäßer Liquidation entwickelt hatte47, deutet darauf hin, dass schon der RefE von einem engen Verständnis des Kausalitätserfordernisses ausging. An den restriktiv konzipierten Tatbestandsvoraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung hat auch die dogmatische Neuausrichtung jenes Haftungsinstituts im Zuge des „Trihotel“-Urteils (Gesellschafter-Innenhaftung auf der Basis von § 826 BGB)48 nichts geändert49. Weitere Belege im Sinne eines eng abgegrenzten Kausalzusammenhangs liefert das Bekenntnis der Entwurfsbegründung zu „Vorsicht und Zurückhaltung“ im Umgang mit der Haftungserweiterung sowie die – dort ebenfalls enthaltene – Feststellung, die vorgeschlagene Regelung sei „in ihrem Anwendungsbereich eng begrenzt und in ihren Voraussetzungen klar erkennbar“50. § 64 Satz 3 GmbHG n. F. soll also keinen Konzeptwechsel in den (gläubigerschutz-orientierten) Handlungspflichten des Geschäftsführers einleiten, sondern dem missbräuchlichen Umgang

__________ 45 S. zum Folgenden Begründung zum RefE MoMiG, S. 63 ff. und Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 46 f. 46 Näher zu diesem Aspekt Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 682 f. 47 Weiterführend Kleindiek, ZGR 2007, 276, 296 ff. 48 BGHZ 173, 246. 49 Bestätigend zuletzt BGH, ZIP 2008, 1232 („GAMMA“). 50 Begründung RefE MoMiG, S. 65; übereinstimmend Begründung RegE MoMiG, BTDrucks. 16/6140, S. 47.

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mit dem Gesellschaftsvermögen durch eine Erstattungspflicht (auch) auf Geschäftsführerebene begegnen. Und zwar – wie der zuständige Referatsleiter im Bundesjustizministerium den Vorschlag des RefE ergänzend erläuterte – im Blick auf „klare Ausplünderungsfälle“51, bei denen § 64 Abs. 2 GmbHG in der bisherigen Fassung leer lief, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, dass zum Zahlungszeitpunkt bereits Überschuldung eingetreten war. Es gehe um den Abzug von Vermögenswerten, die die Gesellschaft zum Überleben benötige; an einem Beispiel verdeutlicht: „Die Zahlung führt zur Zahlungsunfähigkeit – und danach kann und wird nichts mehr ausgezahlt; vor Stellung des Insolvenzantrags legt der Geschäftsführer sein Amt nieder und taucht ab.“52 Aus all’ dem war – noch auf der Grundlage des RefE – schon an anderer Stelle die Schlussfolgerung gezogen worden, dass das Kausalitätserfordernis im Rahmen des heutigen § 64 Satz 3 GmbHG einen sehr engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Zahlung an die Gesellschafter und der dadurch herbeigeführten Zahlungsunfähigkeit verlangt53. Der Normzweck zielt offenbar auf die Bekämpfung von „Ausplünderungen“ ab, die zur Illiquidität führen – nicht zuletzt (das lässt jedenfalls das soeben referierte Beispiel vermuten) im Rahmen von Praktiken gewerbsmäßiger Firmenbestattung54. Die Vorschrift will zudem als Antwort auf Missbräuche bei Unternehmenskäufen durch Investoren verstanden werden, die die Gesellschaft durch Ausplünderung oder überzogene Belastung für die Kaufpreisaufbringung in die Insolvenz treiben (leveraged finance-Praktiken)55. b) Änderungen im RegE Bestätigung findet ein solches Auslegungsergebnis in dem – gegenüber dem Vorschlag des RefE – veränderten Wortlaut von § 64 Satz 3 GmbHG-RegE, wie er vom Bundestag auch beschlossen worden ist. Während § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG-RefE noch auf Zahlungen abstellten wollte, durch welche die Zahlungsunfähigkeit „herbeigeführt wird“, kommt es jetzt auf Zahlungen an, die „zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten“ (und tatsächlich geführt haben). Die sprachliche Änderung verfolgt gerade den Zweck, das Erfordernis eines engen Kausalzusammenhangs zwischen Auszahlung und Zahlungsunfähigkeit zu unterstreichen. Der Geschäftsführer solle – so erläutert es die Begründung zum RegE56 – keineswegs verpflichtet werden, jegliche Zahlungen an Gesellschafter zu ersetzen, die in irgendeiner Weise kausal für eine – möglicherweise erst mit erheblichem zeitlichem Abstand eintretende – Zahlungsunfähigkeit

__________ 51 Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167. 52 Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167. 53 Kleindiek in Bayer/Koch (Hrsg.), Das neue GmbH-Recht (Dokumentation einer Tagung zum RefE MoMiG am 20. April 2007 in der Universität Jena), 2008, S. 89, 91 ff. 54 Zu ihnen näher Kleindiek, ZGR 2007, 276 ff. 55 S. die Erläuterungen von Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167, zum RefE. 56 Zum Folgenden s. Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 46 f.

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der Gesellschaft geworden seien. Vielmehr müsse die Zahlung ohne Hinzutreten weiterer Kausalbeiträge zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen. Dies bedeute nicht, dass im Moment der Leistung die Zahlungsunfähigkeit eintreten müsse. Es müsse sich in diesem Moment aber „klar abzeichnen“, dass die Gesellschaft unter normalem Verlauf der Dinge ihre Verbindlichkeiten nicht mehr werde erfüllen können. Das Tatbestandsmerkmal „führen musste“ mache unmissverständlich deutlich, dass nicht jede Leistung gemeint sei, die erst nach Hinzutreten weiterer im Moment der Zahlung noch nicht feststehender Umstände zur Zahlungsunfähigkeit führe. c) Folgerungen Die Formulierung, die Zahlung müsse „ohne Hinzutreten weiterer Kausalbeiträge zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen“, deutet darauf hin, dass sie „monokausal“ für den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit gewesen sein muss57. Andererseits muss die Zahlungsunfähigkeit nicht notwendig sofort eintreten; es soll genügen, dass sie sich „unter normalem Verlauf der Dinge“ klar abzeichne. Im „Verlauf der Dinge“ setzt sich aber der „multikausale“ Prozess, dessen Ergebnis der Insolvenzeintritt typischerweise ist58, gerade fort; er schließt weitere Liquiditätsabflüsse naturgemäß ein59. Gleichwohl wäre es verfehlt, als haftungsbegründend schon jede Zahlung (an Gesellschafter) genügen zu lassen, die den „typischen Zeitlauf“ – erst Überschuldung, sodann drohende Zahlungsunfähigkeit, schließlich Zahlungsunfähigkeit – in Gang setzt60. Ebenso wenig kann schon jede Zahlung die Erstattungspflicht auslösen, die lediglich „geeignet ist“, die Zahlungsunfähigkeit herbeizuführen“61. Der Gesetzgeber hat Vorschlägen, das Kausalitätserfordernis in der Formulierung des RefE zu lockern, indem statt auf die Herbeiführung der Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 17 InsO auf die drohende Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 18 Abs. 2 InsO abgestellt wird62, nicht nur nicht entsprochen. Vielmehr wurde mit dem (gegenüber dem RefE) veränderten Wortlaut des § 64 Satz 3 GmbHG ein noch engeres Kausalitätserfordernis normiert. Nach der Begründung zum RegE soll damit – wie schon erwähnt – „unmissverständlich“ klargestellt werden, dass nicht schon Leistungen ge-

__________ 57 Für eine Interpretation in diesem Sinne die Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins zum RegE MoMiG, DAV-Stellungnahme 43/07 vom 5.9.2007, dokumentiert in NZG 2007, 735 ff., Tz. 70; wohl auch Hirte, ZInsO 2008, 689, 698. 58 Zutr. Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 685 unter Hinweis auf Bruns, WM 2003, 815, 820; übereinstimmend DAV-Stellungnahme zum RefE MoMiG, NZG 2007, 211, Tz. 70: Verursachung der Zahlungsunfähigkeit als „multikausaler Vorgang“. 59 Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 288. 60 So aber Hölzle, GmbHR 2007, 729, 731; dagegen schon Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 288. 61 In diesem Sinne aber Casper in Ulmer (Fn. 20), § 64 GmbHG Rz. 109, der die Kausalität nur dann verneinen will, wenn die Zahlungsunfähigkeit allein aufgrund einer Verkettung weiterer, nicht ohne weiteres vorhersehbarer Umstände eingetreten sei. 62 DAV-Stellungnahme zum RefE MoMiG, NZG 2007, 211, Tz. 71.

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meint sind, die erst nach Hinzutreten weiterer, im Moment der Zahlung noch nicht feststehender Umstände zur Zahlungsunfähigkeit führen. Die Erstattungspflicht aus § 64 Satz 3 GmbHG entsteht folglich erst dann, wenn mit der Leistung an den Gesellschafter gerade jene Liquidität abgezogen wird, welche die Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten benötigt, so dass die Zahlungsunfähigkeit – wenn auch nicht notwendig sofort – unausweichliche Folge der Leistung ist. Der so umrissene Liquiditätsbedarf wird mit der neuen Vorschrift einem Auszahlungsverbot unterworfen, dessen Verletzung die Erstattungspflicht auslöst. Ob die Zahlung an den Gesellschafter die in diesem Sinne gebundene Liquidität angreift, ist im Konzept des Gesetzes unter „objektiver Betrachtung“63 zu bewerten, und zwar im Sinne einer auf den Zahlungszeitpunkt bezogenen (Solvenz-)Prognose. Denn es muss sich – wie die Begründung zum RegE formuliert – „im Moment der Leistung … klar abzeichnen, dass die Gesellschaft unter normalem Verlauf der Dinge ihre Verbindlichkeiten nicht mehr wird erfüllen können“64; insoweit greift § 64 Satz 3 GmbHG in der Tat Gedanken des „solvency test“ auf65. Die später eingetretene Zahlungsunfähigkeit löst die Erstattungspflicht aus, wenn die auf den Leistungszeitpunkt bezogene Prognose eines „objektiven Betrachters“ zu dem Ergebnis führen musste, dass nach dem Vollzug der Leistung an den Gesellschafter der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit überwiegend wahrscheinlich ist66; ein entsprechender Maßstab gilt schon für jene Fortführungsprognose, die im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO67 oder bei Überprüfung der Going Concern – Prämisse nach § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB anzustellen ist. Freilich hat der Gesetzgeber auf jede Vorgabe zur näheren Ausgestaltung der mit § 64 Satz 3 GmbHG verbundenen Prognose über die Zahlungs(un)fähigkeit der Gesellschaft verzichtet. Auch Vorschlägen im Schrifttum, den maßgeblichen Prognosezeitraum genauer zu konkretisieren68, ist er nicht gefolgt. Das ist nicht zu kritisieren. Denn § 64 Satz 3 GmbHG soll – worauf noch einmal hinzuweisen ist – nicht eine „zweite Spur“ regelmäßiger Ausschüttungsschranken im Sinne eines formalisierten Solvenztestes eröffnen, sondern den missbräuchlichen Umgang mit dem Gesellschaftsvermögen im Sinne von „Ausplünderungen“ bekämpfen. Unter solchen Vorzeichen ist die Erstattungspflicht des Geschäftsführers in der neuen Vorschrift als das Ergebnis einer wertenden Entscheidung des letztlich erkennenden Gerichts konzipiert, in die alle Umstände des Einzelfalls einfließen werden69. Das gilt auch für den Zeitraum

__________ 63 64 65 66

So Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 46. Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 46 f. Auch dazu – in Erläuterung des RefE – schon Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167. Für die Maßgeblichkeit eines solchen Wahrscheinlichkeitsurteils auch Greulich/ Bunnemann, NZG 2006, 681, 685; Knof, DStR 2007, 1536, 1540 und 1580, 1581. 67 S. nur BGHZ 119, 201, 214. 68 Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 685. 69 Ähnlich Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 288: Feststellung des Kausalzusammenhangs in „wertender Betrachtung“ aus objektiver Warte im Sinne einer „Weichenstellung ins Aus“; ebenso zuvor schon Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 685.

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der mit der Neuregelung verbundenen Prognose; er kann nur so weit reichen, wie die Voraussage „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ überhaupt möglich ist70. 3. Resümee Folgt man dem hier vertretenen engen Verständnis des Kausalitätserfordernisses, bürdet auch die in § 64 Satz 3 GmbHG n. F. enthaltene Haftungserweiterung dem GmbH-Geschäftsführer keineswegs unzumutbare Lasten auf. Es ließe freilich zugleich seine Option, sich mit dem Nachweis mangelnder Erkennbarkeit eintretender Zahlungsunfähigkeit zu exkulpieren, als eher theoretisch erscheinen71. Das wäre jedoch kein Bruch mit der Vorgabe des Gesetzes, sondern ist im Konzept des § 64 Satz 3 GmbHG angelegt. Zwar macht die Begründung zum RegE geltend: Während die Herbeiführung der künftigen Zahlungsunfähigkeit zu den objektiven Bedingungen des Tatbestandes gehöre, betreffe der Entlastungsbeweis Fälle, in denen der Geschäftsführer diese subjektiv aufgrund besonderer Umstände nicht habe erkennen können72. Indes stellt die Exkulpationsmöglichkeit („es sei denn …“) nicht auf die subjektivindividuelle Erkennbarkeit durch den in Anspruch genommenen Geschäftsführer, sondern auf einen objektiven (normativen) Maßstab – nämlich die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes – ab. Für den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang können keine substantiell anderen Kriterien gelten, wenn es insofern darauf ankommen soll, dass sich – im Zeitpunkt der Leistung an den Gesellschafter – die Zahlungsunfähigkeit bei „objektiver Betrachtung“ unter normalem Verlauf der Dinge „klar abzeichnet“73. Den Nachweis dieses Kausalzusammenhangs hat zwar der Anspruchsteller – praktisch also in aller Regel der Insolvenzverwalter – zu führen. Insoweit kann ihm die Rechtsprechung aber mit den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast bzw. mit Beweiserleichterungen in Fällen der vom Gegner zu vertretenen Beweisvereitelung74 helfen und den beklagten Geschäftsführer in die Pflicht nehmen75. Das wird – wiederum einzelfallbezogen – v. a. dort von Bedeutung sein, wo dem Insolvenzverwalter, weil es an einer hinreichend dokumentierten Solvenzplanung von vornherein fehlte oder die entsprechenden Unterlagen nach der Einlassung des Geschäftsführers „verschwunden“ sind, die Darlegung des „normativ richtigen“ Ergebnisses der zum Leistungszeitpunkt gebotenen Solvenzprognose im Nachhinein gar nicht mehr möglich ist.

__________ 70 Insoweit ist auch keineswegs schematisch auf die Empfehlungen in IDW-Prüfungsstandard PS 800 (WPg 1999, 250, Tz. 12) zurückzugreifen, wo für die Prüfung drohender Zahlungsunfähigkeit (zeitlich weitreichend) auf einen das gegenwärtige und das folgende Geschäftsjahr bemessenen Prognosezeitraum abgestellt wird. 71 Dazu schon Kleindiek in Das neue GmbH-Recht (Fn. 53), S. 89, 98. 72 Begründung RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 47. 73 S. oben im Text nach Fn. 56. 74 Hierzu etwa BGH, ZIP 2003, 625, 627; BGH, NJW 2006, 434, 436; BGH, ZIP 2007, 1060, 1061 f. 75 Im Ergebnis ebenso Greulich/Rau, NZG 2008, 284, 288 f.; Knof, DStR 2007, 1580, 1585.

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Gefahrtragung und Verzug bei Zahlungsschulden – Neues vom EuGH? Inhaltsübersicht I. Ein vergessenes Problem II. Historischer Hintergrund 1. Abriss der Gesetzgebungsgeschichte 2. Wandel der Normsituation? III. Zur Dogmatik der Gefahrtragung bei Zahlungsschulden 1. Für eine einheitliche Konzeption des Geldtransfers 2. Die Gefahrtragung beim Geldtransfer aus teleologischer Sicht a) Die Bedeutung des Zahlungsorts für Gefahrtragung und Verzugshaftung: Unterschiedliche Behandlung der einzelnen Risiken des Geldtransfers? aa) Zur Problematik der Begriffsbildung „Verspätungsgefahr“ bb) Verlust-, Entwertungs- und Verspätungsgefahr als gleichartige Ausprägungen des Transferrisikos

b) § 270 BGB und Sphärengedanke c) Die (Nicht-)Rechtzeitigkeit der Zahlungseinleitung als Teil des Verzugstatbestandes IV. Die Tragweite des EuGH-Urteils für das deutsche Schuldrecht 1. Zur Zulässigkeit der Vorlage durch das OLG Köln 2. Die begrenzte Aussagekraft des EuGH-Urteils a) Keine Relevanz des Urteils für § 270 BGB als Gefahrtragungsregel b) Richtlinienkonforme Auslegung des § 270 BGB wegen dessen Vorgreiflichkeit für den Verzugseintritt? V. Ergebnisse

I. Ein vergessenes Problem Das als Sonderausgabe des Staudinger’schen Kommentars erschienene voluminöse „Geldrecht“ zählt zu den Leuchttürmen im reichhaltigen literarischen Schaffen von Karsten Schmidt1. Neben der nicht minder gewichtigen rechtsvergleichenden Untersuchung aus der Feder von F. A. Mann2 ist dieser bereits 1983 publizierte Band immer noch die deutschsprachige Referenz für alle Rechtsfragen um Geld, Zins und Währung.

__________ 1 Karsten Schmidt, Geldrecht: Geld, Zins und Währung im deutschen Recht, 1983; letzte Fassung in Staudinger, BGB II, 13. Bearb. 1997, §§ 244–248. 2 F. A. Mann, The legal aspect of money: with special reference to comparative, private, and public international law, 5. Aufl. 1992; deutsch nach einer Vorauflage: Das Recht des Geldes: eine rechtsvergleichende Untersuchung auf der Grundlage des englischen Rechts, 1960.

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Obschon seit dem Erscheinen des „Geldrechts“ das europäische Überweisungsrecht (§§ 676a–676g BGB) und die Ausbreitung und Ausdifferenzierung der kartengesteuerten Zahlungsvorgänge auch vernehmliche literarische Resonanz erzeugten, war einer speziellen, aber praktisch überaus wichtigen Rechtsfrage um die Zahlungsschuld bis vor kurzem nur ein Schattendasein beschieden: den Folgen einer nicht rechtzeitigen Zahlung. Dabei täuscht die Charakterisierung des Problems als „Verspätungsrisiko“ darüber hinweg, dass es hier nicht nur um ein praktisch wohl peripheres Gefahrtragungsproblem geht. Spätestens seit der Neufassung des Verzugsrechts ist die Rechtzeitigkeit der Leistung auch als Tatbestandsmerkmal des Verzugseintritts nach § 286 Abs. 3 Satz 1 BGB von großer praktischer Relevanz3. Nach immer noch herrschender Lesart des § 270 BGB soll die Geldschuld eine „qualifizierte Schickschuld“ sein4, besser gesagt: ein Zwitter zwischen Bringschuld und Schickschuld. Die Besonderheit: Der Schuldner trage zwar wegen § 270 Abs. 1 BGB unzweifelhaft das Verlustrisiko, aber wegen § 270 Abs. 4 BGB und dessen Rückverweisung auf § 269 BGB und die dort als Subsidiärtypus verankerte Holschuld nicht das Verspätungsrisiko. Es soll demnach die rechtzeitige Erteilung und Annahme (§ 676a Abs. 1 BGB) des Überweisungsauftrages bzw. die rechtzeitige Aufgabe eines Schecks zur Post genügen5. Divergenzen gibt es nur über die Frage, ob die Erteilung des Überweisungsauftrages („Absendung“) am letzten Tag der Frist ausreicht6 oder ob der Zahlungspflichtige die mutmaßliche Dauer des Übermittlungsweges dergestalt einkalkulieren muss, dass bei normalem Verlauf mit dem Eingang der Zahlung im Fälligkeitszeitpunkt bzw. am Fristende zu rechnen ist7. Ein Gläubiger, der mit dieser schuldnerfreundlichen h. M. nicht einverstanden ist, muss eine sog. Rechtzeitigkeitsklausel vereinbaren8. Auch Karsten Schmidt ist zunächst in diesem dogmatischen Mainstream mitgeschwommen9, hat sich aber 1999 mit treffsicheren Argumenten den Kriti-

__________ 3 Zur Rechtzeitigkeit der Leistung als Gefahrtragungs- und zugleich als Verzugsfrage Näheres noch unter IV.2.b. 4 Aus der Kommentarliteratur Canaris, Bankvertragsrecht, 3. Aufl. 1988, Rz. 479; Unberath in Bamberger/Roth, BGB, 2. Aufl. 2007, § 270 BGB Rz. 12, 15; Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 270 BGB Rz. 12, 16; Heinrichs in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 270 BGB Rz. 10, 6; Wolf in Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, § 270 BGB Rz. 13, 17; zuletzt wieder Schimansky in Schimansky et al. (Hrsg.), Bankrechtshandbuch, 3. Aufl. 2007, Bd. I § 49 Rz. 211 ff. A. A. neuerdings immerhin Bittner in Staudinger, BGB, 2004, § 270 BGB Rz. 36. 5 Neuere Rechtsprechung des BGH existiert nur zur – insoweit aber vergleichbaren – rechtzeitigen Absendung eines Verrechnungsschecks; vgl. BGH, ZIP 1998, 568 = WM 1998, 658. 6 So namentlich die Judikatur; erstmals RGZ 78, 137, 140; zuletzt wieder OLG Nürnberg, MDR 1999, 858. Aus der Literatur Schimansky (Fn. 4), Rz. 214 f. 7 Im letzteren Sinne Canaris (Fn. 4), Rz. 480. 8 Beispiele aus der Rechtsprechung etwa BGHZ 139, 123, 126; OLG Nürnberg, MDR 1999, 858. 9 Karsten Schmidt in Staudinger (Fn. 1), Vorbem. §§ 244 ff. BGB Rz. C 20, C 49.

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kern der h. M. zugesellt10. Dennoch bedurfte es erst einer Entscheidung des – vom OLG Köln angerufenen11 – Europäischen Gerichtshofs12 zur europäischen „Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr“13, um diesen Scheinfrieden endgültig zu beenden. Dabei liest sich der die Interpretation der Richtlinienbestimmung resümierende Leitsatz des EuGH noch recht unverfänglich: „[…] bei einer Zahlung durch Banküberweisung (scil. muss) der geschuldete Betrag dem Konto des Gläubigers rechtzeitig gutgeschrieben sein […], wenn das Entstehen von Verzugszinsen vermieden oder beendet werden soll.“ Gleichwohl hat das Urteil alsbald Furore gemacht. Erste deutsche Kommentare des EuGH-Urteils waren schnell bei der Hand, das „Ende der Geldschuld als sog. qualifizierte Schickschuld“14 einzuläuten. All dies ist Anlass genug, die Mauerblümchen-Existenz des § 270 BGB endgültig zu beenden und die Gefahrtragungsmodalitäten bei der Zahlungsschuld nochmals grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Dafür ist zunächst die Entstehungsgeschichte des § 270 BGB kurz ins Gedächtnis zu rufen. Neue Perspektiven eröffnen sich im Übrigen, weil die EuGH-Entscheidung die Problematik in eine europäische Dimension gehoben hat. Das verlangt nicht nur einen Blick auf das einschlägige Richtlinienrecht, sondern möglicherweise auch eine Antwort auf die epochale Frage des Verhältnisses zwischen nationalem und Gemeinschaftszivilrecht.

II. Historischer Hintergrund Bei näherem Hinsehen fühlt man sich durch § 270 BGB zu drei Fragen an den historischen Gesetzgeber herausgefordert. Warum hat dieser es nicht bei der Trias von Holschuld, Schickschuld und Bringschuld belassen, sondern für Zahlungsschulden (sei es auch nur als Auslegungsregel) zu einem (zumindest scheinbaren) Hybriden aus Schickschuld und Bringschuld gegriffen? Welche Sachlogik soll hinter der Entscheidung stehen, dem Zahlungsschuldner zwar die Verlustgefahr, nicht jedoch die Verspätungsgefahr zuzuweisen? Ist die Konzeption des historischen Gesetzgebers dem heute erreichten Stand der Zahlungsverkehrstechnologie noch gemäß? Zumindest zu den ersten zwei Fra-

__________ 10 Karsten Schmidt, Das Geld im BGB und im Staudinger, in Martinek/Sellier (Hrsg.), 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, 1999, S. 76 ff., 83 ff. Angestoßen worden war diese Neubesinnung durch Schön, AcP 198 (1998), 401, 442 ff. Beiden Autoren folgt jetzt Bittner in Staudinger (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 2 f., 35 ff. 11 OLG Köln v. 26.5.2006 – 16 U 78/05, ZIP 2006, 1986. 12 EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-306/06, ZIP 2008, 737. 13 Art. 3 Abs. 1 lit. c) ii) der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000, ABl. L 200 v. 8.8.2000, S. 35–38. 14 Dies der Titel der Urteilsrezension von Herresthal, ZGS 2008, 259. Die Urteilsrezension von Gsell, GPR 2008, 165, ist nach Manuskriptabschluss erschienen und konnte nur noch punktuell eingearbeitet werden.

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gen geben die Gesetzesmaterialien Antworten, die die h. L. von der „qualifizierten Schickschuld“ kaum zu stützen geeignet sind15. 1. Abriss der Gesetzgebungsgeschichte § 270 BGB geht auf Art. 325 des ADHGB von 186116 zurück. Der BGB-Gesetzgeber hat an Art. 325 ADHGB substanziell kaum etwas geändert, wohl auch nichts ändern wollen17, und die Vorschrift lediglich etwas schlanker formuliert. § 270 Abs. 1 BGB wiederholt Art. 325 Abs. 1 ADHGB und hat nur aus dem dort formulierten Auffangtatbestand eine Auslegungsregel gemacht. § 270 Abs. 4 BGB dupliziert Art. 325 Abs. 2 ADHGB, allerdings ohne die erläuternde Apposition „Erfüllungsort … in Betreff des Gerichtsstandes oder in sonstiger Beziehung“. Unzweideutig klar wird aus den Materialien zum BGB zunächst, warum dessen Verf. für Zahlungsschulden nicht die in § 269 Abs. 1 BGB subsidiär angeordnete Holschuld haben wollten. Während Bring- und Schickschuld bei einer Sachleistungspflicht nicht zu vernachlässigende Transportkosten und -gefahren involvierten und deshalb eine – ggf. zusätzlich zu entgeltende – „Mehrleistung“ des Schuldners erforderten, seien diese Kosten beim Geldtransfer vernachlässigbar18. Bleibt angesichts dieses eindeutigen Befundes nur noch die Frage: Schickschuld oder Bringschuld? Zur Vorläufernorm Art. 325 ADHGB bestand weitgehend Einigkeit, dass diese eine Bringschuld statuiere19. Die heute h. M. zieht bekanntlich aus § 270 Abs. 4 BGB und dessen Rückverweisung auf § 269 BGB die Legitimation für die These, (subsidiärer) Leistungsort bleibe auch bei Zah-

__________ 15 Das ist im Einzelnen bereits von Schön, AcP 198 (1998), 401, 442 ff. dargelegt worden, unbegreiflicherweise jedoch nahezu ohne Resonanz in der Kommentarliteratur geblieben; vgl. statt aller Krüger in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 2, 8, 16 f., der den Aufsatz zwar im Literaturverzeichnis führt, in der Sache aber keine Notiz davon nimmt. Eingehende Darstellung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des § 270 BGB jetzt durch Gröschler in HKK-BGB, 2007, §§ 269–272 BGB Rz. 18 ff., 34 f. 16 § 325 ADHGB lautet: (1) Bei Geldzahlungen, mit Ausnahme der Auszahlung von indossablen oder auf Inhaber lautenden Papieren, ist der Schuldner verpflichtet, wenn nicht ein Anderes aus dem Vertrage oder aus der Natur des Geschäfts oder der Absicht der Kontrahenten hervorgeht, auf seine Gefahr und Kosten die Zahlung dem Gläubiger an den Ort zu übermachen, an welchem der letztere zur Zeit der Entstehung der Forderung seine Handelsniederlassung oder in deren Ermangelung seinen Wohnort hatte. (2) Durch diese Bestimmung wird jedoch der gesetzliche Erfüllungsort des Schuldners (Art. 324) in Betreff des Gerichtsstandes oder in sonstiger Beziehung nicht geändert. 17 Dafür sprechen die bei Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Bd. 2, 1978, S. 188, wiedergegebenen Stimmen. 18 Mot. II S. 35 f., zitiert nach Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, S. 19 f.; Jakobs/Schubert (Fn. 17), S. 184. 19 Vgl. v. Hahn, Commentar zum ADHGB, Bd. 2, 2. Aufl. 1883, S. 221; ebenso Puchelt, Kommentar zum ADHGB, Bd. 2, 3. Aufl. 1885, S. 185.

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lungsschulden der Schuldnerwohnsitz und infolgedessen gehe die Verspätungsgefahr mit der Absendung des Geldes auf den Gläubiger über20. Auch hier hat die h. M. die Entstehungsgeschichte nicht eindeutig auf ihrer Seite. Art. 325 Abs. 2 ADHGB handelte nicht allgemein vom Erfüllungs- (hier synonym mit Leistungs-)Ort, sondern lediglich vom Erfüllungsort „in Betreff des Gerichtsstandes oder in sonstiger Beziehung“. Damit sollte primär dem Schuldner ein Gerichtsstand an seinem Wohnsitz gesichert sowie (vor Inkrafttreten des BGB) eine Regel des interlokalen Kollisionsrechts (anwendbares Recht des Zahlungsorts) geschaffen werden. Im Übrigen ist der Zusatz „in sonstiger Beziehung“ im Dunkeln geblieben21. Kosten, Gefahr sowie der Leistungserfolgsort als wesentliche Konsequenzen der Leistungsortbestimmung sind ja bereits in Abs. 1 der Vorschrift geregelt; dabei ist „Gefahr“ wiederum allgemein, d. h. ohne Differenzierung in Sachgefahr und Verspätungsgefahr, angesprochen. Auch das Geldentwertungsrisiko war, als eine Art Verschlechterungsrisiko, in der Sachgefahr inbegriffen. Es mag diese Unklarheit gewesen sein – die Materialien geben insoweit keine verlässliche Stütze –, die den BGB-Gesetzgeber bewogen hat, den „in Betreff …“Zusatz zunächst in Klammer zu setzen22 und ihn schließlich ganz fallen zu lassen23. Relativ gesichert ist auch hier die Vermutung, dass eine konzeptionelle Umstellung von der Bringschuld zur Schickschuld nicht beabsichtigt war. Im Gegenteil. Die deutlichste Sprache sprechen hier die Protokolle: „Abweichend von dem H.G.B. Art. 325 hat der Entw. die Geldschuld als Bringschuld im vollen Sinne des Wortes gestaltet, so dass der Ort, an welchem der Gläubiger zur Zeit der Entstehung des Schuldverhältnisses seinen Wohnsitz hatte, der Leistungsort sein … soll“24. Abgelehnt wurde am Ende auch der beantragte Zusatz, bei einer Zahlungsschuld sei „der Schuldner verpflichtet, die letztere abzusenden“25. Angesichts dieser mit größerem Gewicht für die Bringschuld sprechenden Quellenlage beherrschte die Bringschuldkonstruktion auch das frühe Schrift-

__________ 20 Karsten Schmidt in Staudinger (Fn. 1), Vorbem. §§ 244 ff. BGB Rz. C 26; Krüger in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 16 f.; Schulze in Schulze/Dörner/Ebert, 5. Aufl. 2006, § 270 BGB Rz. 6; nuancierend für bargeldlose Zahlungen Wolf in Soergel (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 17 ff. 21 Dies wurde schon von zeitgenössischen Kommentatoren beklagt; vgl. Puchelt (Fn. 19), S. 187. Keinen Aufschluss gibt auch das Urteil RGZ 1, 445 f., welches durchaus als eine frühe Parteinahme für die Theorie der modifizierten Schickschuld gelesen werden kann. Freilich war dort signifikanterweise nicht über die Erfüllungswirkung der Zahlung, sondern allein über die „Gerichtsstandwirkung“ des Zahlungsorts zu entscheiden. Insofern relativiert sich auch die – an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lassende – Formulierung des RG, dass Art. 325 Abs. 2 ADHGB „nicht bloß eine besondere Bestimmung über den Gerichtsstand [scil. enthält], sondern eine materielle Bestimmung über den Erfüllungsort …“; a. a. O. S. 446 (Hervorhebung im Original). 22 So bereits der zur Aufnahme von Absatz 4 führende Vorschlag, s. Prot. II 306. 23 Prot. II 306. 24 Prot. II 306. 25 Prot. I 1081, zitiert nach Jakobs/Schubert (Fn. 17), S. 183.

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tum zum BGB26. Das Umkippen dieser Mehrheitsmeinung in der Kommentarliteratur hin zur Schickschuldtheorie27 verliert sich im Reiche der Spekulation28. Dabei zeigt gerade die Entstehungsgeschichte, dass die Schickschuldtheorie auch in systematischer Interpretation auf Sand gebaut ist. Der Primärzweck des Art. 325 Abs. 2 ADHGB/§ 270 Abs. 4 BGB war und ist ja die Sicherung des Gerichtsstands am Zahlungs-(Leistungs-)ort, also eine Maßnahme des Schuldnerschutzes. Dabei sollte es aber auch sein Bewenden haben. Dass Art. 325 Abs. 2 ADHGB/§ 270 Abs. 4 BGB inhaltlich in keiner Weise mit dem jeweiligen Absatz 1 korrespondieren, erhellt schon daraus, dass der Gerichtsstand für Zahlungsklagen schlechterdings nicht vom Charakter der Zahlung als barer oder unbarer abhängen kann. Wenn man also überhaupt an der tradierten verunglückten Nomenklatur festhalten wollte, dann wäre die Zahlungsschuld nicht als qualifizierte Schickschuld, sondern allenfalls als qualifizierte Bringschuld29 zu charakterisieren. 2. Wandel der Normsituation? Der Vergewisserung über das richtige und geltungszeitgemäße Verständnis einer Norm dient auch ein Rückblick auf die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, die der historische Gesetzgeber zu ordnen suchte. Was hat sich seither geändert? Bargeldlose – oder doch einseitig bargeldlose – Geldtransfers wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert primär durch Scheckhingabe oder durch Postanweisung erledigt. Beide Zahlungswege waren nicht nur langsam, sondern auch mit nicht geringen Verlustgefahren verbunden30. Seither ist die Banküberweisung – neben der hier nicht weiter interessierenden Lastschriftzahlung – zum weithin dominanten Instrument des bargeldlosen Geldtransfers geworden. Zugleich ist die Technologie des bargeldlosen Zahlungsverkehrs Schritt für Schritt perfektioniert worden31. Bei der heute üblichen vollelektronischen Weiterleitung eines Überweisungsauftrages durch das Gironetz ist das Risiko technischen Versagens verschwindend gering; Fehlerquellen bestehen fast nur noch auf der immer noch manuellen Eingabeseite, für die aber selbst nach der

__________ 26 Ausführlich und mit Nachweisen Gröschler (Fn. 15), §§ 269–272 BGB Rz. 34; Karsten Schmidt (Fn. 10), S. 84 f. 27 Eingeleitet durch RGZ 137, 140. 28 Plausibel immerhin die These von Gröschler (Fn. 15), §§ 269–272 BGB, der Paradigmenwechsel verdanke sich der Tatsache, dass zunächst die Eigenart der Schickschuld im Gegensatz zur Bringschuld und zur Holschuld noch nicht voll erfasst gewesen sei. 29 So in der Tat bereits Bittner in Staudinger (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 2 (2001); Langenbucher in Langenbucher/Gößmann/Werner, Zahlungsverkehr, 2004, § 1 Rz. 131; Herresthal, ZGS 2007, 48, 49 f. 30 Bei der Scheckzahlung waren nicht nur auf dem Postweg zum Gläubiger, sondern auch auf dem Weg vom Gläubiger zu dessen Bank Verspätungen und Verlustgefahren involviert. Auch die Postanweisung wurde gemeinsam mit der – vor mehr als hundert Jahren noch recht behäbigen – Briefpost zugestellt. 31 Darauf hat bereits Herresthal, ZGS 2007, 48, 49 f. hingewiesen.

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Schickschuldtheorie noch der Schuldner „zuständig“ ist. Minimiert worden ist im Gleichschritt das Verspätungsrisiko. Im Gefolge der EG-Überweisungsrichtlinie32 ist durch § 676a Abs. 2 Nr. 2 BGB die Höchstlaufzeit für Inlandsüberweisungen auf drei Bankarbeitstage reduziert worden. Die kreditwirtschaftliche Praxis hat auch diese Grenze inzwischen noch unterboten und die Laufzeit auf einen, maximal zwei Bankarbeitstag(e) gedrückt. Damit hat sich zugleich das Risiko erheblich verringert, dass ein Geldtransfer an Wert verliert oder infolge der Insolvenz einer Zwischenbank „stecken bleibt“. Im Klartext: Noch nie waren die Lasten einer Bringschuld für den Zahlungsschuldner leichter zu tragen. Hinzu kommt – und fast noch wichtiger – ein Zweites. Noch nie war es für den Schuldner einfacher, die ihm durch Zahlungsverspätung oder Verschwinden des Geldes entstandenen Verluste im Haftungswege auf die beteiligten Kreditinstitute abzuwälzen33. Bis zur Umsetzung der EG-Überweisungsrichtlinie34 in Gestalt der §§ 676a ff. BGB war ein derartiges Unterfangen ein Vabanque-Spiel mit ungewissem Ausgang, da zahlreiche – und z. T. exotische – Lösungsvorschläge um die Klärung der Haftungsproblematik stritten35. Heute sichern §§ 676b Abs. 1 und 3, 676c Abs. 1 Satz 1 BGB dem Zahlungspflichtigen bei jeder nicht von ihm selbst oder vom Gläubiger zu vertretenden Verspätung einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf eine Verzinsung des Überweisungsbetrags für die Dauer der Verspätung. Der Zinssatz von 5 % über Basiszins entspricht dem gesetzlichen Verzugszins, den der Schuldner gem. § 288 Abs. 1 BGB als Verzugsschadensersatz an seinen Gläubiger zu zahlen hat. Ein weitergehender Verspätungsschaden kann dem Zahlungspflichtigen entstehen, wenn er dem Gläubiger den höheren Verzugszins von 8 % über Basiszins schuldet (§ 288 Abs. 2 BGB), wenn er wegen verspäteten Eingangs einer Versicherungsprämie des Versicherungsschutzes verlustig geht (§ 38 VVG) oder ihm wegen verspäteter Zahlung der Miete gekündigt wird. Auch hier sind seine Regressmöglichkeiten noch komfortabel. Zwar haftet ihm jetzt die Überweisungsbank nur bei Verschulden (§ 676c Abs. 1 Satz 2 BGB); doch dieses Verschulden wird gem. § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB vermutet. Außerdem bleibt die Bank des Schuldners auch bei Fehlern der Korrespondenzbanken eine bequeme haftungsrechtliche Anlaufstelle, weil diese Fehler der Schuldnerbank nach § 278 BGB zugerechnet werden (§ 676c Abs. 1 Satz 3 BGB). Man ist versucht, aus alledem geradezu auf einen „Wandel der Normsituation“36 zu schließen. Nicht nur darum, sondern auch angesichts einer redaktionell missglückten und inhaltlich unklaren gesetzlichen Regelung sollte schon dieser Streifzug durch die Gesetzgebungs- und Dogmengeschichte

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32 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.1.1997, ABl. L 43 v. 14.2.1997, S. 25–30. 33 Dieser Hinweis auch schon bei Bittner in Staudinger (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 37. 34 Fn. 32. 35 Zum Meinungsstand unter altem Recht statt aller Canaris (Fn. 4), Rz. 392 ff. Für eine Anwendung des § 278 BGB auf Fehler der Zwischenbanken meine Ausführungen in Köndgen (Hrsg.), Neue Entwicklungen im Bankhaftungsrecht, 1987, 133 ff., 146 ff. 36 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1995, S. 170 ff.

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Grund genug sein, die Exegese des § 270 BGB wieder vermehrt auf teleologische und andere Sachargumente zu stützen.

III. Zur Dogmatik der Gefahrtragung bei Zahlungsschulden 1. Für eine einheitliche Konzeption des Geldtransfers Nach deutschem Recht37 stehen Barzahlung, Scheckzahlung und Überweisung38 unter jeweils eigenen Gefahrtragungsregimes. Daran stört nicht so sehr ein Überschuss an Differenzierung – dazu sogleich –, sondern das Fehlen eines übergeordneten Konzepts für sämtliche Modi des Geldtransfers. Das deutsche Denken begreift nach wie vor die Barzahlung als „Grundtatbestand“ des Geldtransfers39. Selbst bei der Distanzzahlung unter § 270 BGB scheint so mancher noch in der Vorstellung befangen40, hier packe der Schuldner ein paar Geldscheine in den Briefumschlag und trage diesen alsdann persönlich zur Post. Diese „quasi-sachenrechtliche“ Perspektive verrät ein prämodernes, nach Gegenständlichkeit strebendes Rechtsdenken und letztlich ein mangelhaftes Abstraktionsvermögen41. Das moderne angelsächsische Recht ist hier mit dem Begriff des fund transfer deutlich weiter und trägt der durchgängigen Dematerialisierung des Zahlungsverkehrs weitaus besser Rechnung42. Zahlung ist hiernach nur noch marginal sachenrechtliche Übereignung von Geldzeichen; sie ist wesentlich43 Werttransfer, der sich in unsichtbaren und deshalb in Buchungsvorgängen dokumentierten Vermögensbewegungen vollzieht. Unter dieser einheitlichen Konzeption des Geldtransfers lassen sich auch dessen Risiken einheitlich begreifen. Das Verlustrisiko steht bei der Scheckzahlung im Vordergrund, wo Schecks entwendet, unterschlagen oder zerstört werden. Bei Überweisungen hingegen ist der Totalverlust – jedenfalls im Inlandsverkehr – selten, da auch Fehlüberweisungen in der Regel nicht spurlos verschwinden, sondern auf irgendeinem (wenn auch nicht unbedingt auf dem Empfänger-)Konto gutgeschrieben oder – bei bankseitigen Übermittlungsfehlern – zurücküberwiesen werden. Dann mutiert das Verlustrisiko zum Ver-

__________ 37 Die wichtigsten ausländischen Jurisdiktionen sowie das Einheitskaufrecht (CISG) favorisieren immer schon die Bringschuldkonzeption; vgl. zur Rechtsvergleichung die Übersicht bei Grothe, Fremdwährungsverbindlichkeiten, 1999, S. 467. 38 Die Lastschriftzahlung gehört als atypische Holschuld wiederum nicht in diese Phalanx. 39 Verteidigt worden ist dieser Ansatz zuletzt wieder von Schön, AcP 198 (1998), 401, 403 ff.; ihm zustimmend Karsten Schmidt (Fn. 10), S. 82 f. Aufarbeitung des Meinungsstandes bei Grothe (Fn. 37), S. 24 ff. 40 Entsprechende Anklänge etwa bei Krüger in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 12 f., 17. 41 Ausgehend von RGZ 78, 137, 139 ff. Dem ist zuzugeben, dass die Bargeld-Perspektive für einige Rechtsprobleme der Zahlungsschuld immerhin einen gewissen Darstellungswert besitzt; vgl. dazu wiederum Karsten Schmidt (Fn. 10), S. 82. 42 Zum fund transfer als Schlüsselbegriff vgl. aus dem US-Recht Art. 4A Uniform Commercial Code (official comment); zum britischen Recht Goode, Commercial Law, 3. Aufl. 2004, S. 465 f. 43 Und ungeachtet des Nominalismusprinzips.

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spätungsrisiko, welches Gegenstand des neuen EuGH-Urteils ist. Als geldschuldspezifisches „Verschlechterungsrisiko“ verstehen lässt sich das Entwertungsrisiko, welches in der Praxis primär als Wechselkursrisiko bei grenzüberschreitenden Zahlungen, seltener auch als (Hyper-)Inflationsrisiko begegnet. Ein Verlustrisiko besonderer Art ist schließlich das Insolvenzrisiko hinsichtlich der Empfängerbank oder einer Zwischenbank44. Diese Typologie der Risiken eines Geldtransfers provoziert förmlich die Frage: Welches sind die Gesichtspunkte, die sich für eine differenzierte Behandlung der einzelnen Risiken ins Feld führen lassen? 2. Die Gefahrtragung beim Geldtransfer aus teleologischer Sicht Die von der h. M. propagierte Vorverlegung des Übergangs der Verspätungsgefahr auf den Gläubiger hat sich, da sie sich durch einen scheinbar klaren Wortlaut der Vorschrift (Verweisung auf § 269 in § 270 Abs. 4 BGB) und durch eine scheinbar ebenso unzweideutige Entstehungsgeschichte für gebunden hielt, nie um eine an gesetzlichen Wertungen und Prinzipien orientierte Rechtfertigung bemüht. Angesichts dieser Begründungsschwäche, und nachdem das historische Argument zugunsten der h. L. ausgedient hat45, ist es an der Zeit, die Gefahrtragung beim Geldtransfer primär aus teleologischer Sicht zu diskutieren. a) Die Bedeutung des Zahlungsorts für Gefahrtragung und Verzugshaftung: Unterschiedliche Behandlung der einzelnen Risiken des Geldtransfers? aa) Zur Problematik der Begriffsbildung „Verspätungsgefahr“ Das Gesetz meint, wo von Gefahrtragung die Rede ist, durchweg – und dies auch in § 270 Abs. 1 BGB – die Gefahr des zufälligen Verlusts oder „Untergangs“ des Leistungsgegenstandes, zumeist auch der „Verschlechterung“; sodann regelt es, wem das Risiko solcher zufälliger Leistungsstörungen zufällt. Bei der Leistungs- bzw. Verlustgefahr besteht der Nachteil für den Gefahrbelasteten bekanntlich darin, dass er die fehlgeschlagene Leistungsanstrengung wiederholen oder – bei bloßer Verschlechterung – „nacherfüllen“ muss. Beides passt ersichtlich nicht auf die zufällige (d. h. vom Schuldner nicht zu vertretende) bloße Leistungs- bzw. Zahlungsverspätung. Insofern ist es durchaus fragwürdig, Verlustgefahr und Verspätungsgefahr im selben Atemzug zu nennen46; ja, es scheint der h. L. und der von ihr propagierten Verschiedenbehandlung von Verlust- und Verspätungsgefahr sogar rechtzugeben. In der Tat sind die Nachteile bei zufälliger Zahlungsverzögerung – also diesseits der Schwelle zur Verzugshaftung – von besonderer Art. Durch die Versäumung gesetzlicher

__________ 44 So zutreffend bereits Canaris (Fn. 4), Rz. 478. Dieser Fall dürfte in der Praxis eher selten vorkommen, da es sich bei den Korrespondenzbanken zumeist um größere Institute mit geringem Insolvenzrisiko handelt. 45 Oben II. 46 So aber wohl Herresthal, ZGS 2007, 48, 49 (bei Fn. 15).

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oder vertraglicher Verfallfristen kann der Zahlungsschuldner u. U. sämtlicher Vertragsrechte verlustig gehen. Nicht termingerechte Zahlungen der Miete können eine Kündigung des Mietvertrages auslösen (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB), nicht termingerechte Zahlungen von Versicherungsprämien den Verlust des Versicherungsschutzes nach sich ziehen (§ 38 VVG). Mit dieser Maßgabe mag man auch die „Verspätungsgefahr“ noch dem gesetzlichen Gefahrbegriff subsumieren. Für weitere Unklarheit sorgt jedoch noch, dass der herrschende Sprachgebrauch den Begriff der Verspätungsgefahr wohl in einem extensiven und sich vom gesetzlichen Sprachgebrauch entfernenden Sinne versteht. Verspätungsgefahr ist, wie schon angemerkt, Teil der Übermittlungsgefahr. Transportrisiken wiederum hängen aufs Engste mit der Verantwortlichkeit des Schuldners für die zum Transport eingesetzten Personen zusammen. Dies ist beim Transfer von Girogeld nicht anders als beim Gütertransport. Das Transportrisiko besteht großenteils im Gehilfenrisiko, was die Frage der Anwendbarkeit des § 278 BGB herausfordert. Unversehens ist man damit beim Vertretenmüssen der Verspätung, also bei der Verzugshaftung angelangt. Diese Differenzierung gilt es im Auge zu behalten. bb) Verlust-, Entwertungs- und Verspätungsgefahr als gleichartige Ausprägungen des Transferrisikos Wie der Rechtsvergleich zeigt47, mag es zwar durchaus ernstzunehmende Gesichtspunkte geben, die typischen Risiken des Geldtransfers einmal dem Schuldner, einmal dem Gläubiger zuzuweisen. Was sich aber offenkundig nicht halten lässt, ist die von der noch h. M. verfochtene Differenzierung zwischen Verlustrisiko und Verspätungsrisiko. Geldschulden sind besonders zeitempfindliche Schulden. Schon geringe Zahlungsverzögerungen haben oft einschneidende Folgen, die jenen des Verlustes der Zahlung kaum nachstehen. Das zeigt sich nicht nur in Gestalt der erwähnten Nachteile bei nicht zu vertretender Zahlungsverspätung, sondern auch bei der Verzugshaftung. Gesetzliche Verzugszinsen muss der Schuldner auch dann bezahlen, wenn der Gläubiger keinen nachweisbaren Schaden erlitten hat. Weiter: Will man durchaus den Schuldner von den Gefahren der Zahlungsübermittlung entlasten, weil er den genauen Weg des Geldtransfers nicht bestimmen und häufig nicht einmal erkennen kann, dann trifft dies auf das Verspätungsrisiko ebenso zu wie auf das Verlustrisiko. Selbst wenn man mit dem schweizerischen Recht argumentiert, dass die Transportrisiken in der Sphäre des Gläubigers liegen, soweit er es ist, der einen bestimmten (und möglicherweise anfälligen) Zahlungsweg vorgibt48, ist nicht ersichtlich, inwiefern dies eine Differenzierung zwischen Verlust- und Verspätungsrisiko tragen könnte.

__________ 47 Vgl. den Nachweis oben Fn. 37. 48 BGE 124 III 147; das Argument war bereits von Thalmann, Die Rechtzeitigkeit von Überweisungen und Einzahlungen auf ein Bank- oder Postscheckkonto des Gläubigers, SZW 1990, 257, 262 f. entwickelt worden.

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Uneinig ist man sich – dies auch innerhalb der h. L. von der modifizierten Schickschuld49 – darüber, ob das Entwertungsrisiko – als geldschuldspezifisches „Verschlechterungsrisiko“ – wie das Verlustrisiko (dann: Risiko beim Schuldner) zu behandeln ist50 oder wie das Verspätungsrisiko (dann: Risiko beim Gläubiger)51. Unabhängig davon, wie man zu dem jeweiligen Ergebnis stehen mag, ist diese konzeptuelle Unsicherheit ein weiterer Beleg dafür, wie eng Verlustgefahr und Verspätungsgefahr einander benachbart sind. Im Ergebnis entspricht die Gleichbehandlung des Entwertungsrisikos mit dem Verlustrisiko jedenfalls dem in mehreren Gefahrtragungsregeln artikulierten Gesetzgeberwillen52, der keinen Unterschied zwischen Untergang und Verschlechterung des geschuldeten Gegenstandes gelten lässt. Bleibt als letztes problematisches Risikoelement das Insolvenzrisiko. Dieses wurde bereits oben als zahlungsspezifische Ausprägung des Verlustrisikos charakterisiert, sodass eine zumindest analoge Anwendung des § 270 Abs. 1 BGB kaum problematisch sein kann. Auch bei Zugrundelegung des – sogleich noch weiter zu verfolgenden53 – Sphärengedankens lässt sich nicht erkennen, was eine Differenzierung danach rechtfertigen könnte, ob das Buchgeld bei einer Korrespondenzbank oder der Empfängerbank spurlos verschwunden oder in der Insolvenz eines dieser Institute „steckengeblieben“ ist. b) § 270 BGB und Sphärengedanke In den schuldrechtlichen Gefahrtragungsregeln hat sich seit jeher – und lange bevor dieser Terminus gängige Münze wurde – die Zurechnung nach Risikosphären Bahn gebrochen. Der „Sphärengedanke“ fungiert hier nicht als „Notbremse“ gegenüber einem „logisch“ abgeleiteten Ergebnis54, sondern ist geradezu das zentrale Kriterium bei der teleologischen Interpretation von Gefahrtragungsregeln. Freilich: Abgrenzung und Zuweisung von Einfluss- und Risikosphären sind dogmatisch ein schwieriges Geschäft55. Im deutschen Recht erstreckt man die Risikosphäre des Zahlungsschuldners bis zum Eingang des Überweisungsbetrages bei der Gläubigerbank. Dahinter steht der Gedanke, infolge der „an sich“ geschuldeten Barzahlung schaffe der Zahlungspflichtige mit der Überweisung ein Transportrisiko, welches folgerichtig von ihm selbst zu übernehmen sei56. Hingegen wird bei der Posteinzahlung nach schweizerischem Recht zwar ebenfalls mit dem Primat der Barzahlung argumentiert, dies

__________ 49 Oben Fn. 4. 50 Dafür etwa Krüger in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 14. 51 Karsten Schmidt in Staudinger (Fn. 1), Vorbem §§ 244 ff. BGB Rz. C 28; Canaris (Fn. 4), Rz. 479. 52 § 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2/3 BGB; § 447 Abs. 1 i. V. m. § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB; § 644 Abs. 1 Satz 2 BGB. 53 Unten d). 54 So in der Tat, aber methodisch fehlgeleitet Schimansky (Fn. 4), Rz. 205 und 206 (Zitate). 55 Das rechtfertigt es indes keineswegs, den Sphärengedanken als „sich für jede gewünschte Lösung anbietend“ abzutun; so aber Schimansky (Fn. 4), Rz. 206. 56 Repräsentativ Canaris (Fn. 4), Rz. 477 f.

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jedoch mit der Maßgabe, dass es der Gläubiger sei, der dem Zahlungspflichtigen den unbaren Zahlungsweg vorgebe und darum auch dessen spezifische Risiken verantworten müsse57. Beide Positionen sind angesichts der heute eingebürgerten Usancen des Zahlungsverkehrs anfechtbar. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt – der erfüllungsrechtliche Primat der Barzahlung – muss heute als geradezu antiquiert gelten. Außerhalb der (inzwischen ebenfalls zunehmend auf Kartenbasis abgewickelten) Bargeschäfte des täglichen Lebens ist die unbare Zahlung längst und irreversibel zum Standard geworden58. Diese die Vorstellungen des Gesetzgebers überholende Entwicklung hat stattgefunden, weil sowohl Zahlungsschuldner als auch Zahlungsgläubiger von den Annehmlichkeiten der unbaren Zahlung profitieren. Allenfalls bei der Lastschriftzahlung mit Einziehungsermächtigung liegt der Vorteil primär auf Seiten des Zahlungsgläubigers, weshalb dieser Zahlungsmodus auch einhellig als Holschuld qualifiziert wird59. Für die Überweisung hingegen liefert der Gesichtspunkt des beiderseitigen Interesses an der unbaren Zahlung keine eindeutige Abgrenzung der beiderseitigen Risikosphären. Ergiebiger ist schon der Blick auf die jeweiligen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten. Letztere beginnen seitens des Zahlungsgläubigers erst bei den Geldbewegungen innerhalb seiner eigenen Bank. Dieser Befund bestätigt nicht nur die inzwischen wohl h. L60., wonach dem Gläubiger im Überweisungsverkehr das Insolvenzrisiko seitens seiner Bank zufällt; er trägt sehr viel weiter. Die Schwäche der h. L. liegt denn auch in deren Inkonsequenz. Sie vermag nicht zu erklären, warum der Gläubiger zwar das Risiko tragen soll, dass seine Bank allgemein schlecht wirtschaftet und deshalb insolvent wird, nicht aber verantworten muss, dass die Bank den bei ihr eingegangenen Deckungsbetrag ihm nicht, oder jedenfalls nicht unverzüglich, gutschreibt. Konsequent und stimmig ist allein: Die Gefahrtragung durch den Schuldner muss für sämtliche Übermittlungsrisiken an den Toren der Gläubigerbank als der Zahlstelle des Gläubigers enden. Auf Seiten des Zahlungsschuldners ist jedenfalls nicht zu bezweifeln, dass er sämtliche Übermittlungsrisiken infolge des (Fehl-)Verhaltens seiner Bank trägt. Problematisch ist lediglich seine Risikoverantwortlichkeit im „Niemandsland“ der Zwischenbanken, wo seine Einflussmöglichkeiten sich spätestens mit der Einschaltung der zweiten Zwischenbank im Nichts verlieren. In diesem Bereich ist das Transportrisiko für den Gläubiger wie für den Schuldner „Zufall“. Unzulässig wäre es hier, die girorechtliche Konzentration aller Trans-

__________ 57 Oben Fn. 48. 58 Zutreffend Dücker, Erfüllung einer Geldschuld durch Banküberweisung, WM 1999, 1257 ff. 59 Karsten Schmidt in Staudinger (Fn. 1), Vorbem. §§ 244 ff. BGB Rz. C 51; Canaris (Fn. 4), Rz. 629. Van Gelder in Schimansky et al. (Hrsg.), Bankrechtshandbuch, 3. Aufl. 2007, Bd. I § 58 Rz. 156; Krüger in MünchKomm.BGB (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 11; Wolf in Soergel (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 11; zur Gegenmeinung Schön, AcP 198 (1998), 401, 446 f. 60 Aktueller Meinungsstand bei Schimansky (Fn. 4), Rz. 205 ff.; Bittner in Staudinger (Fn. 4), § 270 BGB Rz. 21.

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ferrisiken bei der Schuldnerbank (§§ 676b Abs. 1, 676c Abs. 1 BGB) unbesehen auf die erfüllungsrechtliche Gefahrtragung zu übertragen. Die Gefahrtragungsregel des § 270 Abs. 1 BGB beruht auf einem anderen und eigenen Gedanken61. Es sei nochmals erinnert62: Grundsätzlich ist bei Lieferverträgen die Leistung allein Sache des Schuldners, ohne dass es irgendeiner Mitwirkung seitens des Gläubigers bedürfte. Vor diesem Hintergrund müsste der dispositivrechtliche Regelfall der Erfüllung eigentlich die Bringschuld und nicht die Holschuld sein. Der Gesetzgeber hat hiervon nur wegen der bei Kauf- und Werkverträgen gravierenden und dem Schuldner daher zusätzlich zu entgeltenden Transportrisiken und -kosten abgesehen63. Für Zahlungsschulden sind diese Risiken und Kosten zu vernachlässigen, so dass man in § 270 Abs. 1 BGB wieder zum „eigentlichen“ Regelfall der Gefahrtragung durch den Schuldner zurückkehren konnte. Dieser Grundgedanke scheint nicht nur im deutschen Recht, sondern auch in den meisten Auslandsrechtsordnungen derart unumstritten, dass er schon gar nicht mehr problematisiert wird. Bleibt als einzige Merkwürdigkeit, dass die h. L. zum deutschen Recht die Gefahrtragung durch den Schuldner nicht umfassend versteht, sondern Verlustrisiko und Verspätungsrisiko unterschiedlich behandeln will. Irgendwelche Sachgründe für diese Differenzierung zwischen endgültiger und nur temporärer Nichterfüllung gibt es nicht. Auf die Entstehungsgeschichte kann sich, wie im Vorigen nachgewiesen, niemand berufen. Die Rechtzeitigkeit der Absendung des Überweisungsauftrages ist für die Tragung der Verspätungsgefahr ohne Belang. Sie bleibt aber wichtig für das Vertretenmüssen eines verspäteten Eingangs beim Gläubiger. Diese Unterscheidung ist bedeutsam für die noch anzusprechenden neuen Entwicklungen im Europäischen Recht. c) Die (Nicht-)Rechtzeitigkeit der Zahlungseinleitung als Teil des Verzugstatbestandes Einmal mehr dient hier begriffliche Klarheit dem richtigen Verständnis. Die Redeweise von der „Rechtzeitigkeit der Zahlung“ ist aus dem Grunde doppeldeutig, weil sie sowohl auf die rechtzeitige Veranlassung des Zahlungsvorgangs (Leistungshandlung) als auch auf den Leistungserfolg (rechtzeitige Verfügbarkeit des Geldbetrages in der Hand des Gläubigers) passt. Beides hat aber nur partiell miteinander zu tun. Mehr noch: Beide Zeitpunkte beziehen sich auf unterschiedliche Referenzgrößen. Drei einfache Alternativfälle mögen dies verdeutlichen. Der Schuldner S möge jeweils eine (gesetzliche oder vertragliche) Zahlungsfrist bis zum 20. des Monats haben. (a) S bringt die Überweisung am 20. zur Bank; am 22. wird sie dem Konto des Gläubigers G gutgeschrieben. (b) S überweist ebenfalls am 20., aber infolge eines Fehlers im Gironetz wird dem Gläubiger erst am 24. gutge-

__________ 61 Der vom Modell der Transportgefahrtragungsregel beim Versendungskauf (§ 447 BGB) grundsätzlich abweicht. 62 Vgl. bereits oben II.1. 63 Auch dies wird durch einen Blick auf § 447 BGB bestätigt.

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schrieben. (c) S bringt die Überweisung am 19. zur Bank; infolge außergewöhnlich glücklicher Umstände erfolgt die Gutschrift aber bereits am 20. Fall (a) zeigt, dass die Zahlungsveranlassung am letzten Tag der Frist nicht ausreicht, dem G – bei Zugrundelegung der normalen Überweisungsdauer von 2–3 Bankarbeitstagen – innerhalb der Frist die Verfügungsmöglichkeit über den geschuldeten Betrag zu verschaffen. Aus Gläubigersicht ist jede Frist- bzw. Fälligkeitsüberschreitung „nicht rechtzeitiger“ Empfang und damit ein Fall von Nichterfüllung. Weil dem so ist, muss der Schuldner mit seinen Leistungsvorbereitungen rechtzeitig beginnen. In casu: S hätte bei sorgfältigem Vorgehen bereits am 17. zu seiner Bank gehen müssen64. Diese Dreitagesfrist ist – nicht zufällig – identisch mit der gesetzlichen Überweisungsfrist nach § 676a Abs. 2 Nr. 2 BGB, deren Einhaltung durch die beteiligten Kreditinstitute der Schuldner problemlos erwarten darf. Seitens des Schuldners führt die nicht rechtzeitige Leistungshandlung damit zu dessen Vertretenmüssen der Verspätung und löst die Verzugsfolgen aus. In Fall (b) hatte S mit einer nicht rechtzeitigen Gutschrift (erst zum 23.) zu rechnen, nicht jedoch mit einer zusätzlichen Verspätung von einem weiteren Tag. Dieser Tag scheint in der Tat à conto des Transferrisikos zu gehen. Die h. L. kommt hier zu einem ungereimten Ergebnis: Weil die Verspätungsgefahr nur bei rechtzeitiger Absendung auf den Gläubiger übergeht, trägt der Schuldner auch für den zusätzlichen Tag das Risiko – obwohl diese Verzögerung nicht in seine Sphäre fällt! Vorzugswürdig erscheint die Lösung, den S auch für die an sich nicht zu vertretende Zusatzverzögerung in die Verzugshaftung zu nehmen. Stützen lässt sich dieses Ergebnis auf eine analoge Anwendung des § 287 Satz 2 BGB und die dort statuierte Zufallshaftung während des Verzuges. In Fall (c) hat der Gläubiger die Zahlung rechtzeitig erhalten; mehr kann er nicht verlangen. S hat zwar den Zahlungsvorgang in zu vertretender Weise zu spät eingeleitet; aber diese Sorgfaltspflichtverletzung ist nicht kausal geworden.

IV. Die Tragweite des EuGH-Urteils für das deutsche Schuldrecht 1. Zur Zulässigkeit der Vorlage durch das OLG Köln Das OLG Köln hat sich bei seinem Ersuchen um Vorabentscheidung des EuGH an die h. L. der „modifizierten Schickschuld“ gehalten. Auf § 270 BGB kam es in casu nicht als Gefahrtragungsregel an, sondern nur infolge seiner Vorgreiflichkeit für die nicht rechtzeitige Leistung als Element des Verzugstatbestandes nach § 286 Abs. 3 Satz 1 BGB. Damit schien sich ein Konflikt mit Art. 3 Abs. 1 lit. c der Zahlungsverzugsrichtlinie65 anzubahnen, demzufolge der Gläubiger Verzugszinsen verlangen kann, wenn er „den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten hat, es sei denn, dass der Schuldner für die Verzöge-

__________ 64 So – allerdings vom Boden der h. L. aus – zutreffend bereits Canaris (Fn. 4), Rz. 480. 65 Fn. 13.

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rung nicht verantwortlich ist“. Dies scheint eine Entlastung des Schuldners bei rechtzeitig erfolgtem Überweisungsauftrag auszuschließen. Bei genauem Hinsehen war das OLG Köln zu einer Vorlage nach Art. 234 EG weder berechtigt noch verpflichtet66. Eine Vorlage kommt nicht in Frage, wenn die einschlägige Norm des Gemeinschaftsrechts offenkundig ist, d. h. keine Auslegungszweifel offen lässt67 und darum nicht zu nationalen Auslegungsdivergenzen führen kann. Das traf in casu mit seltener Eindeutigkeit zu. Die verschiedenen Sprachfassungen formulieren übereinstimmend, dass der Gläubiger die Zahlung „erhalten“ (received, reçu) haben muss68. Gewiss reicht allein ein unzweideutiger Wortlaut zur Behebung von Auslegungszweifeln noch nicht aus, da der EuGH nicht der sog. act clair-Doktrin des französischen Rechts folgt, sondern die Berücksichtigung weiterer Interpretationselemente fordert69. Indes wird der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 lit. c der Zahlungsverzugsrichtlinie auch durch eine teleologische Interpretation nachhaltig gestützt. Ziel der Richtlinie ist die Bekämpfung einer schlechten Zahlungsmoral seitens gewerblicher Schuldner. Dabei ist in der Praxis erfahrungsgemäß nicht nur Fahrlässigkeit, sondern häufig sogar Vorsatz im Spiel. Die Richtlinie trifft also in erster Linie Fälle, in denen der Zahlungspflichtige den Geldtransfer schuldhafterweise gar nicht erst auf den Weg bringt. Mit dem in § 270 BGB geregelten Verzögerungsrisiko bei bereits eingeleitetem Geldtransfer hatte der Richtliniengeber nichts im Sinn. Dass auch die Richtlinie vom „rechtzeitigen“ Erhalt spricht70, steht dem nicht entgegen. Die Rechtzeitigkeit des Erhalts bezieht sich allein auf die Fälligkeit der Leistung (bzw. auf deren Nichtbeachtung) und hat nichts mit der unter § 270 BGB diskutierten Rechtzeitigkeit der Einleitung des Zahlungsvorganges zu tun71. Wenn Art. 3 Abs. 1 lit. c der Richtlinie nach alledem die schuldhafte Vorenthaltung des geschuldeten Betrages sanktionieren will, dann kann die Norm sinnvollerweise nur an dessen Erhalt durch den Gläubiger anknüpfen.

__________ 66 Ob das OLG nach § 543 ZPO als letztinstanzliches Gericht zu entscheiden hatte, geht aus der Entscheidung nicht hervor. Nicht zu vertiefen ist an dieser Stelle die Entscheidungserheblichkeit sowohl des § 270 BGB als auch des Art. 3 der Richtlinie. Die Parteien standen nämlich in langjähriger Geschäftsverbindung, hatten allerdings ihre Kooperation auf die Basis zweier Verträge gestellt. Der spätere der beiden Verträge enthielt eine sog. Rechtzeitigkeitsklausel, die die Maßgeblichkeit des Eingangs beim Gläubiger fixierte. Der berichtete Sachverhalt spricht dafür, dass sich aufgrund dieser Klausel ein sog. Geschäftsverbindungsbrauch entwickelt hatte, der für den gesamten Zahlungsverkehr der Parteien gelten sollte. 67 Vgl. mit Nachweisen der EuGH-Rechtsprechung Schmidt-Räntsch, Die Rechtsprechung des BGH, in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 552, 562. 68 Insofern zutreffend herausgearbeitet vom OLG Köln, ZIP 2006, 1986, 1988. 69 Rechtsprechungsübersicht bei Riesenhuber, Die Auslegung, in Riesenhuber (Fn. 67), S. 244, 251. 70 Darauf stellt maßgeblich die Gegenansicht von Herresthal, ZGS 2007, 48, 52 ab. 71 Dies verkennt m. E. die Rezension des EuGH-Urteils durch Herresthal, ZGS 2008, 259, 262. Zu den verschiedenen Bedeutungen von „Rechtzeitigkeit“ bereits oben unter III.2.c.

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In Anbetracht dieses klaren Auslegungsresultats hätte das OLG Köln ohne weiteres zu einer richtlinienkonformen Auslegung des § 270 BGB schreiten können72. Dazu hätte es keiner – als Instrument der richtlinienkonformen Auslegung umstrittenen73 – Rechtsfortbildung bedurft. Wie im Vorigen dargestellt, ist eine mit Art. 3 Abs. 1 lit. c der Richtlinie vereinbare Interpretation des § 270 BGB mit den anerkannten Methoden74 der historischen und der teleologischen Interpretation möglich. Einer Vorlage an den EuGH bedurfte es nicht; sie war bei Anlegung strenger Maßstäbe sogar unzulässig. Es ist dies freilich nicht das erste Mal, dass der EuGH sich um die Zulässigkeit einer Vorlage wenig geschert und stattdessen seinem judicial activism in Gestalt einer Entscheidung in der Sache freien Lauf gelassen hat. 2. Die begrenzte Aussagekraft des EuGH-Urteils Die Antwort des EuGH75 auf das Vorabentscheidungsersuchen des OLG Köln konnte realistischerweise niemanden überraschen: Für die Entstehung des Anspruchs auf Verzugszinsen ist die rechtzeitige Gutschrift des Überweisungsbetrages auf dem Gläubigerkonto maßgeblich. Wie schon die kritische Betrachtung des Vorlagebeschlusses ergeben hat, gibt es insoweit an Art. 3 Abs. 1 lit. c der Richtlinie auch kaum etwas auszulegen. Entsprechend knapp ausfallen konnte darum die Begründung des EuGH. Weitaus interessanter als das Ergebnis der Entscheidung ist denn auch deren Rückwirkung auf das deutsche Schuldrecht. Ist jetzt tatsächlich der (von manchen perhorreszierte76) Einbruch des Gemeinschaftsrechts in einen Kernbereich des deutschen Schuldrechts geschehen? a) Keine Relevanz des Urteils für § 270 BGB als Gefahrtragungsregel Es versteht sich, dass die Interpretation einer Richtlinienklausel durch den EuGH deren Regelungsgegenstand nicht grundsätzlich erweitern kann. Ebenso wenig bedarf der Diskussion, dass die Klausel und deren Interpretation durch den EuGH kraft des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Zivilrecht nur so weit einwirken können, wie ihr Regelungsgegenstand reicht. Art. 3 Abs. 1 lit. c der Zahlungsverzugsrichtlinie hat – es besteht Anlass, daran zu erinnern – einen überaus engen sachlichen und personellen Regelungsgegenstand: die Entstehung des Anspruchs auf Verzugszinsen aus Verträgen zwischen Unternehmen. Auch weil dieser Anspruch eine „Verantwortlichkeit“ des Schuldners für die Verspätung voraussetzt77, besagt die Vorschrift

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72 In diesem Ausgangspunkt übereinstimmend Herresthal, ZGS 2007, 48, 51. 73 Vgl. zum Diskussionsstand Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 ff.; W. H. Roth, Die richtlinienkonforme Auslegung, in Riesenhuber (Fn. 67), S. 308, 326 ff. 74 Zur mitgliedstaatlichen Auslegungsmethodik als Grenze der richtlinienkonformen Auslegung wiederum W. H. Roth (Fn. 73), S. 326. 75 Fn. 12. 76 Etwa von H. Honsell, ZIP 2008, 621 ff. 77 Nur die Verzugshaftung war auch Gegenstand der Ausgangsentscheidung des OLG Köln.

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Gefahrtragung und Verzug bei Zahlungsschulden – Neues vom EuGH?

augenscheinlich nicht das Geringste über die Zuweisung des Verspätungsrisikos78. M. a. W.: Deutsche Gerichte können über die Interpretation des § 270 BGB und die Allokation des Verspätungsrisikos weiterhin autonom befinden. Jedenfalls aus europarechtlichen Gründen sind sie nicht einmal gehindert, an der (hier bekämpften) Konzeption der „modifizierten Schickschuld“ festzuhalten. b) Richtlinienkonforme Auslegung des § 270 BGB wegen dessen Vorgreiflichkeit für den Verzugseintritt? Weniger eindeutig ist, wie weit das EuGH-Urteil die Interpretation des Verzugstatbestandes und der Verzugsfolgen (§§ 286, 288 BGB) präjudizieren kann. Nur einen redaktionellen Unterschied macht es insoweit, dass die Richtlinie die „Verantwortlichkeit“ des Schuldners – die der deutsche Gesetzgeber in § 286 Abs. 4 BGB befugtermaßen mit „Vertreten-müssen“ bzw. mit Sorgfaltswidrigkeit umsetzen kann79 – nicht zur Voraussetzung des Verzugstatbestandes selbst80, sondern nur des Verzinsungsanspruchs macht. Um einer heillosen kasuistischen Zersplitterung des Zahlungsrechts zu wehren, wird man ferner akzeptieren, dass das deutsche Schuldrecht den engen, auf vertragliche Zahlungsschulden von Unternehmern begrenzten Geltungsbereich der Richtlinie vernachlässigt und damit quasi überschießend umsetzt81. Als tatsächlich schwierige Frage bleibt dann, ob die nach allgemeiner Meinung bestehende Vorgreiflichkeit des § 270 BGB für den Eintritt des Verzuges82 am Ende doch noch zu dessen richtlinienkonformer Neuinterpretation führen muss. Niemand wird ja einer gespaltenen und tendenziell zu divergenten Ergebnissen gelangenden Interpretation der Vorschrift – autonom-national hinsichtlich der Gefahrtragung, richtlinienkonform hinsichtlich der Verzugswirkung – das Wort reden wollen. Fraglich ist indes, ob die Vorgreiflichkeit des § 270 BGB für den Verzugseintritt in der von der h. L. postulierten Form überhaupt von Belang ist. Dies ist entgegen dem ersten Anschein nicht der Fall. Die Vorgreiflichkeit hinsichtlich des Leistungsorts wird durch das zusätzliche Erfordernis des Vertretenmüssens der Verspätung sozusagen überholt. Der Schuldner, der den Überweisungsauftrag nicht rechtzeitig erteilt oder den Verrechnungsscheck nicht rechtzeitig abgesandt hat, hat diese Verspätung angesichts der heute problemlos antezipierbaren Übermittlungsdauer notwendigerweise auch zu vertreten83. Auch hinsichtlich weiterer Verzögerungen auf dem Übermittlungsweg durch das

__________ 78 Übereinstimmend Gsell, GPR 2008, 166. 79 Die Gleichsetzung von „Verantwortlichkeit“ mit „Sorgfaltswidrigkeit“ ist jetzt auch durch das EuGH-Urteil (Fn. 12), Rz. 30 autorisiert. 80 Dies folgt aus der Legaldefinition des „Zahlungsverzuges“ in Art. 2 Nr. 2 als „Nichteinhaltung der vertraglich oder gesetzlich vorgesehenen Zahlungsfrist“. 81 Das Problem ist bereits von Herresthal, ZGS 2008, 259, 263 f. behandelt worden und bedarf hier nicht erneuter Vertiefung. 82 Zuletzt Herresthal, ZGS 2008, 259, 265 („systematische Verschränkung“). 83 Bereits oben III.2.c.

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Johannes Köndgen

Gironetz stellt sich die Gefahrtragungsfrage nicht mehr, weil den Schuldner für alle weiteren durch den Verzug veranlassten Störungen die Zufallshaftung in analoger Anwendung von § 287 Satz 2 BGB trifft. Somit zeigt sich, dass das EuGH-Urteil auch im Bereich des § 286 BGB die Preisgabe der herrschenden Konzeption der „modifizierten Schickschuld“ nicht unbedingt gebietet. Das deutsche Recht kann und sollte sich deshalb nach Münchhausen-Art selbst aus dem Sumpf einer verfehlten h. M. befreien.

V. Ergebnisse 1. Mit der Regel, dass die Verzugsfolge der Verzinsungspflicht des Schuldners bei Überweisung des Geldbetrages an den Gläubiger mit nicht rechtzeitiger Gutschrift auf dem Gläubigerkonto einsetzt, hat der EuGH in seinem Urteil von 2007 etwas ausgesprochen, was bei richtigem Verständnis immer schon auch im deutschen Recht galt. 2. Zumindest die sachliche Reichweite des Urteils erschöpft sich in der Statuierung einer – verschuldensabhängigen – Verzugsfolgenregelung. Zur Gefahrtragung bei Geldschulden hat der EuGH nichts entschieden, sodass die Auslegung des § 270 BGB eine Angelegenheit der autonom-nationalen Interpretation bleibt. Das Urteil lässt auch die Ausstrahlung des § 270 BGB auf den Verzugstatbestand des § 286 BGB unberührt, da die – nach h. L. zum Übergang der Verspätungsgefahr auf den Gläubiger führende – rechtzeitige Absendung der Zahlung zugleich über den Verzugseintritt entscheidet, nämlich als Frage des Vertretenmüssens der Verspätung. 3. Auch wenn das EuGH-Urteil demnach keine Verbindlichkeit für das deutsche Schuldrecht schafft, sollte die noch herrschende Konzeption der Zahlungsschuld als „qualifizierter Schickschuld“ baldigst und im Gleichklang mit den wichtigsten ausländischen Jurisdiktionen auf das Modell der Bringschuld umgestellt werden. Zahlungsort ist bei der Überweisung die Empfängerbank als Zahlstelle des Gläubigers, bei Scheckzahlung der Wohnsitz des Gläubigers. Die Fundamente der h. M. sind schon in historischer Gesetzesinterpretation brüchig; teleologische Gesichtspunkte erweisen sie als nicht länger haltbar.

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Über Zurechnungskriterien im Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Fragen II. Herrschaft als Zurechnungsgrund 1. Mehrheitsbeteiligung 2. Drittwirkung von Stimmverboten wegen Befangenheit eines Gesellschafters 3. Kapitalersatz

III. Interessenverknüpfung als Zurechnungsgrund 1. Darlehen an Organmitglieder 2. Stimmverbote wegen Befangenheit eines Dritten 3. Mittelbare Zuwendungen an Gesellschafter IV. Zusammenfassende Würdigung

I. Fragen Zurechnungsfragen im Gesellschaftsrecht stellen sich immer dann, wenn zu entscheiden ist, ob Umstände in der Person eines Rechtsträgers (einer Personengemeinschaft) so zu werten sind, als lägen sie bei einem/einer anderen vor. Solche Fragen tauchen in den verschiedensten Zusammenhängen auf, so zum Beispiel im Kontext der Reichweite von Wettbewerbsverboten1 oder von Vinkulierungsklauseln2. Beide Beispiele beziehen sich schwergewichtig auf Vertrags- bzw. Satzungsauslegung. Einschlägige Probleme stellen sich vermehrt aber auch bei der Interpretation von Gesetzen, etwa dann, wenn es auf eine bestimmte Beteiligungsquote und in diesem Zusammenhang darauf ankommt, ob Anteile einer abhängigen Gesellschaft dem Mutterunternehmen zuzurechnen sind3. Der Anlass des nachstehenden Beitrags war die Beobachtung, dass die Einbeziehung naher Angehöriger (Ehegatten, Lebenspartner, minderjährige Kinder) in den Tatbestand zum Teil gesetzlich angeordnet (§§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG), bei den Stimmverboten (§§ 136 AktG, 47 Abs. 4 GmbHG) überwiegend abgelehnt wird und für Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen zumindest in den Einzelheiten umstritten ist4. Die daraus resultierende Frage lautet, ob sich dies vernünftig erklären lässt, verneinendenfalls wie eine insgesamt

__________ 1 Gilt das Wettbewerbsverbot zu Lasten eines Gesellschafters auch gegenüber der Gesellschaft und umgekehrt? Dazu etwa Emmerich in Scholz, 10. Aufl. 2006, § 13 GmbHG Rz. 62 f.; Koppensteiner/Rüffler, 3. Aufl. 2007, § 61 GmbHG Rz. 25 f. m. w. Bsp. 2 Was bedeutet eine solche Klausel für die Veräußerungsfähigkeit der Anteile an einer beteiligten Gesellschaft? Dazu M. Winter/Löbbe in Ulmer, GmbHG, Bd. I, 2005, § 15 GmbHG Rz. 254 ff.; zur Ansicht des Verf. Koppensteiner in FS Druey, 2002, S. 427 ff. 3 Zu solchen Fällen Koppensteiner, wbl 2005, 293 ff. 4 Zu § 114 AktG s. unten bei III.1.b).

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konsistente Lösung aussehen könnte. Dieselbe Frage stellt sich auch bezüglich der Einbeziehung von Vereinigungen, zu denen der eigentliche Normadressat noch zu konkretisierende Beziehungen unterhält. Insgesamt geht es mir darum, einen, wenngleich bescheidenen, Beitrag zu der vom Jubilar zu Recht immer wieder geforderten und von ihm so genannten Institutionenbildung im Gesellschaftsrecht5 zu leisten.

II. Herrschaft als Zurechnungsgrund 1. Mehrheitsbeteiligung Wenn es darum geht, ob eine Mehrheitsbeteiligung vorliegt, sind von abhängigen Unternehmen gehaltene Anteile dem Herrschaftsträger zuzurechnen, also so zu behandeln, als hielte er sie selbst (§ 16 Abs. 4 AktG). Der Grund dieser, auf das Engste mit der Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG zusammenhängenden Regel besteht darin, dass das herrschende Unternehmen das Stimmverhalten des abhängigen bei einer dritten Gesellschaft bestimmen kann, bei sich also eben jenes Einflusspotential konzentriert, von dem die Feststellung einer Stimmrechtsmehrheit abhängt. Würde man dies unberücksichtigt lassen, dann wäre die Umgehung der an die Mehrheitsbeteiligung anknüpfenden Vorschriften, namentlich von § 17 Abs. 2 AktG, sehr leicht. Ausweislich der Materialien besteht der Zweck von § 16 Abs. 4 AktG denn auch gerade darin, solches zu verhindern6. Der gleiche Grundgedanke – abhängige Unternehmen als verlängerter Arm des Herrschaftsträgers – prägt viele andere Bestimmungen, so bei der Zurechnung von Marktanteilen im Kartellrecht, im Konzernbilanzrecht (§ 290 Abs. 3 HGB), nach § 5 MitbestG, im Bankaufsichtsrecht (§§ 1 Abs. 9 Satz 2 und 3 KWG)7 und dem Kontrollbegriff des WpÜG (§§ 29, 30 Abs. 1 WpÜG)8. 2. Drittwirkung von Stimmverboten wegen Befangenheit eines Gesellschafters Im Kontext der Stimmverbote9 stellt sich die Frage, ob eine an der Gesellschaft beteiligte Personenvereinigung mitstimmen darf, wenn eines ihrer Mitglieder oder Organpersonen im Sinne der §§ 136 AktG, 47 Abs. 4 GmbHG befangen

__________ 5 Repräsentativ Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 52 ff. Damit übereinstimmend hat der BGH (ZIP 2006, 1529, 1531 f.) die Frage, ob § 114 AktG auch auf Beratungsverträge mit einer Beteiligungsgesellschaft des Aufsichtsratsmitglieds anzuwenden sei, in den Kontext derselben Frage in anderen Bereichen des Gesellschaftsrechts (z. B. § 62 AktG, §§ 30 f. GmbHG, Eigenkapitalersatz) gestellt. 6 Begr.RegE bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 30. Dazu OLG Hamburg, NZG 2003, 978, 979 f. 7 Zu Parallelnormen im österreichischen Recht Koppensteiner, Bankarchiv 2005, 623, 624 ff., 628 ff. 8 Dazu (für Österreich) Koppensteiner, wbl 2005, 293, 296 ff. 9 Gerechtfertigte Kritik an ihrer unterschiedlichen, prinzipienlosen Regelung durch den Gesetzgeber bei Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 609 ff.

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ist. Die Frage war früher umstritten, kann aber heute als geklärt gelten. Es kommt in allen Fällen darauf an, ob zu besorgen ist, die Befangenheit eines Mitglieds wirke sich auf das Stimmverhalten der Vereinigung aus. Das hängt davon ab, ob der Befangene einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Willensbildung der Vereinigung hat10. § 17 AktG kann dabei als Leitlinie dienen. Dieses Gesetzesverständnis ergibt sich aus dem Normzweck. Er besteht (auch) darin, Konflikte zwischen den persönlichen Interessen eines Gesellschafters und jenen der Gesellschaft zu neutralisieren. Diese Absicht lässt sich konsequent nur realisieren, wenn für alle Fälle ausgeschlossen wird, dass Stimmverhalten von einem tatbestandsmäßigen Interessenkonflikt beeinflusst werden kann. Bei entsprechendem Einfluss des Befangenen auf den Inhaber des Stimmrechts ist dies der Fall. Denkbar ist, dass das Stimmverhalten einer Vereinigung von persönlichen, insbesondere familiären Nahebeziehungen zu einer Person geprägt wird, der gegenüber ein Befangenheitsgrund vorliegt, so etwa dann, wenn die Ehefrau des Befangenen eine AG beherrscht, die ihrerseits an einer GmbH beteiligt ist. Dennoch sind solche Sachverhalte mit den vorher diskutierten Konstellationen nicht identisch. Erstens ist unsicher, wie sich selbst familiäre Bindungen im Einzelfall auswirken. Denn es steht keineswegs fest, dass Mitglieder einer Familie stets bereit sind, sich an den Interessen anderer Familienangehöriger zu orientieren. Zum zweiten würde das gerade bei den Stimmverboten besonders ausgeprägte Rechtssicherheitsbedürfnis11 untragbar beeinträchtigt. Denn der relevante Personenkreis lässt sich mit zureichender Präzision nicht überzeugend abgrenzen. Die Kriterien der §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG sind hier nicht hilfreich. Denn der diese Bestimmungen prägende Zurechnungsgrund ist, wie noch darzulegen sein wird, nicht aus Herrschaft, sondern Interessenverknüpfung abzuleiten. Entsprechendes gilt für die von Roth12 herangezogenen § 1795 Abs. 1 Nr. 1 BGB, § 15a Abs. 1 Satz 2 WpHG oder § 138 Abs. 1 InsO, § 3 Abs. 2 AnfG.

__________ 10 S. nur Hüffer in Ulmer (Fn. 2), § 47 GmbHG Rz. 133 f.; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, Bd. 2, 9. Aufl. 2002, § 47 GmbHG Rz. 159 f.; Zöllner in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, § 47 GmbHG Rz. 96, 98; Roth/Altmeppen, 5. Aufl. 2005, § 47 GmbHG Rz. 84; Lutter/Hommelhoff, 16. Aufl. 2004, § 47 GmbHG Rz. 15; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 4. Aufl. 2002, § 47 GmbHG Rz. 63 f.; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 136 AktG Rz. 10; Zöllner in KölnKomm.AktG, 1970 ff., § 136 AktG Rz. 41, je m.w.N, insbesondere der gleichsinnigen Judikatur. Für befangene Organmitglieder der Personenvereinigung gilt derselbe Maßstab. Die Stimmverbote sind nur dann anwendbar, wenn der Wille des Organmitglieds die Stimmabgabe determinieren würde (h. M., vgl. Hüffer a. a. O., § 47 GmbHG Rz. 139; Koppensteiner a. a. O., § 47 GmbHG Rz. 64; teilweise anders u. a. Zöllner a. a. O., § 47 GmbHG Rz. 100). Die früher prominente Annahme, bei Personengesellschaften käme es auf andere Kriterien an, kann heute als überwunden gelten (s. nur Hüffer, a. a. O., § 47 GmbHG Rz. 133, auch schon Koppensteiner in FS Schönherr, 1986, S. 205, 209, dort [215 f.] auch zur Bedeutung von Abhängigkeit von einem Gesellschafter bei Bezugsrechtsausschluss zugunsten Dritter). 11 Dazu nur Koppensteiner (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 52. 12 Roth/Altmeppen (Fn. 10) § 47 GmbHG Rz. 81.

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3. Kapitalersatz Das Kapitalersatzrecht (mit seinem vor dem MoMiG geltenden Inhalt) und die Verbote von Zuwendungen an Gesellschafter aus dem Gesellschaftsvermögen hängen entstehungsgeschichtlich, teleologisch und systematisch eng miteinander zusammen. Dennoch darf ein für das eine Gebiet zutreffender Rechtssatz, was nicht selten vernachlässigt wird, nicht ohne weiteres in das andere Gebiet übernommen werden. So richtet sich die Antwort auf die Frage, ob eine Leistung der Gesellschaft an eine Vereinigung unzulässig ist, an der ein Gesellschafter beteiligt ist, wie sich zeigen wird, nicht danach, ob der Gesellschafter einen beherrschenden Einfluss ausüben kann, sondern ist anhand noch zu konkretisierender Interessenverknüpfung zu entscheiden. Im Kapitalersatzrecht liegt es umgekehrt. Nach überzeugender und von der wohl herrschenden Auffassung geteilten Ansicht des BGH ist der Tatbestand grundsätzlich (auch) dann erfüllt, wenn der Kredit von einem seinerseits nicht beteiligten Rechtsträger stammt, in dem der Gesellschafter die Mehrheit hat. Der BGH leitet dies „aus den typischen, gesellschaftsrechtlich fundierten Einflussmöglichkeiten des Gesellschafters auf die Gewährung oder den Abzug der Kredithilfe durch die leistende Gesellschaft“ ab13.

III. Interessenverknüpfung als Zurechnungsgrund 1. Darlehen an Organmitglieder a) § 89 Abs. 1 AktG bestimmt, dass die Gesellschaft Kredite u. a. an Vorstandsmitglieder nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats gewähren darf. Der Zweck der Vorschrift besteht nicht darin, solche Kredite zu verhindern. Vielmehr geht es nur darum, Missbräuchen entgegenzuwirken14. Ein solcher Missbrauch kann sich aus der Höhe des Kredits (Einbringlichkeitsrisiko) oder aus seinen Bedingungen (Tilgungszeitraum, Sicherheiten, Zinsen) ergeben15. Der Aufsichtsrat soll verhindern, dass derartiges vorkommt und dadurch gleichzeitig gewähr-

__________ 13 BGH, ZIP 2001, 115, 116, BGH, ZIP 1999, 1314, 1315, ebenso nach gründlicher Analyse Roth/Altmeppen (Fn. 10), § 32a GmbHG Rz. 169 mit Übersicht über den Meinungsstand (Rz. 145 ff.) und Kritik abweichender Auffassungen (Rz. 152 ff.); ähnlich Karsten Schmidt (Fn. 5), § 32a GmbHG Rz. 147 ff.; einschränkend Noack, GmbHR 1996, 153, 156 ff. Bei Darlehen unter Schwestergesellschaften soll dies dann nicht gelten, wenn die Kreditgeberin AG ist (BGH, NZG 2008, 507 Rz. 13). Denn dann existierten keine gesellschaftsrechtlich fundierten Weisungsrechte. Das ist ebenso wie die Parallelpassage in BGH, ZIP 2007, 528 Rz. 11 abzulehnen (näher Koppensteiner, Ges 2007, 280, 285). 14 Begr.RegE (Fn. 6), S. 113. Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 895 spricht von einem Vermögensgefährdungsverbot. 15 Dazu nur Hüffer (Fn. 10), § 89 AktG Rz. 1; Hefermehl/Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 89 AktG Rz. 1; Mertens in KölnKomm.AktG, Bd. 2, 2. Aufl. 1996, § 89 AktG Rz. 2 mit dem Hinweis, der Aufsichtsrat solle als Garant dafür eingeschaltet werden, dass bei Krediten an das Management das Gesellschaftsinteresse, der Rahmen des wirtschaftlich vertretbaren und die Regeln ordentlicher Kreditvergabe beachtet würden. Aus den Materialien (Fn. 6, 114) ergibt sich, dass Nachteile (Schädigungen) der Gesellschaft verhindert werden sollen.

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leisten, dass sich der Vorstand über die mit dem Aufsichtsrat ausgehandelte Vergütung hinaus keine weiteren Vorteile verschafft. Nebenbei wird erreicht, dass Darlehen der AG an Vorstandsmitglieder über den Anhang (§ 285 Nr. 9c HGB) publik werden16. Die für Aufsichtsratsmitglieder in § 115 Abs. 1 AktG enthaltene Parallelregelung verfolgt dieselben Zwecke wie § 89 Abs. 117. Hinzu kommt dort der Gedanke, dass Mitglieder des Kontrollorgans nicht von dem oder den Kontrollierten zu Lasten der AG „begünstigt“ werden sollen. Nach den §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 gelten die für Organmitglieder maßgeblichen Kreditgewährungsregeln auch für Darlehen der Gesellschaft an Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder primärer Normadressaten. Für die Zwecke dieses Beitrags wäre es besonders wichtig, zu erfahren, welche Erwägungen die Abgrenzung dieses Personenkreises determiniert haben. Aus den Materialien ergibt sich indes nur, dass Umgehungen verhindert werden sollen18. Es könnte sein, dass man an Personen gedacht hat, denen primär Betroffene Unterhalt zu leisten haben19. Wirklich befriedigen kann diese Deutung allerdings nicht. Denn Unterhaltspflichten bestehen nicht in allen vom Tatbestand erfassten Fällen, umgekehrt auch außerhalb solcher Konstellationen. Außerdem hätte der Gesetzgeber, wäre es ihm um Unterhalt gegangen, dies auch ausdrücklich sagen können. So bleibt nur die Vermutung, man habe aus Gründen klarer Erkennbarkeit und damit der Rechtssicherheit Sachverhalte umschrieben, die typischerweise mit Unterhaltspflichten verbunden sind. Fest steht nur, dass die §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 die Interessenverknüpfung im Auge haben, die zwischen Gliedern eines Familienverbandes normalerweise besteht. b) Die §§ 89, 115 AktG äußern sich zwar zu Krediten einer herrschenden AG an gesetzliche Vertreter eines abhängigen Unternehmens (und zur umgekehrten Konstellation), nehmen den Unternehmensverbund also durchaus in den Blick. Was fehlt, ist demgegenüber eine gesetzliche Antwort auf die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn der Kreditvertrag der AG nicht mit einem Vorstandsmitglied oder Familienangehörigen, sondern mit einer Gesellschaft abgeschlossen wird, an der diese Personen beteiligt sind. Diese Frage, so scheint es, ist höchstrichterlich nicht entschieden und wird auch in der Literatur kaum diskutiert20. Nach Mertens ist § 89 Abs. 4 auf Kredite an eine juristische

__________ 16 Dazu Mertens (Fn. 15), § 89 AktG Rz. 18. Zur mit § 89 verbundenen Transparenz unter einem anderen Gesichtspunkt auch Hüffer (Fn. 10), § 89 AktG Rz. 1 mit Hinweis auf Fleischer, WM 2004, 1057, 1063. 17 S. die amtliche Begründung (Fn. 6), S. 160. 18 Begr.RegE (Fn. 6), S. 114. Die Bestimmung wurde mit Notverordnung v. 19.9.1931 eingeführt und von dort ohne nähere Begründung in das AktG 1937 übernommen. Auch die Entstehungsgeschichte liefert daher keine weiteren Aufschlüsse zu den Kriterien der Abgrenzung von Umgehungssachverhalten. 19 Dem entspricht, dass Adoptivkinder und nichteheliche Kinder nach allgemeiner Auffassung inkludiert, geschiedene Ehegatten oder vormalige Lebenspartner exkludiert sein sollen. Vgl. etwa Hüffer (Fn. 10), § 89 AktG Rz. 6; Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 89 AktG Rz. 102. 20 S. aber Mertens (Fn. 15), § 89 AktG Rz. 9 mit (unzutreffender) Bezugnahme auf Oppenhoff in FS Barz, 1964, S. 283, 290; Kort (Fn. 19), § 89 AktG Rz. 116, 118.

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Person entsprechend anzuwenden, die von einem Vorstandsmitglied beherrscht oder von ihm aufgrund einer entsprechenden Stellung als Gesellschafter geleitet wird. Oppenhoff meint demgegenüber, Darlehen an Beteiligungsgesellschaften eines Vorstandsmitglieds würden nicht erfasst. Abgesehen von Mitteilungen nach § 20 AktG bräuchten auch maßgebliche Beteiligungen nicht publik gemacht werden, könnten dem Aufsichtsrat also unbekannt sein. Die §§ 89 Abs. 4 und 115 Abs. 3 AktG müssten aber justiziabel gehalten werden. Ich halte beide Auffassungen nicht für überzeugend. Der Normzweck der §§ 89, 115 richtet sich, wie dargelegt, darauf, das Interesse der Gesellschaft gegenüber für sie „gefährlichen“ Kreditnehmern durchzusetzen. Aus teleologischer Sicht müssten die Regeln also immer dann eingreifen, wenn ein Darlehen der Gesellschaft ein Mitglied des Vorstandes (oder eines Angehörigen des relevanten Personenkreises im Übrigen) begünstigt und sei es auch nur mittelbar. Es ist daher geboten, die hier interessierenden Vorschriften jedenfalls dann (entsprechend) anzuwenden, wenn der Kredit einer Gesellschaft gewährt wird, an der ein Vorstands-/Aufsichtsratsmitglied sämtliche Anteile hält, und zwar ganz unabhängig davon, ob er selbst Unternehmen im Sinne von § 15 AktG ist oder sich überhaupt um die Angelegenheiten „seiner“ Gesellschaft kümmert. Herrschaft spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Der Kredit bedarf der Zustimmung des Aufsichtsrats deshalb, weil die Interessen des Normadressaten mit der Kreditnehmerin auf das denkbar engste verknüpft sind. Die Position von Oppenhoff impliziert, dass es überhaupt auf eine „maßgebliche“ Beteiligung ankommt. Dies trifft indessen nicht zu. Das Gesetz erfasst jedes Darlehen, das über ein Monatsgehalt hinausgeht. Für Kredite an Gesellschaften, an denen ein Vorstands-/Aufsichtsratsmitglied beteiligt ist, bedeutet dies, dass die Beteiligungsquote hoch genug sein muss, um den Normadressaten mit mehr als einem Monatsgehalt (mittelbar) zu begünstigen21. Der Einwand, das Vorstandsmitglied habe unter den angegebenen Voraussetzungen in den meisten Fällen keinen Zugriff auf die Darlehensvaluta, könnte nicht überzeugen. Denn das trifft auch in zahlreichen Fällen der §§ 89 Abs. 4, 115 Abs. 3 AktG zu. Es bleibt der Gedanke, der Aufsichtsrat sei über Beteiligungen seiner Mitglieder (jener des Vorstands) häufig nicht informiert und könne sich die erforderliche Kenntnis auch nicht verschaffen. Oppenhoff selbst weist darauf hin, dass sich dieser Gedanke weder im Referenten-, noch im Regierungsentwurf niedergeschlagen hat. Er ist auch nicht zu billigen, läuft er doch darauf hinaus, der Anwendungsbereich einer Norm hänge von der Gefahr ab, der Adressat könne die Verwirklichung ihrer Voraussetzungen geheim halten. Das ist ausgeschlossen. Hätte Oppenhoff Recht, müssten im übrigen wesentliche Teile im Prinzip anerkannter Grundsätze in anderen Teilen des Gesellschaftsrechts, z. B. bei

__________ 21 Bsp.: Das Monatsgehalt betrage 20 000 Euro, das Stammkapital der BeteiligungsGmbH 1 Mio. Euro. Der Tatbestand ist bei jeder Beteiligungsquote über 2 % verwirklicht.

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unzulässigen Zuwendungen an eine Gesellschaft über Treuhänder, Tochtergesellschaften etc. aufgegeben werden. Der BGH hat zu § 114 AktG zunächst entschieden, die Bestimmung sei auf Beratungsverträge mit einer Gesellschaft anzuwenden, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer ein Aufsichtsratsmitglied ist22 und dasselbe kürzlich auch für eine hälftige Beteiligung angenommen23. Abhängigkeit sei entgegen verbreiteter Auffassung nicht erforderlich. Auszunehmen seien nur mittelbare Zuwendungen, die – abstrakt betrachtet – ganz geringfügig seien oder im Vergleich zur Aufsichtsratsvergütung vernachlässigt werden könnten. All dies leitet der BGH, meines Erachtens überzeugend, aus dem Normzweck der §§ 113, 114 AktG ab24. Die Kompetenz der Hauptversammlung, die Vergütung des Aufsichtsrats festzusetzen (§ 113) dürfe nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Vorstand den Aufsichtsratsmitgliedern unkontrollierte Sondervorteile zuwende, die die unabhängige Wahrnehmung organschaftlicher Pflichten gefährden könnten. Dieser Normzweck spielt zwar auch für § 115 AktG eine unleugbare Rolle25, für § 89 dagegen nur in modifizierter Form. Auch diese Bestimmung hat indes einen kompetenziellen Gehalt; sie ähnelt insoweit den §§ 113, 114. Im Übrigen geht es ihr, wie gezeigt, darum, Benachteiligungen der AG zugunsten eines Organmitglieds auszuschließen. Das muss zumindest als Nebenzweck auch des § 114 anerkannt werden. Denn die Vorschrift gilt nur für Verträge eines Aufsichtsratsmitglieds „außerhalb seiner Tätigkeit“ im Aufsichtsrat, dient also neben der Durchsetzung der aus § 113 resultierenden Kompetenzentscheidung auch dem Zweck, sicherzustellen, dass die selbe Leistung nicht zweimal entgolten wird, und dass Leistung und Gegenleistung bei zulässigen Verträgen angemessen sind26. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass sich § 115 gewollt eng an § 89 anlehnt27. Auch deshalb erscheint es ausgeschlossen, Kredite der

__________ 22 BGH, ZIP 2006, 1527; ebenso Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 114 AktG Rz. 42. Die Ausklammerung von Personengesellschaften (a. a. O. Rz. 43) trifft nicht zu. 23 BGH, ZIP 2007, 22 = BGHZ 170, 60 = EWiR § 114 AktG 1/07 – Drygala m. umfangr. N. zum Diskussionsstand, bestätigt von BGH, ZIP 2007, 1056, 1058; s. ferner Rohde, BB 2007, 1128; Benecke, WM 2007, 717, 718 f.; Semler, NZG 2007, 881, 886 ff.; Peltzer, ZIP 2007, 305, 306; v. Schenk, DStR 2007, 395, 396 ff.; Lutter in FS Westermann, 2008, S. 1171, 1178 ff. Gleichsinnig OLG Frankfurt, ZIP 2005, 2322 (Vorinstanz) mit Kritik in EWiR § 114 AktG 1/06 – Krüger/Thonfeld, zu dieser Entscheidung ferner E. Vetter, AG 2006, 173, 176 f.; Werner, DB 2006, 935, 936; s. auch OLG Hamburg, ZIP 2007, 815; bedenklich OLG Frankfurt, AG 2007, 107 (zu § 112 AktG). Beratungsverträge, die sich (potentiell) mit den von einem Aufsichtsrat ohnehin geschuldeten Tätigkeiten überschneiden, sind unzulässig und daher nicht genehmigungsfähig. S. zuletzt BGH, ZIP 2007, 1056, 1058 f. Dazu etwa Weiss, BB 2007, 1853, 1854 ff.; Semler, NZG 2007, 881, 883 ff. 24 Ähnlich Lutter (Fn. 23), S. 1180; E. Vetter, AG 2006, 173, 176 f.; Werner, DB 2006, 935, 936; kritisch aus Rechtssicherheitsgründen Schenk, DStR 2007, 395, 397 ff. 25 S. Hüffer (Fn. 10), § 115 AktG Rz. 1. 26 S. v. Bünau, Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern im Aktienkonzern, 2004, S. 12. 27 S. Begr.RegE zu § 115 (Fn. 6), S. 160.

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AG an Beteiligungsgesellschaften eines Aufsichtsratsmitglieds nach anderen Grundsätzen zu behandeln als dann, wenn ein Vorstandsmitglied an der Darlehensempfängerin beteiligt ist. Aus diesen Gründen könnte der BGH im Rahmen von § 89 ohne Hinnahme eines Wertungswiderspruchs nicht anders entscheiden als er dies zu § 114 getan hat. Das Urteil lässt sich daher als Bestätigung der hier vertretenen Auffassung in Anspruch nehmen. 2. Stimmverbote wegen Befangenheit eines Dritten a) Es ist (fast) allgemein anerkannt, dass ein Gesellschafter vom Stimmrecht ausgeschlossen sein kann, wenn er an einer Personengemeinschaft beteiligt ist, der gegenüber ein Befangenheitsgrund im Sinne der §§ 47 Abs. 4 GmbHG, 136 Abs. 1 AktG vorliegt28. Im Wesentlichen unstrittig ist ferner, dass diese Regel dann eingreift, wenn der Gesellschafter in der befangenen Vereinigung persönlich haftet oder dort alle Anteile hält29. Es handelt sich in diesen Fällen in der Tat um besonders klare Beispiele einer Interessenlage, die den Gesellschafter in der AG/GmbH typischerweise veranlassen wird, seine Stimme zu Gunsten der (befangenen) Vereinigung einzusetzen, weil sich das zu seinem Vorteil auswirkt. Zu beachten ist, dass das Stimmverbot unter den angegebenen Voraussetzungen auch dann eingreift, wenn der Betreffende in der GmbH/AG, wo abgestimmt wird, ebenfalls sämtliche Anteile hält, obwohl – bezogen auf 100 %ige Beteiligung auch an der Drittvereinigung – die Gefahr der Benachteiligung der GmbH nicht größer ist als die umgekehrte Möglichkeit. Das zeigt, dass die Besorgnis gesellschaftsschädlicher Stimmabgabe, eine abstrakte Gefährdungslage also, ausreicht. In Übereinstimmung mit der Behandlung der angeführten Beispiele wird mit Recht heute überwiegend anerkannt, dass weniger klare Konstellationen danach zu beurteilen sind, mit welcher Gesellschaft/Vereinigung die Interessen jener Person stärker verknüpft sind, deren Abstimmungsbefugnis in Frage steht. Was das im Einzelnen bedeutet, ist freilich immer noch umstritten. Vorgeschlagen wird, darauf abzustellen, ob in der Drittvereinigung unternehmerische Funktionen wahrgenommen werden30. Das überzeugt nicht. Denn von Sonderinteressen kann auch ein Gesellschafter beeinflusst sein, der sich nicht unternehmerisch betätigt, sondern nur die Rentabilität seiner Anlage im Auge hat31. Auch Beherrschung i. S. v. § 17 AktG liefert keinen tauglichen Maß-

__________ 28 S. nur Karsten Schmidt (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 164; Hüffer (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 135 ff.; ders. (Fn. 10), § 136 AktG Rz. 12, je m. w. N.; anderer Ansatz etwa bei Zöllner (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 99. 29 BGHZ 68, 107, 110, aus der Literatur etwa Koppensteiner (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 59 m. w. N. 30 Zöllner (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 99; Karsten Schmidt (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 164 für Kommanditisten. Auch ich habe ([Fn. 10], § 47 GmbHG Rz. 59) von einem „unternehmerischen“ Interesse gesprochen. Das war ein lapsus linguae. 31 Zutreffend Hüffer (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 136. Hinzu kommt, dass in bestimmten einbeziehungsbedürftigen Fällen, z. B. bei einer Erbengemeinschaft, unternehmerische Betätigung häufig gar nicht möglich ist.

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stab32. Beherrscht jemand z. B. eine AG aufgrund einer 51 %igen Beteiligung und hält er gleichzeitig 99 % der Anteile an einer GmbH, so ist keineswegs zu erwarten, dass er die AG zu Lasten der GmbH bevorzugen wird. M. E. kann auch generell keine Rede davon sein, wie Hüffer meint, der herrschende, insbesondere über eine Stimmenmehrheit verfügende Gesellschafter stünde typischerweise in der Gefahr, daraus resultierende Sonderinteressen in der GmbH/ AG durchzusetzen, wo abgestimmt wird. Zumindest einzubeziehen ist vielmehr die Frage, wo das relativ stärkere Interesse, der Interessenschwerpunkt, lokalisiert ist. Unter diesen Umständen ließe sich für das Beherrschungskriterium nur, wie teilweise im Zusammenhang der §§ 89, 115, 114 AktG und unzulässiger Zuwendungen an Gesellschafter vertreten, geltend machen, der Gesellschafter sei anderenfalls außerstande, die „Früchte“ direkt in die eigene Tasche weiterzuleiten. Aber das ist nur eine der Möglichkeiten wie der Betreffende von der Erhöhung des Beteiligungswerts profitieren kann und daher, auch wegen grundsätzlich gebotener, abstrakter Würdigung der Interessenkollision, letzten Endes irrelevant33. Die gegenteilige Annahme ließe sich auch kaum mit den vorher erörterten Anforderungen an die Beteiligung eines Aufsichtsratsmitglieds im Rahmen von § 114 AktG vereinbaren. Seit erstmaliger gründlicher Beschäftigung mit der Frage34 habe ich trotz der damit – wie übrigens mit jedem anderen rechtsklar und leicht handhabbaren Kriterium – verbundenen Vergröberungen vorgeschlagen, auf die Relation der Beteiligungsquoten abzustellen, also ein Stimmverbot z. B. dann anzunehmen, wenn der Normadressat an der Kapitalgesellschaft mit 20 %, an der befangenen Drittvereinigung mit 40 % beteiligt ist35 und umgekehrt. Ausdrücklich abgelehnt wird dieser Vorschlag, so weit ersichtlich, nur von Zöllner36. Meine Position soll dem Normzweck widersprechen, ohne dass mitgeteilt würde, warum. Zöllner37 sieht diesen Zweck im Einklang mit der allgemeinen Auffassung darin, Interessenkollisionen zu neutralisieren. Seine Kritik wäre daher nur berechtigt, wenn dargelegt würde, warum die hier vertretene Auffassung nicht geeignet ist, die relevante Interessenkollision adäquat zu umschreiben.

__________ 32 Anders aber etwa Lutter/Hommelhoff (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 15; Hüffer (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 138 (indizielle Bedeutung); ähnlich wie Hüffer Karsten Schmidt (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 164. 33 Deswegen ist mir inzwischen zweifelhaft geworden, ob meine Stellungnahme zum Unternehmensbegriff bei mehrfacher Beteiligung (Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 15 AktG Rz. 48) zutrifft. Die Problemlage ist mit der hier diskutierten zwar nicht identisch, in gewisser Hinsicht aber doch sehr ähnlich. 34 Koppensteiner (Fn. 10), S. 212; Koppensteiner/Rüffler (Fn. 1), § 39 GmbHG Rz. 36; Koppensteiner (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 60. 35 Die nahe liegende Frage, ob es sich dabei nur um eine widerlegbare Vermutung handelt, z. B. im Fall einer Kommanditbeteiligung mit gegenüber dem gesetzlichen Regelfall stark eingeschränkten Gewinnbeteiligungsrecht, möchte ich auch hier nicht weiterverfolgen. Ablehnend Hüffer (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 138. 36 Zöllner, (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 99. 37 Zöllner, (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 31.

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b) Auch für die hier interessierende, durch Interessenverknüpfung charakterisierte Fallgruppe wird überwiegend angenommen, familiäre Beziehungen spielten keine Rolle, der Gesellschafter sei also auch dann stimmberechtigt, wenn in Person beispielsweise eines Gatten ein Befangenheitsgrund vorliegt38. Neben schon in anderem Zusammenhang angeführten Argumenten (Rechtssicherheit, mangelnde Abgrenzbarkeit) spielt noch die von Hüffer vorgetragene These eine Rolle, ein Stimmverbot käme nur dann in Betracht, wenn Gesellschafter die typische Konfliktlage durch von ihnen mitverantwortete Organisationsmaßnahmen wie Beteiligung an einer Drittgesellschaft selbst herbeiführen oder sich zurechnen lassen müssten. Bei diesem Argument handelt es sich m. E. um eine petitio principii. Im Übrigen ist unter Zurechnungsgesichtspunkten kein wesentlicher Unterschied zwischen z. B. einer geerbten Beteiligung an einer Drittgesellschaft und einem Gatten (Kindern) zu sehen. Im letztgenannten Fall ist der Zurechnungsgrund eher stärker. Zweifellos richtig ist, dass Anwendungssicherheit bei den Stimmverboten besonders bedeutsam ist. Ob ein Verbot eingreift oder nicht, muss nämlich in der Versammlung selbst entschieden werden. Dazu bedarf es klarer Kriterien. Fraglich erscheint jedoch, ob die in den §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG enthaltenen Konkretisierungen dieser Anforderung genügen, und ob diese Bestimmungen analog angewendet werden können. Die erste dieser Fragen muss m. E. bejaht werden. Ob jemand verheiratet ist, lässt sich gewiss nicht schwerer feststellen, als seine Beteiligungsquote an einer Drittgemeinschaft. Die Normenzwecke im Einzelnen differieren zwar nicht unerheblich. Gemeinsam ist ihnen aber die gesetzgeberische Absicht, schon abstrakten (potentiellen) Gefährdungen des Gesellschaftsvermögens zu begegnen39. Das liefert ein doch recht starkes Argument für analoge Anwendung. Andererseits ist, wie gezeigt, nicht evident, welcher Gedanke genau dafür maßgeblich war, den relevanten Personenkreis so abzugrenzen wie in den §§ 89, 115 geschehen. Ausschlaggebend ist dies aber nicht. Immerhin hat das Gesetz entschieden, welche Art familiärer Beziehungen der Konfliktsituation des Organmitgliedes selbst gleichgestellt werden sollen. Schließlich: bei Nichtanwendung von Stimmverboten verbleibt immer noch das Korrektiv beweglicher Stimmrechtsschranken, also das Verbot treuwidriger (rechtsmissbräuchlicher) Stimmabgabe40. Aber dieser Gesichtspunkt ließe sich auch gegen das Stimmverbot wegen überwiegenden Beteiligungsinteresses an einer weiteren Personenvereinigung geltend machen. In diesem letztge-

__________ 38 S. Hüffer (Fn. 10), § 136 AktG Rz. 16; ders. (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 142 m. umfass. N. von Judikatur (deutlich BGHZ 80, 69, 71) und Schrifttum; ferner etwa noch Koppensteiner (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 58; leicht einschränkend Karsten Schmidt (Fn. 9), § 47 GmbHG Rz. 154; anders Roth/Altmeppen (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 81; Uwe H. Schneider, ZHR 150 (1986), 609, 615 f. Berücksichtigung familiärer Beziehungen (Geschwister) auch in BGHZ 68, 107, 110 ff. 39 Im Rahmen von § 43a GmbHG wird die Analogie zutreffend bejaht (s. Paefgen in Ulmer, 2006, § 43a GmbHG Rz. 15 m.N.), obwohl die Normenzwecke auch dort nicht ganz identisch sind. 40 Betont z. B. bei Hüffer (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 122, 134; Lutter/Hommelhoff (Fn. 10), § 47 GmbHG Rz. 15. In den §§ 89, 115 AktG steht ein solches Korrektiv nicht zur Verfügung.

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nannten Zusammenhang geht es indes um höchst persönliche Interessen des Gesellschafters, über dessen Abstimmungsbefugnis zu entscheiden ist. Das dürfte die Lage zureichend von befangenen Ehegatten, minderjährigen Kindern etc. unterscheiden. Zusammen mit der Enummerierung der Kollisionstatbestände in den gesetzlichen Stimmverbotsnormen, also dem Verzicht auf die Erfassung von Interessenkonflikten schlechthin, reicht das m. E. aus um an der herrschenden Auffassung festhalten zu können. So sicher wie früher bin ich meiner Sache aber nicht mehr. 3. Mittelbare Zuwendungen an Gesellschafter a) Unbestritten ist, dass Leistungen der Gesellschaft an andere Gemeinschaften, an denen ein Gesellschafter beteiligt ist, unter gewissen Voraussetzungen mit den §§ 30 GmbHG, 57 AktG unvereinbar sein können. Sehr unklar, teilweise strittig ist nach gegenwärtigem Erörterungsstand allerdings, welches diese Voraussetzungen sind. Einigkeit im Ergebnis besteht nur bezüglich von Zuwendungen an eine Vereinigung, an der der Gesellschafter sämtliche Anteile hält41. Das ist wegen der wirtschaftlichen Identität zwischen Gesellschaft und Zuwendungsempfänger auch richtig so. Die folgenden Überlegungen können nicht alle Facetten der Debatte ansprechen, sondern haben sich auf das im Gesamtkontext dieses Beitrags Wesentliche zu beschränken. Von vornherein ausgeklammert wird daher die Bedeutung einer Veranlassung (Veranlassungsvermutung) als Zurechnungsgrund (mit der Folge, dass das bekanntlich umstrittene Verhältnis der Bestimmungen über Kapitalerhaltung und Abhängigkeit keine Rolle spielt), sofern vermeidbar auch die Frage, wer bei mehreren möglichen Schuldnern haftet, wenn eine Leistung der Gesellschaft wegen der §§ 30 GmbHG, 57 AktG unzulässig war. Der Normzweck von § 30 GmbHG besteht unstrittig darin, die Gläubiger der Gesellschaft zu schützen42. Dem daneben manchmal angeführten Schutz der Gesellschaft43 ist keine selbständige Bedeutung zuzumessen. Das zeigt sich am Beispiel der Einpersonengesellschaft, die im Verhältnis zu ihrem „Inhaber“ nach richtiger Auffassung kein Träger eigener Interessen ist. Auch § 57 AktG dient nur dem Gläubigerschutz. Der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Kompetenzgefüge der AG werden reflexartig mitgewahrt, haben entgegen verbreiteter Auffassung aber keine teleologische Bedeutung44.

__________ 41 So z. B. BGHZ 122, 333, 339 f.; Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 46; Henze in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2004, § 52 AktG Rz. 92; Hüffer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 15; Westermann in Scholz (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 52; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 18. Obwohl kaum jemals erwähnt, hinzuzufügen sind Leistungen an Gesellschaften mit persönlicher Haftung des Betroffenen. 42 S. etwa Roth/Altmeppen (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 1 m.N. 43 Z. B. bei Habersack in Ulmer (Fn. 2), § 30 GmbHG Rz. 2. 44 Zutreffend Bommert, Verdeckte Vermögensverlagerungen im Aktienrecht, 1989, S. 96; Cahn, Kapitalerhaltung im Konzern, 1998, S. 7 ff., je m. w. N.; ferner Koppensteiner, Ges 2005, 404, 405; anders z. B. Wilhelmi, Der Grundsatz der Kapitalerhaltung im System des GmbH-Rechts, 2001, S. 19, 30 f.

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b) Im Folgenden beschränke ich mich auf die Erörterung von Zuwendungen der Gesellschaft an eine andere, an der ihr Gesellschafter ebenfalls beteiligt ist45. Was zunächst das Beteiligungsausmaß an der leistenden Gesellschaft angeht, wird teilweise vertreten, es müsse sich dabei um eine Mehrheitsbeteiligung handeln46. Anderenorts ist davon nicht die Rede, wird anscheinend also angenommen, eine Mindestbeteiligungsquote sei nicht erforderlich47. Bei vorläufiger Vernachlässigung der Relation der Beteiligungsquoten kann nur letzteres richtig sein. Bei unmittelbarer Begünstigung eines Gesellschafters spielt das Ausmaß der Beteiligung in aller Regel keine Rolle48. Auch bei unbestritten tatbestandsmäßiger Leistung an eine 100 %ige Beteiligungsgesellschaft fragt niemand danach, in welcher Höhe der Betroffene an der Leistungserbringerin beteiligt ist. c) Bezüglich der Beteiligungshöhe bei der empfangenden Gesellschaft nimmt man meistens an, erforderlich sei zumindest eine „maßgebliche“, meistens als mehrheitlich konkretisierte Beteiligung49. Hauptgesichtspunkt für diesen Vorschlag ist, Fehlen einer Veranlassung unterstellt, der Gesellschafter müsse über die Leistung in der Empfängergesellschaft verfügen können50. Die bloße Erhöhung des Beteiligungswerts bei der empfangenden Gesellschaft reiche nicht aus. Man fragt sich, warum dies so sein soll. Im Kontext des § 114 AktG

__________ 45 Die dabei maßgeblichen Gesichtspunkte lassen sich leicht auf andere einschlägige Konstellationen übertragen. Unternehmensvertragliche Beziehungen zwischen dem Gesellschafter einerseits, der Zuwendenden und der Zuwendungsempfängerin andererseits bleiben außer Betracht. 46 S. OLG Stuttgart, ZIP 2007, 275, 279 mit Judikaturzitaten, die jedoch größtenteils nicht passen, ebenso etwa Henze (Fn. 41), § 57 AktG Rz. 92 f.; Pentz in Rowedder/ Schmidt-Leithoff (Fn. 10) § 30 GmbHG Rz. 76 mit Zitat von den einen anderen Sachverhalt betreffenden Urteilen BGHZ 81, 311, 315; BGH, NJW 1991, 1057, 1059 (in beiden Fällen ging es um die Mehrheitsverhältnisse bei der empfangenden Gesellschaft); s. auch Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 67: Zurechnung jedenfalls bei Mehrheitsbeteiligung an beiden Gesellschaften. 47 So ausdrücklich Tries, Verdeckte Ausschüttungen im GmbH-Recht, 1991, S. 79. 48 Ausnahme möglicherweise: Vorstand/Geschäftsführer wissen nicht, dass sie es mit einem Gesellschafter zu tun haben. 49 S. OLG Stuttgart, ZIP 2007, 275, 279: mindestens 50 %; Habersack in Ulmer (Fn. 2), § 30 GmbHG Rz. 73; Lutter/Hommelhoff (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 25; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 65 f.; Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 46: Mehrheitsbeteiligung; dagegen z. B. Tries (Fn. 47), S. 79; Fleck in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 391, 405. Ganz anders der Ansatz von Canaris in FS Fischer, 1979, S. 31, 42 ff. mit Rücksicht auf die Interessen von Minderheitsgesellschaftern in der zuwendungsbegünstigten Einheit. Das Argument scheint auf der (unzutreffenden) Annahme zu beruhen, die Unzulässigkeit der Leistung an einen Dritten – hier an eine andere Beteiligungsgesellschaft – bedeute, dass dieser Dritte in allen Fällen auch Rückgewährschuldner sei. 50 So besonders deutlich Lutter in KölnKomm.AktG (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 46; ferner Cahn (Fn. 44), S. 33 f.; Henze (Fn. 41), § 56 AktG Rz. 93; s. auch Wilhelmi (Fn. 44), S. 150 mit anderer, aber abzulehnender Argumentation, kritisch Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 65.

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hat der BGH diese Zusatzbedingung, wie gezeigt, mit Recht abgelehnt51. Für die §§ 89, 115 AktG gilt dasselbe. Bei den auf Interessenverflechtung gründenden Stimmverboten ist das Kriterium ebenfalls bedeutungslos. Aus dem Normzweck der §§ 30 GmbHG, 57 AktG dürfte sich Gegenteiliges kaum ableiten lassen. Es geht dort um Vermögensschutz im Interesse der Gläubiger, nicht wie bei den §§ 89, 115 um bloße Vermögensgefährdungsabwehr52, also um einen eher noch stärkeren Zurechnungsgrund. Unabhängig davon, so scheint es, ist der Normzweck der hier interessierenden Kapitalerhaltungsregeln beeinträchtigt, wenn einem Gesellschafter etwas ohne wertäquivalente Gegenleistung zugewendet wird und sei es auch nur mittelbar. M. E. trifft es daher nicht zu, das letzten Endes ausschlaggebende Kriterium darin zu sehen, ob der Gesellschafter auf das Empfangene zugreifen kann. Ist dies richtig, kann es daher auch auf eine Mehrheitsbeteiligung bei der empfangenden Einheit nicht ankommen. Fraglich ist, ob andere Hilfskriterien erforderlich sind, gegebenenfalls welche. Dafür, die erste Frage zu verneinen, ließe sich geltend machen, dass ein Vermögensabfluss bei der leistenden Gesellschaft unabhängig davon stattfindet, in welcher Höhe jemand an beiden Gesellschaften beteiligt ist. Nur aus der Perspektive des Gläubigerschutzes gesehen, müsste dies ausreichen. Zu bedenken ist aber, dass das Gesetz die „Auszahlung“ von Vermögen an Gesellschafter bzw. „Rückgewähr“ von Einlagen voraussetzt. Das bedeutet zumindest, dass eine im Übrigen tatbestandsmäßige Leistung dem Gesellschafter irgendwie zugute kommen muss. Abstrakt gesehen trifft dies dann nicht zu, wenn die Beteiligung an der leistenden größer als an der empfangenden Gesellschaft ist. Cahn53 diskutiert den umgekehrten Fall am Beispiel einer (leistenden) Gesellschaft, an der jemand 10 % der Anteile, an einer anderen (Leistungsempfängerin) 15 % innehat. Der Gesellschafter soll in einem solchen Fall nur deshalb nicht haften, weil er über den Gegenstand der Zuwendung im Vermögen der Empfängergesellschaft nicht verfügen könne. Sieht man davon ab, was nach hier vertretener Auffassung zutrifft, dann käme es auf die Relation der Beteiligungsquoten an. Gegen die §§ 30 GmbHG, 57 AktG würde verstoßen, wenn jemand an der empfangenden Vereinigung stärker beteiligt ist als an der leistenden Gesellschaft54. Im Zusammenhang der hier interessierenden Variante

__________ 51 S. demgegenüber BGH, WM 2007, 603 = GmbHR 2007, 433 mit Anm. Bormann. Dort hat es der BGH abgelehnt, den kapitalerhöhungsfinanzierten Erwerb des Unternehmens einer anderen Konzerngesellschaft als verdeckte Sacheinlage zu qualifizieren. Das Urteil ist abzulehnen (näher Koppensteiner, GeS 2007, 280, 282 ff.). 52 Zu dieser Unterscheidung Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 895. 53 Cahn (Fn. 44), S. 33. 54 Ebenso Saurer in Doralt/Nowotny/Kalss, Kommentar zum Aktiengesetz 2003, § 52 AktG Rz. 44; grundsätzlich auch U. Torggler, Treupflichten im faktischen GmbHKonzern, 2007, S. 276; ähnlich Rüffler in Kalss/Rüffler, Eigenkapitalersatz im österreichischen, italienischen und slowenischen Recht, 2004, S. 111, 130, allerdings als Begründung einer Veranlassungsvermutung. Vorausgesetzt wird daher Abhängigkeit der leistenden Gesellschaft vom Gesellschafter. S. auch Bayer in MünchKomm.AktG

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von Stimmverboten (oben a) wurde für denselben Maßstab optiert. Alles andere wäre auch widersprüchlich. In beiden Normanwendungskonstellationen muss den Ausschlag geben, wo der Interessenschwerpunkt des Adressaten liegt, und zwar im Hinblick auf Vermögensinteressen der Gesellschaft. Die Kriterien dafür können nicht gut verschieden sein. Dieses Rechtsverständnis hätte allerdings wenig Sinn, wenn die Verbotsverletzung nicht entsprechend sanktioniert wäre. Man könnte sagen, der Gesellschafter hafte nicht, weil ihm die Vermögensverlagerung nicht zurechenbar sei. Dasselbe gelte für die empfangende Vereinigung, weil sie nicht Gesellschafterin ist. Was den ersten Gesichtspunkt angeht, so fragt sich, warum es auf Zurechenbarkeit überhaupt ankommen soll. Darauf gibt es m. E. keine befriedigende Antwort. Gesetz und Normzweck begnügen sich mit einer Reduktion des jeweils relevanten Gesellschaftsvermögens in einer Weise, die dem Gesellschafter zugute kommt. Die Veranlassung des Vorgangs ist ein Indiz für letzteres, nicht aber Voraussetzung des Anspruchs55. Auch auf der Grundlage der hier favorisierten Fassung der Voraussetzungen unzulässiger Zuwendungen an eine andere Vereinigung mit Beteiligung eines Gesellschafters fehlt es also nicht an einer Sanktion. Die zweite Frage – Haftung auch der Empfängerin – braucht also nicht weiter verfolgt werden56. Ein weiterer Einwand gegen die hier behauptete Maßgeblichkeit der jeweils höheren Beteiligungsquote ließe sich darauf stützen, dass eine im übrigen unzulässige Zuwendung auch dann angenommen wird, wenn beide an dem Vorgang beteiligten Gesellschaften einem Dritten zur Gänze „gehören“, obwohl dieser Dritte wegen korrespondierender Erhöhung/Reduktion der Beteiligungswerte im Ergebnis nichts erhält57. Es liegt nahe, daraus zu folgern, es könne nicht darauf ankommen, ob sich der Gesellschafter als Folge der Leistung „besser steht“ und daher auch nicht auf die Relation der Beteiligungsquoten. Das trifft indes nicht zu. Die Tatbestandsmäßigkeit einer Leistung an einen Rechtsträger, dessen Anteile zur Gänze von einem Gesellschafter gehalten

__________

(Fn. 15), § 57 AktG Rz. 67: § 57 AktG jedenfalls (auch ohne Veranlassung) dann anwendbar, wenn Anteilsmehrheit an beiden Gesellschaften besteht (Zugriffsmöglichkeit nicht erforderlich). 55 Eine ganz andere Frage ist die nach dem Anspruchsinhalt. M. E. kann die Herstellung des status quo ante in der Regel nicht verlangt werden. Jedenfalls bei Fehlen einer Abhängigkeitslage ist der Gesellschafter nicht im Stande, die Empfängerin zur Rückabwicklung zu veranlassen. Eigenhaftung im Ausmaß des Vermögensverlustes liefe auf Schadenersatz ohne Verschulden hinaus. Also muss es auf den konkreten Vorteil beim Gesellschafter ankommen, dessen Ermittlung auf gewaltige Schwierigkeiten stoßen kann. Vgl. die großteils darauf basierende Kritik von Cahn (Fn. 44), S. 35 f. Ich halte sie nicht für durchschlagend. 56 Zu ihr nur Hüffer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 24; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 149 f.; Habersack in Ulmer (Fn. 2), § 30 GmbHG Rz. 98 f.; Roth/ Altmeppen (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 66, 52; Altmeppen in FS Kropff, 1997, S. 641, 648, 652. Die von diesem Autor betonte Bedeutung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht bei Geschäften unter Schwestergesellschaften sollte trotz der Kritik von Habersack (a. a. O.) stärker beachtet werden. Dazu auch Koppensteiner/Rüffler, GesRZ 1999, 86 (Teil I), 144, 145 ff. (Teil II). 57 S. Henze (Fn. 41), § 57 AktG Rz. 95.

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werden, beruht auf dem Gedanken der wirtschaftlichen Einheit. Die Beurteilung von Direktzuwendungen an einen Gesellschafter hängt aber nicht davon ab, ob sie (aus seiner Sicht) vermögensneutral sind. Bei identischen Beteiligungsquoten unter 100 % (jemand hält an beiden Gesellschaften zum Beispiel 15 %) lässt sich so nicht argumentieren. Zumindest für den Regelfall ist daher anzunehmen, dass das Ausschüttungsverbot nicht eingreift. Schließlich: ob eine ansonsten unzulässige Zuwendung der Gesellschaft an eine andere Beteiligungsgesellschaft den Gesellschafter rein tatsächlich bevorteilt, hängt von einer Vielzahl von Variablen, beispielsweise davon ab, wie die wirtschaftliche Lage der beiden Rechtsträger beschaffen ist. Wird Vermögen von einer „gesunden“ auf eine insolvente Gesellschaft verschoben, dann ist dies aus der Sicht des Gesellschafters nicht wünschenswert, wenn sich der Konkurs dennoch nicht vermeiden lässt und zwar ganz unabhängig davon wie die Beteiligungsquoten aussehen. Entgegen Cahn58 sollte man darauf aber nicht abstellen. Auch wenn etwas rechtswidrig in das Vermögen des Gesellschafters selbst fließt, fragt man nicht nach konkreten Wirkungen im Empfängervermögen. Der Vorgang wird nicht etwa „geheilt“, wenn sich der Begünstigte im Privatkonkurs befindet. Das Gesetz verlangt zwar, dass ein Gesellschafter profitiert, berücksichtigt dabei aber nur typische Konstellationen. Darauf, was mit der Leistung im Empfängervermögen passiert, kommt es nicht an. Es besteht daher kein Anlass von dem Maßstab relativer Beteiligungsquoten abzugehen. Dasselbe sollte auch für den umgekehrten Fall, also dann angenommen werden, wenn die Leistung von einer in wirtschaftlich schwieriger Lage befindlichen Gesellschaft stammt, an der der Gesellschafter höher beteiligt ist als am empfangenden Rechtsträger. Rein faktisch steht der Gesellschafter unter Umständen besser als ohne die Zuwendung. Ob das zutrifft, ließe sich ohne Klärung relativer Änderungen des Beteiligungswerts bei beiden Gesellschaften letzten Endes also ohne doppelte Unternehmensbewertung nicht feststellen. Davon kann aber nicht abhängen, ob eine verbotene Zuwendung vorliegt oder nicht. d) Es bleibt die Frage nach der Bedeutung familiärer Beziehungen. Sie werden ganz überwiegend entsprechend den §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG behandelt59. Nach Auffassung des BGH handelt es sich bei den zitierten Bestimmungen um eine „gesetzliche Typisierung von Umgehungstatbeständen, die auf das Verbot der Kapitalrückzahlung zu übertragen ist“. Das halte ich unter

__________ 58 Cahn (Fn. 44), S. 36. Wie Cahn im gedanklichen Ansatz wohl jene, die die Werterhöhung des Anteils als irrelevant qualifizieren. So z. B. Westermann in Scholz (Fn. 1), § 30 GmbHG Rz. 53. 59 Grundlegend Canaris (Fn. 49), S. 38 ff.; BGHZ 81, 365, 369; w.N. etwa bei Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 25, der selbst wegen des unterschiedlichen Regelungsgehalts, auch aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 6 Abs. 1 GG) allerdings Bedenken äußert (ebenso Fleck [Fn. 49], S. 391, 402 f.). Wie der BGH ferner Kort (Fn. 19), § 89 AktG Rz. 109; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 62 m. w. N. von Vertretern derselben und einschränkender Ansichten; ablehnend Habersack in Ulmer (Fn. 2), § 30 GmbHG Rz. 70 mit wohl unzutreffender Einschätzung der Judikaturentwicklung.

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Ausklammerung der Frage, wer haftet, für grundsätzlich zutreffend. Verfassungsrechtliche Bedenken sind m. E. unbegründet; ansonsten müssten auch die interessierenden Vorschriften selbst verfassungswidrig sein, was, soweit ersichtlich, nicht behauptet wird60. Gewiss sind die Regelungsgehalte nicht identisch, im Hinblick auf die jeweilige teleologische Grundlage aber zureichend ähnlich. Sowohl bei den §§ 89, 115 AktG als auch den §§ 30 GmbHG, 57 AktG geht es darum, Benachteiligungen der Gesellschaft zugunsten bestimmter Personengruppen zu verhindern. Wenn das Gesetz in einem Fall Ehegatten, Lebenspartner, minderjährige Kinder des primären Normadressaten (als Leistungsempfänger) unmissverständlich als Umgehungssachverhalte ausweist, in einem anderen dagegen nicht, dann wäre es mangels zureichender Differenzierungsgründe wertungswidersprüchlich, die erstgenannte Regel nicht zu verallgemeinern. Solche Gründe kann ich im Unterschied zur Parallelfrage bei den Stimmverboten nicht sehen. Fraglich ist deshalb nur noch, ob darüber hinausgegangen werden kann, also auch solche Personen als mögliche Leistungsbezieher anzuerkennen, denen gegenüber der Gesellschafter unterhaltspflichtig ist oder ein sonstiges Unterstützungsinteresse hat61. Sofern keine Veranlassung festgestellt werden kann, sollte die Frage bejaht werden, wenn die Voraussetzungen einer Leistung auf fremde Schuld vorliegen62. Denn dann wird in Wahrheit der Gesellschafter selbst begünstigt. Ansonsten verdient die Gegenposition den Vorzug. Für die §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG wird die Ausdehnung des relevanten Personenkreises, von Adoptivkindern und nicht ehelichen Kindern abgesehen, allgemein abgelehnt. Wer diese Bestimmung mit dem BGH als Typisierung von Umgehungstatbeständen wertet, kann im Bereich unzulässiger Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen nicht gut anders entscheiden63.

IV. Zusammenfassende Würdigung 1. Bei der Klärung von Zurechnungsfragen kommt es entscheidend darauf an, sich anhand des jeweils relevanten Normzwecks Gewissheit darüber zu verschaffen, ob Einfluss (Herrschaft) auf/über einen Dritten oder die Verknüp-

__________ 60 Dem entspricht, dass die Analogie zu § 89 Abs. 3 AktG im Rahmen von § 43a GmbHG überwiegend für unproblematisch gehalten wird. S. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck (Fn. 10), § 43a GmbHG Rz. 5; Koppensteiner (Fn. 10), § 43a GmbHG Rz. 4; Paefgen in Ulmer (Fn. 39), § 43a GmbHG Rz. 15. 61 So etwa Hueck/Fastrich (Fn. 41), § 30 GmbHG Rz. 18; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 57 AktG Rz. 62; Hüffer (Fn. 10), § 57 AktG Rz. 15. Habersack in Ulmer (Fn. 2), § 30 GmbHG Rz. 70 verlangt für alle Fälle entweder eine Veranlassung oder zumindest tatsächliche Befreiung von Unterhaltspflichten. Nach Pentz in Rowedder/ Schmidt-Leithoff ([Fn. 10], § 30 GmbHG Rz. 26) kommt es jenseits der Verwandtschaftsverhältnisse nach den §§ 89 Abs. 3, 115 Abs. 2 AktG immer darauf an, ob der Gesellschafter die Leistung veranlasst hat. 62 S. nur Roth/Altmeppen (Fn. 10), § 30 GmbHG Rz. 29. 63 Im gedanklichen Ansatz wie hier Wilhelmi (Fn. 44), S. 149; Sotiropoulos, Kredite und Kreditsicherheiten der GmbH zugunsten ihrer Gesellschafter und nahestehender Dritter, 1996, S. 86 (letzterer im Zusammenhang von § 43a GmbHG).

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Über Zurechnungskriterien im Gesellschaftsrecht

fung von Interessen den Zurechnungsgrund liefern. Das erste, so haben die untersuchten Beispiele gezeigt, trifft für § 16 Abs. 4 AktG zu, ferner für das Stimmrecht einer Personenvereinigung, an der ein befangener Gesellschafter beteiligt ist, schließlich auch bei Gewährung eines kapitalersetzenden Kredits durch eine Beteiligungsgesellschaft des Normadressaten. Auf Interessenverknüpfung kommt es demgegenüber an, wenn eine AG einer Beteiligungsgesellschaft eines Vorstands-/Aufsichtsratsmitglieds ein Darlehen gibt oder – ceteris paribus – mit ihr einen Vertrag schließt. Dasselbe Kriterium entscheidet über das Stimmrecht eines (befangenen) Gesellschafters bei Transaktionen mit einer weiteren Personenvereinigung, an der er beteiligt ist und auch bei im Übrigen unzulässigen Leistungen an eine solche Vereinigung. 2. Herrschaft ist in den einschlägigen Konstellationen der allein maßgebliche Zurechnungsgrund. Mehr wird nicht vorausgesetzt. 3. a) Zu den §§ 89 Abs. 1, 115 Abs. 1 AktG hat sich gezeigt, dass Kredite an Beteiligungsgesellschaften eines Vorstands-/Aufsichtsratsmitglieds mit Ausnahme der Bagatellfälle der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen. Darauf, ob der Normadressat eine maßgebliche Beteiligung hält, beherrschenden Einfluss ausüben oder auf die Darlehensvaluta zugreifen kann, kommt es entgegen anders lautenden Stimmen, aber im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH zu § 114 AktG nicht an. Bei den aus überwiegendem Interesse des Normadressaten abgeleiteten Stimmverboten und der Abgrenzung von Vereinigungen, die als Empfänger verbotener Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen in Betracht kommen, stellen sich ganz ähnliche Fragen. Sie lassen sich ohne Wertungswiderspruch nicht anders beantworten. b) Sowohl bei der hier interessierenden Variante der Stimmverbote als auch bei Leistungen der Gesellschaft an eine Vereinigung, an der ein Gesellschafter beteiligt ist, stellt sich die Frage, wie dessen für die Normanwendung maßgeblicher Interessenschwerpunkt zu konkretisieren ist. Es hat sich gezeigt, dass diese Frage für beide Fälle gleich beantwortet werden muss. Am besten geeignet erscheint die Relation der Beteiligungsquoten. Auf Auswirkungen auf die Vermögenslage des Gesellschafters im Einzelfall kommt es grundsätzlich nicht an. c) Kredite an Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder sind nach den §§ 89 Abs. 3, 115 AktG ebenso zu behandeln wie Darlehen an die primär Betroffenen. Auf Unterhaltsberechtigte schlechthin lässt sich das nicht ausdehnen. Mangels zureichender Differenzierungsgründe gelten diese Grundsätze auch im Kapitalerhaltungsrecht, wohl nicht dagegen bei der Abgrenzung des Anwendungsfeldes der Stimmverbote. Denn dort steht in Gestalt der Treuepflicht ein zusätzliches Korrektiv zur Verfügung.

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Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Verhaltensstandards? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Einschätzung der Bedeutung von Corporate Governance-Grundsätzen III. Funktionen von Corporate Governance-Grundsätzen IV. Haftung für die Nicht- oder Falschabgabe der Entsprechenserklärung V. Außenhaftung VI. Bedeutung der Corporate GovernanceGrundsätze als Verhaltensregeln VII. Verfassungswidrigkeit der Corporate Governance-Gründsätze? 1. Anhaltende Infragestellung der Verfassungsmäßigkeit 2. Verhältnis zum Gesetzesrecht 3. Selbstregulierung im Handels- und Gesellschaftsrecht 4. Rechtsprechung zum Rechtscharakter von Corporate Governance-Regeln 5. Zwischenergebnis VIII. Vergleichbarkeit der Kodex-Bestimmungen mit den Empfehlungen eines

privaten Rechnungslegungsgremiums (§ 342 HGB)? IX. Inhalt der Kodex-Regeln als Gewohnheitsrecht? X. Inhalt von Kodex-Bestimmungen als Handelsbrauch? XI. Vergleichbarkeit mit technischen Regelwerken privater Sachverständigengremien XII. Zwischenergebnis: Kodex-Regeln sind (beschränkt) haftungsrelevant XIII. Problem der ausdrücklichen Erklärung der Nichtbefolgung der Kodex-Bestimmungen XIV. Paradigmenwechsel durch die Neufassung von § 161 AktG? XV. Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Verhaltensstandards für nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen? XVI. Ergebnisse

I. Einleitung Nach Karsten Schmidt1 beschreibt der – juristisch nicht präzis greifbare – Begriff „Corporate Governance“ die Summe der für eine verantwortliche, auf langfristige Wertschöpfung zielende Unternehmensführung, Unternehmenskontrolle und Transparenz geltenden Maximen2. Karsten Schmidt bezeichnet diese Maximen als „vertrauensbildende Spielregeln“, die für sich echten Rechts-

__________ 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 26 II 3 b (S. 767). 2 Zum Begriff und zur Entwicklung der Corporate Governance – auch rechtsvergleichend – Hohl, Private Standardsetzung im Gesellschafts- und Bilanzrecht, 2007, S. 28 ff.

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normcharakter ebenso wenig in Anspruch nehmen wie etwa Verhaltenspflichten im BGB. Das besondere Bedürfnis nach anerkannten Spielregeln für die „Corporate Governance“ beruhe im Aktienrecht auf dem typischen Auseinanderklaffen von Management und Unternehmenseignern sowie auf der Steuerung des Unternehmensgebarens auch durch den Kapitalmarkt.

II. Einschätzung der Bedeutung von Corporate GovernanceGrundsätzen Die Bedeutung von Corporate Governance-Grundsätzen wird allerdings nach wie vor unterschiedlich beurteilt. So heißt es etwa bei Zöllner und Noack im Kommentar von Baumbach/Hueck zum GmbH-Gesetz, die Corporate Governance-Diskussion trage „modische Züge“, es werde „mit viel Wasser gekocht“3. Im „Gesellschaftsrecht“ von Kübler und Assmann ist von der „Refeudalisierung der Aktienrechtsgesetzgebung“ sowie von „Des Kaisers neuen Kleidern“ die Rede4. Auch ist die Beurteilung der Bedeutung der Einhaltung von Corporate Governance-Grundsätzen für die Einschätzung eines Unternehmens durch den Kapitalmarkt und für den Börsenkurs zwiespältig. So kam noch 2005 eine Studie zur kapitalmarktrechtlichen Relevanz dieser Grundsätze zu dem Ergebnis, dass die Einhaltung von Corporate Governance-Regeln zumindest für den Börsenkurs irrelevant sei5. Dennoch gibt es in Deutschland, in Europa und in der gesamten Welt inzwischen einen eindeutigen „Trend“ zur Beachtung von Corporate Governance-Regeln. Der hohe Grad an Beachtung und damit Akzeptanz von Corporate Governance-Grundsätzen hat die Unternehmenskultur in Deutschland und in vielen anderen Ländern in den letzten Jahren verbessert6.

III. Funktionen von Corporate Governance-Grundsätzen Corporate Governance-Grundsätze – so etwa in Deutschland die Anregungen und Empfehlungen im Deutschen Corporate Governance Kodex – führen zu einer zunehmenden Standardisierung gesellschaftsrechtlicher Verhaltensregeln in Deutschland, Europa und der gesamten Welt7. Corporate GovernanceGrundsätze haben eine kapitalmarktrechtliche Informationsfunktion, denn sie dienen der Information inländischer und ausländischer Investoren über Regeln zur Unternehmensführung und Unternehmensüberwachung in dem jeweils

__________ 3 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, vor § 35 GmbHG Rz. 11. 4 Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, § 14 II (S. 175). 5 Novak/Rott/Mahr, ZGR 2005, 252, 278 f. 6 Hopt in FS Wiedemann, 2002, S. 1013, 1020 ff.; Schwalbach, AG 2004, 186, 187. 7 Dazu Kort, Standardisierung der Lenkung von Wirtschaftsprozessen durch Corporate Governance-Grundsätze in Stelmach/Reiner Schmidt (Hrsg.), Kraukauer-Augsburger Rechtsstudien, Band III, 2008, S. 129, 130 ff.; ders., ECFR 2008, Heft 3.

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Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Standards?

relevanten Land8. Dementsprechend können Corporate Governance-Grundsätze auch Maßstab für Kapitalmarktsanktionen wie die Börsenzulassung oder die Aufnahme von Aktien in einen Kursindex etc. sein9. Ferner haben Corporate Governance-Grundsätze auch eine Qualitätssicherungsund Qualitätssteigerungsfunktion. Sie dienen der Erhöhung des Standards der Führung und Überwachung von kapitalmarktorientierten Gesellschaften10.

IV. Haftung für die Nicht- oder Falschabgabe der Entsprechenserklärung Außerdem können die in Kodices festgeschriebenen Corporate GovernanceGrundsätze auch haftungsrechtlich von Bedeutung sein. Das gilt in mehrfacher Weise: Aus § 161 AktG ergibt sich zunächst, dass die Nicht- oder Falschabgabe einer Entsprechenserklärung pflichtwidrig ist. Eine diesbezügliche Innenhaftung der Organmitglieder ist jedoch praktisch nicht von besonderer Relevanz, da der Schaden der Gesellschaft und die Kausalität der zu vertretenden Pflichtverletzung für den Schaden der AG eher fern liegende tatsächliche Varianten sind11.

V. Außenhaftung Auch eine Außenhaftung von Organmitgliedern für eine Nicht- oder Falschabgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG dürfte von geringer praktischer Relevanz sein. Eine eigene Haftung der AG nach § 823 Abs. 1 BGB oder Abs. 2 BGB12 scheidet ebenso aus wie eine entsprechende deliktische Außenhaftung von Organmitgliedern aus § 823 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB13. Ferner kommen im Außenverhältnis auch kapitalmarktrechtliche Haftungsgrundsätze nicht in Betracht. So haftet die AG nicht nach §§ 37b, 37c WpHG14. Auch scheidet eine allgemeine kapitalmarktrechtliche Vertrauenshaftung als Grundlage einer Außenhaftung der AG selbst oder als Grundlage einer Außenhaftung

__________ 8 Hohl (Fn. 2), S. 38 f.; Kort, Standardisierung durch Corporate Governance-Regeln: Rechtliche Vorgaben für die Größe und die Zusammensetzung des Aufsichtsrats, in Möllers (Hrsg.), Standardisierung durch Markt und Recht, S. 137, 141. 9 Karsten Schmidt (Fn. 1), § 26 II 3 b (S. 767). 10 Kort, Standardisierung durch Corporate Governance-Regeln: Rechtliche Vorgaben für die Größe und die Zusammensetzung des Aufsichtsrats, in Möllers (Hrsg.), Standardisierung durch Markt und Recht, S. 137, 141. 11 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 161 AktG Rz. 25; Claussen/Bröcker, DB 2002, 1199, 1205; Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 3. Aufl. 2003, Rz. 138. 12 Dazu m. w. N. Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 28. 13 Dazu jeweils m. w. N. Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 30 sowie Kort in FS Raiser, 2005, S. 203, 205 ff. 14 Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 28.

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der Organmitglieder15 ebenso aus wie in der Regel eine Haftung von Organmitgliedern aus der Inanspruchnahme allgemeinen Vertrauens16. Sowohl für eine Außenhaftung der AG selbst als auch für eine Außenhaftung von deren Organmitgliedern bleibt daher allenfalls § 826 BGB. Die Voraussetzungen für § 826 BGB werden jedoch im allgemeinen weder objektiv noch subjektiv (vorsätzliche Schädigung) vorliegen. Eine Haftung von Organmitgliedern im Außenverhältnis kommt daher – falls überhaupt – nur in Frage, wenn die Entsprechenserklärung vorsätzlich falsch abgegeben worden ist. Die Probleme der Erfüllung aller Voraussetzungen des Haftungstatbestands bleiben aber selbst dann bestehen17.

VI. Bedeutung der Corporate Governance-Grundsätze als Verhaltensregeln Im Folgenden soll es indessen weder um Fragen der Außenhaftung der AG oder der Organmitglieder für eine Nicht- oder Falschabgabe der Entsprechenserklärung noch um eine Innenhaftung der Organmitglieder für eine solche Nichtoder Falschabgabe der Entsprechenserklärung gehen. Vielmehr widmet sich der Beitrag ausschließlich der Frage, ob der Inhalt der in Regelwerken enthaltenen Corporate Governance-Grundsätze, so z. B. in Deutschland die einzelnen Anregungen und Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex, für die Innenhaftung der Organmitglieder von Bedeutung ist. Karsten Schmidt führt hierzu knapp und klar aus: „Auch sind die Regeln rechtlich nicht etwa irrelevant, denn sie konkretisieren haftungsrelevante Verhaltenspflichten der Gesellschaftsorgane“18. Diese Aussage ist indessen nicht unbestritten und bedarf der näheren Erläuterung, die im Folgenden versucht werden soll. Bei der Nichtbeachtung von in Kodices niedergeschriebenen Corporate Governance-Grundsätzen ist zu differenzieren: Zum einen kann es sein, dass sich die Organmitglieder nicht an die von ihnen selbst abgegebene Entsprechenserklärung halten, zum anderen kann es aber auch darum gehen, dass die Corporate Governance-Grundsätze entweder insgesamt oder zumindest in Teilen offen abgelehnt werden, etwa durch Abgabe einer „negativen“ Entsprechenserklärung. Zu der Frage, welche haftungsrechtliche Bedeutung die Nichtbefolgung von Corporate Governance-Grundsätzen haben kann, findet sich ein bunter Strauß von Ansichten. Teilweise wird pauschal auf den nicht verbindlichen Charakter von Corporate Governance-Grundsätzen wie etwa der Anregungen und Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex verwiesen19. Gerade

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15 Dazu jeweils m. w. N. Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 29 f. sowie Kort in FS Raiser, 2005, S. 203, 222. 16 Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 30 sowie Kort in FS Raiser, 2005, S. 203, 216 ff. 17 Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 30 sowie Kort in FS Raiser, 2005, S. 203, 215 f. 18 Karsten Schmidt (Fn. 1), § 26 II 3 b (S. 767). 19 In diese Richtung gehend etwa Ringleb in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, DCGK, 3. Aufl. 2008, Rz. 58 ff.

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weil nach alter und nach der im BilMoG vorgesehenen künftigen Fassung von § 161 AktG die Möglichkeit einer Abweichung von den Regeln von Gesetzes wegen eröffnet werde, seien die Regeln selbst haftungsrechtlich irrelevant20. Alternativ dazu oder ergänzend zu diesem Argument wird angeführt, § 161 AktG bzw. die Kodex-Regeln seien verfassungswidrig oder stünden verfassungsrechtlich zumindest auf tönernen Füßen. Daher könnten sie haftungsrechtlich nicht von Bedeutung sein21. Von anderer Seite wird ihnen hingegen eine haftungsrechtliche Bedeutung zugesprochen. Ein Teil der Befürworter dieser Auffassung stellt dabei auf den haftungsausschließenden oder zumindest prima facie eine Haftung ausschließenden Charakter der Regelbefolgung ab: Wer sich an die „Spielregeln“, also die Corporate Governance-Grundsätze, halte, wende die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters bzw. die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Überwachers der Geschäftsleitung nach §§ 93 Abs. 1 Satz 1, 116 Abs. 1 AktG an22. Plakativ ausgedrückt: Wer sich an die Corporate Governance-Spielregeln hält, braucht eine Haftung nicht zu befürchten. Von vielen wird indessen eher oder ausschließlich „die andere Seite der Medaille“ betrachtet, d. h. das Postulat einer haftungsbegründenden oder zumindest die Annahme einer Haftung unterstützenden Wirkung eines „Spielregelverstoßes“ vertreten23. Letztgenannte Ansicht muss sich freilich mit dem auch verfassungsrechtlich unterfütterten Grundsatz auseinandersetzen, dass Haftungsnormen Mindestanforderungen genügen müssen, die etwa ihre Entstehung (z. B. Erfordernis eines Normsetzungsverfahrens) sowie ihre Bestimmtheit betreffen.

VII. Verfassungswidrigkeit der Corporate Governance-Gründsätze? 1. Anhaltende Infragestellung der Verfassungsmäßigkeit Die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der im Deutschen Corporate Governance Kodex enthaltenen Regeln hält an24, auch wenn die Anzahl derjenigen, die die Kodexregeln entweder „in Bausch und Bogen“ für verfassungswidrig halten oder aber zumindest verfassungsrechtliche Bedenken äußern, geringer wird. Dieses Phänomen dürfte allerdings weniger durch neuere Erkenntnisse im rechtspolitischen Diskurs über die Ver-

__________ 20 Exemplarisch Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 27. 21 Zu verfassungsrechtlichen Bedenken s. etwa Hüffer (Fn. 11), § 161 AktG Rz. 4; Spindler in Lutter/Karsten Schmidt, AktG, 2008, § 161 AktG Rz. 11, 66; Sester in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 161 AktG Rz. 4, 48; Runte in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 161 AktG Rz. 30. 22 In diese Richtung gehend etwa Seibt, AG 2002, 249, 251; Schüppen, ZGR 2002, 1269, 1271. 23 S. insbesondere Lutter in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2006, § 161 AktG Rz. 81. 24 S. dazu die sorgfältige Analyse von Hohl (Fn. 2), 2007, S. 40 ff.; ferner Goulding/ Miles/Schall, ECFR 2005, 20, 47 ff.

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fassungsmäßigkeit der Kodexregeln bedingt sein25 als vielmehr durch die „normative Kraft des Faktischen“, nämlich den Umstand, dass es seit In-KraftTreten der ersten Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex eine anhaltende und sogar zunehmende Diskussion von Einzelfragen der Corporate Governance gibt, die sich auf das vorhandene Regelwerk stützt, ohne es als solches in Frage zu stellen, sowie auf das empirisch zu beobachtende Phänomen einer sehr starken Akzeptanz der meisten im Deutschen Corporate Governance Kodex enthaltenen Regeln26. 2. Verhältnis zum Gesetzesrecht Die Auffassung, die Kodex-Regeln seien schon deshalb verfassungswidrig (und daher haftungsrechtlich irrelevant), weil sie von einer „privaten“ Expertengruppe, also einem seinerseits nicht demokratisch legitimierten Gremium, aufgestellt würden27, ist im Ergebnis abzulehnen. Zwar besteht nach wie vor ein Bedürfnis, das Verhältnis zwischen Gesetz und Kodexregeln einer kritischen Würdigung zu unterziehen und immer wieder neu zu überdenken, wie Hüffer zu Recht auch in der Neuauflage seines Kommentars zum Aktiengesetz betont28. Gegen die Verfassungsmäßigkeit der Kodex-Bestimmungen bzw. von § 161 AktG wurde deren Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip sowie gegen den Gesetzesvorbehalt ins Feld geführt29. Bereits die Baums-Kommission hob hervor, es gehe bei der Schaffung von Kodexregeln um eine „Neujustierung des Verhältnisses von staatlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung“30. Weder die BaumsKommission noch die für die Regelungen im Deutschen Corporate Governance Kodex zuständige Kodex-Kommission können indessen – quasi „in eigener Sache“ – das Verhältnis von staatlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung neu definieren. Vielmehr ist es der staatliche Ordnungsrahmen selbst, der die Grenzen rechtlich zulässiger Selbstregulierung vorgibt. Wie Hüffer zu Recht hervorhebt, gehört das Aktienrecht als zentraler Bereich des Wirtschaftsrechts in den staatlich gesetzten Ordnungsrahmen. Auch betont er zutreffend, dass die so genannte Selbstregulierung ihrerseits Regulierung bleibt und allenfalls die gesetzgebenden Körperschaften, nicht aber die Normadressaten entlastet. Insofern ist die von manchen betonte Flexibilisierungswirkung von Corporate Governance-Regeln fraglich. Zu weit geht es allerdings, wenn Hüffer aus dem Befund, dass das Aktienrecht in den staatlich gesetzten Ordnungsrahmen gehöre, folgert, es gehöre nicht in

__________ 25 Solche neueren Erkenntnisse findet sich insbesondere bei Hohl (Fn. 2), S. 323 ff. 26 Dazu von Werder/Talaulicar, DB 2008, 825. 27 Ausführlich und sorgfältig differenzierend zum Problem demokratischer Legitimation Hohl (Fn. 2), S. 64 ff., 220 ff. 28 Hüffer (Fn. 11), § 76 AktG Rz. 15 c. 29 Dazu Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 160 ff. 30 Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, S. 1.

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„mehr oder minder private Aufschreibungen, die weder formell noch materiell Gesetze sind“31. Für diese Auffassung könnte zwar auf den ersten Blick der Ausgang der leidvollen Diskussion um die Publizität der Vergütung von Vorstandsmitgliedern sprechen, die bekanntlich erst im Kodex geregelt war und anschließend doch eine gesetzliche Regelung in dem VorstandsvergütungsOffenlegungsgesetz fand. Gerade die Diskussion um die Publizität der Vorstandsvergütung zeigt jedoch bei näherer Betrachtung, dass durchaus Argumente dafür sprechen, dass nicht alle Verhaltensstandards für Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr in Gesetzesform gegossen werden müssen. Letztlich sind weder § 161 AktG noch die Kodex-Bestimmungen selbst verfassungswidrig. Vielmehr bietet § 161 AktG eine ausreichende, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende gesetzliche Basis für die die Erfüllung der dem Kodex zukommenden Funktionen32. 3. Selbstregulierung im Handels- und Gesellschaftsrecht Das gesamte Handels- und Gesellschaftsrecht ist aus historischer Perspektive wie aus aktueller Sicht ein Gebiet, bei dem im Interesse der beteiligten Wirtschaftskreise das Gesetzesrecht von einer Vielzahl „untergesetzlicher“ Normen umkränzt wird. Diese Feststellung befreit freilich nicht davon, sich mit der Verfassungsmäßigkeit „untergesetzlicher“ Regeln und Aufschreibungen zu befassen. Von einer großen Anzahl von Autoren – so auch von dem Verfasser dieses Beitrags33 – wurden die Kodexregeln als „soft law“34 charakterisiert. Dieses Etikett beschreibt allerdings nicht präzis, was eigentlich den Charakter von Corporate Governance-Regeln ausmacht. Es deutet vielmehr lediglich an, dass es sich positiv – in Abgrenzung von rechtlich unverbindlichen Verhaltensmustern – um „Recht“ handelt, und negativ, dass es sich nicht um Gesetzesrecht, Verordnungsrecht oder sonstiges gesetzesgleiches Recht gesetzgebender Institutionen handelt. Die These, es spreche gegen die Verfassungsmäßigkeit der Kodex-Bestimmungen, dass es sich bei den Kodex-Bestimmungen in Wahrheit nicht (auch) um einen Akt der Selbstregulierung der Wirtschaft handele, da der Gesetzgeber des § 161 AktG und das BMJ (hinsichtlich seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf die Kodex-Kommission und den Kodex-Inhalt) die maßgeblichen Akteure seien35, trifft nicht zu: Akte der Selbstregulierung der Wirtschaft finden sich häufig im Zusammenspiel mit Akten staatlicher Mitwirkung am Zustandekommen oder der Durchsetzung solcher privat gesetzter Standards. Auch spricht gegen die Richtigkeit dieser These, dass von anderen gerade umgekehrt

__________ 31 32 33 34

Hüffer (Fn. 11), § 76 AktG Rz. 15 c; Claussen/Bröcker, AG 2000, 481, 482 f. Heintzen, ZIP 2004, 1993; Ringleb (Fn. 19), Rz. 51. Kort in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2003, vor § 76 AktG Rz. 37. Generell – auch rechtsvergleichend – zum Begriff des „soft law“ Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 21. Aufl. 2008, § 25 Rz. 35, 40. 35 Seidel, ZIP 2004, 285, 289.

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die (tatsächlich durchaus bestehende) Unabhängigkeit der Kodex-Kommission als bloßes Instrument der Wirtschaft gegen die Verfassungsmäßigkeit der Kodex-Bestimmungen angeführt wird. 4. Rechtsprechung zum Rechtscharakter von Corporate Governance-Regeln Die bislang vorliegende Rechtsprechung in Deutschland zum Rechtscharakter der im DCGK enthaltenen Corporate Governance-Regeln ist wenig aussagekräftig. So enthält das Urteil des Landgerichts München I im Fall „MAN/ Piech“ zunächst die „Binsenweisheit“, es handele sich bei den im Deutschen Corporate Governance Kodex niedergelegten Grundsätzen weder um ein Gesetz noch um die Satzung der AG36. Zutreffend führt das LG München I aus, § 161 AktG bewirke nicht, dass der Inhalt des Kodex im Sinne einer dynamischen Verweisung in den gesetzgeberischen Willen aufgenommen worden sei37. Richtig ist auch, dass der Deutsche Corporate Governance Kodex keine satzungsgleiche Wirkung entfaltet38. Hieraus folgert das LG München I, dass Hauptversammlungsbeschlüsse nicht bereits deshalb anfechtbar sind, weil sie gegen Kodex-Bestimmungen verstoßen. Entsprechendes gilt nach Auffassung des Gerichts auch für Aufsichtsratsbeschlüsse, deren bloßer Verstoß gegen Kodex-Bestimmungen nach Ansicht des LG München I nicht zur Nichtigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse führe. Diese Argumentation dürfte jedoch zu kurz greifen: Der Deutsche Corporate Governance Kodex ist kein zahnloser Tiger, wie Eberhard Vetter in einer Besprechung des Urteils des LG München I zutreffend hervorhebt39. Aus dem Umstand, dass die Bestimmungen des Kodex weder Gesetz sind noch Satzungscharakter haben noch satzungsgleiche Bestimmungen sind, folgt nämlich nicht, dass sie – etwa als Auslegungsregeln oder Auslegungshilfen für Gesetzes- oder Satzungsbestimmungen – nicht dazu führen können, dass kodexregelwidrige Hauptversammlungsbeschlüsse oder Aufsichtsratsbeschlüsse bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls als nichtig oder vernichtbar einzustufen wären. Für die hier anstehende Frage der Verfassungsmäßigkeit der Kodex-Bestimmungen ist ferner ein Urteil des OLG München von 23.1.2008 von Belang. Das Gericht führt zunächst zur Verfassungsmäßigkeit der Pflicht zur Entsprechenserklärung aus, § 161 AktG sei wirksam. Es läge weder ein Verstoß gegen den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts nach Art. 20 Abs. 3 GG vor noch ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. „Zwar“ seien die Empfehlungen der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex von dieser Kommission aufgestellt40. Das OLG München will damit offenbar hervorheben, dass es sich nicht um Gesetzesrecht

__________ 36 37 38 39 40

LG München I, NZG 2008, 150, 151. So schon Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 159; Seibt, AG 2002, 249, 250. So zutreffend LG München I, NZG 2008, 150, 151. E. Vetter, NZG 2008, 121 ff. OLG München, WM 2008, 645, 648.

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oder um gesetzesgleiches Recht, sondern bloß um „private Aufschreibungen“ einer Kommission handele. Weiter führt das OLG München aus, dies stelle jedoch keinen Verfassungsverstoß dar, da die Befolgung der in dem Kodex enthaltenen Regeln nicht nur Pflicht gemacht werde. § 161 AktG ordne lediglich eine Verpflichtung zur Abgabe einer Entsprechenserklärung an, während die Einhaltung der in dem Kodex festgelegten Bestimmungen von § 161 AktG nicht verlangt werde41. Der Entscheidung des OLG München ist zuzustimmen. Gegen die Verfassungswidrigkeit der Kodex-Bestimmungen spricht, dass die Organmitglieder deren Maßgeblichkeit durch Abgabe einer positiven oder negativen Entsprechenserklärung steuern können. Jedoch enthält die Entscheidung des OLG München auch einen etwas bedenklichen „Zungenschlag“. Unterschwellig liegt ihr nämlich die Überlegung zugrunde, dass die Kodex-Bestimmungen wegen ihrer vermeintlich völligen Unverbindlichkeit so „unwichtig“ seien, dass sie nicht verfassungswidrig sein könnten, aber eben auch nicht als Verhaltensstandards taugten. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, geht diese Auffassung zu weit. Wichtig ist ferner, dass die obergerichtliche und die BGH-Rechtsprechung bereits mehrfach Corporate Governance-Bestimmungen des DCGK zur Auslegung von Gesetzesbestimmungen herangezogen haben, so das OLG Schleswig42 und der BGH43 bei der Auslegung von §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG. Die Heranziehung der Bestimmungen durch die Gerichte zur Normauslegung zeigt, welche Bedeutung die Gerichte den DCGK-Bestimmungen beimessen. 5. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass weder § 161 AktG selbst noch die Kodex-Bestimmungen verfassungswidrig sind. Im Folgenden soll dem Rechtscharakter der Kodex-Bestimmungen näher nachgegangen werden. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein bloß rechtstheoretisch interessantes Glasperlenspiel l’art pour l’art. Vielmehr beantwortet die Frage nach dem Rechtscharakter der Corporate Governance-Bestimmungen zugleich die Frage nach deren Tauglichkeit als haftungsrechtlich relevante Verhaltensstandards für Organmitglieder.

VIII. Vergleichbarkeit der Kodex-Bestimmungen mit den Empfehlungen eines privaten Rechnungslegungsgremiums (§ 342 HGB)? Schon mit dem KonTraG 1998 wurde § 342 HGB so gestaltet, dass das BMJ eine privatrechtlich organisierte Einrichtung durch Vertrag anerkennen kann

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41 OLG München, WM 2008, 645, 648. 42 OLG Schleswig, AG 2003, 102 (Mobilcom). 43 BGHZ 158, 122, 127.

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und ihr u. a. die Aufgabe der Entwicklung von Empfehlungen zur Anwendung von Grundsätzen über die Konzernrechnungslegung übertragen kann. Mit der im BilMoG vorgesehenen Änderung von § 342 HGB wird der Aufgabenkreis der vertraglich vom BMJ anerkannten Einrichtung (DRSC) noch erweitert. § 342 Abs. 2 HGB sieht vor, dass die Beachtung der die Konzernrechnungslegung betreffenden Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung vermutet wird, soweit die Empfehlungen der privatrechtlich organisierten Einrichtung beachtet worden sind. Fraglich ist, ob sich diese Vermutung der Einhaltung von Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung, die auch haftungsrechtlich relevant ist, bei Einhaltung der Kodex-Bestimmungen auf die Vermutung der Einhaltung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung oder Unternehmensüberwachung oder ganz allgemein auf die Vermutung sorgfaltsgemäßen Handelns i. S. v. § 93 und 116 AktG übertragen lässt. Diese Frage ist – trotz einiger Gemeinsamkeiten zwischen § 342 HGB und § 161 AktG – im Ergebnis zu verneinen. Zwar ist beiden Systemen bzw. Verfahren gemein, dass das BMJ bzw. der Gesetzgeber die fachliche Kompetenz eines privaten Gremiums zur Ausarbeitung von Verhaltensgrundsätzen ausnutzt und hierbei durch die Zusammensetzung der jeweiligen Expertenkommission und durch die Regelung des Verfahrens der Regelaufstellung durch diese Expertenkommission sicherstellt, dass deren Experten-Know-how in die jeweiligen Regelwerke einfließt44. Auch die Publikation der jeweiligen Regelwerke weist Gemeinsamkeiten auf. Dennoch überwiegen die Unterschiede: Die Kodex-Regeln genießen keine mit den Rechnungslegungsstandards vergleichbare Legitimation, weil sie nicht in vergleichbarer Weise durch das BMJ anerkannt werden und die Kodex-Kommission überdies „freihändiger“ besetzt ist45. Auch enthält § 161 AktG gerade keine Parallele zur gesetzlich geregelten Vermutungswirkung des § 342 Abs. 2 HGB46. Entstehungsgeschichte und Gesetzesbegründung von § 161 AktG zeigen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Vermutungswirkung bedacht und bewusst nicht angeordnet hat. Die Parallelen zu § 342 HGB wurden erkannt, aber bewusst nicht in Gesetzesform umgesetzt. Es besteht daher keine unbedachte Regelungslücke. Ferner ist die Kodex-Kommission auch nicht mit vergleichbaren Aufgaben wie denjenigen in § 342 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder 3 HGB betraut. Auch dient die jeweilige Publikation im elektronischen Bundesanzeiger unterschiedlichen Zwecken: Bei der Bekanntmachung nach § 342 Abs. 2 HGB werden diejenigen Empfehlungen hervorgehoben, denen inhaltlich Vermutungswirkung im Hinblick auf die Einhaltung ordnungsgemäßer Rechnungslegungsgrundsätze zuteil wird. Hingegen

__________ 44 Dazu näher Bertrams, Die Haftung des Aufsichtsrats in Zusammenhang mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex und § 161 AktG, 2004, S. 182 f. 45 Hüffer (Fn. 11), § 161 AKtG Rz. 5. 46 Bertrams (Fn. 44), S. 184; Knapp, Die Treuepflicht der Aufsichtsratsmitglieder von Aktiengesellschaften und Directors von Corporations, 2004, S. 319; Ringleb (Fn. 19), Rz. 56 f.

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Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Standards?

soll durch die Bekanntmachung i. S. v. § 161 AktG klargestellt werden, auf welche Empfehlungen sich die Erklärungspflicht bezieht47. Insgesamt ergibt sich, dass den Rechnungslegungsstandards nach § 342 HGB ein höherer Grad an Verbindlichkeit zukommt als den in den Kodex-Bestimmungen enthaltenen Standards48.

IX. Inhalt der Kodex-Regeln als Gewohnheitsrecht? Nach herrschender Auffassung ist das Gewohnheitsrecht eine vom Rechtsgeltungswillen getragene Übung, das als Rechtsquelle neben dem Gesetzesrecht seinen Platz hat. Wie Karsten Schmidt zutreffend hervorhebt, ist ein erheblicher Teil derjenigen Standards, die als Handelsbräuche eingestuft werden, in Wahrheit als Handelsgewohnheitsrecht rechtsverbindlich49. Handelsgewohnheitsrecht sowie Gewohnheitsrecht in anderen Bereichen entsteht durch längere, gleichmäßige Übung und muss allgemein von dem beteiligten Verkehrskreisen anerkannt werden. Das hat das Handelsgewohnheitsrecht mit den Handelsbräuchen (dazu unten X.) gemein. Anders als der Handelsbrauch setzen jedoch das Handelsgewohnheitsrecht und das sonstige Gewohnheitsrecht einen Rechtsgeltungswillen voraus. Allerdings sind die Übergänge zwischen Gewohnheitsrecht und Handelsbrauch fließend, da sich häufig kaum feststellen lässt, was bloß freiwillige Anerkennung einer Übung, also Handelsbrauch, und was schon opinio iuris im Sinne der Lehre vom Gewohnheitsrecht ist50. Diese opinio iuris wird auch als opinio necessitatis bezeichnet, also als Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise, durch die Einhaltung einer Übung bestehendes Recht zu befolgen. Zumindest aus heutiger Sicht bilden die Kodex-Regeln kein (Handels-)Gewohnheitsrecht für kapitalmarktorientierte AG. Es fehlt bei der Einhaltung der Kodex-Bestimmungen an einer lang dauernden tatsächlichen Übung. Die Etablierung des Kodex selbst konnte (noch) nicht zu einer lang dauernden tatsächlichen Übung führen. Soweit die Kodex-Bestimmungen bloß die lex lata „aufgreifen“, also lediglich entweder wörtlich oder erläuternd das Gesetzesrecht wiederholen, handelt es sich nicht um eine Übung, sondern schlicht um eine Wiedergabe des im AktG kodifizierten Gesetzesrechts. Soweit die KodexRegeln auf Verhaltensstandards abstellen, die bei kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaften teilweise seit Jahrzehnten „gang und gäbe“ sind, besteht zwar eine lang andauernde tatsächliche Übung, diese ergibt sich jedoch nicht durch das „Aufgreifen“ der diesbezüglichen Übung in den Kodex-Bestimmungen, sondern unabhängig davon: Mit anderen Worten greift der Kodex in solchen Fällen bloß eine bereits bestehende lang dauernde Übung auf, sodass der entsprechenden Bestimmung nicht erst qua Kodex-Regelung Übungscharakter

__________ 47 48 49 50

Dazu sowie zum Vorausgehenden näher und m. w. N. Bertrams (Fn. 44), S. 184 f. Ringleb (Fn. 19), Rz. 53. Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 1 III 2a (S. 20 f.). Kort in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB, 1. Aufl. 2001, § 346 HGB Rz. 4.

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zukommt. Für mehr oder weniger „neuen“ Verhaltensstandards fehlt es hingegen an der langjährigen Dauer einer Übung. Auch hinsichtlich des zusätzlichen Erfordernisses einer opinio necessitatis bestehen Bedenken: Die relative „Freiwilligkeit“ der Entscheidung über die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung von Kodex-Bestimmungen, die § 161 AktG nahe legt, spricht ohnehin schon gegen die Möglichkeit zur Bildung einer opinio necessitatis. Hinzu kommt, dass rechtstatsächlich Erhebungen über die Akzeptanz des Kodex zeigen, dass zwar der ganz überwiegende Teil der KodexBestimmungen von einem Großteil kapitalmarktorientierter Aktiengesellschaften und deren Organmitgliedern befolgt wird, aber durchaus nicht sämtliche Kodex-Bestimmungen, so etwa nicht diejenigen über das Erfordernis eines Selbstbehalts bei der D&O-Versicherung51. Es liegt also bezüglich der Kodex-Bestimmungen nach heutigem Stand weder eine lang dauernde tatsächliche Übung vor noch wird dem Erfordernis einer opinio necessitatis genügt. Im Ergebnis handelt es sich bei den Kodex-Bestimmungen daher zumindest noch nicht um Gewohnheitsrecht.

X. Inhalt von Kodex-Bestimmungen als Handelsbrauch? Handelsbräuche sind nur diejenigen Usancen, die als im Handelsverkehr akzeptierte Übung bloß das Faktenmaterial zur Auslegung von Rechtsgeschäften und zur Anwendung von Rechtsnormen liefern, ohne selbst Rechtsnormen zu sein. Rechtsverbindlich kann ein Handelsbrauch nur durch eine Rechtsnorm, etwa durch § 346 HGB, oder durch einen Vertrag oder Beschluss werden52. Ein Handelsbrauch ist nur in dem Verkehrskreis maßgeblich, in dem er sich entwickelt hat oder auf den er sich ausgedehnt hat. Er kann dann allerdings auch für und gegen denjenigen gelten, der selbst nicht regelmäßig in diesem Verkehrskreis tätig ist53. Handelsbräuche sind mithin keine Rechtsnormen, auch wenn sie im kaufmännischen Verkehr wie Rechtsnormen wirken. Anders als beim Gewohnheitsrecht fehlt es beim Handelsbrauch an einem Rechtsbindungswillen. Vielmehr liegt beim Handelsbrauch eine von den betreffenden Kreisen gehandhabte Übung vor, die zwar allgemein anerkannt ist und bereits seit einiger Zeit praktiziert wird, aber freiwillig ist. Ähnlich wie die Verkehrssitte im allgemeinen Verkehr ist auch der Handelsbrauch in erster Linie als ein die Auslegung mitbestimmender Faktor anzusehen. Mit dem Handelsgewohnheitsrecht hat der Handelsbrauch gemein, dass er eine allseits anerkannte tatsächliche Übung voraussetzt54. Nach der Präambel des Deutschen Corporate Governance Kodex enthält dieser international und national anerkannte Standards guter Corporate Governance55. Jedoch hängt die Berücksichtigung von Kodex-Regeln bei der Ausfül-

__________ 51 52 53 54 55

von Werder/Talaulicar, DB 2008, 825, 827. Karsten Schmidt (Fn. 49), § 1 I 3a (S. 24). Karsten Schmidt (Fn. 49), § 1 I 3a (S. 25). Kort (Fn. 50), § 346 HGB Rz. 2. Dazu Bertrams (Fn. 44), S. 188.

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lung der allgemeinen Sorgfaltspflicht der Organmitglieder nach §§ 93, 116 AktG vorrangig von der Art und Weise ihrer dem Entscheidungsermessen der Organmitglieder unterliegenden Umsetzung in den Aktiengesellschaften ab. Damit kommt den Kodex-Regelungen bloß eine Funktion als „Katalysator“ zu, der die Entstehung bestimmter Verhaltensübungen begünstigt und fördert56. Zwar genießen viele einzelne Kodex-Bestimmungen bereits über mehrere Jahre hinweg einen besonders hohen Akzeptanzgrad. Jedoch dürfte selbst angesichts von Akzeptanzquoten, die über 90 % ausmachen, noch nicht von einer „allseits anerkannten tatsächlichen Übung“ die Rede sein, zumal zu dem prozentual zu bemessenden Akzeptanzgrad noch das „Stetigkeitselement“ der langjährigen Anerkennung hinzukommen muss. Mit anderen Worten ist nach heutigem Stand der Inhalt des Kodex in seiner Gesamtheit nicht als Handelsbrauch anzusehen57. Fraglich ist, ob sich in Zukunft einzelne Kodex-Bestimmungen oder der Kodex insgesamt zum Handelsbrauch entwickeln können. Hiergegen wurde von Hanfland58 angeführt, es handele sich bei den Kodex-Bestimmungen nicht um Standards für den Handelsverkehr unter Kaufleuten, sondern in erster Linie um Verhaltensstandards für Organmitglieder. Richtig ist, dass sich der Kodex zwar in weiten Teilen an Organmitglieder richtet, jedoch nicht durchgängig. Vielmehr geht es auch um Verhaltenspflichten von Aktiengesellschaften selbst (und damit Kaufleuten). Auch ist zu erinnern, dass der Handelsbrauch eine Verkehrssitte der von ihm erfassten Verkehrskreise ist, und es damit einzig und allein um die Bestimmung des von der Verkehrssitte erfassten Kreises von Wirtschaftssubjekten geht59. Es ist zwar schwer vorstellbar, Verhaltenspflichten von Organmitgliedern, die als solche nicht Adressat des Handelsrechts sind, als „Handelsbrauch“ einzustufen. Angesichts der Verwurzelung des Handelsbrauchs in den allgemeinen Verkehrssitten geht es aber dennoch an, diejenigen Kodex-Bestimmungen, die sich an Organmitglieder richten, im Falle ihrer umfassenden und langjährigen Einhaltung als Verkehrssitten anzusehen. Ob man sie dann terminologisch darüber hinausgehend als (echten) Handelsbrauch bezeichnen kann, ist allerdings fraglich. Diejenigen Kodex-Bestimmungen, die sich an die Aktiengesellschaft selbst wenden, können sich hingegen zu (echtem) Handelsbrauch entwickeln. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass sich in den nächsten Jahren einzelne besonders stark akzeptierte Regeln des Kodex zum Handelsbrauch (oder zur Verkehrssitte) entwickeln60, und damit auch dann anwendbar sind, wenn der Inhalt dieser einzelnen Kodex-Bestimmungen unbekannt sein sollte. Da

__________ 56 Bertrams (Fn. 44), S. 189. 57 Insofern wie hier Hanfland, Haftungsrisiken in Zusammenhang mit § 161 AktG und dem Deutschen Corporate Governance Kodex, 2007, S. 73 f. m. w. N. 58 Hanfland (Fn. 57), S. 75 f. 59 Karsten Schmidt (Fn. 49), § 3 II 1 (S. 51 f.). 60 Knapp (Fn. 46), S. 316 f.

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der Handelsbrauch (ebenso wie die Verkehrssitte) lediglich faktische Rechtsentstehungsquelle, nicht aber normative Rechtsquelle ist, würde die einzelne Kodex-Bestimmung, soweit sie als Handelsbrauch anzusehen wäre, rechtliche Verbindlichkeit nicht aus sich heraus erlangen, sondern durch das mit seiner Hilfe ausgelegte oder ergänzte Rechtsgeschäft61. Für die Möglichkeit, dass einzelne Kodex-Bestimmungen Handelsbrauch (oder Verkehrssitte) werden können, spricht auch deren bereits mehrfach erfolgte Heranziehung durch Gerichte zur Auslegung von Gesetzen (dazu oben VII.4.). Eine typische Funktion des Handelsbrauchs ist diejenige als Auslegungshilfe für Normen. Die in § 161 AktG vorgesehene Möglichkeit des opting out steht der Bildung von Handelsbrauch (oder einer Verkehrssitte) nicht generell entgegen. Sollte über mehrere Jahre hinweg kontinuierlich ein extrem hoher Akzeptanzgrad einer Kodex-Regel zu verzeichnen sein, wäre diesbezüglich die opting outMöglichkeit bloßes dead letter law, um einen weiteren Anglizismus zu gebrauchen.

XI. Vergleichbarkeit mit technischen Regelwerken privater Sachverständigengremien In der Literatur finden sich Untersuchungen auch zu der Frage, ob die KodexRegeln mit technischen Regelwerken privater Sachverständigengremien, wie etwa mit den DIN-Normen, vergleichbar sind62. Gemeinsamkeiten bestehen darin, dass sowohl die Kodex-Bestimmungen als auch die DIN-Normen nicht per se verbindliche Verhaltensempfehlungen eines privaten, nicht hoheitlichen Fachgremiums sind, das sich aus Experten des betroffenen Verkehrskreises zusammensetzt63. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass die DIN-Normen vielfach technische Mindeststandards beschreiben, die die Untergrenze einer einzuhaltenden gesetzlichen Sorgfalt bilden, die Kodexregeln, insbesondere die Anregungen, hingegen keine allgemeinen Mindeststandards für gewissenhafte und ordentliche Geschäftsleitung darstellen. Auch stehen der öffentlichen Hand bei der Ausarbeitung der DIN-Normen viel stärkere Einwirkungsmöglichkeiten zur Verfügung als bei der Konzeption der Kodex-Regeln64. Jedoch ist andererseits auch nicht zu verkennen, dass die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der öffentlichen Hand auf die Zusammensetzung und die Arbeit der KodexKommission sehr groß sind65.

__________ 61 Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 22 Rz. 11. 62 S. etwa Borges, ZGR 2003, 508, 518; Bertrams (Fn. 44), S. 190 ff.; Hanfland (Fn. 57), S. 81 ff.; Knapp (Fn. 46), S. 320; kritisch Runte (Fn. 21), § 161 AktG Rz. 29. 63 Dazu m. w. N. Bertrams (Fn. 44), S. 191. 64 Dazu Bertrams (Fn. 44), S. 193 f. 65 Dazu näher Bertrams (Fn. 44), S. 194 ff.

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Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Standards?

Es besteht keine absolute Bindung des Richters an privat erstellte Regelwerke wie DIN-Normen. So kann das Gericht trotz eines konkreten Verstoßes gegen eine technische Regel feststellen, dass die gesetzlich erforderliche Sorgfalt gewahrt ist und umgekehrt, dass die Einhaltung einer technischen Regel nicht automatisch einen Sorgfaltspflichtverstoß ausschließt. Jedoch kommt den technischen Normen die Funktion eines „antizipierten Sachverständigengutachtens“ zu. Im Ergebnis mündet die Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Literatur zur Bedeutung der technischen Normen in deren Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung hinsichtlich der Erfüllung der objektiven und subjektiven Sorgfaltspflichten66. Bestehen somit viele Gemeinsamkeiten, aber auch eine Reihe von Unterschieden zwischen technischen Regelwerken wie DIN-Normen und Kodex-Bestimmungen, so überwiegen insgesamt die Gemeinsamkeiten. Beide Regelwerke sind durch Transparenz und Publizität gekennzeichnet, ferner durch Repräsentanz der jeweils die Regelwerke erstellenden oder überarbeitenden Kommissionen sowie vom Grundsatz der Revisibilität geprägt. Trotz mancher Unterschiede, etwa in Hinblick auf die gegenüber der Lage bei den DIN-Normen geringere verfahrensmäßige Einflussmöglichkeit der interessierten Öffentlichkeit auf die Entscheidungen der Kodex-Komission, ist daher die rechtswissenschaftliche Diskussion über die verhaltensstandardbildende Wirkung von technischen Regelwerken auf die Frage der haftungsrechtlichen Relevanz von Verhaltensstandards durch Corporate Governance-Grundsätze zu erstrecken. Die sich aus der Transparenz, der Publizität, der Repräsentanz und der Revisibilität ergebende „prozedurale Richtigkeitsgewähr“ auch von Kodex-Bestimmungen führt dazu, dass der Beachtung oder Nicht-Beachtung der Empfehlungen des Kodex (nicht: der Anregungen) eine Indizfunktion im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung zukommt, allerdings unter Beibehaltung der gesetzlichen Beweislastverteilung. Ein empfehlungskonformes Verhalten mindert damit die zu Lasten der Organmitglieder wirkende Beweislastregelung des § 93 Abs. 2 AktG ab, ein von den Empfehlungen abweichendes Organhandeln indiziert – als Verstärkung der Beweislastregel des § 93 Abs. 2 AktG – eine Sorgfaltswidrigkeit des Handelns67.

XII. Zwischenergebnis: Kodex-Regeln sind (beschränkt) haftungsrelevant Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass sich die von Karsten Schmidt im „Gesellschaftsrecht“ 2002 getroffene Aussage, dass Corporate Governance-Regeln haftungsrelevante Verhaltenspflichten der Gesellschaftsorgane konkretisieren, als richtig erweist. Rechtsgrund hierfür ist ihre Vergleichbarkeit mit technischen Regelwerken privater Regulierungsinstitutionen sowie die deutlich erkennbare Tendenz, dass einzelne Corporate Governance-

__________ 66 Bertrams (Fn. 44), S. 197. 67 Bertrams (Fn. 44), S. 210 ff., 262.

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Grundsätze in naher Zukunft möglicherweise den Charakter von Handelsbrauch annehmen können. Aus diesem Befund ergibt sich indessen nicht, dass grundlegende Haftungsgrundsätze der lex lata des Aktienrechts über Bord geworfen werden dürfen, im Gegenteil: Die Corporate Governance-Grundsätze bilden vielmehr lediglich eine Interpretationshilfe für § 93 Abs. 1 Satz 1 sowie Satz 2 und Abs. 2 AktG (jeweils ggf. i. V. m. § 116 Satz 1 AktG). Eine Erweiterung dieser beschränkten haftungsrechtlichen Relevanz von im DCGK enthaltenen Corporate Governance-Regeln durch Bezugnahme auf sie im Anstellungsvertrag des Vorstandsmitglieds68 ist nicht möglich, da die Beantwortung der Frage, ob es neben § 93 Abs. 2 AktG einen Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB gibt, der aber (in Anspruchskonkurrenz) den Sonderregeln von § 93 AktG unterliegt, oder ob § 93 AktG zugleich die Vertragshaftung normiert, praktisch folgenlos ist69.

XIII. Problem der ausdrücklichen Erklärung der Nichtbefolgung der Kodex-Bestimmungen Fraglich ist, ob das gefundene Zwischenergebnis einer beschränkten haftungsrechtlichen Relevanz der Kodex-Bestimmungen auch gilt, wenn die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG ganz oder teilweise „negativ“ ausfällt, also erklärt wird, dass die Empfehlungen des DCGK ganz oder teilweise nicht befolgt werden. Zum Teil wird pauschal argumentiert, dann scheide – weil sich die Organmitglieder konsistent verhielten – eine Haftung aus, da der Kodex offen missachtet werde70. Richtig daran ist, dass die haftungsrechtlichen Konsequenzen eines Verstoßes gegen Kodex-Bestimmungen nicht so weit gehen dürfen, dass die in § 161 AktG vorgesehene Möglichkeit des „opting out“ konterkariert wird. Jedoch lässt sich die normativ vorgesehene Ausstiegsmöglichkeit nicht ohne weiteres mit dem Hinweis auf den „Respekt vor der privatautonomen Unternehmensführung“71 so verstehen, als eröffne der „Ausstieg“ aus den Kodex-Bestimmungen den „Ausstieg“ aus einer inhaltlich möglicherweise an den Kodexbestimmungen orientierten Organhaftung. Der bloße (fragliche) Hinweis auf den Charakter der Kodex-Bestimmungen als soft law sowie der Hinweis auf die Möglichkeit einer privatautonomen Entscheidung für oder gegen die Kodex-Bestimmungen eröffnen nicht auch schon die Möglichkeit einer Modifizierung des Umfangs oder des Maßstabs einer Organhaftung nach §§ 93, 116 AktG. Fraglich bleibt nämlich, wieweit die durch § 161 AktG eröffnete Dispositionsmöglichkeit überhaupt geht.

__________ 68 Dazu Sester (Fn. 21), § 161 AktG Rz. 57. 69 Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 AktG Rz. 21; Hüffer (Fn. 11), § 93 AktG Rz. 11. 70 In diese Richtung gehend Sester (Fn. 21), § 161 AktG Rz. 60; Hüffer (Fn. 11), § 116 AktG Rz. 26 f. 71 So Sester (Fn. 21), § 161 AktG Rz. 60.

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Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Standards?

Jedenfalls dann, wenn die Kodex-Bestimmungen Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung widerspiegeln oder konkretisieren, kann eine „negative“ Entsprechenserklärung nicht haftungseinschränkend oder gar haftungsausschließend wirken. Vielmehr handelt es sich insofern bei §§ 93, 116 AktG um einen objektiven Rahmen, der nicht – auch nicht im Wege einer „negativen“ Entsprechenserklärung – zur Disposition der Organe und von deren Mitgliedern steht72. Lässt sich nicht feststellen, dass Kodex-Bestimmungen zu diesen Grundsätzen gehören, kommt bei einer „negativen“ Entsprechenserklärung eine Haftung, die sich ausschließlich auf eine Verletzung der Kodex-Bestimmung stützt, allerdings nicht in Betracht. Das gilt auch, wenn sich einzelne Kodex-Bestimmungen nach den oben angestellten Überlegungen schon zu Handelsbrauch ausbilden, denn ein Ausschluss des Handelsbrauchs unterliegt der Parteiautonomie73.

XIV. Paradigmenwechsel durch die Neufassung von § 161 AktG? Nach § 289a HGB i. d. F. des RegE BilMoG haben bei börsennotierten und solchen Aktiengesellschaften, die andere Wertpapiere als Aktien am organisierten Markt zum Handel ausgegeben haben und auf eigene Veranlassung Aktien über ein multilaterales Handelssystem handeln, die Adressaten der Rechnungslegung zukünftig wesentlich umfangreicher über die Corporate Governance und die Unternehmensführungspraktiken in einer sogenannten „Erklärung zur Unternehmensführung“ zu informieren. Ferner haben nach der Neufassung von § 161 AktG künftig Vorstand und Aufsichtsrat Abweichungen von KodexEmpfehlungen zu begründen74. Fraglich ist, ob diese neue Begründungspflicht in Hinblick auf die oben angestellten Überlegungen einen Paradigmenwechsel herbeiführen kann. Festzuhalten bleibt zunächst, dass die Möglichkeit des „opting out“ weiterhin besteht, wenn auch der Ausstieg nunmehr begründungspflichtig ist. Auch ändert die Begründungspflicht als solche nichts an dem oben festgestellten Charakter der Kodex-Bestimmungen. Jedoch schränkt die Begründungspflicht die Möglichkeit der privatautonomen Abweichung von den Kodex-Bestimmungen ein. Es macht faktisch und rechtlich einen Unterschied, ob von Standards ohne oder mit Begründung abgewichen werden kann. Das betrifft zum einen das erkenntnispsychologische Phänomen, dass eine „bewusste“ (da begründungspflichtige) Entscheidung etwas anderes ist als eine zwar auch „vorsätzlich“ getroffene Entscheidung, deren einzelne Voraussetzungen und Folgen aber dennoch partiell unreflektiert sein mögen. Auch rechtlich ist die Begründungspflicht über die bloße Statuierung dieser Pflicht als solche hinausgehend von Bedeutung: Zur Begründung der Abwei-

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72 Lutter (Fn. 23), § 161 AktG Rz. 82. 73 Kort (Fn. 50), § 346 HGB Rz. 27. 74 Dazu Kuthe/Geiser, NZG 2008, 172, 173; Theusinger/Liese, DB 2008, 1419, 1422 f.

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chung von Kodex-Bestimmungen können selbstverständlich nur rechtlich zulässige Gründe herangezogen werden. Der Inhalt der Begründung für die Abweichung kann daher seinerseits haftungsrechtlich von Bedeutung sein, wenn sich die Begründung auf rechtswidrige Überlegungen oder Argumente stützt. Eine solche auf rechtswidrige Motive oder Überlegungen gestützte Begründung für die Abweichung mag später für die Abwägung herangezogen werden, ob das in der Ausstiegsbegründung „angekündigte“ Verhalten zu einem gegen das Organmitglied gerichteten Anspruch aus §§ 93, 116 AktG führt. Im übrigen aber bedeutet die Neufassung des § 161 AktG für die hier angestellten Überlegungen keinen Paradigmenwechsel. Das gilt insbesondere auch für die im Ergebnis zu verneinende Frage nach der Verfassungswidrigkeit von § 161 AktG bzw. der Bindungswirkung der Kodex-Bestimmungen. Zwar wurde im Laufe der diesbezüglichen Diskussion u. a. das Argument angeführt, die Möglichkeit begründungsfreier Abweichung von den Kodex-Bestimmungen spreche gegen die Verfassungswidrigkeit75. Hierbei handelte es sich jedoch bloß um ein weiteres, nicht entscheidendes Argument. Auch nach Einführung der Begründungspflicht bleibt § 161 AktG verfassungsgemäß. Entscheidend für die Verfassungsmäßigkeit ist nämlich die fortbestehende Möglichkeit des teilweisen oder gänzlichen „Ausstiegs“.

XV. Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Verhaltensstandards für nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen? Steht somit fest, dass Corporate Governance-Grundsätze weitgehend unabhängig von der Abgabe und vom Inhalt einer Entsprechenserklärung haftungsrechtlich relevante Verhaltensstandards bilden können, fragt sich, ob das auch für nicht kapitalmarktorientierte AG und für GmbH gilt76. Der Kodex führt hierzu lediglich – eher missverständlich – aus, die Regeln gälten „in erster Linie“ für börsennotierte AG. Hiergegen spricht, dass sich nach § 161 AktG die im Deutschen Corporate Governance Kodex enthaltenen Regeln gerade nicht an nicht kapitalmarktorientierte AG und an GmbH richten. Es besteht daher zumindest prima facie kein Anlass anzunehmen, dass der Kodex auch für nicht börsennotierte Unternehmen (bzw. sonstige in § 161 AktG n. F. genannte Unternehmen) haftungsrechtlich relevante Standards setzen kann77. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund der Überlegung, dass Haftungsregeln aus Rechtssicherheitsgründen ein Mindestmaß an Deutlichkeit, und zwar auch und gerade hinsichtlich des Kreises ihrer Destinatäre, aufweisen müssen.

__________ 75 So Ringleb (Fn. 19), Rz. 54. 76 In diese Richtung gehend Bürkle, BB 2007, 1800, 1801; Campos Nave/Bonenberger, BB 2008, 734, 735. 77 Zurückhaltend auch Buck-Heeb in FS Harm Peter Westermann, 2008, S. 845, 852 f.; sehr kritisch Bernhardt, BB 2008, 1686, 1691.

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Corporate Governance-Grundsätze als haftungsrechtlich relevante Standards?

Dennoch wird bisweilen angenommen, dass Corporate Governance-Grundsätze auch für nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen von Bedeutung sein können78. So wird ihnen teilweise ein „Ausstrahlungswirkung“ auf größere GmbH beigemessen79. Richtig hieran ist, dass im Grundsatz etwa auch im GmbH-Recht versucht wird, z. B. die Verhaltensanforderungen an die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters mit Hilfe konkretisierender Regelwerke zu erfassen. So kann nach Zöllner und Noack der Kodex für große GmbH indirekte Bedeutung haben, soweit dort allgemeine Organpflichten, etwa im Hinblick auf die ordnungsgemäße, arbeitsteilige Führung eines Unternehmens, angesprochen sind80. Fraglich ist allerdings, inwiefern diese Wirkung tatsächlich (erst) aus der Aufnahme derartiger Regeln in den Kodex folgt. Angesichts der oben zur Rechtsnatur der Kodex-Bestimmungen angestellten Überlegungen spricht viel dafür, ihnen für nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen keine besondere Wirkung beizumessen. Viele der Kodex-Bestimmungen enthalten nämlich aus Sicht kleinerer AG oder aus Sicht von GmbH nicht eine sehr weitgehend praktizierte und dauerhafte Übung. Es mag – etwa in der Praxis der GmbH – zwar in Bezug auf einzelne Verhaltensweisen vereinzelt eine langjährige Übung geben, diese hat sich dann aber außerhalb des Kodex gebildet und beruht nicht auf dem Kodex. Der Kodex ist insofern mithin nicht Basis einer derartigen Übung, sondern greift sie bloß auf. Auch gibt es in Bezug auf die „Akzeptanz“ der Kodex-Regeln durch nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen keine Erhebungen, die darauf hindeuten, dass die Kodex-Bestimmungen bei nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen einen ähnlich hohen Akzeptanzgrad erreichen würden wie bei kapitalmarktorientierten AG. Im Gegenteil zeigen empirische Erhebungen, dass der Akzeptanzgrad mit der Größe eines Unternehmens abnimmt. Dasselbe dürfte für „geringer strukturierte“ Rechtsformen wie nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen gelten. Dieser Befund kann nicht erstaunen: Wegen des Fehlens einer § 161 AktG vergleichbaren Verpflichtung zur Entsprechenserklärung besteht bei nicht kapitalmarktorientierten AG sowie bei GmbH kein rechtlicher Grund, sich en detail jährlich mit den Kodex-Bestimmungen zu beschäftigen. Dementsprechend besteht auch keine diesbezügliche Übung. Auch besteht die oben aufgezeigte Nähe der Kodex-Bestimmungen zu technischen Regelwerken nicht in der selben Weise für nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen, da diese Unternehmen zwar Destinatäre entsprechender technischer Regelwerke sein mögen, aber gerade keine Destinatäre der Kodex-Bestimmungen sind. Auch Überlegungen zum Gebot einer rechtsform- und realformbezogenen Differenzierung gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen sprechen dagegen, den

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78 In diese Richtung gehend Zöllner/Noack (Fn. 3), § 43 GmbHG Rz. 19. 79 Haas in Michalski, GmbHG, 2002, § 43 GmbHG Rz. 66. 80 Zöllner/Noack (Fn. 3), vor § 35 GmbHG Rz. 13.

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Kodex-Bestimmungen als solchen eine haftungsrechtlich relevante Standardbildungsfunktion außerhalb des Bereichs kapitalmarktorientierter AG zuzusprechen. Ein Blick in den Kodex zeigt deutlich, dass jedenfalls das Gros seiner Bestimmungen für kleinere oder Familien-Unternehmen, die oft in der Form von GmbH oder nicht kapitalmarktorientierten AG verfasst sind, schlicht nicht „passt“. De lege ferenda ist diesbezüglich vielmehr an einen eigenen Kodex zu denken81. Als Fazit ist festzuhalten, dass zwar allgemeine Überlegungen zur Bedeutung guter Corporate Governance haftungsrechtlich relevante Standards für das Organhandeln auch im Recht der nicht kapitalmarktorientierten AG und im GmbH-Recht „zu Tage fördern“ mögen, nicht aber die Kodex-Bestimmungen als solche. Die „Idee der Corporate Governance“ kann, wie Zöllner und Noack zutreffend ausführen, etwa auch im GmbH-Recht Anforderungen an die Organisation und Arbeitsweise der Leitungs- und Kontrollgremien in haftungsrechtlich relevanter Weise stellen82. „Legal transplants“ der Kodex-Bestimmungen in das GmbH-Recht verbieten sich hingegen. Die Kodex-Bestimmungen mögen die Diskussion der Corporate Governance im Recht nicht kapitalmarktorientierter AG und im GmbH-Recht zwar anregen, sie lassen sich aber weder partiell noch gar in toto aus dem Recht der kapitalmarktorientierten AG auf die nicht kapitalmarktorientierte AG oder die GmbH übertragen.

XVI. Ergebnisse 1. § 161 a. F. und n. F. AktG sowie die Kodex-Bestimmungen sind nicht verfassungswidrig. 2. Die Kodex-Bestimmungen sind als soft law den technischen Regelwerken privater Expertengremien ähnlich. 3. Einzelne Bestimmungen des Kodex oder der Kodex insgesamt könnten sich für kapitalmarktorientierte AG in Kürze zum Handelsbrauch (oder zu einer Verkehrssitte) entwickeln. 4. Die Kodex-Bestimmungen haben weitgehend unabhängig von der „Tendenz“ und dem Inhalt der Entsprechenserklärung eine – wenn auch beschränkte – Wirkung als haftungsrelevante Standards für Organmitglieder kapitalmarktorientierter AG. 5. Für nicht § 161 AktG unterfallende Unternehmen kommt den Kodex-Bestimmungen allenfalls insofern eine haftungsrechtliche Bedeutung zu, als sie ohnehin bestehende Standards ordnungsgemäßer Unternehmensführung konkretisieren.

__________ 81 Dazu Buck-Heeb in FS Harm Peter Westermann, 2008, S. 845, 853 ff. 82 Zöllner/Noack (Fn. 3), vor § 35 GmbHG Rz. 14; insofern ähnlich Buck-Heeb in FS Harm Peter Westermann, 2008, S. 845, 858 f.

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Gerhart Kreft

Vergleich über Anfechtungsansprüche Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Anfechtungsanspruch als Vergleichsgegenstand III. Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen IV. Voraussetzungen für den Abschluss eines Vergleichs über den Anfechtungsanspruch 1. Sachlich überzeugender Grund a) Begründetheit des Anfechtungsanspruchs aa) Durchsetzungsschwierigkeiten bei der Vollstreckung

bb) Unzureichende finanzielle Ausstattung der Masse b) Zweifelhaftigkeit des Anfechtungsanspruchs 2. Ermessensspielraum des Insolvenzverwalters V. Darlegungs- und Beweislast für Pflichtwidrigkeit und Verschulden des Insolvenzverwalters VI. Zustimmung des Gläubigerausschusses oder der Gläubigerversammlung

I. Einleitung Das Thema betrifft einen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der Handlungen des Insolvenzverwalters, die mit einschneidenden Folgen für die am Insolvenzverfahren Beteiligten verbunden sein können, wegen ihrer nicht unerheblichen Haftungsrisiken vor allem für den Insolvenzverwalter. Halten Insolvenzgläubiger die vom Insolvenzverwalter getroffene Entscheidung, sich mit einem (potentiellen) Anfechtungsgegner zu vergleichen und in Höhe eines mehr oder weniger großen Teils des (möglichen) Anfechtungsanspruchs von dessen Geltendmachung abzusehen, für unrichtig, können sie versuchen, beim Insolvenzgericht die Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters zu erwirken1, aufgrund eines von diesem zu erstattenden Gutachtens gemäß § 59 Abs. 1 InsO die Entlassung des Insolvenzverwalters durchzusetzen und/oder Schadensersatzansprüche gegen ihn geltend zu machen2 oder unter dem Gesichts-

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1 Zur Möglichkeit der Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters BGHZ 165, 96, 99 = ZIP 2006, 36, 37; BGH, NZI 2006, 474, 475 Tz. 11; ZIP 2007, 548, 550 Tz. 22; 2007, 547, 548 Tz. 5; 2008, 1243, 1245 Tz. 16; 2008, 1294 f. Tz. 6, 13, 14; AG Göttingen, ZIP 2006, 629, 630; Lüke, ZIP 2004, 1693 ff.; Graeber/Pape, ZIP 2007, 991 ff.; Frege, Der Sonderinsolvenzverwalter, 2008, Rz. 49 ff. 2 Brandes in MünchKomm.InsO, Band 1, 2. Aufl. 2007, §§ 60, 61 InsO Rz. 116, § 92 InsO Rz. 5, 6; Müller in Jaeger, Insolvenzordnung, hrsg. von Henckel und Gerhardt, Zweiter Band, 2007, § 92 InsO Rz. 43; Lohmann in Kreft (Hrsg.), Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 5. Aufl. 2008, § 60 InsO Rz. 7; Kayser in Kreft, a. a. O., § 92 InsO Rz. 8.

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punkt der Unwirksamkeit des Vergleichs wegen Insolvenzzweckwidrigkeit3 den Anfechtungsanspruch trotz des Vergleichs einzuklagen. Auf diese Weise können das Insolvenzverfahren verzögert, die Masse von zusätzlichen Kosten betroffen und Insolvenzverwalter sowie Gläubiger und sonstige Verfahrensbeteiligte mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Mühe belastet werden. Der Insolvenzverwalter läuft darüber hinaus Gefahr, an Ansehen auch dann zu verlieren, wenn sich sein Handeln am Ende als ordnungsgemäß erweist. Diese möglichen Auswirkungen eines Vergleichs über Anfechtungsansprüche lassen es geboten erscheinen, Zulässigkeit und Grenzen eines solchen Vergleichs näher zu untersuchen, um insbesondere letztlich erfolglosen Angriffen gegen derartige Vergleiche vorzubeugen und die Verfahrensbeteiligten vor unnötigen Beeinträchtigungen zu bewahren.

II. Der Anfechtungsanspruch als Vergleichsgegenstand Dass der Insolvenzverwalter sich über Anfechtungsansprüche, genauer: anfechtungsrechtliche Rückgewähransprüche nach § 143 InsO, vergleichen kann, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt4; dazu zählen auch Anfechtungsansprüche aus § 135 InsO und Ansprüche aus dem übrigen Eigenkapitalersatzrecht5. Es liegt nicht anders als bei sonstigen Ansprüchen der Masse, über die sich der Insolvenzverwalter unzweifelhaft vergleichen kann6. Unwirksam ist ein solcher Vergleich – sofern es an Willensmängeln (§§ 116 ff. BGB), einem Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) oder einer Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) fehlt – nur unter den Voraussetzungen einer Insolvenzzweckwidrigkeit7. Diese liegt vor, wenn der Widerspruch zum Insolvenzzweck (hier: der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger des insolventen Schuldners, § 1 Satz 1 InsO) unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten für jeden verständigen Beobachter ohne weiteres ersichtlich ist und sich dem Geschäftspartner auf Grund der Umstände des Einzelfalls ohne weiteres begründete Zweifel an der Vereinbarkeit der Hand-

__________ 3 Vgl. BGHZ 150, 353, 360 f. = ZIP 2002, 1093, 1095. Vgl. Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze KO/VglO/GesO, 17. Aufl. 1997, § 36 KO Anm. 1; Hirte in Uhlenbruck (Hrsg.), Insolvenzordnung, 12. Aufl. 2003, § 129 InsO Rz. 11. 4 BGH, ZIP 1995, 1204, 1205, insoweit in BGHZ 130, 38 nicht abgedruckt; BGHZ 155, 199, 200 = ZIP 2003, 1554, 1555 (der Vergleich hat regelmäßig keine schuldumschaffende Wirkung); Henckel in Jaeger (Fn. 2), Vierter Band, 2008, § 129 InsO Rz. 284; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3) § 36 KO Anm. 1; Jacoby in Bork (Hrsg.), Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, 2006, Kap. 12 Rz. 7, 10. 5 J.-S. Schröder in A. Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2007, § 135 InsO Rz. 107; vgl. auch Karsten Schmidt, KTS 2001, 373, 379. 6 Vgl. etwa BAG, ZIP 2008, 846, 847, z.V.b. in BAGE (zu § 93 InsO: Befugnis des Insolvenzverwalters zum Abschluss eines Vergleichs unter teilweisem Forderungserlass mit dem persönlich haftenden Gesellschafter auch zu Lasten der Gesellschaftsgläubiger; bestätigende Revisionsentscheidung zu LAG Berlin, ZIP 2007, 1420 f.); Gerhardt in Jaeger (Fn. 2), § 60 InsO Rz. 33, 80 unter Hinweis auf BGH, ZIP 1993, 1886, 1891, insoweit in BGHZ 124, 27 nicht abgedruckt. 7 Vgl. Gerhardt (Fn. 6), § 60 InsO Rz. 33.

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lung mit dem Zweck des Insolvenzverfahrens aufdrängen mussten, ihm also zumindest grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist8.

III. Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen Grundsätzlich ist der Insolvenzverwalter gehalten, Ansprüche der Masse gegen Dritte durchzusetzen. Dazu gehören auch Anfechtungsansprüche9. Unterlässt es der Insolvenzverwalter, einen Erfolg versprechenden Anfechtungsanspruch gerichtlich geltend zu machen, läuft er Gefahr, sich insbesondere gegenüber den Insolvenzgläubigern, aber auch gegenüber Massegläubigern und dem Schuldner, als Beteiligten10 gemäß § 60 Abs. 1 InsO schadensersatzpflichtig zu machen. Der Schaden wird regelmäßig ein die Beteiligten insgesamt treffender, nur von einem anderen Insolvenzverwalter durchzusetzender Gesamtschaden sein11. Ein einzelnen Gläubigern zugefügter Individualschaden12 wird kaum in Betracht kommen. Freilich ist die Pflicht zur Anspruchsdurchsetzung nicht schrankenlos. Es ist im Grundsatz anerkannt, dass dem Insolvenzverwalter wegen der mit seinem Amt verbundenen vielfältigen und schwierigen Aufgaben bei der Ausübung seiner Tätigkeit im Allgemeinen ein weiter – allerdings durch die Zwecke des Insolvenzverfahrens begrenzter – Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht13.

IV. Voraussetzungen für den Abschluss eines Vergleichs über den Anfechtungsanspruch Für den Abschluss eines Vergleichs kann es die unterschiedlichsten Motive geben. Im Folgenden soll versucht werden, typische Fallkonstellationen aufzuzeigen, die einen Vergleich des Insolvenzverwalters mit dem Anfechtungsgegner nahe legen können.

__________ 8 BGHZ 150, 353, 361 = ZIP 2002, 1093, 1095; BGHZ 174, 84, 99 f. = ZIP 2007, 2273, 2278 Tz. 42; BGH, ZIP 2008, 884 f. = NZI 2008, 365 m. zust. Anm. Rein; ähnlich BAG, NZI 2006, 310, 311; vgl. auch Windel in Jaeger (Fn. 2), § 80 InsO Rz. 252 ff. 9 Bork, ZIP 2005, 1120; Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO Rz. 12; Gerhardt (Fn. 6), § 60 InsO Rz. 24, 30; Klopp/Kluth in Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2006, § 23 Rz. 18; Lüke in Kübler/Prütting (Hrsg.), Kommentar zur Insolvenzordnung, Loseblatt, § 60 InsO Rz. 26, 31. 10 Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO Rz. 68; Lohmann (Fn. 2), § 60 InsO Rz. 5, 10; Lüke (Fn. 9), § 60 InsO Rz. 22 ff.; Uhlenbruck in Uhlenbruck (Fn. 3), § 60 InsO Rz. 12–20; G. Fischer, WM 2004, 2185, 2188. 11 Vgl. Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO Rz. 116; Gerhardt (Fn. 6), § 60 InsO Rz. 127, 128 ff.; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 6.38; Lüke (Fn. 9), § 60 InsO Rz. 30 f.; auch BGHZ 159, 25, 26; BGH, ZIP 1993, 1886, 1887. 12 Vgl. Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO vor Rz. 33, Rz. 33, 118; Gerhardt (Fn. 6), § 60 InsO Rz. 128; Häsemeyer (Fn. 11), Rz. 6.38; Lüke (Fn. 9), § 60 InsO Rz. 30. 13 BGHZ 150, 353, 360 = ZIP 2002, 1093, 1095; Bork, ZIP 2005, 1120, 1121; Förster, ZInsO 2001, 391, 392; Gerhardt (Fn 6), § 60 InsO Rz. 80; Häsemeyer (Fn. 11), Rz. 13.22; vgl. auch Weitzmann in A. Schmidt (Fn. 5), § 60 InsO Rz. 29.

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1. Sachlich überzeugender Grund Kardinalvoraussetzung für einen Vergleichsschluss ist ein sachlich überzeugender Grund. Fehlt es an einem solchen Grund, hat der Insolvenzverwalter den Anfechtungsanspruch regelmäßig in vollem Umfang durchzusetzen, will er sich nicht dem haftungsträchtigen Vorwurf aussetzen, die Masse nicht sorgfältig verwertet zu haben. a) Begründetheit des Anfechtungsanspruchs Bestehen an der Begründetheit des Anfechtungsanspruchs bei objektiver Beurteilung der Sach- und Rechtslage, die von jedem Insolvenzverwalter zu erwarten ist, aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen keine ernsthaften Zweifel, hat er den Anfechtungsanspruch regelmäßig geltend zu machen. Es gibt freilich insbesondere zwei Gründe, die den Insolvenzverwalter gleichwohl veranlassen können, von der Erwirkung eines Titels abzusehen und einen Vergleich anzustreben. aa) Durchsetzungsschwierigkeiten bei der Vollstreckung Ein Titel ist für die Masse ohne Wert, wenn der Anfechtungsgegner sich finanziell in einer derart beengten Lage befindet, dass eine Zwangsvollstreckung keinen Erfolg verspricht. Dies wird im Allgemeinen nicht zutreffen, wenn der Anfechtungsgegenstand noch zum Vermögen des Anfechtungsgegners gehört. Dann kann – bei Ansprüchen auf Rückgewähr in Natur ggf. nach Ausbringung einer einstweiligen Verfügung14 – unmittelbar auf ihn zugegriffen werden; im Fall der Insolvenz des Anfechtungsgegners unterliegt er der Aussonderung15. Anders ist es jedoch, wenn der Anfechtungsanspruch auf Geld gerichtet ist, etwa weil der Anfechtungsgegner schon im Zeitpunkt der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über sein Vermögen nur Wertersatz zu leisten hätte und ein Aussonderungsrecht nicht bestünde16. Zwar kommt hier zur Sicherung grundsätzlich ein dinglicher Arrest in Betracht17. Doch ist zu bedenken, dass eine schlechte Vermögenslage und die Gefahr, dass andere Gläubiger auf das Vermögen zugreifen, für sich allein einen Arrest nicht rechtfertigen, sondern dass ein Arrestgrund erst zu bejahen ist, wenn befürchtet werden muss, der Anfechtungsgegner werde pfändbare Vermögensgegenstände dem Zugriff der Gesamtheit seiner Gläubiger entziehen18. Deswegen kann bei einem auf Geld gerich-

__________ 14 Henckel (Fn. 4), § 143 InsO Rz. 181; Kirchhof in MünchKomm.InsO (Fn. 2), Band 2, 2008, § 146 InsO Rz. 44; vgl. auch BGHZ 172, 360, 363 ff. = ZIP 2007, 1577, 1578 ff., zum richterlichen Verfügungsverbot nach § 938 Abs. 2 ZPO. 15 BGHZ 156, 350, 359 ff.; Henckel (Fn. 4), § 143 InsO Rz. 77 ff., insbesondere 83–86; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 29 KO Anm. 7; Kirchhof (Fn. 14), Vor §§ 129 bis 147 InsO Rz. 23, § 143 InsO Rz. 20a, § 145 InsO Rz. 15. 16 BGHZ 155, 199, 203; Henckel (Fn. 4), § 143 InsO Rz. 77; Kirchhof (Fn. 14), § 143 InsO Rz. 20a. 17 Henckel (Fn. 4), § 143 InsO Rz. 181; Kirchhof (Fn. 14), § 146 InsO Rz. 44. 18 BGHZ 131, 95, 105 ff. = WM 1996, 25, 29.

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teten Anfechtungsanspruch und finanziell beengten Vermögensverhältnissen des Anfechtungsgegners ein Vergleich auch bei einem zweifelsfrei bestehenden Anfechtungsanspruch das gebotene Mittel sein, um wenigstens einen Teil des Anfechtungsanspruchs für die Masse zu realisieren. Zutreffend hat der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit der Beurteilung eines Vergleichs als unentgeltliche Leistung i. S. v. § 134 InsO ausgeführt, die Begründetheit einer Forderung und das Risiko ihrer Durchsetzung (im konkreten Fall allerdings bei objektiv ungewisser Sach- und Rechtslage) beträfen verschiedene Ebenen und schlössen es nicht aus, in einer vergleichsweise vereinbarten Regelung keine unentgeltliche Leistung zu sehen19. Das ist auf die hier behandelte Fallgestaltung zu übertragen. bb) Unzureichende finanzielle Ausstattung der Masse Ein Vergleich über einen zweifelsfrei bestehenden Anfechtungsanspruch kann ferner gerechtfertigt oder geboten sein, wenn die Masse finanziell so schlecht gestellt ist, dass sie die Kosten für einen Anfechtungsprozess nicht aufbringen kann. Allerdings kommt hier grundsätzlich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe in Betracht. Aber diese ist auch bei zweifelloser Begründetheit des Anfechtungsanspruchs nicht immer gewährleistet. Denn nach § 116 Satz 1 Nr. 1 ZPO ist neben der Bedürftigkeit der Masse, die bei Masseunzulänglichkeit grundsätzlich gegeben ist20, Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Insolvenzverwalter als Partei kraft Amtes, dass den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten nicht zuzumuten ist, die Kosten aufzubringen. Nur wenn eine solche Unzumutbarkeit eindeutig bejaht werden kann, ist dem Insolvenzverwalter, der die Kosten aus der Insolvenzmasse nicht aufzubringen vermag, bei begründetem Anfechtungsanspruch ohne weiteres Prozesskostenhilfe zu gewähren. Die Bewilligungsvoraussetzung der Unzumutbarkeit der Kostenaufbringung seitens der an dem Gegenstand des Anfechtungsrechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten kann indes mit nicht unerheblichen Auslegungsschwierigkeiten verbunden sein. Wirtschaftlich beteiligt sind grundsätzlich diejenigen Gläubiger, deren Befriedigungsaussichten sich dadurch konkret verbessern, dass der Insolvenzverwalter obsiegt21. Bei zulänglicher Masse sind dies danach lediglich Insolvenzgläubiger, nicht hingegen Massegläubiger22. Bei einer Masseunzulänglichkeit, die auch bei einem Erfolg der Anfechtungsklage nicht beseitigt wird, sind lediglich Massegläubiger und hier vor allem Neumassegläubiger wirtschaftlich beteiligt, während eine wirtschaftliche Beteiligung der Insolvenzgläubiger, aber nicht selten auch der Altmassegläubiger23, ausscheidet24. Beide Arten von Gläubigern können

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19 BGH, ZIP 2006, 2391, 2393 Tz. 21. 20 BGH, ZIP 2007, 2187, 2188; ZInsO 2008, 378; ZIP 2008, 1035, 1036; BAG, ZIP 2003, 1947 f.; BVerwG, ZIP 2006, 1542, 1543 Tz. 4. 21 BGH, ZIP 1990, 1490. 22 Vgl. BFH, ZInsO 2005, 1216 (zwar wirtschaftlich beteiligt, Kostenaufbringung aber unzumutbar). Vgl. auch Uhlenbruck (Fn. 10), § 80 InsO Rz. 79. 23 Dazu BGH, ZIP 2007, 2187, 2188 Tz. 9. 24 Vgl. BGH, ZIP 2005, 1519 (Unzumutbarkeit der Kostenbeteiligung).

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jedoch zu den wirtschaftlich Beteiligten gehören, wenn bei Masseunzulänglichkeit durch einen Erfolg der Anfechtungsklage Massezulänglichkeit wieder hergestellt wird und daher die Befriedigungsaussichten aller Gläubiger konkret verbessert werden. Aber auch wenn Gläubiger zu den wirtschaftlich Beteiligten gehören, weil sie bei einem Erfolg des Anfechtungsprozesses wenigstens mit einer teilweisen Befriedigung ihrer Ansprüche rechnen können25, ist damit die Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch diese Gläubiger noch nicht beantwortet. So ist nach der Rechtsprechung die Kostenaufbringung in der Regel nicht zumutbar für Arbeitnehmer oder Träger der Arbeits- und der Sozialverwaltung26. Das Gleiche gilt für den Fall der Masseunzulänglichkeit für den Insolvenzverwalter wegen seiner Vergütungsansprüche; aufgrund der von ihm im öffentlichen Interesse wahrgenommenen Aufgabe der Abwicklung eines geordneten Insolvenzverfahrens wird er nicht einmal zu den wirtschaftlich Beteiligten gerechnet27. Im Übrigen ist die Zumutbarkeit der Kostenaufbringung durch wirtschaftlich beteiligte Gläubiger grundsätzlich anhand einer wertenden Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Hierbei sind insbesondere die im Fall des Obsiegens zu erwartende Quotenverbesserung, die nach verbreiteter Meinung deutlich über den zu finanzierenden Prozesskosten liegen muss28, das Prozess- und Vollstreckungsrisiko (das erste ist im vorliegenden Zusammenhang – fraglos begründeter Anfechtungsanspruch – zu verneinen) und die Gläubigerstruktur zu berücksichtigen29. Gläubiger kleinerer Forderungen werden regelmäßig ebenso wenig zur Aufbringung der Kosten heranzuziehen sein wie solche, deren Forderungen wegen vorrangiger Ansprüche keine Befriedigung fänden30. Nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung kann dem Insolvenzverwalter selbst bei mehreren Großgläubigern (konkret: fünf) Prozesskostenhilfe zu bewilligen sein, wenn es für ihn mit einem hohen Koordinationsaufwand verbunden ist, diese Gläubiger, von denen nach der Lebenserfahrung jeder einzelne auf die Finanzierung der Kosten durch die anderen vertraut, zu einem gemeinsamen Kostenvorschuss zu bewegen, und deshalb eine Prozessfinanzierung durch die wirtschaftlich Beteiligten wenig wahrscheinlich ist. In einem solchen Fall kann unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Rechtsverfolgung des Insolvenzverwalters im Rahmen eines geordneten Insolvenzverfahrens grundsätzlich ein eigenständiges, schutzwürdiges Interesse beizumessen ist, auch die wertende Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls zu dem Ergebnis führen, dass es den wirtschaftlich Beteiligten nicht zuzumuten ist, die Prozesskosten aufzubringen31.

__________ 25 BGHZ 119, 372, 377 = ZIP 1992, 1644, 1646; BGH, ZIP 1998, 1645; Kreft in Kreft (Fn. 2), § 129 InsO Rz. 103. 26 BGHZ 119, 372, 378 = ZIP 1992, 1644, 1646; BGH, ZIP 1990, 1490 f.; ZIP 1997, 1553, 1554; ZIP 2006, 682, 684. 27 BGH, ZIP 1998, 297, 298; ZIP 2003, 2036; ZIP 2005, 1519; abweichend BFH, ZInsO 2005, 1216 (zwar wirtschaftlich beteiligt, Kostenaufbringung aber unzumutbar). 28 BVerwG, ZIP 2006, 1542, 1544 Tz. 10; OLG Nürnberg, ZInsO 2005, 102, 103 f. 29 BGH, ZIP 2006, 682, 684 Tz. 15; ZIP 2007, 2187, 2188 Tz. 9. 30 BVerwG, 2006, 1542, 1544 Tz. 10. 31 BGH, ZIP 2006, 682, 684 Tz. 15.

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Die Frage, ob der Insolvenzverwalter für eine zweifelsfrei begründete Anfechtungsklage Prozesskostenhilfe erhält, kann mithin nicht selten schwierig zu beantworten sein. Oft wird erst eine gerichtliche Entscheidung Klarheit schaffen. Sicher kann der Insolvenzverwalter nur dann mit der Bewilligung von Prozesskostenhilfe rechnen, wenn sich eindeutig bejahen lässt, dass den an einem Anfechtungsrechtstreit wirtschaftlich Beteiligten eine Kostenaufbringung unzumutbar ist. Steht umgekehrt bereits im Vorfeld eines Prozesskostenhilfeverfahrens fest, dass wirtschaftlich Beteiligte für die Kosten aufzukommen haben, wird im Allgemeinen kaum Aussicht bestehen, Prozesskostenhilfe zu erlangen. Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich im Wesentlichen nur um einen (Groß-)Gläubiger handelt, dem die Aufbringung der Kosten zuzumuten ist. Ein Rechtsstreit des Insolvenzverwalters ist in einem solchen Fall nur möglich, wenn der Gläubiger tatsächlich bereit ist, die Kosten vorzuschießen. Es dürfte kaum Mittel geben, ihn zum Vorschuss der Kosten zu zwingen. Ein schuldrechtlicher Anspruch auf Kostenvorschuss wird kaum jemals bestehen. Ob Schadensersatzansprüche der (Insolvenz- und/oder Masse-)Gläubiger aus § 826 BGB wegen einer in der Nichtzahlung des Kostenvorschusses zu sehenden sittenwidrigen Schädigung denkbar sind, die der Insolvenzverwalter als Druckmittel gegen den betreffenden Gläubiger einsetzen könnte, wird nicht diskutiert und dürfte zu verneinen sein. Das Gleiche gilt für einen Anspruch aus Amtspflichtverletzung gemäß Art. 34 GG, § 839 BGB in Fällen, in denen dem Fiskus oder anderen öffentlichen Rechtsträgern als Gläubigern ein Kostenvorschuss zumutbar ist. Ein Anspruch aus Amtspflichtverletzung könnte hier allenfalls gegenüber dem handelnden Beamten oder – sofern der Insolvenzanspruch im Innenverhältnis nicht der Anstellungskörperschaft, sondern einem anderen Rechtsträger zusteht – gegenüber dessen Anstellungskörperschaft bestehen. Auch das ist jedoch nicht sicher. Erklärt ein solcher privater oder öffentlicher (Insolvenz- oder Masse-)Gläubiger, er werde einen Kostenvorschuss nicht zahlen, hat der Insolvenzverwalter deshalb grundsätzlich einen triftigen Grund, sich auch bei einem fraglos bestehenden Anfechtungsanspruch mit dem Anfechtungsgegner zu vergleichen, um den Anspruch wenigstens teilweise zu verwirklichen. Nicht ganz so eindeutig ist dies nach neuerer Rechtsprechung in Fällen, in denen mehreren (Groß-)Gläubigern ein Kostenvorschuss an sich zumutbar ist. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6.3.200632 erscheint es hier wegen des erheblichen „Koordinierungsaufwands“ des Insolvenzverwalters nicht ausgeschlossen, dass gleichwohl Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist. Ob ein entsprechendes Gesuch in der Praxis Erfolg haben wird33, dürfte sich im Vorfeld eines Prozesskostenhilfeverfahrens nicht immer leicht beurteilen lassen. Ist ein Misserfolg nicht auszuschließen, muss der Insolvenzverwalter damit rechnen, dass ein Kostenvorschuss nicht oder nur zum Teil gezahlt wird und ein Anfechtungsprozess ganz unterbleiben

__________ 32 BGH, ZIP 2006, 682, 684 Tz. 15. 33 Vgl. etwa OLG Hamm, ZInsO 2007, 1049, 1050.

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muss oder (zunächst) nur als Teilklage geführt werden kann34. Auch in einem solchen Fall erscheint unter Umständen ein Vergleich des Insolvenzverwalters mit dem Anfechtungsgegner im Vorfeld eines Prozesskostenhilfeverfahrens nicht von vornherein ausgeschlossen. Das gilt insbesondere dann, wenn der Anfechtungsgegner erklärt, zu einem Vergleich nur vor der Entscheidung über ein Prozesskostenhilfegesuch bereit zu sein, oder wenn es für den Insolvenzverwalter aus gewichtigen Gründen von Bedeutung ist, möglichst rasch zu Geld zu kommen und in der bis zu einer Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und danach über den Anfechtungsanspruch erfahrungsgemäß vergehenden Zeit nicht mehr auszugleichende erhebliche Nachteile für die Insolvenzmasse entstehen können. Allerdings werden bei einem zweifelsfrei bestehenden Anfechtungsanspruch derartige Fallgestaltungen nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Im Allgemeinen wird es dem Insolvenzverwalter anzusinnen sein, ein Prozesskostenhilfegesuch zu stellen und die Entscheidung des Gerichts abzuwarten. Lehnt das Gericht Prozesskostenhilfe ab und unterbleibt die Zahlung eines Kostenvorschusses, wird man dem Insolvenzverwalter in der Regel kaum zum Vorwurf machen können, sich im Vorfeld nicht um einen Vergleich bemüht zu haben, zumal wenn nicht auszuschließen war, dass zumindest ein nicht unerheblicher teilweiser Kostenvorschuss gezahlt werde. Denn wird ein zur Erhebung einer Teilklage ausreichender Kostenvorschuss erbracht und fließt aufgrund einer Verurteilung des Anfechtungsgegners Geld in die Masse, kann damit ggf. der weitergehende Anfechtungsanspruch – sofern noch nicht verjährt – gerichtlich geltend gemacht werden. Allgemein dürfte sich bei zweifelsfreier Begründetheit eines Anfechtungsanspruchs ein Vergleich im Vorfeld eines Prozesskostenhilfeverfahrens desto eher rechtfertigen lassen, je ungewisser die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Zahlung eines Prozesskostenvorschusses sind. Ohne besondere Gründe wird der Insolvenzverwalter jedoch um Prozesskostenhilfe nachzusuchen und die Entscheidung des Gerichts abzuwarten haben, weil er im Fall einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe (Solvenz des Anfechtungsgegners unterstellt) den gesamten Anfechtungsanspruch ohne weiteres durchsetzen kann. b) Zweifelhaftigkeit des Anfechtungsanspruchs Der Bestand eines Anfechtungsanspruchs kann aus rechtlichen und/oder aus tatsächlichen Gründen zweifelhaft sein. Aus rechtlichen Gründen ist ein Anfechtungsanspruch fraglos zweifelsfrei, wenn es zu der (den) durch seine Geltendmachung aufgeworfenen Rechtsfrage(n) eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gibt, die auch in der sonstigen Rechtsprechung anerkannt ist und im Schrifttum geteilt wird. Eine rechtliche Zweifelhaftigkeit kann ferner zu verneinen sein, wenn es zu der (den) Rechtsfrage(n) zwar höchstrichterliche Rechtsprechung nicht gibt, sich

__________ 34 Zur Möglichkeit einer Teilklage OLG Celle, ZIP 2008, 433 ff.

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aber unter den Instanzgerichten und in der Literatur eine übereinstimmende Meinung gebildet hat, die nicht in Frage gestellt wird. Ein Anfechtungsanspruch ist hingegen aus rechtlichen Gründen zweifelhaft, wenn es an einer entsprechenden höchstrichterlichen Rechtsprechung fehlt und die Frage(n) von den Instanzgerichten sowie im Schrifttum unterschiedlich beurteilt wird (werden). Auch kann trotz vorhandener höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Rechtsfrage gleichwohl zweifelhaft sein, etwa wenn es sich um ein vereinzeltes, schon längere Zeit zurück liegendes Urteil handelt und das Revisionsgericht in späteren Entscheidungen Vorbehalte zum Ausdruck gebracht hat, die darauf hindeuten, dass es die Rechtsfrage demnächst erneut überprüfen und möglicherweise anders beantworten wird35. Ist der Anfechtungsanspruch aus Rechtsgründen zweifelhaft, kommt grundsätzlich der Abschluss eines Vergleichs in Betracht, und zwar desto eher, je zweifelhafter die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage(n) ist und je geringer die Chancen für den Erfolg einer Klage sind. Ähnliches gilt, wenn die Durchsetzung eines Anfechtungsanspruchs aus tatsächlichen Gründen zweifelhaft ist. Das kann auf den unterschiedlichsten Gründen beruhen. So kann es an geeigneten Beweismitteln für den beweisbelasteten Insolvenzverwalter fehlen, Zeugen können der Gegenseite nahe stehen, so dass auch zugunsten des Insolvenzverwalters sprechende widerlegbare Vermutungen (vgl. § 130 Abs. 3, § 131 Abs. 2 Satz 2, § 132 Abs. 3, § 133 Abs. 2 Satz 2 Fall 2, § 137 Abs. 2 Satz 2 jeweils i. V. m. § 138 InsO) oder Indizien wie das einer inkongruenten Deckung für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und dessen Kenntnis36 keinen sicheren Erfolg versprechen. Es können Zeugnisverweigerungsrechte gegeben sein, so dass mit Zeugenaussagen nicht sicher gerechnet werden kann. Die Möglichkeit der Ladung von Zeugen kann ungewiss oder eine Ladung mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden sein. Es kann die Einholung von Sachverständigengutachten – etwa zur Frage eines geeigneten Sanierungskonzeptes37 – erforderlich und deren Ergebnis kaum vorhersehbar sein. Auch in derartigen Fällen kann sich ein Vergleich empfehlen. Das gilt erst recht, wenn das Bestehen eines Anfechtungsanspruchs nicht nur aus tatsächlichen, sondern zusätzlich aus rechtlichen Gründen zweifelhaft ist oder wenn außerdem die Durchsetzbarkeit wegen einer finanziellen Schwäche des Anfechtungsgegners fraglich und/oder die Masse auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe oder einen Kostenvorschuss angewiesen ist.

__________ 35 Vgl. in diesem Zusammenhang die zur Anwaltshaftung ergangene Entscheidung BGH, NJW 1993, 3323, 3324 f. = WM 1993, 2129, 2130 f.; Zugehör in Zugehör/ Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl. 2006, Rz. 549 ff. 36 Vgl. Kreft in Kreft (Fn. 2), § 133 InsO Rz. 17, 18. 37 BGH, NJW 1998, 1561, 1563 f. = ZIP 1998, 248, 251 f.; BGHZ 165, 106, 112 f. = ZIP 2006, 279, 281 Tz. 14; Kirchhof (Fn. 14), § 129 InsO Rz. 163a, § 133 InsO Rz. 37; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 7. Aufl. 2007, Rz. 5.126 ff.

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2. Ermessensspielraum des Insolvenzverwalters Es ist anerkannt, dass dem Insolvenzverwalter wegen der mit seinem Amt verbundenen vielfältigen und schwierigen Aufgaben bei der Ausübung seiner Tätigkeit grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum zusteht (vgl. oben zu III.). Dies wirkt sich auf seine Haftung aus. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten (hier: Schuldner, Insolvenz- und Massegläubigern, vgl. oben zu III.) zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er die Pflichten verletzt, die ihm nach der Insolvenzordnung obliegen. Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO hat er (den Beteiligten) für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. Zur Bedeutung dieser zuletzt genannten Bestimmung wird in der Begründung des Regierungsentwurfs der Insolvenzordnung zu § 71 Abs. 1, der § 60 Abs. 1 InsO entspricht, ausgeführt38: Die Formulierung ist angelehnt an § 347 Abs. 1 HGB („Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns“), an § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG („Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“) sowie an § 43 Abs. 1 GmbHG („Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“). Sie macht zugleich deutlich, dass die Sorgfaltsanforderungen des Handels- und Gesellschaftsrechts nicht unverändert auf den Insolvenzverwalter übertragen werden können. Vielmehr sind die Besonderheiten zu beachten, die sich aus den Aufgaben des Insolvenzverwalters und aus den Umständen ergeben, unter denen er seine Tätigkeit ausübt. Bei der Fortführung eines insolventen Unternehmens steht der Verwalter regelmäßig vor besonderen Schwierigkeiten. Außer den Problemen, die sich unmittelbar aus der Insolvenz des Unternehmens ergeben, ist z. B. zu berücksichtigen, dass der Verwalter eine Einarbeitungszeit benötigt, wenn er ein fremdes Unternehmen in einem ihm möglicherweise nicht vertrauten Geschäftszweig übernimmt, und dass er häufig keine ordnungsmäßige Buchführung vorfindet. Er übt sein Amt also in der Regel unter erheblich ungünstigeren Bedingungen aus als der Geschäftsleiter eines wirtschaftlich gesunden Unternehmens. Soweit im Verfahren keine Unternehmensfortführung stattfindet, sondern die Verwertung der einzelnen Gegenstände des Schuldnervermögens betrieben wird, kommt ohnehin nur ein besonderer, speziell auf die Verwaltertätigkeit bezogener Sorgfaltsmaßstab in Betracht.“

Hierin lässt sich eine Bestätigung und Konkretisierung des dem Insolvenzverwalter grundsätzlich zustehenden Ermessensspielraums sehen. Denn auch im Rahmen der Vorstands- und Geschäftsführerhaftung ist anerkannt, dass dem Vorstand und dem Geschäftsführer grundsätzlich ein Ermessensspielraum eingeräumt ist39. Das gilt vornehmlich bei streitiger Sach- und Rechtslage; hier

__________ 38 BT-Drucks. 12/2443, 129. 39 Hopt in Großkomm.AktG, 4. Aufl., 11. Lieferung, 1999, § 43 AktG Rz. 14, 81; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 4b; Spindler in MünchKomm. AktG, Band 2, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 29, 35; Zöller/Noack in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 43 GmbHG Rz. 17, 23; Mertens in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl., hrsg. von Ulmer, Zweiter Band, 1997, § 43 GmbHG Rz. 19; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Begründer und Hrsg.), GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 43 GmbHG Rz. 10; Haas in Michalski (Hrsg.), GmbHG, Band II, 2002, § 43 GmbHG Rz. 42, 67 ff. Vgl. auch Horn in FS Harm Peter Westermann, 2008, S. 1053 ff. passim, 1065.

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sind die Chancen und Risiken sachgerecht abzuwägen40. Ein besonders weitgehender Handlungsspielraum wird dem Geschäftsleiter bei unternehmerischen Entscheidungen zugebilligt, weil andernfalls „eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist. Dazu gehört neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen, der jeder Unternehmensleiter, mag er auch noch so verantwortungsbewusst handeln, ausgesetzt ist. … Eine Schadensersatzpflicht … kann erst in Betracht kommen, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder das Verhalten … aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muss“41. Mögen diese Erwägungen in erster Linie auch unternehmerisches Handeln betreffen, welches dem Insolvenzverwalter bei einer Betriebsfortführung obliegt, so sind ihnen doch auch Anhaltspunkte für das Verhalten des Insolvenzverwalters im Zusammenhang mit einem Vergleich über Anfechtungsansprüche zu entnehmen, zumal dann, wenn dieser im Rahmen einer erwogenen oder begonnenen Betriebsfortführung geschlossen wird und für diese von erheblicher Bedeutung ist. Regelmäßig hat bei der Entscheidung des Insolvenzverwalters, einen Anfechtungsprozess zu führen oder davon abzusehen und einen Vergleich zu schließen, eine Gesamtabwägung stattzufinden. In diese haben insbesondere die Erfolgsaussichten, der Grad der Unsicherheit, die Grundlage etwaiger Zweifel und die wirtschaftliche Bedeutung des Streitgegenstandes einzufließen42. Stets kommt es auf die konkrete Entscheidungslage an. Wie oben dargelegt (zu IV.1.), kann es Situationen geben, in denen es für die Masse günstiger ist, eine Prozessführung auch bei fraglos bestehender Erfolgsaussicht zu unterlassen und stattdessen einen der konkreten Lage entsprechenden Vergleich zu schließen. Bei zweifelhafter Sach- und/oder Rechtslage kann sich ein Vergleichsschluss erst recht anbieten. In derartigen Fällen muss dem Insolvenzverwalter ein Entscheidungsermessen zum Ob eines Vergleichs und zur Höhe der Vergleichssumme zustehen, dessen Grenzen nicht kleinlich zu bemessen sind. Zur Bestimmung der dem Insolvenzverwalter im Zusammenhang mit einem Vergleichsschluss obliegenden Pflichten kann – wenn es sich bei dem Insolvenzverwalter um einen Rechtsanwalt handelt (andernfalls hat der Insolvenzverwalter in derartigen Fällen Rechtsrat einzuholen)43 – auf die

__________ 40 Koppensteiner (Fn. 39), § 43 GmbHG Rz. 10. 41 BGHZ 135, 244, 253 f. = ZIP 1997, 883, 885 f. Dazu im Zusammenhang mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Horn in FS Harm Peter Westermann, 2008, S. 1053 ff. Dass eine Haftungsprivilegierung nicht von einer sorgfältigen Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen entbindet, betont erneut BGH, WM 2008, 1688, 1689 Tz. 11. 42 Bork, ZIP 2005, 1120, 1121; vgl. auch Uhlenbruck (Fn. 10), § 60 InsO Rz. 60. 43 BGH, ZIP 1993, 1886, 1888, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 124, 27 ff.

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entsprechende Rechtsprechung zur Anwaltshaftung zurückgegriffen werden44. So hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der anwaltliche Insolvenzverwalter den Beteiligten bei der gerichtlichen Durchsetzung von Masseansprüchen (zu denen auch Anfechtungsansprüche gehören) in der Regel dieselbe Sorgfalt schuldet wie ein Rechtsanwalt seinem Mandanten und im Interesse der Gläubiger etwa den sichersten Weg zu wählen hat45. Danach kann von einem Prozess abgesehen werden, „wenn dies aus anwaltlicher Sicht vertretbar“ erscheint46. Das trifft zu, wenn der Rechtsanwalt vor Abschluss eines Vergleichs alle damit zusammenhängenden Vor- und Nachteile so gewissenhaft bedacht hat, wie es ihm aufgrund seiner Informationen, Kenntnisse und Erfahrungen vorausschauend möglich war47. Wegen der Schwierigkeiten und Ungewissheiten bei der Abwägung der Vor- und Nachteile eines Vergleichs steht dem Anwalt zur Vermeidung eines untragbaren Haftungsrisikos ein weiter Ermessensspielraum zu; innerhalb dieses Spielraums hat der Rechtsanwalt eine gewissenhafte Interessenabwägung vorzunehmen48. Der Vergleich darf für den Mandanten keine unangemessene Benachteiligung darstellen. Bei der Interessenabwägung sind nicht nur rechtliche, sondern auch wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen. Bei den rechtlichen Gesichtspunkten spielt (in aller Regel) die Bewertung der Prozessaussichten eine wichtige Rolle49. Dabei kann insbesondere darauf abzustellen sein, wie die Rechts- und/ oder die Beweislage einzuschätzen ist. Aus wirtschaftlicher Sicht kann in Erwägung zu ziehen sein, dass ein Vergleich dem Mandanten die Möglichkeit bietet, schnell zu Geld zu kommen50. Dies alles gilt auch bei der Bewertung des Vergleichs eines Insolvenzverwalters mit dem Anfechtungsgegner über einen Anfechtungsanspruch. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Insolvenzverwalter Vergleiche auch über Anfechtungsansprüche abschließen kann, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt, einen Anfechtungsanspruch nicht gerichtlich durchzusetzen. Dies ist nach der objektiven Sach- und Rechtslage zu beurteilen. Im Einzelfall – namentlich bei einem aus Rechts- und/oder Sachgründen zweifelhaften Anfechtungsanspruch, bei finanzieller Schwäche des Anfechtungsgegners oder einer Unfähigkeit des Insolvenzverwalters, die Prozesskosten aus der Masse aufzubringen, auch bei einem zweifelsfrei bestehenden Anfechtungsanspruch – kann ein Vergleich nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten sein, wenn andernfalls die nicht nur theoretische Gefahr besteht, dass kein Geld oder erheblich weniger als die Vergleichssumme in die Masse fließt. Ein Vergleich kann

__________

44 Dazu Sieg in Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee (Fn. 35), Rz. 711, 718 ff.; Terbille in Rinsche/Fahrendorf/Terbille, Die Haftung des Rechtsanwalts, 7. Aufl. 2005, Rz. 1717 ff., insbesondere 1726. 45 BGH, ZIP 1993, 1886, 1888, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 124, 27 ff.; zustimmend Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO Rz. 92. Zum Gebot des sichersten Weges in diesem Zusammenhang auch Zugehör, ZInsO 2006, 857, 859. 46 BGH, ZIP 1993, 1886, 1892, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 124, 27 ff. 47 BGH, VersR 1968, 450, 451; auch RG, JW 1932, 2856. 48 BGH, VersR 1968, 450, 451 f.; NJW 1993, 1325, 1328. 49 RG, JW 1932, 2856. 50 Sieg (Fn. 44), Rz. 719.

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unter Umständen – selbst bei guten Prozessaussichten – auch gerechtfertigt sein, wenn mit einem lang dauernden Anfechtungsrechtsstreit zu rechnen ist und durch die Zeitdauer infolge Geldmangels Sanierungschancen trotz eines späteren Prozessgewinns unwiederbringlich zunichte gemacht werden. Bei der Entscheidung über das Ob und die Höhe eines Vergleichs ist dem Insolvenzverwalter ein Ermessensspielraum einzuräumen, dessen Reichweite sich nach den Besonderheiten des konkreten Falles richtet, der aber grundsätzlich nicht kleinlich zu bemessen ist.

V. Darlegungs- und Beweislast für Pflichtwidrigkeit und Verschulden des Insolvenzverwalters Die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs gegen den Insolvenzverwalter wegen schuldhaft pflichtwidrigen Abschlusses eines Vergleichs über einen Anfechtungsanspruch trifft grundsätzlich den Anspruchsteller51, etwa den zur Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs bestellten Sonderinsolvenzverwalter52. Von dieser Darlegungs- und Beweislastverteilung geht auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen von § 82 KO und § 60 InsO aus, mag dies auch kaum ausdrücklich ausgesprochen werden53. In der Literatur zu § 60 InsO erschließt sich diese Auffassung nicht selten durch den Hinweis darauf, dass § 61 Satz 2 InsO, wonach eine Haftung nach Satz 1 ausscheidet, wenn der Verwalter bei der Begründung der Verbindlichkeit nicht erkennen konnte, dass die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde, eine Beweislastumkehr enthalte54. Daraus lässt sich folgern, dass die Beweislast bei § 60 InsO beim Anspruchsteller liegen soll. Eine entsprechende Anwendung von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, wonach die Vorstandsmitglieder die Beweislast trifft, wenn streitig ist, ob sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben55, auf den Insolvenzverwalter ist abzulehnen. Dafür gibt es in der Entstehungsgeschichte von § 60 InsO auch im Fall einer Betriebsfortführung keinerlei Anhaltspunkte. Der Umstand, dass die Aufgaben des Insolvenzverwalters, der ein insolventes Unternehmen abzuwickeln oder zu sanieren hat, in der Regel nicht einfacher, sondern eher schwerer als die des Geschäftsleiters eines wirtschaftlich gesun-

__________ 51 Vgl. RG, JW 1896, 34 Nr. 23; Jaeger/Weber, KO, 8. Aufl., Zweiter Band, 1. Halbband, 1973, § 82 KO Anm. 12. 52 Vgl. oben zu I. 53 Vgl. etwa BGHZ 85, 75, 83; 99, 151, 156 f.; BGH, ZIP 2005, 311, 313; Beschl. v. 6.10.2005 – IX ZR 132/04, Umdruck S. 4 f., n. v.; OLG Celle, ZInsO 2004, 1030, 1031. 54 Vgl. Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO Rz. 35; Gerhardt (Fn. 6), § 61 InsO Rz. 23; Häsemeyer (Fn. 11), Rz. 6.40 (d); Lohmann (Fn. 2), § 61 InsO Rz. 16; Uhlenbruck (Fn. 10), § 61 InsO Rz. 12. 55 Zur entsprechenden Anwendung dieser Norm auf den Geschäftsführer einer GmbH BGHZ 152, 280 ff.; BGH, WM 2008, 696, 697 Tz. 5.

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den Unternehmens sind56, spricht zusätzlich dagegen, § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auf die Haftung des Insolvenzverwalters zu übertragen. Im Einzelfall können sich allerdings Abweichungen von einer strikten Darlegungs- und Beweislast des Anspruchstellers ergeben. Insbesondere kann den Insolvenzverwalter unter Umständen eine sekundäre Darlegungslast57 treffen, welche die Darlegungs- und Beweislast des Anspruchstellers erleichtert.

VI. Zustimmung des Gläubigerausschusses oder der Gläubigerversammlung Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 22.1.198558 entschieden, die Zustimmung des Gläubigerausschusses zu einer Handlung des Konkursverwalters könne eine diesen entlastende Wirkung insoweit haben, als es darum gehe, ob eine von dem Konkursverwalter vorgeschlagene zustimmungsbedürftige Maßnahme vertretbar sei. Da ein Vergleichsabschluss durch den Insolvenzverwalter jedenfalls bei einem nicht unerheblichen Streitwert des (möglichen) Anfechtungsprozesses gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 3 InsO der Zustimmung des Gläubigerausschusses und nach § 160 Abs. 1 Satz 2 InsO für den Fall, dass ein Gläubigerausschuss nicht bestellt ist, der Zustimmung der Gläubigerversammlung bedarf59, könnte eine Zustimmung durch eines dieser Gremien ggf. dazu führen, dass der Insolvenzverwalter bei einer in dem Vergleichsabschluss liegenden schuldhaften Pflichtverletzung einem Schadensersatzanspruch nach § 60 InsO allein wegen der Zustimmung nicht ausgesetzt wäre. Eine verbreitete Auffassung in der Literatur lehnt diese Auffassung ab und sieht in der Zustimmung von Gläubigerausschuss oder Gläubigerversammlung im Allgemeinen nicht mehr als ein Indiz für ein nicht vorwerfbares Verhalten des Insolvenzverwalters60. Es wird aber auch die Meinung vertreten, im Hinblick auf die Beschränkung der Haftung der Mitglieder des Gläubigerausschusses auf eine Verantwortlichkeit gegenüber den absonderungsberechtigten Gläubigern und den Insolvenzgläubigern (§ 71 InsO) komme eine Enthaftung des Insolvenzverwalters durch die Zustimmung des Gläubigerausschusses nur in Bezug auf diese Gläubigergruppen in Betracht61. Von anderer Seite wird vorgeschlagen, bei einer Zustimmungsbedürftigkeit solle die Zustimmung der Gläubi-

__________

56 BT-Drucks. 12/2443, 129 zu § 71; vgl. oben zu IV.2. 57 Dazu etwa Leipold in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl., Band 3, 2005, § 138 ZPO Rz. 37; Wagner in MünchKomm.ZPO, 3. Aufl., Band 1, 2008, § 138 ZPO Rz. 21 f.; Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 26. Aufl. 2007, § 138 ZPO Rz. 8b, § 284 ZPO Rz. 34 ff.; Stadler in Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 138 ZPO Rz. 10 f. 58 BGH, ZIP 1985, 423, 425. 59 Flessner in Kreft (Fn. 2), § 160 InsO Rz. 8 m. w. N. 60 Vgl. Eickmann in Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Aufl. 2006, § 60 InsO Rz. 14; Kilger/Karsten Schmidt (Fn. 3), § 82 KO Anm. 7; Uhlenbruck (Fn. 10), § 60 InsO Rz. 32. Nach Lohmann (Fn. 2), § 60 InsO Rz. 37, soll der Insolvenzverwalter in der Regel nicht pflichtwidrig handeln, wenn er die genehmigte Maßnahme ausführt. 61 Brandes (Fn. 2), §§ 60, 61 InsO Rz. 102.

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gerversammlung und des Gläubigerausschusses eine Haftung des Insolvenzverwalters für eine Masseverkürzung ausschließen, bei nicht erforderlicher Zustimmung hingegen nicht62. Ich halte die Auffassung für zutreffend, die in der Zustimmung von Gläubigerausschuss oder Gläubigerversammlung zu einem Vergleich über einen Anfechtungsanspruch lediglich ein Indiz gegen ein pflichtwidriges, zumindest ein schuldhaftes Handeln des Insolvenzverwalters sehen will. Eine automatische Entlastung sollte dem Insolvenzverwalter durch eine solche Zustimmung in keinem Fall zuteil werden. Dagegen spricht bereits, dass der Kreis der Beteiligten, denen der Insolvenzverwalter nach § 60 InsO haftet, größer ist als der Kreis derjenigen, denen Mitglieder des Gläubigerausschusses gemäß § 71 InsO haften, und dass die Gläubigerversammlung nach der Insolvenzordnung keiner Haftung unterliegt. Das hätte zur Folge, dass im Fall einer enthaftenden Wirkung der Zustimmung entweder einige (bei der Zustimmung des Gläubigerausschusses) oder sämtliche Beteiligte (bei Zustimmung der Gläubigerversammlung) auch im Fall eines in einem Vergleichsabschluss liegenden pflichtwidrigen und schuldhaften Verhaltens des Insolvenzverwalters ihren Schaden selbst dann nicht ersetzt verlangen könnten, wenn die Zustimmung schuldhaft zu Unrecht erteilt wurde. Eine Begrenzung der mit einer Zustimmung des Gläubigerausschusses verbundenen Enthaftung des Insolvenzverwalters auf diejenigen Gläubiger, denen die Mitglieder des Gläubigerausschusses haften, dürfte sich kaum rechtfertigen lassen, zumal da die enthaftende Wirkung einer Zustimmung der Gläubigerversammlung dann konsequenterweise gänzlich entfallen müsste. Gegen eine automatische Haftungsfreistellung des Insolvenzverwalters von einer in dem Abschluss eines Vergleichs über einen Anfechtungsanspruch liegenden schuldhaften Pflichtverletzung dürfte auch der Umstand sprechen, dass Gläubigerausschuss (§ 72 InsO) und Gläubigerversammlung (§ 76 Abs. 2 InsO) jeweils nicht einstimmig, sondern mit Mehrheit über Für und Wider einer Zustimmung entscheiden. Den unterlegenen Gläubigern wäre dann jede Möglichkeit genommen, auf die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Insolvenzverwalter etwa durch einen Sonderinsolvenzverwalter hinzuwirken. Dies alles lässt es geboten erscheinen, beim Abschluss eines Vergleichs über einen Anfechtungsanspruch auch bei einer Zustimmung von Gläubigerausschuss oder Gläubigerversammlung eine Überprüfbarkeit des Handelns des Insolvenzverwalters auf eine schuldhafte Pflichtverletzung zu bejahen und die Zustimmung lediglich in Grenzfällen, in denen sich die für und gegen eine Pflichtwidrigkeit und/oder ein schuldhaftes Verhalten des Insolvenzverwalters sprechenden Gründe in etwa die Waage halten, als – möglicherweise ausschlaggebendes – Indiz gegen eine Pflichtwidrigkeit oder ein Verschulden zu werten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Zustimmung gesetzlich gefordert ist oder nicht63.

__________ 62 Gerhardt (Fn. 6), § 60 InsO Rz. 144 f. (Gläubigerversammlung), 146 ff. (Gläubigerausschuss). 63 Vgl. Lüke (Fn. 9), § 60 InsO Rz. 47.

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GmbH-Reform: Gründerfreiheit statt Rechtssicherheit und Gläubigerschutz? – Warum das MoMiG für Österreichs GmbH-Reform kein leuchtendes Vorbild ist – Inhaltsübersicht VI. Die vorerst mindeststammkapitallose „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“

I. Internationalisierung, Liberalisierung und Deregulierung greifen den inländischen gesellschaftsrechtlichen Geschäftsverkehrs- und Gläubigerschutz an

VII. Die starre „Muster-GmbH von der Stange“

II. Die Niederlassungsfreiheit unterläuft den inländischen gesellschaftsrechtlichen Typenzwang

VIII. Auch der österreichische Vorschlag einer „einfachen GmbH“ („GmbH light“) verdient Kritik

III. Das inländische Gesellschaftsrecht sollte sich nicht vor einwandernden Billig-Gesellschaften fürchten IV. Das MoMiG auf dem „race to the bottom“ V. Eine GmbH ohne Mindeststammkapital ermuntert Kapitalschwache zum Marktauftritt und mehrt dadurch die Insolvenzen

IX. Die Notariatsaktspflichtigkeit GmbH-rechtlicher Gestaltungsakte trägt zur Rechtssicherheit im Geschäftsverkehr bei X. Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausgießen

Das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen („MoMiG“)1 und die in Österreich soeben begonnene Diskussion darüber, ob und inwieweit auch das österreichische GmbHG reformiert werden soll2, legen nahe, sich kritisch mit einigen Fragen zu diesen legistischen Vorhaben zu befassen. Zugleich hoffe ich, dass meine diesbezüglichen Skizzen das Interesse des Jubilars finden mögen, dem ich für fruchtbare Kooperationen bei etlichen österreichischen rechtspolitischen Projekten, zu denen insbesondere die Handelsrechtsreform 2005 gehört, seit zwanzig Jahren in Dankbarkeit verbunden bin.

__________ 1 Das MoMiG wurde am 26.6.2008 vom Deutschen Bundestag beschlossen. Es tritt zum 1.11.2008 in Kraft. 2 Vgl. die Initialzündung zu einer eingehenden Diskussion einer Reform des österreichischen Kapitalgesellschaftsrechts durch die Zivilrechtliche Abteilung des 16. Österreichischen Juristentag 2006; Kalss/Schauer, Die Reform des Österreichischen Kapitalgesellschaftsrechts, 16. ÖJT 2006, Bd. II/1; die Referate und Diskussionsbeiträge sind in Bd. II/2, 2008, abgedruckt; vgl. ferner Bachner (Hrsg.), GmbH-Reform, 2008.

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I. Internationalisierung, Liberalisierung und Deregulierung greifen den inländischen gesellschaftsrechtlichen Geschäftsverkehrs- und Gläubigerschutz an Internationalisierung, Liberalisierung und Deregulierung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens führen zwangsläufig auch zu einem teilweisen Rückbau staatlichen Rechtsschutzes. Mehr Freiheit des einen bedeutet weniger Schutz des anderen. Wer aber Hermes noch größere Flügel gönnt, als er ohnehin schon hat, um sein geschäftiges Wirken zu beschleunigen, sollte nicht vergessen, dass Hermes nicht nur der Gott der Kaufleute, sondern auch der Diebe ist. Auch manche der jüngst nicht nur erhobenen, sondern in einer Reihe von EUMitgliedstaaten auch bereits verwirklichten Eingriffe in das Kapitalgesellschaftsrecht sind insbesondere vom Streben nach mehr Freiheit für Gründer und Gesellschafter getragen. Damit stehen aber auch kapitalgesellschaftsrechtliche Schutzprinzipien auf dem Prüfstand. Nun wird schon heute laufend an den Fesseln gezerrt, die das Gesellschaftsrecht den Gesellschaftern und Organwaltern auferlegt. Zahlreiche Sachverhalte zeigen, dass manche weit mehr Mühe aufwenden, um das Gesellschaftsrecht zu brechen, als es einzuhalten. Ist es da die richtige Konsequenz, die als hinderlich empfundenen Rechtsnormen weitgehend zu beseitigen?

II. Die Niederlassungsfreiheit unterläuft den inländischen gesellschaftsrechtlichen Typenzwang Das deutsche wie das österreichische Gesellschaftsrecht stellt unterschiedliche Gesellschaftstypen zur Wahl. Bei jeder Gesellschaftsform finden sich zwingende Vorschriften, die dafür sorgen, dass bestimmte Interessen geschützt sind. Damit dieser Interessenschutz nicht unterlaufen werden kann, muss eine der vom Gesetzgeber angebotenen Gesellschaftsformen gewählt werden. Man spricht vom gesellschaftsrechtlichen „numerus clausus“ oder „Typenzwang“3. Gerechtfertigte Schutzbedürfnisse haben zum einen die einzelnen Gesellschafter selbst oder bestimmte Gesellschafterminderheiten, zum anderen aber – und das ist noch wichtiger – die Gläubiger der Gesellschaft4 und gegebenenfalls auch die Allgemeinheit5.

__________ 3 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 111 ff. m. w. N.; Krejci, Gesellschaftsrecht I, 2005, S. 5 f.; vgl. Näheres z. B. bei Koller, Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht, 1967, S. 106 ff.; Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 5 ff.; H. P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, S. 13, 112 ff. 4 Für den Schutz der Arbeitnehmer sorgt das Arbeitsrecht; für den Schutz der Verbraucher das Konsumentenschutzrecht. 5 Worauf ausdrücklich im Aktienrecht hingewiesen wird; § 70 Abs. 1 öAktG hält fest, dass der Vorstand auch die Erfordernisse des öffentlichen Interesses wahrzunehmen hat.

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GmbH-Reform: Gründerfreiheit statt Rechtssicherheit und Gläubigerschutz?

Der gesellschaftsrechtliche Typenzwang kann nur aufrechterhalten werden, wenn keine ausländische Gesellschaftsform im Inland eindringen darf, die dieses Schutzsystem unterläuft. Einem derartigen Eindringen schiebt die vom Internationalen Privatrecht entwickelte „Sitztheorie“ einen Riegel vor6. Ihr zufolge darf keine ausländische Gesellschaft unter Wahrung ihrer fremden Kapital- und Organisationsverfassung den Hauptsitz vom Ausland ins Inland verlegen; sie muss sich vielmehr neu nach den Regeln des inländischen Gesellschaftsrechts gründen. Sofern sich das Internationale Privatrecht eines Staates hingegen an der so genannten „Gründungstheorie“7 orientiert, bestimmt sich das Gesellschaftsstatut nach dem Recht des Gründungsstaates; dies bleibt auch dann so, wenn nach Gründung der Sitz der Gesellschaft in einen anderen Staat verlegt wird8. Die Gründungstheorie ermöglicht im Ergebnis mehr oder weniger eine freie Wahl des Gesellschaftsstatuts. Sie widerspricht dem gesellschaftsrechtlichen Typenzwang und kann daher das inländische gesellschaftsrechtliche Schutzsystem vor allem dann zerstören, wenn auch Inländer eine „billige“ ausländische Gesellschaftsform wählen können und dies in spürbarer Weise auch tun. Seit Centros9 und der Folgejudikatur des EuGH wird nun die Sitztheorie für gemeinschaftsrechtswidrig erachtet10. Der EuGH geht davon aus, dass die gemeinschaftsrechtliche Niederlassungsfreiheit (Art. 43 und 48 EGV) Gesellschaften aus Mitgliedstaaten erlaubt, ihren Hauptsitz ins Inland zu verlegen, ohne sich dem inländischen Gesellschaftsrecht anpassen zu müssen. Damit ist die Sitztheorie im Bereich der EU gestorben. Konsequenterweise müsste es wohl auch der Niederlassungsfreiheit widersprechen, wenn ein Mitgliedstaat einer Inlandgesellschaft verbietet, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Darüber ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen worden.

__________ 6 Vgl. zur Sitztheorie Schwimann, Grundzüge des internationalen Gesellschaftsrechts, GesRZ 1981, 142 ff., 208 ff.; Kastner/Doralt/Nowotny, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 1990, S. 191; Karsten Schmidt (Fn. 3), S. 27 m. w. N.; Krejci (Fn. 3), S. 14 f. Von der Frage, nach welchem Recht eine Gesellschaft zu beurteilen ist, die ihren Hauptsitz im Inland hat, zu unterscheiden ist die Frage, ob eine Gesellschaft mit Hauptsitz im Ausland (den sich auch weiterhin behält) im Inland für rechts- und handlungsfähig erachtet wird, einzelne Geschäfte zu schließen. Eine andere Frage ist ferner, ob und inwieweit eine Gesellschaft mit Hauptsitz im Ausland im Inland eine Zweigniederlassung betreiben kann und darf (wobei die Gesellschaft auch in diesem Fall ihren Hauptsitz im Ausland beibehält); vgl. in diesem Zusammenhang auch Peter Doralt, Anerkennung ausländischer Gesellschaften, JBl. 1969, 181 ff.; H. Torggler, Die Zulassung ausländischer Gesellschaften gemäß § 254 AktG 1965, ÖJZ 1968, 32 ff.; Ehrlich, Anerkennung von Auslandsgesellschaften mit Zweigniederlassungen vor österreichischen Gerichten, RdW 2005, 281. 7 Krejci, (Fn. 3), S. 15. 8 Gleiches gilt, wenn sich der tatsächliche Sitz der Gesellschaft schon von Anfang an nicht in jenem Staat befunden hat, in welchem die Gesellschaft gegründet wurde, sofern der Gründungsstaat eine derartige Gründung im Ausland überhaupt zulässt. 9 EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 (Centros). 10 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 (Überseering); EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 (Inspire Art).

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Sofern auch das ausländische Gesellschaftsrecht adäquate Schutzvorschriften zugunsten von Gläubigern, Gesellschaftern oder der Allgemeinheit kennt, mag dies angehen. Denn dann entsprechen die ausländischen gesellschaftsrechtlichen Schutznormen im Wesentlichen jenen des Inlands. Fußt das Gesellschaftsrecht des Mitgliedstaates aber auf erheblich liberaleren Grundlagen oder wird der für erforderlich gehaltene Schutz im Mitgliedstaat außerhalb des Gesellschaftsrechts geboten (etwa im Haftpflichtrecht, Insolvenzrecht bzw. Strafrecht), dann unterlaufen derartige ausländische liberale Gesellschaften den bisherigen Schutzstandard des inländischen Gesellschaftsrechts. Denn die fremde Gesellschaftsform bringen zwar ihre liberale Struktur ins Inland mit, nicht aber den ausländischen außergesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutz des Gründungsstaates. Auch dies stört nicht gravierend, sofern die inländische Rechtsordnung einen außergesellschaftsrechtlichen Schutz kennt, der den gesellschaftsrechtlichen Schutz entbehrlich macht. Ist das aber nicht der Fall, dann nützt es im Inland wenig, dass die ausländische liberale Gesellschaftsform im Gründungsland von außergesellschaftsrechtlichen Schutzmechanismen umrahmt wird. Denn eben diesen „Käfig“ lässt der ausländische „Tiger“ im Gründungsland zurück, im Inland steht er nicht zur Verfügung11. Keinen Trost bietet der Gedanke, der inländische Gesetzgeber könnte gesellschaftsrechtliche Sondermaßnahmen treffen; also trotz geltender Gründungstheorie Instrumente entwickeln, die im Ergebnis einen Ausgleich für den Verlust der Sitztheorie böten (Stichwort: „Überlagerungstheorie“). Denn alle österreichischen Sondermaßnahmen, mit deren Hilfe die ausländischen Gesellschaftsformen zu erhöhtem Schutz gezwungen werden könnten, würden sogleich den Vorwurf der Ausländerdiskriminierung auslösen. Auch die Berufung auf den ordre public würde nicht greifen, weil in der Anerkennung eines liberaleren ausländischen Gesellschaftsrechts i. d. R. kein ordrepublic-widriger Eingriff in österreichische Schutzregelungen gesehen würde. So löst die Gründungstheorie, der das inländische Gesellschaftsrecht ausgeliefert ist, einen Wettbewerb unterschiedlicher Gesellschaftsrechtsordnungen aus. Missbilligenswert ist ein solcher Wettbewerb deshalb, weil potenzielle Gründer dazu neigen, jene Gesellschaftsform zu wählen, welche ihnen die geringen Lasten aufhalst. Dies führt zu einem „race to the bottom“12. Die gesellschaftsrechtlichen Schutzmechanismen greifen dann immer weniger; sei es dadurch, dass ohne Reaktion der inländischen Rechtsordnung die attraktiv erscheinenden, liberalen ausländischen Gesellschaftstypen gewählt werden und die inländischen Gesellschaftstypen im Laufe der Zeit de facto aussterben – sei es dadurch, dass man im Bemühen, dies zu verhindern, die inländischen Gesellschaftstypen gleichfalls liberalisiert.

__________ 11 Krejci, Ein Käfig für den Tiger! Gesellschaftsrechtsreform und Gründungstheorie in Österreich, in FS Ruppe, 2007, S. 314 ff. 12 Ob damit auch in Europa der in den USA bekannte „Delaware-Effekt“ zu befürchten ist, wird sich noch zeigen.

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Das inländische Gesellschaftsrecht hat also scheinbar nur die Alternative dessen, der am Abgrund steht und entweder hinunter gestoßen zu werden droht – oder lieber selbst springt. Man sollte aber auch in Erwägung ziehen, vorerst am Abgrund stehen zu bleiben. Vielleicht erweist sich der befürchtete Stoß als zu schwach, um die eigene Gesellschaftsrechtsordnung zu ruinieren. Dann hat es keinen Sinn, selbst zu springen, um dem Stoß des andern zuvorzukommen. Wir wollen uns im Folgenden mit den ersten Erwägungen zur Talfahrt des GmbH-Rechts befassen. Das britische Recht hat schon immer den Gläubigerschutz in erheblichem Maße außerhalb des Gesellschaftsrechts angesiedelt13. Inzwischen haben auch Spanien und Frankreich ihr GmbH-Recht „modernisiert“. Der Reformeifer hängt zwar nicht nur, sehr wohl aber auch mit Centros zusammen. Er wird nunmehr erheblich durch die starken Bemühungen intensiviert, die Societas Privata Europaea ins Leben zu rufen.

III. Das inländische Gesellschaftsrecht sollte sich nicht vor einwandernden Billig-Gesellschaften fürchten Vorauszuschicken ist, dass man die Attraktivität von „Billiggesellschaften“, insbesondere der britischen private company limited by shares (fortan: Limited), nicht überschätzen sollte. Zum einen stärkt die Wahl einer Limited für ein deutsches oder österreichisches Unternehmen nicht das Vertrauen potenzieller Geschäftspartner in die Bonität und Seriosität dessen, der sein Unternehmen in dieser Rechtsform führt. Der prima facie vielleicht beeindruckende Anstrich anglo-amerikanischer Modernität blättert bei erkennbarer Finanzschwäche einer Limited schnell ab. Dann wird sichtbar, dass die Gesellschafter keine Mittel in den Start der Gesellschaft riskieren wollen. Wer sich beim eigenen Geschäft selbst nicht finanziell engagieren will oder kann, schafft kein Vertrauen. Überdies: Gelingt einer kapitallosen Limited nicht auf Anhieb ein gewinnbringender Start, droht ihr schon vorweg die Insolvenz. Die meisten der in Österreich gegründeten Limiteds sterben schon in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens14. Davon abgesehen sind die Gründer mitunter herb enttäuscht, weil sie erkennen müssen, dass eine britische Gesellschaft auch dann, wenn sie kein Mindeststammkapital benötigt, beachtliche Kosten verursacht. Denn Limiteds haben nach englischem Recht Rechnung zu legen, und die in England dazu berufenen Fachleute sind teuer. Außerdem ist im gesellschaftsrechtlichen Streit-

__________ 13 Vgl. dazu Bachner, Die Limited in der Insolvenz. Mit Hinweisen zur neuen Rechtslage nach dem Companies Act 2006, 2007. 14 Dies wurde anlässlich einer im Jänner 2008 im österreichischen Bundesministerium für Justiz abgehaltenen Enquete zum Thema GmbH-Reform näher dargetan; vgl. Bachner (Fn. 2),

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fall englisches Recht anzuwenden. Dies erfordert nicht selten einen teuren Rechtsbeistand. Das ursprünglich intensiv beworbene Geschäftsfeld, österreichischen Unternehmern die Limited als finanziell günstige Rechtsform zu vermitteln15, ist nach erstem Boom bereits erheblich geschrumpft. Die Konkurrenz derartiger ausländischer Gesellschaftsformen ist also lange nicht so attraktiv, wie ein erster Blick vermuten lässt. Es zeichnet sich allmählich ab, dass sich der britische „Tiger“, wenn er sein Revier auf das Ausland ausdehnt, schon auf mittlere Sicht als „Papiertiger“ entpuppt. Dies sollte den inländischen Gesetzgeber vor übereiltem Anpassungseifer warnen.

IV. Das MoMiG auf dem „race to the bottom“ Auch in Deutschland sterben Limiteds früh. Dies hat die deutsche Rechtspolitik allerdings nicht daran gehindert, eine GmbH-Reform ins Auge zu fassen, die sich bemüht, der Konkurrenz ausländischer „Billiggesellschaften“16 durch deutsche Gründungsvergünstigungen zu begegnen. Die derzeitigen Liberalisierungs- und Deregulierungstendenzen auf Kosten der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit werden spätestens dann gedämpft werden, wenn sich weltweit gezeigt haben wird, dass ein Kapitalgesellschaftsrecht, das den Marktauftritt mittelloser und somit insolvenzgeneigter Unternehmer fördert und den erforderlichen gesellschaftsrechtlichen Schutz der Gläubiger missachtet, das Wirtschaftsleben eher schädigt als fördert. Noch ist es freilich nicht so weit und die vom anglo-amerikanischen Gesellschaftsrechtsverständnis ausgehende Liberalisierungswelle droht derzeit die Fundamente des kontinentaleuropäischen Kapitalgesellschaftsrechts zu unterspülen. Ob außergesellschaftsrechtliche Gläubigerschutzinstrumente den gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutz ersetzen können, wird sich weisen. Skepsis ist angebracht. Das MoMiG greift in seiner nunmehrigen Fassung zwar nicht mehr das Mindeststammkapital an, findet aber in der „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“ einen bemerkenswerten Weg, die Bedeutung des Mindestkapitals als Haftungspuffer für die neu gegründete GmbH zu relativieren. Das MoMiG mildert ferner die Strenge des Sacheinlagenrechts, reduziert die Kapitalerhaltungsregeln, schafft das Eigenkapitalersatzrecht in seiner bisherigen Ausprägung ab und führt Gründungserleichterungen ein. All dies läuft unter dem Feldzeichen der „Modernisierung“. Inhaltlich geht es um den Ab- bzw. Umbau bisheriger gesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutzmaßnahmen. Insofern bekämpft das MoMiG keine Missbräuche. Im Gegenteil. Regeln, die früher in der Praxis immer wieder missachtet wurden, sollen nunmehr aufgehoben oder modifiziert werden, so dass man-

__________ 15 Vgl. Silberberger/Buhl, Die britische Limited in Österreich und Deutschland. Die intelligente und innovative Alternative zur GmbH, 2004. 16 Vgl. Krejci, Gegen Billig-Gesellschaften m. b. H., ÖZW 2008, 39.

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ches, was früher als Rechtsbruch missbilligt wurde, nunmehr vorweg erlaubt erscheinen soll. Die realen, wirtschaftlichen Nachteile, deretwegen die Rechtsordnung das gesetzte Verhalten bislang verpönte, werden auch in Zukunft zugefügt werden; nunmehr allerdings ohne die bisher vorgesehenen gesellschaftsrechtlichen Sanktionen. Das mag „modern“ sein; eine „Bekämpfung von Missbräuchen“ kann in derartigen „Liberalisierungen“ bzw. „Deregulierungen“ nicht gesehen werden. Die propagierte „Missbrauchsbekämpfung“ des MoMiG liegt lediglich darin, dass der Gesetzgeber Geschäftsführer aufs Korn nimmt, die bestimmten missbräuchlichen Umtrieben in der Phase des Untergangs des Unternehmens frönen17. Solche Maßnahmen reichen aber nicht aus, den Eindruck zu verwischen, dass – entgegen der plakativen politischen Ankündigung – sehr wohl vom bisher bewehrten „Kapitalschutzsystem“ abgegangen wird. Die deutsche Entschlossenheit, das GmbH-Recht zu liberalisieren, färbt insofern auf österreichische rechtspolitische Erwägungen ab, als leicht vorstellbar ist, dass auch Österreicher für sie „günstige“ deutsche Gesellschaften mbH gründen und mit ihnen zurück in die Heimat kommen werden. Will der österreichische Gesetzgeber keine derartige Entwicklung, liegt prima facie nicht fern, das österreichische dem deutschen GmbH-Recht so weit anzupassen, dass die Österreicher im Land bleiben18. Nicht immer aber ist empfehlenswert, deutscher Rechtspolitik zu folgen. Eigenständige Überlegungen können – trotz aller Verlockung abzuschreiben, was der große nördliche Nachbar an neuem Recht geschaffen hat – zu kritischer Distanz und auf diese Weise zu einer besseren Lösung führen19. Im Folgenden gehe ich nur auf einige Aspekte der deutschen und in Österreich vorerst noch vorsichtig angedachten GmbH-Reform ein. Im Vordergrund stehen dabei im einen wie im anderen Zusammenhang beabsichtigte Gründungserleichterungen.

__________ 17 Es geht dabei um Praktiken, marode Gesellschaften knapp vor ihrem Ende dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen. Zustellungen wurden unmöglich gemacht; vertretungsbefugte Organe wurden unauffindbar; die Geschäftsführer kamen ihren im Interesse der Allgemeinheit bestehenden gesetzlichen Pflichten nicht nach. Es hatte sich ein so genanntes „Bestattungsgewerbe“ entwickelt, das dem Insolvenzverwalter oder den Gläubigern jede Chance nahm, auf das noch vorhandene Gesellschaftsvermögen zuzugreifen, um offene Verbindlichkeiten zu begleichen. Zu diesen „Beerdigungsmaßnahmen“ zählt z. B. die Veräußerung von Geschäftsanteilen um 1 Euro möglichst an einen Ausländer; die Verlegung des Sitzes der Gesellschaft möglichst ins Ausland; die Schließung des Geschäftslokals und faktische Liquidation; vgl. dazu z. B. Goette, Chancen und Risiken der GmbH-Novelle, WPg 2008, 231 ff., 237 f. 18 Dass der österreichische Gesetzgeber am Ende gar Lust verspüren könnte, das neue deutsche Modell sogar noch zu unterlaufen, um deutsche Gründer nach Österreich zu locken, ihre Gesellschaften mbH in Österreich zu gründen, konnte bisher nicht beobachtet werden. 19 Als jüngstes positives Beispiel für einen eigenen österreichischen Weg trotz deutscher Anregung darf die österreichische Handelsrechtsreform 2005 genannt werden; vgl. dazu Krejci in Krejci, Reformkommentar UGB/ABGB, 2007, S. 12 ff.

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V. Eine GmbH ohne Mindeststammkapital ermuntert Kapitalschwache zum Marktauftritt und mehrt dadurch die Insolvenzen Europaweit ist der Trend zur Reduktion des Mindeststammkapitals zu beobachten. Österreich fordert mit 35 000 Euro bislang das höchste; in Deutschland sind es 25 000 Euro20. Was Österreich betrifft, ist anzumerken, dass das GmbHG vor der Anhebung des Mindeststammkapitals auf ATS 500 000 durch die GmbHG-Novelle 1980 von einem Mindeststammkapital von ATS 100 000 ausging. 1980 nahm man an, dass dieses Mindeststammkapital angesichts der wirtschaftlichen Anforderungen, die an eine neu gegründete GmbH gestellt werden, weitaus zu niedrig sei21. Es ist bemerkenswert, dass nunmehr eine Kehrtwendung ins Auge gefasst wird. ATS 100 000 entsprechen rund 7000 Euro. Nicht nur diskutiert, sondern auch rechtspolitisch gewünscht wird, in Österreich das Mindeststammkapital auf 10 000 Euro zu senken22, wobei die einen meinen, es müssten dann unter Aufrechterhaltung der Hälfteregel 5 000 Euro Soforteinzahlung genügen, während andere dafür eintreten, dass im Falle einer Absenkung des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro sogleich der gesamte Betrag aufgebracht werden sollte. Wer pro futuro gegen die Hälfteregel ist, macht sich größere Sorgen um die wirtschaftliche Anfangsstabilität der Gesellschaft als derjenige, der die Hälfteregel auch in Hinkunft (trotz abgesenktem Mindestkapital) beibehalten will und sich daher mit der sofortigen Einzahlung von 5000 Euro begnügt. Wie dem auch sei: Derzeit überwiegt allem Anschein nach die Ansicht, dass man mit einem erheblich niedrigeren Mindeststammkapital als bisher ohne weiteres das Auslangen finden könne. Das MoMiG ist nunmehr bei einem Mindeststammkapital von 25 000 Euro geblieben. Die österreichische Diskussion hat sich diesem Ergebnis noch nicht angepasst. Überdies erhitzt der Kommissionsvorschlag für eine Societas Privata Europaea, der mit einem Mindestgesell-

__________ 20 In Belgien wird ein Mindeststammkapital von 18 550 Euro verlangt, in Griechenland und Niederlande je 18 000 Euro. Das Vereinigte Königreich und Zypern fordern je 2 Euro, Frankreich und Irland je 1 Euro. Das arithmetische Mittel, bezogen auf die 25 EU-Mitgliedstaaten vor dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien, betrug 9 414 Euro; bezogen auf jene 21 Mitgliedstaaten, die ein Mindestkapital von mehr als 2 Euro fordern, 11 207 Euro. Vgl. dazu H. Torggler/Konwitschka, Die Reform des österreichischen Kapitalgesellschaftsrechts – Ausgewählte Themen, 16. ÖJT 2006, 2008, S. 13 ff., 58. 21 Zum wirtschaftlichen und vermögenssteuerrechtlichen Hintergrund der Anhebung des Mindeststammkapitals durch die GmbH-Nov 1980 vgl. Roth, Gläubigerschutz und Mindestkapital in der GmbH nach den österreichischen und deutschen Gesetzesnovellen vom 1.1.1981, GesRZ 1982, 139 f.; Peter Doralt, Die GmbH-Novelle 1980, ÖStZ 1981, 75 ff.; ders., Bevorstehende Neuerungen im GmbH-Recht, JfB 1978, 115 ff.; vgl. auch Kastner/Doralt/Nowotny (Fn. 6), S. 352. 22 Darauf wies in der oben genannten Enquete im österreichischen Bundesministerium für Justiz vom Jänner 2008 auch Bundesministerin Maria Berger ausdrücklich hin; vgl. Berger in Bachner (Fn. 2), S. 7 f. Damals sah der Entwurf des MoMiG noch ein Mindestkapital von 10 000 Euro vor.

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schaftskapital von 1 Euro auskommen will, die Gemüter und es sind erneut Stimmen laut geworden, die ein Mindestgesellschaftskapital von 10 000 Euro fordern. Insofern bleiben die folgenden Erwägungen aktuell. Einen die Gläubiger hinreichend sichernden Haftungsfonds bietet das Mindeststammkapital ohnehin nicht. Darüber ist man einig. Das Mindeststammkapital ist im Grunde nichts weiter als eine „Seriositätsschwelle“23. Die Gründer sollen zeigen, dass ihnen ihr Vorhaben auch einen spürbaren eigenen finanziellen Einsatz wert ist. Das schafft ein Mindestmaß an Vertrauen. Darüber hinaus hat ein Mindeststammkapital ggf. den faktischen Vorteil, eine Startinsolvenz zu verhindern. Lange Zeit werden 10 000 Euro freilich nicht reichen, um ein vorerst keinen Gewinn bringendes Geschäft zu führen. Wäre das gesetzlich vorgeschriebene Mindeststammkapital als wirtschaftliche Absicherung der Startphase des unternehmerischen Wirkens der GmbH gedacht, so dürfte es sich nicht auf einen generell festgelegten Mindestbetrag beschränken, weil dieser in vielen Fällen von vornherein zu gering ist, um eine derartige Absicherung zu bieten. Wäre eine solche vom Gesetzgeber gewollt, müsste in jedem einzelnen Fall einer GmbH-Gründung anhand einer sachverständigen Bestandsprognose geprüft werden, wie hoch ein derartiges Mindeststammkapital sein muss. Davon kann aber keine Rede sein. Je geringer das gesetzlich vorgeschriebene Mindeststammkapital ist und je höher die finanziellen Anforderungen für einen insolvenzfesten Geschäftsstart sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines raschen Zusammenbruchs, wenn diese erforderlichen Mittel nicht vorhanden sind. Selbst wenn sich ein Kreditinstitut findet, das der ihm präsentierten Geschäftsidee so viel abgewinnt, dass es bereit ist, den erforderlichen Startkredit zu gewähren, stirbt die Gesellschaft, wenn innerhalb des ersten Geschäftsjahres mangels entsprechender Wertschöpfung eine Überschuldung oder eine Zahlungsunfähigkeit eintritt. Wer das Mindeststammkapital von 35 000 Euro auf 10 000 Euro senkt, schwächt die Starthilfe zur Vermeidung einer Startinsolvenz immerhin um rund 71,5 %. Die Startinsolvenzen werden sich entsprechend erhöhen. Zugleich sinkt das Ansehen einer derartigen GmbH als Rechtsform. Man sollte nicht übersehen, dass die Attraktivität einer Billiggründung für den, der über kein ausreichendes Kapital verfügt, weitaus höher ist als für jemanden, der ohnehin bereit und in der Lage ist, der Gesellschaft von Anfang an genügend Kapital zu geben, um die beabsichtigten Geschäfte aufzunehmen. Wer Schwierigkeiten hat, ein Mindeststammkapital von 35 000 Euro aufzubringen, nimmt schon heute ein erhebliches Risiko in Kauf, bereits in der ersten Zeit seines Marktauftritts zu scheitern. Dieses Risiko ist zwangsläufig höher, wenn jemand froh ist, dass er nur mehr 10 000 Euro für den Geschäfts-

__________ 23 Zu den unterschiedlichen Begründungen des Mindestkapitalgebots vgl. Kalss/ Schauer, Die Reform des österreichischen Kapitalgesellschaftsrechts, 16. ÖJT 2006, Bd. I/1, S. 454 ff. Eingehend zur Mindeststammkapitalfrage jüngst Krejci, Societas Privata Europaea. Zum Kommissionsvorschlag einer Europäischen Privatgesellschaft, 2008.

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start benötigt. Dass sich schon derzeit das Mindeststammkapital nicht als Instrument zur Insolvenzprophylaxe bewährt hat, weil die Starrheit seiner Größe keine Rücksicht auf die konkreten Finanzerfordernisse des jeweiligen Unternehmens nimmt, bedeutet nicht, dass ein gewisses Mindeststammkapital dann doch den Gründern die Frage stellt, ob sie bereit sind, wenigstens diesen Betrag (auch wenn er nicht ausreichen sollte, den Geschäftsstart vollends auszufinanzieren) einzusetzen und zu riskieren. Wer glaubt, dass die erhebliche Senkung oder gar Abschaffung eines Mindeststammkapitals eine Wohltat für das Wirtschaftsleben bedeutet, weil auf diese Weise ein angebliches Marktzutrittshindernis beseitigt wird, übersieht, dass der ohnehin mit hinreichendem Kapital Ausgestattete aus der rechtlichen Möglichkeit einer Billiggründung keinen sonderlichen Vorteil zieht, während derjenige, der sich in Wahrheit einen derartigen Marktauftritt gar nicht leisten kann, weil er die für sein Geschäft erforderlichen Startkosten aus Eigenem gar nicht zu tragen vermag, aufs Eis gelockt wird, obwohl er darauf nicht tanzen kann. Für solche Personen stellt eine Billiggründung eine rechtspolitisch fragwürdige Versuchung dar, der nachzugeben oft lediglich bedeutet, dass Gläubiger Schaden erleiden und der Gründer höchst unerwünschte Rechtsfolgen zu tragen hat. Wer meint, schon angesichts eines Mindeststammkapitals von 35 000 Euro bestehe ein erhebliches Startinsolvenzrisiko, weshalb es keine sonderliche Bedeutung habe, wenn das Mindeststammkapital auf eine erheblich niedrigere Summe abgesenkt wird, übersieht, dass die Absenkung des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro Leute zur GmbH-Gründung einlädt, die noch weitaus weniger Geld haben als jene, welche 35 000 Euro aufzubringen haben. Für rechtsberatende Berufe stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwieweit sie gehalten sind, Gründer auf die erhöhte Insolvenzgefahr einer derartigen Billig-GmbH aufmerksam zu machen. Nun sind Notare und Rechtsanwälte keine Sachverständigen der Betriebswirtschaft. Nirgends steht, dass eine Gesellschaftsgründung nur dann rechtlich begleitet werden darf, wenn der wirtschaftliche Start und Fortbestand des Unternehmens aufgrund Vorliegens ausreichenden Kapitals als zumindest vorläufig gesichert bestätigt wird. Dies ändert aber nichts daran, dass auch ein Rechtsberater den Klienten darauf aufmerksam machen muss, was ihm rechtlich droht, wenn er ein Geschäft ohne ausreichende Finanzierung beginnt. Je größer die Anziehungskraft „billiger“ Gesellschaften für kapitalschwache Interessenten, desto größer ist die Gefahr einer vorzeitigen Pleite. Zumindest darauf sollte wohl auch ein Rechtsberater aufmerksam machen; dies zumindest dann, wenn ihm offensichtlich sein sollte, dass die zu gründende Gesellschaft vorweg an qualifizierter Unterkapitalisierung leidet.

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VI. Die vorerst mindeststammkapitallose „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“ Das MoMiG kennt zwar keine GmbH ohne Mindeststammkapital, lässt aber sehr wohl die Gründung einer GmbH zu, bei der das im Allgemeinen erforderliche Mindeststammkapital in der Höhe von 25 000 Euro erst im Laufe der Zeit über einbehaltene Gewinne gebildet werden soll. Vorweg genügt ein einziger Euro. Diese GmbH heißt „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“ oder „UG (haftungsbeschränkt)“. Die Werbewirksamkeit dieses Namens hält sich in Grenzen. Treibende Kraft hinter dieser Sonderform der GmbH ist das Bemühen, die Einwanderung ausländischer „Billiggesellschaften“ einzudämmen. Die Vorstellung, dass solche Gesellschaften das geforderte Mindeststammkapital aus einbehaltenen Gewinnen erhalten werden, mag dort gelingen, wo die Geschäftsidee erfolgreich aufgeht und auch ohne entsprechendes Startkapital realisiert werden kann. In den vielen Fällen aber, in denen mangelnde finanzielle Fundierung der Grund für die Wahl der GmbH-Billigvariante ist und in denen auch die nächste Zukunft keine Gewinne ermöglicht, wird sich die Vorstellung eines nachträglichen Anwachsens eines Mindeststammkapitals gar nicht erst erfüllen. Früher kommt noch die Pleite.

VII. Die starre „Muster-GmbH von der Stange“ Der deutsche Gesetzgeber bietet noch weitere Gründungserleichterungen. So sieht das MoMiG vor, dass bei der Gründung einer GmbH unter bestimmten Voraussetzungen Musterprotokolle verwendet werden können. Auf diese Weise soll die Gesellschaftsgründung im Wege eines „vereinfachten Verfahrens“ möglich sein. Das Musterprotokoll gilt zugleich als Gesellschafterliste. Der Entwurf des MoMiG sah ursprünglich ein Verfahren mittels „Mustersatzungen“ vor, bei dem weder die Beratung durch einen Notar noch ein Notariatsakt vorgeschrieben war. Diesen Schritt radikaler „Vereinfachung“ hat das MoMiG in seiner nunmehrigen Fassung erfreulicherweise nun doch nicht gesetzt. Der Inhalt des Musterprotokolls darf nicht geändert werden. Den Gesellschaftern steht es also lediglich frei, die Firma, den Sitz der Gesellschaft, den Unternehmensgegenstand, das Stammkapital sowie die Höhe der Geschäftsanteile der Gesellschafter und den Geschäftsführer zu bestimmen. Man gewinnt den Eindruck, dass die bisherige Schwierigkeit, eine GmbH zu gründen, darin gesehen wird, dass derzeit zu hohe Gründungshindernisse bestehen. Die eigentliche Schwierigkeit der Gründung einer GmbH, die eine nachhaltige Bestandchance hat (und nur solche Gesellschaften sind wünschenswert), liegt aber in der Erfolgsträchtigkeit einer Geschäftsidee und einer ihre Verwirklichung tragenden Finanzierung. Im Vergleich mit diesen wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung einer GmbH sind die bisherigen formalen Voraussetzungen einer 991

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GmbH-Gründung Kleinigkeiten. Stimmen aber die wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht, dann liegt keine Verbesserung des Ablaufs des Wirtschaftslebens vor, wenn GmbH-Gründungen auf die geplante Art und Weise vereinfacht und erleichtert werden. Sind hingegen die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine nachhaltig bestandsfähige GmbH gegeben, dann stören die bisherigen gesetzlichen Gründungsvoraussetzungen nicht, denn dann können sich die Gründer auch die bislang erforderliche Gründungsprozedur leisten. Der deutsche Gesetzgeber bewegt sich, was die Formulargründung betrifft, allerdings ohnehin im indischen Büßerschritt voran. Denn die „Muster-GmbH von der Stange“ gibt es nur, wenn die Gesellschaft aus maximal drei Gesellschaftern besteht und nur einen einzigen Geschäftsführer hat. Aus dem Musterprotokoll ergibt sich, dass nur eine Bargründung möglich ist. Formulargründungen dieser Art sind in mehrfacher Hinsicht bedenkliche Produkte. Zum einen fragt sich, worin die sachliche Rechtfertigung der bemerkenswerten Tatbestandselemente liegt, welche die Formulargründung einschränken. Warum nur drei Gesellschafter und nicht auch vier? Warum nur ein Geschäftsführer und nicht auch zwei? Zum anderen bleiben bei einer Formulargründung, die sich auf die Regelung einiger weniger Ordnungsfragen beschränkt, oft wichtige gesellschaftsrechtliche Anliegen ungeregelt. Dies führt dazu, dass solche Fragen entweder überhaupt ungeklärt bleiben oder aber außergesellschaftsvertraglich gelöst werden, womit die vielfältige Problematik des Verhältnisses zwischen Satzung und sonstigen Vereinbarungen der Gesellschafter über Angelegenheiten, die eigentlich in der Satzung geregelt sein sollten, auf wesentlich breiterer Front aufbricht als bisher. Wer individuelle Regelungen über die Anteilsabtretung wünscht, wer Regelungen über eine etwaige Unternehmensnachfolge treffen will, wer Besonderes zur Geschäftsführung und Vertretung oder über die Abfindung von Gesellschaftern festhalten möchte, vermag darüber bei einer Formulargründung nichts in der Satzung festzuhalten. Im Grunde hat, wer eine Formulargründung erwägt, keinen geringeren Beratungsbedarf als jeder andere auch, der eine GmbH ins Leben rufen will. Es liegt nahe, dass rechtsunkundige Formulargründer diesen Bedarf mangels ausreichenden Problembewusstseins gar nicht als subjektives Bedürfnis verspüren und daher in eine Falle tappen, die der Gesetzgeber selbst als Angebot einer Wohltat empfindet. Ein nicht hinreichend beratener Formulargründer darf sich wie der von Helmut Qualitinger unnachahmlich interpretierte „Wilde auf seiner Maschin’“ fühlen: „I hob’ zwor ka Ahnung wo i hinfohr’, oba dafür bin i g’schwinder durt!“24

__________ 24 Hochdeutsch: „Ich habe zwar keine Ahnung, wohin ich fahre, dafür bin ich aber schneller dort.“

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Solche Gründer handeln sich mehr Rechtsprobleme ein, als sie ahnen und ihnen lieb ist. Wenn man überdies bedenkt, dass nicht alle GmbH-Gründungen der Realisierung solider Geschäftsideen auf Grundlage ausreichender Finanzierung dienen, ja man vielmehr annehmen darf, dass gerade jene, die möglichst rasch und billig eine GmbH gründen wollen, auch in anderen Belangen nicht alles Erforderliche reiflich bedacht haben könnten, so wird es nicht verwundern, dass den Gesellschaftern nicht vorhergesehene Schwierigkeiten drohen. Das Modell der Musterprotokollgründung bietet also, abgesehen von seinem eigenartigen Anwendungsbereich, mehr Steine als Brot. Von einer Übernahme dieses Modells in das österreichische Recht ist abzuraten.

VIII. Auch der österreichische Vorschlag einer „einfachen GmbH“ („GmbH light“) verdient Kritik In der österreichischen Diskussion findet sich ein anderer rechtspolitischer Vorschlag, der näherer Betrachtung bedarf. Ein tiefgehender Eingriff in das bisherige GmbH-Recht stünde bevor, wenn der Gesetzgeber der Vorstellung folgen wollte, neben die wie immer modifizierte bisherige GmbH noch ein besonderes österreichisches Modell einer „GmbH light“ zu stellen, um die befürchtete Überschwemmung Österreichs mit ausländischen „Billiggesellschaften“ abzuwehren. Österreichische rechtspolitische Vorstellungen in diese Richtung wurden anlässlich des 16. ÖJT erwogen25, sind aber auf Kritik gestoßen26. Das Juristentagsgutachten schlägt die Schaffung einer „einfachen GmbH“ vor, die überhaupt kein Mindeststammkapital und damit auch keine Mindesteinzahlungserfordernisse und auch keine Hälfteregel mehr benötigt. Es soll auch keine § 10-Erklärung und keine Bankbestätigung mehr notwendig sein. Stattdessen soll die Gesellschafter (eventuell) eine direkte, betraglich beschränkte Haftung für Gläubigeransprüche treffen, wobei aber die Haftungssumme deutlich geringer als das derzeit erforderliche Mindeststammkapital sein soll. Obwohl kein Mindeststammkapital erforderlich ist, so soll doch auch die „GmbH light“ ein Stammkapital haben und eine Unterpari-Emission weiterhin verboten sein, doch sind im Übrigen erhebliche Erleichterungen vorgesehen. Werden Sacheinlagen vereinbart, so darf das Firmenbuchgericht die Eintragung nicht verweigern, auch wenn die Sacheinlage überbewertet wurde. Es soll genügen, dass diesfalls der Geschäftsführer haftet; bei grober Fahrlässigkeit auch der Sacheinleger. Dessen Haftung entfällt jedoch, wenn freiwillig die

__________ 25 Kalss/Schauer, Die Reform des Österreichischen Kapitalgesellschaftsrechts, 16. ÖJT 2006, Bd. II/1, S. 482 ff. 26 H. Torggler/Konwitschka, 16. ÖJT 2006, Bd. II/2, S. 61 ff.

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aktienrechtlichen Gründungsbestimmungen eingehalten werden. Die Regeln über die Nachgründung und über verdeckte Sacheinlagen sollen entfallen27. Statt eingehender Kritik am Vorschlag einer „GmbH light“28 im Einzelnen nur so viel: Alles hat seinen Preis; auch der im Kapitalgesellschaftsrecht verwirklichte Wunsch der Gesellschafter, für Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht persönlich haften zu müssen. Dieses Anliegen führt nun einmal zu einer massiven Bedrohung der Gläubigerinteressen. Der Verletzung dieser Interessen durch leere Gesellschaftskassen gilt es zu begegnen. Darin liegt der Grund für die Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften des Kapitalgesellschaftsrechts. Wer diese Schutzinstrumente abbaut, gewährt den Gesellschaftern den Vorteil des Trennungsprinzips auf Kosten der Missachtung berechtigter Interessen der Gesellschaftsgläubiger. Ein Ausgleich dafür könnte nur darin gefunden werden, dass auch das Trennungsprinzip entsprechend rückgebaut wird. Dies kann nur durch eine äquivalente Rückkehr zur persönlichen Haftung der Gesellschafter und nicht nur durch einen Ausbau der Haftung des Geschäftsführers erreicht werden. Man kann nicht sowohl das Trennungsprinzip als auch leere Gesellschaftskassen für gerechtfertigt erachten, wenn man überdies am Gläubigerschutz festhalten will. Sich lediglich an die Geschäftsführer zu wenden, erscheint zu wenig. Hier schlägt man nur den Sack; gemeint aber ist der Esel. Das Prinzip der leeren Kassen bedingt die Rückkehr zur persönlichen Haftung der Gesellschafter. Manche sind nun in der Tat der Meinung, ein Gläubiger, der die Bonität seines Schuldners nicht hinreichend genau prüft, ehe er sich mit ihm einlässt, sei auch nicht schutzwürdig. Diese Sicht widerspricht den überkommenen Wertungen unserer Rechtsordnung, insbesondere auch dem Verbraucherschutzgedanken, doch ist nicht undenkbar, dass bisherige Grundhaltungen, die den Gläubigerschutz bezwecken, zum Wohle eiliger Gründer aufgegeben werden. Wie dem auch sei: Das Wirtschaftsleben hätte mit noch erheblicheren Reibungsverlusten zu rechnen, wenn maßgebliche Gesellschaftsformen im Geschäftsverkehr vorweg kein Mindestvertrauen mehr verdienen. Nun ist richtig, dass es trotz des bestehenden gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes immer wieder zu erstaunlichen Pleiten kommt. Auch heute schon ist es oft notwendig, dass Gläubiger über die Bonität einer GmbH, mit der kontrahiert werden soll, besser Einkünfte einholen sollten, als sich blauäugig und im Bestreben, so schnell wie möglich einen Auftrag zu erhalten, ungeprüft auf Geschäfte einzulassen. Angesichts solcher Situationen den bisherigen Gläubigerschutz überhaupt fallen zu lassen, erinnert an jemanden, der die Streichung

__________ 27 Überdies wird empfohlen, eine gesetzliche Pflichtversicherung für die Anlaufkosten eines Konkurses vorzusehen, so dass jedenfalls eine Konkurseröffnung möglich sein soll. Diese Regelung soll aber nicht nur für die GmbH light gelten, sondern ganz allgemein. 28 Vgl. dazu H. Torggler/Konwitschka, 16. ÖJT 2006, Bd. II/2, S. 61 ff. Kritik an diesem Vorschlag wurde auch anlässlich der genannten Enquete im österreichischen Bundesministerium für Justiz im Jänner 2008 geäußert.

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des Mordparagrafen fordert, weil es ja trotz dieser Regelung immer wieder zu Morden kommt. Die vorgeschlagene „GmbH light“ würde das bisherige Konzept des GmbHrechtlichen Gläubigerschutzes auf den Kopf stellen. Die präventive Kontrolle der Kapitalaufbringung würde durch eine nachgehende ersetzt, die i. d. R. erst in der Insolvenz der Gesellschaft aktuell würde29. Hat man bisher versucht, die Flöhe vorweg im Sack zu lassen, damit sie die Gläubiger nicht beißen, so würde es in Zukunft keinen Sack mehr geben. Die Flöhe wären frei und die von ihnen gebissenen Gläubiger müssten sehen, wie sie nachträglich ihrer Peiniger habhaft werden können. Im Übrigen ist zu erwarten, dass viele „GmbH light“ genauso nach kurzer Zeit sterben würden wie heute die eingewanderten Limiteds. Warum sollen wir eine eigene österreichische Rechtsform mit erhöhter Mortalitätsneigung schaffen und es nicht den eiligen, mittellosen Gründern überlassen, sich ihren gesellschaftsrechtlichen Sarg im Ausland zu besorgen?

IX. Die Notariatsaktspflichtigkeit GmbH-rechtlicher Gestaltungsakte trägt zur Rechtssicherheit im Geschäftsverkehr bei Rudolf v. Ihering hat den schönen Satz geprägt: „Die Form ist die Zwillingsschwester der Freiheit“30. Anders gesagt: Ein Recht ist nur so viel wert wie der Nachweis seines Bestandes. Der Kluge beschränkt sich selbst in seiner ihm vom Gesetzgeber grundsätzlich gewährten Formfreiheit. Dort, wo es der Rechtsordnung wichtig ist, schreibt sie aber auch heute noch aus Gründen der Beweisbarkeit, aus Gründen des Schutzes vor Übereilung oder aus Gründen gebotener Publizität die Einhaltung bestimmter Formen vor. In besonders wichtigen Fällen liegt nahe, dass die erforderliche Festschreibung eines Rechts einer nicht in die kontradiktorischen Interessen der Betroffenen verstrickten Person oder Stelle vorbehalten wird, die im Geschäftsverkehr erhöhtes, öffentliches Vertrauen genießt31. Dies gilt in besonderem Maße für das Kapitalgesellschaftsrecht. Denn hier geht es nicht nur darum, dass ausschließlich zwischen einigen wenigen Vertragspartnern gegenseitige Rechte und Pflichten gestaltet werden, sondern zugleich um die Schaffung eines neuen, eigenständigen Rechtssubjekts und um seine rechtliche Verfassung. Die Satzung, der Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens, ihres Inhalts und ihrer Gültigkeit: all dies muss auch für Dritte, insbesondere auch für spätere Gesellschafter, die bei der Gründung nicht mitgewirkt haben,

__________ 29 H. Torggler/Konwitschka, 16. ÖJT 2006, Bd. II/2, S. 13 ff., 62. 30 Vgl. Rechberger in Rechberger (Hrsg.), Formpflicht und Gestaltungsfreiheit, 2002, S. V. 31 Vgl. M. Gruber, Studien zur Teleologie der notariellen Form, in Rechberger (Fn. 32), S. 55 ff.

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verlässlich erkennbar sein. Gleiches gilt für Gesellschaftsbeschlüsse, für den Ablauf von Gesellschafterversammlungen, für Satzungsänderungen und dgl32. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich aus guten Gründen den Notaren wichtige Aufgaben zugewiesen: sowohl, was eine professionelle Rechtsberatung betrifft, als auch im Hinblick auf erforderliche Beurkundungen. Die Notare leisten hier einen herausragenden Beitrag zur Rechtsklarheit und Rechtssicherheit im Kapitalgesellschaftsrecht. Die jüngsten Entwicklungen lassen Tendenzen erkennen, welche in einigen Belangen die angestammte, überaus wertvolle Stellung der Notare im Gesellschaftsrecht in Frage stellen. Das Motto: Mehr Freiheit auf Kosten der Form. Hier gilt es, der Gefahr eines dem Rechtsverkehr schädlichen Formabbaues entgegenzutreten33. Schon lange wird diskutiert, ob auch de lege ferenda für die Übertragung eines GmbH-Anteils ein Notariatsakt erforderlich sein soll oder ob, angeblich zugunsten der Gründer, auf den Notariatsakt verzichtet werden kann34. Das deutsche MoMiG lässt beifallswerterweise die Notariatsaktspflichtigkeit weiter bestehen. Wer eine Orientierung Österreichs an die deutsche GmbHEntwicklung für nützlich hält, sollte also auch in der Frage der Notariatsaktspflichtigkeit diese Orientierung nicht vorweg ablehnen. Die Pro- und Contra-Argumente zur Frage der Notariatsaktspflichtigkeit der Übertragung von GmbH-Anteilen liegen längst vor und sind bekannt. Der diesbezügliche Stellungskrieg dauert schon lange. Aus Gründen, die nicht nur mit Rechtsdogmatik zu tun haben, verschieben sich die Fronten nicht. Vorübergehend gibt es Feuerpausen. Anlässlich des 16. ÖJT wurde allerdings von den Gutachtern das Feuer wieder eröffnet35. Wir finden keine neuen Argumente, sondern wertende Gewichtungen, die man ebenso gut anders vornehmen kann. Interessant ist, was die beiden Referenten zu diesem Thema sagten, die dem Anwaltsstand angehören. Sie zogen sich auf ebenso ehrliche wie elegante Weise aus der Affäre. Sie anerkannten, dass es sich hier um eine „heikle und emotionsgeladene Frage nach der künftigen Aufgabenteilung zwischen Rechtsanwälten und Notaren“ handelt36. Und sie klammerten eine eingehende Behandlung dieser Frage aus, indem sie ausführten: „Und überhaupt ist hier in Wahrheit nicht der Rahmen,

__________ 32 Vgl. Krejci, Formgebote im Gesellschaftsrecht, in Rechberger (Fn. 32), S. 25 ff. 33 Davon zu unterscheiden sind rechtspolitische Bestrebungen konkurrierender Berufsgruppen, die Formgebote zwar grundsätzlich beizubehalten, die damit verbundenen Aufgaben aber nicht den Notaren allein zu überlassen. 34 Vgl. schon P. Bydlinski, Veräußerung und Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen, 1991; P. Bydlinski/F. Bydlinski, Formgebote für Rechtsgeschäfte auf dem Prüfstand, 2001, S. 50 ff.; Enzinger, Von überschießenden Formpflichten: Die Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen, AnwBl. 2001, 510. Für die Beibehaltung der Notariataktspflichtigkeit vgl. hingegen die Beiträge in Rechberger (Fn. 32). 35 Kalss/Schauer, Die Reform des Österreichischen Kapitalgesellschaftsrechts, 16. ÖJT 2006, Bd. II/1, S. 729 ff. 36 H. Torggler/Konwitschka, 16. ÖJT 2006, Bd. II/2, S. 70.

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dieses viel grundlegendere, nicht allein den Bereich des Kapitalgesellschaftsrechts betreffende Thema zu erörtern.“37 Dennoch verwiesen die beiden Referenten auf einen wichtigen Umstand. Es sei sachlich geboten, die Notariatsaktsfrage im Falle der Gründung der GmbH, der Kapitalerhöhung und der Anteilsübertragung auf die gleiche Art und Weise zu beantworten. Es wäre demnach verfehlt, allein die Anteilsübertragung von der Notariatsaktspflichtigkeit zu befreien, die anderen Fälle hingegen nicht. Dies bedeutet aber umgekehrt, dass die Notariatsaktspflichtigkeit der Anteilsübertragung sinnvoller Weise nicht in Frage gestellt werden kann, wenn die Notariatsaktspflichtigkeit der GmbH-Gründung und Kapitalerhöhung weiterhin aufrecht bleiben soll. Nun könnte man meinen, dass damit auf das Notariat eine noch weitaus größere Bedrohung zukommt. Mag sein. Doch sehen wir die Sache politisch pragmatisch: Ist es wahrscheinlich, dass jemand, der seit Jahren vergeblich versucht, 50 kg zu stemmen, diesen Kraftakt eher schafft, wenn er sich zu den bisherigen noch weitere 50 kg auflegt? Von all dem abgesehen hat das Formgebot, für einen gültigen GmbH-Vertrag einen Notariatsakt zu fordern, alles in allem mehr Vor- als Nachteile. Eine andere Frage ist, ob es in Zukunft auch andere, äquivalente Formgebote geben kann. Damit wird jedoch eine ganz andere, nämlich berufsrechtliche Frage angeschnitten, die nur mehr peripher mit dem Gesellschaftsrecht zu tun hat.

X. Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausgießen Statt einer Wiederholung der Einzelergebnisse der vorliegenden Erwägungen ein abschließender Appell: Die Gesetzgeber, auch der österreichische, sollten bei allem Reformeifer das Kind nicht mit dem Bade ausgießen. Liberalisierung, Deregulierung, Vereinfachung, Entbürokratisierung – all das mögen erstrebenswerte und attraktive Ziele sein. In höchstem Maße verfehlt aber wäre es, im Drang nach noch mehr unternehmerischer Freiheit und Schnelligkeit die nicht minder wichtigen rechtspolitischen Ziele aus den Augen zu verlieren, die berechtigten Interessen anderer gebührend zu schützen und die für einen gedeihlichen Geschäftsverkehr unerlässlichen Erfordernisse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu achten. Von diesen Zielen sollte sich der Gesetzgeber weder durch politische Strohfeuer abbringen lassen, noch durch den Einmarsch fremder Gesellschaftsformen, die ohnehin dazu neigen, jung zu sterben, wenn sie von Leuten gegründet werden, die sich ein Mindeststammkapital von ein paar tausend Euro nicht leisten können. Denn solche Unternehmer kentern oft schon bei ersten leichtem Wellengang an der Hafenausfahrt. Die hohe See erreichen sie erst gar nicht. Die derzeitige Entwicklung, in Zukunft die Gründerfreiheit den bislang für gerechtfertigt erachtete Schutzinteressen vorzuziehen, spiegelt sich allerdings

__________ 37 H. Torggler/Konwitschka, 16. ÖJT 2006, Bd. II/2, S. 70.

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auch in der Diskussion um die Societas Privata Europaea wider. Doch das ist eine andere Geschichte. Wie dem auch sei: Es wird der Tag kommen, an dem erkannt werden wird, dass das kapitalgesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip nicht ohne Schaden für die Wirtschaft aufrecht erhalten werden kann, wenn man zugleich auf das ausgleichende Gegengewicht zum Trennungsprinzip, nämlich auf relativ strenge gesellschaftsrechtliche Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften, verzichten zu können glaubt und so die Gläubiger gesellschaftsrechtlich schutzlos lässt. Gläubiger wollen Geld sehen. Sie wollen sich nicht damit trösten, dass stattdessen die Missetäter eingesperrt werden bzw. ein Berufsverbot bekommen. Daher ist ein gesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz mit einigermaßen tauglichen Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften gläubigerfreundlicher als öffentlich-rechtliche Sanktionen, die leere Gesellschaftskassen zulassen. Schon auf mittlere Sicht werden die Gesetzgeber dem Gott der Diebe die Flügel wieder stutzen; dies insbesondere dann, wenn die gerade auch in der EU sehr aktiven Verbraucherschützer erkennen werden, dass ein in Fragen des Gläubigerschutzes insuffizient gewordenes Gesellschaftsrecht in erheblichem Maße auch den in vielen anderen Belangen so sorgsam behüteten Verbrauchern auf den Kopf fällt.

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Der Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags zwischen Mutter und Enkel im mehrstufigen faktischen Konzern Inhaltsübersicht I. Einführung und Fragestellung

2. Schutz der Tochter und ihrer Gläubiger a) Verlustausgleich und Gläubigersicherheit (§§ 302, 303 AktG) b) Stammkapital- und Existenzschutz (T-GmbH) c) Nachteilsausgleich gemäß § 311 AktG (T-AG) 3. Schutz außenstehender Gesellschafter der Tochter a) T als GmbH b) T als Aktiengesellschaft 4. Mehrere zwischengeschaltete Tochtergesellschaften

II. Enkelgesellschaft in der Rechtsform der GmbH 1. Zustimmung der Haupt-/Gesellschafterversammlung der Tochter a) Kein Zustimmungserfordernis analog §§ 293 AktG, 53 Abs. 3 GmbHG auf der Ebene von T b) Zustimmung der Hauptversammlung von T nach der Holzmüller/ Gelatine-Rechtsprechung (T-AG) c) Zustimmung der Gesellschafter von T wegen nachteiliger Einflussnahme (T-GmbH)

III. Enkelgesellschaft in der Rechtsform der AG

I. Einführung und Fragestellung 1. In der Konzernpraxis ergibt sich gelegentlich die Situation, dass in einem vertikal gestuften faktischen Konzern ein Interesse daran besteht, einen unmittelbaren Gewinnabführungsvertrag zwischen zwei Gesellschaften der Beteiligungskette abzuschließen, zwischen denen kein unmittelbares Beteiligungsverhältnis besteht, ohne zugleich die dazwischen liegenden Glieder der Kette ebenfalls durch einen Gewinnabführungsvertrag oder einen Beherrschungsvertrag zu verbinden. Stellt man sich als einfachstes Beispiel die Beteiligungskette M

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vor, kann etwa der Wille bestehen, zwischen der Muttergesellschaft (M) und der Enkelgesellschaft (E) durch Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages die Voraussetzungen für eine körperschaft- und gewerbesteuerliche Organschaft zu begründen (§§ 14 KStG, 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG), die zwischengeschaltete Tochtergesellschaft (T) dabei aber zu überspringen. Die Organschaft zwischen M und E mag sinnvoll sein, um Gewinne von E mit Verlusten oder Verlustvorträgen von M verrechnen zu können. Das Überspringen von T kann aus den verschiedensten Gründen gewünscht sein, etwa weil man im Verhältnis zur Tochter die Rechtsfolgen des Gewinnabführungsvertrages, insbesondere die Verlustausgleichspflicht (§ 302 AktG), vermeiden will, weil es sich bei der Tochter um eine Auslandsgesellschaft handelt oder weil mit der Tochter aufgrund ihrer Rechtsform eine Organschaft nicht begründet werden kann1. 2. Steuerlich setzt die Begründung der Organschaft neben dem Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages zwischen Organträger (M) und Organgesellschaft (E) unter anderem voraus, dass die Organgesellschaft in den Organträger finanziell eingegliedert ist, d. h. der Organträger an der Organgesellschaft die Mehrheit der Stimmrechte besitzt (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 KStG). Dabei sind mittelbare Beteiligungen zu berücksichtigen, wenn die Beteiligung an jeder vermittelnden Gesellschaft die Mehrheit der Stimmrechte gewährt (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 KStG). Das Steuerrecht lässt die Begründung einer Organschaft zwischen Mutter und Enkel also nicht nur zu, wenn es sich um eine Kette 100 %iger Beteiligungen handelt, sondern es akzeptiert auf jeder Stufe der Kette außenstehende Gesellschafter, so lange diese jeweils über weniger als 50 % der Stimmrechte verfügen. Ebenso wenig spielt es aus steuerrechtlicher Sicht eine Rolle, wie viele Tochtergesellschaften durch den unmittelbaren Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter und Enkel „übersprungen“ werden, es muss nur eine durchgehende Kette von Stimmrechtsmehrheitsbeteiligungen zwischen Mutter und Enkel bestehen. Dem Steuerrecht kommt es auch nicht auf die Rechtsform der übersprungenen Tochtergesellschaften an. Die für die Herbeiführung einer finanziellen Eingliederung nötige mittelbare Beteiligung kann daher in der Kette auch über eine Personengesellschaft oder über eine ausländische Gesellschaft vermittelt werden2. 3. Die gesellschaftsrechtlichen Anforderungen und Schutzmechanismen für den Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages regelt das Aktiengesetz allein mit Blick auf den unmittelbaren Vertrag zwischen der berechtigten und der verpflichteten Gesellschaft. Damit der Vertrag wirksam wird, muss ihm die Hauptversammlung der verpflichteten Aktiengesellschaft mit mindestens drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals zustimmen (§ 293 Abs. 1 AktG). Hat die verpflichtete Gesellschaft außenstehende Aktionäre, muss der Vertrag für diese einen angemessenen Ausgleich und eine angemessene Abfindung festsetzen (§§ 304, 305 AktG). Zum Schutz der Gesell-

__________ 1 Organtauglich sind nur SE, AG, KGaA und GmbH; vgl. §§ 14 Abs. 1 Satz 1, 17 KStG sowie etwa Witt/Dötsch in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, Erg.-Lfg. April 2006, § 14 KStG n. F. Rz. 50 ff. 2 BFH, BStBl. II 1978, 74; Witt/Dötsch (Fn. 1), § 14 KStG n. F. Rz. 130.

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schaft und der Gläubiger hat das herrschende Unternehmen während der Vertragsdauer etwa anfallende Verluste auszugleichen (§ 302 AktG), und bei Beendigung des Gewinnabführungsvertrages können Gläubiger der verpflichteten Gesellschaft nach Maßgabe von § 303 AktG Sicherheit für ihre vor Vertragsende begründeten Forderungen verlangen. Ist die verpflichtete Gesellschaft eine GmbH, ist nach herrschender Meinung entsprechend § 53 Abs. 3 GmbHG, die Zustimmung sämtlicher Gesellschafter erforderlich3. Das macht eine entsprechende Anwendung der Verpflichtung zur Festsetzung eines angemessenen Ausgleichs und einer angemessenen Abfindung nach §§ 304, 305 AktG überflüssig4. Denn die Minderheitsgesellschafter können sich selbst helfen, indem sie ihre Zustimmung zum Vertragsschluss davon abhängig machen, dass ihre Interessen durch geeignete Regelungen in einer ihnen befriedigend erscheinenden Form gewahrt werden. Andere Autoren wollen entsprechend § 53 Abs. 2 GmbHG die Zustimmung der Gesellschafterversammlung mit einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen genügen lassen, verlangen aber folgerichtig die Festsetzung eines angemessenen Ausgleichs und einer angemessenen Abfindung entsprechend §§ 304, 305 AktG5. Die Verlustausgleichspflicht des § 302 AktG ist auch bei Gewinnabführungsverträgen mit einer GmbH entsprechend anwendbar6; gleiches gilt für das Recht der Gläubiger, entsprechend § 303 AktG bei Vertragsbeendigung Sicherheitsleistung zu verlangen7. Nach den geschilderten Regeln sind die Enkelgesellschaft E, ihre etwaigen außenstehenden Gesellschafter und ihre Gläubiger bei Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages zwischen M und E geschützt. Aber was ist mit der in der Kette übersprungenen Tochtergesellschaft T? Auch ihre Interessen können durch den Vertragsschluss massiv berührt sein, entgehen ihr doch künftig die auf sie entfallenden Gewinnausschüttungen von E. Möglicherweise gibt es auch bei ihr außenstehende Gesellschafter, und vermutlich gibt es auch bei ihr Gläubiger. Wie sind deren Interessen zu schützen?

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3 Vgl. etwa BayObLG, WM 1988, 1229, 1232; Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, SchlAnh. KonzernR Rz. 55; Ulmer in Großkomm.GmbHG, 2008, § 53 GmbHG Rz. 154 ff.; Casper in Großkomm.GmbHG, 2008, Anh. § 77 GmbHG Rz. 191; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, Anh. § 13 GmbHG Rz. 40; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, § 293 AktG Rz. 43a. 4 Zöllner (Fn. 3), SchlAnh. Konzernrecht Rz. 63; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 304 AktG Rz. 11; Casper in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), Anh. § 77 GmbHG Rz. 191. 5 So z. B. Lutter/Hommelhoff in dies., GmbHG, 16. Aufl 2004, Anh. § 13 GmbHG Rz. 52; Koppensteiner in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, Anh. § 52 GmbHG Rz. 55 m. w. N. 6 BGHZ 105, 324, 336 – Supermarkt; BGHZ 168, 285, 288 Tz. 6; Zöllner (Fn. 3), SchlAnh. Konzernrecht Rz. 105 ff.; Altmeppen in Roth/Altmeppen (Fn. 3), Anh. § 13 GmbHG Rz. 105, 72 ff.; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 302 AktG Rz. 25. 7 BGHZ 95, 330, 346 – Autokran; BGHZ 115, 187, 198 – Video; Zöllner (Fn. 3), SchlAnh. Konzernrecht Rz. 108; Altmeppen in Roth/Altmeppen (Fn. 3), Anh. § 13 GmbHG Rz. 105, 72 ff.; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 303 AktG Rz. 3.

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4. Die Fragestellung ist nicht neu, aber die Antworten, die die Literatur auf sie bereithält, sind in mancherlei Hinsicht unvollständig und für die Rechtspraxis unklar. Auch aus der Sicht des Gesellschaftsrechts ist immerhin anerkannt, dass Unternehmensverträge unmittelbar zwischen Mutter- und Enkelgesellschaft geschlossen werden können8. Zwar beziehen sich diese Äußerungen in der Literatur durchweg auf den Unternehmensvertrag mit einer Enkelgesellschaft in der Rechtsform der AG. Es spricht aber nichts dagegen, die Zulässigkeit eines stufenübergreifenden Unternehmensvertrages zwischen Mutter und Enkel auch dann anzunehmen, wenn es sich bei der Enkelgesellschaft nicht um eine AG, sondern um eine GmbH handelt. Die rechtlichen Verhältnisse der „übersprungenen“ Tochter sind für die Zulässigkeit des Unternehmensvertrages zwischen Mutter und Enkel ohne Belang. Der Zulässigkeit des Vertrages steht es auch nicht entgegen, wenn die Tochter nicht im 100 %igen Anteilsbesitz der Mutter steht, sondern außenstehende Gesellschafter hat, und ebenso wenig kann es für die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit des isolierten Unternehmensvertrags zwischen Mutter und Enkel eine Rolle spielen, ob eine oder mehrere Tochtergesellschaften zwischengeschaltet sind, welche Rechtsform sie haben und ob es sich dabei ausschließlich um inländische Unternehmen handelt. Für die Frage, wie die in der Kette übersprungenen Gesellschaften, ihre außenstehenden Gesellschafter und ihre Gläubiger angemessen zu schützen sind, sind diese Konstellationen aber im Auge zu behalten. Denn in der Praxis sind die Dinge nicht immer so einfach, dass zwischen M und E nur eine einzige 100 %ige Tochtergesellschaft liegt. Realistischer ist eine Beteiligungskette mit mehreren zwischengeschalteten Gesellschaften, bei denen außenstehende Gesellschafter vorhanden sein können, die unterschiedliche Rechtsformen haben und die unterschiedlichen Rechtsordnungen unterstehen mögen. Alle diese Gesellschaften können benachteiligt sein, wenn die Gewinne von E an der Kette vorbei direkt an M abgeführt werden, alle diese Gesellschaften und ihre Gläubiger bedürfen des Schutzes, und ebenso sind die Interessen aller außenstehenden Gesellschafter zu wahren, bei welcher der übersprungenen Gesellschaften in der Kette sie sich auch befinden mögen. Die nachfolgenden Überlegungen müssen sich allerdings beschränken und richten den Blick nur auf die Tochtergesellschaften in der Rechtsform der deutschen AG und GmbH.

II. Enkelgesellschaft in der Rechtsform der GmbH Abhängige Gesellschaften im Konzern haben in ihrer Mehrzahl die Rechtsform der GmbH, so dass die Vermutung zutreffen dürfte, dass auch stufenübergrei-

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8 Vgl. z. B. Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 291 AktG Rz. 15; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2004, § 291 AktG Rz. 67; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 291 AktG Rz. 38, 49; Kropff in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, Anh. § 311 AktG Rz. 46; Krieger in MünchHdb. AG, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 70; Lackner, Der mehrstufige Konzern, 2005, S. 284; Wanner, Konzernrechtliche Probleme mehrstufiger Unternehmensverbindungen nach Aktienrecht, 1998, S. 118; Wilh. Bayer in FS Ballerstedt, 1975, S. 157, 163 f.; Rehbinder, ZGR 1977, 581/618.

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Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter und Enkel im mehrstufigen Konzern

fende Unternehmensverträge in ihrer Mehrzahl mit einer GmbH als verpflichteter Gesellschaft geschlossen werden. Hier sind die Dinge im Ausgangspunkt einfach: Hat E die Rechtsform der GmbH, bedarf der Vertrag nach herrschender Meinung der Zustimmung sämtlicher GmbH-Gesellschafter, die dementsprechend ihre Zustimmung davon abhängig machen können, dass ihre Interessen in geeigneter Weise geschützt werden9. Allein- oder Mehrheitsgesellschafter von E ist T, so dass der Vertrag zwischen M und E nicht ohne Zustimmung von T wirksam werden kann. Aber was bedeutet das konkret? Welches Organ auf der Ebene der Tochter entscheidet darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen dem Vertrag zwischen Mutter und Enkel zugestimmt werden soll, und nach welchen materiellen Regeln beurteilt sich, was zum Schutz der Tochter und ihrer Gläubiger und Minderheitsgesellschafter nötig ist? Bei diesen Fragen wird die Rechtslage komplizierter. Sie hängt insbesondere davon ab, ob die Tochter die Rechtsform der AG oder der GmbH hat. 1. Zustimmung der Haupt-/Gesellschafterversammlung der Tochter Auf der Ebene von T stellt sich zunächst die Frage, wer über die Zustimmung der T zum Vertragsschluss M-E entscheidet. Handelt es sich dabei um eine Maßnahme, die in die Geschäftsführungskompetenz von Vorstand/Geschäftsführung der T fällt oder ist auch bei T die Haupt-/Gesellschafterversammlung einzuschalten? a) Kein Zustimmungserfordernis analog §§ 293 AktG, 53 Abs. 3 GmbHG auf der Ebene von T Es lässt sich argumentieren, die Zustimmung zum Gewinnabführungsvertrag M-E habe für T letztlich die gleiche wirtschaftliche Wirkung wie ein Gewinnabführungs- oder Teilgewinnabführungsvertrag zwischen M und T. Ist E die einzige Einkunftsquelle von T, wird mit der Gewinnabführung von E an M wirtschaftlich gesehen zugleich der gesamte potentielle Gewinn von T an M abgeführt. Hat T noch weitere Einkunftsquellen, führt der Gewinnabführungsvertrag M-E für T zwar nicht notwendig zum Verlust des gesamten Gewinns, wohl aber ist ein Teil davon betroffen. Man könnte deshalb auf den Gedanken verfallen, die Wirksamkeit des Gewinnabführungsvertrages M-E oder die Wirksamkeit der Zustimmung von T zu diesem Gewinnabführungsvertrag entsprechend § 293 AktG bzw. § 53 Abs. 3 GmbHG davon abhängig zu machen, dass auch die Hauptversammlung (im Falle einer AG) bzw. sämtliche Gesellschafter (im Falle einer GmbH) von T zustimmen, da diese Zustimmung auch für einen Gewinn- oder Teilgewinnabführungsvertrag10 von T erforderlich wäre. Mehr als einen flüchtigen Gedanken haben solche Erwägungen aber nicht verdient. § 293 AktG setzt einen Unternehmensvertrag voraus, an dem die Gesellschaft selbst beteiligt ist und der deshalb ihre Rechte und Pflichten

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9 Vgl. oben Fn. 3 und 4. 10 Vgl. für die AG §§ 293 Abs. 1, 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG; für die GmbH z. B. Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 292 AktG Rz. 37a.

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unmittelbar betrifft; gleiches gilt für § 53 Abs. 3 GmbHG. Unternehmensverträge von Beteiligungsgesellschaften (E) können zwar die wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Gesellschaft (T) berühren, aber das gilt nicht nur für Unternehmensverträge, sondern für Verträge aller Art und ist nicht der tragende Grund dafür, dass das Gesetz die Wirksamkeit des Unternehmensvertrages für die verpflichtete Gesellschaft (E) von der Zustimmung ihrer Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung abhängig macht. Der Grund für das Zustimmungserfordernis besteht bei Gewinnabführungsverträgen vielmehr in der Veränderung der körperschaftlichen Organisationsstruktur und der Tangierung des Gesellschaftszwecks, die der Unternehmensvertrag für die verpflichtete Gesellschaft mit sich bringt11. Bei Teilgewinnabführungsverträgen ist zweifelhaft, ob es überhaupt einen systematisch stimmigen Grund für die zwingende Hauptversammlungskompetenz gibt12, jedenfalls aber stellt sich das Gesetz einen Vertrag vor, der unmittelbar in den Gewinn der Gesellschaft eingreift13. Darum geht es auf der Ebene von T jedoch nicht. Organisationsstruktur und Gesellschaftszweck von T werden durch den Vertrag zwischen M und E nicht berührt, sondern nur deren wirtschaftliche Interessen, wobei das Gewicht dieses Eingriffs nicht einmal zwangsläufig groß sein muss. Der Vertrag erfasst, anders als ein Teilgewinnabführungsvertrag, auch nicht unmittelbar einen Teil des Gewinns von T, sondern betrifft diesen nur mittelbar. Mit einem Gewinnoder Teilgewinnabführungsvertrag, an dem T selbst als verpflichtete Gesellschaft beteiligt ist, lässt sich diese Situation nicht gleichsetzen. b) Zustimmung der Hauptversammlung von T nach der Holzmüller/GelatineRechtsprechung (T-AG) Auch wenn § 293 AktG nicht analog eingreift, kann sich bei einer Tochtergesellschaft in der Rechtsform der AG allerdings nach den Grundsätzen der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung die Notwendigkeit ergeben, die Zustimmung der Hauptversammlung von T einzuholen, bevor in der Gesellschafterversammlung von E mit den Stimmen von T dem Gewinnabführungsvertrag zugestimmt werden darf. Während eine analoge Anwendung von § 293 AktG Außenwirkung hätte und der Gewinnabführungsvertrag ohne die Zustimmung der Hauptversammlung von T nicht wirksam werden könnte, würde eine Hauptversammlungszuständigkeit nach der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung nur die Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis betreffen und die Wirksamkeit einer im Außenverhältnis gleichwohl erteilten Zustimmung unberührt lassen14, so lange nicht die Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht eingreifen.

__________ 11 Vgl. nur BGHZ 105, 324, 331 – Supermarkt; Veil, Unternehmensverträge, 2003, S. 143 ff. m. w. N. 12 Kritisch Karsten Schmidt, ZGR 1984, 295, 306; Schulze-Osterloh, ZGR 1974, 427, 432 f.; Koppensteiner (Fn. 8), § 292 AktG Rz. 15; näher Veil (Fn. 11), S. 151 ff. 13 Zutreffend Koppensteiner (Fn. 8), § 292 AktG Rz. 15. 14 BGHZ 159, 30, 42 f. – Gelatine.

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Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter und Enkel im mehrstufigen Konzern

Ein ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung kann nicht nur bei Entscheidungen in der Gesellschaft selbst, sondern auch bei grundlegenden, für die Rechtsstellung der Aktionäre der Gesellschaft bedeutsamen Entscheidungen in einer Tochtergesellschaft bestehen15. Davon kann auch die Zustimmung zum Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages der Tochtergesellschaft mit einem Dritten betroffen sein16. Voraussetzung ist aber, dass mit dem Abschluss des Gewinnabführungsvertrages ein wesentlicher Eingriff in die Rechte und Interessen der Aktionäre der Gesellschaft einhergeht. Der Bundesgerichtshof hat in der Gelatine-Entscheidung mit Recht klargestellt, dass hieran strenge Anforderungen zu stellen sind und eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit nur in besonderen Ausnahmefällen in Frage kommt, wenn eine Maßnahme an die Kernkompetenz der Hauptversammlung rührt, über die Verfassung der Gesellschaft zu bestimmen17. Dazu ist erforderlich, dass die Maßnahme in ihrer Bedeutung in etwa die Ausmaße des Holzmüller-Falles erreicht18, wo ca. 80 % der Aktiva der Gesellschaft berührt waren19. Eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit bei T für die Zustimmung zum Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages zwischen M und E kann danach nur in Betracht kommen, wenn E aus der Sicht der T von wesentlicher Bedeutung ist. Bei einem Gewinnabführungsvertrag wird es für diese Beurteilung einen geringeren Stellenwert haben, wie hoch die Beteiligung der E an den Aktiva von T oder am Umsatz, der Mitarbeiterzahl oder anderen Kennziffern des Teilkonzerns T ist, sondern im Vordergrund dürfte die Frage stehen, ob der Gewinnabführungsvertrag der T nachhaltig ihren wesentlichen Ertrag entzieht20. Ist das der Fall – wobei auch hier die 80 %-Schwelle der Holzmüller/Gelatine-Entscheidung den Richtwert bilden mag –, wird es erforderlich sein, dass der Vorstand von T vor einer Zustimmung zum Gewinnabführungsvertrag M-E die Zustimmung der eigenen Hauptversammlung einholt, die darüber mit einer Mehrheit von 75 % des vertretenen Grundkapitals entscheidet21.

__________ 15 BGHZ 83, 122, 140 – Holzmüller; OLG Köln, ZIP 1993, 110, 113 – Winterthur/Nordstern; LG Frankfurt, ZIP 1997, 1698, 1700 – Altana/Milupa; Habersack in Emmerich/ Habersack (Fn. 3), vor § 311 AktG Rz. 48; Kubis in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 119 AktG Rz. 69 ff.; Krieger (Fn. 8), § 69 Rz. 37 ff.; Mecke, Konzernstruktur und Aktionärsentscheid, 1992, S. 213 ff.; a. A. z. B. Heinsius, ZGR 1984, 383, 397 ff.; Werner, ZHR 147 (1983), 429, 450 ff. 16 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), vor § 311 AktG Rz. 49; Kubis in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 119 AktG Rz. 75; Krieger (Fn. 8), § 69 Rz. 42. 17 BGHZ 159, 30, 45 – Gelatine. 18 BGHZ 159, 30, 45 – Gelatine. 19 Vgl. die Angaben im Urteil der Vorinstanz OLG Hamburg, ZIP 1980, 1000, 1105. 20 Zutreffend Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), vor § 311 AktG Rz. 47. 21 BGHZ 159, 30, 45 – Gelatine; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), vor § 311 AktG Rz. 50; Krieger (Fn. 8), § 69 Rz. 14.

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c) Zustimmung der Gesellschafter von T wegen nachteiliger Einflussnahme (T-GmbH) Handelt es sich bei T um eine GmbH gelten andere Grundsätze. Das Recht der GmbH schützt Minderheitsgesellschafter einer abhängigen GmbH vor nachteiligen Eingriffen des herrschenden Unternehmens durch ein striktes Verbot der Nachteilszufügung, das nur bei Zustimmung aller Gesellschafter außer Kraft gesetzt wird22. Da die Zustimmung der T zum Gewinnabführungsvertrag M-E für T nachteilig ist, bedarf die Veranlassung hierzu also der Zustimmung aller Gesellschafter von T, sofern es bei T Minderheitsgesellschafter gibt. 2. Schutz der Tochter und ihrer Gläubiger Der Gewinnabführungsvertrag M-E beeinträchtigt – lässt man mögliche außenstehende Aktionäre/Gesellschafter von T zunächst außer Betracht und stellt sich T als 100 %ige Tochter von M vor – die Interessen der T und ihrer Gläubiger, weil er T die Dividendenausschüttungen von E entzieht. Im Extremfall werden T durch den Gewinnabführungsvertrag M-E sämtliche Einkünfte genommen, dann etwa, wenn es sich bei T um eine bloße Zwischenholding ohne eigenes operatives Geschäft und ohne weitere Beteiligungen handelt23. Damit stellt sich die Frage, wie T und deren Gläubiger zu schützen sind. a) Verlustausgleich und Gläubigersicherheit (§§ 302, 303 AktG) Die aus einem Gewinnabführungsvertrag verpflichtete Gesellschaft wird gemäß § 302 AktG dadurch geschützt, dass das herrschende Unternehmen zum Verlustausgleich verpflichtet ist. Man kann daher die Frage stellen, ob entsprechend § 302 AktG auch Verluste von T durch M ausgeglichen werden müssen, wenn T die Gewinne von E durch einen unmittelbaren Gewinnabführungsvertrag M-E entzogen werden. Als zwingende Rechtsfolge ist eine Verlustausgleichspflicht jedoch nicht zu begründen. Denn etwaige Verluste von T entstammen notwendig deren anderen Aktivitäten, an denen M aufgrund des Vertrages mit E jedoch auch dann nicht partizipiert, wenn daraus Gewinne entstehen. Die Situation ist insofern anders als auf der Ebene der zur Gewinnabführung verpflichteten Gesellschaft selbst. Dort erhält der Partner des Unternehmensvertrages aufgrund des Vertrages sämtliche Gewinne, die aus den Aktivitäten der verpflichteten Gesellschaft resultieren, und er hat im Gegenzug auch deren sämtliche Verluste zu tragen. Die Verlustausgleichspflicht ist das Äquivalent für das vertragliche Gewinnbezugsrecht. Da ein solches im

__________ 22 Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), Anh. § 318 AktG Rz. 23; Zöllner (Fn. 3), SchlAnh. KonzernR Rz. 77 ff.; Lutter/Hommelhoff (Fn. 5), Anh. § 13 GmbHG Rz. 16 ff.; Altmeppen in Roth/Altmeppen (Fn. 3), Anh. § 13 GmbHG Rz. 126 ff. 23 Steuerlich stellt sich die Frage, ob es sich um eine verdeckte Gewinnausschüttung (verhinderte Vermögensmehrung) i. S. v. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG zugunsten der M handelt; dagegen etwa Witt/Dötsch (Fn. 1), § 14 KStG n. F. Rz. 131; Wassermeyer, Der Konzern 2005, 424, 428; Brezing, ZGR 1978, 77, 91 ff.

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Verhältnis zu T nicht besteht, wäre es sachwidrig, M zwingend zur Tragung der Verluste von T zu verpflichten24. Damit ist zugleich die Anschlussfrage beantwortet, ob § 303 AktG analog anzuwenden und M dementsprechend verpflichtet ist, bei Beendigung des Gewinnabführungsvertrages M-E den Gläubigern von T auf Verlangen Sicherheit zu leisten. § 303 AktG hängt systematisch mit der Verlustausgleichspflicht des § 302 AktG zusammen und soll die Gläubiger vor den Gefahren für den Fortbestand der abhängigen Gesellschaft schützen, wenn der Unternehmensvertrag beendet wird und damit die Verlustübernahmepflicht entfällt25. Da schon die Verlustausgleichspflicht des § 302 AktG im Verhältnis zu T keine Anwendung findet, fehlt auch die Basis, § 303 AktG zugunsten der Gläubiger von T anzuwenden. b) Stammkapital- und Existenzschutz (T-GmbH) Handelt es sich bei T um eine GmbH, werden Gesellschaft und Gläubiger grundsätzlich nur bis zur Höhe des Stammkapitals geschützt (§§ 30, 31 GmbHG). Ein Gewinnabführungsvertrag M-E ist deshalb im Hinblick auf den Vermögensschutz von T unproblematisch, solange das zur Deckung des Stammkapitals der T erforderliche Vermögen erhalten bleibt. Da diese Frage auf der Basis einer bilanziellen Betrachtung zum Stichtag der "Auszahlung" zu beurteilen ist26 und der Wegfall künftiger Gewinnausschüttungen sich erst in den Abschlüssen späterer Jahre niederschlägt, ist es – sieht man vom Sonderfall eines rückwirkenden Gewinnabführungsvertrages ab – ausgeschlossen, dass die Zustimmung zum Gewinnabführung M-E eine Unterbilanz bei T herbeiführt oder vertieft. Es bleiben dann nur die Grundsätze des existenzvernichtenden Eingriffs zu beachten, die den Schutz des zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlichen Gesellschaftsvermögens gegen existenzvernichtende Eingriffe eines Gesellschafters bezwecken, bei denen das gesetzliche System der §§ 30, 31 GmbHG seine Schutzfunktion nicht erfüllen kann, weil etwa der Eingriff und seine Folgen sich in der für § 30 GmbHG maßgeblichen Stichtagsbilanz nicht auswirken27. Danach kann der Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages M-E unzulässig sein, wenn im Einzelfall voraussehbar ist, dass T nach Wegfall der Gewinnausschüttungen von E dauerhaft nicht mehr in der Lage sein wird, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen. Das ist z. B. denkbar, wenn bei T weiter Aufwendungen anfallen und kein ausreichendes Vermögen vorhanden ist, um diese Aufwendungen zu decken. In solchen Situationen bedarf es zum Schutze der T geeigneter Absprachen, um ihre Lebensfähigkeit zu

__________ 24 Im Ergebnis ebenso Rehbinder, ZGR 1977, 581, 623; Wanner (Fn. 8), S. 130 f. 25 BGHZ 95, 330, 346 – Autokran; Hüffer (Fn. 8), § 303 AktG Rz. 1; Altmeppen in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 303 AktG Rz. 2. 26 Vgl. nur Habersack in Großkomm.GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 30 ff.; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 30 GmbHG Rz. 9 ff.; Lutter/ Hommelhoff (Fn. 5), § 30 GmbHG Rz. 13 ff. 27 Vgl. nur BGHZ 173, 246, 256 Tz. 24 – Trihotel und dazu etwa Goette in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, S. 1, 20; Gehrlein, WM 2008, 761, 762 f.

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sichern, indem sich M etwa verpflichtet, Verluste der T auszugleichen, T von Verbindlichkeiten freizustellen oder Zuzahlungen in das Eigenkapital der T vorzunehmen. Außerhalb solcher Existenzgefährdungslagen aber bedarf es zum Schutze der T und ihrer Gläubiger keiner Ausgleichsleistungen, sondern der Gewinnabführungsvertrag M-E, der T die Gewinne der E entzieht, ist ohne Weiteres zulässig. c) Nachteilsausgleich gemäß § 311 AktG (T-AG) Anders ist die Rechtslage, wenn T die Rechtsform der Aktiengesellschaft hat. Die Zustimmung zum Gewinnabführungsvertrag E-M stellt für T in aller Regel eine nachteilige Maßnahme dar. Das mag im Einzelfall anders ein, wenn es sich bei E um eine dauerhaft ertragslose Gesellschaft handelt; in einer solchen Situation ist der Gewinnabführungsvertrag für E und T vorteilhaft, weil M es damit übernimmt, die Verluste der E auszugleichen. Im Normalfall aber ist der Gewinnabführungsvertrag aus der Sicht der T von Nachteil, weil T dadurch die Gewinne der E verloren gehen. Die Zustimmung zum Gewinnabführungsvertrag M-E unterliegt dann, da sie durch M veranlasst ist, den Regeln der §§ 311 ff. AktG. Es bedarf also gem. § 311 AktG des Nachteilsausgleichs. Für den Vorstand von T bedeutet dies, dass er sich zunächst der Bereitschaft von M vergewissern muss, den erforderlichen Nachteilsausgleich zu leisten, bevor T in der Gesellschafterversammlung von E dem Gewinnabführungsvertrag zustimmen darf28. Über die Zustimmung zum Gewinnabführungsvertrag E-M hat der Vorstand von T im Abhängigkeitsbericht zu berichten und darzulegen, auf welche Weise der Nachteilsausgleich erfolgt ist (§ 312 Abs. 1 AktG). Als Nachteilsausgleich sind T Vorteile zu gewähren, die die bilanziellen Auswirkungen des Nachteils kompensieren, sich also spätestens auf die Bilanz auswirken, auf die sich auch die Nachteilszufügung auswirken würde29. Wie das in der Praxis gestaltet werden kann, wird in der Literatur, soweit ersichtlich, nicht weiter erörtert und ist nicht ganz leicht zu beantworten: Gesellschaftsrechtlich wäre es am einfachsten, als Nachteilsausgleich Wertersatz in Höhe der für das jeweilige Jahr an M abgeführten Gewinne der E zu leisten. Erforderlich wäre nur, dass hierüber spätestens am Ende des Geschäftsjahres, in dem T dem Gewinnabführungsvertrag zugestimmt hat, konkrete Vereinbarungen getroffen würden (§ 311 Abs. 2 AktG). Der Nachteilsausgleich könnte durch Geldzahlungen erfolgen, ebenso aber durch die Gewährung anderer Vorteile, die geeignet sind, die Nachteile für die Vermögens- und Ertragslage von T aufzuwiegen, wie unentgeltliche oder verbilligte Lieferungen und Leistungen jeder Art (Sachen, Rechte, Dienstleistungen). Allerdings kann eine solche Gestaltung Zweifel an der steuerlichen Anerkennung des Gewinnab-

__________

28 Zur Verpflichtung des Vorstands, sich vor Durchführung einer nachteiligen Maßnahme die Bereitschaft zum Nachteilsausgleich erklären zu lassen, vgl. etwa Hüffer (Fn. 8), § 311 AktG Rz. 48; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 78; Koppensteiner (Fn. 8), § 311 AktG Rz. 140 ff.; Krieger (Fn. 8), § 69 Rz. 28. 29 Hüffer (Fn. 8), § 311 AktG Rz. 39; Habersack in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 311 AktG Rz. 63; Krieger (Fn. 8), § 69 Rz. 86.

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führungsvertrages M-E begründen. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 KStG muss der Gewinnabführungsvertrag zur Begründung einer körperschaftsteuerlichen Organschaft während seiner gesamten Geltungsdauer durchgeführt werden. Die Finanzverwaltung erkennt einen Gewinnabführungsvertrag dann nicht als ordnungsgemäß durchgeführt an, wenn Ausgleichszahlungen an Minderheitsgesellschafter zu leisten sind und diese nach dem tatsächlichen Gewinn der Organgesellschaft bemessen werden30. Würde M an T als Nachteilsausgleich exakt den Betrag leisten, der T jährlich als Gewinnausschüttung entgeht, läge es nicht fern, auch dies als steuerschädlich anzusehen, weil wirtschaftlich betrachtet der Gewinn nicht bei M verbleibt, sondern doch an T (zurück-)fließt. Für aktienrechtlich ausreichend und auch steuerlich ohne weiteres zulässig wird man es ansehen können, den Nachteilsausgleich nicht nach dem jährlich konkret abgeführten Gewinn der E zu bemessen, sondern eine pauschalierte Ausgleichszahlung zu leisten, die nach dem Vorbild des § 304 AktG als variabler oder als fester Ausgleich berechnet wird. Auch wenn § 304 AktG auf einen Gewinnabführungsvertrag mit einer zur Abführung verpflichteten GmbH nach herrschender Meinung nicht anwendbar ist31 (und T als 100 %-Tochter von M ohnehin nicht als außenstehender Gesellschafter i. S. v. § 304 AktG anzusehen wäre32), wird man es doch jedenfalls als ausreichend und zulässig ansehen müssen, den nach § 311 AktG geschuldeten Nachteilsausgleich in der Form zu leisten, die das Gesetz als Kompensation für die außenstehenden Aktionäre einer zur Gewinnabführung verpflichteten Aktiengesellschaft vorsieht. Was im Vertragskonzern als Nachteilsausgleich für die Aktionäre der verpflichteten Gesellschaft genügt, sollte auch im faktischen Konzern als Nachteilsausgleich gegenüber der von einem Gewinnabführungsvertrag nur mittelbar betroffenen Gesellschaft ausreichen. Berechnet man den Nachteilsausgleich in dieser Weise, ist es auch möglich, einen kapitalisierten Ausgleichswert zu ermitteln und den Nachteilsausgleich durch Einmalzahlung oder einmalige Zuwendung anderer Vermögenswerte zu leisten. Schließlich ist zu erwägen, ob der Nachteilsausgleich auch in der Form geleistet werden kann, dass sich M gegenüber T zum Verlustausgleich entsprechend § 302 AktG verpflichtet. Auch das kann die steuerliche Anerkennung der Durchführung des Gewinnabführungsvertrages nicht gefährden, weil die Gewinnabführung von E an M durch diese Gestaltung nicht berührt wird. Sie ist aber aktienrechtlich problematisch. Denn ein Verlustausgleich ersetzt der T nicht die fehlende Dividendenausschüttung von E, sondern ein bei T anfallender Verlust wird allenfalls zufällig mit dem Betrag der entgangenen Gewinnausschüttung von E übereinstimmen, im Normalfall aber hinter diesem Betrag zurückbleiben oder ihn überschreiten. Gleichwohl erscheint es naheliegend und richtig, die Übernahme einer Verpflichtung zum Verlustausgleich von M

__________ 30 BMF-Schreiben vom 13. September 1991, DB 1991, 2110; Mensching, BB 2004, 1421, 1422; vgl. auch Witt/Dötsch (Fn. 1), § 14 KStG n. f. Rz. 200. 31 Vgl. oben Fn. 4. 32 Vgl. dazu näher unten III.

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gegenüber T als Nachteilsausgleich i. S. v. § 311 AktG zu akzeptieren. Denn das Gesetz sieht den Verlustausgleich gegenüber der aus dem Gewinnabführungsvertrag verpflichteten Gesellschaft als eine Leistung an, die die aus der Gewinnabführungsverpflichtung folgenden Nachteile für die Gesellschaft angemessen kompensiert. Wenn das schon für die zur Gewinnabführung verpflichtete Gesellschaft gilt, ist die Annahme zulässig, dass es auch und erst Recht für T gilt, die durch die von E übernommene Gewinnabführungsverpflichtung nicht stärker benachteiligt sein kann als E selbst. Will man den Nachteilsausgleich zugunsten der T durch Übernahme einer Verlustausgleichsverpflichtung leisten, wird man allerdings zusätzlich verlangen müssen, dass M dann für den Fall der späteren Beendigung des Gewinnabführungsvertrages M-E auch die Verpflichtung nach § 303 AktG gegenüber etwaigen Gläubigern von T übernimmt. Denn die Verlustausgleichspflicht des § 302 AktG und die Verpflichtung zur Gläubigersicherheit nach § 303 AktG gehören in der Konzeption des Gesetzes zusammen33 und stellen nur gemeinsam den nötigen Schutz der Gesellschaft und der Gläubiger sicher. 3. Schutz außenstehender Gesellschafter der Tochter So wie der Gewinnabführungsvertrag M-E die Interessen der T und ihrer Gläubiger berührt, so berührt er auch die Interessen etwa außenstehender Gesellschafter von T, wenn T künftig an den Gewinnen von E nicht mehr partizipiert. Auch hier gilt, dass das Gewicht des Eingriffs ganz unterschiedlich sein und im Einzelfall der Vorteil des Verlustausgleichs gewichtiger sein kann, als der Nachteil der Gewinnabführung. Aber potentiell sind die Interessen der außenstehenden Gesellschafter betroffen und daher zu schützen: a) T als GmbH Ist T eine GmbH ist die rechtliche Situation wiederum einfach. Das Innenrecht der GmbH schützt die Minderheitsgesellschafter vor nachteiligen Eingriffen des herrschenden Unternehmens durch das Verbot der Nachteilszufügung, das nur bei Zustimmung aller Gesellschafter außer Kraft gesetzt wird34. Deshalb bedarf der Gewinnabführungsvertrag M-E als für T nachteilige Maßnahme der Zustimmung aller Gesellschafter der T. Die Frage des Nachteilsausgleichs ist dann keine Rechtsfrage mehr, sondern die außenstehenden Gesellschafter von T können selbst entscheiden und mit M aushandeln, welchen Schutz ihrer Interessen sie fordern. Dabei kann man sowohl Leistungen an T als auch Leistungen an die außenstehenden Gesellschafter von T in Betracht ziehen. Als Leistung an T mag etwa eine jährliche Ausgleichszahlung nach dem Vorbild des § 304 AktG oder eine Einmalzahlung in Höhe des kapitalisierten Wertes künftiger Ausgleichszahlungen in Betracht kommen, Leistungen also, die in ihrem wirtschaftlichen Kern darauf gerichtet sind, T für den Verlust der Ge-

__________ 33 Vgl. oben Fn. 25. 34 Vgl. oben Fn. 22.

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winnausschüttungen seitens E in angemessener Form zu entschädigen und dadurch mittelbar zugleich die Interessen der Minderheitsgesellschafter von T zu wahren. Denkbar ist es aber auch, dass M sich verpflichtet, unmittelbar an die Minderheitsgesellschafter von T angemessene Ausgleichsleistungen zu erbringen, zum Beispiel in Höhe des Betrages, der auf die jeweiligen Minderheitsgesellschafter von T entfiele, würde E den an M abgeführten Gewinn statt dessen an T ausschütten und würde T den so erhaltenen Betrag an ihre Gesellschafter weiter ausschütten (jeweils nach Steuern). b) T als Aktiengesellschaft Wenn es sich bei T um eine Aktiengesellschaft handelt, sind wiederum §§ 311 ff. AktG anwendbar. Anders als in den Fällen, in denen T keine Minderheitsaktionäre hat, genügt hier allerdings als Nachteilsausgleich nicht eine Verpflichtung zum Verlustausgleich und zur Gläubigersicherung entsprechend §§ 302, 303 AktG, sondern es müssen durch die Ausgleichsleistung zusätzlich zu den Interessen der Gesellschaft und ihrer Gläubiger auch die Interessen der Minderheitsaktionäre von T gesichert werden. Dazu kommen zunächst die bereits oben erwähnten Gestaltungen in Betracht: Es ist jedenfalls ausreichend, wenn sich M verpflichtet, an T einen nach Maßgabe von § 304 AktG ermittelten Ausgleich zu zahlen. Eine so ermittelte Ausgleichsleistung stellt T wirtschaftlich im Wesentlichen so, wie T ohne den Gewinnabführungsvertrag M-E stehen würde; diese Form der Kompensationsleistung kommt sowohl der Gesellschaft als auch den Gläubigern und außenstehenden Aktionären zugute. Gesellschaftsrechtlich ist auch ein Nachteilsausgleich an T in der Form einer jährlichen Entschädigungszahlung zulässig, die nicht in der pauschalen Weise des § 304 AktG ermittelt wird, sondern T Jahr für Jahr den Betrag zusagt, den T erhalten hätte, wäre der in dem jeweiligen Jahr ausgewiesene Gewinn von E in voller Höhe ausgeschüttet worden. Ebenso vorstellbar wäre es, den Nachteilsausgleich an T in Form einer Einmalzahlung oder einer Sachleistung in Höhe des kapitalisierten Wertes der Gewinnabführungsverpflichtung zu zahlen. Ob solche Gestaltungen die Billigung der Finanzverwaltung finden würden, ist jedoch offen35. Interessanter mag demgegenüber die Frage sein, ob es genügt, dass sich M unmittelbar gegenüber den außenstehenden Aktionären von T zur Leistung eines angemessenen Ausgleichs in Höhe des Betrages verpflichtet, der den außenstehenden Aktionären von T aufgrund des Gewinnabführungsvertrages M-E entgeht. Das entspricht an sich nicht dem Konzept des § 311 AktG, der von einer Ausgleichsleistung in das Gesellschaftsvermögen ausgeht. Aber hier gilt eine parallele Überlegung, wie sie oben zu §§ 302, 303 AktG angestellt wurde: Wenn das Gesetz auf der Ebene der unmittelbar zur Gewinnabführung verpflichteten Gesellschaft (E) einen Ausgleich nach § 304 AktG als Kompensation für den Eingriff in die Interessen der außenstehenden Aktionäre genügen

__________ 35 Vgl. oben II.2.c.

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lässt, dann muss ein Ausgleich entsprechend § 304 AktG auf der Ebene der nur mittelbar von der Gewinnabführung betroffenen Gesellschaft (T) erst recht genügen, um die Interessen der Minderheitsgesellschafter von T zu schützen. Ein zusätzliches Abfindungsangebot entsprechend § 305 AktG wird man hingegen in diesem Fall nicht als geboten ansehen müssen, da die Interessen der außenstehenden Aktionäre von T nicht zwingend die Möglichkeit verlangen, gegen Abfindung als Aktionär von T ausscheiden zu können. Schwierig zu beurteilen ist dann allerdings die Frage, ob man, will man den Weg des Direktausgleichs gehen, den außenstehenden Aktionären von T die Möglichkeit vorbehalten muss, die Angemessenheit des Ausgleichs im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Technisch wäre das denkbar, indem man in der Nachteilsausgleichsvereinbarung zwischen M und T für die außenstehenden Aktionäre von T die Möglichkeit eines freiwilligen Spruchverfahrens vorsieht. Freiwillige Spruchverfahren werden in der Praxis hin und wieder vereinbart, um Aktionären die Möglichkeit zu geben, Kompensationsleistungen statt durch Anfechtungsklage im Wege eines Spruchverfahrens überprüfen lassen zu können, auch wenn das Gesetz ein Spruchverfahren nicht vorsieht36. Die Frage, ob ein freiwilliges Spruchverfahren vereinbart werden muss, will man direkte Ausgleichsleistungen an die außenstehenden Aktionäre der Tochter als Teil eines Nachteilsausgleichs i. S. v. § 311 AktG akzeptieren, dürfte hingegen eher zu verneinen sein. Auch wenn man einen Ausgleich entsprechend § 304 AktG nicht an die außenstehenden Aktionäre von T, sondern an T selbst zu zahlen hat, gibt dies den außenstehenden T-Aktionären nicht die Möglichkeit eines Spruchverfahrens. Es ist nicht zu erkennen, warum etwas anderes sollte gelten müssen, wenn die Zahlung an sie direkt erfolgt. Letztlich passt die Möglichkeit eines Spruchverfahrens zugunsten der außenstehenden Aktionäre von T auch nicht zum Konzept der §§ 311 ff. AktG. Auch wenn man den Weg geht, Ausgleichsleistungen entsprechend § 304 AktG zu vereinbaren, handelt es sich dabei doch um eine Form des Nachteilsausgleichs i. S. v. § 311 AktG. Nach dem Konzept der §§ 311 ff. AktG ist die Angemessenheit des Nachteilsausgleichs vom Aufsichtsrat und vom Abschlussprüfer im Zuge der Prüfung des Abhängigkeitsberichts zu beurteilen (§§ 313, 314 AktG), sie kann unter den Voraussetzungen des § 315 AktG Gegenstand einer Sonderprüfung sein, und sie kann schließlich Schadensersatzansprüche gegen das herrschende Unternehmen und seine gesetzlichen Vertreter nach § 317 AktG begründen. Man mag das durch ein freiwilliges Spruchverfahren ergänzen, wo dies gewünscht ist, eine Rechtspflicht hierzu wird sich aber nicht begründen lassen. 4. Mehrere zwischengeschaltete Tochtergesellschaften Liegen in der Kette zwischen M und E mehrere Tochtergesellschaften, gelten die vorstehend geschilderten Grundsätze für jede von ihnen. Bei einer Beteiligungskette

__________ 36 Näher dazu J. Vetter in Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 111, 134 ff.

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M

T1

T2

E führt der Gewinnabführungsvertrag zwischen M und E nicht nur zu Nachteilen bei T 2, sondern mittelbar ist auch T 1 benachteiligt, wenn T 2 keine Gewinnausschüttungen von E mehr erhält und dementsprechend das zur Verteilung an T 1 verfügbare Ergebnis von T 2 gemindert ist. Entsprechend ist nicht nur auf der Ebene von T 2, sondern auch auf der Ebene von T 1 nach den für die jeweilige Rechtsform geltenden Grundsätzen zu prüfen, in welcher Form T 1 an der Entscheidung mitwirkt, ob es eines Nachteilsausgleichs bedarf und wie dieser ggf. zu erfolgen hat. a) Ist T 1 eine GmbH und ist der Unternehmensvertrag M-E für T 1 nachteilig, müssen sämtliche Gesellschafter von T 1 zustimmen; ist T 1 eine AG, kann auch dort die Zustimmung der Hauptversammlung nach den Holzmüller/ Gelatine-Grundsätzen erforderlich werden, mag das auch in der Praxis gewiss die Ausnahme sein. So lange die erforderliche Zustimmung auf der Ebene von T 1 nicht erteilt ist, sind Geschäftsführung/Vorstand von T 1 verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen und faktischen Mitteln darauf hinzuwirken, dass T 2 die Zustimmung zum Unternehmensvertrag M-E nicht erteilt. In diesem Zusammenhang kann sich allerdings die Frage stellen, ob es sich bei dem Gewinnabführungsvertrag M-E aus der Sicht von T 1 überhaupt noch um eine nachteilige Maßnahme handelt, wenn bereits auf der Ebene von T 2 ein angemessener Nachteilsausgleich erfolgt. Die Frage wird man jedenfalls dann verneinen müssen, wenn als Nachteilsausgleich an T 2 genau die Beträge gezahlt werden, die T 2 aufgrund der Gewinnabführung jährlich konkret entgehen. Denn dann steht T 2 im Ergebnis genauso wie ohne den Gewinnabführungsvertrag und nachteilige Auswirkungen auf T 1 ergeben sich erst gar nicht. Einer Zustimmung der Hauptversammlung oder der Gesellschafter von T 1 bedarf es dann nicht. Werden Ausgleichszahlungen an T 2 entsprechend § 304 AktG vereinbart, lässt sich auf der Ebene von T 1 eine Hauptversammlungskompetenz nach den Grundsätzen der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung wohl ebenfalls nicht mehr begründen. Denn wird die jährliche Gewinnausschüttung der E an T 2 durch entsprechend § 304 AktG ermittelte Ausgleichszahlungen von M an T 2 1013

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ersetzt, wird man kaum noch von einem tiefgreifenden Eingriff in die Aktionärsrechte von T 1 sprechen können. Anders mag dies zu beurteilen sein, wenn T 1 die Rechtsform der GmbH mit ihrem strikten Schädigungsverbot hat. Denn das GmbH-Recht erlaubt dem herrschenden Unternehmen Nachteilszufügungen gegenüber der abhängigen GmbH selbst dann nicht, wenn es hierfür einen angemessenen Ausgleich leistet. Auch wenn ein angemessener Ausgleich entsprechend § 304 AktG an T 2 gezahlt wird, werden T 2 und damit mittelbar auch T 1 die tatsächlichen Gewinne von E vorenthalten. Das kann, je nach dem konkreten Jahresergebnis von E zu einer Schlechterstellung von T 2 und T 1 führen und macht es daher wohl nötig, auch auf der Ebene von T 1 am Zustimmungserfordernis festzuhalten. b) Entsprechende Grundsätze wie bei T 2 gelten auf der Ebene von T 1 auch im Hinblick auf den Nachteilsausgleich: Ist T 1 eine GmbH, bedarf es zum Schutz der Gesellschaft und ihrer Gläubiger nur der Respektierung des Stammkapitals (§§ 30, 31 GmbHG) und des Schutzes vor existenzgefährdenden Eingriffen; außenstehende Gesellschafter von T 1 können sich selbst schützen, indem sie die erforderliche Zustimmung zum Vertragsschluss von für sie befriedigenden Zusagen abhängig machen. Hat T 1 die Rechtsform der AG bedarf es des Nachteilsausgleichs gemäß § 311 AktG. In diesen Fällen gilt im Grundsatz das, was oben zur Ausgleichsleistung auf der Ebene von T 2 ausgeführt wurde, allerdings mit dem Unterschied, dass der für T 1 verbleibende Nachteil schon durch etwaige Ausgleichsleistungen an T 2 ganz oder teilweise ausgeglichen sein kann. Erfolgen zum Beispiel an T 2 Ausgleichszahlungen in Höhe des jeweils jährlich konkret von E abgeführten Gewinns oder werden zu Gunsten von T 2 Ausgleichszahlungen entsprechend § 304 AktG festgesetzt, verbleibt bei T 1 kein ausgleichspflichtiger Nachteil mehr. War umgekehrt auf der Ebene von T 2 ein Nachteilsausgleich gar nicht erforderlich, weil es sich bei T 2 um eine GmbH handelt, deren Stammkapital und Existenz durch den Unternehmensvertrag nicht gefährdet werden, ist der volle Nachteilsausgleich nach den Regeln des § 311 AktG auf der Ebene von T 1 zu leisten. Dabei ist darauf abzustellen, welche Zahlungen T 1 aufgrund des Gewinnabführungsvertrages M-E bei unterstellter Vollausschüttung des Gewinns von E an T 2 und von T 2 an T 1 (jeweils nach Steuern) entgehen. Hat T 1 keine außenstehenden Aktionäre, kann man es auch auf dieser Ebene als ausreichend ansehen, wenn M sich lediglich zum Verlustausgleich und zur Gläubigersicherung entsprechend §§ 302, 303 AktG gegenüber T 1 verpflichtet. c) Diese Regeln eröffnen im Einzelfall viel Flexibilität und lassen „maßgeschneiderte“ Lösungen zu. Ein anschauliches Beispiel liefert ein Fall aus der Praxis, in dem eine Beteiligungskette M-T1-T2-T3-E bestand, bei welcher M, T 3 und E die Rechtsform der GmbH hatten, während es sich bei T 1 und T 2 um ausländische Aktiengesellschaften handelte. Außenstehende Aktionäre gab es auf den Ebenen von T 1 und T 2. Die Lösung sah so aus, dass Nachteilsausgleichsleistungen bei T 3 überhaupt nicht erforderlich waren. Gegenüber T 2 verpflichtete sich M zu jährlichen Zahlungen in Höhe des Betrages, den T 2 erhalten hätte, wenn E den an M abgeführten Gewinn statt dessen an T 3 ausgeschüttet und anschließend T 3 einen dadurch etwa entstandenen (Mehr-) 1014

Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter und Enkel im mehrstufigen Konzern

Gewinn an T 2 als Dividende gezahlt hätte. Damit war T 2 so gestellt, wie sie ohne den Gewinnabführungsvertrag M-E gestanden hätte, und zu Gunsten von T 1 bedurfte es weiterer Maßnahmen nicht mehr, da alle Nachteile schon auf der Ebene von T 2 beseitigt waren.

III. Enkelgesellschaft in der Rechtsform der AG Handelt es sich bei der zur Gewinnabführung verpflichteten Enkelgesellschaft (E) nicht um eine GmbH, sondern um eine Aktiengesellschaft, stellt sich die rechtliche Ausgangssituation im Ansatz anders dar. Im Gegensatz zur GmbH bedarf es bei der zur Gewinnabführung verpflichteten AG nicht der Zustimmung aller Aktionäre, sondern es genügt ein Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung mit 75 % des vertretenen Grundkapitals (§ 293 Abs. 1 AktG). Anders als bei der GmbH können die außenstehenden Aktionäre der verpflichteten AG daher nicht selbst für ihren Schutz sorgen, sondern das Gesetz schützt sie durch die Verpflichtung zur Festsetzung eines angemessenen Ausgleichs und einer angemessenen Abfindung (§§ 304, 305 AktG). Ein Vertrag, der bei Vorhandensein außenstehender Aktionäre keinen Ausgleich vorsieht, ist nichtig (§ 304 Abs. 3 Satz 1 AktG), fehlt bei Vorhandensein außenstehender Aktionäre die Abfindung, ist der Vertrag hingegen wirksam, und die Abfindung wird auf Antrag außenstehender Aktionäre im Spruchverfahren bestimmt (§ 305 Abs. 5 Satz 2 AktG). In der Literatur wird in diesem Zusammenhang die Frage erörtert, unter welchen Voraussetzungen T als außenstehender Aktionär anzusehen sei und dementsprechend zu Gunsten von T Ausgleich und Abfindung festgesetzt werden müssten. Dabei stellt die herrschende Meinung darauf ab, ob T selbst außenstehende Gesellschafter hat oder nicht. Habe T außenstehende Gesellschafter, sei T ihrerseits als außenstehender Aktionär von E anzusehen, mit der Folge, dass zugunsten von T ein angemessener Ausgleich und eine angemessene Abfindung nach §§ 304, 305 AktG festzusetzen seien37. Andere Autoren wollen T sogar dann als außenstehenden Aktionär von E ansehen, wenn T in 100 %igem Anteilsbesitz von M steht38. Demgegenüber gibt es, namentlich in der älteren Literatur, Stimmen, die die Anwendung der §§ 311 ff. AktG im Verhältnis zwischen M und T für ausreichend und vorzugswürdig halten und deshalb Aktionäre der verpflichteten Gesellschaft, die ihrerseits in einem Abhängigkeitsverhältnis zum anderen Vertragsteil stehen, nicht als „außenstehend“

__________ 37 Koppensteiner (Fn. 8), § 295 AktG Rz. 44; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 304 AktG Rz. 61, § 305 AktG Rz. 80; Hüffer (Fn. 8), § 304 AktG Rz. 18; Veil in Spindler/Stilz, Kommentar AktG, 2007, § 304 AktG Rz. 27; Krieger (Fn. 8), § 70 Rz. 100. 38 Stephan in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 304 AktG Rz. 69, § 305 AktG Rz. 13; Pentz, Die Rechtsstellung der Enkel-AG in einer mehrstufigen Unternehmensverbindung, 1994, S. 62 ff.; Kley, Die Rechtsstellung der außenstehenden Aktionäre bei der vorzeitigen Beendigung von Unternehmensverträgen, 1986, S. 34a ff.

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einstufen39. Eine vereinzelt gebliebene Auffassung schließlich will den Schutz von T und deren Gläubigern durch Anwendung der §§ 311 ff. AktG sicherstellen, gleichzeitig aber den außenstehenden Gesellschaftern der Tochtergesellschaft entsprechend §§ 304, 305 AktG einen Anspruch auf angemessenen Ausgleich und angemessene Abfindung gegen die Muttergesellschaft zubilligen40. Aus der Sicht der Unternehmenspraxis ist die Auffassung, die dazu zwingt, Ausgleich und Abfindung nach §§ 304, 305 AktG zugunsten von T festzusetzen, von Nachteil. Sie verhindert flexible Gestaltungen, wie sie im GmbHKonzernrecht zulässig sind, sie lässt keinen Raum für andere Formen des Nachteilsausgleichs gegenüber T, und sie zwingt in einem mehrstufigen Konzern (M-T1-T2-T3-E) dazu, die Ausgleichszahlung an das unterste Glied der Kette (T3) zu leisten, obwohl sie dort vielleicht zum Schutz der Interessen der „übersprungenen“ Gesellschaften und ihrer außenstehenden Gesellschafter gar nicht benötigt wird. Zu allem Überfluss kann das im Einzelfall, nämlich wenn der Organträger laufende Verluste hat, auch noch zu unnötigen Steuerbelastungen führen, da § 16 KStG die Enkelgesellschaft zwingt, bei Ausgleichszahlungen an ihre unmittelbaren Aktionäre (T 3) einen Betrag in Höhe von 20/17tel der geleisteten Ausgleichszahlungen zu versteuern, während Ausgleichsleistungen, die an eine weiter oben in der Kette angesiedelte Gesellschaft (T 1 oder T 2) erfolgen, der Steuerfolge des § 16 KStG nicht unterliegen, sondern als Einlage zu behandeln sind41. Warum soll das nötig sein? 1. Die Vertreter der Ansicht, T sei selbst dann als außenstehender Aktionär von E zu behandeln, wenn T ihrerseits zu 100 % im Besitz von M stehe42, machen zur Begründung geltend, dass T die Ausgleichszahlungen benötige, um zu einer angemessenen Rücklagendotierung in der Lage zu sein und den Verpflichtungen gegenüber den eigenen Gläubigern nachkommen zu können. In dem Gewinnabführungsvertrag M-E liege ein Zugriff auf das Vermögen der T, der sich ohne die Zahlung des Ausgleichs mit den Grundsätzen der Kapitalerhaltung nicht vereinbaren lasse43. Zudem wird argumentiert, man müsse schon zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten und der Frage, wie denn sonst die Gläubiger der vom Ausgleich ausgeschlossenen Aktionäre geschützt werden könnten, sämtliche Aktionäre der verpflichteten Gesellschaft mit Ausnahme der Obergesellschaft als außenstehende Aktionäre behandeln44.

__________ 39 Rehbinder, ZGR 1977, 581, 620 ff.; Wanner (Fn. 8), S. 132; Godin/Wilhelmi, AktG, 4. Aufl. 1971, § 304 AktG Anm.7; etwas enger Geßler in Geßler/Hefermehl/Eckardt/ Kropff, AktG, 1976, § 304 AktG Rz. 18, der ein bloßes Abhängigkeitsverhältnis nicht genügen lässt, sondern eine Konzernverbindung zum anderen Vertragsteil voraussetzt. 40 Wilh. Bayer in FS Ballerstedt, 1975, S. 157, 170 ff. 41 H. M., vgl. etwa Witt in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, Erg.Lfg. Oktober 2004, § 16 KStG n. F. Rz. 7; Neumann in Gosch, KStG, 2005, § 16 KStG Rz. 5; a. A. jedoch Sauter/Heuring, GmbHR 2001, 754. 42 Vgl. oben Fn. 38. 43 Pentz (Fn. 38), S. 63 f.; Kley (Fn. 38), S. 34a ff. 44 Stephan in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 38), § 304 AktG Rz. 69, § 305 AktG Rz. 15.

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Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter und Enkel im mehrstufigen Konzern

Schon der Gesetzeswortlaut der §§ 304, 305 AktG, der die Ausgleichs- und Abfindungspflicht von der Existenz „außenstehender“ Aktionäre abhängig macht, ist mit dieser Auffassung nicht ganz leicht vereinbar. Denn es fällt schwer, einen Aktionär als „außenstehend“ zu bezeichnen, wenn dieser im alleinigen Anteilsbesitz der aus dem Gewinnabführungsvertrag berechtigten Muttergesellschaft steht. Dementsprechend war es auch die Vorstellung der Gesetzesverfasser, dass jedenfalls derjenige nicht als „außenstehender“ Aktionär anzusehen sei, der mit dem anderen Vertragsteil unmittelbar oder mittelbar durch den Besitz aller Anteile verbunden ist45. Auch die Rechtsfolgen der §§ 304, 305 AktG sind eher auf den Schutz „fremder“ Mitaktionäre zugeschnitten, die außerhalb des Konzernverbundes stehen, als auf den Schutz anderer Konzernunternehmen. Das ist bei § 305 AktG offensichtlich. Das Abfindungsrecht gäbe T gegen M einen Anspruch auf Übernahme der von T gehaltenen Beteiligung an E. Das kann sogar rechtlich problematisch sein, weil sich die Frage stellt, wie sich ein Anspruch auf Abfindung in Aktien der Mutter (§ 305 Abs. 2 Nr. 1 AktG) mit dem Verbot des § 71d AktG vertragen soll46. Aber die eigentlich ins Auge springende Frage lautet, was ein Abfindungsrecht im Verhältnis M-T überhaupt soll. Wenn M die Konzernstruktur ändern und die Beteiligung an E unmittelbar übernehmen wollte, würde sie das tun, und wenn M es nicht will, wird sie ihren Einfluss auf T dahin ausüben, dass T nicht die Abfindung, sondern den Ausgleich wählt. Jedenfalls die Abfindungspflicht des § 305 AktG ist im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter offenkundig sinnlos. Die Meinung, die mit Ausnahme des anderen Vertragsteils jeden Aktionär der verpflichteten Gesellschaft als außenstehend ansehen will, glaubt, dass dies zum Schutz von T erforderlich sei. Sie übersieht dabei, dass es hier letztlich um einen nachteiligen Eingriff von M in das Vermögen von T geht und hierfür das für das Verhältnis M-T maßgebliche Konzernrecht die spezielleren Regeln enthält. Handelt es sich bei T um eine GmbH, steht deren Vermögen ihren Gesellschaftern zum Zugriff offen, so lange nur das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen nicht angetastet (§ 30 GmbHG) und die Existenz der Gesellschaft nicht gefährdet47 wird. Sind bei T außenstehende Gesellschafter beteiligt, schützt diese das Erfordernis ihrer Zustimmung48. Und hat T die Rechtsform der AG, wird der nötige Schutz der Interessen von T durch die Regelungen der §§ 311 ff. AktG gewährleistet. Wieso soll es nötig sein, zum Schutz von T auf §§ 304, 305 AktG zurückzugreifen, obwohl die spezielleren Regeln des Aktien- und GmbH-Rechts über den Schutz des abhängigen Unternehmens vor Nachteilszufügungen zur Verfügung stehen? 2. Die herrschende Meinung ist differenzierter und will Aktionäre der verpflichteten Gesellschaft, die ihrerseits im alleinigen Anteilsbesitz des anderen

__________ 45 Begr.RegE AktG, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 385. 46 Vgl. dazu Rehbinder, ZGR 1977, 581, 622; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 3), § 305 AktG Rz. 80; Koppensteiner (Fn. 8), § 295 AktG Rz. 44; Wanner (Fn. 8), S. 130 f. 47 Vgl. oben II.2.b). 48 Vgl. oben II.1.c).

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Vertragsteils stehen, vom Anwendungsbereich der §§ 304, 305 AktG ausnehmen. Hingegen soll T als außenstehender Aktionär zu qualifizieren sein, wenn bei T außenstehende Gesellschafter vorhanden sind49. Nach dem Konzept dieser herrschenden Meinung sollen Ausgleich und Abfindung also nicht T, sondern letztlich die außenstehenden Gesellschafter von T schützen. §§ 304, 305 AktG dienen jedoch dem Schutz der Minderheitsaktionäre von E, nicht aber dem Schutz etwaiger Minderheitsgesellschafter der T. Deren Schutz ist Sache des Innenrechts von T. Ausgleich und Abfindung für T zu verlangen, nur um Gesellschafter von T zu schützen, führt im Ergebnis in ähnlicher Weise zu einer Verwischung der Unterschiede zwischen faktischem und Vertragskonzern wie der Vorschlag, den außenstehenden Gesellschaftern der T unmittelbare Ausgleichs- und Abfindungsansprüche gegen M zu geben50. Das wird besonders deutlich, wenn man die von der herrschenden Meinung ausgeblendete Frage stellt, wie sich die Überprüfung der Angemessenheit von Ausgleich und Abfindung vollziehen soll. Zum Konzept der §§ 304, 305 AktG gehört es, dass die anspruchsberechtigten außenstehenden Aktionäre die Möglichkeit haben, die Angemessenheit von Ausgleich und Abfindung im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Wenn Ausgleich und Abfindung an T zwingend zu leisten wären, um Minderheitsgesellschafter von T zu schützen, läge es dann nicht nahe, dass auch die Minderheitsgesellschafter von T die Möglichkeit haben müssten, ein Spruchverfahren zu betreiben? In welche Unklarheiten die herrschende Meinung führt, zeigt sich auch, wenn man den Blick nicht auf Beteiligungsketten mit einer einzigen zwischengeschalteten Tochtergesellschaft beschränkt, sondern sich mehrere zwischengeschaltete Tochtergesellschaften vorstellt. Wie will man auf der Basis der herrschenden Meinung entscheiden, wenn etwa in einer Beteiligungskette M-T1T2-T3-E außenstehende Gesellschafter nicht auf der Ebene von T3 beteiligt sind, sondern weiter oben im Konzernaufbau auf der Ebene von T1? Ist T 3 dann kein außenstehender Aktionär, so dass Ausgleich und Abfindung nicht festgesetzt werden müssen? Konsequenter wäre es für die herrschende Meinung wohl, auch bei dieser Konstellation T 3 als außenstehenden Aktionär von E zu qualifizieren, und Ausgleich und Abfindung zu Gunsten von T3 zu verlangen, nur um auf diesem umständlichen Weg die außenstehenden Gesellschafter von T 1 zu schützen. Aber soll es wirklich der Zweck der §§ 304, 305 AktG sein, Minderheitsgesellschafter zu schützen, die sich irgendwo im Konzern befinden mögen und die des Schutzes der §§ 304, 305 AktG gar nicht bedürfen? Das Konzept der herrschenden Meinung, durch Anwendung der §§ 304, 305 AktG Minderheitsgesellschafter anderer Gesellschaften zu schützen, ist insgesamt nicht überzeugend. Der Schutz der Minderheitsgesellschafter auf den höheren Ebenen im Konzernaufbau ist nicht die Aufgabe der §§ 304, 305

__________ 49 Vgl. oben Fn. 37. 50 Dazu unten bei Fn. 54.

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AktG, und der Anwendung dieser Vorschriften bedarf es dazu auch nicht. So wenig 100 %ige Tochtergesellschaften der Mutter als außenstehende Aktionäre der Enkelin anzusehen sind, so wenig sind von der Mutter abhängige Gesellschaften bei einer geringeren Beteiligungsquote außenstehende Aktionäre der Enkelin. Der Schutz der Minderheitsaktionäre der Tochter ist durch die spezielleren Regeln gewährleistet, die das Gesetz für das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mutter und Tochter bereithält. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob zwischen Mutter und Tochter ein Konzernverhältnis besteht51, sondern bereits ein Abhängigkeitsverhältnis (§ 17 AktG) führt dazu, dass die vom anderen Vertragsteil abhängige Gesellschaft nicht außenstehender Aktionär ist. 3. Der Vorschlag, den außenstehenden Gesellschaftern von T durch analoge Anwendung der §§ 304, 305 AktG einen eigenen Ausgleichs- und Abfindungsanspruch zu geben52, ist mit Recht vereinzelt geblieben. Er ist mit der Überlegung begründet worden, da die Nachteile des Unternehmensvertrages die außenstehende Aktionäre der Tochtergesellschaft genauso träfen, wie die außenstehenden Aktionäre der Enkelgesellschaft, liege es nahe, auch den außenstehenden Aktionären der Tochter Ansprüche auf Ausgleich und Abfindung einzuräumen53. Schon die Interessenlage ist aber überhaupt nicht vergleichbar. §§ 304, 305 AktG sollen die Aktionäre der zur Gewinnabführung verpflichteten Gesellschaft schützen, denen aufgrund des Vertrages der gesamte Gewinn der eigenen Gesellschaft entzogen wird. Schon beim Teilgewinnabführungsvertrag, bei welchem den Aktionären nur ein Teil des Gewinns vorenthalten wird, greifen §§ 304, 305 AktG nicht ein. Bereits deshalb lassen sich diese Vorschriften auf außenstehende Gesellschafter von T nicht anwenden. Diese bleiben am Gewinn von T beteiligt. Zwar wird der Gewinn von T geschmälert, weil T nicht mehr an den Dividendenausschüttungen der E partizipiert, aber wie sich dies auf den Gewinn von T auswirkt, ist in jedem Einzelfall anders und lässt eine Gleichstellung mit einer Verpflichtung zur Abführung des gesamten Gewinns nicht zu. Im übrigen ist dieser Auffassung mit Recht entgegengehalten worden, dass sie die Unterschiede zwischen faktischem und Vertragskonzern verwische54. 4. Folgt man der Meinung, dass außenstehender Aktionär i. S. v. §§ 304, 305 AktG nicht ist, wer vom anderen Vertragsteil mittelbar oder unmittelbar abhängig ist, bedarf es weder zugunsten von T noch zu Gunsten außenstehender Gesellschafter von T einer Festsetzung von Ausgleich und Abfindung. Für den Schutz von T gelten dann vielmehr die gleichen Regeln, die schon oben dargelegt wurden. Ist T eine Aktiengesellschaft, gelten §§ 311 ff. AktG, und M schuldet T Nachteilsausgleich, für den die oben in Ziff. II 2, 3 und 4 geschilderten Gestaltungen in Frage kommen. Ist T eine GmbH darf die Geschäftsführung von T dem Unternehmensvertrag M-E nur zustimmen, wenn alle Ge-

__________ 51 52 53 54

So aber Geßler (Fn. 39), § 304 AktG Rz. 18. Vgl. oben Fn. 40. Wilh. Bayer in FS Ballerstedt, 1975, S. 157, 170. Rehbinder, ZGR 1977, 581, 623.

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sellschafter von T zugestimmt haben. Außenstehende Gesellschafter können auf diese Weise ihre Interessen selbst wahren; gibt es bei T keine außenstehenden Gesellschafter bedarf es keiner weiteren Ausgleichsleistungen. 5. Es gibt allerdings eine Sondersituation, in der dieses Konzept in Zweifel gerät. T und außenstehende Gesellschafter von T durch Anwendung der für das Innenverhältnis zwischen M und T maßgeblichen Regeln zu schützen, setzt voraus, dass es dort zu einer nachteiligen Einflussnahme kommt. Es sind jedoch Situationen denkbar, in denen das nicht notwendig der Fall ist. Stellt man sich die Kette M 100 %

100 %

T1

T2

80 %

20 %

E

vor, wird deutlich, dass M nur auf T 1 einwirken muss, um die in der Hauptversammlung von E erforderliche 75 %-Mehrheit zu erzielen. T 1 ist durch die Regeln über Abhängigkeitsverhältnisse hinreichend geschützt, es ist jedoch fraglich, ob das auch für T 2 gilt. Zwar steht auch T 2 in einem Abhängigkeitsverhältnis zu M, einer nachteiligen Einwirkung auf T 2 bedarf es jedoch nicht, um in der Hauptversammlung von E die notwendige Mehrheit zu erzielen, da diese allein durch die Stimmen von T 1 gewährleistet ist. § 311 AktG erfasst eine solche Situation seinem Wortlaut nach nicht, denn diese Vorschrift setzt voraus, dass das herrschende Unternehmen seinen Einfluss benutzt, um eine abhängige Aktiengesellschaft zu einer nachteiligen Maßnahme zu veranlassen; ebenso wenig scheint das GmbH-rechtliche Schädigungsverbot berührt zu sein, wenn M sich zur Erreichung ihres Ziels jeder Einwirkung auf T 2 enthalten kann. Diese Problematik löst allerdings auch die herrschende Meinung nicht, denn auch sie würde bei dieser Konstellation §§ 304, 305 AktG auf T 2 nicht anwenden, da T 2 im alleinigen Anteilsbesitz von M steht. Nur diejenigen Autoren, die jeden Aktionär von E mit Ausnahme des anderen Vertragsteils als außenstehend ansehen, kämen in dieser Konstellation zur Anwendung von §§ 304, 305 AktG auf T 2. Das kann allerdings kein Grund sein, das Kind mit dem Bade auszuschütten und dieser Radikallösung zu folgen. Im Ergebnis gibt es zwei Wege, um der Frage Herr zu werden. Man könnte T 2 in einer solchen Sondersituation ausnahmsweise trotz des Abhängigkeitsverhältnisses zu M als außenstehenden Aktionär von E ansehen. Man würde dann also nicht jeden von M abhängigen Aktionär aus dem Schutzbereich der §§ 304, 305 AktG ausnehmen, sondern diese Vorschriften ausnahmsweise an1020

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wenden, wenn im Verhältnis M-T2 die Schutzvorschriften über Abhängigkeitsverhältnisse nicht zur Anwendung kommen, weil eine Einflussnahme von M auf T 2 zum Zwecke des Vertragsschlusses M-E nicht erfolgt ist. Man kann aber auch die Frage aufwerfen, ob es in einer solchen Situation wirklich richtig ist, die von M verursachte Nachteilszufügung bei T 2 aus dem Schutzbereich der zwischen M und T anwendbaren konzernrechtlichen Vorschriften auszunehmen, weil diese Nachteilszufügung nicht durch Einwirkung auf T 2, sondern durch Einwirkung auf T 1 herbeigeführt wurde. Wenn ein herrschendes Unternehmen (M) einer abhängigen Gesellschaft (T 2) Nachteile zufügt, obwohl es (mangels Erforderlichkeit) nicht auf diese sondern auf eine andere abhängige Gesellschaft (T 1) einwirkt, kann man mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass der Schutzzweck des Gesetzes ausnahmsweise die Anwendung der §§ 311 ff. AktG bzw. des GmbH-rechtlichen Schädigungsverbots auch im Verhältnis zu der ebenfalls benachteiligten T 2 erfordert, obwohl die nachteilige Veranlassung gegenüber T 1 erfolgte. Die damit angerissene Problematik kann hier nicht vertieft werden, aber wie auch immer man die Problemlage löst, sie zwingt jedenfalls nicht dazu, an dem Grundprinzip zu rütteln und (mit Ausnahme des anderen Vertragsteils) kurzerhand jeden Aktionär der E zum außenstehenden Aktionär zu erklären. Eine solche Lösung wäre zwar einfach, aber sie wäre nicht interessengerecht, und Ausnahmesituationen kann man auch durch Ausnahmeregeln bewältigen.

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Der unabhängige Finanzexperte in der Gesellschaftsverfassung Inhaltsübersicht I. Gesellschaftsrechtliche Problematik 1. Konzeption des RegE BilMoG 2. Problematik der Transformation in eine Rechtsnorm a) Sachkunde b) Unabhängigkeit c) Mögliche Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis im Aufsichtsrat II. Ein externer Finanzexperte? 1. Die Lösungen der Entwürfe 2. Rechtspolitische Bewertung III. Zur Durchsetzung des Finanzexperten 1. Bestellung durch die Gesellschafter 2. Rechtsmangel der Aufsichtsratswahl a) Nichtigkeit

b) Anfechtung 3. Abberufung des nicht mehr qualifizierten Mitglieds 4. Fehlen der Beschlussfähigkeit? 5. Haftung 6. Publizität IV. Gesellschaftsrechtliche Stellung des Finanzexperten 1. Rechte 2. Pflichten des Finanzsachverständigen 3. Verantwortung des Finanzsachverständigen; Haftung 4. Die Vergütung des Finanzexperten V. Zusammenfassung

I. Gesellschaftsrechtliche Problematik 1. Konzeption des RegE BilMoG Nach dem RegE eines Bilanzmodernisierungsgesetzes (E) muss bei einer kapitalmarktorientierten Gesellschaft1 „mindestens ein unabhängiges Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen“ (E § 100 Abs. 5 AktG). Die Forderung nach einem solchen Mitglied – im folgenden „Finanzexperte“ – dürfte so auch Gesetz werden. Denn der Entwurf setzt hier Art. 41 der Abschlussprüferrichtlinie2 um. Allerdings verlangt die Richtlinie nur, dass kapitalmarktorientierte Unternehmen einen Prüfungsausschuss mit in der Richtlinie bestimmten Aufgaben haben und diesem Ausschuss ein Finanzexperte angehört3. Speziell auf deutschen Wunsch können die Mitgliedstaaten es aber gestatten, dass diese Aufgaben „vom Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan als Ganzes wahrgenommen

__________ 1 E § 264d HGB. 2 Richtlinie 2006/43/EG, ABl. EG Nr. L v. 9.6.2008. 3 Vgl. Art. 41 Abs. 3 – Vorschlag für die Bestellung des Abschlussprüfers – und Art. 41 Abs. 4 – Bericht des Prüfers an den Ausschuss.

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werden“4. Von dieser Möglichkeit will der Entwurf Gebrauch machen. Nach E § 107 Abs. 3 AktG „kann“ – nicht muss – ein Prüfungsausschuss eingerichtet werden. Wird er nicht eingerichtet, sind seine Aufgaben durch den Gesamtaufsichtsrat wahrzunehmen. Allerdings weist der Entwurf sie dem Gesamtaufsichtsrat nicht ausdrücklich zu5. Er geht mit Recht davon aus, dass sie bereits nach geltendem Recht Kernaufgaben des Aufsichtsrats sind. Das bestätigt der an sich überflüssige E § 107 Abs. 3 AktG, nach dem der Aufsichtsrat diese Aufgaben – also diese seine Aufgaben – einem Ausschuss zuweisen kann. Mit dem Prüfungsausschuss – seit Jahren Praxis in allen großen Gesellschaften – beschäftigt sich bereits ein nahezu überbordendes Schrifttum. Seltener wird der Finanzexperte erörtert, obwohl er für die in den USA notierten Gesellschaften auf Grund des Sarbanes-Oxley-Acts (SOA) bereits Pflicht ist6. Im Aktiengesetz ist er aber ein neues Element: ein Aufsichtsratsmitglied, das in besonderer Weise persönlich qualifiziert sein muss. Daher ist zu fragen, wie er in das Verfassungsrecht der Aktiengesellschaft einzufügen ist. 2. Problematik der Transformation in eine Rechtsnorm a) Sachkunde Auf den ersten Blick scheint die Forderung in E § 100 Abs. 5 AktG, dass ein Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen muss, nicht sonderlich neu zu sein. Aus den Aufgaben des Aufsichtsrats folgt, dass jedes Aufsichtsratsmitglied über ein wirtschaftliches Mindestwissen verfügen muss, dass im Aufsichtsrat insgesamt das zur Bewältigung seiner Aufgaben notwendige Potential an Befähigung, Wissen und Erfahrung vorhanden sein soll und dass sich in einen Ausschuss des Aufsichtsrats nur delegieren lassen darf, wer über die dafür nötige Sachkunde verfügt. Insofern mag es auch schon im geltenden Recht angelegt sein, wenn der DCGK unter 5.3.2 empfiehlt, dass der Vorsitzende eines Prüfungsausschusses „über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontrollverfahren verfügen“ soll. Im Einzelnen ist aber zweifelhaft, inwieweit es sich hier um

__________ 4 Art. 41 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie; hierauf nimmt der Ausdruck „Gremium“ in Art. 41 Abs. 5 Bezug, Habersack, AG 2008, 98, 100 f. 5 Das kritisieren zum RefE Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2789. Sie empfehlen, die in E § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG genannten Aufgaben zunächst konkretisierend als Aufgaben des Gesamtaufsichtsrats in § 111 Abs. 1 Satz 2 AktG aufzuführen und E § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG auf die Vorschrift zu beschränken, dass „einem Prüfungsausschuss … die Aufgaben nach § 111 Abs. 1 Satz 2 AktG übertragen werden“ können. Der RegE ist dem mit Recht nicht gefolgt. E § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG nimmt nicht nur auf in § 111 Abs. 1 AktG, sondern – und wohl sogar schwerpunktmäßig – auf in § 171 AktG und anderen Vorschriften geregelte Aufgaben des Aufsichtsrats Bezug. Zweckmäßiger wäre es, E § 107 Abs. 3 AktG als Definition (Klammerdefinition) des Begriffs Prüfungsausschuss zu fassen. Dann bedürfte es bei der Einrichtung eines „Prüfungsausschusses“ nicht der ausdrücklichen Zuweisung dieser Aufgaben. 6 Willms in Semler/v. Schenk, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2008, § 9 Rz. 33 ff.

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rechtliche Anforderungen oder nur um Grundsätze guter Corporate Governance handelt. Jedenfalls macht die Aufnahme in den DCGK diese Anforderungen nicht zu Rechtsnormen. Speziell die im DCGK empfohlenen persönlichen Eigenschaften sind nicht bereits auf Grund dieser Empfehlung gerichtlich durchsetzbar7. Ein gewichtiges neues Element ist daher die in E § 100 Abs. 5 erstmals im AktG ausdrücklich für ein Mitglied geforderte Sachkunde. Sie gilt zwar – anders als nach Ziff. 5.3.2 DCGK – nicht speziell für den Vorsitzenden und bleibt auch im Umfang (Rechnungslegung „oder“ Abschlussprüfung) hinter dem Kodex zurück. Aber als Rechtsnorm geht ihre Verbindlichkeit erheblich über das „comply or explain“-Prinzip des Kodex hinaus. Die gesetzlichen Anforderungen an die Sachkunde und die Gebiete, auf denen sie bestehen muss, sind richterlicher Auslegung zugänglich. Die Norm ist ohne Ausweichmöglichkeit zu befolgen. Ein Verstoß hat Rechtsfolgen. Hier soll nicht versucht werden, Breite und Tiefe der gesetzlichen Sachkundeforderung auszumessen; es soll vielmehr nach den Konsequenzen dieser Transformation in eine Rechtsnorm für das Verfassungsrecht der Gesellschaft gefragt werden. b) Unabhängigkeit Als schwerwiegender könnte es sich erweisen, dass der Finanzexperte nach E § 100 Abs. 5 AktG „unabhängig“ sein muss. Allerdings ist auch eine solche Forderung dem DCGK nicht fremd. Beim Finanzexperten = Vorsitzenden des Prüfungsausschusses begnügt sich Ziff. 5.3.2 DCGK allerdings mit der Anregung8, dass er kein ehemaliges Vorstandsmitglied sein sollte. Allgemein heißt es aber in Ziff. 5.4.2 DCGK dem Aufsichtsrat sollen „eine nach seiner Einschätzung ausreichende Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören“; als unabhängig ist anzusehen, wer „in keiner geschäftlichen oder persönlichen Beziehung zu der Gesellschaft oder deren Vorstand steht, die einen Interessenkonflikt begründet.“ Das ist sehr allgemein gehalten und in die Einschätzung des Aufsichtsrats gestellt. Allenfalls lässt sich aus der Kontrollaufgabe des Prüfungsausschusses herleiten, dass der Aufsichtsrat die Unabhängigkeit seiner Mitglieder und namentlich seines Vorsitzenden besonders in den Blick nehmen muss. Die eigentliche Brisanz der Aufnahme dieser Unabhängigkeitsforderung in das Gesetz beruht aber darauf, dass E § 100 Abs. 5, E § 107 Abs. 4 AktG hier Art. 41 Abs. 1 Satz 2 der Abschlussprüferrichtlinie in das deutsche Recht umsetzen. Zwar sagen weder Art. 41 der Richtlinie noch der RegEBilMoG näher, wie diese Unabhängigkeit verstanden werden soll. Doch ist mit höheren An-

__________ 7 LG München, WM 2008, 130, 133. 8 Baetge/Lutter, Abschlussprüfung und Corporate Governance, 2003, Rz. 5 befürworten die Heraufstufung zu einer Empfehlung, damit an der Unabhängigkeit des Vorsitzenden nicht der geringste Zweifel bestehen könne; „eher fraglich“ nach Kremer in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008, Rz. 995.

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forderungen jedenfalls im Verhältnis zur gegenwärtigen deutschen Praxis zu rechnen. Hierauf deutet bereits der Erwägungsgrund 24 der Abschlussprüferrichtlinie hin, der die Mitgliedstaaten auf die Empfehlung der Kommission vom 15. Februar 20059 hinweist. Diese Empfehlung war in der BegrRefE § 100 Abs. 5 AktG noch zitiert. Unabhängig ist nach ihr ein Mitglied, „wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu dem Unternehmen, dessen Mehrheitsgesellschafter oder dessen geschäftsführenden Organen steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinträchtigen könnte.“ Lässt diese Formulierung trotz ihrer weiteren Fassung („sonstigen Beziehung“) noch Raum für eine einschränkende Interpretation, so zeigt der Anhang II der Kommissionsempfehlung, dass sie den Begriff weit ausgelegt und insbesondere in Konzernbeziehungen grundsätzlich eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit sieht. Ein Mitglied ist danach u. a. nicht unabhängig, wenn es aktuell oder innerhalb der vergangenen fünf Jahre Vorstandsmitglied des Unternehmens oder eines verbundenen Unternehmens oder wenn es aktuell oder innerhalb der letzten drei Jahre in einer wichtigen Führungsposition dieser Unternehmen ist/war; wenn es Anteilseigner mit Kontrollbeteiligung ist oder solche Anteilseigner vertritt oder wenn es Geschäftsbeziehungen von bedeutendem Umfang zu dem Unternehmen oder verbundenen Unternehmen unterhält. Die BegrRegE zitiert diese Gesichtspunkte bezeichnenderweise nicht mehr. Es heißt dort vielmehr einschränkend, dass es sich bei dieser Kommissionsempfehlung „weder um abschließende noch um zwingende abstrakte Vorgaben handelt, sondern nur um Hinweise auf Beziehungen und Umstände, die für die Beurteilung der Unabhängigkeit relevant sein können“10. Ob diese Distanzierung von der Kommissionsempfehlung hilft, ist zweifelhaft. Über die Anforderungen an die zu fordernde Unabhängigkeit wird „in Europa“ namentlich auch im Hinblick auf deutsche Bedenken seit Jahren diskutiert11. Die besonderen Probleme einer solchen Unabhängigkeitsdefinition im Rahmen der dualistischen Verwaltungsstruktur sind erfahrungsgemäß schwer verständlich zu machen. Der Aufsichtsrat war ursprünglich ein Ausschuss der Aktionäre12. Das hat sich zwar namentlich durch die Entwicklung der Mitbestimmung geändert. Bis heute ist es aber dabei geblieben, dass die – fälschlich, aber treffend – als „Vertreter der Anteilseigner“ bezeichneten Aufsichtsratsmitglieder ihre Legitimation von der Wahl (oder Entsendung) durch die Anteilseigner ableiten und deren Interessen verpflichtet sind. In diesem System ist es nur natürlich, dass die Interessen der Anteilseigner durch entsprechende Sitze im Aufsichtsrat zur Geltung kommen. Aus dieser Sicht wird die Kontrollfunktion des Aufsichtsratsmitglieds nicht dadurch beeinträchtigt, dass es Aktionär, selbst Großaktionär oder Vertreter (im weitesten Sinne) eines solchen Aktio-

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9 ABl. EG Nr. L 52, S. 51. 10 Begr.RegE S. 225. Ähnlich bereits Lanfermann/Maul, DB 2006, 1505, 1508. 11 Z. B. Hüffer, ZIP 2006, 637; Drygala in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 100 AktG Rz. 18. 12 Zur geschichtlichen Entwicklung Lutter in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel Bd. II, 2007, S. 389, 392.

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närs ist. Das mitgliedschaftliche Rechtsverhältnis als solches beeinflusst daher auch die von Ziff. 5.4.2. S. 2 DCGK geforderte Unabhängigkeit nicht13. Gesichtspunkte des Minderheitenschutzes sind in erster Linie Sache des Konzernrechts. Ebenso wenig wie bei der „Sachkunde“ soll hier versucht werden, die „Unabhängigkeit“ und die Grenzen ihrer gerichtlichen Kontrolle genauer zu definieren. Die Auslegung von Art. 41 der Abschlussprüferrichtlinie ist letztlich Sache des EuGH. Man meint, dass es nach deutschem Recht auch künftig auf die wertende Entscheidung des Aufsichtsrats ankomme, die lediglich bei Willkür überprüfbar sei14. Das ist aber aus E § 100 Abs. 5 AktG nicht herauszulesen. Die BegrRegE sagt vorsichtiger, die Kommissionsempfehlung solle „es zunächst dem Aufsichtsrat ermöglichen, zu klären, was unter Unabhängigkeit zu verstehen ist“. Das „zunächst“ hat wohl bereits die gerichtliche Kontrolle im Blick. Jedenfalls der EuGH würde wohl außer dem Erwägungsgrund 24 berücksichtigen, dass sich die Vorstellungen der Kommission weitgehend mit den angelsächsischen Grundsätzen decken, wie sie etwa in den Anforderungen an die Unabhängigkeit des „financial expert“ nach dem Sarbanes-Oxley Act15 zum Ausdruck kommen, Da der Finanzexperte der Richtlinie konzeptionell auf den „financial expert“ zurückgeht, liegt eine Anlehnung an diese Unabhängigkeitsanforderungen nahe. Es ist daher damit zu rechnen, dass auch die in Ziff. 5.4. 2 DCGK nicht erwähnten Beziehungen zu einem Paketaktionär, Großaktionär oder herrschenden Unternehmen als geeignet angesehen werden, die Unabhängigkeit zu gefährden. c) Mögliche Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis im Aufsichtsrat Die Forderung nach Unabhängigkeit kann sich je nach ihrer Auslegung im Einzelnen jedenfalls bei bestimmten Gesellschaften auf das Kräfteverhältnis im Aufsichtsrat auswirken. Denn die Unabhängigkeit dient der Wahrung von Interessen, die möglicherweise bei anderen Mitgliedern nicht das gleiche Gewicht haben. Die Beschränkung von Art. 41 der Richtlinie, E § 100 Abs. 5. § 107 Abs. 4 AktG auf kapitalmarktorientierte Unternehmen spricht dafür, dass es um die unabhängige Kontrolle und Durchsetzung der für den Kapitalmarkt wichtigen Publizität und Risikovorsorge geht. Zwar ist jedes Aufsichtsratsmitglied für die Kontrolle der in E § 107 Abs. 3 AktG genannten Anforderungen mitverantwortlich. Die Unabhängigkeit des Finanzexperten soll aber sicher stellen, dass diese Gesichtspunkte das vom Gesetz im Interesse des Kapitalmarktes geforderte Gewicht auch gegenüber etwa abweichenden Interessen bei Verwaltung oder Aktionären erhalten.

__________ 13 Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 100 AktG Rz. 54 und 57; Spindler, ZIP 2006, 2033, 2041; Lieder, NZG 2005, 569 ff.; sehr zurückhaltend in Bezug auf Konzernbindungen auch v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 301 These 3.10. 14 Gruber, NZG 2008, 12, 15. 15 Dazu Willms (Fn. 6), § 14 Rz. 23 ff.

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Diese Unabhängigkeit wird aber die Haltung des Mitglieds auch bei anderen Entscheidungen prägen. Sie kann zur Folge haben, dass das unabhängige Mitglied auch bei unternehmerischen Ermessensentscheidungen wie der Zustimmung zu einem Beteiligungserwerb zu anderen Ergebnissen gelangt als die stärker den Interessen z. B. eines Großaktionärs verpflichteten Aufsichtsratsmitglieder. Der Finanzexperte wird zwar bei solchen Entscheidungen die unternehmenspolitische Ausrichtung der Gesellschaft berücksichtigen müssen. Bei schwerwiegenden Differenzen wird er aber das von ihm für richtig gehaltene Ergebnis im Aufsichtsrat vertreten müssen; etwas anderes wäre pflichtwidrig und unzumutbar. Im Allgemeinen wird diese Besonderheit der Interessenbindung nicht erheblich sein, weil sie nur ein einziges Mitglied betrifft. In manchen Konstellationen ist sie aber problematisch. Man denke an 50:50 Gesellschaften oder an Familiengesellschaften, in denen die Zusammensetzung der Anteilseignerbank aus Vertretern der Aktionäre konsortial festgelegt ist. Auch in paritätisch mitbestimmten Gesellschaften kann die Unabhängigkeit eines Mitglieds der Anteilseignerbank das vom Gesetz so sorgfältig austarierte Gewicht der Sozialpartner im Aufsichtsrat beeinträchtigen. Auch ist nicht auszuschließen, dass die Ausrichtung einer Konzerntochter auf die Konzernpolitik durch das unabhängige Mitglied gefährdet wird. Der „Unabhängige“ könnte sich auf die Willensbildung im Aufsichtsrat ähnlich auswirken wie eine Minderheitenvertretung. Das Aktiengesetz 1965 hat eine solche Vertretung abgelehnt, weil sie als Zünglein an der Waage einen zu großen Einfluss auf den Aufsichtsrat erhalten könnte16.

II. Ein externer Finanzexperte? 1. Die Lösungen der Entwürfe Ein Ausweg könnte in der Möglichkeit gesehen werden, den Prüfungsausschuss und damit den Finanzsachverständigen außerhalb des Aufsichtsrats anzusiedeln. Sie bestände, wenn der Prüfungsausschuss nicht (nur) aus Mitgliedern des Aufsichtsrats zu bestehen brauchte. Art. 41 Abs. der Richtlinie lässt einen solchen „isolierten Prüfungsausschuss“17 zu. Zu einer gewissen Verwirrung hat in diesem Zusammenhang § 342f Abs. 2 RefE BilMoG HGB geführt, der insoweit wörtlich dem RegE § 324 Abs. 2 HGB entspricht. Danach bestellen „die Gesellschafter“ den Prüfungsausschuss. Man hat in dieser Vorschrift eine Abweichung von § 107 Abs. 3 AktG gesehen, der die Bildung (nur) aus Mitgliedern des Aufsichtsrats vorsieht18. Das war jeden-

__________ 16 Ausschussbericht AktG 1965, Kropff, Aktiengesetz, S. 140. 17 Hommelhoff/Mattheus, BB 2007, 2787, 2790. 18 So zu der insoweit gleichlautenden Bestimmung des RefEBilMoG (§ 342f HBG) Weber-Rey, AG 2008, 345, 349; auch Habersack, AG 2008, 98, 102, meint, dem Entwurf liege die (von ihm abgelehnte) Vorstellung eines Wahlrechts der Unternehmen zugrunde.

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falls als allgemeine Aussage nicht richtig. Die Vorschrift betraf nach Wortlaut und Zusammenhang nur die in RefE § 342f HGB genannten „Kapitalgesellschaften, die keinen Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat haben, der die Voraussetzungen des (E) § 100 Abs. 5 des Aktiengesetzes erfüllt.“ Nur in diesen Ausnahmefällen19 sollten die Gesellschafter den Prüfungsausschuss bestimmen und nur bei ihnen wären sie nicht gehindert gewesen, einen „financial expert“ von außerhalb des Aufsichtsrats zu bestellen. Allerdings hätte dieser Ausnahmefall mit Einverständnis aller Gesellschafter, etwa in geschlossenen Gesellschaften herbeigeführt werden können. Setzten sich die Partner bei der Wahl des Aufsichtsrats einvernehmlich über E § 100 Abs. 5 AktG hinweg, so wäre der Aufsichtsrat trotz des fehlenden Finanzexperten wirksam besetzt (dazu unter III.) und die Voraussetzung nach RefE § 342f HGB gegeben. Wie dem auch sei: im Gesellschaftsrecht ist dieser Weg durch eine kleine, in der BegrRegE nicht einmal erwähnte Änderung verbaut worden. Es kommt nach E § 324 Abs. 1 HGB nicht mehr darauf an, ob der Aufsichts- oder Verwaltungsrat die Voraussetzungen des E § 100 Abs. 5 AktG (tatsächlich) „erfüllt“, sondern, ob er sie (rechtlich) „erfüllen muss“. Nach E § 100 Abs. 5 AktG muss aber bei der kapitalmarktorientierten AG der Finanzexperte als Aufsichtsratsmitglied bestellt werden. Das gilt kraft Verweisung20 für alle kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaften und Genossenschaften mit einem Aufsichtsrat. Nicht ganz deutlich ist die Rechtslage bei der monistisch strukturierten SE, deren Prüfungsausschuss nach E § 34 Abs. 4 Satz 5 SEAG mehrheitlich mit nicht geschäftsführenden Mitgliedern des Verwaltungsrats besetzt werden soll; das würde die Berufung anderer Mitglieder von außerhalb21 des Verwaltungsrats nicht ausschließen. Doch muss nach E § 27 Abs. 1 SEAG der Finanzexperte Mitglied des Verwaltungsrats sein, so dass ein isolierter Prüfungsausschuss wohl nicht gewollt ist. Für einen isolierten Prüfungsausschuss nach E § 324 HGB verbleibt daher bei Kapitalgesellschaften mit Aufsichtsrat allenfalls Raum bei der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat, sofern die entsprechende Geltung von E § 100 Abs. 5 AktG gesellschaftsvertraglich ausgeschlossen ist. Die Fragen, die sich in diesem wohl seltenen Fall aus dem Nebeneinander von Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss ergeben, können dem Gesellschaftsvertrag überlassen bleiben22.

__________ 19 Ausdrücklich, aber im Wesentlichen bereits dem RefE entsprechend, die Begr.RegE; danach kommt der Vorschrift „nur die Funktion eines in Ausnahmefällen greifenden Auffangtatbestandes zu, während die Kernelemente des Art. 41 der Abschlussprüferrichtlinie in das Aktiengesetz einfließen, auf das sich auch (E) § 324 HGB bezieht.“ Deutlich die Begr.RegE § 324 HGB (S. 204): „kein Wahlrecht“. 20 Für die KGaA § 278 Abs. 3 AktG, die dualistisch strukturierte SE Art. 9 Abs. 1 Buchst. c SE-VO, zur GmbH § 1 Nr. 3 DrittelbG, § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG, § 3 Abs. 2 MontanMitbestG, § 52 GmbHG i. d. F. von E Art. 7; vgl. auch § 36 Abs. 4 GenG i. d. F. von E Art. 8; § 35 VAG; § 6 Abs. 1 Satz 2 PublG verweist auf E § 324 HGB. 21 Nicht „aus seiner Mitte“ wie nach § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG. 22 Hommelhoff/Mattheus, BB 20007, 2787, 2790 meinen, dass die Fragen des isolierten Prüfungsausschusses die Gesellschaftswissenschaft intensiv beschäftigen werden. Sie scheinen ihn allerdings auch in wesentlich weiterem Umfang für möglich zu halten.

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Fazit ist, dass Gesellschaften mit obligatorischem Aufsichtsrat nicht die Möglichkeit haben, Probleme, die sich im Einzelfall aus dem Postulat der Unabhängigkeit ergeben, durch einen isolierten Prüfungsausschuss mit externem Finanzexperten zu lösen. 2. Rechtspolitische Bewertung Da die Reformarbeiten noch nicht abgeschlossen sind, liegt die Frage nahe, ob die im RegE vorgesehene strikte Integration des Prüfungsausschusses und damit auch des unabhängigen Sachverständigen in den Aufsichtsrat sinnvoll ist. Eine Ansiedlung des Finanzexperten in einem isolierten Prüfungsausschuss23 könnte auch als gesellschaftsvertragliche Option24 oder bei Einverständnis aller Gesellschafter zugelassen werden. Für die Zulassung eines Prüfungsausschusses außerhalb des Aufsichtsrats sprechen in erster Linie Erleichterungen bei der Auswahl seiner Mitglieder. Da sie nicht dem Aufsichtsrat angehören müssten, könnte ihre Unabhängigkeit problemloser gewahrt und bei der Auswahl allein auf den Sachverstand abgestellt werden. Die Geschlossenheit der Anteilseignerseite bei unternehmenspolitischen Entscheidungen wäre nicht gefährdet Zwischen Prüfungsausschuss und Aufsichtsrat ergäben sich zwar gewisse Kompetenzüberschneidungen. Sie wären aber lösbar. Im Grundsatz wäre am Letztentscheidungsrecht des Aufsichtsrats festzuhalten, über Meinungsverschiedenheiten zwischen Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss den Gesellschaftern zu berichten. Ein Vorteil könnte in der Möglichkeit gesehen werden, ausnahmsweise dieses Letztentscheidungsrecht dem Prüfungsausschuss zuzuweisen, wenn besonderer Wert auf eine unabhängige Entscheidung zu legen ist. Ein Beispiel wäre der Vorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers. Nach E § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG, der insoweit Art. 41 Abs. 3 der Richtlinie umsetzt, „stützt“ sich der Aufsichtsrat bei seinem Vorschlag für die Wahl des Abschlussprüfers auf das Votum des Prüfungsausschusses. Obwohl die Bedeutung dieses „stützt“ unklar ist – was gilt, wenn der Aufsichtsrat abweicht? – muss eine irgendwie geartete Bindung des Aufsichtsrats an das Votum seines Ausschusses angenommen werden25. Der darin liegende Systembruch könnte entfallen. Überwiegende Gründe sprechen aber für die Integration in den Aufsichtsrat. Die Mitglieder des Prüfungsausschusses sollten in mindestens der gleichen Weise wie die Aufsichtsratsmitglieder über die Lage der Gesellschaft unter-

__________ 23 Sie scheint etwa in Italien im Rahmen des Collegio Sindacale, in Portugal des Conselho Fiscal beabsichtigt zu sein, Lanfermann/Maul, DB 2006, 1505, 1507. 24 Das entspräche etwa der Rechtslage für die GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat. 25 Habersack, AG 2008, 98, 99 hält die Bestimmung für „bestenfalls überflüssig“ und geht dabei (zutreffend, wenngleich nicht unbestritten) davon aus, dass der Aufsichtsrat den Wahlvorschlag auf den Prüfungsausschuss delegieren kann. Das „stützt“ könnte aber gleichwohl Bedeutung für den Fall haben, dass eine solche Delegation nicht erfolgt ist oder dass der Aufsichtsrat trotz Delegation die Entscheidung an sich zieht. Man wird aus dem „stützt“ mindestens folgern müssen, dass eine Divergenz der Hauptversammlung zu berichten ist.

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richtet sein und auch die nicht unmittelbar prüfungserheblichen unternehmerischen Probleme kennen. Sie sollten mindestens die gleichen Personalkenntnisse haben – namentlich im Bezug auf Finanzvorstand und Revisionschef – und bei allen Personalbeschlüssen mitwirken. Diese möglichst umfassende Unterrichtung setzt die Integration in den Aufsichtsrat voraus. Wüsste der Prüfungsausschuss vom System her weniger als der Aufsichtsrat, diskutierte er u. U. im luftleeren Raum. In gewissem Umfang ließe sich dies durch vermittelnde Lösungen vermeiden. Ein außerhalb des Aufsichtsrats angesiedelter Prüfungsausschuss könnte mehrheitlich mit Mitgliedern des Aufsichtsrats zu besetzen sein. Oder: Einem grundsätzlich in den Aufsichtsrat integrierten Prüfungsausschuss könnte als unabhängiges und sachverständiges Mitglied von den Gesellschaftern eine Person zugewählt werden, die nicht Mitglied des Aufsichtsrat ist, aber an seinen Sitzungen teilnehmen kann. Es ist jedoch nicht zu kritisieren, dass der RegE solche Lösungen nicht zulässt. Zur Zeit ist nicht zu übersehen, ob für sie ein Bedürfnis besteht. Es sollte aber nicht ohne Not die Komplexität des dualistischen Systems erhöht werden. Eher wäre eine solche Möglichkeit als Option für die monistisch strukturierte SE zu diskutieren. Ihr Verwaltungsrat ist gleichzeitig Leitungs- wie Überwachungsorgan. Ein isolierter Prüfungsausschuss könnte die Nachteile der fehlenden Trennung beider Funktionen in gewissem Umfang aufheben. Die ähnlich wie im dualistischen System bestehende Gefahr, dass der Prüfungsausschuss ohne das notwendige Wissen über Geschäft und Geschäftsleiter arbeiten müsste, könnte durch die oben angedeuteten vermittelnden Lösungen minimiert werden. Man mag einwenden, dass die z. Zt. geringe Bedeutung der monistischen SE bei uns den Regelungsaufwand nicht lohne. Doch könnte der gesetzliche Aufwand gering gehalten, die Regelung im Wesentlichen der Satzung überlassen werden. Die Frage sollte rechtsvergleichend vertieft werden26, was hier nicht möglich ist. In einem anderen Punkte sprechen die dem monistischen System immanenten Schwächen der Selbstkontrolle des Verwaltungsrats allerdings dafür, dem Prüfungsausschuss dort mehr Gewicht zu geben. Art. 41 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 5 der Abschlussprüferrichtlinie lässt zwar (erstaunlicherweise) auch die Regelung zu, dass die Aufgaben eines Prüfungsausschusses von einem „Verwaltungs-“organ als Ganzes wahrgenommen werden. Aber der deutsche Gesetzgeber braucht von diesem Mitgliedstaaten-Wahlrecht keinen Gebrauch zu machen, zumal die beim Aufsichtsrat für dieses Wahlrecht sprechenden Gründe nicht auf die monistische SE zu übertragen sind. Er könnte und sollte den Prüfungsausschuss bei der kapitalmarktorientierten monistischen SE obligatorisch machen.

__________ 26 Nach dem Sarbanes-Oxley Act, S. 301 setzt sich das Audit-Committee aus Mitgliedern des Verwaltungsrates zusammen.

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III. Zur Durchsetzung des Finanzexperten 1. Bestellung durch die Gesellschafter Es ist Sache der Hauptversammlung bzw. der Gesellschafter, wie den gesamten Aufsichtsrat so auch den Finanzexperten zu bestellen. Ob er auch im Wege der Entsendung (§ 101 Abs. 2 AktG) bestellt werden könnte – eine ohnehin wohl nur theoretische Frage – ist mindestens zweifelhaft, da eine Abhängigkeit vom Entsendungsberechtigten zu vermuten wäre. Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer mögen zwar im Einzelfall – etwa als leitender Angestellter – die erforderliche Sachkunde haben. Man nimmt auch an, dass ihr Arbeitsverhältnis einer Delegation in den Prüfungsausschuss nicht entgegensteht27. Ihnen fehlt aber die besondere Unabhängigkeit des Finanzexperten. Bei der Prüfung von Sachverhalten, bei denen es um die Verantwortung von Vorgesetzten oder Arbeitskollegen geht, sind Interessenkonflikte nicht auszuschließen. Die Gesellschafter bestellen das sachverständige Mitglied des Aufsichtsrats in Ausübung ihres Stimmrechts. Das macht die Durchsetzung von E § 100 Abs. 5 AktG problematisch. Der Gesellschafter ist in der Ausübung seines Stimmrechts grundsätzlich frei. Das Registergericht kann durch Zwangsgeld weder eine entsprechende Stimmabgabe der Gesellschafter noch einen entsprechenden Vorschlag des Aufsichtsrats durchsetzen28. Eine Haftung des Gesellschafters für das Unterlassen der Bestellung oder die Bestellung eines nicht qualifizierten Kandidaten kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht29. 2. Rechtsmangel der Aufsichtsratswahl a) Nichtigkeit Wird kein Aufsichtsratsmitglied bestellt, das die Voraussetzungen des E § 100 Abs. 5 AktG erfüllt, so macht das die Aufsichtsratswahl nicht nichtig, da weder die Nichtigkeitsgründe nach § 241 Nr. 1, 2 und 5 noch die nach § 250 Abs. 1 AktG gegeben sind und der Entwurf – mit Recht – hieran nichts ändert. Die Nichtigkeit wäre keine angemessene Rechtsfolge. Sie wäre auch angesichts der unscharfen Qualifikationsmerkmale ein untragbares Risiko. Im Übrigen würde sich bei Listen- oder Gesamtwahl des Aufsichtsrats ähnlich wie im anschließend diskutierten Fall der Anfechtung fragen, welches Mitglied als nicht gewählt anzusehen wäre. b) Anfechtung In Betracht kommt eine Anfechtung nach § 251 AktG. In fehlender Unabhängigkeit oder fehlender Sachkunde liegt ein Gesetzesverstoß. Wenn die Anfech-

__________ 27 Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 107 AktG Rz. 128: Kirsten, BB 2004, 173, 175; zur Praxis Peemüller/Warnke, DB 2005, 401, 402; a. A. Scheffler, ZGR 2003, 236, 266; Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 107 AktG Rz. 492. 28 Vgl. § 407 AktG. 29 Nachstehend unter III.5.

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tung wegen Fehlens von in der Satzung geforderten persönlichen Eigenschaften gegeben ist30, muss dies erst recht für vom Gesetz geforderte Eigenschaften gelten. Diese Eigenschaften – auch die Sachkunde – sind richterlicher Nachprüfung jedenfalls nicht schlechthin entzogen. Allerdings setzt die Anfechtung voraus, dass der als Finanzexperte vorgesehene Kandidat zu identifizieren ist. E § 100 Abs. 5 AktG verlangt nur, das ein – irgendein – Mitglied qualifiziert sein muss. Das betrifft nicht das einzelne Mitglied, sondern die Zusammensetzung des Aufsichtsrats31. Es fehlt die Brücke zu dem auf diese Zusammensetzung gerichteten Wahlakt. Insoweit versagt der Vergleich mit der Anfechtung wegen Fehlens von in der Satzung geforderten persönlichen Eigenschaften. Fehlen dem Kandidaten diese persönlichen Eigenschaften so identifiziert dies den unter Rechtsverstoß zustande gekommenen Wahlakt. Hingegen wird die besondere Qualifikation nach E § 100 Abs. 5 AktG nicht für jedes Mitglied des Aufsichtsrats gefordert. Die Wahl eines Mitglieds, das sie nicht aufweist, verstößt deshalb noch nicht gegen Gesetz und Satzung. Dieses Problem der Identifizierung lässt an die Folgen eines Verstoßes gegen die Höchstzahl der Aufsichtratsmitglieder denken. Sie soll bei Einzelwahl die Wahlakte nach Erreichen der Höchstzahl, bei Gesamtwahl alle Wahlbeschlüsse nichtig machen, „weil sich nicht feststellen lässt, welche Kandidaten ohne Überschreitung der Höchstzahl gewählt worden wären“32. Der Fall liegt aber rechtlich und praktisch anders. Rechtlich ist die Überschreitung der Höchstzahl bei Einzelwahl ein den betreffenden Wahlakt, bei Gesamtwahl ein gleichmäßig alle Wahlakte treffender Mangel. Hier ist aber jedes einzelne Mitglied einwandfrei gewählt. Zudem müsste – praktisch undurchführbar – die Wahl aller Mitglieder angegriffen und bei jedem Mitglied die fehlende Qualifikation nachgewiesen werden. Das Problem der Identifizierung des angreifbaren Wahlaktes wäre allerdings im Wesentlichen gelöst, wenn der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats (§ 124 Abs. 3 Satz 1 und 3 AktG) oder einer Minderheit (§ 122 Abs. 2 AktG) ausdrücklich ein bestimmtes Mitglied als den vorgesehenen Finanzexperten bezeichnen müsste. Bisher ist dies nicht vorgeschrieben. Es würde auch nicht alle Probleme ausräumen, weil die Hauptversammlung vom Vorschlag des Aufsichtsrats abweichen kann und die Fälle der Entsendung bzw. gerichtlichen Bestellung nicht abgedeckt wären. Für die Praxis wäre es aber wohl ausreichend, wenn gesetzlich festgelegt oder jedenfalls durch den DCGK empfohlen würde, dass der Aufsichtsrat in seinem Wahlvorschlag ausdrücklich sagt, welches Mitglied er als Finanzexperten vorschlägt.

__________ 30 Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 100 AktG Rz. 11 m. w. N. 31 Insoweit zutreffend Grube, NZG 2008,12, 14; a. A. Habersack, AG 2008, 98, 106. 32 Hüffer (Fn. 30), § 250 AktG Rz. 7.

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Grundsätzlich sollten gegen eine solche Benennung des Finanzsachverständigen keine Bedenken bestehen33. Bei Beachtung von Ziff. 5.3.2 DCGK ist der Vorsitzende des Prüfungsausschusses zugleich Finanzsachverständiger; sein Name wird üblicherweise genannt und dürfte künftig in der Erklärung zur Unternehmensführung (E § 289a Abs. 2 Nr. 3 HGB) zu nennen sein. Allerdings wäre die formelle Bezeichnung im Wahlvorschlag des Aufsichtsrats nicht unproblematisch. Weisen mehrere zur Wahl anstehende Personen die erforderliche Qualifikation auf, müsste sie alle benannt oder zwischen ihnen gewählt werden. Die Benennung würde dem neugewählten Aufsichtsrat die Hände binden. Die haftungs- und vergütungsrechtlichen Folgen einer ausdrücklichen Benennung wären zu bedenken34. Gleichwohl dürfte mehr für die Angabe sprechen. Wird der als Finanzexperte vorgesehene Kandidat nicht formell benannt, ist eine Anfechtung nur möglich, wenn das als Finanzexperte vorgesehene Mitglied durch die Umstände zu identifizieren ist. So mag es liegen, wenn (nur) ein bestimmtes zur Wahl vorgeschlagenes Mitglied als Finanzexperte in Betracht kommt oder wenn es bereits bisher etwa als Vorsitzender des Prüfungsausschusses als Finanzexperte ausgewiesen war. Doch ist selbst dann das ohnehin schwache Schwert der Anfechtung durch die Gefahr eines Luftschlages weiter entwertet. Hinzu kommen praktische Hindernisse. Wird die Wahl nicht angefochten, ist sie wirksam. Ein großes Interesse von Aktionären, erst recht des Vorstands35 an einer Anfechtung ist nicht anzunehmen. Die Aktionäre werden fehlende Sachkunde oft nicht nachweisen können, die Mitglieder des Aufsichtsrats – ihre nur im Ausnahmefall gegebene Anfechtungsbefugnis36 unterstellt – diesen Nachweis bei einem Kollegen scheuen. Insgesamt kann die Möglichkeit der Anfechtung nicht viel zur Durchsetzung von E § 100 Abs. 5 AktG beitragen. 3. Abberufung des nicht mehr qualifizierten Mitglieds Wenn der Finanzexperte seine Qualifikation z. B. die Unabhängigkeit, erst nach der Wahl verliert, kommt seine Abberufung in Betracht37. Ein wichtiger Grund nach § 103 Abs. 3 AktG kann auch ohne Fehlverhalten des Sachverständigen gegeben sein. Er kann sich daraus ergeben, dass das Fehlen eines unabhängigen Finanzexperten in der Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) mit Nachteilen für die Gesellschaft offen zu legen ist, oder daraus, dass im Einzelfall die Belassung des Mandats im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Er-

__________ 33 In den USA ist der financial expert nach dem Sarbanes-Oxley-Act namentlich zu benennen, näher Willms (Fn. 6), § 14 Rz. 33. Bei Nonnenmacher/Pohle/v. Werder, DB 2007, 2412, 2413 heißt es: Der Aufsichtsrat „sollte einen financial expert benennen“. 34 Dazu später unter IV. 3. und 4. 35 § 245 Nr. 4 AktG. 36 Vgl. § 245 Nr. 5 AktG. 37 A. A. Grube, NZG 2008, 12, 14.

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satzbestellung für die Gesellschaft unzumutbar ist38. Doch wird die rechtliche Möglichkeit der Abberufung in der Praxis wohl allenfalls dazu dienen, einer Bitte um Niederlegung des Mandats Nachdruck zu verleihen. U. U. müsste dann vom Gericht gem. § 104 Abs. 2 AktG ein Ersatzmitglied bestellt werden, wobei das Gericht E § 100 Abs. 5 AktG beachten, also über die Qualifikation entscheiden müsste. 4. Fehlen der Beschlussfähigkeit? Vom Gesetz her schränkt das Fehlen eines Finanzexperten die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats nicht ein39. Ob die Satzung gemäß § 108 Abs. 2 Satz 1 AktG bestimmen könnte, dass das Fehlen die Beschlussfähigkeit für alle oder bestimmte Beschlüsse (etwa die Feststellung des Jahresabschlusses) einschränkt, ist mindestens zweifelhaft, da im System des § 108 Abs. 2 AktG das zahlenmäßige Verhältnis maßgebend ist. Jedenfalls wäre von einer solchen Satzungsbestimmung dringend abzuraten. Die Rechtswirksamkeit von Beschlüssen des Aufsichtsrats wird nicht dadurch berührt, dass ein Finanzexperte fehlt. Wenn das als Finanzexperte vorgesehene Mitglied tatsächlich nicht entsprechend qualifiziert ist oder wenn es diese Qualifikation verliert, so ist seine Stimmabgabe im Aufsichtsrat gleichwohl wirksam, da es (mangels Anfechtung) wirksam bestellt ist40. 5. Haftung Eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern kommt in Betracht, wenn sie bei ihrem Wahlvorschlag41 an die Hauptversammlung pflichtwidrig E § 100 Abs. 5 AktG nicht berücksichtigen und dies zu einem Schaden der Gesellschaft führt. Der Aufsichtsrat wird daher gut daran tun, die Sachkunde und Unabhängigkeit des vorgesehenen Finanzexperten sorgfältig zu prüfen. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für den in Ziff. 5.3.3 DCGK empfohlenen Nominierungsausschuss. Ein Verstoß könnte auch durch Versagung der Entlastung geltend gemacht werden. Vor allem in geschlossenen Gesellschaften kann diese Haftung allerdings dadurch unterlaufen werden, dass Gesellschafter von sich aus den Tagesordnungspunkt mit Wahlvorschlägen ankündigen; dann erübrigt sich ein Vorschlag des Aufsichtsrats42. Eine Haftung der Gesellschafter für die Nichtbestellung eines unabhängigen Sachverständigen wird bei Publikumsgesellschaften kaum in Betracht kommen. Sie kann aber z. B. gem. § 317 AktG gegeben sein, wenn ein herrschendes Unternehmen in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft aus-

__________ 38 OLG Frankfurt, AG 2008, 456 m. w. N. 39 § 108 Abs. 2 AktG. 40 Anders als bei Nichtigkeit der Bestellung, z. B. Hüffer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 1984, § 250 AktG Rz. 31. 41 § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG. 42 § 122 Abs. 2, § 124 Abs. 3 Satz 2 AktG.

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schließlich Personen zu Aufsichtsratsmitgliedern wählt, die von ihm abhängig sind. In Betracht kommt schließlich ein Übernahmeverschulden des als Finanzexperte gewählten Mitglieds, wenn es seine fehlende Qualifikation, etwa seine Abhängigkeit erkennen musste. 6. Publizität Der stärkste Hebel zur Durchsetzung von E § 100 Abs. 5 AktG dürfte in möglichen Auswirkungen eines Verstoßes am Kapitalmarkt bestehen. Wird publik, dass der vom Gesetz geforderte Finanzexperte nicht vorhanden ist. sind negative Kommentare der Wirtschaftspresse mit Auswirkungen auf das standing des Unternehmens und den Kurs seiner Anteile wahrscheinlich. Diese Sanktion setzt aber naturgemäß voraus, dass der Verstoß erkannt wird. Nach § 285 Nr. 10 HGB ist die Zusammensetzung des Aufsichtsrats im Anhang anzugeben. Es ist zweifelhaft, ob dabei der Finanzexperte zu benennen ist. Seine Regelung in § 100 AktG – persönliche Voraussetzungen – spricht dagegen. Wohl aber dürfte er in der durch E § 289a neu vorgeschriebenen Erklärung über die Unternehmensführung zu benennen sein. Denn seine Unabhängigkeit und Sachkunde sind für die dort angesprochene Arbeitsweise des Aufsichtsrats erheblich. In der Regel wird es darauf nicht ankommen. Denn diese Erklärung muss auch auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Ausschüsse eingehen. Dabei dürften auch die Ausschussvorsitzenden zu benennen sein, obwohl das Gesetz dies – anders als nach § 285 Nr. 10 HGB43 – nicht ausdrücklich fordert. Bleibt es bei der Empfehlung in Ziff. 5.3.2 DCGK, dass der Vorsitzende des Prüfungsausschusses zugleich Finanzexperte ist, sind bei positiver Entsprechenserklärung nach § 161 AktG das Bestehen eines Prüfungsausschusses und der Name des Finanzexperten publiziert. Wird die Empfehlung nicht befolgt, ist dies gem.§ 161 AktG anzugeben und künftig auch zu begründen. Dabei wird ein Unternehmen, das z. B. im Hinblick auf seinen nur aus wenigen Personen bestehenden Aufsichtsrat auf einen Prüfungsausschuss verzichtet, schon im eigenen Interesse auf den Finanzexperten in seinem Aufsichtsrat hinweisen. Die Einzelheiten können der weiteren Reformerörterung und Überarbeitung des DCGK überlassen werden. Hier kann unterstellt werden, dass künftig die Person des Finanzexperten bekannt, das Fehlen eines Finanzexperten erkennbar sein wird. Eine Schwäche dieser Sanktion durch Publizität besteht darin, dass die Qualifikation des Finanzexperten von außen nur begrenzt nachprüfbar ist. Wenn der Aufsichtsrat ein Mitglied zum Vorsitzenden des Prüfungsausschusses und Finanzexperten bestellt, das nicht entsprechend qualifiziert ist, wird dies aus den Angaben nach E § 289a HGB, E 161 AktG nicht unmittelbar hervorgehen. Allenfalls werden die Angaben nach § 285 Nr. 10 HGB über den ausgeübten

__________ 43 Die Begr.RegE § 289a HGB – S. 172 – empfiehlt eine Anlehnung an die Angaben nach § 285 Nr. 10 HGB.

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Beruf und die Mitgliedschaft in anderen Aufsichtsräten Hinweise geben. Immerhin hilft aber die Haftung für die Entsprechenserklärung nach §§ 95, 116 AktG44. Sie kommt in Betracht, wenn in der Erklärung zu Unrecht der Eindruck erweckt wird, dem Aufsichtsrat gehöre ein entsprechend qualifizierter Finanzexperte an. Insgesamt dürften die Publizitätspflichten im Verein mit dieser Haftung für die Durchsetzung des Finanzexperten ausreichen.

IV. Gesellschaftsrechtliche Stellung des Finanzexperten 1. Rechte Besondere Kontrollrechte weist der Entwurf dem Experten nicht zu. Namentlich hat er aus eigenem Recht kein besonderes Auskunftsrecht und kein besonderes Einsichtsrecht in die Bücher und Schriften. Es dürfte genügen, dass der Aufsichtsrat ihm einen entsprechenden Auftrag erteilen kann45. Auch bezüglich der Aushändigung von Unterlagen sollten die allgemeinen Vorschriften ausreichen. Wird die Aushändigung ausnahmsweise auf die Mitglieder eines Ausschusses beschränkt46, werden jedenfalls die Mitglieder des Prüfungsausschusses sie erhalten müssen und es ergibt sich dann bereits aus seiner Mitgliedschaft im Prüfungsausschuss, dass ihm die Vorlagen und Prüfungsberichte zum Jahresabschluss auszuhändigen sind47. Im Allgemeinen wird es auch genügen, wenn er Probleme aus dem Bereich der Abschlussprüfung im Prüfungsausschuss mit dem dort teilnehmenden Prüfer erörtern kann. Sollte im Einzelfall ein Vorgespräch mit dem Prüfer sinnvoll sein, wird er es in Abstimmung mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden führen können. Ein solches Vorgespräch wird namentlich sinnvoll sein, wenn der Prüfer nur an der Sitzung des Aufsichtsrats und nicht auch an der des Prüfungsausschusses teilnimmt48. Bei Einrichtung eines Prüfungsausschusses hat ein Finanzexperte keinen individuellen Anspruch auf Delegation in diesen Ausschuss oder sogar den Vorsitz, schon weil im Einzelfall mehrere Aufsichtsratsmitglieder entsprechend E § 100 Abs. 5 AktG qualifiziert sein können. Sollten allerdings – ein wohl theoretischer Fall – ein oder mehrere Mitglieder des Aufsichtsrats den Anforderungen nach E § 100 Abs. 5 AktG entsprechen, aber keines von ihnen in den Ausschuss delegiert werden, so wäre zwar E § 100 Abs. 5 AktG genügt, nicht aber E § 107 Abs. 4 AktG und der Empfehlung in Ziff. 5.3.2 DCGK. Rechtlich hat die Stimme des Finanzexperten im Aufsichtsrat und im Prüfungsausschuss nicht mehr Gewicht als die der anderen Mitglieder. Geht es allerdings um eine Beschlussfassung auf dem Gebiet der besonderen Kompetenz des Sachverständigen, z. B. um die Feststellung des Jahresabschlusses,

__________ 44 45 46 47 48

Im Einzelnen Theusinger/Liese, DB 2008, 1419, 1420. Namentlich § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG, § 111 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG. § 170 Abs. 3 Satz 2 AktG. § 170 Abs. 2 Satz 3 AktG. Zulässig nach § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG, aber nicht zu empfehlen.

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werden die anderen Mitglieder seine Meinung besonders beachten müssen. Übergehen sie sie ohne sorgfältige Prüfung, erhöht sich ihr Haftungsrisiko. Wird der Finanzexperte überstimmt, so kann er jedenfalls in Fragen, für die seine besondere Kompetenz vorausgesetzt ist, verlangen, dass seine Meinung im Protokoll festgehalten wird. Das folgt, wenn nicht bereits aus § 107 Abs. 2 AktG49, so doch jedenfalls aus seiner besonderen Verantwortung. 2. Pflichten des Finanzsachverständigen Auf den Gebieten seines besonderen Fachwissens hat der Sachverständige auch gesteigerte Pflichten. Z. B. hat er die Vorlagen zum Jahresabschluss/Konzernabschluss intensiver als die anderen Mitglieder des Aufsichtsrats zu prüfen und sich von Kompetenz und Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu überzeugen. Diese gesteigerte Pflicht widerspricht nicht dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Es ist heute wohl herrschende und jedenfalls zutreffende Ansicht, dass jedes Aufsichtsratsmitglied verpflichtet ist, auch sein spezielles Fachwissen im Aufsichtsrat zur Geltung zu bringen50. Ihre innere Rechtfertigung liegt darin, dass der Aufsichtsrat entsprechend der zunehmenden Komplexität seiner Aufgaben zusammengesetzt sein sollte51 und daher die Mitglieder über die notwendigen Grundkenntnisse hinaus ein spezielles Fachwissen in für das Unternehmen besonders relevanten Fragen mitbringen sollten. Der Aufsichtsrat ist verpflichtet, diesen Gesichtspunkt bei seinen Vorschlägen für die Neuwahl von Mitgliedern52 zu berücksichtigen. Dann muss folgerichtig von jedem Mitglied erwartet werden, dass es seine Spezialkenntnisse – gleichgültig ob sie im Wahlvorschlag zum Ausdruck gekommen sind oder nicht – im Aufsichtsrat zur Geltung bringt. Erst recht gilt dies, wenn ein Mitglied ausdrücklich oder stillschweigend als Finanzexperte vorgeschlagen und gewählt worden ist. 3. Verantwortung des Finanzsachverständigen; Haftung Aus der Verpflichtung des Finanzsachverständigen, sein besonderes Sachwissen in den Dienst der Aufsichtsratsarbeit zu stellen, folgt konsequent, dass er bei Verletzung dieser Pflicht gemäß § 116 Satz 1 AktG haftet. Soweit das Schrifttum die entsprechende Pflicht zum Einsatz von Spezialwissen bejaht,

__________ 49 Das Schrifttum tendiert unter Haftungsgesichtspunkten zu einem generellen Anspruch des Mitglieds auf Aufnahme seiner abweichender Meinungsäußerungen und Erklärungen in die Niederschrift, vgl. Habersack (Fn. 13), § 107 AktG Rz. 80; Spindler (Fn. 27), § 107 AktG Rz. 66 m. w. N. 50 Wohl h. A., P. Doralt/W. Doralt in Semler/v. Schenk (Fn. 6), § 13 Rz. 31 ff.; Habersack (Fn. 13), § 116 AktG Rz. 28; Altmeppen, ZGR 2004, 390, 411; Spindler (Fn. 27), § 116 AktG Rz. 17; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 52 GmbHG Rz. 70; Leyens, JZ 2007, 1061,1065 jew. m. w. N.; anders – rein objektiver Maßstab – Hüffer (Fn. 30), § 116 AktG Rz. 3; vermittelnd Hoffmann-Becking in MünchHdb. Gesellschaftsrecht Bd. 4, 3. Aufl. 2007, § 33 Rz. 61. 51 Vgl. Ziff. 5.4.1 DCGK; Lutter, ZIP 2003, 417, 418; Kirsten, BB 2004, 173, 175; v. Werder/Wieczorek, DB 2007, 297, 298. 52 § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG.

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Der unabhängige Finanzexperte i. d. Gesellschaftsverfassung

wird auch die Konsequenz einer erweiterten Haftung akzeptiert53. Auf diesem Grundgedanken beruht es auch, dass für die Mitglieder des Prüfungsausschusses eine gesteigerte Verantwortlichkeit und Haftung angenommen wird54. Ein weiterer Gesichtspunkt mag sein: wer ein Mandat im Prüfungsausschuss annimmt, nimmt damit für sich das erforderliche Sachwissen in Anspruch und haftet bei dessen Fehlen aus Übernahmeverschulden55. Beide Gesichtspunkte treffen erst recht auf den Finanzexperten zu. Seine gesteigerte Haftung entspricht den für jedes Aufsichtsratsmitglied geltenden Haftungsgrundsätzen56. Für ein Haftungsprivileg, wie es die SEC für den „financial expert“ für nötig erachtet hat („safe harbour“)57, besteht jedenfalls zzt. kein Anlass. In den USA mag die Gewinnung von „financial experts“ durch die weit größere Neigung zu Haftungsprozessen erschwert sein. Damit ist hier nicht zu rechnen, jedenfalls solange uns ein vergleichbares Unwesen anwaltlicher Erfolgshonorare erspart bleibt. Die gesteigerte Haftung ist durch eine entsprechende Vergütung zu kompensieren58. 4. Die Vergütung des Finanzexperten Eine Vergütung kann dem Finanzexperten nur in Form der Aufsichtsratsvergütung, also durch Beschluss der Hauptversammlung oder in der Satzung zugebilligt werden. Da seine Tätigkeit definitionsgemäß zu seinen Aufgaben als Aufsichtsratsmitglied gehört, scheiden andere Wege wie etwa ein Beratungsvertrag aus59. Schon hieraus folgt, dass er keinen individuellen Anspruch auf eine seiner besonderen Qualifikation entsprechende Vergütung hat. Übernimmt er die Aufgabe, unterwirft er sich der Entscheidung der Gesellschafter. Im eigenen Interesse der Gesellschaft sollte für ihn aber eine seiner Verantwortung entsprechende Aufsichtsratsvergütung festgesetzt werden. Nach der Empfehlung in Ziff. 5.4.7 DCGK soll die Aufsichtsratsvergütung „der Verantwortung und dem Tätigkeitsumfang der Aufsichtsratsmitglieder“ Rechnung tragen. Das bedeutet auch, dass die Vergütung nach diese Gesichtspunkten „aufgabenbezogen“ abgestuft werden kann60 und grundsätzlich auch abgestuft werden sollte. Der Anspruch auf Gleichbehandlung steht einer sachgerechten Differenzierung nicht entgegen.

__________ 53 Z. B. P. Doralt/W. Doralt in Semler/v. Schenk (Fn. 6), § 13 Rz. 85; Habersack (Fn. 13), § 116 AktG Rz. 28. 54 Habersack (Fn. 13), § 116 AktG Rz. 26; Lieder, NZG 2005, 769, 574; Lanfermann/ Maul, DB 2006, 1505, 1510; Altmeppen, ZGR 2004, 390, 410 f. 55 Habersack (Fn. 13), § 116 AktG Rz. 26. 56 Das verkennt Luttermann, BB 2003, 745, 748. 57 Luttermann, BB 2003, 745, 746, 748; Altmeppen, ZGR 2004,390, 399. 58 Die D & O-Versicherung durch die Gesellschaft bleibt hier außer Betracht; sie kann – entgegen zuletzt Dreher, AG 2008, 429 ff. mit Darstellung des Streitstandes – m. E. nur bei angemessenem Selbstbehalt übernommen werden. 59 Zum Ausschluss anderweitiger Vergütungsformen für eine als Aufsichtsratsmitglied geschuldete Tätigkeit Hüffer (Fn. 30), § 113 AktG Rz. 5 m. w. N. 60 Hüffer (Fn. 30), § 113 AktG Rz. 4.

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Die Hauptversammlung oder die Satzung können daher auch eine besondere Vergütung nur für den Finanzexperten festlegen. Dieser Weg kommt in Betracht, wenn kein Prüfungsausschuss eingerichtet ist und der Finanzexperte praktisch dessen Aufgaben wahrnimmt. Entsprechen mehrere Mitglieder des Aufsichtsrats den Erfordernissen des E § 100 Abs. 5 AktG, so tragen sie auf Grund ihrer Sachkunde alle eine besondere Verantwortung. Ist nur eines dieser Mitglieder als Finanzexperte benannt, kann zweifelhaft sein, ob eine sachgerechte Differenzierung nicht auch eine Heraushebung der anderen Experten bedingt. Im Einzelfall mag eine flexible Lösung dadurch erreicht werden können, dass die Satzung den Aufsichtsrat ermächtigt, einen Teil des Vergütungsbetrages nach sachgerechten Kriterien – Zeitaufwand, Verantwortung – zu verteilen61. Doch ist eine solche „Selbstevaluierung“ ungewöhnlich und für das Arbeitsklima im Aufsichtsrat nicht ungefährlich. In aller Regel werden diese Probleme durch die Einrichtung eines Prüfungsausschusses vermieden. Es steht außer Zweifel, dass für die Mitglieder eines solchen Ausschusses schon im Hinblick auf ihren höheren Zeitaufwand eine erhöhte Vergütung festgesetzt werden kann62 und festgesetzt werden sollte63; in der Praxis geschieht dies. Allenfalls fragt sich dann noch, ob die je nach Zusammensetzung größere Verantwortung des Finanzexperten eine Heraushebung gegenüber den anderen Mitgliedern rechtfertigt. Auch diese Frage erübrigt sich aber, wenn der Finanzexperte Vorsitzender des Ausschusses ist. Diese Stellung rechtfertigt stets eine höhere Vergütung64.

V. Zusammenfassung Der neu in das Gesetz eingeführte Finanzexperte lässt sich ohne große Probleme in die Verfassung der Aktiengesellschaft einfügen; erst recht in die anderer Gesellschaftsformen. In einzelnen Fällen kann allerdings die erforderliche Unabhängigkeit des Sachverständigen zu Gewichtsverlagerungen im Aufsichtsrat führen, insbesondere wenn diese Unabhängigkeit im Sinne der Empfehlungen der EG-Kommission verstanden wird. Zu prüfen ist, ob eine Rechtspflicht oder eine Empfehlung nach dem DCGK bestehen sollte, ihn bei seiner Wahl ausdrücklich zu benennen. Am rechtlichen Umfang der Aufsichtsratsüberwachung ändert sich nichts, wohl aber hoffentlich an ihrer Intensität. Die Sorge vor einem Aufpasser mit Büro, Computer und SAP-Zulassung in der Vorstandsetage ist überflüssig65.

__________ 61 Zulässig nach h. A., z. B. – mit Differenzierungen hinsichtlich Form und Inhalt der Ermächtigung – Spindler (Fn. 27), § 113 AktG Rz. 23; Habersack (Fn. 13), § 113 AktG Rz. 30; „nicht unbedenklich“ aber letztlich akzeptiert auch von Mertens in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 113 AktG Rz. 30. 62 Allg. Ansicht, Hüffer (Fn. 30), § 113 AktG Rz. 4. 63 Ziff. 5. 4. 7 Satz 3 DCGK. 64 Ziff. 5.4.7 Satz 3 DGCK. 65 Fietz, Aufsichtsrat 2008 Heft 1, S. 02, 03.

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Gesellschaftsrecht und Kodifikation Inhaltsübersicht I. Erinnerung an zurückliegende Diskurse II. Innerdeutsche Entwicklungen 1. „Aktienrechtsreform in Permanenz“ 2. Auslagerung in andere Gesetze 3. Delegation an untergesetzliche Regelungen 4. Die Emergenz des Kapitalmarktrechts

2. Das Beispiel der Societas Europaea 3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 4. Auswirkungen auf das überkommene System IV. Kodifikation und Wissenschaft 1. Ein vorläufiges Resümee 2. Institutionenbildung 3. Neue Herausforderungen der Rechtswissenschaft

III. Europarechtliche Aspekte 1. Rechtsangleichung durch Richtlinien

I. Erinnerung an zurückliegende Diskurse Im Jahr 1985 hat Karsten Schmidt eine Abhandlung über „Die Zukunft der Kodifikationsidee“ veröffentlicht1. Sie wendet sich gegen den „Kodifikationspessimismus“2, wie er sich in der Vorstellung einer „Krise der Kodifikationsidee“ manifestiert3. Als „Kronzeugen“ der Kodifikationsskepsis werden – völlig zu Recht – Veröffentlichungen von Josef Esser4und von mir5 benannt6. Kern der gegen sie gerichteten Vorwürfe ist, „dass, wer die Kodifikationsidee im Blick auf die Realitäten von Gesetzgebung und Rechtsleben verabschiedet, selbst zum Verfall einer systematischen Rechtsordnung beiträgt“7. Der Kontroverse liegen unterschiedliche Auffassungen von Kodifikation und ebenso unterschiedliche Intentionen zugrunde. Franz Wieacker hatte die Kodi-

__________

1 Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee. Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung vor den Gesetzeswerken des geltenden Rechts, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 167 (1985). 2 Karsten Schmidt (Fn. 1), S. 12. 3 Dazu werden zitiert Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, 1977, S. 135 ff., und Wieacker, Aufstieg, Blüte und Krise der Kodifikationsidee, in FS Boehmer, 1954, S. 34 ff. 4 Gesetzesrationalität im Kodifikationszeitalter und heute, in Esser/Vogel, Hundert Jahre oberste deutsche Justizbehörde. Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, S. 13 ff., 31, 37 f. 5 Kodifikation und Demokratie, JZ 1969, 645 ff. 6 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 13. 7 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 5.

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fikation als ein genau eingegrenztes historisches Phänomen beschrieben. Die großen Gesetzbücher – das preußische ALR, der französische code civile, das deutsche BGB – waren aus weithin gemeinsamen kulturellen und politischen Bedingungen hervorgegangen; dazu zählten die Systematisierung des überlieferten römischen Rechtsmaterials und die Modellentwürfe des aufgeklärten Naturrechts ebenso wie die Souveränität des neuzeitlichen Nationalstaates und die Homogenität der Sozialvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Und ihnen lag ein umfassendes telos zugrunde: sie waren „Gründungsdokumente der modernen Gesellschaft und mehr noch solche des modernen Rechtstaats“8. Ihr Erfolg machte sie zum Vorbild, zum verbindlichen Maßstab guter Gesetzgebung. Das wurde zum Problem, als sich die erwähnten geschichtlichen Voraussetzungen der Kodifikation auflösten. In dem Maße, in dem der Übergang zur fragmentierten und periodischen Gesetzgebung der pluralistischen, regulierenden und verteilenden Demokratie als Zeichen kulturellen Verfalls verstanden wurde, richtete sich die Kritik gegen die verfassungsmäßige Ordnung9; sie lockerte die Bindung an die vom Parlament verabschiedeten Gesetze10 und nährten die nostalgische Sehnsucht nach autoritären Formen des Staates11. Karsten Schmidt folgt einem völlig anderen Ansatz: Die Kodifikationsidee muss „von den Äußerlichkeiten der überkommenen Kodifikationen und von den historisch-politischen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung losgelöst und als ein Rechtsprinzip verstanden werden: als Aufruf zur systematischen Erfassung, Gliederung und Fortbildung des Rechts“12. Es gibt „falsche Kodifikationsideale“, dazu zählen das Dogma der Lückenlosigkeit13, das Verlangen ihrer Übereinstimmung mit den Lebensverhältnissen14 und ihre Belastung mit – restaurativen oder progressiven – rechtspolitischen Programmen15. Daneben stehen „überholte historische Grundlagen“ wie die Bindung an den Nationalstaat16 oder die Erwartung, dass die Rechtsnormen dem Bürger bekannt sind17. Der solcherweise entschlackte Begriff erlaubt es, das Aktiengesetz, die Verwaltungsgerichtsordnung, das Verwaltungsverfahrensgesetz, das Sozialgesetzbuch oder die Neufassung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches als Kodifikationsleistungen zu würdigen18.

__________ 8 Wieacker in FS Boehmer, 1954, S. 35 ff. und 43. 9 Auf diese Gefahr wollten die in Fn. 4 und 5 erwähnten Aufsätze von Esser und von mir hinweisen. 10 Nachweise bei Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, AcP 162 (1963), 104 ff. 11 Ein Nachläufer der Kodifikationsbewegung war der vom faschistischen Italien 1942 verabschiedete codice civile. 12 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 5. 13 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 17 ff. 14 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 23 ff. 15 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 26 ff. 16 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 32 ff. 17 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 39 ff. 18 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 16. Auch das Herauslösen des Aktienrechts aus dem HGB war eine „kodifikatorische Leistung“ (S. 50).

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Gesellschaftsrecht und Kodifikation

Was sind die Gründe für das Festhalten an der Kodifikationsidee? Zunächst: nicht nur Rechtsprechung und Wissenschaft, sondern auch die Gesetzgebung sind zu „institutionellem und systematischem Rechtsdenken angehalten“; die Botschaft der Kodifikationsidee ist ein (auch) „an den Gesetzgeber gerichteter Appell zur Verwirklichung einer wissenschaftlich fundierten Rechtsordnung“19. Jedes Kodifikationsgesetz benötigt „seinen rechtssystematischen Brennpunkt“20. Und zentrale Bedeutung wird der „rechtswissenschaftlichen Institutionenbildung“ beigemessen; die Gesetzgebung hat sich an ihr zu orientieren, da sie sonst der „Konzeptlosigkeit“ verfällt21. Mit anderen Worten: die Rechtswissenschaft, und das ist vorrangig die Dogmatik, hat die Aufgabe, Institutionen zu bilden und diese einem übergreifenden System einzufügen; und die Gesetzgebung ist durch das Festhalten an der Kodifikationsidee darauf zu verpflichten, diese Vorgaben in möglichst umfassende Gesetzeswerke umzugießen. Das ist ein für die Rechtswissenschaft persuasives Programm; seine Faszination wird durch die Begeisterung und Beharrlichkeit illustriert, mit der es in dem monumentalen Lehrbuch zum Gesellschaftsrecht umgesetzt worden ist22. Zugleich erscheint es reizvoll, einen erneuten Blick auf seine Prämissen zu werfen; es ist zu fragen, wie sich Kodifikationsidee und Kodifikationsskepsis nach mehreren Jahrzehnten – im Kontext des neuen Jahrtausends – ausnehmen. Da der Raum beschränkt ist, sollen die einschlägigen Überlegungen auf das Gesellschaftsrecht beschränkt werden, auf eine Materie, die den Verfasser dieses Beitrags in mehrfacher Weise mit dem Jubilar verbindet. Und auch insoweit kann nicht mehr als eine grobe Skizze geboten werden.

II. Innerdeutsche Entwicklungen 1. „Aktienrechtsreform in Permanenz“ Im Ausgangspunkt besteht Konsens: „Es gibt keine Kodifikation des Gesellschaftsrechts“23. Zu fragen ist vielmehr, inwieweit das AktG als eine Kodifikation, d. h. als ein Gesetzeswerk verstanden werden kann, das seinen Gegenstand institutionen- und systemgerecht erfasst und behandelt24. Auch wenn man dies für die ursprünglichen Fassungen bejaht, drängen sich einige Zweifel auf. Die – sowohl empfohlene wie perhorreszierte – „Aktienrechtsreform in

__________ 19 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 6. An anderer Stelle heißt es, dass „der Gesetzgeber auf die Kodifikationsidee verpflichtet bleiben darf“ (S. 67). 20 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 48. 21 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 54 ff. Es gibt freilich „kodifikationsunfähige Materien“, zu denen das technische Sicherungsrecht, das materielle Ordnungswidrigkeitenrecht und das besondere Steuerrecht gezählt werden. (S. 65 ff.). 22 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002; vgl. insbesondere das Vorwort S. V f. 23 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 22), S. V. 24 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 50: die Aktiengesetze von 1937 und 1965 sind „Kodifikationsleistungen von Rang“.

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Permanenz“25 ist zunehmend Realität geworden. Der Reigen begann mit dem „Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts“26, dessen Titel die Richtungsänderung der legislatorischen Marschroute signalisiert. Nächste Schritte sind mit dem „Gesetz zur Verbesserung von Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG)“27 vollzogen worden. Maßnahmen wie die Erleichterung des Bezugsrechtsausschlusses oder die Lockerung des Verbots, eigene Aktien zu erwerben, sollen die Funktionseffizienz des Kapitalmarkts fördern; diesem Ziel dienen auch das Stückaktiengesetz28 und das „Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtausübung (NaStraG)“29. Es schließen sich an das „Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (TransPuG)“30 und das „Gesetz zur Unternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)“31. Gewiss: dies sind Änderungen und Ergänzungen, die im Rahmen des Aktienrechts bleiben; sein Regelungsanspruch bleibt formal unberührt. Aber sie deuten einen tiefgreifenden Wandel an: weg von der noch die sechziger und siebziger Jahre beherrschenden Vorstellung einer zwingend festgelegten „Unternehmensverfassung“, hin zu einem zunehmend flexiblen Gefüge, das es den Unternehmen erleichtern soll, auf die Herausforderungen der globalisierten Absatz- und Faktormärkte zu reagieren. Das konfrontiert mit der Frage, inwieweit hier noch von dem „rechtssystematischen Brennpunkt“ die Rede sein kann, den jedes Kodifikationsgesetz benötigt32. Es ist zu bezweifeln, dass die Öffnung für neue rechtspolitische Orientierungen als ein derartiger Focus fungieren kann. 2. Auslagerung in andere Gesetze Zugleich ist daran zu erinnern, dass das materielle Aktienrecht nicht mehr allein im AktG angesiedelt ist. Die unternehmerische Mitbestimmung orientiert sich zwar an der Organisationsstruktur der AG, war aber von Anfang an rechtsformübergreifend geregelt; daran hat sich bis heute nichts geändert33. Das Verschmelzungs- und Umwandlungsrecht war zunächst in den handelsrechtlichen Kodifikationen und dann im GmbHG und im AktG geregelt; seit der 1994 vollzogenen Neufassung des Umwandlungsgesetzes sind die einschlägigen Bestimmungen zur Gänze in diesem vereinigt. Dasselbe gilt schließ-

__________

25 Zöllner, AG 1994, 336 ff.; Seibert, AG 2002, 217 ff.; vgl. auch Kübler, AG 1994, 141 ff. und Spindler, NJW 2004, 3449 ff. Eingehende Darstellung bei Habersack/Schürbrand, Modernisierung des Aktienrechts, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. I, 2007, S. 889 ff., insbes. Rz. 7 ff.; und bei Habersack in MünchKomm. AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, Einl. Rz. 33 ff. 26 Vom 10.8.1994, BGBl. I, 1961 ff. 27 Vom 27.4.1998, BGBl. I, 786 ff. 28 Vom 23.3.1998, BGBl. I, 590 ff.; es sollte primär die Währungsumstellung auf den Euro erleichtern. 29 Vom 18.1.2001, BGBl. I, 123 ff. 30 Vom 19.7.2002 BGBl. I, 2681 ff. 31 Vom 22.9.2005, BGBl. I, 2802 ff. 32 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 48 f. 33 Mitbestimmungsgesetz vom 4.5.1976; Drittelbeteiligungsgesetz vom 18.5.2004.

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lich für die Rechnungslegung. Die die AG betreffenden Vorschriften waren bis 1985 im AktG enthalten. Durch das Bilanzrichtliniegesetz, das die 4., 7. und 8. gesellschaftsrechtliche EG-Richtlinie in das deutsche Recht umsetzte, wurde auch die Rechnungslegung durchgängig rechtsformübergreifend geregelt und dazu als Drittes Buch in das HGB aufgenommen. Durch das Bilanzrechtsreformgesetz34 wurde es den nicht börsennotierten Gesellschaften erlaubt, ihren Konzernabschluss nach IFRS aufzustellen; und die börsennotierten Gesellschaften sind nunmehr zu dieser Form der Rechnungslegung verpflichtet. Die dafür maßgeblichen Regeln werden nicht durch Gesetzgebung, sondern durch den International Accounting Standards Board (IASB), ein Expertengremium, festgelegt. Die Bedeutung dieser Standards wird zunehmen: nach einer plausiblen Prognose wird sich der Rückzug der Rechnungslegung nach HGB weiter fortsetzen35. 3. Delegation an untergesetzliche Regelungen Damit eröffnet sich eine neue Dimension der Normierung: sie beruht auf der legislatorischen Delegation der Normierungsbefugnis an professionelle Stäbe oder Einrichtungen. Exemplarisch ist die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“, deren Empfehlungen gemäß § 161 AktG von Vorstand und Aufsichtsrat soweit zu befolgen sind, als ihre Beachtung nicht durch eine jährlich zu erneuernde ausdrückliche Erklärung der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Diese Empfehlungen haben gewiss keine Gesetzeskraft36; sie sind aber mehr als eine bloße Selbstverpflichtung der Gesellschaft. Sie sind – wie erwähnt – im AktG verankert; sie werden vom Bundesjustizministerium im amtlichen Teil des elektronischen Handelsregisters bekannt gemacht; und die Bundesregierung bestimmt die Zusammensetzung der für sie maßgeblichen Kommission. Gegenüber gesetzlichen Festlegungen bietet der Kodex den Vorteil, dass er sich rascher und mit geringerem Aufwand verändern lässt; er ist geeignet, die „Schlagzahl der Aktienrechtsreform in Permanenz“ noch weiter zu erhöhen37. 4. Die Emergenz des Kapitalmarktrechts Das Kapitalmarktrecht ist mit dem Aktienrecht schon deshalb eng verknüpft, weil der Anlegerschutz traditionell vorwiegend im AktG geregelt war38. Auch wenn seine Eigenständigkeit längst nicht mehr bestritten wird, ist seine fortbestehende Verzahnung mit dem Gesellschaftsrecht nicht zu übersehen. Wiederum ist es zu keiner gesetzlichen Regelung gekommen, die die Bezeichnung einer Kodifikation verdiente. Das beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass

__________ 34 35 36 37 38

Vom 4.12.2004, BGBl. I, 3166. Habersack/Schürbrand (Fn. 25), Rz. 69 f. Semler in MünchKommAktG Bd. 5/1 (2. Aufl. 2003) § 161 Rz. 29. Mülbert in FS Röhricht, 2005, S. 421,422; Habersack (Fn. 25), Rz. 80. Hopt, ZHR 140 (1976) 201 ff. und ZHR 141 (1977) 389 ff.; Wiedemann, BB 1975, 1591; Schwark in FS Stimpel, 1985, S. 1087 ff.

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die deutsche Entwicklung weithin durch europarechtliche Vorgaben bestimmt worden ist; darauf ist sogleich zurückzukommen.

III. Europarechtliche Aspekte 1. Rechtsangleichung durch Richtlinien Zu den Befugnissen und Aufgaben der EG zählt gemäß Art. 3 lit. h EGV „die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies für das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Marktes erforderlich ist“. Diese Rechtsangleichung vollzieht sich durch Richtlinien, die der Umsetzung in das Recht der Mitgliedstaaten bedürfen. Speziell mit dem Gesellschaftsrecht befasst sich Art. 44 Abs. 2 lit. g EGV: Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, die sich aus unterschiedlichen Regelungen ergeben, sind – wiederum durch den Erlass von Richtlinien – zu beseitigen. Auf Grund dieser Vorschriften sind zahlreiche Richtlinien entstanden, die das Gesellschaftsrecht punktuell modifizieren und die Grundlage des deutschen Kapitalmarktrechts bilden39. Diese Form der Rechtsetzung, für die es soweit ersichtlich weder historische Vorbilder noch zeitgenössische Parallelen gibt, ist mit der Kodifikationsidee generell kaum zu vereinbaren. Die Befugnis zur Rechtangleichung ist „integrationsgebunden“: Die EG darf nur regeln, wenn dies zur Errichtung und zum Funktionieren des gemeinsamen Marktes, zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und – nunmehr – zur schrittweisen Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlich ist. Das gilt freilich nur für den Anlass, das „ob“ der Regelung. Für den sachlichen Inhalt, das „wie“, besteht keine derartige Beschränkung. Insoweit wird die Rechtsangleichung zur Gesetzgebung, die sich im Konflikt der Interessen und Meinungen nach generellen rechtspolitischen Kriterien für bestimmte Lösungen entscheidet40. Das ändert indessen nichts an der kompetenzrechtlichen Beschränkung der Regelungsbefugnis; sie wird durch das Subsidiaritätsprinzip, das der Vertrag vom Maastricht eingefügt hat, zusätzlich betont und bekräftigt41. Das heißt: die auf das vertragsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes bezogene Zuständigkeit verbietet die systematische Ordnung eines Rechtsgebiets, die sich mit dem Begriff der Kodifikation verbindet. Diese Beschränkung prägt zugleich die Rechtsetzung in den Mitgliedstaaten. Ihnen ist es freilich unbenommen, die von der Richtlinie geforderte Regelung in ein umfassendes Werk der Gesetzgebung einzufügen. Aber damit verliert dieses seine Homogenität. Mit der Umsetzung wird die Richtlinie nicht bedeutungslos; sie entfaltet nunmehr eine Sperrwirkung, die es den Mitgliedstaaten verbietet, durch nachträgliche Rechtsänderungen hinter die von der Richtlinie verlangte Regelung zurückzufallen. Das nationale Gesetzgebungswerk besteht nunmehr aus zwei strikt zu unterscheidenden Elementen: den von der EG vorgegebenen, die der mitgliedstaatlichen Disposition ent-

__________ 39 Umfassende Information bei Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, und bei Grundmann, Europäisches Gesellschafsrecht, 2004. 40 Dazu Timmermans, RabelsZ 48 (1984), 1, 5 f. 41 Dazu eingehend Schön, ZGR 1996, 1 ff.

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zogen sind, und den übrigen, über die die nationale Gesetzgebung weiterhin verfügen darf. Ein derartiges Konglomerat lässt sich nur dann als Kodifikation bezeichnen, wenn man diesen Begriff aller historischen Bezüge entkleidet. 2. Das Beispiel der Societas Europaea Die europäische Normsetzung begnügt sich nicht mit der Angleichung der in den Mitgliedstaaten vorgefundenen korporativen Strukturen; sie schafft sich auch ihre eigenen Rechtsformen. Wichtigste Beispiel ist die europäische Akteingesellschaft oder Societas Europaea (SE). Ihr Regelungsmuster ist ungewöhnlich komplex. Es beruht auf einer Verordnung42 und einer Richtlinie43. Die Verordnung folgt nicht länger dem ursprünglichen Konzept einer umfassenden und abschließenden Kodifikation44. Die besonders kontroverse Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Gremien der Gesellschaft wurde ausgegliedert und in der Richtlinie einer Verhandlungslösung zugeführt, auf die zurückzukommen ist. Die Verordnung ist aber auch im Übrigen ein Fragment, da sie nicht nur auf die Aktienrechte der Mitgliedstaaten, sondern auch auf die Rechtsvorschriften Bezug nimmt, „die die Mitgliedstaaten in Anwendung der speziell die SE betreffenden Gemeinschaftsmaßnahmen erlassen“45. Deshalb wird zu Recht angenommen, dass es so viele unterschiedliche Formen der SE wie Mitgliedstaaten gibt46. Die Richtlinie sieht ein Verhandlungsverfahren vor, das auf den Abschluss einer Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in den Organen der SE gerichtet ist47. Lässt sich eine derartige Vereinbarung nicht erzielen, dann kommt eine „Auffangregelung“ zum Zuge48, die im Anhang der Richtlinie geregelt ist; sie läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass den Arbeitnehmern die am weitesten gehenden Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden, die für die an der Entstehung der SE beteiligten Unternehmen maßgeblich sind. Daraus folgt, dass die Struktur der SE von den bisher bekannten Formtypen des Gesellschaftsrechts signifikant abweicht. Für diese galt und gilt cum grano salis, dass ihre Organisation durch das Gesetz und durch die die in ihm eröffneten Spielräume ausfüllenden Bestimmungen der Satzung oder des Gesellschaftsvertrages festgelegt wird. Ganz anders die SE: ihr Gefüge beruht auf einer tiefgestaffelten Hierarchie von Normen, die in Art. 9 SE-VO nicht erschöpfend wiedergegeben wird. Es sind nicht weniger als neun Ebenen zu unterscheiden, auf denen jeweils andere Akteure die Organisationsmuster eines Unternehmens beeinflussen können49. Hinzu kommt, dass

__________ 42 VO (EG) des Rates Nr. 2157 (2001) vom 8.10.2001, ABl. EG Nr. L 294/1 vom 10.11. 2001. 43 RL 2001/86/EG des Rates vom 8.10.2001, ABl. EG Nr. L 294/22 vom 10.11.2001. 44 So der erste Entwurf der Kommission aus dem Jahr 1970, ABl. EG 1970 C/1 ff. und seine erweiterte Fassung von 1975, Bull. EG, Beilage 4/1975, 1 ff. 45 Art. 9 (1) lit. c) (i) und (ii) SE-VO. 46 Schwarz, ZIP 2001, 1847, 1860; Hirte, NZG 2002, 1, 2. 47 Art. 3 Abs. 1 SE-RL. 48 Art. 7 SE-RL. 49 Dazu näher Kübler, ZHR 167 (2003), 222, 224 f.; ders. in MünchKomm.AktG, Bd. 9/2, 2006, Einf. Europ. Gesellschaft Rz. 20 ff.

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Art. 66 SE-VO die Möglichkeit eröffnet, eine deutsche AG durch Verschmelzung mit ihrer britischen Tochter in eine SE englischer Prägung und diese wiederum nach Ablauf von zwei Jahren in eine englische public limited company (plc) umzuwandeln; hier wird den Kapitalgesellschaften der Wechsel in die Rechtsordnung anderer Mitgliedstaaten ermöglicht, den die Daily MailEntscheidung des EuGH50 bislang verhindert hatte51. 3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Traditionell war die Behandlung nach ausländischem Recht gegründeter Gesellschaften der souveränen staatlichen Entscheidung vorbehalten. Im Zuge der Liberalisierung des grenzüberschreitenden Güter- und Kapitalverkehrs wurden echte Auslandsgesellschaften grundsätzlich zugelassen; und der EGVertrag hatte von Anfang an klargestellt, dass die Niederlassungsfreiheit nicht nur für natürliche Personen, sondern auch für die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften gelten sollte52. Aber es wurde generell angenommen, dass dies nicht für die Scheinauslandsgesellschaften gelten sollte, die von Inländern im Ausland gegründet werden, um das am Ort ihrer Betätigung geltende Recht, etwa des Gläubigerschutzes oder der unternehmerischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer, zu umgehen. Den Mitgliedstaaten war es weiterhin freigestellt, Unternehmen mit inländischem Schwerpunkt der Leitung, der Betätigung und des Anteilsbesitzes dem inländischen Recht zu unterwerfen; die erwähnte Daily Mail-Entscheidung wurde als Bestätigung dieser Auffassung verstanden. Sie empfing ihren ersten Schlag durch die Entscheidung des EuGH im Fall Centros53. Dänemark weigerte sich, die Zweigniederlassung einer Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen, die von einem dänischen Ehepaar in Großbritannien gegründet worden war und sich ausschließlich in Dänemark betätigen sollte54. Diese Weigerung verletzt das durch den EG-Vertrag gewährleistete Recht auf freie Niederlassung. Den Mitgliedstaaten ist es zwar gestattet, sich gegen unzulässiges Umgehen ihres nationalen Rechts zur Wehr zu setzen; die Gründung einer Gesellschaft in dem am wenigsten restriktiven Mitgliedstaat ist aber auch dann kein Missbrauch der Niederlassungsfreiheit, wenn die Geschäfte ausschließlich in anderen Mitgliedstaaten betrieben werden sollen55. Diese Entscheidung wurde im Fall Überseering bestätigt56. Dort wird nicht ausgeschlossen, dass die Niederlassungsfreiheit eingeschränkt werden kann, um überwiegenden Schutzinteressen von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern, Beschäftigten oder des Fiskus Rechnung zu tragen; sie erlauben es aber nicht, einer nach dem Recht eines

__________ 50 51 52 53 54

Slg. 1988, 5483. Dazu näher Kübler in FS Zuleeg, 2005, S. 559, 568 f. Art. 48 (früher 58) EGV. Slg. 1999, I-1495. Die Gründer wollten sich der in Dänemark verlangten Aufbringung eines Stammkapitals von 25 000 Euro entziehen. 55 Centros Rz. 24 und 27. 56 EuGH, Slg. 2002, II-1999.

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anderen Mitgliedstaats wirksam errichteten Gesellschaft die Rechts- und Parteifähigkeit abzusprechen57. Wenig später hat der EuGH seine Position bestätigt und präzisiert. Inspire Art ist eine in Großbritannien gegründete und registrierte private company limited by shares, die als einzige Geschäftstätigkeit eine Kunsthandlung in Amsterdam betreibt. Die geschieht in der Form einer eingetragenen Zweigniederlassung, von der aber in Anwendung eines niederländischen Gesetzes58 verlangt wird, sich den für holländische Gesellschaften verbindlichen Kapitalisierungsvorschriften zu unterwerfen. Auch das beeinträchtigt die Niederlassungsfreiheit59. Und dafür gibt es keine Rechtfertigung. Innerhalb der EU darf sich jedes Unternehmen in dem Mitgliedstaat inkorporieren, dessen Rechtsordnung ihm am wenigsten restriktiv erscheint, um sich anschließend – auch mittels Zweigniederlassungen – in anderen Mitgliedstaaten zu betätigen; es ist nicht erforderlich, dass die Gesellschaft auch im Inkorporationsstaat Geschäfte betreibt60. 4. Auswirkungen auf das überkommene System Die hier nur knapp umrissenen Entwicklungen sind keine voneinander isolierten Vorgänge; sie lassen vielmehr einen in die Tiefe reichenden Wandel erkennen. Das im EG-Vertrag angelegte Konzept der materiellen Angleichung der Gesellschaftsrechte der Mitgliedstaaten wurde ursprünglich als ein Kontrastprogramm zu dem föderalen System der USA verstanden: die bloße Möglichkeit eines legislatorischen Wettbewerbs galt als Bedrohung der überkommenen Strukturen und sollte deshalb verhindert werden61. Darum war die Harmonisierung – von der kontinentalen Kodifikationsidee inspiriert – auf umfassende Regelungen angelegt62. Die Kapitalrichtlinie schrieb für die AG ein weitreichendes Regime der Aufbringung und Sicherung von Mindestkapital vor63. Der 1972 publizierte Kommissionsvorschlag einer Strukturrichtlinie64 zielte darauf ab, ein leicht abgemildertes Muster der deutschen Unternehmensverfassung europaweit zu etablieren. Er stieß auf entschiedenen Widerstand und ist mittlerweile aufgegeben. Die Kapitalrichtlinie ist Gegenstand weitreichender Deregulierungsbestrebungen65. Und das Konzept einer umfassenden Normierung des SE ist – wie dargelegt66 – durch eine Rahmenregelung ersetzt worden, die den Mitgliedstaaten erhebliche Normierungsspielräume belässt. Bezieht man

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EuGH, Slg. 2002, II-1999 Rz. 92 und 93. Wet op dem Formeel Buitenlandse Vernootschappen (WFBV). EuGH, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rz. 95–104. EuGH, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rz. 107 und 131–143. Schmitthoff, The Future of European Company Law, in ders. (Hrsg.), The Future of European Company Law, 2. Aufl. 1973, S. 3, 9; Kolvenbach, EEC Company Law Harmonization and Worker Participation, U. of Penn. J. of Int. Bus. L. 11 (1990), 709, 711. Bayer/Schmidt, Überlagerungen des deutschen Aktienrechts durch das europäische Unternehmensrecht, in Bayer/Habersack (Fn. 25), S. 944 ff. Rz. 2. RL 77/91 vom 13.12.1976, ABl. EG Nr. L 26/1 (2. gesellschaftsrechtliche Richtlinie). ABl. EG Nr. L 131/49 (Vorschlag einer 5. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie). Einzelheiten und Nachweise bei Kübler in FS Zuleeg, 2005, S. 562. Oben zu Fn. 42 ff.

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die erörterte Rechtsprechung des EuGH ein, dann lässt sich von einem Paradigmenwechsel sprechen. An die Stelle des den kontinentaleuropäischen Kodifikationsvorstellungen entsprechenden Modells eines vereinheitlichten und zwingend vorgeschriebenen europäischen Gesellschaftsrechts tritt ein sehr viel offeneres System, das eher der angloamerikanischen Tradition entspricht. Es belässt den Mitgliedstaaten weitreichende Gesetzgebungskompetenzen und erlaubt den Gründern und Gesellschaftern zudem die Wahl der für die Inkorporation maßgeblichen Rechtsordnung. Damit gewinnt die Erwartung an Boden, dass faktische Zwänge auf längere Sicht die nationalen Gesellschaftsrechte einander annähern werden67.

IV. Kodifikation und Wissenschaft 1. Ein vorläufiges Resümee Betrachtet man die hier nur angedeuteten deutschen und europäischen Entwicklungen im Zusammenhang, dann drängt sich der Eindruck auf, dass sich die gesellschaftsrechtliche Normsetzung immer weiter von der Kodifikationsidee, dem Vorbild einer systematisch angelegten und auf Konsistenz bedachten Regelung entfernt hat; das trifft auch dann zu, wenn man den Begriff der Kodifikation mit Karsten Schmidt68 sehr viel weiter fasst. Das innerstaatliche Recht wird permanent novelliert; es wird durch eine zunehmend komplexe Gemengelage von rechtsformspezifischen und rechtsformübergreifenden Regelungen geprägt; und es wird durch untergesetzliche Normierungen ergänzt. Noch gravierender sind die Wirkungen der Europäisierung. Sie bedeutet eine durchgängige Föderalisierung der Rechtsordnung: wie in den USA kann nunmehr prinzipiell auf zwei Ebenen – der der Einzel- bzw. Mitgliedstaaten und der des Bundes bzw. der Gemeinschaft – geregelt werden69. Eine derartige Struktur muss Kodifikationen oder größere Gesetzeswerke nicht generell ausschließen70; sie wird sie aber doch wesentlich erschweren. Das gilt vor allem dort, wo die Vorzüge der Regelung auf der unteren Ebene betont werden. Sie entspricht den Prämissen einer demokratischen Verfassung, weil sie es den Bürgern im regionalen und lokalen Bereich erlaubt, ihre Angelegenheiten nach ihren Vorstellungen zu regeln. Sie erleichtert die Schaffung und Änderung von Gesetzen, gestattet Experimente und schafft Vergleichsmöglichkeiten, die den

__________ 67 Bayer/Schmidt (Fn. 62), Rz. 119. 68 Vgl. oben zu Fn. 12 ff. 69 Die Bundesrepublik ist zwar ein Bundesstaat; die Gesetzgebungskompetenz ist aber so weitgehend dem Bund zugewiesen, dass die Rechtsordnung grundsätzlich durch das Bundesrecht geprägt wird. 70 Dafür könnte auf das ADHGB verwiesen werden. Der amerikanische Uniform Commercial Code (UCC) sollte freilich nicht im selben Atemzug erwähnt werden; er verfügt nicht über „the systematic and organic structure and the relatively high degree of generalization typical of codes in the civil law system“ und sollte deshalb eher als eine Kompilation vor allem des case law verstanden werden; so A. von Mehren, Some Reflections on Codification and Case Law in the Twenty-First Century, U. C. Davis L. Rev. 31 (1998) 659, 668.

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Gesetzgebungswettbewerb zwischen des Einzel- oder Mitgliedstaaten auslösen können71. Es ist hier nicht zu erörtern, ob das gut oder schlecht ist; es geht allein um die Einsicht, dass sich diese Vorstellung von Föderalismus sehr weit von der Kodifikationsidee entfernt hat. 2. Institutionenbildung Es ist gewiss nicht zu bestreiten, dass systematisch angelegte, rechtspolitisch sorgfältig ausgearbeitete und zugleich ein ganzes Rechtsgebiet umfassende Gesetzeswerke die Rechtspraxis wesentlich zu erleichtern vermögen. Zugleich ist Karsten Schmidt uneingeschränkt zu folgen, wo er die Bedeutung der Ausbildung von Institutionen hervorhebt, zu der er in seinen Lehrbüchern herausragende Beiträge geleistet hat. Weniger einsichtig ist, dass die Rechtswissenschaft bei ihren einschlägigen Bemühungen durch kodifikatorische Leistungen der Gesetzgebung besonders gefördert wird, dass die „Botschaft der Kodifikationsidee“ der „Verwirklichung einer wissenschaftlich fundierten Rechtsordnung“ dient72. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Glanzzeit der deutschen und europäischen Rechtswissenschaft in die den Kodifikationen vorangehende Epoche fällt. Die Systematisierung des römischen Rechtsstoffes hat der Pandektistik Weltgeltung verschafft und die großen Zivilgesetzbücher ermöglicht. Deren spätere Exegese hat gewiss auch beeindruckende Leistungen hervorgebracht; ihnen wird aber nicht derselbe Rang beigemessen73. Zudem sehe ich wenig Evidenz für die Annahme, dass die wissenschaftlichen Bemühungen, das Material kodifikationsferner Rechtssysteme zu systematisieren und einem konsistenten Ordnungsmodell einzufügen, generell als geringerwertig zu qualifizieren sind. Herausragende Beispiele sind die vom American Law Institute erarbeiteten „Restatements“ des amerikanischen Rechts74. Vor allem in den klassischen Gebieten des Zivil- und Handelsrechts haben sie sich der Aufgabe verschrieben, das halbe Hundert der nebeneinander existierenden Rechtsordnungen der Einzelstaaten sowohl in ihren grundlegenden Übereinstimmungen wie in ihren zahlreichen voneinander abweichenden Details zu erfassen und zugleich die Richtung der wünschenswerten Fortentwicklung der einschlägigen Regeln und Institutionen vorzugeben; daran sind Wissenschaftler maßgeblich beteiligt. Die Rekonstruktion kann sich auch auf tragende Grundsätze beschränken; ein besonders eindrückliches Beispiel sind die „Principles of Corporate Governance“75, die durch regelmäßige Ergänzungen aktualisiert und fortgeschrieben werden. Sie bieten eine höchst informative, zuverlässige, prägnante und zugleich durch rechtspolitische Akzentuie-

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71 Zu seiner Bedeutung für das Gesellschaftsrecht Romano, The Genius of American Corporate Law, 1993, insbes. S. 32 ff. 72 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 1), S. 6. 73 Schärfer Gordley, Codification and Legal Scholarship, U. C. Davis L. Rev. 31 (1998), 735, 743: „… modern codes interfere with the work of legal scholars“. 74 Zum Vergleich wiederum Gordley, European Codes and American Restatements; Some Difficulties, Columbia L. Rev. 81 (1981), 140 ff. 75 American Law Institute, Principles of Corporate Governance: Analysis and Recommendations, 1994.

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rung stukturierte Darstellung der zentralen Probleme des Kapitalgesellschaftsrechts. Stärker auf die Gesetzgebung bezogen ist der „Revised Model Business Corporation Act“. Er wird jährlich von der American Bar Association herausgegeben und ist das Werk hervorragend qualifizierter Praktiker des Gesellschaftsrechts. Mit gutem Grund wird den Europäern empfohlen, über funktional vergleichbare Institutionen rechtwissenschaftlicher und rechtspolitischer Angleichung ihrer Gesellschaftsrechte nachzudenken76. 3. Neue Herausforderungen der Rechtswissenschaft Aus der Sicht des Verfassers dieses Beitrags gibt es hinreichend Evidenz für die Einschätzung, dass sich der Prozess der Rechtssetzung – auch im Gesellschaftsrecht – in den letzten Jahrzehnten noch weiter von den Kodifikationsidealen des 18. und 19. Jahrhunderts entfernt hat. Dieser Prozess wird offenbar von mehreren Faktoren vorangetrieben, die vielfältig ineinander verwoben sind. Grundlegend sind die politischen Entscheidungen für ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren und für die europäische und die transkontinentale Marktöffnung. Beides zusammen bedingt die geschilderte Föderalisierung der Rechtsordnung, das „Regeln auf zwei Ebenen“, das schwerwiegende Probleme generiert, aber zugleich die erwähnten Vorteile bietet. Der Einfluss sich wandelnder Märkte – auch sie sollten als Institutionen begriffen werden – erhöht den Pulsschlag der Emergenz von Regelungsbedürfnissen, die neue Normierungen oder die Novellierung des Bestehenden nach sich ziehen. Auch dafür ist gewiss Konsistenz mit dem bestehenden Gefüge erwünscht; aber die Zwecktauglichkeit der angestrebten Lösung und die Antwort auf die Frage, welche Instanz denn zur Regelung berufen ist77, haben sich längst als nicht weniger wichtig erwiesen. Die Komplexität der Probleme steigert die Ansprüche an eine Rechtswissenschaft, die sich nicht mehr mit dem herkömmlichen Instrumentarium der dogmatischen Analyse begnügen darf, sondern zunehmend auf die Kooperation mit anderen Disziplinen angewiesen ist.

__________ 76 Ebke, Company Law and the European Union: Centralized v. Decentralized Lawmaking, Int. Law 31 (1997), 961 ff.; ders., Unternehmensrecht und Binnenmarkt – E pluribus unum?, RabelsZ 62 (1998), 196, 226; ders., Unternehmensrechtsangleichung in der Europäischen Union: Brauchen wir ein European Law Institute?, in FS Großfeld, 1999, S. 189 ff. 77 Sie betrifft auch das Gesellschaftsrecht. So lässt sich bezweifeln, dass der EuGH in den zu Fn. 52 ff. referierten Fällen die Sitztheorie wegen Verstoßes gegen die in den Art. 43 ff. EGV gewährleistete Niederlassungsfreiheit eliminieren durfte, da der EGVertrag die Regelung dieser Frage in Art. 293 einer von den Mitgliedstaaten abzuschließenden Konvention vorbehalten hat.

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Kausalitätsbeziehungen bei der Einschaltung von Finanzintermediären – Zur Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation –

Inhaltsübersicht I. Das Beweisproblem II. Zur fraud-on-the-market-Theorie III. Die Anlagestimmung bei der Prospekthaftung IV. Der haftungsbegründende Kausalzusammenhang bei der Veröffentlichung einer fehlerhaften Angebotsunterlage im Übernahmerecht 1. „Desinvestitionsstimmung“ beim Barangebot?

2. Investitionsstimmung beim Tauschangebot V. Der haftungsbegründende Kausalzusammenhang bei der Haftung für unrichtige oder unterlassene ad-hocMeldungen VI. Ergebnis

Einen Beitrag zu Ehren von Karsten Schmidt zu verfassen ist ein einfaches und ein schwieriges Unterfangen zugleich. Einfach ist es, weil die Breite des Werkes von Karsten Schmidt den Autor eines Festschriftbeitrages in keiner Weise einengt; um ein schwieriges Unterfangen handelt es sich, weil er zu einer erschreckend großen Zahl wissenschaftlich interessanter Fragen bereits das Wesentliche gesagt hat. Im Folgenden soll versucht werden, eine Schnittstelle zwischen bürgerlichem Recht und Kapitalmarktrecht auszuleuchten, nämlich die Frage, inwieweit sich einheitliche Leitlinien für die Beurteilung der haftungsbegründenden Kausalität bei der Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformationen aufstellen lassen.

I. Das Beweisproblem Die Haftung für die fehlerhafte Information des Kapitalmarkts ist bekanntlich gesetzlich nur an einzelnen Stellen geregelt. Für Fehler bei der Erstellung eines Börsenprospektes wird nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG gehaftet, die §§ 37b, 37c WpHG sehen eine Einstandspflicht für unterlassene oder fehlerhafte ad-hocMeldungen vor und § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG betrifft die bei einer Unternehmensübernahme zu erstellende Angebotsunterlage. Die Haftung setzt in allen drei Fällen einen haftungsbegründenden Kausalzusammenhang zwischen der fehlerhaften Information und der Investitions- oder Desinvestitionsentscheidung des Anlegers voraus. Das entspricht einem Grundprinzip des deutschen Haftungsrechts. 1053

Katja Langenbucher

Die Beurteilung der Frage, ob gerade aufgrund einer Fehlinformation des Kapitalmarkts eine (Des-)Investitionsentscheidung getroffen wurde, ist in der Praxis mit Schwierigkeiten belastet1. Diese stellen sich beim Aktienerwerb nach einer Emission, bei der Annahme eines Übernahmeangebots auf der Basis der Angebotsunterlage und beim Erwerb oder Verkauf von Aktien im Zusammenhang mit unzutreffenden oder zurück gehaltenen ad-hoc-Meldungen auf ganz ähnliche Weise2. Ein Grund hierfür liegt darin, dass – sieht man einmal von bestimmten Blocktransaktionen institutioneller Investoren ab – Wertpapiertransaktionen typischerweise über Finanzintermediäre abgewickelt werden. Unter diesen Begriff lassen sich professionelle Berater fassen, die in arbeitsteiligem Zusammenwirken und auf der Basis breiter Recherche Anlageempfehlungen erstellen. In diesen Prozess gehen Angaben, die das Unternehmen in einem Prospekt, eine Angebotsunterlage oder eine ad-hoc-Meldung aufgenommen hat, ebenso ein wie öffentlich zugängliche Daten über dessen bisherige Entwicklung, im Vorfeld gegebene Informationen, allgemeine Marktdaten usf3. Für den geschädigten Investor bedeutet das: Er erhält im praktischen Regelfall eine Anlageempfehlung, für die sich zwar nicht mehr nachvollziehen lässt, auf welche Weise sich eine vom Unternehmen gegebene Fehlinformation niedergeschlagen hat, wohl aber, dass diese überhaupt in die Empfehlung eingegangen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die individualisierte Empfehlung eines persönlichen Beraters oder um allgemeine Tipps der Medien handelt. Vor diesem Hintergrund bildet der Anleger, der vor seiner Investitionsentscheidung den Prospekt selbst studiert, die Angebotsunterlage liest oder die ad-hoc-Meldung zur Kenntnis nimmt, mithin den Nachweis haftungsbegründender Kausalität im klassischen Sinne erbringen kann, den Ausnahmefall. Allein die Komplexität einer Beweislage ist freilich noch kein Grund, den Beweis nicht zu fordern. Auf den ersten Blick profitiert der Anleger immerhin von der Informationsaufbereitung durch Finanzintermediäre so dass es naheliegt, ihm beweisrechtlich auch hiermit einhergehende Risiken zuzuweisen. Dieser Gedankengang missachtet allerdings, dass die Bereitstellung von Information am Kapitalmarkt auf Finanzintermediäre angewiesen ist. Hiervon profitieren Emittenten und Anleger in gleichem Maß. Schon aus diesem Grund ist es konsequent, beweisrechtlich auf die Etablierung eines Kausalnexus zwischen Publizitätspflichtverletzung und individueller Anlageentscheidung zu verzichten, solange nur feststeht, dass Finanzmediäre die unzutreffende Information zur Kenntnis genommen haben. Zu diesem Ergebnis sind nicht nur Rechtsordnungen mit entwickeltem Kapitalmarktrecht und die deutsche Rechtsprechung zur Prospekthaftung gelangt, auch der Gesetzgeber des BörsG hat sich zur Einführung von Beweiserleichterungen zugunsten des Anlegers entschlossen.

__________ 1 BT-Drucks. 13/8933, S. 76 (zur Prospekthaftung): „nahezu unmöglich“. 2 Zum folgenden Argumentationsgang Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2008, § 14 Rz. 51 ff., § 17 Rz. 151 ff. und § 18 Rz. 65 ff. 3 Vgl. z. B. Baums, ZHR 167 (2002), 139, 180 f.

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Zur Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation

II. Zur fraud-on-the-market-Theorie International werden die Probleme, die sich im Rahmen des Nachweises der haftungsbegründenden Kausalität zwischen kapitalmarktrechtlicher Pflichtverletzung und individueller Anlageentscheidung stellen, im Rahmen der fraudon-the-market-Theorie diskutiert4. Der Begriff entstammt der ökonomischen Forschung und hat in der Entscheidung Basic v. Levinson höchstrichterliche Anerkennung gefunden5. Das amerikanische Recht verlangt im Rahmen des haftungsbegründenden Tatbestandes grundsätzlich Vertrauen des Anlegers auf die Fehlinformation durch den Schädiger6. Dieser Nachweis war durch eine weitgehende Vermutung erleichtert worden: Der Anleger hatte nicht zu belegen, dass infolge einer falschen Information gekauft wurde, sondern dass die Fehlinformation am Markt einen zu hohen Preis bewirkt hatte7. An die Stelle des Vertrauens auf eine erhaltene Information war das Vertrauen auf die Preisbildung am Kapitalmarkt getreten8. Dem in Anspruch genommenem Schuldner stand nur noch der Gegenbeweis offen, dass der Anleger in jedem Fall gekauft hätte, mithin gar kein Vertrauen auf die Preisbildung am Kapitalmarkt investiert hat, oder dass die Preisbildung nicht gestört war, die falschen Angaben also den Preis des Papiers nicht verzerrt hatten. Die Entscheidung Broudo v. Dura Pharmaceuticals aus dem Jahr 2005 hat diese weit ausgreifende Vermutung enger eingebunden9. Der Nachweis nur der falschen Preisbildung zum Zeitpunkt der Fehlinformation des Kapitalmarkts genügt nach dieser Entscheidung nicht mehr10. Das Gericht nimmt zusätzlich Anforderungen in den Blick, welche der deutschen haftungsausfüllenden Kausalität ähneln: Ein Schaden entsteht dem Anleger erst, wenn er seine (Des-)Investitionsentscheidung korrigiert. Veräußert er das zu teuer erworbene Papier, sobald die unzutreffende Information des Kapitalmarkts öffentlich wird, und muss er hierbei einen Verlust hinnehmen, ist dieser nur ersatzfähig, wenn er auf die Fehlinformation, nicht wenn er auf allgemeine Marktdaten zurückgeht. Dabei wird die andere Seite der Kausalitätsproblematik deutlich: Käme man dem Anleger dadurch entgegen, dass ein Kursrutsch, der im Zusammenhang mit der Richtigstellung einer unzutreffenden Information

__________ 4 Basic v. Levinson 485 U. S. 224, 241 (1988); Broudo v. Dura Pharmaceuticals 544 U.S. 339 (2005); hierzu Coffee, Causation by presumption?, Columbia Law School Working papers no. 264; Cross, The unlikely tort of „securities fraud“, 2007, Duke Journal of Constitutional Law and Public Policy, 220; Fox, Demystifying causation in fraud-on-the-market actions 60 Business Lawyer (2005) = Columbia Law School Working papers No. 261; Ribstein, Fraud on a noisy market Illinois Law and Economics Working Paper No. LE05-022; aus dem deutschen Schrifttum Findeisen, NZG 2007, 692, 694. 5 Basic v. Levinson 485 U. S. 224, 241 (1988). 6 Gleichwohl handelt es sich nicht etwa um eine im deutschen Sinne vertragliche Haftung, vgl. Basic v. Levinson 485 U. S. 224, 241 (1988). 7 Fox (Fn. 5), S. 11 ff. 8 Basic v. Levinson 485 U. S. 224, 241, 247 (1988). 9 Broudo v. Dura Pharmaceuticals 544 U.S. 339 (2005); hierzu aus der deutschen Literatur Klöhn, RIW 2005, 728, 732. 10 Hierfür aber Fox (Fn. 5).

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entsteht, vollständig als Schaden liquidiert werden kann, versicherte man ihn zugleich gegen sonstige negative Marktentwicklungen, die zeitlich mit der Richtigstellung der Fehlinformation zusammentreffen11.

III. Die Anlagestimmung bei der Prospekthaftung Der Prospekthaftungsanspruch setzt voraus, dass die Papiere auf Grund eines fehlerhaften Prospekts erworben wurden. Damit ist gemeint, dass zwischen der Fehlerhaftigkeit des Prospekts und der getroffenen Anlageentscheidung ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang bestehen muss, § 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG. Schon vor dem Inkrafttreten des BörsG hatte die deutsche Rechtsprechung die probatia diabolica eines Kausalitätsnachweises im haftungsbegründenden Zusammenhang nicht verlangt, sondern stattdessen eine Art „mittelbare Kausalität“ genügen lassen, die an die fraud-on-the-market-Theorie erinnert12. Der geschädigte Anleger musste nicht nachweisen, dass er selbst den fehlerhaften Prospekt gelesen und daraufhin das Wertpapier gekauft hatte. Stattdessen hatte er darzulegen und zu beweisen, dass der fehlerhafte Prospekt am Markt eine positive Stimmung, beispielsweise in Form von Kaufempfehlungen, hervorgerufen hatte13. Hatte der Anleger während einer solchen Anlagestimmung erworben, hatte sich der Prospektfehler immerhin mittelbar auf seine Kaufentscheidung ausgewirkt, die innerhalb der durch den Prospekt entstandenen Anlagestimmung gefallen war. Damit war die haftungsbegründende Kausalität belegt. Die von der Rechtsprechung entwickelte Figur der Anlagestimmung lässt sich unter Rückgriff auf das zu Finanzintermediären Gesagte einordnen: Die im Prospekt enthaltenen Informationen werden häufig nicht unmittelbar von den Anlegern, sondern nur vermittelt über Finanzintermediäre aufgenommen und betreffen auf diese Weise den gesamten Kapitalmarkt. Der Schuldner des Prospekthaftungsanspruchs konnte dem Entstehen einer Anlagestimmung entgegenhalten, diese habe zum Zeitpunkt des Erwerbs durch den Anspruchsteller nicht mehr bestanden, beispielsweise wegen negativer Presseberichte über eine Emission oder wegen eines dramatischen Kurseinbruchs14. Die heutige gesetzliche Regelung in §§ 44 Abs. 1 Satz 1, 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG ist dem Grundgedanken der Rechtsprechung zur Anlagestimmung verpflichtet15, systematisch geht sie allerdings eigene Wege. Der haftungsbegründende Kausalzusammenhang zwischen dem Prospektfehler und der Anlageentscheidung wird vermutet, wenn der Erwerb der Papiere innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach deren erstmaliger Einführung stattfindet. Der Schuldner des Anspruchs kann diese Vermutung widerlegen. Das Gesetz setzt hierbei zu-

__________ 11 12 13 14 15

Bildlich Posner in Bastian 892 F.2d S. 685. BT-Drucks. 13/8933, S. 76. BGHZ 139, 225, 233 („Elsflether Werft“); BGH, WM 1982, 867. OLG Frankfurt a. M., WM 1996, 1219 („Bond“). BT-Drucks. 13/8933, S. 76.

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Zur Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation

nächst einmal an der Kausalität zwischen Prospektfehler und Anlageentscheidung an: Der Schuldner hat für die Widerlegung der Kausalitätsvermutung zu beweisen, dass die Wertpapiere „nicht auf Grund des Prospekts erworben wurden“, § 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG. Die Literatur bleibt hierbei bekanntlich nicht stehen. Unter Berufung auf die Rechtsprechung vor Inkrafttreten des BörsG kann die Kausalitätsvermutung auch anhand des Nachweises widerlegt werden, dass zum Zeitpunkt des Papiererwerbs keine Anlagestimmung bestanden hat. Dafür spricht, dass der historische Gesetzgeber die Grundgedanken dieser Rechtsprechung hat aufgreifen wollen16. Liegt die Legitimation für die Beweislastumkehr zugunsten des Anlegers darin, dass ein fehlerhafter Prospekt regelmäßig eine Anlagestimmung hervorruft, muss dem Verantwortlichen der Nachweis gestattet sein, dass zum Zeitpunkt der Anlageentscheidung keine Anlagestimmung existierte. Weist der Anspruchsgegner nach, dass die Wertpapiere schon vor Vorliegen des Prospekts geordert wurden, kann die möglicherweise aufgrund des Prospekts entstandene Anlagestimmung keine Rolle gespielt haben17. Gelingt der Nachweis, dass eine Anlagestimmung zum Zeitpunkt des Erwerbs der Wertpapiere beendet war, gilt dasselbe. Ob hierfür Voraussetzung ist, dass der Investor vom Ende der Anlagestimmung Kenntnis hatte, ist umstritten18. Der Wortlaut der Norm spricht dafür, die Kenntnis des Investors bzw. die ihm zuzurechnende Kenntnis seiner Berater zu verlangen; ihr telos, die Substitution des konkreten Kausalitätsnachweises durch die Anlagestimmung, spricht dagegen. In jedem Fall wird man bei massiven Anzeichen für ein Ende der Anlagestimmung keine allzu hohen Anforderungen an die individuelle Kenntnis stellen dürfen, so dass sich die unterschiedlichen Ansichten im Ergebnis wenig unterscheiden dürften.

IV. Der haftungsbegründende Kausalzusammenhang bei der Veröffentlichung einer fehlerhaften Angebotsunterlage im Übernahmerecht Für die Veröffentlichung einer fehlerhaften Angebotsunterlage im Rahmen einer Unternehmensübernahme haftet der Bieter nach § 12 Abs. 1 WpÜG, dessen Haftungsvoraussetzungen eng an die Voraussetzungen der Prospekthaftung angelehnt sind. Auf den ersten Blick erklärt sich das aus der Spiegelbildlichkeit beider Prospekte: Während der Prospekt vor einer Investitionsentscheidung informieren soll, dient die Angebotsunterlage der Vorbereitung einer

__________ 16 BT-Drucks. 13/8933, S. 76. 17 Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, (14) BörsG 45 Rz. 2. 18 Dafür Hopt (Fn. 18), (14) BörsG 45 Rz. 2; zu § 12 WpÜG ebenso Möllers in KölnKomm.AktG, 2004, § 12 WpÜG Rz. 117; dagegen Groß, Kapitalmarktrecht, 2006, §§ 44, 45 BörsG Rz. 70; Kort, AG 1999, 13; wohl auch Mülbert/Steup in Habersack/ Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 26 Rz. 67; Schwark in Kapitalmarktrechtskommentar, 2004, § 45 BörsG Rz. 43 f.

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Desinvestitionsentscheidung19. Bei näherem Hinsehen stellt sich die Parallelität von Prospekt und Angebotsunterlage differenzierter dar: Offeriert der Bieter ein Tauschangebot, dient die Angebotsunterlage der Information der Aktionäre der Zielgesellschaft über den Bieter. Wer nämlich ein Tauschangebot annimmt, investiert damit zugleich in den Bieter. Geht es hingegen um ein Barangebot, enthält die Angebotsunterlage ausschließlich Informationen zur Vorbereitung einer Desinvestitionsentscheidung. Auf diese lassen sich die Regelungen der Prospekthaftung nicht ohne weiteres übertragen. Im Einzelnen: 1. „Desinvestitionsstimmung“ beim Barangebot? Weil es sich bei einem Barangebot um eine reine Desinvestitionsentscheidung handelt, hat die Angebotsunterlage nicht die werbende Funktion eines Prospekts20. Mit der Angebotsunterlage wird kein Investitionsobjekt angepriesen, sondern es werden die Verkaufsbedingungen erläutert. Am Markt mag sich zwar in manchen Fällen eine „Desinvestitionsstimmung“ bilden. Für sie ist aber der Inhalt der Angebotsunterlage gar nicht maßgeblich21. Entscheidend für die Reaktion des Marktes auf das Übernahmeangebot ist die Bewertung des Zielunternehmens im Marktumfeld und die Höhe der angebotenen Gegenleistung22. Hierzu enthält die Angebotsunterlage keine Angaben23. Ob der Preis angemessen war, geht aus ihr nicht hervor, sondern ist auf der Grundlage des Börsenkurses der Wertpapiere, ihrem inneren Wert und des Marktumfelds zu bestimmen. Für die Kommunikation der hierfür relevanten Daten an den Aktionär dienen die Publizitätspflichten der Zielgesellschaft. Der Bieter verfügt deshalb gegenüber den Aktionären der Zielgesellschaft nicht notwendig über einen Informationsvorsprung, welcher dem Informationsvorsprung des Emittenten gleicht, der einen Börsenprospekt veröffentlicht24. Zwischen einer etwa entstandenen „Desinvestitionsstimmung“ und einer fehlerhaften Angebotsunterlage besteht deshalb im Regelfall gar kein haftungsbegründender Kausalzusammenhang25. Der Gesetzgeber hat das wahrscheinlich nicht bedacht, als er in § 12 Abs. 1 WpÜG die Vermutung haftungs-

__________

19 Thoma in Baums/Thoma, WpÜG, 2004, § 11 WpÜG Rz. 2; Möllers, ZGR 2002, 664, 669; Riehmer in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinformation, 2008, § 15 Rz. 2. 20 In diese Richtung auch Noack in Kapitalmarktrechtskommentar (Fn. 19), § 12 WpÜG Rz. 7 (aber nur für die haftungsausfüllende Kausalität). 21 So aber Möllers (Fn. 18), § 12 WpÜG Rz. 111 f.: „optimistischer Gesamteindruck“ des Prospekts. 22 Vgl. in diesem Zusammenhang das bieterbezogene Bspl. von BT-Drucks. 14/7034, S. 42 und Oechsler in Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003, § 12 WpÜG Rz. 11. 23 Einzelne Angaben mögen sich allenfalls im Zusammenhang mit dem nach § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 WpÜG Verlangten finden, vgl. Hamann, ZIP 2001, 2249, 2251; Steinmeyer/Häger, WpÜG, 2. Aufl. 2007, § 12 WpÜG Rz. 34. Sie werden aber kaum einmal „wesentlich“ i. S. d. § 12 Abs. 1 WpÜG sein. 24 Hamann, ZIP 2001, 2249, 2251, insbesondere wenn man den Bieter einer feindlichen Übernahme mit dem Großaktionär des Zielunternehmens vergleicht. 25 Vgl. Hamann, ZIP 2001, 2249, 2257 („mag konstruiert wirken“), freilich i. E. unkritisch.

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begründender Kausalität zwischen der Veröffentlichung einer fehlerhaften Angebotsunterlage und der Annahme des Angebots angeordnet hat. Ob die Entstehung einer „Marktstimmung“ zugunsten der Annahme des Übernahmeangebots, ganz unabhängig von einer Fehlinformation in der Angebotsunterlage, für die Haftung des Bieters hinreicht, ist zweifelhaft26. Eine solche Haftung, oder auch nur eine Beweislastumkehr in diesen Fällen, könnte sich weder auf einen haftungsbegründenden Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Angebotsunterlage und einer individuellen Desinvestitionsentscheidung noch auf einen solchen Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Angebotsunterlage und dem Entstehen einer Desinvestitionsstimmung stützen. Zu suchen wäre der Haftungsgrund in sonstigen Handlungen des Bieters, die eine Desinvestitionsstimmung hervorrufen oder vertiefen. Es liegt freilich auf der Hand, dass eine derartige Haftung weit über die herkömmlichen Kategorien zivilrechtlicher aber auch börsengesetzlicher Haftungstatbestände hinausgreifen würde. De lege ferenda schließt das ihre Kodifikation nicht aus. De lege lata sind für eine solche das Gesetz übersteigende Rechtsfortbildung keine Vorarbeiten geleistet, auf den Willen jedenfalls des historischen Gesetzgebers könnte man sich hierfür nicht berufen. Das Problem wird in der Literatur hier und da im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität berührt27. Näher dürfte es freilich liegen, dem Bieter bei Barangeboten für den Regelfall den von § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG geforderten Nachweis zu gestatten: Sind – wie regelmäßig – die Angaben in der Angebotsunterlage für die Annahme des Übernahmeangebots und für das Entstehen einer „Desinvestitionsstimmung“ nicht relevant, ist die Annahme „nicht auf Grund der Angebotsunterlage“ im Sinne des § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG erfolgt. Bei Barangeboten kommt es deshalb auf Beginn und Ende einer etwa entstandenen „Desinvestitionsstimmung“ nicht an. 2. Investitionsstimmung beim Tauschangebot Anders stellt sich die Situation bei einem Tauschangebot dar. Hier trifft der Bieter neben seiner Desinvestitionsentscheidung bezüglich der Zielgesellschaft noch zwei weitere Entscheidungen: die Investitionsentscheidung in den Bieter und die Beurteilung der Angemessenheit des Umtauschverhältnisses. Die beiden zuletzt genannten Entscheidungen erfolgen (auch) auf der Basis von Angaben in der Angebotsunterlage, vgl. § 2 Nr. 2, 3 WpÜG-AngV. Sind diese unrichtig, liegt nach allgemeinen haftungsrechtlichen Grundsätzen ein relevanter haftungsbegründender Kausalzusammenhang zwischen der fehlerhaften Angabe und der Anlageentscheidung vor. Die in § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG vorausgesetzte Beweislastumkehr zugunsten des Anlegers entspricht deshalb für Tauschangebote zu Recht der Regelung in § 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG.

__________ 26 In diese Richtung wohl Wackerbarth in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 12 WpÜG Rz. 29 „kollektive Kausalität, Herdentrieb“. 27 Assmann in Assmann/Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2005, § 12 WpÜG Rz. 64; Steinmeyer/Häger (Fn. 24), § 12 WpÜG Rz. 31.

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Der Anspruchsgegner bei einem Tauschangebot kann diese Vermutung widerlegen, wenn er nachweist, dass die Annahme des Angebots nicht auf Grund der Angebotsunterlage erfolgt ist, § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG. Orientiert man sich hierbei an den zur Prospekthaftung entwickelten Grundsätzen, ist das möglich, wenn die individuelle Verkaufsentscheidung aus Gründen außerhalb der Angebotsunterlage erfolgt ist oder die positive Marktstimmung zum Zeitpunkt der Anlageentscheidung bereits beendet war.

V. Der haftungsbegründende Kausalzusammenhang bei der Haftung für unrichtige oder unterlassene ad-hoc-Meldungen Anders als § 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG und § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG sehen die §§ 37b, 37c WpHG keine Vermutung eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhangs zwischen dem Publizitätsverstoß des Emittenten und der Investitions- bzw. Desinvestitionsentscheidung des Anlegers vor. § 37c Abs. 1 WpHG scheint gerade umgekehrt das Vertrauen des Anlegers auf die Richtigkeit der veröffentlichten Meldung zu fordern. Folgt man dem, muss der geschädigte Anleger beweisen, dass er seine individuelle Investitionsentscheidung auf der Basis der Pflichtverletzung getroffen hat – also beispielsweise nach der Lektüre einer geschönten ad-hoc-Meldung gekauft oder infolge der Zurückhaltung einer positiven Information verkauft hat. Diesen Beweis zu fordern, entspricht der privatrechtlichen Haftungsdoktrin und ist deshalb ohne weiteres nachvollziehbar, wo es um deliktische Haftung, insbesondere aus § 826 Abs. 1 BGB geht. Ruft man sich aber noch einmal vor Augen, dass das kapitalmarktrechtliche Regelungsregime den Blick nicht primär auf die Etablierung eines Kausalnexus innerhalb eines Zweipersonenverhältnisses richtet, sondern die Vermittlung über Finanzintermediäre in Rechnung stellt, spricht wenig dafür, in den rein bürgerlich-rechtlichen Kategorien verhaftet zu bleiben. Man würde dabei ein gravierendes Beweisproblem für Investoren in Kauf nehmen, die Papiere zu einem Preis gekauft haben, der jedenfalls auch durch zu Unrecht zurück gehaltene oder sachlich unzutreffende ad-hoc-Meldungen verzerrt wurde. Aus Unterschieden in der Sache lässt sich die Differenzierung zwischen der Haftung auf der Grundlage eines unrichtigen Prospekts bzw. einer übernahmerechtlichen Angebotsunterlage einerseits und der unterlassenen oder missbrauchten ad-hoc-Meldung andererseits nicht erklären. In sämtlichen Fällen geht es um Informationspflichtverletzungen am Kapitalmarkt, die sich verzerrend auf die Preisbildung auswirken: Der zu positive Emissionsprospekt, die allzu rosige Darstellung der Verhältnisse des Bieters bei einem Tauschangebot oder die wahrheitswidrig positive ad-hoc-Meldung haben das Potential, den Kurs insofern zu Unrecht nach oben zu bewegen, als jedenfalls auch unzutreffende Informationen in die Kursbildung eingearbeitet werden. Die Investoren stehen in beiden Fällen vor erheblichen Beweisproblemen, sofern sie nicht ausnahmsweise im Anschluss an eine selbst gelesene ad-hoc-Meldung Papiere geordert, sondern Finanzintermediäre eingeschaltet haben. Dem entspricht es, dass nicht nur die fraud-on-the-market-Theorie im haftungsbegründenden Tat1060

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bestand keinen Kausalitätsnachweis zwischen der Veröffentlichung einer unzutreffenden ad-hoc-Meldung und der Investitionsentscheidung des Anlegers verlangt, sondern auch die Rechtsprechung zur Prospekthaftung seit jeher auf einen konkreten Kausalitätsnachweis verzichtet. Ob der Gesetzgeber der §§ 37b, 37c WpHG sich in dieser Situation bewusst gegen eine Beweislastumkehr entschieden hat, ist nicht sicher. In den Materialien findet sich hierzu wenig; der Wortlaut der Normen spricht für hohe Beweisanforderungen28, ohne dass freilich gesichert ist, dass Wortlaut und telos der Norm korrespondieren. Immerhin hat der Gesetzgeber die gravierenden Mängel einer deliktischen Haftung erkannt und sich gerade aus diesem Grund zur Etablierung einer kapitalmarktrechtlichen Informationshaftung entschlossen29. Dieses Anliegen wäre in weitem Umfang konterkariert, wenn die Unzulänglichkeiten der deliktsrechtlichen Haftungsbegründung in den kapitalmarktrechtlichen Anspruch importiert würden. In der Literatur sind verschiedene Auswege gewiesen worden30. Eine Analogie zu den §§ 45 Abs. 2 Nr. 1 BörsG, 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG wird allgemein abgelehnt31, viele ziehen aber die ehemals zur Prospekthaftung entwickelten Grundsätze zur Anlagestimmung zugunsten des Anlegers heran32. Wegen der Unterschiede zwischen der Erstellung eines fehlerhaften Prospekts und der Herausgabe unrichtiger oder der Zurückhaltung gebotener ad-hoc-Meldungen bedürfen diese Regeln freilich einer Fortbildung, die sich teleologisch wie folgt absichern ließe33: Sämtliche kapitalmarktrechtlichen Informationspflichtverstöße gleichen sich darin, dass der haftungsbegründende Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und individueller Investitionsentscheidung typischerweise auf einem Umweg erfolgt. Die fehlerhaft in den Markt gelangte Information mag hier und da vom Anleger direkt aufgenommen worden sein. Der kapitalmarkttypische Regelfall ist ein Umweg: Die Information wird von Finanzintermediären rezipiert und gelangt erst von dort, über eine Anlageempfehlung, zum Investor. Bei der Legitimation einer Beweiserleichterung für Fälle solcher vermittelter Kausalität vertraut die Theorie von der Anlagestimmung auf eine rein quantitative Betrachtung: Weil sich ein zeitlicher Zusammenhang zwi-

__________ 28 Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht, 2007, Rz. 216; Möllers, JZ 2005, 75, 78. 29 BT-Drucks. 14/8017, S. 93. 30 Besonders weit geht Sethe (Fn. 4), §§ 37b, 37c WpHG Rz. 83 f., der schon de lege lata nur den Nachweis fehlerhafter Preisbildung fordert. Das dürfte sich weder mit dem Wortlaut noch mit dem telos der Norm vereinbaren lassen, insbesondere weil nicht deutlich wird, auf welche Weise der haftungsbegründende Kausalzusammenhang widerlegt werden könnte. 31 Fleischer, NJW 2002, 2977, 2980; ders., Gutachten 64. DJT F 104. 32 Fleischer, NJW 2002, 2977, 2980; ders., Gutachten 64. DJT F 105; Kümpel/Veil, WpHG, S. 227 Rz. 8; Möllers, JZ 2005, 75, 78; i. E. auch Zimmer in Kapitalmarktrechtskommentar, 2004, §§ 37b, 37c WpHG Rz. 90; a. A. Mülbert/Steup (Fn. 19), § 26 Rz. 159 f. 33 Unter Berufung hierauf aber ablehnend Buck-Heeb (Fn. 28), Rz. 217; Mülbert/Steup (Fn. 19), § 33 Rz. 107.

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schen Prospekt und Kursbewegung bzw. Investitionsmenge etablieren lässt, mithin genügend Anleger einer Empfehlung von Finanzintermediären gefolgt sind, greift die Beweiserleichterung. Das erfasst zwar den eigentlichen Sachgrund, die Vermittlung über Finanzintermediäre, nicht, erzeugt aber immerhin im Ergebnis zutreffende Resultate. Eine ad-hoc-Meldung hat in weitaus geringerem Umfang werbende Funktion. Wer für diese gleichwohl einen Kursausschlag fordert, der dem Volumen einer Zeichnung neu emittierter Aktien vergleichbar ist, verfehlt nicht nur erneut den Sachgrund der Beweiserleichterung, die Vermittlung über Finanzintermediäre. Er macht die Entscheidung über eine Beweiserleichterung von einem nicht sachgerechten Umstand abhängig, nämlich der Frage, wie viel Anlagevolumen infolge einer über Finanzintermediäre vermittelten Empfehlung bewegt wurde. Viel besser lässt sich die kapitalmarkttypische, vermittelte Kausalitätsbeziehung unter Rückgriff auf diese strukturelle Besonderheit des Kapitalmarktrechts erfassen. Wird eine unzutreffend positive ad-hoc-Meldung herausgelegt, § 37c WpHG, kommt es nicht darauf an, ob diese Meldung am Markt eine Nachfrage nach den Papieren erzeugt hat, die quantitativ einer Emission entspräche. Entscheidend ist, dass in beiden Fällen regelmäßig Finanzintermediäre eingeschaltet werden und der Kausalitätsnachweis deshalb notwendig nur ein mittelbarer sein kann. Aus diesem Grund muss nicht die individuelle Investitionsentscheidung belegt, sondern kann auf die Preisbildung am Kapitalmarkt verwiesen werden, in welche diese Intermediäre eingeschaltet sind34. Ob eine ad-hoc-Meldung eine Anlagestimmung verursacht, ist somit irrelevant, solange nur der Erfahrungssatz Bestand hat, dass veröffentlichte adhoc-Meldungen in die Preisbildung eingehen – und das dürfte regelmäßig so sein35. Das gilt entsprechend für die Zurückhaltung gebotener ad-hoc-Meldungen, § 37b WpHG, weil auch die Unterlassung die am Markt verfügbaren Informationen beeinflusst. Daraus ergeben sich zugleich die Anforderungen an die Widerlegung einer solchen Vermutung: Kann der in Anspruch Genommene nachweisen, dass sich die unzutreffende ad-hoc-Meldung nicht auf den Kurs ausgewirkt hat bzw. dass die zurück gehaltene Information bei rechtzeitiger Veröffentlichung keine Kursbewegung hervorgerufen hätte, ist die Vermutung haftungsbegründender Kausalität aus der Welt geschafft36.

VI. Ergebnis Das gefundene Ergebnis lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Die Prospekthaftung des § 45 BörsG, die Haftung für die Angebotsunterlage nach § 12 WpÜG und die Haftung für fehlerhafte oder unterlassene ad-hoc-Mel-

__________ 34 So jedenfalls i. E. wohl auch Mülbert/Steup (Fn. 19), § 33 Rz. 196; Sethe (Fn. 4), §§ 37b, 37c WpHG Rz. 83 f.; Maier-Reimer/Paschos in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinformation (Fn. 20), § 29 Rz. 121. 35 Richtig Baums, ZHR 167 (2003), 139, 183; Veil, ZHR 167 (2003), 365, 385. 36 Baums, ZHR 167 (2003) 131, 183 f.

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dungen nach den §§ 37b, 37c WpHG betreffen im Regelfall eine Situation vermittelter Kausalität. Die Publizitätspflichtverletzung wird nicht vom geschädigten Anleger, sondern von Finanzintermediären aufgegriffen und in den Kurs des betroffenen Papiers eingearbeitet. Auf diese Weise beeinflusst sie das Marktgeschehen und kann zu einer „Anlage“- oder „(Des)Investitionsstimmung“ führen. Das rechtfertigt die in den §§ 45 BörsG, 12 WpÜG angeordnete Kausalitätsvermutung zugunsten des Anlegers und legitimiert für die §§ 37b, 37c WpHG eine rechtsfortbildend zu entwickelnde Kausalitätsvermutung in Anlehnung an die Rechtsprechung zur Anlagestimmung. Für § 12 WpÜG gilt umgekehrt: Die dort kodifizierte Vermutung einer Anlagestimmung hat ihre Berechtigung nur im Falle eines Tauschangebots. Bei Barangeboten ist dem Bieter auf der Grundlage des § 12 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG ein Gegenbeweis zu gestatten.

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Marcus Lutter

Das unvollendete Konzernrecht* Karsten Schmidt ist nicht nur ein juristisches Universal-Genie1, er ist auch ein großer Musikkenner. Und so weiß er natürlich, dass bis heute die Frage nicht sicher beantwortet werden konnte, ob Schuberts „Unvollendete“ nicht vielleicht doch vollendet ist. Genau dieser Frage soll hier für das Konzernrecht nachgegangen werden. 1. Träger des wirtschaftlichen Geschehens auf der Welt sind die Unternehmen2. Ihr Bild aber schwankt in der Geschichte. War lange Zeit der Einzelkaufmann bestimmend – von Fugger über die Buddenbrooks bis zu Krupp –, so verlangte schon der Bau und die Ausrüstung eines Schiffes, das nach Ostindien segeln sollte, das Zusammengehen Mehrerer. Ein neuer Schub in diese Richtung geschah im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, vor allem aber mit dem Bau der Eisenbahnen: hier war die Finanzkraft Einzelner oder Weniger endgültig überfordert. Die Antwort der Juristen darauf war die Aktiengesellschaft als Sammelbecken für das Kapital Vieler – eine geniale Erfindung, sage niemand, Juristen würden keine Erfindungen machen3. Aber auch das war noch lange nicht das Ende der Geschichte. Zum einen erweiterten diese Aktiengesellschaften ihre Geschäftsfelder – die Eisenbahn-Gesellschaften investierten in Immobilien und gründeten dafür eigene Tochtergesellschaften, die Elektrizitätswerke bauten ihre Netze auf sowie die regionalen und örtlichen Vertriebsgesellschaften und gründeten Tochtergesellschaften dafür, die Stahlwerke merkten, dass man an der Veredelung des Roheisens viel mehr verdienen kann und gründeten Tochtergesellschaften für Edelstahl über Aufzüge bis zum Bau ganzer Industrieanlagen. Das Tempo dieser Entwicklung vervielfachte sich mit der Öffnung der Grenzen und der Möglichkeit zur Gründung von Tochtergesellschaften weltweit. So entstanden Sonnensysteme mit nicht nur acht, sondern hunderten von Planeten, die von ihrer Mutter-Sonne streng auf Bahn gehalten werden: Ford in Deaborn/USA hat auf jedem Kontinent eine zentrale Tochtergesellschaft, so auch eine in London, die ihrerseits Tochtergesellschaften in allen europäischen Ländern hat und leitet

__________ * Das Manuskript ist aus einem Vortrag am 21. April 2008 vor der Juristischen Fakultät der Universität Jena hervorgegangen; die Vortragsform ist beibehalten. Ich widme diese Überlegungen meinem Freund und Bonner Nachfolger, meinem Mitherausgeber und Kollegen Karsten Schmidt in herzlicher Verbundenheit. 1 Vgl. dazu den schönen und gelungenen Bericht von Bitter über Karsten Schmidt in Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band 2, 2008. 2 Dazu Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 4 S. 63 ff. 3 Zur Geschichte der AG vgl. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 26 II S. 758 ff.; vgl. auch Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 21. Aufl. 2008, § 25 III Rz. 25 ff. und Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, § 2 Rz. 1 ff.

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inkl. der deutschen Ford AG in Köln. Diese „Konzern“ oder „(Unternehmens-) Gruppe“ genannten Gebilde sind also Realität, legale Realität und erfolgreiche Realität4. Kurz: Weltweit ist nicht mehr die Aktiengesellschaft die Organisationsform großer und international tätiger Unternehmen, aber durchaus auch mittelständischer Unternehmen, sondern der Konzern5. Während nun aber die Einzel-AG von den Gesetzgebern dieser Welt minutiös geregelt wird – zuletzt in Großbritannien mit weit über 1000 Artikeln im neuen Companies Act6 – ist der Konzern im wesentlichen ein weißer Fleck auf der weltweiten Landkarte des Rechts7. 2. Im Wesentlichen; denn Deutschland gehört zu den ganz wenigen Ländern auf der Welt, die in den §§ 291 ff. AktG über ein gesetzlich geregeltes Konzernrecht verfügen. Aber hier kommt schon die erste Einschränkung: es gilt nur für Aktiengesellschaften. Immerhin. Dieses Konzernrecht des AktG von 1965 unterscheidet zwischen dem sog. Vertragskonzern, in dem sich zwei oder mehr Gesellschaften, wie der Name besagt, vertraglich zu einem Konzern verbinden, mit – in der Regel – einer herrschenden Gesellschaft – sagen wir der Lufthansa AG – und einer oder mehreren von ihr abhängigen Gesellschaften – sagen wir ihrer Tochtergesellschaft Lufthansa Service AG. Von diesem Vertragskonzern wissen wir, wie er von Rechts wegen gegründet und geleitet wird und wie die wirtschaftlichen Risiken in ihm verteilt sind8. Sehr viel häufiger sind aber die sogenannten faktischen Konzerne. Auch sie bestehen in der Regel aus einer herrschenden Gesellschaft – sagen wir der VW AG – und mindestens einer abhängigen Gesellschaft – sagen wir der AUDI AG. Hier besteht kein Vertrag. Aber die herrschende Gesellschaft hält an der abhängigen AG die Mehrheit der Aktien oder gar alle Aktien und kann auf diese Weise den Aufsichtsrat der AUDI AG so besetzen, dass über dessen Personalpolitik – sprich: die Besetzung des Vorstands in der Tochter – eine Leitung der beiden Unternehmen nach einheitlichen Grundsätzen erfolgen kann. Das AktG von 1965 hat hier klar die Risiken für die Aktionäre der abhängigen AG und deren Gläubiger erkannt. Denn wenn die Mutter einheitlich leitet, dann wird das in ihrem Interesse oder im Interesse des Verbundes geschehen, nicht notwendig aber im Interesse der abhängigen Gesellschaft. Diese Risiken zu vermeiden oder sie auszugleichen, wenn sie sich denn realisiert haben sollten, hat das AktG von 1965 in den §§ 311 ff. viel getan und war dabei, so kann

__________ 4 Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 674 ff. 5 Theisen, Der Konzern, 2. Aufl. 2000, S. 1 („Der Konzern … beherrscht die Unternehmenspraxis“). 6 Vgl. dazu C. Just (Hrsg.), Englisches Gesellschaftsrecht, Textausgabe, 2008. 7 Theisen (Fn. 4), S. 75 ff.; Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 676 ff.; Lutter (Hrsg.), Konzernrecht im Ausland, 1994. 8 Eingehend dazu Raiser/Veil (Fn. 3), § 54 Rz. 1 ff.

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man annehmen, insgesamt recht erfolgreich9. Jedenfalls hat es in den gut 40 Jahren seither nicht ein einziges Verfahren auf Schadensersatz gegen die Mutter gegeben, obwohl die Normen scharf sind (§§ 317, 318 AktG) und sogar jeder Minderheitsaktionär der Tochter deren etwaigen Anspruch geltend machen kann (§§ 317 Abs. 4, 318 Abs. 4 mit § 309 Abs. 3–5 AktG) – eine dem Aktienrecht sonst ganz und gar fremde sog. actio pro societate. Dieser Schutz von Gläubigern und Aktionären der abhängigen Gesellschaft ist nicht mein Thema. Mir geht es um die Organisation und Leitung dieses Verbundes von zwei oder mehr Unternehmen. Davon aber handelt die geschriebene Rechtsordnung nicht. Und genau das interessiert mich. 3. Dazu eine Vorbemerkung. Unsere Freunde von den Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten betrachten den Konzern, also die Verbindung aus zwei oder mehr – in der Praxis bis zu 1000 und mehr – rechtlich selbständigen Gesellschaften ganz selbstverständlich als ein Unternehmen10. Die rechtliche Struktur dieses einen Unternehmens – mag es Herr Krupp persönlich oder die e-on AG mit ihren 1000 Tochter-, Enkel- und Urenkelgesellschaften sein – interessiert sie nicht sonderlich. Dieser unverfälschte Blick auf die Realität fasziniert und ihm folge ich für meine künftigen Überlegungen. 4. Wenn man jetzt zur rechtlichen Betrachtung zurückkehrt, dann müsste dieses eine Unternehmen ja in bestimmter Weise verfasst sein. Schon in den ganz frühen Erscheinungsformen der Aktiengesellschaft und der Kommanditgesellschaft beschäftigte man sich vor 200 und mehr Jahren mit der Frage, wie diese gegründet werden, durch welche Organe mit welchen Befugnissen sie geleitet und wie sie eines Tages beendet – juristisch: liquidiert – werden. Obwohl aber der Konzern heute national und international die mit weitem Abstand verbreitetste Form der Unternehmen ist11, hat dieses Unternehmen doch weder national und noch viel weniger international eine gesetzliche Verfassung, hat keine Regeln über seine Entstehung, seine Organe und deren Kompetenzen und sein Vergehen12 – von der schon erwähnten Ausnahme des deutschen Vertragskonzerns einmal abgesehen. Sieht man die 400 Paragraphen des AktG und die über 1000 Artikel des neuen englischen Companies Act, so ist das schon sehr merkwürdig. Denn natürlich braucht ein solches Gebilde irgendeine rechtliche Ordnung; man denke nur daran, dass der Kartellverstoß bei ThyssenKrupp von einer Enkelgesellschaft ausging und die Bestechungsgelder bei Siemens auf der Ebene von Enkel- und Urenkelgesellschaften eingesammelt wurden; dennoch wird das alles ganz

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9 Vgl. dazu Hommelhoff in Verhandlungen des 59. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1992, S. G 1, G 19 ff. sowie Hoffmann-Becking, ibid. Band II, S. R 8, R 31 f. und Zöllner, ibid., S. R 35, 54. 10 Etwa Bleicher, Forderungen strategischer und struktureller Unternehmensentwicklung an die rechtliche Konzipierung des Konzerns, in Druey (Hrsg.), Konzernrechtsgespräch, 1988, S. 55, 69; Theisen (Fn. 5), S. 22 m. w. N. 11 Ordelheide, Der Konzern als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Forschung, BFuP 1986, 293 ff. 12 So etwa mit Erstaunen von dem Wirtschaftswissenschaftler Küting konstatiert: Stichwort „Konzern“ in Wirtschaftslexikon, 1994, S. 1198.

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selbstverständlich etwa vom Ordnungsrecht der Konzernspitze ThyssenKrupp und Siemens zugerechnet13. Obwohl die fraglichen Dinge irgendwo in Ägypten, Italien und der Schweiz passiert sind, haben Herr Kleinfeld und Herr von Pierer ihre Ämter an der Münchener Spitze abgeben müssen. Dafür muss es rechtliche Gründe geben. Und die gibt es auch. 5. Zunächst einmal kennt das deutsche Recht – wie schon gesagt und gefolgt auf der ganzen Welt nur von Brasilien, Kroatien, Portugal, Slowenien, Taiwan und Ungarn14 – den Vertragskonzern. Dieser Vertrag erfordert die Zustimmung der Gesellschafter beider Gesellschaften und regelt daneben die Verteilung der wirtschaftlichen Risiken und den Schutz von Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern. Und er kann natürlich gekündigt werden. Diese Regeln zur Bildung, Leitung, Haftung und Auflösung kann man durchaus als die Verfassung dieses Verbundes verstehen – wie man ja auch von der Verfassung einer AG spricht. Aber sie ist nur ein Angebot an die Gesellschaften, keine Pflicht. 6. Die Gründung eines solchen Vertragskonzerns ist den meisten Unternehmen zu aufwendig und zu teuer. Deswegen ist auch bei uns der sogenannte faktische Konzern die Regel; und international gibt es überhaupt nur ihn. Ausgangspunkt ist hier die mehrheitliche oder oft 100 %ige Beteiligung einer Gesellschaft an einer anderen, also VW an AUDI, Siemens an Osram, ThyssenKrupp an der ThyssenKrupp Aufzüge GmbH, etc. Und diese mehrheitliche Beteiligung gibt der Obergesellschaft genügend rechtliche und faktische Möglichkeiten, um aus den beiden (oder vielen) Gesellschaften einen aus der Obergesellschaft heraus geführten Verbund – oder wie die Wirtschaftswissenschaftler sagen: ein Unternehmen – herzustellen. So einfach ist das bei uns und auf der ganzen Welt – unerhört leistungsfähig und unerhört flexibel. Jetzt aber beginnen die Fragen: – Darf der Vorstand einer AG oder der Geschäftsführer einer GmbH das Geld seiner Gesellschaft zur Gründung oder zum Kauf von Tochtergesellschaften einsetzen, statt es für die eigenen Aktivitäten seiner Gesellschaft zu verwenden? – Wenn Vorstand und Geschäftsführer der Obergesellschaft die Tochter dann also haben, müssen sie diese Tochtergesellschaft in den Verbund integrieren und leiten, oder können sie sich auch wie ein desinteressierter Aktionär verhalten und nur die jährliche Dividende einkassieren? – Muss der Aufsichtsrat die Konzernleitung des Vorstands überwachen und wie macht er das? – Dürfen Vorstand und Geschäftsführer der Obergesellschaft die fragliche Tochter einfach wieder verkaufen? – In Aktiengesellschaft und GmbH treffen die Gesellschafter in ihrem Organ Hauptversammlungen bzw. Gesellschafter-Versammlungen die wesent-

__________ 13 Vgl. § 30 OWiG und dazu König in Göhler, 14. Aufl. 2006, § 30 OWiG Rz. 9 ff., 13 ff. 14 Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 679.

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lichen unternehmerischen Entscheidungen wie z. B. Verschmelzung mit einer anderen Gesellschaft, die Aufspaltung des Unternehmens oder die Liquidation. Der Konzern hat aber keine Gesellschafterversammlung oder Hauptversammlung. Was gilt da? Anders gewendet: Der Konzern existiert, er ist national und international führend und besonders erfolgreich. Aber er hat keine von der Rechtsordnung gesetzte Verfassung – und das nahezu nirgends auf der Welt. Die Fragen aber bleiben. Versuchen wir also, sie zu beantworten. Das ist das Besondere an der Jurisprudenz, dass sie Rechtsfragen auch ohne gesetztes Recht beantworten kann und muss – Großbritannien hat viele Jahrhunderte ohne gesetztes Recht gelebt und doch eine hoch entwickelte und leistungsfähige Rechtsordnung gehabt, indem die Juristen den Blick von rechts nach links wandern ließen, immer auf der Suche nach ähnlichen, früher schon einmal entschiedenen Fragen15. Versuchen wir also, in ähnlicher Weise vorzugehen. 7. Einigkeit herrscht in der Literatur, dass Vorstände und Geschäftsführer den in der Satzung der Gesellschaft notwendigerweise festgelegten Unternehmensgegenstand – also Herstellung und Vertrieb von Maschinen, Führung von Bankgeschäften etc. – in ihrer Gesellschaft selbst verwirklichen müssen, die ihnen gestellte Aufgabe also nicht einfach Tochtergesellschaften überlassen dürfen16. Aber: Einigkeit besteht zu Recht auch darüber, dass die Satzung der AG oder GmbH genau das erlauben kann – bis hin zur Holding, die bekanntlich selbst überhaupt nicht am Markt auftritt, sondern das operative Geschäft nur durch ihre Tochter- und Enkelgesellschaften machen lässt – so heute etwa die Allianz AG und die ThyssenKrupp AG. Enthält die Satzung also diese sogenannte Konzernklausel, so können Vorstand und Geschäftsführer Tochtergesellschaften gründen oder kaufen17. 8. Scheinbar schwieriger ist die zweite Frage nach der Pflicht des Vorstands zur Organisation und Leitung des Verbundes. Noch vor 25 Jahren wurde eine solche Pflicht allgemein abgelehnt, bis Peter Hommelhoff mit seinem Buch über die Konzernleitungspflicht mit dieser fehlsamen Lehre aufgeräumt hat18. Denn das Vermögen der Gesellschaft dient der unternehmerischen Verwirklichung ihres Gegenstandes durch ihre Organe. Geschieht das aufgrund der Konzernklausel auch in Tochtergesellschaften, so bleibt doch die Leitungspflicht beim Vorstand der Obergesellschaft. Denn diese Tochtergesellschaften sind und

__________ 15 Vgl. dazu Williams, Learning the Law, 13. Aufl. 2006, und Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 7. Aufl. 2003. 16 Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 8. Aufl. 2005, § 9 I 1; Habersack in Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, Vor § 311 AktG Rz. 11; Krieger in MünchHdb. Gesellschaftsrecht, Bd. 4 Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 69 Rz. 7 f. 17 Vgl. dazu BGHZ 159, 30, 36 „Gelatine II“. 18 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982.

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bleiben unternehmerisches Vermögen der Obergesellschaft und dafür sind deren Organe zuständig und verantwortlich19. Vorstand oder Geschäftsführer der Obergesellschaft werden so zwangsläufig zum Vorstand oder Geschäftsführer des Konzerns. Auch das kann durch die Satzung geändert werden. Es geschieht selten. Aber immerhin gibt es in Berlin eine Elektro Holding AG, die sich laut Satzung nicht-unternehmerisch, also nur durch Minderheitsbeteiligungen an Stromerzeugern beteiligt. Hier hat der Vorstand keine Leitungspflicht, sondern kann sich auf die Rolle eines engagierten Aktionärs zurückziehen. Aber das ist die ganz seltene Ausnahme. 9. Noch viel schwieriger erschien lange Zeit die Frage nach der Aufsicht und Kontrolle im Konzern. Ebenso wenig wie der Konzern als solcher einen Vorstand oder einen Geschäftsführer hat, so wenig hat er einen Aufsichtsrat. Den Aufsichtsrat der Obergesellschaft aber hielt man lange Zeit dafür nicht für zuständig20. Auch diese Auffassung hat sich seit etwa 10 Jahren nach zäher Vorarbeit in der Literatur21 geändert und ist heute vom Gesetz ausdrücklich akzeptiert, § 90 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 AktG in der Neufassung durch das KonTraG von 1998. Denn tatsächlich gehören die Konzerngesellschaften ja mehrheitlich oder ganz der Obergesellschaft, sind deren Vermögen, das unternehmerisch eingesetzt wird unter der Leitung ihres Vorstands. Dieser ist dabei für die Obergesellschaft tätig. Und in allem, was er für die Obergesellschaft tut, unterliegt er der Überwachung durch seinen Aufsichtsrat. Wie der Vorstand der Obergesellschaft kraft seiner Leitungspflicht zum Vorstand des Verbundes, des Konzerns wird, so wird der Aufsichtsrat kraft seiner Pflicht, diesen Vorstand zu überwachen, zum Konzern-Aufsichtsrat. Diese erst vergleichsweise junge Erkenntnis hat ungemein weitreichende Folgen. Denn plötzlich ist dieser Aufsichtsrat nicht nur zur Überwachung des Vorstands in seinem direkten Handeln für die Obergesellschaft zuständig, sondern ebenso für dessen Leitung des Verbundes. Der Aufsichtsrat der Allianz AG hat sich also nicht nur um die Allianz AG zu kümmern, sondern auch um den ganzen und riesigen Allianz-Konzern mit mehr als 180 000 Mitarbeitern weltweit, um dessen Strategie, Finanzierung, Ertragskraft und Gesetzestreue – neudeutsch: Compliance genannt. Im neuen Vorstand von Siemens ist ein Mitglied zuständig für die Einhaltung von Recht und Gesetz im ganzen Siemens-Konzern – auch bei der

__________ 19 Man denke nur an die häuftigste Form der Holding, die sog. Führungs- oder Management-Holding; bei ihr ist die Leitung der Gruppe der alleinige Grund ihres Seins. Und als Leitungszentrale werden die Deutsche Bahn AG, die MAN AG, die Allianz AG und wie sie alle heißen, in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen. Vgl. dazu Lutter, Begriff und Erscheinungsform der Holding, in Lutter (Hrsg.), Holding-Handbuch, 4. Aufl. 2004, Rz. 1 ff., 16. 20 So etwa Meyer-Landrut in Großkomm.AktG, 3. Aufl. 1973, § 90 AktG Anm. 3. 21 Vgl. etwa Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 1979, S. 28 ff., und 3. Aufl. 2006, Rz. 148 ff.; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5. Aufl. 2008, Rz. 131 ff.; Uwe H. Schneider, BB 1981, 249 ff.; Semler, Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats, 1980, S. 158 ff., 2. Aufl. 1996, S. 233 ff., 271 ff.; zuletzt Lutter, Der Aufsichtsrat im Konzern, AG 2006, 517, je m. allen Nachw.

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Tochter- oder Enkelgesellschaft in Peking oder Tokyo, in San Francisco, Toronto oder St. Petersburg. Und weil das so ist, hat der Vorstand der Obergesellschaft den Aufsichtsrat nicht nur über diese, sondern über den gesamten Konzern und seine Teile zu informieren, muss über die verlustträchtige Enkelin in den USA ebenso wie über die erfolgreiche Tochter in China und Indien berichten und darlegen, was er zur Verbesserung der Situation in den USA unternommen hat oder unternehmen will, § 90 Abs. 1 Satz 2 AktG. Die Aufgaben des Aufsichtsrats einer Konzern-Obergesellschaft sind infolge dieser Erkenntnis ungewöhnlich stark gewachsen, und ich zweifle sehr, ob sich das bei allen Aufsichtsräten schon ausreichend herumgesprochen hat. Daher ist es auch richtig, wenn man nicht nur den Vorstand von Siemens verantwortlich macht für Unrecht in irgendwelchen Enkelgesellschaften in Ägypten, Italien oder der Schweiz, sondern genauso nach der Verantwortung des Aufsichtsrats von Siemens dafür fragt. 10. Von all dem, was ich bisher zur Leitung und Aufsicht im faktischen Konzern unter einer deutschen Obergesellschaft vorgestellt habe, steht nur die oben schon erwähnte Pflicht des Vorstands der Obergesellschaft zur Information seines Aufsichtsrats über den Konzern im Gesetz. Und doch sind meine Aussagen rechtliche Aussagen, die durch Wertungen und Fortdenken aus den Antworten des geschriebenen Rechts gewonnen werden konnten. Diese Aussagen sind heute nach anfänglich strikter Ablehnung von der juristischen Community sehr weitgehend akzeptiert. Es bleiben allenfalls Nuancen, die Grundaussagen aber entsprechen heute der herrschenden Meinung22. Umso mehr muss uns interessieren, ob das auch für die beiden uns verbleibenden Fragen gilt: dürfen Vorstand und Geschäftsführung die von ihnen gegründeten, entwickelten oder gekauften Tochtergesellschaften auch wieder verkaufen? Darf der Vorstand von Siemens die Osram GmbH, der Vorstand von VW die AUDI AG so ohne weiteres verkaufen? Und wie steht es um sogenannte Strukturentscheidungen: der Vorstand von VW will AUDI nicht verkaufen, sondern mit MAN verschmelzen. Darf er das alleine machen oder braucht er dazu die Zustimmung seiner Hauptversammlung? Für Kenner verbinden sich diese Fragen mit den BGH-Entscheidungen Holzmüller23 und Gelatine24. Ehe ich aber dazu im Einzelnen komme, will ich versuchen, das rechtliche Umfeld zu klären.

__________ 22 Vgl. statt aller Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 111 AktG Rz. 220 ff.; ebenso Habersack, ibid., 3. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 52 ff.; Hopt/Roth in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 111 AktG Rz. 369 ff.; Drygala in Karsten Schmidt/ Lutter, 2008, § 111 AktG Rz. 21 ff. 23 BGHZ 83, 122, und dazu Lutter, Organzuständigkeit im Konzern, in FS Stimpel, 1985, S. 825 ff. 24 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02, NZG 2004, 575, und BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = NJW 2004, 1860.

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Das deutsche Umwandlungsgesetz von 1994 ist ein großer Gewinn für die deutsche Unternehmensrechtsordnung. Es regelt die Verschmelzung, die Spaltung, die Ausgliederung und den Formwechsel von Unternehmen. Seine außerordentlich liberale Struktur erlaubt alle diese Maßnahmen der Umorganisation und Umstrukturierung von Gesellschaften, aber alle nur mit Zustimmung der Gesellschafter der beteiligten Gesellschaften, je mit satzungsändernder Mehrheit25. Einige weitere solche Maßnahmen sind im AktG geregelt, wie Unternehmensvertrag, Eingliederung und Squeeze-out: auch sie sind gekennzeichnet durch die Notwendigkeit einer Zustimmung der Aktionäre mit jeweils mindestens satzungsändernder Mehrheit26. 11. Betrachten wir auf diesem Hintergrund nun die Fälle Verschmelzung und Verkauf von AUDI. Für die Verschmelzung von AUDI mit MAN stehen zwei Wege zur Verfügung: – AUDI wird aus dem Vermögen von VW förmlich abgespalten und mit MAN verschmolzen. VW erhält entsprechend Aktien an MAN. – AUDI wird direkt mit MAN verschmolzen und VW erhält entsprechend Aktien an MAN. Im ersteren Falle unterliegt der Vorgang dem Umwandlungsgesetz und bedarf der Zustimmung der Hauptversammlung von VW27; im letzteren Fall schweigt das Gesetz28. Dieses Schweigen gilt auch beim schlichten Verkauf von AUDI, durch den VW Geld statt MAN-Aktien erhält. Betrachten wir die Situation aus der Sicht eines Anlegers, so könnte der sagen: eigentlich hatte ich mich an AUDI und seinen großen Markterfolgen beteiligen wollen. Aber das ging nicht; denn AUDI gehört zu 100 % VW; es gibt keine AUDI-Aktien am Markt. Daher habe ich VW-Aktien gekauft. Wenn jetzt AUDI andere Wege gehen soll, dann will ich gefragt werden. Und so sieht es auch das Gesetz in dem von ihm geregelten Fall der Abspaltung. 12. Wir haben oben beim Vorstand und beim Aufsichtsrat die nur für die einzelne AG geregelten Rechte und Pflichten in den ungeregelten Konzern hinein „verlängert“ und sind so zu stimmigen und weitgehend akzeptierten ungeschriebenen Rechtsregeln für einen Konzernvorstand und einen Konzernaufsichtsrat gekommen. Es ist daher nur konsequent, wenn wir nunmehr beim dritten Organ, der Hauptversammlung, in ähnlicher Weise argumentieren. Wir entnehmen Wertentscheidungen des Gesetzes aus parallelen Vorgängen und sagen: Abspaltung, Verschmelzung und Verkauf von Tochtergesellschaften sind strukturell gleiche oder mindestens vergleichbare Veränderungen. Dann kann die Frage einer Mitwirkung der Hauptversammlung doch nicht davon abhängen, welchen Weg der Vorstand von VW geht. Anders gewendet: Es steht dem Vorstand doch gewiss nicht zu, durch die Wahl des rechtlichen Weges über die

__________ 25 26 27 28

Lutter/Drygala in Lutter, 4. Aufl. 2008, § 13 UmwG Rz. 21. §§ 293, 319, 327a AktG. §§ 125, 165 UmwG. Natürlich muss die Hauptversammlung von AUDI zustimmen. Aber das ist der Vorstand von VW.

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Mitwirkung oder Nicht-Mitwirkung seiner Hauptversammlung zu entscheiden. Sind vergleichbare Sachverhalte teils vom Gesetz geregelt, teils nicht geregelt, so müssen die offenen Fragen durch Analogie geschlossen werden, nicht in Analogie zu einer bestimmten Figur, sondern durch eine sogenannte Gesamtanalogie29: bei allen vom Gesetz geregelten Strukturentscheidungen ist die Befassung der Hauptversammlung mit satzungsändernder Mehrheit vorgeschrieben. Das muss dann auch für die nicht geregelten Fälle solcher Strukturentscheidungen gelten30. Gewiss, das alles gilt nur für wirkliche Strukturentscheidungen: de minimis non curat praetor. Es wäre unangemessen, die Hauptversammlung wegen des Verkaufs oder der Verschmelzung einer weniger bedeutsamen Tochtergesellschaft zu bemühen. Man muss hier materiell, nicht formell denken. 13. Wie ist nun der Bundesgerichtshof mit diesem Problem umgegangen? Die erste Entscheidung von 1984, die berühmte Holzmüller-Entscheidung31 hat keinen Gedanken auf die hier angesprochene Gesamtanalogie gerichtet, sondern sich an einer Spezialnorm des geltenden Aktienrechts orientiert. Danach ist die Hauptversammlung über die im Gesetz festgelegten Fälle hinaus zur Entscheidung nur befugt, wenn ihm diese vom Vorstand vorgelegt werden, § 119 Abs. 2 AktG. Und dieses freie Vorstands-Ermessen zur Vorlage verdichte sich – so der BGH – zur Vorlagepflicht an die Hauptversammlung, wenn das wertvollste Gut in eine Tochtergesellschaft ausgelagert oder in eine besonders wichtige Tochtergesellschaft fremde Gesellschafter aufgenommen werden sollen. Die Entscheidung hat zur Entstehung einer ganzen Holzmüller-Bibliothek geführt mit zwei Diskussions-Schwerpunkten: trägt der aus dem Verwaltungsrecht übernommene Gedanke über die Schrumpfung des Ermessens auch in diesem gesellschaftsrechtlichen Zusammenhang? Vor allem aber: wo genau liegt die Grenze, bei deren Überschreitung das Kann zur Vorlage an die Hauptversammlung zur Pflicht wird? Denn ein einzelnes besonders wertvolles Gut ist selten: AUDI für VW und Osram für Siemens wären solche Fälle. Meist aber handelt es sich um ganze Geschäftsfelder mit tausenden von einzelnen Gegenständen, wie etwa im Milupa-Fall, wo das Geschäftsfeld Babynahrung einer 100 %igen Tochtergesellschaft veräußert werden sollte32. Das Geschäftsfeld machte ungefähr 40 % des Gesamtvermögens der Mutter-AG und 40 bis

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29 Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 384: „Gesamtanalogie. Hier wird mehreren gesetzlichen Bestimmungen, die an verschiedene Tatbestände mit gleicher Rechtsfolge anknüpfen, ein „allgemeiner Rechtsgrundsatz“ entnommen, der auf den im Gesetz nicht geregelten Tatbestand wertungsmäßig ebenso zutrifft wie auf die geregelten Tatbestände.“ 30 Vgl. Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 153: „Die Analogie ist als Folge des Gleichheitssatzes gerechtfertigt und somit als Fall der systematischen Auslegung zu bezeichnen.“ 31 BGHZ 83, 122. 32 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99, NJW 2001, 1277; Vorinstanz OLG Frankfurt v. 23.3.1999 – 5 U 193/97, DB 1999, 1004.

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50 % ihrer Ertragskraft aus. Die einen dachten nur an Extremfälle und sahen die Grenze bei etwa 80 %, die anderen, wie ich, in einer de minimis-Betrachtung bei 20 bis 30 %. Auf diesem Stand verharrte der Streit 20 Jahre33, ehe der BGH erneut Gelegenheit zur Entscheidung hatte. In seinen beiden Gelatine-Entscheidungen von 200434 verwarf der BGH zunächst einmal den eigenen Ansatz seiner Vorgänger-Entscheidung aus § 119 Abs. 2 AktG35. Er verwarf aber auch meinen in nun gut 30 Jahren entwickelten Ansatz einer konzernverfassungsrechtlichen Gesamtanalogie36, obwohl dieser Rechtsgedanke in der Literatur mehr und mehr Zustimmung gefunden hatte37, und bekannte sich statt dessen zu einer offenen, aber sehr restriktiven Rechtsfortbildung38: Nur bei einer Mediatisierung der Aktionärsrechte und nur wenn rund 80 % des Vermögens der AG davon betroffen sind, soll ausnahmsweise die Hauptversammlung zur Entscheidung zuständig sein39 – dann allerdings mit satzungsändernder Mehrheit. 14. Gegen die Aussage eines Gerichts, es entscheide in offener Rechtsfortbildung, kann man nicht argumentieren. Das ist eine autonome Entscheidung des Gerichts. Ähnliches gilt für die seit der Siemens-Nold-Entscheidung von 199740 erkennbare Tendenz des BGH, dem Vorstand rasche wirtschaftliche Entscheidungen selbst von größter Tragweite zu ermöglichen41, statt sie an Beschlüsse einer schwerfälligen Hauptversammlung zu binden – von den Anfechtungsrisiken unserer „Räuber“ einmal ganz abgesehen42. All das ist verständlich. Verloren gegangen aber ist dabei die Chance, den Schlussstein in das Gebäude eines systematischen und in sich stimmigen Konzernverfassungsrechts zu setzen. Mag das auch nicht die primäre Aufgabe eines Revisionsgerichts sein, den Wissenschaftler betrübt der Verlust dieser Chance um so mehr. 15. Wie also müsste es richtig sein? Kommen wir zur Klärung dieser Frage zurück zu unserer obigen Feststellung, dass der Vorstand der Obergesellschaft zugleich der Vorstand des Konzerns, der Aufsichtsrat der Obergesellschaft zugleich der Aufsichtsrat des Konzerns ist, was ist dann die Aufgabe des dritten Organs, eben der Hauptversammlung der Obergesellschaft? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir uns streng an ihren gesetzlichen Aufgaben in der Einzelgesellschaft orientieren – genau wie

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33 Zum Diskussionsstand vor den Gelatine-Entscheidungen des BGH (oben Fn. 24) vgl. Habersack (Fn. 16), Vor § 311 AktG Rz. 33; Hüffer, 6. Aufl. 2004, § 119 AktG Rz. 18; Mülbert in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 119 AktG Rz. 20 ff. 34 Oben Fn. 24. 35 BGHZ 159, 30, 42 f. = NJW 2004, 1860, 1863. 36 Beginnend mit „Zur Binnenstruktur des Konzerns“ in FS Harry Westermann, 1974, S. 347 ff. 37 Vor allem Mülbert (Fn. 33), § 119 AktG Rz. 23, 29 ff. m. w. N. 38 BGHZ 159, 30, 43 = NJW 2004, 1860, 1863 rechte Sp. 39 BGHZ 159, 30, 43 ff. = NJW 2004, 1860, 1863 f. 40 BGHZ 136, 133. 41 BGH, JZ 2007, 371 m. Anm. Lutter. 42 Vgl. dazu Baums, ZIP 2007, 1629 ff.

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es bei den Aufgaben des Vorstands im Konzern und des Aufsichtsrats im Konzern geschieht. (1) Da ist zunächst die Konzernbilanz, der Konzernabschluss. Dieser ist – wie der Einzelabschluss – bereits heute zunächst im Aufsichtsrat der Obergesellschaft zu prüfen und ggf. von ihm zu billigen und in der Folge der Hauptversammlung vorzulegen, §§ 171 Abs. 1 und 2, 175 Abs. 2 AktG. (2) Da ist die Wahl des Konzern-Abschlussprüfers; sie erfolgt schon heute durch die Hauptversammlung der Obergesellschaft, § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB. Zwischenfeststellung: Das Gesetz selbst versteht die Hauptversammlung der Obergesellschaft mithin für bestimmte Aspekte als Hauptversammlung des Konzerns und weist ihr Aufgaben zu, die auch in der Einzelgesellschaft ihre Aufgaben sind. Aber gehen wir weiter: (3) Da ist die Gewinnverteilung. Die Konzernbilanz ist jedenfalls heute noch keine Ausschüttungsbilanz; also kann die Hauptversammlung hier nicht tätig werden. Das mag sich in Zukunft ändern. (4) Damit bleiben von den regulären Kompetenzen der Hauptversammlung die Satzungsänderung und die sogenannten Strukturentscheidungen. Da der Konzern keine Satzung hat, kann auch die Hauptversammlung insoweit nicht tätig werden. Andererseits finden ständig sogenannte Strukturentscheidungen43 im Konzern statt: Tochtergesellschaften erhöhen ihr Kapital, verschmelzen mit dritten Gesellschaften oder spalten sich auf – alles Vorgänge, die, würden sie in der Obergesellschaft stattfinden, ganz selbstverständlich die Einschaltung der Hauptversammlung verlangen. Die Frage lautet also: Erkennt man – wie Vorstand und Aufsichtsrat der Obergesellschaft – auch die Hauptversammlung der Obergesellschaft als Quasi-Organ des Konzerns an oder lehnt man das – ganz und gar systemwidrig – ab. Genau das hat der Bundesgerichtshof in der berühmten und oben bereits erwähnten Holzmüller-Entscheidung und erneut in den Gelatine-Entscheidungen von 2004 getan. Im ersten hat er für extreme Sonderfälle aus § 119 Abs. 2 AktG argumentiert, in den letzteren für die gleichen extremen Sonderfälle freie Rechtsfortbildung für sich in Anspruch genommen. Alle drei Entscheidungen aber haben den systematischen Aspekt nicht aufgenommen44, sondern vor allem aus der nach dem Gesetz beschränk-

__________ 43 Vgl. dazu R. Leinekugel, Die Ausstrahlungswirkungen des Umwandlungsgesetzes, 2000, S. 69 ff. 44 In den Gelatine-Entscheidungen (oben Fn. 24) hat der BGH diese systematische Argumentation mit der Folge einer Gesamtanalogie durchaus gesehen, aber im Hinblick auf die angebliche Nichtigkeitsfolge bei Nichtbefassung der Hauptversammlung abgelehnt. Das wäre verständlich, wäre die Nichtigkeitsfolge denn zwingend. Das aber ist sie nicht. Denn bei ungeschriebenen statt geschriebenen Zuständigkeiten der Hauptversammlung kann dem Aspekt der gewissen Rechtsunsicherheit durch Flexibilität auf der Rechtsfolgenseite Rechnung getragen werden; zutr. Jansen, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten, 2007, S. 32 ff., 71.

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ten Zuständigkeit der Hauptversammlung argumentiert – ohne zu erkennen, dass diese Vorschrift des § 119 Abs. 1 AktG aus der Idee der unverbundenen Einzelgesellschaft heraus entstanden ist, der Gesetzgeber damals den Konzern und seine tiefgreifenden Besonderheiten aber einfach übersehen und nicht zur Kenntnis genommen hat45. Dieses Ausblenden der Besonderheiten des Konzerns muss mehr und mehr zu Einzelfall- und Fehlentscheidungen führen: Legt man die Aussagen des Bundesgerichtshofs in seinen Gelatine-Entscheidungen zugrunde, dann kann der Vorstand von VW mit AUDI und der Vorstand von Siemens mit Osram machen was er will: Verkaufen, mit Opel fusionieren, an die Börse bringen etc.: eine Einschaltung der Hauptversammlung wäre nicht erforderlich. Das kann schlechterdings nicht richtig sein. Aber nicht nur das: nach weit verbreiteter Meinung soll er auch berechtigt sein, den im Konzern erwirtschafteten Gewinn entgegen dem Rechtsgedanken aus § 58 Abs. 2 AktG beliebig in den Untergesellschaften einzubehalten46 und beim Verkauf von AUDI über die Börse nicht einmal verpflichtet sein, den eigenen Aktionären ein Vorerwerbsrecht einzuräumen47. Die Besonderheiten im Konzern und die Notwendigkeit einer Einbindung in die Grundaussagen des Unternehmensrechts werden hier schlicht nicht zur Kenntnis genommen. Das alles kann bei wertender und systematischer Betrachtung nicht richtig sein. 16. Mit dieser Aussage bin ich aber auch schon am Ende. Denn: Roma locuta causa finita. Frühestens in 10 Jahren und in einer gänzlich neuen Besetzung des II. Senats des BGH kann sich die Frage neu stellen. Das war der Grund, weshalb ich meine Überlegungen unter das Motto vom unvollendeten Konzernrecht gestellt habe. Meine Versuche, den Bundesgerichtshof von der Richtigkeit einer Gesamtanalogie und von der Notwendigkeit einer systematisch stimmigen Lösung zu überzeugen, sind gescheitert. Anders gewendet: Das Konzernrecht ist tatsächlich unvollendet; denken wir, wie eingangs, an Schuberts Unvollendete, so fehlt ihm der dritte Satz. Den Stab, ihn zu schreiben, gebe ich an meine jungen Kollegen weiter.

__________ 45 Gessler, der „Vater“ des AktG von 1965, hat das in seinem Beitrag zur FS Stimpel, 1985, S. 771, 780 ff. ausdrücklich bestätigt. 46 So Henze in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2000, § 58 AktG Rz. 58 ff.; Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 17; Werner in FS Stimpel, 1985, S. 935, 941 ff.; Goerdeler, WPg 1986, 229, 234 ff.; Beusch in FS Goerdeler, 1987, S. 25 ff.; a. A. Gessler in FS Meilicke, 1985, S. 18, 25 ff.; ders., AG 1985, 287 ff.; Götz in FS Moxter, 1994, S. 573, 576 ff.; vermittelnd Lutter in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988, § 58 AktG Rz. 41 ff.; ders. in FS Goerdeler, 1987, S. 327, 334 ff.; ebenso unter Darstellung des aktuellen Streitstandes Fleischer in Karsten Schmidt/Lutter, 2008, § 58 AktG Rz. 27 ff. und Bayer in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 58 AktG Rz. 66 ff., 69. 47 So Emmerich/Habersack (Fn. 16), S. 109 m. allen N. Ganz a. A. Lutter, AG 2001, 349; ders., AG 2001, 349; umfassend jetzt Kowalewski, Das Vorerwerbsrecht der Mutteraktionäre beim Börsengang einer Tochtergesellschaft, 2008.

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Erweiterung des Spruchverfahrens und Ausgleich in Aktien Inhaltsübersicht I. Spruchverfahren bei übernehmender Gesellschaft 1. Problemlage 2. Gründe für Spruchverfahren bei der übernehmenden Gesellschaft 3. Gleichartigkeit der Lage 4. Stimmrechtsverwässerung II. Ausgleich in Aktien 1. Gründe 2. Verfahren 3. Methoden der Bemessung

4. Ausgleich durch Herstellung des „richtigen“ Umtauschverhältnisses 5. Berechnung nach dem aktuellen Börsenkurs III. Weitere Modalitäten des Ausgleichs in Aktien 1. Ersetzungsbefugnis 2. Grenzen des Ausgleichs 3. Schutz gegen Stimmrechtsverwässerung IV. Ausblick

Im Sommer 2007 hat der Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins einen ausgearbeiteten Gesetzgebungsvorschlag zur Änderung der Voraussetzungen und Folgen eines Spruchverfahrens vorgelegt1. Nach dem Vorschlag soll: – ein Spruchverfahren anstelle eines Anfechtungsverfahrens zur Entscheidung aller wertbezogenen Streitigkeiten bei der Ausgabe von Aktien vorgesehen werden2, – die Möglichkeit eröffnet werden, einen als Folge des Spruchverfahrens zu leistenden Ausgleich statt in bar auch in Aktien der übernehmenden Gesellschaft zu leisten3.

__________ 1 Handelsrechtsausschuss des DAV: Gesetzgebungsvorschlag zum Spruchverfahren bei Umwandlungen und Sachkapitalerhöhungen und zur Erfüllung des Ausgleichsanspruchs durch Aktien, NZG 2007, 497–505. 2 Ebenso schon Handelrechtsauschuss des DAV: Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes, NZG 2006, 737; Vorschläge des Handelsrechtsausschusses des DAV zur Änderung des UmwG, NZG 2000, 802, 803; Martens, AG 2000, 301, 308. 3 Ebenso schon Handelrechtsauschuss des DAV: Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes, NZG 2006, 737; Vorschläge des Handelsrechtsausschusses des DAV zur Änderung des UmwG, NZG 2000, 802, 803; ähnlich bereits Philipp, AG 1998, 264, 271; Bayer, ZHR 163 (1999), 505, 551; Gehling in Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz mit Spruchverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2007, § 15 UmwG Rz. 26; Marsch-Barner in Kallmeyer, Umwandlungsgesetz, 3. Aufl. 2006, § 15 UmwG Rz. 6; Martens, AG 2000, 301, 308; a. A.

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Zwischen den beiden Vorschlägen besteht ein Zusammenhang mindestens insofern, als die Erweiterung des Spruchverfahrens auch den Anwendungsbereich eines ggf. in Aktien zu leistenden Ausgleichs erweitern würde4. In den folgenden, dem Großmeister des deutschen Gesellschaftsrechts Karsten Schmidt gewidmeten Zeilen sollen einige der zugrunde liegenden Fragen näher beleuchtet werden.

I. Spruchverfahren bei übernehmender Gesellschaft 1. Problemlage Fragen nach dem absoluten oder relativen Wert von Gesellschaftsbeteiligungen stellen sich in einer Vielzahl von Konstellationen. Naturgemäß können sich daraus auch Streitigkeiten ergeben. Die Entscheidung über solche Streitigkeiten weist das Gesetz je nach Zusammenhang ganz verschiedenen Verfahren mit unterschiedlichen Verfahrenszielen zu. Prototyp einer solchen Fragestellung ist der Fall der Verschmelzung. Rügen Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft, das Umtauschverhältnis sei zu ihrem Nachteil unrichtig bemessen, so können sie mit dieser Begründung nicht mittels einer Anfechtungsklage die Verschmelzung als solche angreifen, sondern sind auf ein Spruchverfahren verwiesen, in dem das Umtauschverhältnis überprüft und für den Fall, dass es zum Nachteil der Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft unsachgemäß festgelegt wurde, ein Ausgleich in bar angeordnet wird5. Sind dagegen Gesellschafter der übernehmenden Gesellschaft der Auffassung, dass zu ihrem Nachteil das Umtauschverhältnis unsachgemäß bemessen sei, so steht ihnen dieser Weg auch dann nicht offen, wenn sie die Verschmelzung im Grundsatz gutheißen und nur das Umtauschverhältnis beanstanden. Wollen sie sich wehren, so bleibt ihnen nur der Weg der Anfechtungsklage, deren Ziel darauf gerichtet ist, die Verschmelzung als solche zunichte zu machen6. Ähnliche Fragen können sich ergeben, wenn eine Aktiengesellschaft ihr Kapital unter Ausschluss des Bezugsrechts aus anderen Gründen als anlässlich einer Verschmelzung erhöht. Sind die Aktionäre der kapitalerhöhenden Gesellschaft der Auffassung, der Wert der für die neuen Aktien zu erbringenden Einlagen (gleich ob Bar- oder Sacheinlage) sei unverhältnismäßig niedrig, so

__________ Hoffmann-Becking, ZGR 1990, 482, 485; zur Möglichkeit, de lege lata den Ausgleich an Aktionäre der übertragenden Gesellschaft in Aktien zu leisten Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 587. 4 Die Einzelheiten des Vorschlags und die technische Ausgestaltung für seine Umsetzung sind von Hüffer, ZHR (2008), 8–23 und Bayer, ZHR (2008), 24–41 dargestellt und gewürdigt worden. 5 § 15 Abs. 1 Satz 2 UmwG, § 1 Nr. 4 SpruchG. 6 Dazu Gehling (Fn. 3), § 14 UmwG Rz. 17 ff.; Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz, Umwandlungsgesetz – Umwandlungssteuergesetz, 4. Aufl. 2006, § 14 UmwG Rz. 22.

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bleibt ihnen nur die Möglichkeit, den Kapitalerhöhungsbeschluss als solchen anzugreifen7. Der Vorschlag des Handelsrechtsausschusses setzt in seinem ersten Teil hier mit dem Ziel an, auch die Gesellschafter der übernehmenden Gesellschaft oder der kapitalerhöhenden Aktiengesellschaft auf ein solches Spruchverfahren zur Überprüfung und ggf. Nachbesserung des Umtauschverhältnisses zu verweisen und eine auf Bewertungsrügen gestützte Anfechtungsklage auszuschließen. In der folgenden Erörterung dient die Verschmelzung als Beispielsfall, an dem die Fragen abgehandelt werden. Entsprechendes gilt aber auch für andere Fälle der Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss. Weiterhin wird terminologisch davon ausgegangen, dass die beteiligten Gesellschaften Aktiengesellschaften seien. 2. Gründe für Spruchverfahren bei der übernehmenden Gesellschaft Die Forderung, insbesondere bei Verschmelzungen auch für Bewertungsrügen von Aktionären der übernehmenden Gesellschaft ein Spruchverfahren zu eröffnen, ist alt8. Die Gründe, die dafür sprechen, Bewertungsrügen nicht in ein Kassationsverfahren wie die Anfechtungsklage, sondern mit dem Ziel der Nachbesserung in ein anderes Verfahren zu verweisen, gelten in gleicher Weise für die Aktionäre der übernehmenden wie für die der übertragenden Gesellschaft. Dabei geht es keineswegs nur darum, das Verzögerungs-, um nicht zu sagen Erpressungspotential möglicherweise missbräuchlicher Anfechtungsklagen zu begrenzen. Die Forderung bleibt deshalb auch dann berechtigt, wenn die Probleme der so genannten Klageindustrie anders bewältigt werden9. Auch ganz unabhängig von solchen Fällen kann die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses oder der Anzahl der Aktien, die für eine Sacheinlage ausgegeben werden, zweifelhaft und streitig sein10. Spruchverfahren wie bei der Verschmelzung sind eine deutsche Spezialität und schon wegen ihrer offenbar unvermeidlich langen Dauer keine Ideallösung. Wenn aber ein Rechtsschutz wegen falscher Bewertung gewährt werden soll, kommt eine andere Lösung als eine Anfechtungsklage oder ein Verfahren mit

__________ 7 § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG analog; BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 70, 40, 50 ff.; OLG Jena v. 12.10.2006 – 6 W 452/06, ZIP 2006, 1989, 1993; ausführlich dazu auch Bayer, ZHR 163 (1999), 505, 515; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 255 AktG Rz. 7; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 255 AktG Rz. 5. 8 Hoffmann-Becking, ZGR 1990, 482, 484; Martens, AG 2000, 301, 307; Seetzen, WM 1999, 565 ff.; Stratz (Fn. 6), § 14 UmwG Rz. 22; Wiesen, ZGR 1990, 503, 507; Handelsrechtsausschuss des DAV (Fn. 3), NZG 2000, 802, 803. 9 Zu Reformvorschlägen siehe § 246a Abs. 2 AktG i. d. F. des Referentenentwurfs des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) vom 6. Mai 2008, abrufbar unter: http://www.bmj.bund.de/files/-/3140/RefE%20Gesetz%20zur%20Um setzung%20der%20Aktionärsrechterichtlinie.pdf; sowie Baums, VGR 13 (2007), 109, 114 ff.; Goll/Schwörer, ZRP 2008, 77, 78; Vetter, AG 2008, 177, 185–194. 10 Großfeld, BB 2000, 261, 264; Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 567 ff.; ausführlich Seetzen, WM 1994, 45, 46 ff.

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dem Ziel der Nachbesserung kaum in Betracht. Zwischen diesen Alternativen verdient das Spruchverfahren jedenfalls den Vorzug. Gewiss könnte der Anreiz für wertbezogene Streitigkeiten gemindert werden. Ansatzpunkte dafür gibt die Überlegung, dass im Falle eines „merger of equals“ das zwischen den Beteiligten ausgehandelte Ergebnis die Vermutung der Angemessenheit oder Richtigkeit für sich hat11. Wenn stringent auf das Verhältnis der Börsenkurse abgestellt würde12, könnte auch dies ein Weg sein, Bewertungsfragen praktisch einem Streit zu entziehen13. Wenn allerdings die Unternehmensleiter – z. B. weil die Verschmelzung aus der Sicht des einen Unternehmens mehr Vorteile bietet als aus der Sicht des anderen und das letztere zu einer Verschmelzung nach dem Verhältnis der Börsenkurse nicht bereit ist – ein Umtauschverhältnis vereinbaren, das nicht dem Verhältnis der Börsenkurse entspricht, widersprechen sich die beiden Ansätze. Jedenfalls verbleibt ein Bereich, in dem weder der eine noch der andere Ansatz weiterführt, nämlich die Fälle der Konzernverschmelzung sowie diejenigen, in denen es mangels Börsennotierung oder wegen Marktenge keine repräsentativen Börsenkurse gibt. Auch eine erweiterte Schadensersatzhaftung der verantwortlichen Organmitglieder und/oder der begünstigten Gesellschaft kann das Problem nicht lösen. Eine Schadensersatzhaftung der Organmitglieder würde ein Verschulden voraussetzen und schon deshalb einen unvollkommenen Rechtsschutz gewähren. Eine Schadensersatzpflicht der begünstigten Gesellschaft oder ihrer – durch die Verschmelzung berufenen – Gesamtrechtsnachfolgerin müsste im Ergebnis auf dasselbe hinauslaufen und dieselben Bewertungsfragen aufwerfen wie ein Spruchverfahren. Ihre Aktionäre verantwortlich zu machen, wäre wenig sachgerecht und auch nicht durchführbar. Sollte der Sinn des Schadensersatzlösung darin liegen, die Folgen des Verfahrens im Unterschied zu der erga omnes Wirkung des Spruchverfahrens14 auf die aktuellen Kläger zu beschränken, so würde damit ein Klageanreiz für alle betroffenen Aktionäre gegeben mit der Folge einer unfruchtbaren Vervielfältigung der Verfahren15. Mit Recht hat Bayer deshalb solche Überlegungen als anachronistisch verworfen16. Trotz seiner Mängel erscheint das Spruchverfahren nach allem als beste Lösung, sei es auch nur im Sinne des geringsten Übels.

__________ 11 OLG Stuttgart v. 8.3.2006 – 20 W 5/05, AG 2006, 421 Rz. 44 ff. = DStR 2006, 626; vgl. auch Mertens, AG 1990, 20, 25; Piltz, ZGR 2001, 185, 207; Paschos, ZIP 2003, 1018 ff.; Martens in FS Röhricht, 2005, S. 987, 1002 ff. 12 So z. B. Decher, ZHR 171 (2007), 126, 143. 13 Zur Problematik einer ausschließlichen Maßgeblichkeit des Börsenkurses ausführlich Hüffer/Schmidt-Assmann in Hüffer/Schmidt-Aßmann/Weber, Anteilseigentum, Unternehmenswert und Börsenkurs, 2005, S. 19 ff. und passim. 14 § 13 Satz 2 SpruchG; kritisch zur erga omnes Wirkung des Spruchverfahrens Vetter, AG 2008, 177, 189; ders., AG 2006, 613, 624. 15 Hoffmann-Becking, ZGR 1990, 482, 499. 16 Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 32.

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3. Gleichartigkeit der Lage Der mit dem Spruchverfahren vorgesehene Ausgleich für die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft (im Folgenden verkürzend auch „übertragende Aktionäre“) wirft keine grundsätzlichen Fragen auf. Die übertragenden Aktionäre haben eine Einlage erbracht, für die sie eine zusätzliche Leistung erhalten. Aber diese zusätzliche Gegenleistung braucht nicht darauf zu beruhen, dass sie mehr eingebracht hätten als in der Verschmelzungsrelation zugrunde gelegt. Denn ein Ausgleich zu ihren Gunsten kann nicht nur deshalb geboten sein, weil ihre Einlage unterbewertet wurde, sondern auch deshalb, weil die übernehmende Gesellschaft überbewertet wurde. Anders als bei den übertragenden Aktionären erscheint auf den ersten Blick implausibel, weshalb die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft (im Folgenden verkürzend auch „übernehmende Aktionäre“) einen Ausgleich sollten erhalten können. Denn sie haben keine Einlage erbracht. Dieser Unterschied nötigt jedoch nicht zu einer unterschiedlichen Behandlung. Zu einer Differenzierung aus diesem technischen Grund besteht schon deshalb kein Anlass, weil bei einer Verschmelzung immer auch der Weg der Verschmelzung zur Neugründung mit wirtschaftlich gleichen Wirkungen offensteht. Wird dieser Weg gewählt, so sind beide beteiligten Gesellschaften übertragende Rechtsträger und das Spruchverfahren steht schon de lege lata den Aktionären beider beteiligten Gesellschaftern offen. Der Ausgleich stellt die Gleichwertigkeit der Vermögensposition der Beteiligten vor und nach der Transaktion her17. Ein Ausgleich in bar mindert das Gesellschaftsvermögen und damit den Wert der übernehmenden Gesellschaft in dem Maße, dass danach die Beteiligungen entsprechend dem festgelegten Umtauschverhältnis unter Berücksichtigung der Ausgleichsleistung gleichwertig sind. Erfolgt der Ausgleich an die übertragenden Aktionäre in bar, so wird aus ihrer Sacheinlage eine so genannte gemischte Sacheinlage, für die sie nicht nur Gesellschaftsanteile, sondern auch einen Barausgleich erhalten. Erfolgt der Ausgleich in Aktien, so vollzieht er sich ohne Minderung des Gesellschaftsvermögens durch Umverteilung der Beteiligungen an der übernehmenden Gesellschaft. Im Ergebnis werden dann mehr Aktien für die durch die Verschmelzung erbrachte Sacheinlage ausgegeben. In beiden Fällen ändern sich nachträglich die Grundlagen der für die Verschmelzung beschlossenen Kapitalerhöhung. Nicht anders ist es bei einem Ausgleich zu Gunsten der übernehmenden Aktionäre. Ein zu ihren Gunsten erfolgter Barausgleich wirkt wie eine Sonderausschüttung an sie. Wäre diese Sonderausschüttung vor der Verschmelzung erfolgt, so hätte sie den Unternehmenswert der übernehmenden Gesellschaft so weit gemindert, dass die Beteiligungen vor und nach der Verschmelzung gleichwertig gewesen wären. Ein an die übernehmenden Aktionäre in der Form von Aktien geleisteter Ausgleich wirkt wie eine vor der Verschmelzung

__________ 17 OLG Stuttgart v. 8.3.2006 – 20 W 5/05, AG 2006, 421 = DStR 2006, 626.

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durchgeführte Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln, die eine Wertverwässerung ihrer Beteiligung durch die Verschmelzung verhindert. De lege lata ist eine solche Korrektur zu Gunsten der übernehmenden Aktionäre nicht möglich. De lege ferenda ist sie jedoch ohne weiteres, ohne Systembruch und – innerhalb noch zu erörternder Grenzen – ohne Beeinträchtigung tragender Grundsätze des Gesellschaftsrechts möglich. 4. Stimmrechtsverwässerung Gegen die Möglichkeit eines Spruchverfahrens zu Gunsten der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft ist eingewandt worden, die Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss sei das leidig bekannte Mittel, Minderheitsgesellschafter durch Verwässerung ihrer Stimmrechte zu benachteiligen18. Der Einwand erscheint aus mehreren Gründen nicht zwingend. Die Verwässerung der Stimmrechte wird – je nach der Art, wie die Anzahl der zu gewährenden Aktien berechnet wird19 – ohnehin vermieden, wenn der Ausgleich nicht in bar, sondern in Aktien gewährt wird. Außerdem besteht die Möglichkeit eines unsachgemäßen Umtauschverhältnisses nicht nur bei Konzernsachverhalten zu Lasten von Minderheitsaktionären. Auch kann eine durch die Wertverhältnisse nicht legitimierte Stimmrechtsverwässerung ebenso die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft treffen. Ferner ist die Verwässerung des Stimmrechts in dem durch den Beschluss festgelegten Ausmaß von den Gesellschaftern akzeptiert worden. Diese Stimmrechtsverwässerung wird nicht qualitativ dadurch zu etwas anderem, dass sie nicht in vollem Umfang durch die Werte des übertragenden Rechtsträgers legitimiert ist, wenn die Wertdifferenz anderweitig ausgeglichen wird. Wird der Ausgleich in Aktien geleistet, so ergibt sich daraus eine Stimmrechtsverwässerung des jeweils anderen Aktionärskreises, der an dem Ausgleich nicht partizipiert. Es geht also immer darum, was Vorrang hat: der Schutz der einen vor einer nicht erwarteten und nicht beschlossenen Stimmrechtsverwässerung oder der Schutz der anderen vor einer zwar beschlossenen und damit erwarteten, aber durch die Wertverhältnisse nicht gerechtfertigten Verwässerung. Auch insofern bestehen prinzipiell keine Unterschiede zwischen den Aktionären der übertragenden und denen der übernehmenden Gesellschaft.

__________ 18 So nachdrücklich Wolfgang Zöllner in einem vom Handelsrechtsausschuss des DAV veranstalteten Symposion zur Erörterung des Vorschlages am 24. Oktober 2007. Zu den aus der Verwässerung abzuleitenden Anforderungen an einen Bezugsrechtsausschluss siehe BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 44 ff. = NJW 1978, 1316 (Kali und Salz); sowie BGH v. 19.4.1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319 = NJW 1982, 2444 (Holzmann). 19 Siehe unten II.3.

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Erweiterung des Spruchverfahrens und Ausgleich in Aktien

II. Ausgleich in Aktien 1. Gründe Der bisher allein vorgesehene Barausgleich als Folge eines Spruchverfahrens20 kann zu erheblichen Abflüssen von Liquidität und Vermögen bei der betroffenen Gesellschaft führen21. Wenn dabei im Interesse des Gläubigerschutzes bestimmte Grenzen zu beachten sind22, so bedeutet dies, dass der Barausgleich nicht immer möglich ist und, soweit er nicht möglich ist, die Berechtigten mindestens zunächst leer ausgehen. Auch wenn der Barausgleich diese Grenzen beachtet, kann er Dimensionen erreichen, die die unternehmerische und finanzielle Beweglichkeit der Gesellschaft beeinträchtigen23. Die Ermöglichung der Ausgleichsleistung durch Aktien vermeidet diese Nachteile weitgehend. Der Ausgleich vollzieht sich ohne Minderung des Gesellschaftsvermögens durch Änderung der Beteiligungsverhältnisse an der Gesellschaft24. 2. Verfahren Soweit der Ausgleich nicht aus vorhandenen eigenen Aktien geleistet werden kann, kommen für den Ausgleich vor allem zwei Wege in Betracht, nämlich entweder eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln, freilich nur zu Gunsten eines Teils der Aktionäre, oder derjenige einer Kapitalerhöhung gegen Einbringung des an sich bestehenden Barausgleichsanspruchs als Sacheinlage. Der Handelsrechtsausschuss hat, vor allem auf Grund bilanzrechtlicher Überlegungen, den letzteren Weg vorgeschlagen25. Denkbar ist aber gewiss auch der Weg über eine der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln nachgebildete Vorgehensweise26. Dies soll hier nicht näher verfolgt werden.

__________ 20 Dazu Hoffmann-Becking, ZGR 1990, 482 ff.; Krieger in Lutter, Verschmelzung, Spaltung Formwechsel, 1995, S. 275 ff.; App, BB 1995, 267 ff.; ausführlich Seetzen, WM 1994, 45 ff.; ders., WM 1999, 565 ff.; Wiesen, ZGR 1990, 503 ff. 21 Philipp, AG 1998, 264, 268 mit dem Hinweis, dass die Belastung durch solche Zuzahlungsverpflichtungen existenzgefährdende Größenordnungen erreichen könnte; Seetzen, WM 1999, 565, 566; Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 564; Vetter, AG 2008, 177, 189. 22 Siehe unten III.2. 23 Gehling (Fn. 3), § 15 UmwG Rz. 26; Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 573; dazu auch Seetzen, WM 1999, 565, 566. 24 Zur Frage, ob ein Ausgleich in Aktien zugunsten der Aktionäre des übertragenden Rechtsträgers schon de lege lata durch entsprechende Gestaltung des Verschmelzungsvertrages möglich ist, siehe Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 577. 25 Handelsrechtsausschuss des DAV (Fn. 1), NZG 2007, 497, 500 ff.; für einen Ausgleich in Aktien auf diesem Wege bereits de lege lata Maier-Reimer, ZHR 164 (2000), 563, 582. 26 Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 36.

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3. Methoden der Bemessung Soll die Möglichkeit gegeben werden, den Ausgleich in Aktien zu leisten, so ist vor allem zu regeln, wie die Anzahl der zu gewährenden Aktien zu bestimmen sei. Dafür kommen grundsätzlich zwei Methoden in Betracht27: – der Ausgleich wird als nachträgliche Korrektur des ursprünglichen Vorganges verstanden und ausgestaltet. Demnach müssen an die benachteiligten Aktionäre so viele Aktien ausgegeben werden, wie ursprünglich bei einem „richtigen“ Umtauschverhältnis hätten ausgegeben werden müssen. – Die andere Möglichkeit besteht darin, den Ausgleichsanspruch als Baranspruch zu berechnen und sodann als Ausgleich diejenige Anzahl von Aktien zu gewähren, deren Börsenwert dem Betrag des zunächst berechneten Barausgleichsanspruchs entspricht. Diese beiden denkbaren Methoden haben jeweils Vor- und Nachteile, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. 4. Ausgleich durch Herstellung des „richtigen“ Umtauschverhältnisses Für die Methode, nachträglich das „richtige“ Umtauschverhältnis herzustellen, spricht zunächst, dass mit ihr die Lage erreicht wird, die „eigentlich“ bestehen sollte und bestanden hätte, wenn das Umtauschverhältnis von vorneherein „richtig“ festgelegt worden wäre28. Dieser Weg wirft jedoch erhebliche Probleme, namentlich der Praktikabilität auf. a) Die praktischen Probleme ergeben sich vor allem aus der langen Dauer der Spruchverfahren. Von der Verschmelzung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Spruchverfahrens vergehen in der Regel viele Jahre. In der Zwischenzeit können Dividenden gezahlt, Kapitalmaßnahmen getroffen worden oder Strukturveränderungen namentlich Verschmelzungen oder Spaltungen erfolgt sein. Der Versuch, die berechtigten Aktionäre so zu stellen, als sei die Verschmelzung von vornherein zum „richtigen“ Umtauschverhältnis erfolgt, stößt dabei auf erhebliche Schwierigkeiten29. aa) Problemlos können mittlerweile erfolgte Bardividenden ausgeglichen werden. Aber schon dann fragt sich, ob die Dividendenbeträge zu verzinsen sind, oder ob dies gegen den Gedanken des Verbotes eines Zinseszinses verstößt. Ist eine Sachdividende ausgeschüttet worden, so ist der Ausgleich jedenfalls schwierig und könnte seinerseits wiederum nur durch Wertersatz erfolgen, weil die Gesellschaft über die als Sachdividende ausgeschütteten Werte nicht mehr verfügt.

__________ 27 Handelsrechtsausschuss des DAV (Fn. 1), NZG 2007, 497, 501; Vetter, ZHR 168 (2004), 8, 40 ff. 28 Aus diesem Grunde hält Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 38 diese Methode für „allein systematisch stimmig“. 29 Nach Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 39 kann insoweit regelmäßig nur ein Nachteilsausgleich in Geld erfolgen.

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bb) Unproblematisch ist der Fall einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln oder einer Neueinteilung des Aktienkapitals (Split oder Zusammenlegung von Aktien) oder auch der Fall einer vereinfachten Kapitalherabsetzung ohne Ausschüttung an die Aktionäre. Unproblematisch ist auch der Fall, dass Kapitalerhöhungen unter Bezugsrechtsausschluss erfolgt sind. Sind jedoch Kapitalerhöhungen unter Einräumung eines Bezugsrechts an die Aktionäre erfolgt, so müsste der Wert des Bezugsrechts ausgeglichen werden. Dieser kann entweder in bar ausgeglichen werden oder nach dem Modell einer so genannten action blanche dadurch, dass dem Berechtigten ein Anspruch auf so viele zusätzliche Aktien eingeräumt wird, wie er auf Grund der ihm ursprünglich zustehenden zusätzlichen Aktien und darauf entfallender Bezugsrechte durch Teilverwertung der Bezugsrechte ohne Aufbringung weiterer Barmittel hätte beziehen können30. Die Bemessung des für solche Maßnahmen geschuldeten weiteren Ausgleichs – gleich ob er in bar oder durch weitere Aktien zu leisten ist – würde eine weitere Unternehmensbewertung auf den Zeitpunkt der Kapitalmaßnahme erfordern. Ist die Gesellschaft börsennotiert, so kann dies – wie die Ermittlung der über eine action blanche beziehbaren Aktien – auf der Grundlage der Börsenkurse und des Ausgabebetrages geschehen. cc) Im Fall einer zwischenzeitlich erfolgten Verschmelzung müssten den Berechtigten so viele Aktien der übernehmenden Gesellschaft zustehen, wie sie auf Grund der ihnen „geschuldeten“ Aktien – ggf. unter Berücksichtigung der aufgrund anderer Maßnahmen gebotenen Korrekturen – in der Verschmelzung erhalten hätten. dd) Im Falle einer Spaltung ergäben sich zusätzliche Schwierigkeiten: Bleibt bei einer Abspaltung die Verpflichtung zur Gewährung des Ausgleichs bei dem abspaltenden Rechtsträger, so ist er jedenfalls nicht in der Lage, die den Aktionären gewährte Leistung in der Form der Anteile an dem aufnehmenden Rechtsträger zu gewähren. Die gesamtschuldnerische Haftung auch des übernehmenden Rechträgers31 wird oft schon deshalb nicht weiterhelfen, weil die fünfjährige Enthaftungsfrist bei Beendigung des Spruchverfahrens schon abgelaufen sein mag32. Sinnvoll wäre es wohl, die Verpflichtung zur Gewährung weiterer Anteile im Verhältnis des Wertes des abgespaltenen Vermögens zum Gesamtunternehmen dem aufnehmenden und dem übertragenden Rechtsträger zuzuordnen. Entsprechendes müsste für den Fall der Aufspaltung gelten. ee) Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Notwendigkeit von Rundungen, zumal dann, wenn mehrere zusätzlich ausgleichspflichtige Kapital- oder Struk-

__________ 30 Zur Berechnung dieser Anzahl siehe Wiedemann in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1994, § 189 AktG Rz. 18; Wiedemann spricht plastisch von „Gratisaktien“, die aufgrund der alten Aktien hätten bezogen werden können. 31 § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG. 32 Zu den Haftungsverhältnissen, wenn der „Hauptschuldner“ sich durch die Spaltung der zur Erfüllung der Schuld erforderlichen Mittel begibt, siehe Maier-Reimer in Semler/Stengel (Fn. 3), 2. Aufl. 2007, § 133 UmwG Rz. 41.

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turmaßnahmen in Folge durchgeführt werden. Durchführbar ist ein Ausgleich nur, wenn am Ende eine bestimmte – auch gebrochene – Zahl von zusätzlichen Aktien steht, die je Aktie, auf der die Berechtigung beruht, zu gewähren ist. Dies kann dann zu Abrundungen pro Depot auf die nächst niedrigere Zahl von ganzen Aktien führen. In den Zwischenschritten – Festlegung der ursprünglich erforderlichen Zahl zusätzlicher Aktien und den auf Grund der einzelnen Maßnahmen gebotenen weiteren Ausgleichsleistungen – sollten dagegen keine Rundungen erfolgen. Denn depotbezogene Rundungen für diese Zwischenstufen wären nicht praktikabel. Rundungen für jede einzelne Aktie würden – sofern nicht auch Aufrundungen vorgesehen würden – das Ergebnis zu stark verändern. Die Beispiele mögen genügen, um die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die sich aus der Abwicklung eines in dieser Weise berechneten Ausgleichs ergeben würden. b) Außer den praktischen Schwierigkeiten der Abwicklung ist der Einfluss zwischenzeitlicher Wertänderungen zu berücksichtigen. Wäre die Verschmelzung von vornherein zu dem „richtigen“ Umtauschverhältnis erfolgt, so hätten die dann auf Grund des Spruchverfahren ausgleichsberechtigten Aktionäre an den tatsächlich eingetretenen Wertveränderungen teilgenommen. Das spricht auf den ersten Blick für diesen Weg der Herstellung des „richtigen“ Umtauschverhältnisses. Aber: Hätten die ausgleichsberechtigten Aktionäre die ihnen dann auf Grund des Spruchverfahrens zugeteilten Aktien von vornherein erhalten, so hätten sie diese veräußern können und vielleicht auch veräußert und damit die Auswirkungen eines zwischenzeitlich eingetretenen Wertverfalls vermieden oder sich um den Vorteil zwischenzeitlich eingetretener Wertsteigerungen gebracht. Gerade dieser Punkt erweist, dass die nachträgliche Herstellung desjenigen Umtauschverhältnisses, das ursprünglich richtig gewesen wäre, keineswegs zwingend das gedanklich richtige Ergebnis erreicht. c) Für diesen Weg des Ausgleichs in Aktien könnte dagegen ein verfahrensrechtlicher Aspekt sprechen: Als Folge des Spruchverfahrens ergibt sich notwendig die Anzahl der erforderlichen Aktien. Es bedarf insoweit keiner zusätzlichen Feststellungen und Entscheidungen des angerufenen Gerichts – allerdings vorbehaltlich der Anpassungen zur angemessenen Berücksichtigung zwischenzeitlich erfolgter Maßnahmen der oben angesprochenen Art33. d) Wird der Ausgleich in Aktien dem Ausgleichspflichtigen als Ersetzungsbefugnis eingeräumt34,so spricht dies zwingend gegen die Bemessung der Anzahl der zu gewährenden Aktien nach dem ursprünglich richtigen Umtauschverhältnis: der Ausgleichspflichtige würde diese Ersetzungsbefugnis nur ausüben, wenn seine Aktien im Kurs gefallen oder weniger gestiegen sind, als es der Verzinsung des Barausgleichs entspricht.

__________ 33 Siehe oben II.4.a). 34 Siehe unten III.1.

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5. Berechnung nach dem aktuellen Börsenkurs Gegenüber der Bemessung der zu gewährenden Aktien nach dem ursprünglich richtigen Umtauschverhältnis bietet die Berechnung nach dem aktuellen Börsenkurs erhebliche Vorteile. a) Ausgangspunkt ist dabei, dass der Ausgleich jedenfalls zunächst als Barausgleich berechnet wird. Dieser in bar zu berechnende Ausgleich erhöht sich um die gesetzlich bestimmten Zinsen für die Zwischenzeit35. Zum Ausgleich eines so berechneten Betrages ist diejenige Anzahl von Aktien erforderlich, deren aktueller Börsenwert dem zu zahlenden Betrag entspricht. Zwischenzeitliche Wertveränderungen kommen in dem Börsenkurs zum Ausdruck und haben deshalb unmittelbaren Einfluss auf die Anzahl der zu gewährenden Aktien. Zwar nehmen die ausgleichsberechtigten Aktionäre dann nicht an zwischenzeitlich eingetreten Wertsteigerungen teil. Das entspricht jedoch auch der heutigen Lage, bei der nur ein Anspruch auf Barzahlung besteht. Überdies kann die Verzinsung als pauschaler Ausgleich für sonst zu erwartende Wertsteigerungen verstanden werden. Dass der gesetzliche Zinssatz insofern zu niedrig sein mag, steht auf einem anderen Blatt. b) Gegen die Bemessung der Anzahl der Aktien nach dem aktuellen Börsenkurs wird auch die Möglichkeit angeführt, den Kurs durch gezielte Käufe oder Verkäufe zu beeinflussen36. Praktisch wird eine solche Möglichkeit indessen nur bestehen, wenn der Kurs wegen Marktenge durch Kauf oder Verkauf relativ weniger Aktien manipulierbar ist. Ist dies der Fall, so sollte eine Berechnung nach dem Börsenkurs ohnehin ausscheiden. Außerdem kann dieser Möglichkeit durch geeignete Bestimmungen des Referenzzeitraums für den maßgebenden Börsenkurs entgegengewirkt werden. c) Freilich wird der Weg zur Bemessung der Anzahl der Aktien nach den Börsenkursen nicht immer zur Verfügung stehen, nämlich dann nicht, wenn die Anteile des übernehmenden Rechtsträgers überhaupt nicht börsennotiert sind, oder wenn wegen Marktenge der Börsenwert der Aktien nicht ihrem realisierbaren Verkehrswert entspricht37. Insoweit wird die Berechnung nach dem ursprünglich richtigen Umtauschverhältnis als Auffanglösung zur Verfügung stehen müssen. d) Nach dem Vorschlag des Handelsrechtsausschusses sollte das Gericht im Spruchverfahren die Anzahl der Aktien festsetzen und zwar, zur Gewährleistung eines möglichst zeitnahen Börsenkurses, auf der Grundlage des gewichteten Durchschnittskurses der letzten drei Monate vor dem vorletzten Handelstag vor der Entscheidung des Gerichts38. Der Handelsrechtsausschuss war davon ausgegangen, dass sich dieser Kurs von dem Gericht problemlos feststel-

__________ 35 § 15 Abs. 2 UmwG. 36 Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 39; dazu auch schon Handelsrechtsausschuss des DAV (Fn. 1), NZG 2007, 497, 502. 37 Darauf weist auch Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 39 hin. 38 Handelsrechtsausschuss des DAV (Fn. 1), NZG 2007, 497, 502; in Anlehnung an § 31 Abs. 1 WpÜG, §§ 5 ff. WpÜG-AngebotsVO.

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len lässt und dass es wegen der eindeutigen Bezugsgröße auch nicht mehr des rechtlichen Gehörs zur genauen Ermittlung bedürfe. Insoweit ist eingewandt worden, dass die Annahme des Handelsrechtsausschusses hinsichtlich der Feststellbarkeit der maßgebenden Kurse unrealistisch sei und auch Bedenken gegen den Ausschluss des rechtlichen Gehörs bestehen39. Diesem Einwand kann dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht im Spruchverfahren lediglich festlegt, auf welcher Grundlage die Zahl der zu gewährenden Aktien zu bestimmen sei, einschließlich des Referenzzeitraums für die Ermittlung der Aktienkurse. Das Gericht könnte dann auch einen Referenzzeitraum festlegen, der nach seiner Entscheidung endet, beispielsweise einige Handelstage vor dem Zeitpunkt, zu dem die Aktien tatsächlich zur Verfügung stehen. e) Das Gericht des Spruchverfahrens müsste also entscheiden, ob die Voraussetzungen der Berechnung nach dem Börsenkurs gegeben sind und, bejahendenfalls, welcher Geldbetrag, gegebenenfalls (einschließlich Zinsen zu welchem Satz bis zu welchem Zeitpunkt) in Aktien abzufinden ist und welcher Zeitraum für die Bestimmung der Kurse maßgeblich ist. Wenn sich nach einer solchen Entscheidung bei der konkreten Abwicklung Streitigkeiten ergeben, sind diese dann in einem regulären Streitverfahren zu entscheiden.

III. Weitere Modalitäten des Ausgleichs in Aktien 1. Ersetzungsbefugnis Nach dem Vorschlag des Handelsrechtsausschusses ist der Ausgleich nicht notwendig in Aktien zu leisten. Vielmehr soll der Ausgleich in Aktien als Ersetzungsbefugnis für die Gesellschaft geregelt werden40. Der Ausgleich würde danach wie bisher vom Gericht des Spruchverfahrens primär als Barausgleich festgelegt, der nach dem zu bestimmenden Verfahren41 nach Wahl der Gesellschaft auch in Aktien erfüllt werden kann42. Für die Regelung als Ersetzungsbefugnis sprechen mehrere Gründe: Ist der zu leistende Ausgleich unbedeutend, so mag die Abwicklung in bar effizienter sein. Die Gründe, die für die Ermöglichung einer Leistung in Aktien sprechen, verlieren dann ihr Gewicht. Hinzu kommen die Schwierigkeiten, einen Anspruch auf Aktien durchzusetzen, wenn dazu etwa eine Beschlussfassung der Hauptversammlung der ausgleichspflichtigen Gesellschaft erforderlich wäre, die die Aktien erst durch eine Kapitalerhöhung schaffen müsste.

__________ 39 So der Präsident des OLG Stuttgart, Stilz, in dem Symposion am 24.10.2007 in Frankfurt a.M. 40 Handelsrechtsausschuss des DAV (Fn. 1), NZG 2007, 497, 500. 41 Siehe oben II.2. 42 So bereits Philipp, AG 1998, 264, 271; ebenso Martens, AG 2000, 301, 308; gegen die Ausgestaltung als Ersetzungsbefugnis Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 40 unter Hinweis auf die Stimmrechtsverwässerung; dazu oben I.4. und unten III.3.

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Die Möglichkeit zur Ausübung der Ersetzungsbefugnis muss der Gesellschaft offen stehen, bis sie das endgültige Ergebnis des Spruchverfahrens kennt. Sie braucht dies also nicht etwa bereits in dem Verschmelzungsvertrag zu tun. 2. Grenzen des Ausgleichs Für den Barausgleich bestehen Grenzen unter dem Gesichtspunkt der Kapitalerhaltung. Nach herrschender Meinung ist der Anspruch auf den Barausgleich so lange gehemmt, wie die Auszahlung des Barausgleichs das gebundene Kapital der Gesellschaft angreifen würde43. Für den Barausgleich stehen demnach nur ausschüttungsfähige Rücklagen zur Verfügung44. Soll der Ausgleich durch Aktien erfolgen, so können diese Grenzen weiter gezogen werden. Da durch den Ausgleich in Aktien kein Vermögen der Gesellschaft abfließt und deshalb Gläubigerinteressen nicht berührt sind, kann der Ausgleich in Aktien so lange erfolgen, wie Rücklagen zur Verfügung stehen, die bei einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln in Grundkapital umgewandelt werden können. Das kann durch Gesetz unabhängig davon vorgesehen werden, ob die Schaffung der neuen Aktien in Anlehnung an die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln oder an eine Sachkapitalerhöhung gegen Einlage des „an sich“ bestehenden Ausgleichsanspruchs in bar geregelt wird45. Im Interesse der ausgleichsberechtigten Aktionäre sollte bestimmt werden, dass eine Gesellschaft, die aus Gründen des Kapitalschutzes den Ausgleich in bar nicht leisten dürfte, verpflichtet ist, im Rahmen des Möglichen den Ausgleich durch Aktien zu leisten. 3. Schutz gegen Stimmrechtsverwässerung Der Ausgleich in Aktien kann auch ein Mittel sein, das Problem der Stimmrechtsverwässerung zu lösen oder jedenfalls zu mildern. Deshalb könnte der Ausgleich in Aktien obligatorisch vorgeschrieben werden, soweit dies zur Vermeidung einer Stimmrechtsverwässerung sachgerecht erscheint. Schwierigkeiten ergeben sich dann bei der Abgrenzung der Fälle, in denen dies gelten soll. a) In Betracht käme einmal ein individuelles Wahlrecht der ausgleichsberechtigten Aktionäre. Das erschiene wenig zweckmäßig, weil dadurch die ordnungsgemäße Vorbereitung und Durchführung des Ausgleichs für die betroffene Gesellschaft unzumutbar erschwert würde. b) Denkbar wäre ein zwingender Ausgleich in Aktien oder nach Wahl des betroffenen Aktionärs in denjenigen Fällen, in denen der Aktionär als Folge der

__________ 43 Bork in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 15 UmwG Rz. 5; Gehling (Fn. 3), § 15 UmwG Rz. 22 ff.; Ihrig, ZHR 160 (1996), 317, 336; GmbHR 1995, 622, 632; MarschBarner (Fn. 3), § 15 UmwG Rz. 2; Hoger, AG 2008, 149, 158. 44 Ihrig, ZHR 160 (1996), 317, 336; ders., GmbHR 1995, 622, 632. 45 Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 40 sieht einen systematischen Widerspruch darin, dass der Handelsrechtsausschuss den Weg über die Sacheinlage vorschlägt, aber bezüglich der Grenzen auf den Maßstab der §§ 207, 208 AktG zurückgreifen will.

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Maßnahme eine bestimmte Beteiligungsschwelle unterschritten hat. Maßgebend sollte in diesem Fall die Beteiligung im Zeitpunkt der dem Ausgleich zugrunde liegenden Maßnahme, also des Hauptversammlungsbeschlusses sein. Diese Voraussetzung könnte verbunden werden mit einer weiteren Voraussetzung, wonach ein solches Optionsrecht für den betroffenen Aktionär nur im Falle von Konzernsachverhalten besteht, die dann näher definiert werden müssten. c) Wenn die Aktien seit der Verschmelzung stark im Kurs gestiegen sind, kann der – nach dem aktuellen Börsenkurs berechnete – Ausgleich in Aktien eine Stimmrechtsverwässerung nicht in vollem Umfang rückgängig machen. Dies kann jedoch kein Grund sein, dem betroffenen Aktionär ein Wahlrecht zu geben, für diesen Fall eine andere Berechnung der Anzahl der ihm zu gewährenden Aktien zu erzwingen. Damit würde ihm nämlich die Möglichkeit gegeben, „Rosinen zu picken“ – zum Nachteil der anderen Beteiligten, ganz abgesehen davon, dass ein solches einzelnen Aktionären gewährtes Wahlrecht zu einer anderen Bemessung (nicht zu einer anderen Zahlungsweise) des Ausgleichs mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung unvereinbar wäre.

IV. Ausblick Die Ermöglichung eines Ausgleichs durch Aktien statt durch Barausgleich bleibt ein wichtiges rechtspolitisches Anliegen, ebenso wie die Eröffnung des Spruchverfahrens für Bewertungsrügen der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft. Für die Ausgestaltung im Einzelnen ergeben sich zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten. Eine perfekte Lösung, die in allen denkbaren Fällen jegliche Ungerechtigkeit vermeidet, ist nicht möglich. Insgesamt werden mit der vom Handelsrechtsausschuss vorgeschlagenen Ersetzungsbefugnis in der vom Handelsrechtsausschuss konkretisierten Art Lösungen ermöglicht, die gegenüber dem geltenden Recht bei weitem den Vorzug verdienen.

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Der Durchgriff in der Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht in Argentinien und Uruguay Inhaltsübersicht I. Einleitung – Vergleich des argentinischen und des urugayischen Rechts II. Wirkung der Uneinwendbarkeit 1. Zurechung einer Verpflichtung der Gesellschaft auf den Gesellschafter oder die Kontrollperson 2. Zurechnung eines Rechts der Gesellschaft zu einem Gesellschafter oder einer Kontrollperson 3. Zurechnung von Handlungen oder Verpflichtungen des Gesellschafters oder der Kontrollperson auf die Gesellschaft III. Konsequenz der Anwendung von Art. 54 Abs. 3 LSC IV. Die konkreten Elemente, die die Uneinwendbarkeit begründen 1. Ein Handeln der Gesellschaft 2. Verschleierte Verfolgung außergesellschaftlicher Zwecke 3. Das „bloße“ Mittel 4. Die Verletzung des Rechts und der öffentlichen Ordnung

5. Die Verletzung des guten Glaubens und die Vereitelung von Rechten Dritter 6. Erfordernis eines subjektiven Elements für die Uneinwendbarkeit? V. Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 54 Abs. 3 LSC VI. Aktivlegitimation VII. Die Reichweite der Haftung in Art. 54 Abs. 3 LSC a. E. 1. Die haftenden Rechtssubjekte 2. Der Empfänger der Entschädigung 3. Die Folgen der Haftungspflicht 4. Die Haftung im uruguayischen Recht VIII. Die Uneinwendbarkeit und gutgläubige Dritte IX. Weitere Probleme bezüglich der Anwendung der Norm

Ich widme diesen Beitrag zum Gesellschaftsrecht in Argentinien und Uruguay meinem guten Freund Karsten Schmidt zu seinem 70. Geburtstag. Der Wert seines Schaffens für das deutsche, aber auch das internationale Handels- und Gesellschaftsrecht ist nicht schätzbar. Ihm zu Ehren befasse ich mich auf den folgenden Seiten mit dem Durchgriff im argentinischen und uruguayischen Recht, einem Rechtsinstitut, das in dieser Form in den europäischen Rechtsordnungen nicht vorgesehen ist. Der Rahmen der Möglichkeiten erlaubt mir dabei nur eine deskriptive Darstellung des Themas, da tiefergehende theoretische Ausführungen den Umfang dieses Beitrags sprengen würden. Ich beschränke mich daher darauf, die Regel auf diesem Wege in Deutschland einem größeren Kreis von Interessierten bekanntzumachen.

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I. Einleitung – Vergleich des argentinischen und des urugayischen Rechts Als jahrelang einzige bekannte westliche Rechtsordnungen1 sehen das geschriebene Recht in Argentinien und Uruguay die Möglichkeit der Zurechnung eines Verhaltens der Gesellschaft auf Gesellschafter und Kontrollpersonen vor. In das argentinische Gesetz über die Handelsgesellschaften2 (im Folgenden: LSC) wurde 1983 folgender Art. 54 Abs. 3 eingefügt: „Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit. Ein Handeln der Gesellschaft, das die Verfolgung außergesellschaftlicher Zwecke verschleiert oder ein bloßes Mittel darstellt, um das Gesetz, die öffentliche Ordnung oder den guten Glauben zu verletzen oder die Rechte Dritter zu vereiteln, wird direkt den Gesellschaftern oder den Kontrollpersonen, die dies ermöglicht haben, zugerechnet. Sie haften als Gesamtschuldner und unbegrenzt für die verursachten Nachteile.“

Der uruguayische Gesetzgeber folgte dem argentinischen im Jahre 1989 und nahm ebenfalls die Einrede der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit in das positive Recht auf. Dabei übernahm er die Kernpunkte der argentinischen Regelung, wich aber im Methodologischen und bezüglich des Umfangs der Wirkungen von der argentinischen Regelung ab. Im uruguayischen Gesetz über die Handelsgesellschaften3 heißt es: „Abschnitt IV – Über die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit Artikel 189. (Zulässigkeit). – Von der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft kann abgesehen werden, wenn diese in arglistiger Umgehung des Rechts, zur Verletzung der öffentlichen Ordnung oder mit Hinterlist und zum Nachteil der Rechte der Gesellschafter, Aktionäre oder Dritter verwendet wird. Die tatsächliche Nutzung der Handelsgesellschaft als rechtliches Instrument zur Erreichung der genannten Ziele muss zweifelsfrei bewiesen werden. Wenn die Uneinwendbarkeit im Klagewege geltend gemacht wird, finden die Regeln des ordentlichen Prozesses Anwendung. Artikel 190. (Wirkungen). – Die Erklärung der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft entfaltet nur in dem konkreten Fall Wirkung, in dem sie erklärt wird. Zu diesem Zweck werden demjenigen oder denjenigen, die es betrifft, entsprechend dem Recht, das Vermögen oder bestimmte Güter, Rechte oder Verpflichtungen der Gesellschaft zugerechnet.

__________ 1 Der neue brasilianische Código Civil von 2002 sieht in Art. 50 bezogen auf alle juristischen Personen neuerdings auch vor, dass im Fall des Missbrauchs der juristischen Person, charakterisiert durch ein Abweichen vom Zweck oder durch die Konfusion von Vermögen, der Richter auf Antrag einer Partei oder des Staatsanwalts, wenn dieser an dem Prozess beteiligt ist, entscheiden kann, dass die Wirkungen bestimmter Schuldbeziehungen auf das eigene Vermögen der Geschäftsführer oder Gesellschafter der juristischen Person ausgeweitet werden. 2 Ley Nº 19.550 v. 3.4.1972 – Ley de las Sociedades Comerciales. 3 Ley Nº 16.060 – Sociedades Comerciales v. 1.11.1989.

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Der Durchgriff im Gesellschaftsrecht in Argentinien und Uruguay In keinem Fall kann das Absehen von der Rechtspersönlichkeit gutgläubige Dritte beeinträchtigen. Die Anwendung des Vorgesagten lässt die persönliche Verantwortung der Teilnehmer an den Handlungen je nach dem Grad ihrer Beteiligung und ihrer Kenntnis unberührt.“

Weiterhin sieht Art. 191 des uruguayischen Gesetzes eine Eintragung als Sicherungsmaßnahme, die von dem Gericht angeordnet werden kann, vor. Auch schon vor der positivrechtlichen Kodifizierung haben sich die Gerichte in Argentinien und Uruguay, oft der von Serick entwickelten Theorie zum Durchgriff4 folgend, mit dem Problem der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit im Gesellschaftsrecht beschäftigt und eine Zurechnung zu den Gesellschaftern in bestimmten Fällen angenommen5. Die genannten Normen modifizieren die Trennung der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft von der ihrer Gesellschafter oder Kontrollpersonen mit der Wirkung, dass die Gesellschaft ihr Wesen als juristische Person Dritten im Einzelfall unter bestimmten Umständen für ein konkretes Rechtsgeschäft nicht entgegenhalten kann. Der Kreis der Legitimierten ist im argentinischen Recht dabei auf Dritte beschränkt, während im uruguayischen Recht auch Gesellschafter und Aktionäre von der Regelung umfasst sind (auch wenn in diesen Konstellationen Anwendungsfälle nur schwer vorstellbar sind). Weiterhin findet sich im uruguayischen Recht kein Bezug zum guten Glauben als Institut, dessen Verletzung zur Anwendung der Norm führen kann. Auch dieser Unterschied ist in der Praxis aber allenfalls marginal, da der gute Glauben ein allgemeines Rechtsprinzip darstellt. Im Gegenzug verlangt die uruguayische Regelung bezüglich der Benachteiligung der Rechte Dritter das Zusammentreffen von Hinterlist und Nachteil, anstatt sich auf die Vereitelung zu beschränken. Dadurch scheint ein unterschiedlicher subjektiver Ansatz in die Voraussetzungen der Anwendung des Instituts eingeführt worden zu sein, dessen Vorhandensein im argentinischen Recht umstritten ist. Der zweite und dritte Absatz von Art. 189 des uruguayischen Rechts bringen durch die strenge Beweisführungsregel die Außergewöhnlichkeit der Maßnahme zum Ausdruck und beschäftigen sich mit prozessualen Aspekten. So kann die Uneinwendbarkeit auch als Verteidigungsmittel und als Einrede eingeführt werden. Art. 190 des uruguayischen Rechts normiert, was in der Rechtsvergleichung und im argentinischen Recht von der Lehre rezipiert wurde: Die Wirkung der Uneinwendbarkeit betrifft allein und ausschließlich den konkreten Fall, in dem sie erklärt wurde. Im zweiten Absatz wird der Kreis der Personen festge-

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4 Serick, Rechtsform und Realität juristischer Personen, 1955. 5 S. Argentinien: CSJN, Parke Davis y Cía. S. A., 31.7.1973, La Ley, 151–353 (zu einer steuerrechtlichen Angelegenheit); CSJN, Compañia Swift La Plata S. A., 4.9.1973, La Ley 151, 515 (zur Zurechnung eines Konkurses zu einer ausländischen Mutter- und verschiedener argentinischer Schwestergesellschaften); Uruguay: L.J.U., Band 23, caso 3390 (aus 1951); Urteil 276 v. 11.9.1973 des 5. Zivilturnus.

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legt, den die Wirkungen der Regelung treffen können. Die uruguayische Regelung ist, im Gegensatz zur argentinischen, nicht nur auf Gesellschafter und Kontrollpersonen anwendbar, sondern es kann jedweder Dritte von der Regelung betroffen sein. Dies stellt unzweifelhaft einen Vorteil im Fall von Unternehmensgruppen dar, da somit auch anderen Gesellschaften, die von derselben Muttergesellschaft kontrolliert werden – oder, in anderen Worten, allen Gesellschaften, die zur selben Gruppe gehören – die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit entgegengehalten werden kann6. Die Zurechnung kann im uruguayischen Recht ohne weitere juristische Konstrukte horizontal ausgeweitet werden, während es in Argentinien einer gleichzeitigen doppelten Missachtung der Rechtspersönlichkeit bedarf, indem in einem Verfahren der Muttergesellschaft und über diese der Tochtergesellschaft zugerechnet wird. In Art. 190 Abs. 3 des uruguayischen Gesetzes wird klargestellt, dass die Rechte der gutgläubigen Dritten denen der Personen vorgehen, die die Uneinwendbarkeit geltend machen. Das argentinische LSC trifft dagegen keine Regelung bezüglich des Verhältnisses zwischen gutgläubigen Dritten und denjenigen, die die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit geltend machen. Zuletzt wird in Art. 190 Abs. 4 des uruguayischen Gesetzes die Haftung nicht auf bestimmte Beteiligte begrenzt, sondern es werden alle, „die an den Handlungen teilgenommen haben“, umfasst, während das LSC ausdrücklich nur die Gesellschafter und Kontrollpersonen nennt. Der Schutz der Rechte derjenigen, die die Uneinwendbarkeit geltend machen, sowie der übrigen Dritten, wird über Art. 191 des uruguayischen Rechts sichergestellt.

II. Wirkung der Uneinwendbarkeit Die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit erlaubt es, juristische Beziehungen, Verpflichtungen und Rechte anderen Personen zuzuschreiben, als denjenigen, denen diese ursprünglich aktiv oder passiv zustanden. Der Oberste Gerichtshof von Uruguay (Suprema Corte de Justicia) hat dies mit Bezug auf Art. 189 Ley 16.060 so ausgedrückt: „Der ‚disregard‘ ist eine außergewöhnliche Maßnahme, mittels derer dem Richter die Möglichkeit gegeben wird, in das Innere einer juristischen Person einzudringen und bis zu den natürlichen (oder juristischen) Personen, die sie bilden, und bis zu ihrer wirtschaftlichen Basis vorzudringen, um so die einschlägigen Rechtsnormen anzuwenden und den Missbrauch der Rechtspersönlichkeit abzuwenden.“7 Dies geschieht nach der Fassung der Norm, unter bestimmten Umständen, im Wege der Zurechnung des Handelns der Gesellschaft, deren Rechtspersönlichkeit als uneinwendbar erklärt wird, zu den Gesellschaftern oder Kontrollpersonen. Die Un-

__________ 6 Dazu in Uruguay J. Conc. 1º T., 11.5.2005, J. M. c/ Banco La Caja Obrera en liquidación y otros. 7 In Uruguay S. C. J., 9.3.2000, Celis, Blanca y otros c/ Sucesores de Menéndez y Cía. y otros.

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einwendbarkeit kann von jedem geltend gemacht werden, der ein Interesse daran aus Beziehungen zu der Gesellschaft, den Gesellschaftern oder den Kontrollpersonen der Gesellschaft hat. So ist, um einen der Anwendungsfälle herauszugreifen, die Finalität der „Vereitelung der Rechte Dritter“ weit und allgemein, und jeder Dritte, der sich in einer solchen Situation aufgrund eines Handelns der Gesellschaft befindet, wird durch die Norm berechtigt. Dies ist zu unterscheiden von dem freundlichen Durchgriff, mittels dessen die Gesellschaft Rechte geltend macht, die eigentlich den Gesellschaftern oder Kontrollpersonen zustehen. Dieser wird nicht ausdrücklich von der Regelung umfasst8. 1. Zurechung einer Verpflichtung der Gesellschaft auf den Gesellschafter oder die Kontrollperson Der häufigste Anwendungsfall für das Institut der Uneinwendbarkeit ist, dass die Verantwortung der Gesellschaft für Verpflichtungen, die diese übernommen hat, aber aus irgendwelchen Gründen nicht erfüllen kann, auf die Gesellschafter oder Kontrollpersonen übertragen wird. Otaegui nennt dies „direkte aktive Uneinwendbarkeit“. Das Institut hat in den letzten Jahren seine breiteste Anwendung im Bereich des Arbeits- und Vorsorgerechts, insbesondere bezüglich Schwarzarbeit, gefunden9. Dieser Ausweitung des Anwendungsbereichs der Regelung ist allerdings mit Vorsicht zu begegnen, da sie der in der Norm angelegten restriktiven Auslegung widerspricht und eine Ausweitung der Anwendung über das Gesellschaftsrecht hinaus unterbleiben sollte. 2. Zurechnung eines Rechts der Gesellschaft zu einem Gesellschafter oder einer Kontrollperson Den Gesellschaftern oder Kontrollpersonen können von den Dritten nicht nur Verpflichtungen, sondern auch Rechte entgegengehalten werden, die dann gegenüber dem Gesellschafter oder der Kontrollperson anstelle der Gesellschaft erfüllt werden können. Folge der Geltendmachung der Uneinwendbarkeit ist, dass das von der Zurechnung betroffene Vermögen oder die Güter der Gesellschaft nicht mehr als von dem Vermögen oder den Gütern des Gesellschafters oder der Kontrollperson getrennt angesehen werden, soweit die Rechtsverhältnisse zu dem Dritten betroffen sind. Dabei wird nicht die Verpflichtung auf die Gesellschaft übertragen, sondern es wird die Rechtsinhaberschaft oder das Eigentum an einer Sache dem Dritten gegenüber als dem Gesellschafter oder der Kontrollperson zustehend angesehen mit der Folge, dass dieser die Uneinwendbarkeit dem

__________ 8 Der „freundliche Durchgriff“ wird aber von der Rechtsprechung, auch schon in der Zeit vor dem Erlass von Art. 54 Abs. 3 LSC, anerkannt, s. in Argentinien Cámara de Paz de la Cap. Fed., Fernández Anchorena c/ Semadeni S. R. L., J. A., Band 1969-3, S. 52; CSJN, Kellog Cía. Argentina S. A., 26.2.1985, La Ley, Band 1985.B, S. 414. 9 Roitman, Ley de Sociedades Comerciales, Band I, Art. 1 bis 60, 2006; siehe aber zu der teilweise fehlerhaften Anwendung durch die Arbeitsgerichte in Argentinien CSJN, 3.4.2003, Palomeque, Aldo R. c/ Benemeth S. A. y otro, LA LEY, 2003-C, 864.

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Gesellschafter oder der Kontrollperson gegenüber geltend machen kann. Die Trennung des Gesellschafts- und des Gesellschaftervermögens bleibt aber bestehen10. 3. Zurechnung von Handlungen oder Verpflichtungen des Gesellschafters oder der Kontrollperson auf die Gesellschaft Weiterhin wird von Art. 54 Abs. 3 LSC der Fall umfasst, dass der Dritte die Haftung der Gesellschaft für das Handeln eines Gesellschafters verlangt. Dieser Fall war Gegenstand des Urteils „Angeleri Szabo c/ Szyszkowski“11 der Cámara Nacional de Apelaciónes en lo Comercial (Nationales Berufungsgericht für Handelssachen). Die Klägerin in diesem Verfahren hatte Geld an einen Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (S. R. L.) gegeben, das dieser als unwiderrufliche Einlage für zukünftige Kapitalerhöhungen annahm und verlangte nun die Umsetzung dieser Kapitalerhöhung und ihre Eingliederung als Gesellschafterin. Das Gericht gab der Klage unter Berufung auf Art. 54 Abs. 3 LSC statt, auch wenn es für die Kapitalerhöhung eigentlich eines formalen Entschlusses der Gesellschaft bedarf. Es rechnete der Gesellschaft das juristische Handeln eines ihrer Gesellschafter so zu, „als ob die für das Erreichen des endgültigen Ziels notwendigen Handlungen, die nur darin bestehen konnten, die Klägerin in dem Maße in die Gesellschaft einzugliedern, wie es der von ihr geleisteten Einlage in Übereinstimmung mit dem – ausdrücklich oder stillschweigend – von der Gesamtheit der Gesellschafter erklärten Willen entsprach“. Generell gesprochen handelt es sich um die typischen Fälle von Vereitelung, Bruch oder Umgehung vertraglicher Rechte und Pflichten, für die die Gesellschaft instrumentalisiert wird: diese tut, was der Gesellschafter oder die Kontrollperson sich zu unterlassen oder zu tun verpflichtet hat (z. B. ein Produkt exklusiv zu verkaufen). Der Gläubiger der Unterlassungsverpflichtung wird sich in diesem Fall einerseits gegen den Schulder, d. h. den Gesellschafter oder die Kontrollperson wenden. Will er aber die grundsätzliche Erfüllung der Unterlassenspflicht, was, da es sich um eine Dauerverpflichtung handelt, für ihn von gesteigertem Interesse ist, wird er verlangen, dass dieselbe Verpflichtung auch der Gesellschaft zugerechnet wird, um ihre Erfüllung zu sichern.

III. Konsequenz der Anwendung von Art. 54 Abs. 3 LSC Art. 54 Abs. 3 LSC begründet die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit, wodurch ein teilweiser Entzug der Wirkungen allein gegenüber Dritten, insbesondere gegenüber dem Dritten, den der konkrete Anwendungsfall betrifft, bewirkt wird. Aus diesem Grund kommt es nie zur Nichtigkeit der Gesell-

__________ 10 Vgl. in Argentinien CNCom., Sala A, 24.3.2000, Mayéutica S. R. L. c/ Entrepreneur S. A., ED, 188–386 – LexisNexis 30001249; BGH, NJW-RR 1990, 738 – zit. in Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 246. 11 In Argentinien Incom., Sala A, 5-VII-1994, E.D., t. 162, p. 536.

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schaft. In vielen Fällen kommt es durch die Anwendung von Art. 54 Abs. 3 LSC zu einer Ausweitung der Zurechnung auf andere Personen oder, in anderen Zusammenhängen, zu einer Übertragung der Zurechnung auf die für die Handlung verantwortliche Person. Die Gesellschaft bleibt aber immer Verpflichtete in der rechtlichen Beziehung12. Durch Art. 54 Abs. 3 LSC wird also nur die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit, genauer gesagt, einiger ihrer Effekte, bestimmt. Nach Ansicht von Teilen der Literatur handelt es sich nicht um eine Frage der Rechtspersönlichkeit, sondern um die Nichtanwendbarkeit einer Beschränkung des Gesellschaftstyps, insbesondere der Haftungsbeschränkungen13. Die Rechtsprechung hat sich jedoch eindeutig dagegen ausgesprochen14. Da Art. 54 Abs. 3 im Allgemeinen Teil des LSC steht, betrifft er alle Gesellschaftstypen, auch diejenigen, die eine gemeinschaftliche und unbegrenzte Verantwortlichkeit der Gesellschafter vorsehen, egal ob diese subsidiär (z. B. in der sociedad colectiva) oder direkt (z. B. sociedades irregulares, sociedades de hecho – unregelmäßige oder tatsächliche Gesellschaften) ist. Es ist festzuhalten, dass sich die Gesellschaft über die Berufung auf das Gesellschaftsrecht nicht ihrer Eigenschaft als solcher oder ihren Verpflichtungen entziehen kann, sondern die Rechtspersönlichkeit allein dem Dritten gegenüber, der sich darauf beruft, nicht entgegengehalten werden kann. Die Gesellschaft selbst kann sich nicht auf Art. 54 Abs. 3 LSC berufen; auch wenn der Dritte sich auf die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft beruft, bleibt diese ihm gegenüber als Gesellschaft aus dem zwischen ihnen bestehenden Rechtsverhältnis verpflichtet. Art. 54 Abs. 3 LSC konstatiert keine bloße Haftungserweiterung. Regelungsziel ist nicht primär die Leistung von Schadensersatz durch Gesellschafter oder Kontrollpersonen für das vertragswidrige Verhalten der Gesellschaft, sondern allein die Erfüllung der Pflichten, die der Dritte im Wege des Rechtsinstituts der Uneinwendbarkeit direkt auf sie übertragen haben möchte. Ziel der Norm ist es vielmehr, für den Fall, dass die Gesellschaft zur Erreichung von gesellschaftsfremden Zwecken oder zu anderen, in der Norm genannten Zielen verwendet wird, es zu ermöglichen, dass dieses Handeln direkt den beteiligten Gesellschaftern oder Kontrollpersonen zugeschrieben wird. Es entsteht eine neue Zuschreibung der jeweiligen rechtlichen Beziehung Das durch die Norm zu befriedigende Interesse des Dritten besteht darin, demjenigen, zu dem er eine gescheiterte oder bedrohte Rechtsbeziehung unterhält – Schuldner, Ehepartner, Verursacher etc. –, den Titel oder das Recht zuzuschreiben, das für oder gegen die juristische Person des Gesellschaftsrechts

__________ 12 Str., s. Moeremans-Richard, Inoponibilidad de la personalidad jurídica como forma de extensión de la responsabilidad de socios o controlantes, Congreso Argentino de Derecho Comercial, Comisión II, septiembre de 1990, S. 193; Cabanellas, G., Derecho Societario. Parte General, Band III, 1994, S. 29, Fn. 6. 13 Moeremans-Richard (Fn. 12), S. 190–193, Cabanellas (Fn. 12), S. 28. 14 In Argentinien Cám. 7ª Civ. y Com. de Córdoba, 27. September 1995, L.L. Córdoba, 1996, S. 372.

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besteht, um so seine eigenen Interessen zu befriedigen. Dies wäre im Wege einer Haftungserweiterung von einem Subjekt, mit dem der Dritte ursprünglich nicht verbunden war (die Gesellschaft) auf einen Gesellschafter oder eine Kontrollperson, mit dem er voher schon verbunden war, nicht immer zu erreichen. Die von dem im Streit befindlichen Recht betroffenen Güter werden für die Geltendmachung des Rechts des Dritten den Gesellschaftern oder Kontrollpersonen, denen gegenüber das Recht geltendgemacht wird, zugeschrieben. Dies gilt allgemein und solange es für die Geltendmachung des Rechts notwendig ist, da eine Sache nur einer Person zustehen kann. Im Falle einer Schuld oder Erbverbindlichkeit wird die Inhaberschaft daran ausgeweitet, so dass die Schuld oder Erbverbindlichkeit Gesellschaft und Gesellschaftern/Kontrollpersonen gleichsam auferlegt wird. Schuldrechte können nämlich im Gegensatz zu dinglichen Rechten mehreren parallel zustehen. Als allgemeine Regel lässt sich festhalten: Nach dem LSC wird die Zurechnung ausgeweitet, ohne dass die Gesellschaft von ihrer Haftung befreit wird. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Ausweitung mit den betroffenen Rechten unvereinbar ist (z. B. im Fall von Sachenrechten). Dann geht die Zurechnung auf die Gesellschafter/Kontrollpersonen über.

IV. Die konkreten Elemente, die die Uneinwendbarkeit begründen 1. Ein Handeln der Gesellschaft Zunächst bedarf es eines Handelns der Gesellschaft. Dabei ist es nicht zwingend, dass der angegriffene Akt selbst unrechtmäßig ist; es genügt, dass mittels seiner ein unrechtmäßiges Ziel verfolgt wird. Entgegen dem Wortlaut der Norm, der von „actuación“, also „Handeln“ spricht, was auf das Erfordernis mehrerer Akte hindeuten könnte, genügt bereits ein einzelner Akt den Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 3 LSC, so z. B. dass der Gesellschaft ein Gut oder Vermögen übertragen wurde, um es dem Zugriff der Gläubiger oder des Ehegatten zu entziehen oder um den Pflichtteil des Erben zu schädigen. Dagegen kann es im Rahmen einer Gruppe von Gesellschaften, wenn der Bewertungsmaßstab die „Verfolgung außergesellschaftlicher Zwecke“ ist, sein, dass ein einzelner Akt oder sogar mehrere, die aber keine besondere Erheblichkeit haben, nicht ausreichend sind, um die Norm zur Anwendung zu bringen, obwohl mittels ihrer Zwecke verfolgt werden, die außerhalb der Gesellschaft liegen. Hier ist nach der Bedeutung des Handelns zu urteilen. 2. Verschleierte Verfolgung außergesellschaftlicher Zwecke Das Handeln muss „zur Verfolgung außergesellschaftlicher Zwecke“ erfolgt sein. Die Auslegung dieses Merkmals ist umstritten. Richtigerweise ist es aber auf das Handeln der Gesellschaft bezogen, nicht auf ihr Bestehen an sich. Andernfalls wären Fälle der zulässigen Simulation, wie bei einigen fingierten Filialen, aus dem Anwendungsbereich der Norm ausgeschlossen. 1098

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Das Handeln zur Erreichung außergesellschaftlicher Zwecke wird insbesondere dadurch deutlich, dass die Gesellschaft durch die Gesellschafter/Kontrollpersonen zur Verfolgung eigener Zwecke, die denen der Gesellschaft und ihrer funktionellen Autonomie entgegenstehen, instrumentalisiert wird. In weiter Auslegung des Wortlauts, der von „verbergen“ spricht, löst auch das Handeln mittels offensichtlicher Akte die Wirkung des Art. 54 Abs. 3 LSC aus. Um einem Missverständnis vorzubeugen sei klargestellt, dass Beurteilungsgrundlage im Rahmen des Art. 54 Abs. 3 LSC nicht das gesamte Handeln der Gesellschaft ist – obwohl dies in Extremfällen, wie etwa der Insolvenz so sein kann –, sondern dass die Wirkung der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit sich auf den Umfang begrenzt, der den konkreten Fall betrifft. Es kommt allein auf die Beziehung von konkreten Akten, Tun, Unterlassen oder dem Abschluss von Verträgen, die dem Gesellschafter oder der Kontrollperson entgegengehalten werden, und der Umgehung an und, innerhalb dieses engen Rahmens, auf die Erheblichkeit der Umgehung. Auch in Art. 189 des uruguayischen Gesetzes wird vorausgesetzt, dass vor Gericht glaubhaft bewiesen wird, dass die Gesellschaft tatsächlich als rechtliches Element gebraucht wurde, um eine Rechtsverletzung zu verwirklichen. Allerdings stellt die Rechtsprechung klar, dass an dieses Kriterium keine hohen Anforderungen zu stellen sind, sondern dass die Norm vielmehr weit auszulegen ist15. 3. Das „bloße“ Mittel Das Handeln der Gesellschaft muss „ein bloßes Mittel“ darstellen, um das missbilligte Ziel zu erreichen. Die häufige und ungenaue Verwendung der Qualifikation „bloß“, die der Rechtstext mit dem Mittel der Gesellschaft für die durch die Norm vorgeworfenen Ziele kuppelt, lässt die Bedeutung des Ausdrucks so erscheinen, als ob sich die Bestimmung nur an die bloß fiktive Schirmgesellschaft wendete. Auch wenn dieser sicherlich von der Norm umfasst ist, so ist ihr Anwendungsbereich doch wesentlich weiter. Es kommt allein, wie bereits oben gesagt, auf das Handeln der Gesellschaft an, das das Mittel zur Erreichung des verboteten Ziels darstellten muss. Es kommt also nicht darauf an, ob daneben noch weitere, legitime Zwecke verfolgt werden. Es kann sich in anderen Worten also um eine Schein- oder um eine tatsächlich existierende Gesellschaft handeln, die gänzlich oder teilweise zu einem Handeln benutzt wird, das ein Mittel darstellt, um die in der Norm verbotenen Zwecke zu erreichen. Ein Beispiel: Die Gesellschaft, die normalerweise ein Unternehmen betreibt, kann, wenn die Gläubiger drängen, als Mittel dazu dienen, deren Rechte mittels der Einlage oder der Übertragung von Gütern vom Gesellschafter auf die Gesellschaft zu vereiteln. Die Gesellschaft hätte in

__________ 15 In Uruguay T.A.C., 5ºT., 10.5.2000, Delgado Da Silva, Juan Carlos y otra c/ Los Murmullos S. A.

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diesem Fall ein Mittel dargestellt, um die Rechte der Dritten zu vereiteln, ist aber nicht an sich ein bloßes Mittel dazu. 4. Die Verletzung des Rechts und der öffentlichen Ordnung Durch den zugrunde liegenden Akt muss eine Rechtsverletzung oder eine Verletzung der öffentlichen Ordnung erfolgen. Generell kann man sagen, dass wenn es sich um Rechte handelt, die durch das Gesetz zugestanden werden und nicht aus einer vertraglichen schuldrechtlichen Beziehung herrühren, die Vereitelung dieser Rechte als Rechtsverletzung anzusehen ist. Die Verletzung des Pflichtteils im Erbrecht ist von der Rechtsprechung wiederholt als Fallgruppe angesehen worden, in der von der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft abgesehen wurde16. Die öffentliche Ordnung umfasst alle Normen mit Bezug zur Organisation der Gemeinde, der Moral, den guten Sitten und den grundlegenden Institutionen des Privatrechts. Nach der Rechtsprechung ist die öffentliche Ordnung „die Ordnung, die die Gesamtheit der grundlegenden Bedingungen im sozialen Leben, so wie sie in der juristischen Gemeinschaft begründet sind, darstellt und welche, da sie grundlegend deren Organisation betreffen, nicht vom Einzelnen verändert werden können.“17 5. Die Verletzung des guten Glaubens und die Vereitelung von Rechten Dritter Ebenfalls wird die Wirkung des Art. 54 Abs. 3 LSC durch eine Verletzung des guten Glaubens und der Beeinträchtigung der Rechte Dritter ausgelöst. Der gute Glauben folgt aus Art. 1198 Cód. Civ. Umstritten, aber im Ergebnis zu bejahen, ist die Annahme, dass Art. 54 Abs. 3 LSC erweiternd auch auf Akte Anwendung findet, die die Moral und die guten Sitten verletzen. Die Uneinwendbarkeit kann, da sie nur für den einzelnen Fall ausgesprochen werden kann, verhindern, dass zu demselben Zweck die Nichtigkeit der gesamten Gesellschaft erklärt werden muss. Dies stellt klar, dass es um die Benutzung der Gesellschaft als Instrument geht und nicht um illegales Handeln der Gesellschaft an sich18. Die Verletzung der Rechte Dritter umfasst alle Rechte dieser Personen, so z. B. das Verbergen von Gütern, Verstöße gegen das Insolvenzrecht oder die Nichterfüllung von Vertragspflichten. Ein besonderes Interesse am Direktdurchgriff besteht in den Fällen, in denen die Erfüllung der versprochenen Leistungen durch Sachen gefordert wird, die nur von der Person geleistet werden können,

__________ 16 S. in Argentinien Cam. Apel. Civ. y Com. de Concepción de Uruguay, 9.2.1979, „Morrogh Bernard“, L.L., Band 1979-D, S. 237, der Fall, in dem der Erbe aus eigenem Willen nicht Teil der Gesellschaft zwischen dem Vater und seinen Brüdern wurde. 17 In Argentinien CNCiv. Sala C, 26.8.1980, L.L., t. 1981-A, S. 243. 18 S. dazu in Argentinien SCBA, 9.4.2002, Aguirre, Félix Fernando c/ Caja de Ahorro y Seguros S. A. y otro, CC0002, SM 50557, RSD-24-2 S, www.scba.gov.ar/juba.

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auf die die Zurechnung übertragen oder ausgeweitet wird, sei es, weil es sich um nicht vertretbare Sachen handelt, die sich in dessen Besitz befinden, sei es, weil es sich um Gegenstände handelt, die nur diese Person zur Verfügung stellen kann. 6. Erfordernis eines subjektiven Elements für die Uneinwendbarkeit? Im Gegensatz zu dem in Deutschland intensiv geführten Meinungsstreit in der Rechtslehre darüber, ob der Durchgriff im Gesellschaftsrecht eines subjektiven Elements bedarf oder nicht19, hat diese Diskussion bei der Redaktion der argentinischen Norm lediglich am Rande eine Rolle gespielt. Das Ziel des argentinischen Gesetzgebers war es, Art. 54 Abs. 3 LSC weit zu fassen. Er stützte sich bei der Fassung sowohl auf die Arbeiten Sericks, wie auf andere Quellen und entwickelte eigene Formulierungen. In der Konsequenz enthält die Norm in ihrem Wortlaut keinen Hinweis auf ein subjektives Element, da es sich um eine Zurechnungsnorm handelt, die kein subjektives Element oder Vorsatz erfordert, die mit dem entstandenen Schaden korrespondieren20. Dagegen wird eingewandt, es sei ein subjektives Element in Art. 54 Abs. 3 LSC hineinzulesen, da die Norm ein rechtswidriges Handeln bestrafe21. Hiergegen spricht, dass Art. 54 Abs. 3 LSC zwei Dinge regelt: Die Uneinwendbarkeit als solche und die Ausweitung oder Übertragung der Zurechnung als seine Folge einerseits und die Verantwortung für die verursachten Nachteile durch diejenigen, die die Handlungen ermöglicht haben, andererseits. Sicherlich liegt im Großteil der Fälle Vorsatz vor. Aber in anderen Fällen kann es sich um bloße Fahrlässigkeit handeln oder einfach darum, dass die Verkettung der Ereignisse eine der Situationen zur Folge hatte, für die es das LSC ermöglicht, die Uneinwendbarkeit zu erklären. Zur Erläuterung möge ein Beispiel dienen: Im Falle eines Vertriebsvertrags mit Ausschließlichkeitsklausel oder einem Vertrag mit Wettbewerbsverbot in einem Joint venture, wird die verpflichtete Gesellschaft, oder ein anderes Mitglied der Gruppe, nach Vertragsschluss direkte oder indirekte Kontrollperson einer dritten Gesellschaft die ein Unternehmen hat, das die durch den Vertrag verbotene Aktivität durchführt. In diesem Fall wäre es sehr ungewöhnlich, vor allem im Fall von Unternehmensgruppen von einiger Bedeutung, wenn der Vorsatz des Unternehmenskaufs die Verletzung des oben genannten Vertrags wäre oder dass selbst Fahrlässigkeit vorläge. Dennoch handelt es sich objektiv um einen Fall der Vereitelung der Rechte des Dritten, der Inhaber des Exklusivitätsrechts ist.

__________ 19 Serick und Drobnig vertraten in erster Linie das Erfordernis eines subjektiven Tatbestandsmerkmals für den Druchgriff, auch wenn diese Ansicht von der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung nicht geteilt wurde. 20 Manóvil, ¿’Imputación‘ al socio (o controlante) o ‘responsabilidad‘?, V Congreso de Derecho Societario, Huerta Grande, Band 2, 1992, S. 627 ff. 21 Gulminelli, Enfoque actual de la inoponibilidad de la personalidad jurídica, R.D.C.O., Band 1993-A, 1993, S. 145–149.

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Dieses Beispiel zeigt, dass Art. 54 Abs. 3 LSC in der vom Gesetzgeber gewollten Reichweite nur funktioniert, wenn er kein subjektives Element erfordert. Im uruguayischen Recht dagegen ist das Erfordernis eines subjektiven Elements in der Gesetzesfassung angelegt, indem in Art. 189 gefordert wird, dass in „arglistiger Umgehung des Rechts“ und „mit Hinterlist und zum Schaden der Rechte Dritter“ gehandelt wird. Sowohl in der Rechtslehre22, wie auch in der Rechtsprechung23 werden bedingter Vorsatz als ausreichend angesehen, d. h., die handelnde Person muss sich zumindest der Möglichkeit eines Schadenseintritts bewusst gewesen sein.

V. Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 54 Abs. 3 LSC Die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit setzt das Verschwinden der formellen Grenzen voraus, die durch die betroffene Gesellschaft gesetzt werden. Folge dieses Verschwindens ist die Zuschreibung des Handelns zu dem Gesellschafter oder der Kontrollperson, die die rechtsmissbräuchliche Nutzung der Gesellschaft ermöglicht hat. Dies ist jedoch nur auf den konkreten Fall begrenzt, in dem die Uneinwendbarkeit geltend gemacht wird. Der Kreis der betroffenen Kontrollpersonen ist allerdings umstritten. Nach einer Ansicht ist die Norm nicht auf Kontrollpersonen anzuwenden, die keine Gesellschafter sind, insbesondere nicht auf externe Kontrollpersonen, da durch die Erklärung der Uneinwendbarkeit in dem konkreten Fall gegenüber dem Dritten auch die Vermögensautonomie der Gesellschaft im Verhältnis zu den Gesellschaftern wegfällt24. Nach anderer Ansicht ist Art. 54 Abs. 3 LSC dagegen auch auf Kontrollpersonen anwendbar, die keine Gesellschafter sind. Die Kontrolle, insbesondere in Unternehmensgruppen, ist nämlich häufig abgestuft und die Zurechnung des Handelns folgt entsprechend den einzelnen Stufen der indirekten Kontrolle. Die zwischengeschaltete Gesellschaft kann nur als Hülle existieren, deren einziges Vermögen die kontrollierte Gesellschaft ist. Das Institiut des Art. 54 Abs. 3 LSC verlöre seine Effizienz, würde man es restriktiv interpretieren ohne zwischen den verschiedenen Arten der abgestuften Kontrolle zu unterscheiden, die im argentinischen Gesellschaftsrecht in Art. 33 LSC selbst vorausgesetzt werden25. Für die zuletzt genannte Ansicht spricht der Wortlauf des Art. 54 Abs. 1 LSC. Dieser nennt nämlich auch die Kontrollpersonen, die nicht Gesellschafter sind. Es wäre willkürlich, Art. 54 Abs. 3 LSC anders auszulegen. Außerdem wäre es

__________ 22 Rippe, Sociedades Comerciales, 3. Aufl. 1990, S. 88. 23 In Uruguay S. C. J., 4.3.2002, Summersbee S. A. y otra c/ Silberstein, Guillermo y otros in dem Fall, dass Ehegüter in einer Gesellschaft versteckt wurden. 24 Otaegui, El artículo 54 de la Ley de Sociedades: inoponibilidad de la personalidad jurídica, E.D., Band 121, 1987, S. 813. 25 S. dazu in Argentinien CNCom., Sala A, 23.5.2005, Prado, Pablo R. c/ Vía Pública S. A., LexisNexis 35002024.

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Der Durchgriff im Gesellschaftsrecht in Argentinien und Uruguay

nicht notwendig gewesen, die Kontrollpersonen gesondert in Art. 54 Abs. 3 aufzuführen, wenn sie auch immer Gesellschafter sein müssten. Auch aus juristischen Gründen wäre eine solche Begrenzung nicht notwendig, da es nicht verboten ist, die Zurechnung auf jedes für das Handeln verantwortliche Organ zu erweitern. Weiterhin entspricht eine solche Auslegung der positivrechtlichen Regelung in Art. 190 des uruguayischen Gesetzes.

VI. Aktivlegitimation Art. 54 Abs. 3 LSC schweigt darüber, wer das unzulässige Verhalten geltend machen kann. Soweit die öffentliche Ordnung oder das öffentliche Interesse, die lediglich eine der Voraussetzungen für die Anwendung der Norm darstellen, nicht betroffen sind, sind die Berechtigten allein die Personen, die durch das Handeln der Gesellschaft als Instrument zur Erreichung eines abweichenden Ziels benachteiligt wurden. Die hiervon betroffenen Peronen sind in erster Linie nur Dritte. Allerdings werden Gesellschafter und Aktionäre der Gesellschaft nicht ausgeschlossen; auch diese können Dritte im Sinne des Gesetzes sein, soweit sie zu der Gesellschaft als Dritte in Kontakt treten. Es ist nicht erforderlich, dass der benachteiligte Dritte bereits eine vorhergehende Verbindung mit der Gesellschaft hatte: In dem Beispielsfall, dass eine Gesellschaft A die Güter, die Gegenstand eines Vertrages sind oder zu dessen Erfüllung notwendig sind, auf eine von ihr kontrollierte Gesellschaft B übertragen hat, hat der durch diesen Vertrag mit der Gesellschaft A verbundene Dritte das Recht, die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit der B einzuwenden. Soweit öffentliche Interessen tangiert sind, sind auch die Personen aktivlegitimiert, die diese Interessen vertreten, so z. B. die Kontrollbehörden der Aktiengesellschaften. Wie bereits gezeigt, beinhaltet Art. 189 des uruguayischen Gesetzes nicht nur die Rechte Dritter, sondern auch die der Gesellschafter und der Aktionäre. Dies beruht auf der Annahme des Gesetzgebers, dass auch Gesellschafter oder Aktionäre als solche und nicht nur als Dritte der Gesellschaft gegenübertreten können und ein Interesse an der Geltendmachung der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft haben, an der sie selbst beteiligt sind. Dieser Fall, der mir jedoch auch in der Rechtsvergleichung noch nicht begegnet ist, ist äußerst selten. Er kann allerdings im Bereich von Unternehmensgruppen auftreten, wenn außenstehende Gesellschafter oder Aktionäre nachweisen, dass bestimmte Rechte der Gesellschaft zuzurechnen sind, deren Berechtigung jedoch dem Kopf der Kontrollgesellschaft oder einer anderen von ihr kontrollierten Gesellschaft zugeschrieben worden ist.

VII. Die Reichweite der Haftung in Art. 54 Abs. 3 LSC a. E. Die Haftung im letzten Teil von Art. 54 Abs. 3 LSC a. E. ist juristisch gesehen unabhängig von der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft und ihrer Rechtsfolge, der Ausdehnung oder Übertragung der Zurech1103

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nung. Diese muss unbedingt unterschieden werden von den Voraussetzungen der Entschädigung, die den Verantwortlichen dafür auferlegt wird, dass sie die Handlung der Gesellschaft ermöglicht haben, die wiederum die Uneinwendbarkeit hervorgerufen hat. Wie zuvor gezeigt, ist ein subjektives Element für die Uneinwendbarkeit nicht erforderlich, so dass es sein kann, dass trotz der Feststellung der Uneinwendbarkeit, keine Haftung entsteht. Auf der anderen Seite zeigt sich in den folgenden Überlegungen, dass die Verantwortlichkeit auch überflüssig sein kann, wenn die Befriedigung der betroffenen Interessen durch die Ausweitung oder Übertragung der Zurechnung erreicht wird. 1. Die haftenden Rechtssubjekte Die Haftung aus Art. 54 Abs. 3 LSC a. E. ist deliktischer Natur. Sie wird denjenigen Gesellschaftern und Aktionären auferlegt, die die dort normierten Handlungen der Gesellschaft vornehmen. Allerdings wird die Haftung nicht der Gesellschaft auferlegt, deren Rechtspersönlichkeit uneinwendbar ist. Damit haftet entgegen der Ansicht von Otaegui26 nicht die Gesellschaft selbst neben den Gesellschaftern und Aktionären, sondern lediglich letztere, die die vorgeworfene Handlung ermöglicht haben. Diese Beschränkung der Norm bedeutet, dass sie nicht nur auf die Personen anwendbar ist, die tatsächlich Inhaber des betroffenen Rechts sind oder die von den Handlungen profitieren oder diese ausführen, sondern auf alle, die diese durch irgendeine Handlung oder Unterlassung ermöglicht haben. Dies entspricht zwar den allgemeinen Regeln des gemeinen Rechts über die Haftung von Mittätern und Teilnehmern, zieht aber eine Reihe von Fragen nach sich, wie z. B. nach der Teilnahme oder Tolerierung der Verwaltungsratmitglieder und der Gesellschafter und Aktionäre bei der Annahme der Entscheidungen von Versammlungen oder Besprechungen. 2. Der Empfänger der Entschädigung Das Gesetz schweigt über die Frage nach dem Empfänger der Entschädigung. Hieraus folgt, dass jeder Dritte, der einen Schaden erlitten hat, eine Entschädigung fordern kann, unabhängig davon, ob er derjenige war, der die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit geltend gemacht hat oder nicht. Dieses Schweigen der Norm ist verbunden mit der Frage danach, welches der Grund oder der Akt mit schädigender Eignung ist, mit dem das LSC die Verantwortlichkeit koppeln will. Jedoch liefert die Norm auch hierzu keine Erläuterungen. Daraus folgt, dass die Entschädigungspflicht Gesellschafter und Aktionäre wegen aller, durch unzulässige Handlungen der Gesellschaft gegenüber Dritten entstandene Nachteile betrifft, soweit jene die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit geltend gemacht haben. Mit anderen Worten handelt es sich um die Häufung zweier Klagen mit verschiedenen juristischen Zielen, obwohl der geschädigte Dritte in den meisten Fällen bereits die vollständige Befriedigung

__________ 26 Otaegui, Inoponibilidad de la personalidad, in Anomalías Societarias, 1992, S. 104.

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durch die Ausweitung oder Übertragung der Zurechnung auf Gesellschafter/ Kontrollperson erreicht, da dadurch alle Haftungstatbestände, für die die Gesellschaft einstehen muss, auch auf die nach der Zurechnung haftenden Personen anwendbar sind. 3. Die Folgen der Haftungspflicht Soweit das mit der Zurechnung auf den Gesellschafter oder den Dritten verfolgte Ziel die Erfüllung einer Zahlungsverpflichtung in bar ist, können aus der Verwendung der Gesellschaft als Instrument, um die Nichterfüllung zu ermöglichen, andere Schäden entstehen, die sogar die aus der säumigen Vertragserfüllung überwiegen. Hier ist es wichtig, die Verantwortlichkeit als deliktisch zu charakterisieren. Eine vorherige schuldrechtliche Verpflichtung kann sich hier nicht auswirken, denn die Schäden, deren Wiederherstellung Art. 54 Abs. 3 LSC a. E. anordnet, sind nicht die aus dieser Verbindung, sondern die aus der unzulässigen Verwendung der als uneinwendbar erklärten juristischen Person resultierenden. Dies ist unabhängig von den Folgen der Existenz, entsprechend der Natur des Falls, der Hauptverpflichtung als Führung der Gesellschaft mit als uneinwendbar erklärter Rechtspersönlichkeit: wenn die Hauptverpflichtung bestehen bleibt, bleiben in ihr auch alle Nebenpflichten bestehen, darunter die Verantwortlichkeit für ihre Nichterfüllung. Eine interessante Vorstellung zu dem Zusammenspiel dieser Prinzipien ist die Unterlassungsverpflichtung. In einem Verhältnis von Beherrschung und Abhängigkeit zwischen Gesellschaften kann diese Verpflichtung sowohl von der beherrschenden als auch von der abhängigen oder beteiligten Gesellschaft übernommen werden. Die Zurechnung der Unterlassungsverpflichtung erstreckt sich aufgrund von Art. 54 Abs. 3 LSC auf die jeweils andere Gesellschaft. War jedoch die abhängige Gesellschaft die ursprünglich Verpflichtete und erfüllt sie ihre Verpflichtung, können die Schäden und Nachteile, die von der beherrschenden und nicht-erfüllenden Gesellschaft gefordert werden, nicht auch der abhängigen Gesellschaft auferlegt werden. War jedoch ursprünglich die kontrollierende Gesellschaft verpflichtet und erfüllte sie ihre Verpflichtungen, während ihre kontrollierte Gesellschaft diese nicht erfüllt, wird durch die Geltendmachung der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit gegenüber der ersten, kontrollierenden Gesellschaft die Haftung erweitert und es werden der kontrollierenden Gesellschaft die entstandenen Schäden zugerechnet. Die kontrollierende Gesellschaft war diejenige, die entsprechend Art. 54 Abs. 3 LSC die schädigenden Handlungen ermöglicht hat. Aber, wie bereits gezeigt, beschränkt sich die durch das LSC auferlegte Verantwortlichkeit nicht darauf, den Dritten zu schützen, zugunsten dessen die Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit erklärt wurde. Der Wortlaut der Norm legt die Haftung an sich und die haftenden Personen fest, sie begrenzt jedoch nicht den Kreis der Begünstigten. Der Kreis der Dritten, die einen Schaden durch die Ausweitung oder Übertragung der Zurechnung der Handlung des Gesellschafters, der Kontrollperson oder auch der kontrollierten Gesellschaft erleiden können, ist weit. Allgemein ausgedrückt handelt es sich um Schäden, 1105

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die durch das „Unvermögen der Gesellschaft hervorgerufen worden sind“27, so dass die Opfer dieser Schäden unzählig viele Personen sein können, sogar auch die Gesellschaft selbst, deren Rechtpersönlichkeit für uneinwendbar erklärt wurde. Die Erklärung der Uneinwendbarkeit der Persönlichkeit kann sich auf die erworbenen Rechte gutgläubiger Dritter auswirken (z. B. die Vertragspartner in einem Vertrag, der eine Unterlassungsverpflichtung verletzt), kann zur Insolvenz einer beteiligten Gesellschaft oder dazu führen, dass diese ihre Gesellschaftsziele nicht mehr erreichen oder ihre gesellschaftliche Tätigkeit nicht mehr ausüben kann (gutgläubiger Gesellschafter, Gläubiger dieser Gesellschaft und die betroffene Gesellschaft selbst). 4. Die Haftung im uruguayischen Recht Das uruguayische Gesetz über die Handelsgesellschaften übernahm das Institut der Uneinwendbarkeit, entwickelte aber eine von dem argentischen Gesetz abweichende Struktur und regelt die Haftung somit auf eine andere Art. Hier ist die Haftung lediglich ein die Uneinwendbarkeit begleitender Faktor. Während die Uneinwendbarkeit das primäre Ziel der Norm darstellt, ist die Haftung kein selbstständiges Merkmal der Regelung. In dem letzten Absatz von Art. 190 des uruguayischen Gesetzes wird lediglich festgelegt, dass die Uneinwendbarkeit „die persönliche Verantwortung der Teilnehmer an den Handlungen je nach dem Grad ihrer Beteiligung und ihrer Kenntnis unberührt“ lässt. Dies scheint ein Verweis auf die allgemeinen Haftungsprinzipien aus dem gemeinen Recht zu sein, so dass die haftenden Personen nicht nur Gesellschafter und Kontrollperson sein können, sondern auch alle andere Personen, die an dem vorgeworfenen Verhalten teilgenommen haben, z. B. Geschäftsführer oder andere Gesellschafter.

VIII. Die Uneinwendbarkeit und gutgläubige Dritte Das Problem des gutgläubigen Dritten bedarf besonderen Augenmerks, da, wie Otaegui sagt: „der Schutz des gutgläubigen Dritten […] in unserem Recht gewährleistet [ist]“28. Art. 54 Abs. 3 LSC sagt allerdings, im Gegensatz zu Art. 190 des uruguayischen Rechts, in dem die Rechtsverhältnisse der gutgläubigen Dritten ausdrücklich geregelt sind, nichts zu diesem Thema. In Argentinien erkennt die herrschende Meinung die Rechte der gutgläubigen Dritten an. Das Absehen von der Rechtspersönlichkeit oder die Erklärung ihrer Uneinwendbarkeit führt in vielen Fällen zu negativen Folgen für Rechte Dritter, soweit sie mit denjenigen Personen in Verbindung stehen, die in die Handlungen aus Art. 54 Abs. 3 LSC verwickelt sind. Die Mehrheit dieser Personen sind als gutläubige Dritte zu qualifizieren. Die Zurechnung der Passiva der Gesellschaft

__________ 27 Salerno, Los daños derivados de la frustración societaria, E.D., Band 119, S. 976. 28 Otaegui (Fn. 26), S. 108.

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zu ihren Gesellschaftern oder Kontrollpersonen schwächt regelmäßig die Garantie, die ihr Vermögen für die eigenen Gläubiger darstellt. Das gleiche gilt für die Streuaktionäre, die evtl. bloße Investoren sind und an der gesellschaftlichen Aktivität nicht teilhaben. Die Zurechnung der Berechtigung an einem Gut der Gesellschaft zu ihrem Gesellschafter oder ihrer Kontrollperson verursacht denselben Effekt in der kontrollierten oder beteiligten Gesellschaft. Darüberhinaus kann es bei diesen Gesellschaften zu einem Stillstand der Gesellschaftstätigkeit kommen. Auch können gutgläubige Gesellschafter geschädigt werden. Wäre die Uneinwendbarkeit des Art. 54 Abs. 3 LSC in diesen Situationen nicht anwendbar, verlöre das Institut viel von seiner großen Bedeutung. Dies war nicht Absicht des Gesetzgebers. Daher muss die Auslegung, wenn es um gutgläubige Dritte geht, so sein, dass diejenigen anerkannt werden, die konkrete Rechte an Gütern erlangt haben, die in dem Prozess der Uneinwendbarkeit verwickelt sind.

IX. Weitere Probleme bezüglich der Anwendung der Norm Die Erklärung der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit einer Gesellschaft mit all ihren Folgen führt ohne Zweifel zu Störungen in jedem von der Zurechnung betroffenen Recht und in jeder Pflicht. Daher normiert Art. 54 Abs. 3 LSC neben dem Institut der Uneinwendbarkeit auch die Haftung der für die Störungen Verantwortlichen. Dennoch werden nicht alle möglichen Störungen von der Norm umfasst, da die Varianten unendlich sein können. Eine Frage ist z. B., ob dem Dritten die Insolvenz der Gesellschaft entgegengehalten werden kann. Nach Serick kann die Insolvenz der Gesellschaft dem Dritten, der die Übertragung der Zurechnung der Berechtigung erreicht hat, nicht entgegen gehalten werden29. Zur Veranschaulichung folgendes Beispiel: Ehegatte A erreicht die Erklärung der Uneinwendbarkeit der Rechtspersönlichkeit einer Gesellschaft, in der Ehegatte B Vermögen versteckt hat. Indem die Zurechnung des Vermögens auf B erfolgt, erreicht Ehegatte A die Auflösung und Aufteilung der Ehegattengesellschaft. Hier kann ihm gegenüber die Insolvenz der Gesellschaft nicht eingewandt werden. Jedoch bleiben die restlichen Vermögenswerte der Ehegattengesellschaft bestehen, d. h. die Anteile des Ehegatten, der Gesellschafter ist, werden zu den Aktiva der Gesellschaft gezählt und zur Befriedigung der Gläubiger aus der Insolvenzmasse verwendet. Sie sind nicht Vermögen des anderen Ehegatten. Bei der Übertragung einer Verpflichtung der Gesellschaft in Geld auf den Gesellschafter oder die Kontrollperson ist auch danach zu fragen, ob diese dem Dritten die Einwendungen entgegenhalten können, die die Gesellschaft gegen den Dritten geltend machen könnte und ob sie eigene Einwendungen vorbrin-

__________ 29 Serick, Durchgriffsprobleme bei Vertragsstörungen – Unter Berücksichtigung von Organschafts- und Konzernverhältnissen, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 42, 1959, S. 28.

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gen dürfen. Dies ist zu bejahen. Einerseits verändert die Zurechnung nicht die Natur und Qualität der Verpflichtung: Ist das Recht des Dritten aus irgendwelchen Gründen beschränkt, bleibt diese Beschränkung auch bei einer Zurechnung auf Gesellschafter oder Kontrollperson bestehen. Andererseits kann der Gesellschafter oder die Kontrollperson dem Dritten eine ihm evtl. zustehende fällige Verpflichtung, z. B. einen liquiden und fälligen Kredit, entgegenhalten30.

__________ 30 So auch Serick (Fn. 29), S. 25 f.

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Zur Anfechtung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Anfechtungsgründe 1. Unterbreitung des Wahlvorschlags 2. Auskunftsrecht zum Wahlvorschlag 3. Auskunftserteilung durch den Vorstand 4. Anfechtbarkeit nur bei wesentlichem Informationsmangel III. Wirkung der erfolgreichen Anfechtung 1. Rückwirkende Nichtigerklärung 2. Rückwirkung erst ab rechtskräftiger Entscheidung 3. Behebung des Mangels während des Prozesses a) Abberufung und Neuwahl (§ 103 AktG) b) Bestätigungsbeschluss (§ 244 AktG)

c) Gerichtliche Ersatzbestellung (§ 104 AktG) d) Heilung fehlerhafter Beschlüsse 4. Praktische Auswirkungen einer Nichtigerklärung a) Wahl einzelner Aufsichtsratsmitglieder b) Wahl mehrerer Aufsichtsratsmitglieder 5. Einschränkungen der rückwirkenden Nichtigkeit a) Schutz der Interessen Dritter b) Rechtsverhältnis der Aufsichtsratsmitglieder c) Verhältnis zur Hauptversammlung d) Rechtsbeziehungen im Innenverhältnis

I. Einleitung In letzter Zeit ist viel über die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen diskutiert worden, ein Thema, mit dem sich als führender Kommentator1 auch Karsten Schmidt befasst hat. Gegenstand der Diskussion sind dabei vor allem Beschlüsse über Strukturänderungen, wie z. B. der Ausschluss von Minderheitsaktionären gemäß §§ 327a ff. AktG. Solche Beschlüsse werden zunehmend durch Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen angegriffen, häufig mit dem Ziel, sich die Klage im Vergleichswege abkaufen zu lassen2. Um in derartigen Fällen zu einer schnelleren Klärung der Rechtslage zu kommen und damit den Unternehmen wieder Handlungsspielraum zu geben, wird erörtert, wie die bestehenden Freigabeverfahren im Umwandlungsgesetz3 und im Aktien-

__________ 1 Vgl. Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, §§ 241 bis 255 AktG, sowie in Scholz, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 93 ff. 2 Vgl. dazu die vom Deutschen Aktieninstitut herausgegebene Studie „Squeeze out – Recht und Praxis“ vom Oktober 2007, S. 32 ff. sowie die empirische Studie von Baums/Keinath/Gajek, ZIP 2007, 1629 ff. 3 §§ 16 Abs. 3, 125, 176, 198 Abs. 3 UmwG.

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gesetz4 inhaltlich vereinfacht und beschleunigt werden können5. Die Bundesregierung hat dazu verschiedene Gesetzesänderungen vorgeschlagen6. Weitaus weniger Beachtung findet die Anfechtung solcher Hauptversammlungsbeschlüsse, die nicht möglicher Gegenstand eines Freigabeverfahrens sind. Dies betrifft vor allem einfache Satzungsänderungen, Wahlbeschlüsse7, bestimmte Zustimmungs-8 und Ermächtigungsbeschlüsse9 sowie die Beschlüsse zur Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat10. Auch solche Beschlüsse können für die Gesellschaft erhebliche Bedeutung haben. Man denke nur an eine Änderung des Unternehmensgegenstandes oder die Wahl des Abschlussprüfers. Wird die Änderung des Unternehmensgegenstandes wegen einer anhängigen Anfechtungsklage nicht in das Handelsregister eingetragen, kann dies wichtige Erwerbsvorhaben verhindern. Hat die Anfechtung der Wahl des Abschlussprüfers Erfolg, so soll der Jahresabschluss mangels wirksamer Bestellung des Abschlussprüfers nichtig sein (§ 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG). Dem kann allerdings dadurch vorgebeugt werden, dass auf Antrag des Vorstands oder Aufsichtsrats vorsorglich ein weiterer Abschlussprüfer vom Gericht bestellt wird (§ 318 Abs. 4 Satz 2 HGB)11. Erhebliche Rechtsprobleme können sich auch ergeben, wenn die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern durch die Hauptversammlung angefochten wird (§§ 251, 252 AktG). Hat die Anfechtung Erfolg, ist der Wahlbeschluss der Hauptversammlung nach h. M. rückwirkend nichtig (§§ 241 Nr. 5, 250 Abs. 1 AktG). Die betroffene Person ist nicht Mitglied des Aufsichtsrates geworden mit der Konsequenz, dass die von ihr im Aufsichtsrat und seinen Ausschüssen abgegebenen Stimmen ungültig sind. Wird die Wahl mehrerer oder aller von der Hauptversammlung gewählten Aufsichtsratsmitglieder angefochten, kann ein der Klage stattgebendes Urteil erhebliche Auswirkungen haben. Bis es zu einer solchen Entscheidung kommt, befindet sich die Gesellschaft in einem Dilemma: Einerseits ist es geboten, dass der Aufsichtsrat die erforderlichen Amtshandlungen weiter vornimmt, andererseits ist nicht sicher, ob seine Entscheidungen überhaupt Bestand haben. Im Folgenden sollen zunächst einige neuerlich erörterte Gründe untersucht werden, um die es bei der Anfechtung einer Aufsichtsratswahl gehen kann.

__________ 4 §§ 246a Abs. 2, 319 Abs. 6, 327e Abs. 2 AktG. 5 Vgl. Baums/Drinhausen, Weitere Reform des Rechts der Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen, ZIP 2007, 145 ff. und J. Vetter, AG 2008, 177 ff. sowie Gesetzentwurf des Bundesrates zur Einführung erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Oberlandesgerichts in aktienrechtlichen Streitigkeiten, BR-Drucks. 901/07. 6 Vgl. RefE eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie vom 6. Mai 2008, veröffentlicht unter www.bmj.bund.de und dazu Seibert, ZIP 2008, 906. 7 Vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 1, 4 und 7 AktG; § 318 Abs. 1 HGB. 8 Z. B. nach § 119 Abs. 2 AktG. 9 Z. B. nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG. 10 § 120 AktG. 11 Vgl. AG Wolfsburg, AG 1992, 205 f.; Lutter in FS Semler, 1993, S. 835 ff.; v. Falkenhausen/Kocher, ZIP 2005, 602; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrecht, Band 4: Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2007, § 44 Rz. 4; Kocher, NZG 2007, 372, 373.

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Anfechtung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern

Sodann soll der Frage nachgegangen werden, wie sich eine erfolgreiche Wahlanfechtung auswirkt und wie diese Wirkungen praktisch aufgefangen und rechtlich begrenzt werden können. Dabei geht es jeweils nur um die Wahl der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft.

II. Anfechtungsgründe 1. Unterbreitung des Wahlvorschlags Eine Wahl zum Aufsichtsrat kann aus den unterschiedlichsten Gründen anfechtbar sein. Neben den Gesetzes- oder Satzungsverstößen, die bei jedem Beschluss der Hauptversammlung zur Anfechtbarkeit führen, ist bei der Wahl zum Aufsichtsrat vor allem an Fehler im Zusammenhang mit dem Zustandekommen und der Veröffentlichung des Wahlvorschlags zu denken. Dazu gehören etwa Fehler bei der Beschlussfassung, z. B. weil der Wahlvorschlag (auch) vom Vorstand12 stammt, der Beschluss des Aufsichtsrates darüber fehlerhaft ist13 oder die Vorschriften zum Inhalt und zur Bekanntmachung des Wahlvorschlags verletzt wurden (§ 124 Abs. 2 und 3 AktG). In solchen Fällen liegt ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften vor, der grundsätzlich zur Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses führt14. Eine Einschränkung gilt nur dann, wenn der Fehler für das Mitgliedschaftsrecht der Aktionäre im konkreten Einzelfall nicht relevant ist15. Entscheidend dafür ist die Frage, ob ein objektiv urteilender Aktionär bei Beachtung der Verfahrensvorschrift anders abgestimmt hätte16. Im Sinne dieser Relevanzlehre hat z. B. das OLG Frankfurt zu Recht entschieden, dass die unzutreffende oder nicht ausreichende Angabe des Berufs einer zur Wahl in den Aufsichtsrat vorgeschlagenen Person regelmäßig so marginal ist, dass eine Anfechtung darauf nicht gestützt werden kann17. Anfechtbarkeit liegt grundsätzlich auch vor, wenn im Falle einer börsennotierten Gesellschaft dem Wahlvorschlag keine Angaben zur Mitgliedschaft des

__________ 12 Vgl. OLG Hamm, AG 1986, 260, 261; OLG München, AG 2003, 645; Hüffer, Aktiengesetz, 8. Aufl. 2008, § 124 AktG Rz. 13; Werner in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 124 AktG Rz. 73; Semler in MünchHdbAG (Fn. 11), § 35 Rz. 56; s. auch BGHZ 153, 32, 35 f., wonach eine Beteiligung des Vorstands (am Vorschlag zur Wahl des Abschlussprüfers) auch dann zur Anfechtbarkeit führt, wenn der Vorschlag des Vorstands gar nicht zur Abstimmung gestellt wird. 13 Vgl. LG Frankfurt/M., NZG 2004, 672; BGHZ 149, 158 ff. zur Anfechtbarkeit der Beschlussvorschläge eines unterbesetzten Vorstands; Kubis in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 124 AktG Rz. 67; Ziemons in Karsten Schmidt/Lutter, 2008, § 124 AktG Rz. 18; a. A. noch Zöllner in KölnKomm.AktG, 1. Aufl. 1970, § 124 AktG Rz. 49. 14 Ziemons in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 124 AktG Rz. 59 und § 125 AktG Rz. 9. 15 Zur Relevanztheorie s. BGHZ 149, 158, 164 ff. m. Anm. Goette, DStR 2002, 1314. 16 BGHZ 160, 385, 392; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 243 AktG Rz. 24 ff.; Hüffer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2001, § 243 AktG Rz. 30; Semler in MünchHdbAG (Fn. 11), § 41 Rz. 29; Zöllner in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 243 AktG Rz. 94 ff. 17 OLG Frankfurt/M., ZIP 2007, 232, 233; ähnlich LG Düsseldorf, EWiR § 175 AktG 1/08 (Rottnauer); a. A. LG München I, Der Konzern 2007, 448, 452.

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Reinhard Marsch-Barner

vorgeschlagenen Kandidaten in anderen gesetzlich zu bildenden Aufsichtsräten beigefügt oder die Angaben dazu unvollständig sind (§ 125 Abs. 1 Satz 3, 1. Halbs. AktG)18. Fehlen dagegen nur die ebenfalls vorgeschriebenen Angaben zur Mitgliedschaft in vergleichbaren in- und ausländischen Kontrollgremien von Wirtschaftsunternehmen (§ 125 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbs. AktG), liegt kein Anfechtungsgrund vor. Dies beruht darauf, dass es sich hier um eine von den Fällen des ersten Halbsatzes deutlich abgesetzte Sollvorschrift handelt19. Ergänzend enthält der Deutsche Corporate Governance Kodex mehrere Empfehlungen zur Aufsichtsratswahl. So soll z. B. bei den Wahlvorschlägen darauf geachtet werden, dass dem Aufsichtsrat genügend fachlich qualifizierte und unabhängige Mitglieder angehören (Ziff. 5.4.1 Satz 1 und 5.4.2 Satz 1 DCGK). Die Wahlen selbst sollen als Einzelwahl durchgeführt werden (Ziff. 5.4.3 Satz 1 DCGK). Soll ein bisheriges Vorstandsmitglied gewählt werden, soll dies der Hauptversammlung besonders begründet werden (Ziff. 5.4.4 Satz 2 DCGK). Kandidatenvorschläge für den Aufsichtsratsvorsitz sollen den Aktionären bekannt gegeben werden (Ziff. 5.4.4. Satz 2 DCGK). Die Befolgung dieser und anderer Empfehlungen20 wirft jeweils eigene Rechtsfragen auf. Was die Anfechtung betrifft, so führt die Nichtbeachtung der Empfehlungen des Kodex als solche nicht zu einer Anfechtbarkeit des Wahlbeschlusses. Die Empfehlungen des Kodex stellen keine Rechtsquelle dar, sie sind insbesondere weder Gesetzes- noch Satzungsbestimmungen21. Eine Anfechtbarkeit nach § 243 Abs. 1 AktG könnte allerdings gegeben sein, wenn Vorstand und Aufsichtsrat gemäß § 161 erklärt haben, den Empfehlungen des Kodex folgen zu wollen, der Aufsichtsrat sich daran bei einem nachfolgenden Wahlvorschlag aber nicht hält. Hat der Aufsichtsrat z. B. für seine Mitglieder gemäß Ziff. 5.4.1 Satz 2 DCGK eine bestimmte Altersgrenze festgelegt, schlägt er dann aber eine Person zur Wahl vor, die älter ist, so steht dies im Widerspruch zu seiner Entsprechenserklärung. Manche schließen daraus, dass der Wahlvorschlag wegen Verstoßes gegen § 161 AktG nichtig und damit der Wahlbeschluss der Hauptversammlung anfechtbar sei22. Tatsächlich widerspricht der Wahlvorschlag aber nicht § 161 AktG, sondern nur den früheren Beschlüssen des Aufsichtsrates zur Befolgung des Kodex und der Festlegung

__________ 18 Hüffer (Fn. 12), § 125 AktG Rz. 10; Kubis in MünchKomm.AktG (Fn. 13), § 125 AktG Rz. 45; Ziemons in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 125 AktG Rz. 9. 19 Begr. RegE BT-Drucks. 13/9712, 17; Hüffer (Fn. 12), § 125 AktG Rz. 10; Ziemons in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 125 AktG Rz. 10. 20 Vgl. noch die Empfehlungen zur Festlegung einer Altersgrenze (Ziff. 5.4.1 Satz 2 DCGK), zur Mitgliedschaft von nicht mehr als zwei ehemaligen Vorstandsmitgliedern im Aufsichtsrat (Ziff. 5.4.2 Satz 3 DCGK) sowie zur Vermeidung von Interessenkonflikten bei der Wahl bestimmter Funktionsträger (Ziff. 5.4.2 Satz 4 DCGK). 21 LG München I, ZIP 2007, 2360, 2361; Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 160; Bachmann, WM 2002, 2137, 2139; Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2005, § 2 Rz. 45. 22 So E. Vetter, NZG 2008, 121, 124 f.; abl. OLG München, AG 2002, 294, 295 li. Sp.; LG München I, ZIP 2007, 2360, 2362; Spindler in Spindler/Stilz, Aktiengesetz, 2007, § 100 AktG Rz. 44.

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der Altersgrenze23. Diese Beschlüsse sind nicht bindend, der Aufsichtsrat kann sie jederzeit ändern. Rückt der Aufsichtsrat von der früher festgelegten Altergrenze wieder ab, ist er nur verpflichtet, diese Abweichung gemäß § 161 AktG bekannt zu machen24. Dabei handelt es sich um eine selbständige, von dem Wahlvorschlag unabhängige Verpflichtung. Die Korrektur der Entsprechenserklärung muss allerdings unverzüglich erfolgen25. Geschieht dies nicht, liegt eine Pflichtverletzung des Aufsichtsrates – wie auch des Vorstandes – vor, die rechtlich gesondert von dem Wahlvorschlag zu beurteilen ist. Richtiger Anknüpfungspunkt ist dafür die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat. Haben es Vorstand und Aufsichtrat versäumt, ihre Entsprechenserklärung anzupassen, obwohl sich ihre Absicht, den Empfehlungen des Kodex zu folgen, geändert hat und beschließt die Hauptversammlung gleichwohl deren Entlastung, so ist dieser Beschluss grundsätzlich wegen des Verstoßes gegen § 161 AktG anfechtbar26. Allerdings ist zweifelhaft, ob die Unterlassung einer Anpassung der Entsprechenserklärung bereits einen schwerwiegenden Gesetzesverstoß im Sinne der Rechtsprechung27 darstellt. 2. Auskunftsrecht zum Wahlvorschlag Bei der Diskussion in der Hauptversammlung zu dem Tagesordnungspunkt „Wahl zum Aufsichtsrat“ geht es vor allem um die Eignung der vorgeschlagenen Person für das Amt, in das sie gewählt werden soll. Dazu können die Aktionäre die für die sachgemäße Beurteilung des Wahlvorschlags erforderlichen Auskünfte verlangen (§ 131 Abs. 1 Satz 1 AktG). Werden solche Auskünfte nicht oder unzureichend erteilt, ist der Wahlbeschluss gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG anfechtbar. Nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG sind grundsätzlich alle Fragen zu beantworten, die sich auf die persönliche und fachliche Eignung eines vorgeschlagenen Kandidaten beziehen28. Dazu gehören insbesondere Fragen zu Ausbildung, beruflicher Erfahrung und gegenwärtiger Tätigkeit. Von Interesse sind daneben die

__________ 23 Anders Kirschbaum, ZIP 2007, 2362, 2363, der einen Widerspruch bei Abweichung im Einzelfall verneint. 24 Lutter, ZHR 166 (2002), 523, 534; Gelhausen/Hönsch, AG 2002, 529, 534; Ettinger/ Grützediek, AG 2003, 353, 354; Ihrig/Wagner, BB 2003, 1625, 1627; Sester in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 161 AktG Rz. 37; a. A. Seibt, AG 2002, 249, 253 f.; Schüppen, ZIP 2002, 1269, 1273; LG München I, ZIP 2007, 2360, 2362. 25 Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2005, § 2 Rz. 66 m. w. N.; anders offenbar E. Vetter, NZG 2008, 121, 124, der meint, die Änderung der Entsprechenserklärung müsse gleichzeitig mit dem Beschluss über den Wahlvorschlag erfolgen. 26 Vgl. OLG München, BB 2008, 692 zur fehlenden Abgabe einer Entsprechenserklärung; vgl. auch LG München I, ZIP 2007, 2360, wo allerdings nur der Wahlbeschluss angefochten war; s. dazu wegen des Interessenkonflikts Kirschbaum, ZIP 2007, 2362, 2364. 27 Vgl. BGHZ 153, 47, 51. 28 Vgl. BGHZ 32, 159, 167; OLG Düsseldorf, AG 1987, 21, 23; Decher in Großkomm. AktG (Fn. 1), § 131 AktG Rz. 197; Semler in MünchHdbAG (Fn. 11), § 37 Rz. 12; Siems in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 131 AktG Rz. 32.

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zeitliche Belastbarkeit oder das Bestehen etwaiger Interessenkonflikte29. Zulässiger Gegenstand von Fragen können auch anderweitige Mandate, soweit diese nicht schon im Wahlvorschlag offen gelegt wurden, sowie die Wählbarkeitsvoraussetzungen gemäß § 100 AktG sein. Insgesamt ist damit ein weites Feld möglicher Auskunftsverlangen eröffnet. Kubis spricht sogar von einer „nahezu unbeschränkten Auskunftspflicht“30. Eine solche Aussage blendet allerdings die inhaltlichen Grenzen des Auskunftsrechts aus. Ein weiter Rahmen zulässiger Fragen besteht nur in Bezug auf die Eignung des betreffenden Kandidaten. Fragen zu persönlichen Angelegenheiten außerhalb dieses Bereichs sind regelmäßig nicht erforderlich und müssen nicht beantwortet werden31. Auch in zeitlicher Hinsicht gibt es Grenzen. So sind Auskünfte zu länger zurückliegenden Tätigkeiten zur Beurteilung der aktuellen Qualifikation in der Regel nicht erforderlich. Eine immanente Grenze für das Auskunftsrecht besteht schließlich auch in quantitativer Hinsicht32. Für eine Ausdehnung des Auskunftsrechts in zeitlicher Hinsicht hat sich das LG Frankfurt/M. für den Fall ausgesprochen, dass ein bisheriges Vorstandsmitglied in den Aufsichtsrat gewählt werden soll. Es soll dann auch nach länger zurückliegenden Geschäftsvorfällen gefragt werden dürfen, wenn dafür die zur Wahl vorgeschlagene Person als Vorstand Verantwortung trug. In solchen Fällen könne nämlich ein Interessenkonflikt nicht ausgeschlossen werden, weil das ehemalige Vorstandsmitglied ein Interesse daran haben könne, seine früheren möglicherweise falschen Entscheidungen später als Aufsichtsratsmitglied zu decken33. Das Auskunftsrecht soll sich danach auf alle früheren Geschäftsjahre erstrecken, für die noch keine Verjährung möglicher Ersatzansprüche (§ 93 Abs. 6 AktG) eingetreten ist. Begründet wird diese Ansicht mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex, der bei den Wahlvorschlägen zum Aufsichtsrat die Berücksichtigung potentieller Interessenkonflikte empfiehlt34, und nach dem der Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat nicht die Regel sein soll35. Erstaunlich an dieser Entscheidung ist neben der Bezugnahme auf bloße Empfehlungen des Kodex, dass bereits theoretische Überlegungen genügen sollen, um einen potentiellen Interessenkonflikt anzunehmen, der dann zu einem erweiterten Auskunftsrecht führt. Eine solche Argumentation führt ins Uferlose. Ein Auskunftsverlangen zu angeblichen Pflichtwidrigkeiten muss sich auf begründete Anhaltspunkte stützen können. Erforderlich ist außerdem, dass es sich um Vorgänge von einigem Gewicht36 handelt und diese im Zeitpunkt

__________ 29 30 31 32 33 34 35 36

S. dazu auch Ziff. 5.4.1 und 5.4.5 DCGK. S. Kubis in MünchKomm.AktG (Fn. 13), § 131 AktG Rz. 51. Ziemons in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 131 AktG Rz. 46. Kubis in MünchKomm.AktG (Fn. 13), § 131 AktG Rz. 58; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 131 AktG Rz. 32. LG Frankfurt/M. v. 24.4.2007 – 3–5 O 80/06, S. 32 ff., veröff. unter www.lg-frankfurt. justiz.hessen.de. Ziff. 5.4.1 Satz 2 DCGK. Ziff. 5.4.4 DCGK. Vgl. BGH, ZIP 2004, 2428, 2429 zur Entlastung.

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der Hauptversammlung noch aktuelle Wirkung haben37. Diese allgemeinen Voraussetzungen gelten auch bei Wahlbeschlüssen. Bei der Wahl ehemaliger Vorstandsmitglieder stellt sich zudem die Frage, ob sich frühere Hauptversammlungen im Rahmen der Entlastung bereits mit den betreffenden Vorgängen befasst haben. Ist dies der Fall und wurde daraufhin Entlastung erteilt, besteht kein Anlass für erneute Nachfragen anlässlich der Wahl zum Aufsichtsrat38. 3. Auskunftserteilung durch den Vorstand Für die Beantwortung der Fragen der Aktionäre zur Aufsichtsratswahl ist nach § 131 AktG der Vorstand zuständig. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil der Wahlvorschlag allein vom Aufsichtsrat unterbreitet wird. Der Vorstand ist deshalb unter Umständen gar nicht in der Lage, die gestellten Fragen zu beantworten, z. B. wenn es um die Motive geht, die den Aufsichtsrat bei seinem Wahlvorschlag bewegt haben. Erläuterungen zu Eignung und Unabhängigkeit einzelner Kandidaten kann in der Regel nur der Aufsichtsrat geben. Die Praxis behilft sich damit, dass derartige Fragen vom Aufsichtsratsvorsitzenden beantwortet werden. Mit der zusätzlichen Annahme, dass sich der Vorstand diese Auskünfte konkludent zu Eigen macht, entspricht dieses Verfahren auch der gesetzlichen Regelung39. Verschiedentlich wird vorgeschlagen, dem Aufsichtsrat de lege ferenda ein eigenes Auskunftsrecht zu geben40. Zur Bewältigung des praktischen Problems, dass der Aufsichtsrat über die Auskunftserteilung ausdrücklich beschließen müsste, soll ein Ausschuss gebildet werden, der anstelle des Plenums über die Auskunftserteilung in der Hauptversammlung entscheidet41. Eine vorherige Beschlussfassung über jede Auskunftserteilung dürfte allerdings auch mit einem solchen Ausschuss kaum zu erreichen sein. Unabhängig davon bestehen zudem generelle Bedenken gegen eine Ausweitung des Auskunftsrechts und damit der Auskunftsverpflichtung auf Vorstand und Aufsichtsrat. An den meisten Beschlussvorschlägen für die Hauptversammlung sind Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam beteiligt. Dies würde dann dazu führen, dass beide Organe zur Auskunft verpflichtet sind. Die Schaffung zweier konkurrierender Verpflichtungen würde die Auskunftserteilung nur komplizieren. Insbesondere

__________ 37 Vgl. OLG Zweibrücken, AG 1990, 496; OLG Düsseldorf, AG 1968, 23, 24; Decher in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 131 AktG Rz. 150; Siems in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 131 AktG Rz. 29. 38 Vgl. Decher in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 131 AktG Rz. 151 zu Vorgängen mit Dauerwirkung. 39 BVerfG, NJW 2000, 349, 351; OLG Düsseldorf, NJW 1988, 1033, 1034; OLG Stuttgart, AG 1995, 234, 235; OLG Celle, AG 2005, 438, 440; Decher in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 131 AktG Rz. 91; Kubis in MünchKomm.AktG (Fn. 13), § 131 AktG Rz. 20; Semler in MünchHdb.GesR (Fn. 11), § 37 Rz. 5; a. A. Trescher, DB 1990, 515 f. 40 Trescher, DB 1990, 515; Siems in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 131 AktG Rz. 17; Steiner, Die Hauptversammlung der AG, 1995, § 11 Rz. 7; E. Vetter in FS Westermann, 2008, S. 1589 ff. 41 E. Vetter in FS Westermann, 2008, S. 1589, 1604.

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professionelle Anfechtungskläger würden versuchen, widersprüchliche Auskünfte von Vorstand und Aufsichtsrat zu provozieren und damit neue Anfechtungsgründe schaffen42. 4. Anfechtbarkeit nur bei wesentlichem Informationsmangel Wegen Verletzung des Auskunftsrechts kann eine Wahl zum Aufsichtsrat nach § 251 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG nur angefochten werden, wenn ein objektiv urteilender Aktionär die Erteilung der Information als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte angesehen hätte. Im Schrifttum wird diese Formulierung teilweise nicht als Einschränkung der Anfechtbarkeit verstanden. Dass die Information für einen objektiv denkenden Aktionär eine „wesentliche Voraussetzung“ sein müsse, sei gleichbedeutend mit dem Merkmal der Erforderlichkeit i. S. v. § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG43. Diese Ansicht beruft sich auf die Rechtsprechung des BGH. Die insoweit zitierten Urteile44 sind allerdings vor Inkrafttreten der Änderung des Gesetzes ergangen. Mit der Neufassung sollte zwar der von der Rechtsprechung aufgegriffene Relevanzgedanke im Gesetz verankert werden45. Gleichzeitig sollte aber auch die Anfechtung wegen Informationsmängeln inhaltlich eingeschränkt werden. So wird in der Begründung des Regierungsentwurfs auf den Vorschlag der Regierungskommission Corporate Governance Bezug genommen. Diese hatte die Einführung des Wesentlichkeitsmerkmals vorgeschlagen, um die Rechtsprechung zu veranlassen, Hauptversammlungsbeschlüsse künftig weniger wegen Informationsmängeln zu vernichten46. Außerdem wird in der Begründung ausdrücklich hervorgehoben, dass die Information ein „wesentliches Element“ für die Meinungsbildung des Aktionärs darstellen müsse. Das Merkmal der Wesentlichkeit muss deshalb bei der Auslegung der Vorschrift zusätzlich berücksichtigt werden47. Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG n. F. kann es somit Auskunftsverlangen geben, die zwar erforderlich, aber nicht wesentlich sind. Solche Auskunftsverlangen können im Auskunfts-

__________ 42 Ablehnend auch die Regierungskommission Corporate Governance, vgl. Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rz. 61, allerdings unter Hinweis auf den erforderlichen Regulierungsaufwand. 43 Hüffer (Fn. 12), § 243 AktG Rz. 46b; Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 243 AktG Rz. 27; Würthwein in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 243 AktG Rz. 233; Kersting, ZGR 2007, 319, 323 ff. 44 BGH, NJW 2002, 1128, 1129; BGH, NJW 2005, 828, 829. 45 Kersting, ZGR 2007, 319, 323 f.; Hüffer (Fn. 12), § 243 AktG Rz. 46b. 46 Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rz. 140. 47 Koch, ZGR 2006, 769, 795; Noack/Zetzsche, ZHR 170 (2006), 218, 226; vgl. auch OLG Frankfurt v.18.3.2008 – 5 U 171/06, S. 13, veröff. unter www.lg-frankfurt.justiz. hessen.de; a. A. OLG Stuttgart, AG 2006, 379, 387.

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erzwingungsverfahren durchgesetzt werden, berechtigen aber nicht zur Beschlussanfechtung48.

III. Wirkung der erfolgreichen Anfechtung 1. Rückwirkende Nichtigerklärung Die erfolgreiche Anfechtung einer Aufsichtsratswahl führt dazu, dass das Gericht den Wahlbeschluss der Hauptversammlung für nichtig erklärt (§§ 241 Nr. 5, 250 Abs. 1 AktG). Das rechtskräftige Urteil wirkt für und gegen alle Aktionäre sowie die Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats, auch wenn sie nicht Partei des Rechtsstreits sind (§ 252 Abs. 2 Satz 1 AktG). Ab welchem Zeitpunkt diese Wirkung eintritt, insbesondere, ob die Nichtigkeit auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung der Hauptversammlung zurückwirkt oder erst mit der Rechtskraft des Urteils eintritt, lässt das Gesetz offen. Für die allgemeine Anfechtungsklage besteht Einigkeit, dass die gerichtliche Feststellung der Nichtigkeit den angegriffenen Beschluss rückwirkend vernichtet. Dies wird mit der Parallele zur Anfechtung von Rechtsgeschäften im bürgerlichen Recht (§ 142 BGB) sowie vor allem damit begründet, dass der Beschluss von Anfang an rechtswidrig war. Er war, wie Karsten Schmidt treffend formuliert, nicht vorläufig fehlerfrei, sondern als fehlerhafter Beschluss nur vorläufig, d. h. unter dem Vorbehalt seiner Nichtigerklärung, wirksam49. Der Beschluss leidet mit anderen Worten an einem latenten Mangel, der durch das Urteil aufgedeckt wird50. Für die Nichtigerklärung eines Hauptversammlungsbeschlusses zur Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds wird dies heute überwiegend genauso gesehen51. Allerdings ist für jeden Einzelfall zu prüfen, ob die Rückwirkung einer erfolgreichen Anfechtung auch angemessen ist52. Das frühere Schrifttum ging demgegenüber davon aus, dass die Wahl bis zur rechtskräftigen Entscheidung als gültig zu

__________ 48 Weißhaupt, ZIP 2005, 1766, 1771; DAV, ZIP 2005, 774, 779; Göz/Holzborn, WM 2006, 157, 160; Göz in Bürgers/Körber, Aktiengesetz, 2008, § 243 AktG Rz. 8 (S. 1435); unter dem Gesichtspunkt der Rechtsunsicherheit kritisch Spindler, NZG 2005, 825, 829 und Veil, AG 2005, 567, 569. 49 Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 248 AktG Rz. 5. 50 Vgl. Hueck, Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Generalversammlungsbeschlüssen, 1924, S. 198 ff., zit. nach Lowe, Fehlerhaft gewählte Aufsichtsratsmitglieder, 1989, S. 23. 51 Hüffer (Fn. 12), § 252 AktG Rz. 8; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 252 AktG Rz. 12; Zöllner in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 252 AktG Rz. 10 f.; Semler in MünchHdb.GesR (Fn. 11), § 41 Rz. 122; Mimberg in Marsch-Barner/ Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2005, § 37 Rz. 160; Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 252 AktG Rz. 3; Stilz in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 252 AktG Rz. 6; widersprüchlich Drygala in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 101 AktG Rz. 32: keine Rückwirkung, jedoch unter Bezugnahme auf die h. M.; für eine Anerkennung anfechtbarer Wahlakte Schulz, NZG 1999, 89, 100. 52 BGH, NJW 1964, 1367 und NJW 1967, 1711; Hüffer (Fn. 12), § 101 AktG Rz. 17; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 101 AktG Rz. 107.

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behandeln ist53. Dieses Verständnis gilt heute noch für die Anfechtung der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Da die insoweit maßgebenden Bestimmungen54 nicht auf §§ 241 Nr. 5, 251 AktG verweisen, geht die herrschende Meinung davon aus, dass die Ungültigerklärung der Wahl eines Arbeitnehmervertreters im Aufsichtsrat von der Rechtskraft der Entscheidung an, also nur für die Zukunft, wirkt55. 2. Rückwirkung erst ab rechtskräftiger Entscheidung Bei der Anfechtung der Wahl von Anteilseignervertretern im Aufsichtsrat besteht Einigkeit, dass sich der Rechtsverkehr bis zur rechtskräftigen Entscheidung auf den Anschein der Wirksamkeit des Aufsichtsratsamtes und damit zugleich des Bestandes der vom Aufsichtsrat vorgenommenen Rechtshandlungen verlassen kann. Die Person, deren Wahl angefochten wurde, ist während des gesamten Prozesses vollwertiges Mitglied des Aufsichtsrates mit allen Rechten und Pflichten56. Die bloße Erhebung einer Anfechtungsklage hat somit noch keine Auswirkungen. Die rückwirkende Vernichtung des Wahlbeschlusses tritt erst mit der Rechtskraft des der Klage stattgebenden Urteils ein. Damit stehen die zunächst als wirksam anzusehenden Rechtshandlungen im Aufsichtsrat unter dem Risiko, rückwirkend für unwirksam erklärt zu werden. Solange kein rechtskräftiges Urteil vorliegt, kann dieses Risiko durch verschiedene Maßnahmen begrenzt werden (dazu unter III.3.). Liegt die rechtskräftige Entscheidung vor, können deren Auswirkungen nur noch durch Erwägungen des Verkehrsschutzes eingeschränkt werden (dazu unter III.4.). In Ausnahmefällen kann eine Aufsichtsratswahl allerdings auch schon während des Anfechtungsprozesses durch einstweilige Verfügung gemäß §§ 935, 940 ZPO für unwirksam erklärt werden, sofern dies zur Abwendung wesentlicher

__________ 53 Baumbach/Hueck, AktG, 13. Aufl. 1968, § 252 AktG Rz. 3; Schilling in Großkomm. AktG, 3. Aufl. 1973, § 252 AktG Anm. 5; Meyer-Landrut in Großkomm.AktG, 3. Aufl. 1973, § 101 Anm. 23; Stein, Das faktische Organ, 1984, S. 126 ff. 54 Vgl. §§ 11 DrittelbG, 22 MitbestG und 10 l MitbestErgG; vgl. auch § 37 Abs. 2 SEB und § 4 MgVG. 55 Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 22 MitbestG Rz. 18; Wlotzke/Wißmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 1978, § 22 MitbestG Rz. 37; Raiser, MitbestG, 4. Aufl. 2002, § 22 MitbestG Rz. 17; Oetker in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 22 MitbestG Rz. 12. 56 OLG Köln, WM 2007, 837, 838; Drygala in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 101 AktG Rz. 32; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 101 AktG Rz. 227; Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 101 AktG Rz. 97; Karsten Schmidt in Großkomm. AktG (Fn. 1), § 251 AktG Rz. 21; Semler in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 101 AktG Rz. 232; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 101 AktG Rz. 107; a. A. Stein, Das faktische Organ, 1984, S. 151.

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Nachteile oder aus anderen Gründen erforderlich erscheint57. Dabei handelt es sich aber nur um eine vorläufige Regelung. 3. Behebung des Mangels während des Prozesses a) Abberufung und Neuwahl (§ 103 AktG) Ist die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds angefochten, kann den Folgen eines negativen Prozessausgangs dadurch vorgebeugt werden, dass die Hauptversammlung das betroffene Mitglied abberuft und dieselbe oder eine andere Person anschließend neu und fehlerfrei in den Aufsichtsrat wählt (§§ 103 Abs. 1, 101 Abs. 1 AktG). Anstelle einer Abberufung kann das betroffene Mitglied sein Amt auch niederlegen58. Eine solche „Bereinigung“ lässt für die Anfechtungsklage das Rechtsschutzinteresse regelmäßig entfallen59. Für den neuen Wahlbeschluss der Hauptversammlung gelten die allgemeinen Voraussetzungen. Den Vorschlag dafür muss der bisherige Aufsichtsrat unterbreiten (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). Ist die Wahl so vieler Aufsichtsratsmitglieder angefochten, dass der Aufsichtsrat im Falle einer erfolgreichen Anfechtung nicht beschlussfähig wäre, stellt sich die Frage, ob der bisherige Aufsichtsrat überhaupt einen wirksamen Wahlvorschlag beschließen kann. Der neue Wahlbeschluss der Hauptversammlung könnte nämlich mit dem Argument angefochten werden, dass wegen der Anfechtbarkeit des Ausgangsbeschlusses auch der Wahlvorschlag des Aufsichtsrates unwirksam ist. Eine Anfechtbarkeit aus diesem Grund besteht jedoch nicht. Nach § 251 Abs. 1 Satz 2 AktG kann die Anfechtung eines Wahlbeschlusses nämlich nur dann auf die Gesetzwidrigkeit des Wahlvorschlags gestützt werden, wenn die Hauptversammlung an den Vorschlag gebunden ist. Dies ist bei den Wahlvorschlägen des Aufsichtsrates aber nicht der Fall (§ 101 Abs. 1 Satz 2 AktG). Damit führen etwaige Mängel nicht zur Anfechtbarkeit60. b) Bestätigungsbeschluss (§ 244 AktG) Eine andere Möglichkeit, den durch die Anfechtungsklage entstandenen Schwebezustand zu beenden, besteht darin, dass die Hauptversammlung die angefochtene Wahl bestätigt (§ 244 AktG). Mit einem Bestätigungsbeschluss wird der Mangel des Ausgangsbeschlusses mit der Folge geheilt, dass die An-

__________ 57 Vgl. OLG Köln, BeckRS 2008 C (gekürzt auch in BB 2008, 862) zum Widerruf einer Vorstandsbestellung durch einen offensichtlich unwirksam gewählten Aufsichtsrat; OLG Stuttgart, AG 1985, 193; LG Hannover, AG 1989, 449; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 108 AktG Rz. 188. 58 Vgl. dazu Butzke in Obermüller/Werner/Winden, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 4. Aufl. 2001, S. 378. 59 BGH, DB 2003, 426, 427; Volhard in Semler/Volhard, Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 2. Aufl. 2003, § 43 Rz. 54. 60 Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 108 AktG Rz. 86.

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fechtbarkeit für die Zukunft61 nicht mehr geltend gemacht werden kann (§ 251 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 244 Satz 1 AktG). Die Anfechtungsklage wird dann, wenn der Kläger nicht die Hauptsache für erledigt erklärt, abgewiesen62. Für die Vergangenheit kann unter Umständen noch ein Interesse daran bestehen, den Wahlbeschluss für die Zeit bis zum Bestätigungsbeschluss für nichtig zu erklären (§ 244 Satz 2 AktG). Auch bei einer Fortsetzung der Anfechtungsklage mit diesem Ziel ist der Streitgegenstand aber in zeitlicher Hinsicht eingegrenzt. Ein Bestätigungsbeschluss kommt nur bei behebbaren Mängeln, nämlich Verfahrensfehlern, in Betracht63. Besteht der Mangel etwa in der Verletzung des Auskunftsrechts bei der Fassung des Ausgangsbeschlusses, kann er dadurch behoben werden, dass in der Hauptversammlung, die über die Bestätigung beschließt, die beim Ausgangsbeschluss unterbliebenen Auskünfte erteilt werden. Der Vorstand sollte diese Auskünfte von sich aus geben und nicht nur dann, wenn danach erneut gefragt wird64. Die Auskünfte sollten auch dann erteilt werden, wenn sie inzwischen überholt sein sollten. Andererseits kann sich die Verwaltung auf die Berichtigung der Informationsverstöße beschränken. Neue zusätzlich gestellte Fragen müssen nur insoweit beantwortet werden, wie dies für die Meinungsbildung über die Bestätigung erforderlich ist65. Denn es geht nur darum, die bei der erstmaligen Beschlussfassung aufgetretenen Mängel zu beseitigen66. Der praktische Nutzen eines Bestätigungsbeschlusses ist häufig allerdings dadurch begrenzt, dass er wie der Ausgangsbeschluss angefochten und damit die Klärung der Rechtslage weiter verkompliziert und verzögert wird67. c) Gerichtliche Ersatzbestellung (§ 104 AktG) Der einfachste Weg zur Begrenzung der Risiken aus einer Anfechtungsklage wäre eine gerichtliche Bestellung aller Aufsichtsratsmitglieder, deren Wahl

__________

61 BGH, BB 2004, 569; Hüffer (Fn. 12), § 244 AktG Rz. 6; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 244 AktG Rz. 16. 62 Kiethe, NZG 1999, 1086, 1091; Volhard in Semler/Volhard (Fn. 59), § 43 Rz. 52. 63 BGH, ZIP 2006, 227; OLG Dresden, AG 2001, 489, 491; Hüffer (Fn. 12), § 244 AktG Rz. 2; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 244 AktG Rz. 6; Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 244 AktG Rz. 3; Würthwein in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 244 AktG Rz. 16. 64 Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 244 AktG Rz. 3; a. A. OLG München, AG 1997, 516, 519; Kiethe, NZG 1999, 1086, 1090. 65 OLG München, ZIP 1997, 1743, 1747 f.; Decher in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 131 AktG Rz. 230; Tielmann in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, Muster 18.03 Rz. 3; Kocher, NZG 2006, 1, 4; Kiethe, NZG 1999, 1086, 1090; Volhard in Semler/Volhard (Fn. 59), § 43 Rz. 51; vgl. auch Habersack/Schürnbrand in FS Hadding, 2004, S. 391, 405; enger Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 244 AktG Rz. 11 (keine Auskunft auf neue Fragen); für umfassende Auskunftspflicht Heidel in Heidel, Aktienrecht, 2003, § 244 AktG Rz. 5; Grobecker/Kuhlmann, NZG 2006, 1, 5 und wohl auch Würthwein in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 244 AktG Rz. 27. 66 Vgl. BGH, AG 2004, 204. 67 S. dazu ausführlich Zöllner, AG 2004, 397 ff.

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angefochten wurde, bis zur Entscheidung über die Anfechtungsklage. Eine solche Bestellung analog § 104 Abs. 2 Satz 2 AktG würde die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat ohne Hauptversammlungsbeschluss auf eine neue Rechtsgrundlage stellen und damit der Anfechtungsklage jedenfalls für die Zukunft den Boden entziehen. Gegen eine entsprechende Beschlussfassung des Registergerichts bestehen allerdings Bedenken. § 104 AktG setzt nach seinem Wortlaut eine Vakanz im Aufsichtsrat voraus, die, solange der Anfechtungsprozess läuft, nicht besteht. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der Vorschrift im Hinblick auf die Gefahr, dass der Klage stattgegeben wird und dann rückwirkend die Vakanz feststeht, hat das OLG Köln zu Recht verneint68. Wäre das Verfahren nach § 104 AktG auch in diesem Fall zulässig, erhielte es, unabhängig von der Frage, ob schon eine potentielle Vakanz ausreicht, eine im Verhältnis zum Anfechtungsprozess vorgreifliche Wirkung. Eine Beschlussfassung mit dieser Wirkung ist in anderen Fällen wie nach § 246a AktG dem Prozessgericht vorbehalten. Aufgabe des Verfahrens nach § 104 AktG ist es zwar, die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates in bestimmten Situationen sicherzustellen. Die Auswirkungen einer erfolgreichen Anfechtungsklage abzumildern, gehört dazu aber nicht. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn eine auf den rückwirkenden Wegfall der von der Anfechtungsklage betroffenen Aufsichtsratsmitglieder bedingte Bestellung beantragt würde69. Eine solche Bestellung würde erst wirksam, wenn die Bedingung, nämlich die Unwirksamkeit der Wahl, eingetreten wäre. Die Unwirksamkeit der Wahl tritt mit der Rechtskraft eines stattgebenden Urteils (§ 245 Nr. 1 AktG), und zwar nach h. M. rückwirkend ein. Dass dann auch die gerichtliche Bestellung auf den Zeitpunkt der Wahl oder der Antragstellung zurückwirkt, folgt daraus aber nicht. Um dies zu erreichen, müsste die gerichtliche Bestellung ab sofort erfolgen, um die vorläufig bestehende Mitgliedschaft rechtlich abzusichern. Dies ist aber nicht der Zweck des Verfahrens nach § 104 AktG. Eher gerechtfertigt erscheint eine analoge Anwendung des § 104 AktG mit dem Ziel, die Aufsichtsratsmitglieder, deren Wahl angefochten ist, nur bis zur nächsten Hauptversammlung gerichtlich zu bestellen. Einen solchen Beschluss hat das AG München im Falle HVB gefasst, um dem Aufsichtsrat zu ermöglichen, der nächsten Hauptversammlung einen von der Anfechtung unbelasteten neuen Wahlvorschlag zu unterbreiten70. Das LG München I71 hat die Analogie akzeptiert, während das BayObLG72 diese Frage ausdrücklich offen gelassen hat. Eine solche Bestellung dient nur dazu, die Zweifel an der

__________ 68 OLG Köln, WM 2007, 837, 838 wie die Vorinstanz, anders noch das AG Köln; für eine analoge Anwendbarkeit von § 104 AktG auch Kocher, NZG 2007, 372, 373. 69 Dazu näher E. Vetter/van Laak, ZIP 2008, 1806. 70 AG München v. 17.2.2004, referiert in BayObLG, ZIP 2004, 2190, BayVerfGH, NZG 2006, 25 ff. und LG München I, AG 2006, 762, 765 f. 71 LG München I, AG 2006, 762, 766; zustimmend auch Kocher, NZG 2007, 372. 72 BayObLG, ZIP 2004, 2190, 2191.

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Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrates für einen kurzen Zeitraum zu beheben. Dem Ausgang des Anfechtungsprozesses zu dem ersten Wahlbeschluss wird darüber hinaus nicht vorgegriffen. Eine derart begrenzte gerichtliche Bestellung erscheint deshalb erwägenswert. Sie kann insbesondere sinnvoll sein, um die Beschlussvorschläge des Aufsichtsrates an die Hauptversammlung abzusichern73. Eine gerichtliche Bestellung ist zweifelsfrei möglich, wenn das Aufsichtsratsmitglied, dessen Wahl angefochten wurde, sein Amt niederlegt74. Falls die Satzung dafür einen wichtigen Grund verlangt75, ist dieser gegeben, wenn die Niederlegung zur Bereinigung der Rechtslage im Hinblick auf den Anfechtungsprozess erfolgt. Sobald die Niederlegung des Amtes wirksam erklärt ist, kann die Ersatzbestellung gemäß § 104 AktG beantragt und dafür das bisherige Mitglied vorgeschlagen werden. Das Gericht ist zwar nicht verpflichtet, die Vakanz durch Bestellung des bisherigen Amtsinhabers zu beheben. Welche Person bestellt wird, liegt vielmehr in seinem Ermessen. In den meisten Fällen wird das Gericht aber dem Vorschlag des Antragstellers, in der Regel der Vorstand, folgen. Hiergegen ist nichts einzuwenden, zumal die Bestellung in der Regel nur bis zur nächsten Hauptversammlung erfolgt76, auf der dann über die Neuwahl beschlossen werden kann. d) Heilung fehlerhafter Beschlüsse Sind die sich aus der Anfechtung einer Aufsichtsratswahl ergebenden Risiken für die Tätigkeit des Aufsichtsrates durch Neuwahl oder Bestätigungsbeschluss behoben, kann der Aufsichtsrat die in der Zwischenzeit gefassten und möglicherweise unwirksamen Beschlüsse durch erneute fehlerfreie Beschlussfassung oder durch Genehmigung gemäß § 177 BGB heilen. Die Neuvornahme eines Beschlusses führt in der Regel zu einer Heilung des ursprünglichen Beschlusses ex tunc77. Die gleiche Wirkung ergibt sich, wenn eine unwirksame Zustimmung eines Ausschusses nachträglich durch Beschluss des Plenums oder des fehlerfrei besetzten Ausschusses genehmigt wird78.

__________ 73 Für Vorschläge zur Aufsichtsratswahl ist diese Absicherung allerdings nicht erforderlich, s. dazu oben unter a). 74 Vgl. Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 101 AktG Rz. 82 zum Recht auf jederzeitige Amtsniederlegung. 75 S. dazu Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 103 AktG Rz. 90. 76 Vgl. Ziff. 5.4.3 Satz 2 DCGK und dazu Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 104 AktG Rz. 129. 77 OLG Hamm, AG 1991, 399, 400; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 108 AktG Rz. 167. 78 Vgl. Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 108 AktG Rz. 169, die allerdings davon ausgehen, dass der unwirksame Beschluss eines Ausschusses nur durch Genehmigung des Gesamtaufsichtsrates wirksam werden kann.

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4. Praktische Auswirkungen einer Nichtigerklärung a) Wahl einzelner Aufsichtsratsmitglieder Die erfolgreiche Anfechtung einer Aufsichtsratswahl bedeutet nach h. M., dass der Wahlbeschluss nichtig ist und damit der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat rückwirkend die Grundlage entzogen ist79. Die betroffene Person war nur scheinbar wirksam gewählt, die von ihr abgegebenen Stimmen und sonstigen Rechtshandlungen im Rahmen des wahrgenommenen Mandates sind grundsätzlich unwirksam. Die praktischen Auswirkungen dieser Rechtsfolge sind häufig allerdings weniger gravierend als es zunächst scheint. Ist nur die Wahl eines oder weniger Aufsichtsratsmitglieder unwirksam und wurden die Beschlüsse im Aufsichtsrat einstimmig oder mit großer Mehrheit gefasst, hat die erfolgreiche Anfechtung keine weiteren Auswirkungen. Die Beschlüsse des Aufsichtsrates und seiner Ausschüsse haben auch ohne die weggefallenen Stimmen Bestand. Allein der Umstand, dass an diesen Beschlüssen eine oder mehrere nicht berechtigte Personen teilgenommen haben, führt nicht dazu, dass die Beschlüsse deswegen nichtig sind80. Die unwirksamen Stimmabgaben Nichtberechtigter beeinträchtigen die Mitwirkungsrechte der übrigen Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich nicht81. Nur dann, wenn ein Beschluss auf der Beteiligung der unbefugten Teilnehmer beruht, ist er unwirksam82. Bei der Beteiligung einiger weniger Personen, die sich nachträglich als Schein-Mitglieder herausstellen, liegt ein solcher Fall regelmäßig nicht vor. Die Nichtigerklärung der Wahl einzelner Aufsichtsratsmitglieder kann sich ausnahmsweise dann auf die Beschlüsse im Aufsichtsrat auswirken, wenn das betroffene Mitglied einem beschließenden Ausschuss angehört hat und dieser mit nur drei Personen besetzt war. Der rückwirkende Wegfall eines Mitglieds bedeutet dann, dass alle Beschlüsse dieses Ausschusses mangels Beschlussfähigkeit unwirksam sind (§ 108 Abs. 2 Satz 3 AktG). Auf diese Möglichkeit kann sich der Aufsichtsrat aber während des Prozesses einstellen, indem er den Ausschuss mit einem weiteren Mitglied besetzt oder das von der Anfechtungsklage betroffene Mitglied austauscht. b) Wahl mehrerer Aufsichtsratsmitglieder Zu weiterreichenden Rechtsfolgen kann es kommen, wenn die Wahl so vieler Aufsichtsratsmitglieder erfolgreich angefochten wurde, dass bei rückwirkender Betrachtung keine Mehrheitsbeschlüsse zustande kommen konnten. Die rückwirkende Unwirksamkeit der Wahl führt dann nach herrschender Ansicht dazu, dass die während des Prozesses gefassten Beschlüsse des Aufsichtsrates oder Ausschusses von Anfang an nichtig sind. Bei Aufsichtsräten, die der paritätischen Mitbestimmung unterliegen, gilt dies aber nur eingeschränkt. Ist

__________ 79 80 81 82

S. dazu die Nachweise in Fn. 64. So noch BGHZ 12, 327, 330 f. Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 108 AktG Rz. 66 und 69. BGHZ 47, 341, 346; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 108 AktG Rz. 66 und 69.

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dort die Wahl aller Anteilseignervertreter erfolgreich angefochten, können die Beschlüsse, für die eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügt wie z. B. die Billigung des Jahresabschlusses83, gültig sein, wenn nur die Mehrheit der Arbeitnehmervertreter zugestimmt hat. Auch Beschlüsse über die Bestellung oder den Widerruf der Bestellung von Vorstandsmitgliedern können wirksam sein, da für diese Beschlüsse eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder ausreicht, aus denen der Aufsichtsrat tatsächlich, d. h. ohne die unwirksam bestellten Mitglieder, besteht (§ 31 Abs. 1 MitbestG)84. Die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters ist dagegen meist unwirksam, da hierfür eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder erforderlich ist, aus denen der Aufsichtsrat nach Gesetz oder Satzung zu bestehen hat (§ 27 Abs. 1 MitbestG)85. Unwirksam sind regelmäßig auch Ermächtigungsbeschlüsse nach § 32 MitbestG, da an diesen nur die Anteilseignervertreter mitwirken. 5. Einschränkungen der rückwirkenden Nichtigkeit a) Schutz der Interessen Dritter Der Grundsatz, dass die erfolgreiche Anfechtung einer Aufsichtsratswahl zur rückwirkenden Nichtigkeit der zwischenzeitlich gefassten Aufsichtsratsbeschlüsse führt, erweist sich dann als problematisch, wenn schutzwürdige Interessen Dritter betroffen sind. Die Rückwirkung ist einzuschränken, wenn sie zu praktisch schwer erträglichen Konsequenzen führen würde86. Ein solcher Fall wird allgemein angenommen, wenn der Aufsichtsrat während des Prozesses neue Vorstandsmitglieder bestellt hat (§ 84 AktG). Die Annahme, dass bei erfolgreicher Anfechtung diesen Entscheidungen rückwirkend die Grundlage entzogen ist, würde bedeuten, dass auch die Rechtshandlungen der neuen Vorstandsmitglieder rückwirkend nichtig sind. Hiergegen spricht jedoch einerseits der Gutglaubensschutz, wie er sich aus § 15 HGB ergibt, wenn die Änderungen im Vorstand gemäß § 81 Abs. 1 AktG in das Handelsregister eingetragen wurden87. Ergänzend folgt aber auch aus allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen, dass die Rechtshandlungen eines Vorstandsmitglieds, das zwar fehlerhaft bestellt wurde, sein Amt aber tatsächlich ausgeübt hat, bis zur Geltendmachung des Mangels wirksam sind88. Entsprechend anzuerkennen ist auch das Aus-

__________ 83 84 85 86

Vgl. § 29 Abs. 1 MitbestG i. V. m. § 172 AktG. Vgl. Oetker in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 31 MitbestG Rz. 6. Vgl. Oetker in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 27 MitbestG Rz. 4. Vgl. Hüffer (Fn. 12), § 252 AktG Rz. 8; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 250 AktG Rz. 31 und § 252 AktG Rz. 12; Stilz in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 252 AktG Rz. 6; ausführlich Schulz, NZG 1999, 89, 99 f.; a. A. Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 252 AktG Rz. 3 und § 241 AktG Rz. 25. 87 Hefermehl/Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 56), § 84 AktG Rz. 197; Seibt in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 84 AktG Rz. 21; Schulz, NZG 1999, 89, 99 f. 88 Vgl. Hüffer (Fn. 12), § 84 AktG Rz. 10; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 84 AktG Rz. 20; Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 108 AktG Rz. 81; J. Semler in MünchKomm.AktG (Fn. 56), § 108 AktG Rz. 216 f.; Wiesner in MünchHdb.GesR (Fn. 11), § 20 Rz. 34 ff.; Bürgers/Israel in Bürgers/Körber, Aktiengesetz, 2008, § 108 AktG Rz. 20; wohl auch Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 101 AktG Rz. 228.

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scheiden eines Vorstandsmitglieds, das fehlerhaft abberufen, sein Amt aber tatsächlich nicht weitergeführt hat. Diese Überlegungen gelten auch für das Anstellungsverhältnis eines fehlerhaft bestellten Vorstandsmitglieds (§ 84 Abs. 1 Satz 5 AktG). Auch dieses ist für die Dauer der Beschäftigung des betroffenen Vorstandsmitglieds so zu behandeln, als wäre der Vertrag wirksam89. In allen diesen Fällen bedeutet die erfolgreiche Anfechtung der Aufsichtsratswahl somit nur, dass Vorstand und Aufsichtsrat verpflichtet sind, den festgestellten Mangel unverzüglich zu beheben. Es muss dafür gesorgt werden, dass ein beschlussfähiger Aufsichtsrat vorhanden ist, der Bestellung und Anstellung neuer Vorstandsmitglieder fehlerfrei nachholt oder beendet und eine erfolgte Abberufung vorsorglich bestätigt90. Diese Grundsätze lassen sich auf alle Rechtshandlungen übertragen, bei denen der Aufsichtsrat selbst mit unmittelbarer Außenwirkung für die Gesellschaft tätig geworden ist. Dazu gehören insbesondere Rechtsgeschäfte, bei denen der Aufsichtsrat oder einer seiner Ausschüsse die Gesellschaft nach außen vertreten hat91. Hat der Aufsichtsrat z. B. dem Abschlussprüfer den Prüfungsauftrag erteilt (§ 111 Abs. 2 Satz 3 AktG) oder einen Sachverständigen mit einer Sonderuntersuchung beauftragt (§ 111 Abs. 2 Satz 2 AktG), kann der Rechtsverkehr davon ausgehen, dass solche Aufträge wirksam sind. Beginn und Ende eines Anfechtungsprozesses werden zwar in den Gesellschaftsblättern bekannt gemacht (§§ 246 Abs. 4, 251 Abs. 3 AktG) und das der Klage stattgebende Urteil wird zum Handelsregister eingereicht (§ 248 Abs. 1 Satz 2, 251 Abs. 3 AktG). Der Rechtsverkehr ist aber mit der Unterscheidung überfordert, dass die Rechtshandlungen des Aufsichtsrates zwar bis zur rechtskräftigen Entscheidung wirksam, danach aber möglicherweise rückwirkend unwirksam sind. Die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates erfordert vielmehr, dass alle Rechtshandlungen des Aufsichtsrats mit Wirkung nach außen als wirksam anerkannt werden, solange nicht der Mangel endgültig feststeht. b) Rechtsverhältnis der Aufsichtsratsmitglieder Auch im Innenverhältnis zwischen der Gesellschaft und den Aufsichtsratsmitgliedern, deren Wahl angefochten wurde, wirkt sich eine Nichtigerklärung der Wahl nur für die Zukunft aus. Mit den Aufsichtsratsmitgliedern besteht zwar kein vertragliches, sondern ein durch die Organstellung bestimmtes gesetzliches Schuldverhältnis92. Gleichwohl ist es aber wie bei fehlerhaft bestell-

__________

89 BGH, NJW 1964, 1367; OLG Schleswig, ZIP 2001, 71, 74; Hüffer (Fn. 12), § 101 AktG Rz. 17. 90 Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 84 AktG Rz. 21; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, Rz. 360; Thüsing in Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 14 Rz. 48; Wiesner in MünchHdb.GesR (Fn. 11), § 20 Rz. 36; Seibt in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 84 AktG Rz. 22. 91 Vgl. Kindl, AG 1993, 153, 162 zur Außenvertretung durch einen Ausschuss. 92 Allg. M., Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 101 AktG Rz. 92; Semler in MünchKomm.AktG (Fn. 56), § 101 AktG Rz. 156 ff.; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 101 AktG Rz. 8; vgl. auch Hüffer (Fn. 12), § 101 AktG Rz. 2, der von korporativen und schuldrechtlichen Elementen spricht.

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ten Vorstandsmitgliedern gerechtfertigt, dieses Rechtsverhältnis anzuerkennen, wenn es faktisch vollzogen worden ist und sich seine Nichtigkeit erst nachträglich herausstellt. Dass die Mitteilung der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat zum Handelsregister (§ 106 AktG) keine konstitutive Wirkung hat, steht dem nicht entgegen. Entsprechend den Grundsätzen über fehlerhafte Dauerschuldverhältnisse geht es nicht um Gutglaubensschutz, sondern um die Anerkennung des Rechtscheins im Hinblick darauf, dass sich unter Umständen erst nach mehreren Jahren herausstellt, dass die Bestellung unwirksam war. Hat das anfechtbar bestellte Aufsichtsratsmitglied sein Amt tatsächlich wahrgenommen, unterliegt es allen damit verbundenen Pflichten (§§ 93, 116 AktG). Dafür steht ihm auch die gemäß § 113 AktG bewilligte Vergütung zu93. Mit der rechtskräftigen Nichtigerklärung der Wahl endet das Amt dann automatisch. Die betroffenen Mitglieder gehören dem Aufsichtsrat nicht mehr an und sind von jeder weiteren Mitarbeit auszuschließen94. c) Verhältnis zur Hauptversammlung Fraglich ist, ob eine erfolgreiche Wahlanfechtung nicht auch im Verhältnis zur Hauptversammlung nur für die Zukunft wirken sollte. Der Standpunkt der h. M., wonach die Rechtshandlungen eines angefochtenen Aufsichtsratsmitglieds zunächst wirksam, bei erfolgreicher Anfechtung aber rückwirkend unwirksam sind, führt zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Diese lässt sich zwar durch die oben beschriebenen Absicherungsmaßnahmen reduzieren. Ob solche Maßnahmen erforderlich sind, lässt sich aber nicht immer rechtzeitig erkennen. Rechtsunsicherheit besteht vor allem, wenn die Wahl des Aufsichtsratsmitglieds angefochten wurde, das vom Aufsichtsrat zum Vorsitzenden gewählt wurde95. Zur Wahl des Vorsitzenden im Aufsichtsrat wird vor allem beim mitbestimmten Aufsichtsrat angenommen, dass eine Nichtigkeit des Wahlbeschlusses nicht zurückwirkt96. Die Amtshandlungen des Aufsichtsratsvorsitzenden werden stattdessen bis zur Feststellung der Nichtigkeit als wirksam angesehen97. Dem ist zuzustimmen, weil der Aufsichtsratsvorsitzende in der

__________ 93 Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 101 AktG Rz. 219; Semler in MünchKomm.AktG (Fn. 56), § 101 AktG Rz. 234; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 101 AktG Rz. 107; im Ergebnis auch Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 101 AktG Rz. 94. 94 Vgl. Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 101 AktG Rz. 214 f.; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 101 AktG Rz. 108. 95 Diese Wahl erfolgt in der Regel im Anschluss an die Wahl durch die Hauptversammlung, vgl. Ziff. 5.4.3 Satz 3 DCGK. 96 Vgl. §§ 107 Abs. 1 Satz 1 AktG, 27 MitbestG. 97 Mertens in KölnKomm.AktG (Fn. 13), § 108 AktG Rz. 86; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 108 AktG Rz. 164; Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 2006, § 27 MitbestG Rz. 26; Wlotzke/Wißmann/Koberski/ Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 2. Aufl. 1978, § 25 MitbestG Rz. 38; Raiser, MitbestG, 4. Aufl. 2002, § 25 MitbestG Rz. 45; abl. Lowe, Fehlerhaft gewählte Aufsichtsratsmitglieder, 1989, S. 57.

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Organisation des Aufsichtsrates eine Schlüsselfunktion wahrnimmt98 und das vollzogene Amt deshalb besonderen Schutz erfordert. Die Einschränkung der Nichtigkeitsfolge wird zwar nur für den Fall erörtert, dass der Wahlbeschluss des Aufsichtsrates fehlerhaft ist. Das Bestandsinteresse ist aber das gleiche, wenn die Wahl des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung angefochten wurde. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat nicht nur im Aufsichtsrat, sondern auch in der Hauptversammlung eine hervorgehobene Stellung. Nach den üblichen Satzungsbestimmungen leitet er die Hauptversammlung, erläutert den Bericht des Aufsichtsrates (§ 176 Abs. 1 Satz 2 AktG), stellt die Beschlüsse fest und unterzeichnet bei nicht börsennotierten Gesellschaften die Niederschrift der Hauptversammlung (§ 130 Abs. 1 Satz 3 AktG). Bei erfolgreicher Anfechtung der Wahl dieses Aufsichtsratsmitglieds sind alle Beschlüsse der Hauptversammlung anfechtbar oder sogar nichtig (§ 241 Nr. 2 AktG). Auch in diesem Fall ist es daher angebracht, das Vertrauen in das ausgeübte Amt bis zur rechtskräftigen Feststellung des Mangels entsprechend den Grundsätzen über fehlerhafte Dauerschuldverhältnisse zu schützen und die Rechtsfolgen auf eine Korrektur mit Wirkung für die Zukunft zu beschränken. Ist die Wahl so vieler Aufsichtsratsmitglieder angefochten, dass im Erfolgsfalle die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrates nicht mehr gegeben ist, sind nach der herrschenden Meinung zugleich alle Beschlüsse der Hauptversammlung anfechtungsgefährdet, die auf einem Vorschlag des Aufsichtsrates beruhen (§ 124 Abs. 3 AktG). Die mit der Anfechtung der Wahl ausgelöste Rechtsunsicherheit lädt dann dazu ein, vorsorglich auch alle Beschlüsse der nachfolgenden Hauptversammlungen anzufechten. Hat die Wahlanfechtung Erfolg, könnten auch alle späteren Hauptversammlungsbeschlüsse für nichtig erklärt werden. Derartige Auswirkungen stehen im Widerspruch zum äußeren Anschein des trotz Anfechtung vollzogenen Mandats. Die Erhebung der Anfechtungsklage gegen die Aufsichtsratswahl wird zwar in den Gesellschaftsblättern bekannt gemacht (§ 246 Abs. 4 Satz 1 AktG). Danach werden die Mitglieder des Aufsichtsrates aber alljährlich im Anhang (§ 285 Nr. 10 HGB) als Amtsinhaber aufgeführt. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates ist zudem auf allen Geschäftsbriefen anzugeben (§ 80 Abs. 1 Satz 1 AktG). Einschränkende Hinweise auf den laufenden Anfechtungsprozess sind nicht vorgeschrieben. Sie sind auch nicht geboten, weil die Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat bis zur gegenteiligen Entscheidung nicht in Frage steht. Damit wird gegenüber der Öffentlichkeit einschließlich der Aktionäre der Eindruck erweckt, dass die Mitglieder des Aufsichtsrates trotz schwebender Anfechtung ohne Vorbehalt wirksam bestellt sind. Diesem Rechtschein einer uneingeschränkten Kontinuität99 widerspricht es, wenn das bisherige Amt nach mehrjähriger Ausübung wegen erfolgreicher Anfechtung rückwirkend wegfallen soll. Im Verhältnis zur Öffentlichkeit und damit auch zur Hauptversammlung wird die Rechtslage daher besser dadurch beschrieben, dass eine erfolgreiche Wahlanfechtung generell nur ex nunc wirkt

__________ 98 Vgl. Ziff. 5.2 DCGK. 99 S. zu diesem Aspekt vor allem Schulz, NZG 1999, 89 ff.

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und damit die bis zum Urteil vorgenommenen Rechtshandlungen der von der Anfechtung betroffenen Aufsichtsratsmitglieder nicht in Frage stellt100. d) Rechtsbeziehungen im Innenverhältnis Zweifelhaft ist allenfalls, ob diese Umkehrung der herrschenden Ansicht auch innerhalb der Gesellschaft gilt. Soweit es um innergesellschaftliche Rechtsakte ohne Außenwirkung geht, passt der Rechtsscheingedanke offensichtlich nicht. Hat ein anfechtbar bestellter Aufsichtsrat z. B. an Maßnahmen der Geschäftsführung mitgewirkt (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG), wirkt sich die erfolgreiche Anfechtung nur auf das Innenverhältnis zum Vorstand aus. Die Vertretungsmacht des Vorstandes wird dadurch nicht eingeschränkt (§§ 78, 82 Abs. 1 AktG)101. Fällt die Zustimmung infolge der Anfechtung rückwirkend weg, berührt dies die Maßnahme im Außenverhältnis nicht. Das Vertrauen des Rechtsverkehrs muss insoweit nicht geschützt werden. Insgesamt zeigt sich damit, dass die Rückwirkung einer erfolgreichen Wahlanfechtung im Interesse der Rechtssicherheit und des gebotenen Vertrauensschutzes nicht die Regel, sondern die Ausnahme bildet. Insbesondere bei allen Handlungen des Aufsichtsrates mit Außenwirkung führt ein rechtskräftiges Anfechtungsurteil nur zu einer Vernichtung des Wahlbeschlusses mit Wirkung ex nunc.

__________ 100 Schulz, NZG 1999, 89, 100; Stein, Das faktische Organ, 1984, S. 126 ff. 101 Allg. M., vgl. Drygala in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 13), § 111 AktG Rz. 51; Hüffer (Fn. 12), § 111 AktG Rz. 19; Hopt/Roth in Großkomm.AktG (Fn. 1), § 111 AktG Rz. 702; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 22), § 111 AktG Rz. 79.

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Strategien gegen missbräuchliche Anlegerklagen in Deutschland und den Vereinigten Staaten Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Stoneridge und der Kampf gegen „strike suits“ 1. Der Hintergrund von Stoneridge 2. Die Entscheidung a) Der Sachverhalt b) Die Mehrheitsmeinung c) Das Minderheitsvotum 3. Die Folgen III. Der Kampf gegen den Missbrauch in Deutschland 1. Kochs Adler-Entscheidung des Bundesgerichtshofs

2. Die UMAG-Reform 3. Die ARUG-Reform IV. Die Strategien zum Kampf gegen den Missbrauch 1. Die Missbrauchsregelung 2. Öffentlich-rechtliche Rechtsaufsicht 3. Einschränkung missbrauchsanfälliger Rechte 4. Beseitigung der Missbrauchsanfälligkeit V. Zusammenfassung

I. Einleitung Traditionell überlassen die Rechtsordnungen auf beiden Seiten des Atlantiks es grundsätzlich den Anlegern, ihre Rechte gegenüber den Kapitalgesellschaften selbst im privatrechtlichen Klagewege durchzusetzen. Während hierbei in den USA kapitalmarktrechtliche Sammelklagen im Vordergrund stehen, nutzen in Deutschland die Aktionäre das Instrument der Anfechtungsklage. Charakteristisch für beide Verfahren ist, dass ein Einzelner oder eine kleine Gruppe die Rechte sehr vieler durchzusetzen versucht. Angesichts der teilweise sehr hohen Streitwerte, dem schwer kalkulierbaren Prozessrisiko und dem mit einem Prozess verbundenen Störfaktor für das laufende Geschäft besteht seitens der beklagten Gesellschaften vielfach eine erhöhte Vergleichsbereitschaft. Dies kann dazu verführen, mehr oder weniger unbegründete Klagen missbräuchlich zu erheben und sich deren Lästigkeitswert im Vergleichswege abkaufen zu lassen1. Die volks- und betriebswirtschaftlichen Schäden, die durch derartige Geldzahlungen, aber vor allem durch Verzögerungen der beabsichtigten Maßnahmen entstehen, sind unermesslich. Zudem bringt dieser Rechtsmissbrauch die Aktienrechtsordnung und die Aktienrechtskultur in Verruf.

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1 Zur Problematik derartiger Zahlungen Martens, Die Vergleichs- und Abfindungsbefugnis des Vorstands gegenüber opponierenden Aktionären, AG 1988, 118 ff. sowie umfassend Diekgräf, Sonderzahlungen an opponierende Kleinaktionäre im Rahmen von Anfechtungs- und Spruchstellenverfahren, 1990.

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Obwohl viele Anstrengungen unternommen worden sind, dem Klagemissbrauch ein Ende zu bereiten, ist die Diskussion um „räuberische Aktionäre“ in Deutschland und so genannte „strike suits“ in Amerika nicht zur Ruhe gekommen. Vielfältige Reformvorschläge wollen das Missbrauchspotential der Klagen von Anlegern einschränken. Dabei stehen dem Gesetzgeber verschiedene Strategien zur Verfügung (dazu im Einzelnen unter IV.). Am wirkungsvollsten und dadurch prima facie attraktivsten ist ein Eingriff in die materiellrechtliche Grundlage der Klagen, indem Anlegerrechte abgeschafft oder gar nicht erst anerkannt werden; denn wenn dem Anleger keine Rechte mehr zustehen, entfällt per se jeglicher Versuch, sie missbräuchlich durchzusetzen. Allerdings werden dadurch nicht nur missbräuchliche, sondern auch alle ordentlichen Klagen verhindert. Dies ist im Kapitalgesellschaftsrecht beiderseits des Atlantiks deshalb besonders problematisch, weil Anlegerklagen jeweils über den Individualschutz hinaus auch eine institutionelle Funktion erfüllen, indem sie im Interesse aller Anleger und der Allgemeinheit der Rechtskontrolle der Gesellschaften dienen. Materiell-rechtliche Beschränkungen der Anlegerrechte dürfen daher allenfalls als ultima ratio im Kampf gegen missbräuchliche Klagen vorgenommen werden. Dies wird gegenwärtig sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks nicht immer hinreichend berücksichtigt, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Gegenstand der Analyse sollen dabei einerseits die kürzlich ergangene Entscheidung des US Supreme Court in der Sache Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., et al.2 (im Folgenden: Stoneridge, dazu unter II.) und andererseits der aktuelle Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (dazu unter III.3.) in ihrem jeweiligen Diskussionskontext sein.

II. Stoneridge und der Kampf gegen „strike suits“ Das US-amerikanische „corporate law“, das Kapitalgesellschaftsrecht, übt seit langer Zeit eine starke Faszination auf die deutsche Rechtswissenschaft aus und wird von ihr eifrig rezipiert3. Auch die Leitentscheidungen des US Supreme Court finden immer stärkere Beachtung. Besondere Aufmerksamkeit galt indes dem Verfahren in Sachen Stoneridge, da die dort umstrittene Frage nach der Reichweite der kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzhaftung bloßer Teilnehmer auch für deutsche Unternehmen auf dem amerikanischen Markt große

__________ 2 169 L.Ed.2d 627; 128 S. Ct. 761 (2008); vgl. hierzu Adler/Naumann/Wilske, Stoneridge und die Zukunft von Wertpapiersammelklagen (nicht nur) in den USA, RIW 2008, 97 ff.; Fleischer, Zur zivilrechtlichen Teilnehmerhaftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation nach deutschem und US-amerikanischem Recht, AG 2008, 265 ff. 3 Dazu ausführlich v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, passim.

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Relevanz besaß4. Hier soll indes nicht das Interesse der deutschen Wirtschaft an einer solchen Haftungsbegrenzung, sondern die Einordnung von Stoneridge in die amerikanische Diskussion um missbräuchliche kapitalmarktrechtliche Sammelklagen im Vordergrund stehen. 1. Der Hintergrund von Stoneridge In der Entscheidung Stoneridge hat der US Supreme Court eine Ausdehnung der Haftung Dritter für kapitalmarktrechtliche Fehlinformationen abgelehnt. Ansprüche wegen kapitalmarktrechtlichen Fehlverhaltens werden allgemein auf Vorschriften der Securities Acts von 1933 und 1934 gestützt, insbesondere Art. 10(b) des Security Exchange Acts, der im Zusammenspiel mit der durch die SEC erlassenen Ausführungsnorm 10b-5 die Grenzen zulässigen kapitalmarktrechtlichen Verhaltens bestimmt. Obwohl Art. 10(b) Anlegern, die durch Verstöße gegen diese Vorschrift geschädigt wurden, nach dem bloßen Wortlaut keinen Anspruch gewährt, entwickelten die Instanzgerichte bald in Rechtsfortbildung eine solche Anspruchsgrundlage5, die 1971 auch vom US Supreme Court als „implied cause of action“ anerkannt6 und von ihm in der Folgezeit durch zahlreiche weitere Entscheidungen konkret ausgestaltet wurde. Eine Haftung besteht danach, wenn folgende sechs Voraussetzungen erfüllt sind: Es muss (1) eine wesentliche (material) Fehlinformation oder Aufklärungspflichtverletzung vorliegen, die (2) wissentlich oder grob fahrlässig erfolgte (scienter), (3) kausal für ein Aktiengeschäft war, das (4) im Vertrauen auf das pflichtwidrige Informationsverhalten getätigt wurde. Schließlich muss der Anleger (5) einen Vermögensschaden erlitten haben, für den (6) die Pflichtverletzung kausal war7. Ansprüche unter Art. 10(b) werden seit jeher im Wege der Sammelklage (class action) geltend gemacht. Dabei war sich der US Supreme Court stets der besonderen Anfälligkeit solcher Klagen für Missbräuche bewusst. So sprach Justice Rehnquist bereits 1975 von dem besonderen Risiko einer„vexatious litigation“, das hier bestünde und daher im Zweifel eine enge Auslegung der Haftungsregeln gebiete8. Gleichwohl dehnten die Instanzgerichte die Haftung nach Art. 10(b) in der Folgezeit weiter aus und erkannten in den 1980er Jahren auch Ansprüche von Anlegern gegen Dritte an, deren Verhalten nicht selbst unmittelbar zu einer Fehlinformation des Kapitalmarkts geführt, sondern sie bloß mittelbar ermög-

__________ 4 Der Bundesverband der deutschen Industrie hatte einen amicus curiae-Brief beim US Supreme Court eingereicht, um die Interessen der deutschen Wirtschaft zu verdeutlichen, vgl. Brief of Organization for International Investment, International Chamber of Commerce and Federation of German Industries as Amici Curiae in Support of Respondents, August 15, 2007. 5 Grundlegend Kardon v. National Gypsum Co. 69 F. Supp 512 (1946). 6 Vgl. Superintendent of Ins. of N.Y. v. Bankers Life & Cas. Co. 404 U.S. 6 (1971). 7 Vgl. Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 768 (2008). 8 Vgl. Blue Chip Stamps v. Manor Drug Stores 421 U.S. 723, 740 f. (1975).

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licht hatte. Diese bereits relativ gefestigte Rechtsprechung9 wurde von dem US Supreme Court in der Entscheidung Central Bank of Denver, N.A. v. First Interstate Bank of Denver, N.A. et al.10 (im Folgenden: Central Bank) mit fünf zu vier Stimmen verworfen. Der US Supreme Court stützte seine Entscheidung zwar nicht ausdrücklich auf policy-Erwägungen. Kaum einen Zweifel ließ die entscheidungstragende Mehrheit indes an ihrer prinzipiell ablehnenden Haltung gegenüber kapitalmarktrechtlichen Sammelklagen und den mit ihnen verbundenen hohen Verfahrenskosten, die regelmäßig das achtfache der ausgezahlten Schadensersatzleistungen betrugen11. Central Bank war folglich auch Ausdruck einer zunehmenden Skepsis gegenüber Wertpapiersammelklagen, die häufig von Anwälten missbraucht wurden und ihren Zweck, nämlich die Kontrolle eines funktionsfähigen Kapitalgesellschafts- und Kapitalmarktrechts, nur noch unzureichend zu erfüllen schienen. Es hatten sich professionelle Klägeranwälte herausgebildet, denen es vor allem darum ging, ihre eigenen Gebühren in die Höhe zu treiben. Zu diesem Zweck initiierten sie teilweise aussichtslose Sammelklagen, deren Lästigkeitswert sie sich im Vergleichswege mit entsprechend hohen Anwaltskosten abkaufen ließen. Solche missbräuchlichen Klagen beunruhigten auch den US-Kongress, der 1995 gegen das Veto des damaligen Präsidenten Bill Clinton mit dem Private Securities Litigation Reform Act (PSLRA) gegen sie vorging. Der PSLRA enthält in erster Linie prozessuale Regelungen. So wurden die Vorschriften zur Auswahl des Repräsentativklägers (lead plaintiff) der class geändert12, die Anwaltsgebühren der Klägeranwälte werden nunmehr einer gerichtlichen Angemessenheitsprüfung unterzogen und vor allem wurde die Substantiierungslast der Kläger verschärft, um einer vorzeitigen Klageabweisung zu entgehen und die Phase der so genannten discovery zu erreichen, in der das beklagte Unternehmen zur umfangreichen und kostspieligen Dokumentenvorlage verpflichtet ist. Daneben ersetzte der PSLRA aber auch materiell-rechtlich die vorherige gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Anspruchsgegner durch eine anteilige Teilschuld. Trotz entsprechender Gesetzesinitiativen führte der Kongress keine Haftung Dritter für Fehlinformationen des Kapitalmarkts ein, sondern beließ es insoweit bei dem durch Central Bank geschaffenen Rechtszustand.

__________ 9 Vgl. Stevens (dissenting) in Central Bank of Denver, N.A. v. First Interstate Bank of Denver, N.A. et al. 511 U.S. 164, 192 (1994). 10 511 U.S. 164 (1994). 11 Vgl. Central Bank of Denver, N.A. v. First Interstate Bank of Denver, N.A. et al. 511 U.S. 164, 188 f. (1994): „excessive litigation“. 12 Zuvor wurde prinzipiell der Kläger ausgewählt, der als erster eine Klage erhoben hatte. Anwaltskanzleien kooperierten daher mit einer Reihe von Aktionären, die meist bloß einzelne Aktien an zahlreichen Unternehmen hielten, und schon bei geringfügigem Anlass eine Klage erhoben. Nach dem PSLRA soll der Kläger ausgewählt werden, der die Interessen der class am besten vertritt. Im Zweifel soll dies der Kläger mit den meisten Anteilen, also regelmäßig ein institutioneller Anleger sein.

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Nach dem Inkrafttreten des PSLRA sank die Zahl der Sammelklagen tatsächlich zunächst deutlich. Teilweise verlagerten sich die Klagen jedoch bloß von den Bundesgerichten zu den Gerichten der Einzelstaaten mit ihren liberaleren Prozessrechten, bis der Kongress diese Umgehungsstrategie des PSLRA 1998 mit dem Securities Litigation Uniform Standards Act (SLUSA) unterband und die Zuständigkeit für kapitalmarktrechtliche Schadensersatzklagen bei den Bundesgerichten konzentrierte13. Die Zeit weitgehender Freiheit des Kapitalmarkts und seiner Akteure fand jedoch zu Beginn des neuen Jahrtausends in Folge zahlreicher Skandale ein jähes Ende. Anders als früher setzte man zur Lösung der aufgedeckten Kontrollprobleme nun aber weniger auf einen Ausbau der privatrechtlichen Haftung gegenüber Anlegern14, sondern auf eine Verschärfung des Strafrechts und eine Erweiterung der Befugnisse der Börsenaufsicht. Diese Entwicklung, die wirtschaftliches Fehlverhalten mit zum Teil hohen Strafen belegte15, stieß ihrerseits auf Kritik, die eine „overcriminalization“ und eine „undercivilization“ des Kapitalgesellschaftsrechts beklagte16. Danach werde einerseits eigentlich nicht strafwürdiges Verhalten pönalisiert, während andererseits die Rechte der Anleger nicht ausreichend geschützt seien, die für ihre Verluste regelmäßig ohne Regressmöglichkeit blieben. Trotz der restriktiven Haltung des Gesetzgebers und der Gerichte gegenüber privaten kapitalmarktrechtlichen Sammelklagen haben die Streitwerte dieser Verfahren den Stand vor 1995 mittlerweile wieder deutlich übertroffen, und auch die Zahl der Verfahren ist infolge der Immobilienkrise zuletzt deutlich gestiegen17. Die wenigsten Verfahren (nur sechs in der Zeit von 1995–2008)

__________ 13 Dabei entstand unter den Instanzgerichten bald ein Streit darüber, wie weit die Konzentrationswirkung ging. Der US Supreme Court ging in den Entscheidungen Merrill Lynch, Pierce, Fenner & Smith, Inc. v. Dabit 547 U.S. 71 (2006) und Kircher v. Putnam Funds Trust 547 U.S. 633 (2006) angesichts des Gesetzeszwecks des SLUSA, eine Umgehung des PSLRA zu verhindern, von einer umfassenden Zuständigkeit der Bundesgerichte aus. Vgl. hierzu Apel, Eliminating Claims that Jeopardize the Structure of America’s Capital Markets, 5 DePaul Business & Commercial Law Journal 605 (2007). 14 Vgl. freilich Morrissey, After the Ball is Over: Investor Remedies in the Wake of the Dot-com Crash and Recent Corporate Scandals, 83 Nebraska Law Review 732 (2005). 15 Vgl. Brickey, In Enron’s Wake: Corporate Executives on Trial, 96 Journal of Criminal Law & Criminology 397 (2006); Strader, White Collar Crime and Punishment: Reflections on Michael, Martha and Milberg Weiss, 15 George Mason Law Review 45 (2007). In jüngster Zeit ist das Justice Department aber offenbar immer häufiger auch zu einer außergerichtlichen Einigung bereit, vgl. The New York Times v. 9.4.2008: „In Justice Shift, Corporate Deals Replace Trials“. 16 Vgl. Fairfax, The Criminalization of Corporate Law, 2 Maryland Journal of Business and Technology Law 1 (2007); Hurt, The Undercivilization of Corporate Law, 33 Journal of Corporation Law 361 (2008). 17 Adler/Naumann/Wilske, RIW 2008, 97, 101 berichten von einem Anstieg der anhängigen Klagen im Jahr 2007 um 43 %. Dabei ging die Zahl neuer Klagen im ersten Quartal 2008 nur leicht gegenüber dem letzten Quartal 2007 von 63 auf 55 zurück und lag deutlich über dem Wert des Vorjahrs (33), Stanford Law School in Cooperation with Cornerstone Research unter http://securities.stanford.edu/companies.html.

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werden dabei durch ein Urteil abgeschlossen18. In den weitaus meisten kommt es zu einem Vergleich. Dabei belief sich die Summe aller Vergleiche 2006 auf $ 18,3 Mrd19. Diese hohen Kosten und die mit den kapitalmarktrechtlichen Sammelklagen verbundene Unsicherheit werden mit dafür verantwortlich gemacht, dass der Finanzplatz Amerika gegenüber seinen Konkurrenten an Boden verliert20. Die daraus resultierende skeptische Haltung gegenüber Sammelklagen wurde durch Skandale um große Klägeranwaltskanzleien wie Milberg Weiss Bershad & Schulman LLP noch verstärkt21. Milberg Weiss hatte über Jahrzehnte Anlegern verbotene kick-backs dafür gezahlt, dass diese sie als Rechtsbeistand in Sammelklagen beauftragten, und die Kanzlei war damit zum führenden Klägervertreter in solchen Verfahren aufgestiegen. Ein Gesetzesvorschlag zur Reform des Anwaltswesens bei Sammelklagen liegt dem Kongress vor22. Mit großer Spannung wurde in dieser Situation die Entscheidung des US Supreme Court in der Sache Stoneridge erwartet, da sie als richtungweisend für die Zukunft kapitalmarktrechtlicher Sammelklagen angesehen werden musste. Der US Supreme Court hat in ihr seine restriktive Haltung gegenüber kapitalmarktrechtlichen Sammelklagen bestätigt, die vor allem auch auf der missbräuchlichen Verwendung solcher Klagen beruht, und es wie schon in Central Bank abgelehnt, die Haftung nach Art. 10(b) Securities Exchange Act auf diejenigen auszudehnen, die nur mittelbar für eine Fehlinformation des Kapitalmarkts verantwortlich sind.

__________ 18 Naffziger, Those Who Aid and Abet Securities Fraud Do Not Face Private Lawsuits as America Tightens Up on Class Action Lawsuits, 23 Journal of International Banking Law and Regulation 246, 247 (2008). 19 Ebd. 20 Vgl. Interim Report des Committee on Capital Markets Regulation, nach seinem zeitweiligen Vorsitzenden auch „Paulson Committee“ genannt, v. 30.11.2006, S. 71 ff. (abrufbar unter http://www.capmktsreg.org/pdfs/11.30Committee_Interim_ ReportREV2.pdf); Report and Recommendations der Commission on the Regulation of U.S. Capital Markets in the 21st Century vom März 2007, S. 90 ff. (abrufbar unter http://www.capitalmarketscommission.com/portal/capmarkets/default.htm); McKinsey & Co., Sustaining New York’s and the US’ Global Financial Services Leadership, 2007, S. 73 ff., Report im Auftrag von New Yorks Bürgermeister Bloomberg und Senator Schumer (abrufbar unter http://www.senate.gov/~schumer/ SchumerWebsite/pressroom/special_reports/2007/NY_REPORT%20_FINAL.pdf). 21 Vgl. hierzu Gabaldon, Milberg Weiss: Of Studied Indifference and Dying of Shame, 2 Journal of Business and Technology Law 209 ff. (2007); Kamerman, Securities Class Action Abuse: Protecting Small Plaintiff’s Big Money, 29 Cardozo Law Review 853 (2007). 22 Vgl. die gleichlautenden Vorschläge für einen Securities Litigation Attorney Accountability and Transparency Act, H.R. 3931/5463, 110th Cong. (2007/8) und dazu Kamerman, a. a. O. (Fn. 21).

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2. Die Entscheidung a) Der Sachverhalt Der Entscheidung Stoneridge lag eine Sammelklage von Investoren zugrunde, die Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit angeblich fehlerhaften Quartalsberichten des Kabelnetzbetreibers Charter Communications, Inc. geltend machten. Nach ihrem Vortrag hatte Charter seine Quartalsberichte manipuliert, um den Erwartungen der Börse entsprechen zu können. Um die projizierten Umsatzzahlen zu erreichen, habe Charter bestehende Lieferverträge mit Scientific-Atlanta, Inc. und Motorola, Inc., den Beklagten im Stoneridge-Prozess, abgeändert. Danach habe Charter den Beklagten überhöhte Preise für Decoder gezahlt und im Gegenzug tatsächlich nicht erbrachte Werbeleistungen abgerechnet. Durch dieses Verfahren sei der Umsatz von Charter künstlich um ca. $ 17 Mio. aufgebläht worden. Die Beklagten hätten gewusst, dass den Vertragsänderungen keine realen Geschäfte zugrunde lagen und dass diese allein der Fehlinformation des Kapitalmarkts gedient hätten. Sowohl in erster als auch zweiter Instanz wurde die auf einen Schadensersatzanspruch nach Art. 10(b) gestützte Klage der Investoren zurückgewiesen. Die Kläger, deren Begehren die Entscheidung Central Bank offensichtlich entgegenstand, stützten ihre Argumentation auf eine so genannte scheme liability. Danach sollte nicht als bloßer Teilnehmer, sondern als Mittäter bei einer Fehlinformation des Kapitalmarkts haften, wer an einem Plan zur Fehlinformation mitwirkte23. Ansatzpunkt für diese Theorie war die Formulierung in Art. 10b-5(a) der Ausführungsregelung zu Art. 10(b), nach der es u. a. verboten ist, „to employ, any … scheme … to defraud“. b) Die Mehrheitsmeinung Mit 5:3 Stimmen24 entschied der US Supreme Court am 15. Januar 2008, dass den Investoren keine Ansprüche gegen Scientific Atlanta und Motorola zustünden, da sie bei ihren Aktiengeschäften nicht auf ein Verhalten der Beklagten vertraut hätten, das gegen Art. 10(b) des Securities Exchange Act verstieß. Die Entscheidung der Mehrheit wurde von Justice Kennedy formuliert. Er lehnte eine Haftung nach den Grundsätzen der scheme liability wie auch für bloßes aiding and abetting im Rahmen des Art. 10(b) ab und bestätigte insoweit die Entscheidung in Central Bank. Eine Haftung nach Art. 10(b) bestünde nur, wenn sämtliche oben angeführte Anspruchsvoraussetzungen erfüllt und dargelegt seien. Zwar müsse ein haftungsbegründendes Fehlverhalten i. S. d. Art. 10(b) nicht in einer Fehlinformation des Kapitalmarkts oder einer Aufklärungspflichtverletzung bestehen. Es genüge insoweit jeglicher Verstoß gegen die Bestimmungen des Art. 10(b). Ein Schadensersatzanspruch bestehe jedoch nur, wenn der An-

__________

23 Vgl. ausführlich Annus, Scheme Liability under Section 10(b) of the Securities Exchange Act 1934, 72 Missouri Law Review 855 (2007). 24 Richter Breyer hatte sich für befangen erklärt.

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spruchsinhaber bei Aktiengeschäften darauf vertraut habe, dass der Anspruchsgegner sich ordnungsgemäß verhalten habe. Im vorliegenden Fall hätten die Investoren bloß mittelbar darauf vertraut, dass die Geschäfte zwischen Charter und den Beklagten einwandfrei gewesen seien, was nicht genüge. Ein etwaig bestehendes allgemeines Vertrauen des Marktes darauf, dass nicht bloß die veröffentlichten Mitteilungen, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Geschäfte ordnungsgemäß gewesen seien, reiche zur Anspruchsbegründung nicht aus. Wie schon der Wortlaut des Art. 10(b) nahelege, beschränke sich die Haftung nach dieser Vorschrift grundsätzlich auf den Kapitalmarkt und erfasse nicht den allgemeinen Wirtschaftsverkehr, d. h. so genannte secondary actors. Diese hafteten nur dann, wenn Investoren bei ihren Geschäften unmittelbar auf deren Verhalten vertrauten. Ein weites Verständnis des für einen Anspruch nach Art. 10(b) notwendigen Vertrauens stehe auch im Widerspruch zur Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung in Central Bank. Denn dieser habe sich im PSLRA dafür entschieden, die Verfolgung des bloßen aiding and abetting der SEC zu überantworten, und keinen privatrechtlichen Schadensersatzanspruch geschaffen. Die Richter dürften die Haftung nicht eigenmächtig erweitern. Eigene Policy-Erwägungen des US Supreme Court und damit seine eigene Einstellung zum Problem missbräuchlicher Klagen waren für die Entscheidung nur vordergründig von untergeordneter Bedeutung. Die Richter konnten sich bei ihrer Auslegung des Anspruchs nach Art. 10(b) auf den Willen des Gesetzgebers stützen, der mit dem PSLRA und dem SLUSA ja seine ablehnende Haltung gegenüber kapitalmarktrechtlichen Sammelklagen hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hatte und hierin mit der Mehrheit des US Supreme Court übereinstimmte. Justice Kennedy hob gleichwohl noch einmal ausdrücklich die Nachteile der Sammelklagen mit ihrem Erpressungspotential und die Gefahr hervor, die bei einer Ausdehnung der kapitalmarktrechtlichen Haftung auf Dritte für die Wirtschaft der USA entstünde. Die Sammelklagen erlaubten Klägern „with weak claims“ „to extort settlements from innocent companies. […] Adoption of petitioner’s approach would expose a new class of defendants to these risks. […] contracting parties might find it necessary to protect against these threats, raising the costs of doing business“. Dies könnte dazu führen, dass ausländische Unternehmen sich vom amerikanischen Markt zurückzögen und die Finanzmärkte Amerikas weiter geschwächt würden25. c) Das Minderheitsvotum Justice Stevens, der wie bereits in Central Bank das Minderheitsvotum schrieb, warf der Mehrheit zwei Fehler vor. Zum einen habe sie die Entscheidung Central Bank allzu weit ausgelegt. Beide Fälle seien nicht vergleichbar,

__________ 25 Vgl. Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 772 (2008). Justice Kennedy nahm dabei ausdrücklich Bezug auf den Amicus Curiae Brief des BDI.

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da die Beklagten in Stoneridge anders als damals selbst gegen Art. 10(b) verstoßen hätten, indem sie sich wissentlich an den Scheingeschäften zum Zwecke der Bilanzmanipulation beteiligten26. Zum anderen habe die Mehrheit zu hohe Anforderungen an den Nachweis einer Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden gestellt, die auch im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Gerichts stünden. Justice Stevens erkannte die Mehrheitsentscheidung als Teil einer Kampagne, um dem Schadensersatzanspruch aus Art. 10(b) „die Zähne zu ziehen“27. Diese verfehlte Feindseligkeit der Mehrheit gegen den Anspruch aus Art. 10(b) beruhe aber auf einer erst in jüngster Zeit entwickelten allgemeinen Ablehnung sogenannter implied causes of action des US Supreme Court, die im Widerspruch zur früheren Haltung des Gerichts stünde. Denn während der ersten zweihundert Jahre des US Supreme Courts sei dieser von dem Grundsatz ausgegangen, dass gegen jedes Unrecht ein Rechtsbehelf bestehen müsse28. Dieses Verständnis habe auch der historische Gesetzgeber des Art. 10(b) gehabt. Daher greife auch die methodische Rechtfertigung der Mehrheit über eine historische Auslegung nicht und beruhe auf einem Anachronismus. Die von der Mehrheit prognostizierten negativen Auswirkungen einer weiten Anerkennung von Schadensersatzansprüchen seien nicht zu befürchten. Die Wettbewerbsfähigkeit Amerikas würde im Gegenteil sogar gestärkt, da so die Sicherheit und Integrität seiner Märkte gestärkt würden29. 3. Die Folgen Da die Beklagten in Stoneridge gewöhnliche Handelsunternehmen waren und die richterliche Mehrheit ihre Entscheidung auch auf die möglichen negativen Folgen einer Haftungserweiterung für den Wirtschaftsstandort Amerika stützte, schien eine Haftung kapitalmarktnaher Teilnehmer, wie etwa von Wirtschaftsprüfern und Beratern, durch Stoneridge nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Der US Supreme Court machte aber durch seinen Nichtannahmebeschluss im Schadensersatzverfahren gegen die Banken von Enron30 am 22. Januar 2008 deutlich, dass seine Ablehnung einer kapitalmarktrechtlichen

__________ 26 Sehr kritisch insofern auch Souza, Freedom to Defraud: Stoneridge, Primary Liability, and the Need to Properly Define Section 10(b), 57 Duke Law Jounal 1179 (2008). 27 Vgl. Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 779 (2008): „I respectfully dissent from the Court’s continuing campaign to render the private cause of action under § 10(b) toothless“. 28 „that every wrong would have a remedy“, Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 782 (2008). 29 Vgl. Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 779 (2008). 30 Regents of the University of California v. Credit Suisse First Boston (USA), Inc., No. 06-1341, cert. denied, (US Jan. 22, 2008).

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Haftung Dritter weit zu verstehen sei31. Gleichwohl lässt Stoneridge den Instanzgerichten weiter einen Spielraum, kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzbegehren auch gegenüber Dritten zum Erfolg zu verhelfen32. Denn zum einen hat der US Supreme Court ausdrücklich hervorgehoben, dass ein potentiell haftungsbegründendes Verhalten nicht in einer Fehlinformation bestehen müsse, sondern jeder Verstoß gegen Art. 10(b) genüge. Zum anderen hat er es unterlassen, genau zu definieren, wann der notwendige Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden besteht. Es bleibt den Instanzgerichten überlassen, hier Standards zu entwickeln, die sich freilich an der restriktiven Haltung des US Supreme Court in Stoneridge orientieren müssen, der seine seit Beginn der 1990er Jahre bestehende „hostility“33 gegenüber (missbräuchlichen) kapitalmarktrechtlichen Sammelklagen in Stoneridge erneut klar zum Ausdruck gebracht hat.

III. Der Kampf gegen den Missbrauch in Deutschland In Deutschland hat sich die Missbrauchsproblematik bisher im Wesentlichen auf die Anfechtungsklage konzentriert. Eine relativ kleine Schar aktiver Aktionäre hat die Erhebung von Anfechtungsklagen geradezu monopolisiert und betreibt dieses Monopol unter Umständen, die eine missbräuchliche Rechtsausübung indizieren34. Dabei konzentriert man sich auf Beschlüsse, deren Ausführung besonderer Eile bedarf, deren Vollzug aber von der Eintragung ins Handelsregister abhängt, die grundsätzlich nur vorgenommen werden darf, wenn keine Anfechtungsklage anhängig ist – Paradebeispiele sind Verschmelzungsbeschlüsse. Je größer das Eilbedürfnis, umso größer ist auch der Lästigkeitswert einer solchen Anfechtungsklage. Es kann deswegen nicht verwundern, dass der Bundesgerichtshof seinen ersten spektakulären Missbrauchsfall sub specie eines Verschmelzungsbeschlusses entschieden hat. 1. Kochs Adler-Entscheidung des Bundesgerichtshofs Der vormalige Meinungsstand war kontrovers. Während eine Mindermeinung von vorneherein jeglichen Missbrauch ausschloss, weil die Anfechtungsklage nicht nur den Schutz des klagenden Aktionärs, sondern darüber hinaus aus institutioneller Sicht den Rechtsschutz aller Aktionäre, ja des Unternehmens

__________ 31 Vgl. auch Adler/Naumann/Wilske, RIW 2008, 97, 100; Walter, Developments in US Securities Litigation: The Decision in Stoneridge Investment Partners v Scientific Atlanta, 23 Journal of International Banking Law and Regulation, 267, 269 f. (2008). 32 Vgl. auch Fleischer, AG 2008, 265, 267 f. 33 So Justice Stevens in Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 779 (2008). 34 Rechtstatsächliches Material bei Baums/Vogel/Tacheva, Rechtstatsachen zur Beschlusskontrolle im Aktienrecht, ZIP 2000, 1649 ff. sowie bei Baums/Keinath/ Gajek, Fortschritte bei Klagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse? Eine empirische Studie, ZIP 2007, 1629 ff.

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und aller damit verbundenen Interessenträger bezweckt35, hat die auch vom Bundesgerichtshof vertretene Mehrheitsansicht den Missbrauch trotz der auch von ihr anerkannten institutionellen Bedeutung des Anfechtungsrechts aus Gründen individueller Dispositionsfreiheit bejaht36. Dem Anfechtungskläger „verbleibt in jedem Stadium des Verfahrens die Verfügungsbefugnis über sein Anfechtungsrecht. Er ist nicht verpflichtet, sein Handeln als Gesellschafter an der Kontrollfunktion der Anfechtungsklage auszurichten. Vielmehr beschränkt sich das Gesetz darauf, über das auf seiner Stellung als Gesellschafter beruhende Interesse eine Wahrnehmung der Anfechtungsbefugnis und damit eine wirksame Rechtskontrolle zu erreichen“37. Diese erste gegen eine missbräuchlich erhobene Anfechtungsklage gerichtete Entscheidung hat zahlreiche Nachfolgeurteile gefunden38, ohne dass diese Rechtsprechung wesentlich zur Eindämmung des Missbrauchs geführt hätte – wie ja auch die Streitsache Kochs Adler nicht durch ein klagabweisendes Urteil, sondern durch einen die Kläger durchaus begünstigenden Vergleich erledigt worden ist39. 2. Die UMAG-Reform Auch die bisherige Gesetzgebung in Sachen Missbrauchsbekämpfung hat noch keinen hinreichenden Erfolg gehabt. Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)40 hat zwar einigen Reformeifer erkennen lassen, ist aber doch in vieler Hinsicht hinter den selbst gesteckten Zielen zurückgeblieben. Das gilt in wesentlicher Hinsicht für die anfechtungsrelevante Einschränkung des Auskunftsrechts nach § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG. Danach kann die Anfechtungsklage nicht auf „unrichtige, un-

__________ 35 Schilling in Großkomm.AktG, 3. Aufl., § 245 AktG Anm. 25; Meyer-Landrut in FS Schilling, 1973, S. 235, 249; Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S. 14; Bokelmann, Rechtsmissbrauch des Anfechtungsrechts durch den Aktionär?, 1970; Bokelmann, BB 1972, 733, 736 f. 36 Zöllner in KölnKomm.AktG, 1. Aufl. 1984, § 245 AktG Rz. 78–82; Hüffer in Geßler/ Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1984, § 245 AktG Rz. 51–53; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 7. Aufl. 1986, § 45 GmbHG Rz. 137; Lutter in FS 40 Jahre Der Betrieb, 1988, S. 193, 209; Martens, AG 1988, 122 Fn. 23; Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, 1967, S. 189. 37 BGHZ 107, 296, 310. 38 BGH, ZIP 1989, 1388, 1389 – „DAT/Altana I“; ZIP 1990, 168, 171 – „DAT/Altana II“ = BGHZ 112, 9, 30; BGH, AG 1991, 102, 104; NJW 1992, 569; AG 1992, 448; vgl. auch BVerfG, WM 1990, 755. – Auch in der Literatur besteht inzwischen weitestgehender Konsens über die dogmatische Anerkennung einer missbräuchlichen Anfechtungsklage; dazu sei nur hingewiesen auf Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 245 AktG Rz. 23; Hüffer in MünchKomm.AktG, 1992, § 245 AktG Rz. 50 ff.; Karsten Schmidt in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 245 AktG Rz. 53; Boujong in FS Kellermann, 1991, S. 1, 6; Henze, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Aktienrecht, 5. Aufl. 2002, Rz. 1265 ff.; Diekgräf (Fn. 1), S. 28 ff. 39 Abgedruckt in ZIP 1990, 411 f. 40 Vom 22. September 2005, BR-Drucks. 454/05; RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092.

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vollständige oder unzureichende Informationen in der Hauptversammlung über die Ermittlung, Höhe oder Angemessenheit von Ausgleich, Abfindung, Zuzahlung oder über sonstige Kompensationen […] gestützt werden, wenn das Gesetz für Bewertungen ein Spruchverfahren vorsieht“. Die gesetzliche Anbindung an das Spruchverfahren schließt die Anwendung dieser Vorschrift auf Beschlüsse der übernehmenden Gesellschaft im Verschmelzungsverfahren und auf Beschlüsse über Kapitalmaßnahmen aus, für die jedenfalls bisher noch kein Spruchverfahren vorgesehen ist41. Eine weitere gravierende Auslassung besteht darin, dass diese Präklusion nicht auch Informationsmängel außerhalb der Hauptversammlung erfasst, also vor allem nicht Informationsmängel im Strukturbericht, z. B. Informationsmängel im Verschmelzungsbericht42. Diese differenzierte Behandlung der Informationsmängel ist nicht nur unverständlich. Sie führt auch zu Ergebnissen, die mehr oder weniger zufällig sind. Wird auf der Hauptversammlung nach Informationen gefragt, die schon Inhalt des Berichts sind, und verweist der Vorstand auf diese Informationsquelle, so kann die Anfechtungsklage auf einen entsprechenden Informationsmangel gestützt werden. Wiederholt der Vorstand den Berichtsinhalt auf der Hauptversammlung, so tritt die Präklusionsregel des § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG ein43. Ein weiteres Instrument zur Eindämmung missbräuchlicher Anfechtungsklagen findet sich in § 246a AktG. Dort wird in Anlehnung an § 16 Abs. 3 UmwG, §§ 319 Abs. 6, 320 Abs. 1 Satz 3 und 327 Abs. 2 AktG das Freigabeverfahren für Beschlüsse der Kapitalbeschaffung, der Kapitalherabsetzung und zu Unternehmensverträgen geregelt. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die zugehörige Bestandsschutzregelung des § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG. Auch dazu findet sich eine Vorläuferregelung in § 20 Abs. 2 UmwG44. Nach beiden Vorschriften kann der im Freigabeverfahren eingetragene Beschluss auch in Fällen erfolgreicher Anfechtungsklagen nicht mehr beseitigt werden. Er ist also auch

__________ 41 Dazu näher unter IV. 4. 42 Kritisch deshalb Hüffer (Fn. 38), § 243 AktG Rz. 47c; Veil, AG 2005, 567, 570; Spindler, NZG 2005, 825, 829. Der RefE UMAG erstreckte seine Regelung über den Anfechtungsausschluss bei Informationsmängeln auch auf Berichtsmängel – dazu DAV-Stellungnahme zum RefE UMAG, NZG 2004, 555, 563; unklar die Position in DAV-Stellungnahme zum RegE UMAG, ZIP 2005, 774, 779 mit Verweis auf die in diesem Zusammenhang einschlägige Rechtsprechung BGHZ 146, 179 sowie AG 2001, 263, deren Verhältnis zur Neuregelung ungeklärt ist. 43 Auch die in § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG enthaltene Neuregelung ist alles andere als geglückt. Das dort eingefügte Merkmal der Wesentlichkeit hat neben dem ohnehin schon geltenden Merkmal der Erforderlichkeit (BGHZ 149, 158) keine eigenständige Bedeutung; so zutreffend Hüffer (Fn. 38), § 243 AktG Rz. 46b; Veil, AG 2005, 567, 569; a. A. DAV-Stellungnahme zum RegE UMAG, ZIP 2005, 774, 779. 44 Im Falle der Eingliederung und des Squeeze-out fehlt es dagegen an einer entsprechenden Bestandsschutzregelung. Somit ist die Eingliederung ebenso wie der Ausschluss der Aktionäre aufgrund einer erfolgreichen Anfechtungsklage auch bei vorheriger, auf einem Freigabebeschluss beruhender Eintragung reversibel; diese Regelung verteidigend Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1634.

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dann unangreifbar, wenn er auf der Verletzung förmlichen oder materiellen Rechts beruht. Ist schon dieser Befund bemerkenswert und erstaunlich, so wird dieses Erstaunen noch verstärkt, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass im Rahmen der Interessenabwägung nach § 246a Abs. 2 AktG sogar vom Prozessgericht erkannte Rechtsverletzungen einem Freigabebeschluss in Kombination mit der Bestandsregelung nicht entgegenstehen. Nur bei erheblichen Inhaltsfehlern könne die Feststellung der Unbedenklichkeit in der Regel nicht getroffen werden45. Mag diese äußerste Zuspitzung der Interessenabwägung nach dem Wortlaut der inhaltsgleichen Freigaberegelungen noch vertretbar sein, unter den Aspekten materieller Gerechtigkeit ist dieses Ergebnis in hohem Maße bedenklich46. Auf diese Weise führt das Freigabeverfahren zu einer Aushöhlung aktienrechtlicher Vorschriften – und zwar nicht nur förmlicher, sondern auch materieller Vorschriften. Obwohl der Beschluss gegen eine konkrete Vorschrift verstößt und deshalb rechtswidrig und anfechtbar ist, wird dieser Verstoß wegen vorrangiger Gesellschaftsinteressen negiert und der Beschluss nach Eintragung als unangreifbarer Rechtsakt qualifiziert. Die etwaige Schadensersatzpflicht (§ 246a Abs. 4 Satz 1 AktG) erweist sich im Normalfall als platonischer Rechtsbehelf, kann doch der einzelne Aktionär jenseits eines etwaigen Gesellschaftsschadens kaum jemals einen Individualschaden geltend machen. Als realistischer Schadensposten kommt wohl nur der Verwässerungsschaden bei rechtswidrigem Ausschluss des Bezugsrechts in Betracht47. Allerdings ist der mit dem Bezugsrechtsausschluss verminderte Gesellschaftereinfluss mangels relevanten Aktienbesitzes grundsätzlich kein kompensationsfähiger Schaden. Resümiert man diese normativen Schwächen des Freigabeverfahrens in Kombination mit der Bestandsregelung, so kann man diese nur als Fremdkörper im System des Gesellschaftsrechts bezeichnen. Die Durchsetzbarkeit von Beschlussmängeln wird gemessen an dem gegenläufigen Interesse der Gesellschaft an alsbaldiger Eintragung und Bestandskraft des rechtswidrigen Beschlusses. Oder schärfer formuliert: Die vom Gericht erkannte Rechtswidrigkeit des Beschlusses wird im Interesse der Gesellschaft missachtet, verdrängt

__________ 45 Hüffer (Fn. 38), § 246a AktG Rz. 9; ähnlich Decher, AG 1997, 388, 391; Bungert in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2004, 2005, S. 59, 95; Schütz, NZG 2005, 5, 9; Paschos/Johannsen-Roth, NZG 2006, 329; Fassbender, AG 2006, 876; Dörr in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 246a AktG Rz. 23; weitergehend Veil, AG 2005, 567, 574: Freigabe sei nur zu versagen, wenn auch nach den Grundsätzen fehlerhafter Gesellschaften Bestandsschutz für die Vergangenheit zu versagen wäre. 46 Ebenso ablehnend, aber schärfer formulierend Zöllner (Fn. 44), S. 1642 ff., 1646: „Die Freigabeverfahren nach § 16 UmwG und § 246a AktG sind daher in der Abwägungsalternative als legislatives Unrecht zu qualifizieren“. 47 Hüffer (Fn. 38), § 246a AktG Rz. 13; Zöllner (Fn. 44), S. 1638; Paschos/JohannsenRoth, NZG, 2006, 331.

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und mehr oder weniger folgenlos gestellt48. Nun könnte man diesen schwerwiegenden und systemwidrigen Eingriff in das aktienrechtliche Rechtsschutzsystem nach dem Motto „der Zweck heiligt die Mittel“ dann milder beurteilen, wenn er sich gezielt gegen den Missbrauch des Anfechtungsrechts richten würde. Davon kann indes keine Rede sein. Die „Segnungen“ des Freigabeverfahrens und der Bestandsregelungen erstrecken sich unterschiedslos auf die „guten“ wie die „bösen“ Aktionäre, mag auch die gesetzliche Zielsetzung der Kampf gegen die Missbrauchstäter sein. In dieser unterschiedslosen Behandlung aller Aktionäre – unabhängig von ihrer Missbrauchsintention – mit dem Instrumentarium der Missbrauchsbekämpfung liegt ein schwerwiegender Verstoß gegen die Regeln einer auf das Gleichgewicht der Kräfte angelegten Aktienrechtsordnung. In letzter Konsequenz würde eine solche Missbrauchsstrategie zu einer Entleerung oder Beseitigung aller Aktionärsrechte führen, so dass Missbrauch deshalb nicht mehr zu befürchten wäre, weil es mangels Aktionärsrechte keine missbräuchliche Ausübung von Aktionärsrechten mehr geben kann. Auch wenn dieser Zustand noch nicht erreicht ist, so ist doch unverkennbar, dass der gewählte und schon beschrittene Weg der Missbrauchsbekämpfung in diese Richtung führt. 3. Die ARUG-Reform Dass diese Warnungen realistisch sind, wird nicht zuletzt deutlich an der jetzt im Referentenentwurf (RefE) eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (ARUG) enthaltenen Regelung zwecks Erleichterung des Freigabeverfahrens oder – in der Sprache des RefE – zwecks „Eindämmung missbräuchlicher Anfechtungsklagen“49. Die schon in der UMAG-Begründung50 enthaltene Regelung soll nunmehr positiviert werden51. Danach darf die Eintragung

__________ 48 Deshalb einen Freigabebeschluss unter der Voraussetzung einer begründeten Anfechtungsklage grundsätzlich ablehnend Schwab in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 246a AktG Rz. 5; Halfmeier, WM 2006, 1465, 1467 ff.; Meilicke/Heidel, DB 2004, 1479, 1484; Spindler, NZG 2005, 825, 830; wohl auch Noack, ZHR 164 (2000), 274, 283. – Bemerkenswert OLG Jena, ZIP 2006, 1989, 1991: „Will man allerdings das der objektiven Rechtskontrolle dienende materielle Anfechtungsrecht der Aktionäre nicht durch die „verfahrensrechtliche Hintertür“ entwerten, dann ist im Falle einer (wahrscheinlich) begründeten Anfechtungsklage von der Freigabeentscheidung, die dem satzungs- oder gesetzwidrigen Hauptversammlungsbeschluss bestandskräftige Wirksamkeit verschafft, nur sehr zurückhaltend Gebrauch zu machen“. 49 Begründung des RefE des ARUG v. 6. Mai 2008, S. 1. 50 Begründung des UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29. 51 Bemerkenswert die dazu in der Begründung des RefE des ARUG enthaltenen Argumente: „Die amtliche Begründung des UMAG hatte einige gewichtige Hinweise zur Auslegung der Interessenabwägungsklausel nach § 246a Abs. 2 AktG gegeben. Diese sind in der Folgezeit von vielen Gerichten bei der Anwendung des Freigabeverfahrens fruchtbar gemacht worden. Es ist aber gleichwohl immer noch eine gewisse Unsicherheit über das Verständnis der Interessenabwägungsklausel geblieben. Es ist deshalb vielfach gefordert worden, die Grundgedanken der genannten amtlichen Begründung in das positive Recht zu übernehmen und zwar nicht nur in die neue Freigabeverfahrensregelung in § 246a Abs. 2 AktG, sondern ebenso in die Parallelvor-

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durch das Prozessgericht auch dann freigegeben werden, wenn „das alsbaldige Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses vorrangig erscheint, weil die vom Antragsteller dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den Antragsgegner überwiegen und der Eintragung nicht die Schwere der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen entgegensteht“ (§ 246a Abs. 2 Ziff. 3 AktG-RefE ARVG). Gegenüber der noch geltenden Regelung weicht die bisher nur geplante Neuregelung in dem normativen Stellenwert „der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen“ ab. Während diese Rechtsverletzungen bisher in Relation zu setzen sind zu den Nachteilen, die der Gesellschaft und ihren Aktionären durch die Nichteintragung entstehen würden52, soll sich diese Relation zukünftig nur auf die genannten Nachteile für die Gesellschaft und ihrer Aktionäre einerseits und die durch die Eintragung bedingten Nachteile für den anfechtenden Aktionär andererseits erstrecken, während die Schwere der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen von eigenständiger Tatbestandsbedeutung ist. Diese tatbestandliche Verschiebung der geltend gemachten Rechtsverletzung sollte nicht als leicht gewichtet werden. Nach der Zielsetzung der Neuregelung sind die Würfel über die Freigabe im Wesentlichen schon mit und nach der Abwägung der konträren Gesellschafts- und Klägerinteressen gefallen. Die Schwere der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen soll danach nur tatbestandlichen Anhangscharakter haben, kommt also nur noch als ultima ratio in Betracht. Geht man von der Gleichsinnigkeit der UMAG-Begründung und der geplanten Neuregelung53 aus, dann ist die Schwere des behaupteten Rechtsverstoßes nur „bei massiver Verletzung elementarer Aktionärsrechte“54 zu bejahen. Trotz der Stringenz dieser Formulierung sind damit nicht alle Interpretationszweifel ausgeschlossen. So ist z. B. das Teilnahmerecht des Aktionärs von elementarer Bedeutung55. Wird er in dessen Ausübung rechtswidrig gehindert, müsste demnach die Eintragung versagt werden56. Freilich ist zu bedenken, dass der Beschluss zumeist mit demselben Ergebnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jedenfalls bei einer Minimalbeteiligung des ausgeschlossenen Aktionärs auch dann zustande gekommen wäre, wenn der Aktionär an der Hauptversammlung teilgenommen hätte, die Verletzung seines elementaren Aktionärsrechts also für das Beschlussergebnis nicht kausal gewe-

__________

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schriften in § 319 AktG und § 16 UmwG. Dem soll mit diesem Gesetzentwurf entsprochen werden“ (S. 61/62) – Weil die Gerichte der über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Begründung nicht geschlossen gefolgt sind, muss dieser Begründung nun Gesetzeskraft verliehen werden – ein eigenartiges Verständnis im Umgang mit Gesetzen. Zutreffende Bedenken gegen diese Relation bei Zöllner (Fn. 44), S. 1641. Vgl. dazu die in Fn. 51 zitierte Begründung des RefE des ARUG. Begründung des UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29. So zu Recht OLG Frankfurt, ZIP 2007, 629, 631 – „Wella“. So konsequent OLG Frankfurt, ZIP 2007, 629, 631.

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sen ist57. Bedenkt man zudem, dass ein solcher durch die Verletzung des Teilnahmerechts bemakelter Beschluss durch einen Bestätigungsbeschluss geheilt werden kann58, gerät die Qualifikation des Teilnahmerechts als eines elementaren Aktionärsrechts ins Wanken. Man muss sich deshalb in grundsätzlicher Hinsicht darüber verständigen, ob die Schwere der Rechtsverletzung an dem individuellen Aktionärsrecht, das verletzt worden ist, oder an dem Beschlussmangel – heilbar oder nicht heilbar – zu bemessen ist. Geht man von der funktionellen und institutionellen Bedeutung des Freigabeverfahrens und des zugehörigen Bestandsschutzes (§ 246a Abs. 4 Satz 2 AktG) aus, dann ist es nur konsequent, allein auf den Schweregrad des Beschlussmangels und nicht auf die zugrunde liegende Rechtsverletzung abzustellen. Das Freigabeverfahren bezweckt nicht den Individual- oder Minderheitsschutz, sondern den Schutz des Mehrheitswillens in Form des gefassten Hauptversammlungsbeschlusses. Dass es zukünftig nahezu ausschließlich auf diese Fragestellung ankommt, lässt sich dem normativen Stellenwert der weiteren, schon erwähnten Tatbestandsmerkmale entnehmen. Abzuwägen sind zunächst die für die Gesellschaft und ihre Aktionäre durch die Nichteintragung entstehenden Nachteile einerseits sowie die durch die Eintragung entstehenden Nachteile des Anfechtungsklägers andererseits. Auch ohne weitere Konkretisierung der Gesellschaftsnachteile kann doch eindeutig festgestellt werden, dass dieser Abwägungsprozess stets zu Lasten des Anfechtungsklägers ausgeht. Seine Nachteile sind individuell zu bemessen, also nicht etwa nach der Bedeutung der Interessen aller opponierenden Aktionäre zu gewichten. Schon diese Reduktion auf das Individualinteresse des Anfechtungsklägers ist systemwidrig, weil er in dieser Rolle als Hüter der Aktienrechtsordnung auftritt, deshalb eine institutionelle Rolle ausfüllt und ihm in dieser Rolle alle Nachteile der Beschlussopposition zugerechnet werden müssten. Allemal schwerer wiegen hingegen die der Gesellschaft zuerkannten Nachteile; denn diese sollen sich nicht nur auf den Verzögerungsschaden, sondern auf den gesamten Schaden erstrecken, der durch die Nichteintragung entsteht59. Unterbleibt z. B. mangels Eintragung die beschlossene Kapitalerhöhung und damit die Verwertung neuer Aktien, so kann sich die Gesellschaft nicht nur auf die entgangenen Zinsen für

__________ 57 Allerdings soll anlässlich der Verletzung individueller Aktionärsrechte nicht auf die Kausalität, auch nicht auf die potentielle Kausalität, sondern auf die Relevanz des jeweils verletzten Rechts abgestellt werden – so BGHZ 149, 158, 163 ff.; 160, 253, 255 f.;160, 385, 392. Darstellung des Meinungsstands bei Hüffer (Fn. 38), § 243 AktG Rz. 12 ff. 58 Dazu OLG Stuttgart, ZIP 1997, 75, 77; Bork in Lutter/Winter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 16 UmwG Rz. 22a; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 16 UmwG Rz. 44; kritisch Volhard in Semler/Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 16 UmwG Rz. 36, Decher, AG 1997, 388, 394; Riegger/Schockenhoff, ZIP 1997, 2105, 2110. 59 Begründung des UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29. Zutreffend weist Zöllner (Fn. 44), S. 1643 auf die Ungereimtheiten dieses Schadens hin, der als Folge einer begründeten Anfechtungsklage entstehen würde und deshalb im Freigabeverfahren zugunsten der Gesellschaft zu berücksichtigen ist. „Genau besehen ist das ein Stück aus dem Tollhaus“ – Zöllner a. a. O.

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den Zeitraum bis zu einer erneuten Beschlussfassung, sondern auf den gesamten Verlust des Kapitals in der beschlossenen Höhe berufen. Auf welche Weise der Anfechtungskläger sich dieser geballten Interessenlage der Gesellschaft und ihrer Aktionäre soll entziehen können, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Somit kommt alles auf die Schwere der Rechtsverletzung an, was auch immer darunter zu verstehen ist. Resümiert man die vorstehende Kritik in Form von Leitsätzen, so kann man folgende Befunde konstatieren: (a) Die geplante Neuregelung führt mehr noch als ihre Vorgängerregelungen zu einer Umwandlung des Anfechtungsrechts als eines institutionellen Rechtsbehelfs in einen individuellen Rechtsbehelf, indem nunmehr ausschließlich auf das Individualinteresse des Anfechtungsklägers abzustellen ist. Auch die schon in § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG geregelte Schadensersatzpflicht zielt in systemwidriger Weise nur auf den Ersatz des dem Anfechtungskläger entstandenen Schadens, nicht auf Schadensersatz für alle opponierenden Aktionäre60. (b) Die geplante Neuregelung stellt eine Verfahrensregelung dar, unter deren Deckmantel materielle Aktionärsrechte eingeschränkt werden sollen, indem die Rechtsfolgen eines rechtswidrigen Beschlusses im Wesentlichen auf die in ihrer tatsächlichen Bedeutung platonische Schadensersatzpflicht reduziert werden61. (c) Die Neuregelung ist – wie schon ihre Vorgängerregelungen – eine Vorschrift mit überschießender Regelungstendenz, da sie in gleicher Weise Anfechtungskläger mit ehrbaren Klagabsichten wie auch Missbrauchskläger erfasst. Sie bewirkt eine generelle Einschränkung von Aktionärsrechten, obwohl sie doch ihrer eigenen Zielsetzung zufolge nur den Missbrauch bekämpfen soll. Macht man mit diesem Regelungsprinzip Ernst, dann gelangt man in letzter Konsequenz zum Verlust aller Aktionärsrechte und hat damit den Missbrauch mangels aller Missbrauchsmöglichkeiten total beseitigt.

IV. Die Strategien zum Kampf gegen den Missbrauch Die missbräuchliche Ausübung von Aktionärsrechten einzuschränken oder gar zu verhindern, ist auf vielen Wegen möglich. Stets ist jedoch zu fragen, ob mit der beabsichtigten Regelung nicht mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird, ob im Eifer der Missbrauchsbekämpfung nicht unverhältnismäßig in wesentliche Rechte eingegriffen und auf diese Weise auch unverdächtige Aktionäre bestraft werden. Wie eine medizinische Operation nur dann gelungen ist,

__________ 60 Kritisch deshalb M. Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 717 ff.; Zöllner (Fn. 44), S. 1638 f.; die Regelung verteidigend Baums in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 109, 120 f. 61 Sie wird im Zweifel auch auf das einfache Eintragungsverfahren i. S. einer Ermessensregelung für den Registerrichter ausstrahlen – so schon zum Verhältnis des § 16 Abs. 3 UmwG zum Eintragungsverfahren Decher, AG 1997, 388, 395. Freilich werden solche Eintragungsverfahren wegen der durch den Erfolg der Anfechtungsklage bedingten Vernichtbarkeit der eingetragenen Maßnahme zu einem nicht kalkulierbaren Lotteriespiel.

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wenn der Patient nach der Operation mehr Lebensfreude empfindet, so muss auch die Rechtsordnung nach dem Kampf gegen den Missbrauch ein höheres Maß an Rechtsfrieden aufweisen als ohne diesen Kampf. Nach diesem Maßstab sind die nachstehenden Regelungen zu beurteilen. 1. Die Missbrauchsregelung Die mit den geringsten konträren Nebenwirkungen verbundene Regelung beschränkt sich auf die Versagung missbräuchlicher Rechtsausübung. Bei Licht betrachtet ist mit dieser Regelung überhaupt keine Rechtseinschränkung verbunden; denn die missbräuchliche Rechtsausübung verstößt gegen die inneren Grenzen des subjektiven Rechts62. Wird der Missbrauch verhindert, bleibt mithin das subjektive Recht unberührt. Deshalb produziert die gesetzliche Missbrauchsregelung im Kern nicht mehr Regelung als in dem subjektiven Recht angelegt ist. Somit konnte der Bundesgerichtshof in der Kochs AdlerEntscheidung auch ohne explizite Gesetzesregelung die Anfechtungsklage als rechtsmissbräuchlich zurückweisen63. Die gesetzliche Regelung hat – inhaltlich betrachtet – im Kern also nur deklaratorische Bedeutung. Im Mittelpunkt der bisherigen Missbrauchsdiskussion steht die missbräuchliche Erhebung der Anfechtungsklage. Allerdings kommt Missbrauch auch anlässlich der Ausübung aller anderen Aktionärsrechte in Betracht, z. B. anlässlich der Ausübung des Auskunftsrechts, Einleitung des Spruchverfahrens64 und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Für alle diese Fallgestaltungen einen umfassenden Missbrauchstatbestand zu entwickeln, ist nahezu unmöglich, kommt es doch in allen Fällen jeweils auf die konkreten Einzelheiten des Missbrauchsverhaltens an und können diese doch nur vor dem Hintergrund des konkret berührten Rechts festgestellt werden. Entsprechend der thematischen Zielsetzungen beschränken sich daher die nachstehenden Ausführungen auf den Missbrauch im Zusammenhang der Anfechtungsklage. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der in diesen Schwerstfällen ausgesprochene Missbrauchsvorwurf auf die Ausübung anderer Rechte ausstrahlt, so dass nicht nur die Anfechtungsbefugnis versagt wird, sondern inzidenter auch die Ausübung aller anderen Aktionärsrechte. Darüber kann aber nur im Einzelfall befunden werden. Da der Missbrauchstatbestand auch im Zusammenhang der Anfechtungsklage außerordentlich komplex ist, kann er nicht abschließend verfasst werden, es

__________ 62 Ausführlich dazu Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1993, S. 65 ff. 63 Deshalb ist die Anfechtungsklage auch als unbegründet zu behandeln, weil der Aktionär das materielle Recht außerhalb seiner immanenten Grenzen geltend macht und sich somit außerhalb seines Rechts stellt – so richtig Hüffer (Fn. 38), § 245 AktG Rz. 26: „Wer missbräuchlich handelt, bringt sich um sein Recht“. 64 Dazu näher Martens in Timm, Missbräuchliches Aktionärsverhalten, 1990, Missbrauch des Auskunfts-, Frage- und Rederechts sowie im Spruchstellenverfahren, S. 63 ff.; Diekgräf (Fn. 1), S. 271 ff.

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sei denn, man bedient sich einer Generalklausel, mit der allerdings kein über den derzeitigen Stand der Rechtsprechung hinausgehender Erkenntniswert verbunden ist. Angesichts dieser Offenheit einerseits und des Bedarfs an regulativer Klarheit andererseits, kommt wohl nur eine Vermutungsregel65 in Betracht, die zu einem Missbrauchsverdacht führt, der sodann von dem Anfechtungskläger ausgeräumt werden muss. Es handelt sich also um eine widerlegliche Vermutung. Allerdings muss der Tatbestand derart missbrauchsrelevante Merkmale enthalten, dass ein solcher Verdacht in Form einer Missbrauchsvermutung auch der Sache nach gerechtfertigt ist. Wesentlichen Aufschluss über die geeigneten Tatbestandsmerkmale gewinnt man, wenn man sich des Täterprofils erinnert, das in der Vergangenheit stets zur Anschauung des Anfechtungsmissbrauchs hervorgehoben worden ist. Dieses Täterprofil zeichnet sich im Wesentlichen durch vier Merkmale aus: Geringer Anteilsbesitz, wiederholtes Auftreten als Anfechtungskläger, gemeinsames Auftreten mit zahlreichen Streitgenossen (Rudelbildung) und wiederholte Beteiligung an der Verfahrensbeendigung durch Vergleichsabsprachen66. Wer diese Merkmale kumulativ erfüllt, befindet sich im Grenzbereich zwischen ordnungsgemäßer und missbräuchlicher Rechtsausübung, so dass es durchaus gerechtfertigt ist, daran die Vermutung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens zu knüpfen. Auf welche Weise sich der mit der Missbrauchsvermutung bemakelte Anfechtungskläger dieser Vermutung entziehen kann, muss nicht geregelt, sondern kann der richterlichen Würdigung überlassen werden. Diese Missbrauchsregel bedarf der Ergänzung durch die Regelung einer Schadensersatzpflicht des Missbrauchstäters, der der Gesellschaft allen durch die missbräuchliche Erhebung der Anfechtungsklage entstandenen Schaden zu ersetzen hat67. Alternative Schadensersatzpflichten auf der Grundlage der Treuepflicht oder nach § 826 BGB68 bzw. § 823 BGB sind entweder unsicher oder unbegründet und bewirken deshalb weit weniger Abschreckung als eine gesetzliche Regelung. Diese knüpft an die Vermutungsregelung an, setzt also gegebenenfalls einen Entlastungsbeweis voraus, damit sich der Anfechtungskläger seiner Schadensersatzpflicht entziehen kann.

__________ 65 Der Abstand zur geltenden Rechtslage ist nicht allzu groß; denn auch bisher geht man von einer indizierenden Bedeutung objektiven Täterverhaltens und freier Beweiswürdigung aus – dazu näher Hüffer (Fn. 38), § 245 AktG Rz. 25 m. w. N. 66 Zum Täterprofil aus rechtstatsächlicher Sicht Baums/Keinath/Gajek, ZIP 2007, 1629 ff. 67 Eine vergleichbare Schadensersatzpflicht war in § 200 Abs. 2 AktG 1937 enthalten. Diese Vorschrift hatte folgenden Wortlaut: „Für einen Schaden aus unbegründeter Anfechtung sind der Gesellschaft die Kläger, denen Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, als Gesamtschuldner verpflichtet“. 68 Dazu zuletzt LG Frankfurt a. M., ZIP 2007, 2034 mit Anm. v. Falkenhausen/Baus; früher schon BGH, ZIP 1992, 1081 sowie OLG Köln, ZIP 2004, 760, 761.

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Es ist hier nicht der Platz, um über diese Missbrauchsregelung im Detail abschließend zu befinden69. Ihr unbestreitbarer Vorteil liegt in der zielgenauen Bekämpfung des Missbrauchsverhaltens. Das Aktienrecht bleibt im Übrigen unberührt, so dass die der Gesellschaft in Treue verbundenen Aktionäre keinen Schaden nehmen. Schon dieser Zusammenhang sollte den Gesetzgeber veranlassen, einen solchen Regelungsversuch zu unternehmen. 2. Öffentlich-rechtliche Rechtsaufsicht Ein radikales Mittel, den Missbrauch im Anfechtungsverfahren endgültig zu beseitigen, besteht in der Ablösung des auf der Privatinitiative beruhenden Rechtschutzsystems durch die Rechtsaufsicht eines Aktienamtes. Entsprechende Ansätze wurden in den USA mit der Stärkung der SEC seit dem Jahr 2000 verfolgt, die freilich, wie zunehmend erkannt wird, keineswegs die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen konnte70. Eine öffentlich-rechtliche Aufsicht unter Aufgabe individueller Anlegerrechte ist aus heutiger Sicht kein systemverträgliches Mittel zur Lösung des Missbrauchsproblems. Darin läge ein umstürzender Eingriff in die privatrechtliche Verfasstheit der Aktiengesellschaft, die deshalb mehr und mehr in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft umgewandelt werden würde. Eine solche Entwicklung ist derzeit in Deutschland fernliegend, aber nicht generell ausgeschlossen, wie der Blick nach Amerika deutlich macht. In Deutschland besteht die Gefahr, dass die durch UMAG und ARUG forcierte Strategie, den Missbrauch durch eine weitgehende Einschränkung bestehender Aktionärsrechte zu bekämpfen, die Einrichtung eines Aufsichtsamtes geradezu provoziert. Wird das privatautonome Rechtsschutzsystem wegen seines Missbrauchs mehr und mehr eingeschränkt, so wird dadurch nichts anderes als das Versagen dieses Systems dokumentiert. Jedenfalls im Zusammenhang der Aktiengesellschaften von öffentlicher Bedeutung führt ein solches Versagen zu einem für die Allgemeinheit unerträglichen Zustand, der dringender Abhilfe bedarf: An die Stelle des privaten tritt das öffentliche Rechtsschutzsystem. Diese kas-

__________ 69 Die Vorschrift könnte etwa folgenden Wortlaut haben: Abs. 1: Die missbräuchlich erhobene Anfechtungsklage wird als unbegründet abgewiesen. Abs. 2: Es wird vermutet, dass die Anfechtungsklage missbräuchlich erhoben worden ist, wenn die die Anfechtungsklage erhebende Person a) nur über einen geringen Anteilsbesitz verfügt, b) wiederholt Anfechtungsklage erhoben hat, c) die Anfechtungsverfahren wiederholt mit zahlreichen Streitgenossen betrieben hat und d) wiederholt an der Verfahrensbeendigung durch Vergleichsabsprachen beteiligt gewesen ist. Abs. 3: Wird die Anfechtungsklage missbräuchlich erhoben, ist die die Anfechtungsklage erhebende Person verpflichtet, der Gesellschaft den gesamten Schaden zu ersetzen, der ihr durch die Anfechtungsklage entstanden ist 70 Vgl. oben II.1.

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sandrische Prophezeiung mag genügend Warnung sein, um die bisherige Entwicklung im Kampf gegen den Missbrauch zu überdenken. In einem weiteren Sinne kann man von öffentlich-rechtlicher Rechtsaufsicht auch dann sprechen, wenn der Missbrauch durch das Strafrecht bekämpft wird: Rechtsaufsicht durch die Staatsanwaltschaft. Anknüpfungspunkt für ein solches Verständnis sind die Strafvorschriften zur Nötigung (§ 240 StGB) und zur Erpressung (§ 253 StGB). Freilich ist vor einer Entwicklung, die durch weitergehende Vorschriften diesen Zustand der Strafbarkeit verschärft71, zu warnen. Das Strafrecht ist ein systemfremdes Mittel für die Steuerung privatrechtlichen Verhaltens, ebenso für die Steuerung aktienrechtlicher Gesellschaftsund/oder Gesellschafterbeziehungen. Die Vorstellung, dass sich das Aktienrecht im Strafprozess realisiert, ist abschreckend, weshalb auch in grundsätzlicher Hinsicht vor einer nahezu uferlosen Anwendung der Untreuevorschrift (§ 266 StGB) zu warnen ist72. Erweisen sich allerdings alle anderen Mittel im Kampf gegen den Missbrauch als untauglich, ist der Rückgriff auf das Strafrecht als ultima ratio hinnehmbar. 3. Einschränkung missbrauchsanfälliger Rechte Ein Musterbeispiel dieser Strategie bietet die Stoneridge-Entscheidung des US Supreme Court, indem eine Ausweitung der Haftung im Kern mit der Befürchtung missbräuchlicher Ausnutzung einer solchen Haftungsregelung verneint wird. Der Sache nach verbirgt sich dieselbe Strategie hinter dem ständig reformierten Freigabeverfahren in Verbindung mit der den Bestand des Beschlusses sichernden Regelung73. Handelt es sich nicht um die massive Verletzung elementarer Aktionärsrechte soll die Anfechtungsklage durch das Freigabeverfahren ersetzt und der verbleibende Rechtsschutz auf die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen reduziert werden. Dass eine solche Strategie zu einer – jedenfalls im deutschen Recht – unverhältnismäßigen Rechtsverkürzung führt, auf jeden Fall führen kann, ist aus unserer Sicht unbestreitbar. Will man gleichwohl diesen Weg nicht generell verlassen, ist es zwingend geboten, zwischen der Einschränkung materieller Aktionärsrechte und der Einschränkung von Verfahrens- und Hilfsrechten zu unterscheiden. Die Einschränkung materieller Aktionärsrechte kommt entweder gar nicht oder doch nur unter den strengen Voraussetzungen der ultima ratio in Betracht, wenn also alle milderen Mittel versagen. Die unbeteiligten, der Gesellschaft durch Loyalität verbundenen Aktionäre durch Entzug oder Verkürzung ihrer mate-

__________ 71 Der Regierungsentwurf eines AktG 1965 sah in § 389 RegE AktG eine entsprechende Strafverschärfung vor – BT-Drucks. IV/171. Zur damaligen Diskussion, die zur Streichung dieser sowohl die Missbrauchstäter als auch die Organmitglieder erfassenden Vorschrift führte Diekgräf (Fn. 1), S. 7 sowie Kropff, AktG, 1965, S. 508. 72 Dazu im Zusammenhang des Mannesmannverfahrens Martens in FS Westermann, 2008, S. 1191 f. m. w. N. 73 Deutlich Marsch-Barner (Fn. 56), § 16 UmwG Rz. 44: „Die gesetzliche Regelung führt tendenziell zu einer Unterscheidung zwischen schweren und weniger schweren Rechtsverletzungen …“.

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riellen Rechte zu bestrafen, ist schlechterdings unvereinbar mit den Grundsätzen verteilender Gerechtigkeit. Missbrauchsbedingte Eingriffe in Aktionärsrechte kommen also nur für den Bereich der Verfahrens- und Hilfsrechte in Betracht. Würde man ihre Anwendung auf das Kausalitätserfordernis zwischen Verfahrensfehler und Beschlussergebnis reduzieren74, würde sich in vielen Fällen die Missbrauchsproblematik erledigen. Paradebeispiel ist in diesem Zusammenhang die Verletzung des Auskunftsrechts eines Kleinstaktionärs bei etabliertem Mehrheitsbesitz. In ihren Wirkungen ähnlich wäre die Anknüpfung an den Bestätigungsbeschluss. Soweit der Beschlussmangel durch Bestätigungsbeschluss geheilt werden könnte, kann er auch schon im Rahmen des Freigabeverfahrens negiert werden. Im Grundsatz positiv zu beurteilen ist auch unter den hiesigen Aspekten die Regelung des § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG. Dort wird der Verletzung des Auskunftsrechts für Bewertungsrügen dann die Beschlussrelevanz versagt, wenn für Bewertungsrügen ein Spruchverfahren vorgesehen ist. Im Kern wird das Auskunftsrecht nicht eingeschränkt, sondern auf das Spruchverfahren verlagert, wo es der Sache nach auch hingehört. 4. Beseitigung der Missbrauchsanfälligkeit Der Missbrauch ist zumeist auch ein Spiegelbild der geltenden Rechtsordnung. In einer auf Rechtssicherheit und Normenklarheit angelegten und in ihren Kontrollmechanismen funktionierenden Rechtsordnung ist der Nährboden für den Rechtsmissbrauch außerordentlich karg. Es kommt deshalb vor allem darauf an, das Aktienrecht stringent und eindeutig zu regeln, möglichst auf Generalklauseln zu verzichten und äußerstenfalls den Gesellschaften den Freiraum zu eröffnen, sich durch Satzungsregelung selbst des Missbrauchs zu erwehren. Dieses Programm richtet sich sowohl an den Gesetzgeber als auch an die Rechtsprechung, die anders als der US Supreme Court die Aktionärsrechte nicht verkürzen, sondern derart schärfen soll, dass daran jeglicher Missbrauch abprallt. Als legislatorisches Regelungsbeispiel dieser Strategie sei auf die Ausweitung des Spruchverfahrens auf Bewertungsrügen der Aktionäre einer übernehmenden Gesellschaft hingewiesen. Derselbe Gedanke kommt für Bewertungsrügen im Rahmen einer Kapitalerhöhung oder bei Abschluss eines Beherrschungsund Gewinnabführungsvertrages sowie bei Eingliederung für die Aktionäre der herrschenden Gesellschaft in Betracht75. In allen diesen Fällen bietet das Spruchverfahren nicht nur keine Nachteile, sondern erhebliche Vorteile für die

__________ 74 Dazu näher in Fn. 57. 75 Dazu näher Martens, Verschmelzung, Spruchverfahren und Anfechtungsklage in Fällen unrichtiger Umtauschverhältnisse, AG 2000, 301; DAV-Stellungnahme, Gesetzgebungsvorschlag zum Spruchverfahren bei Umwandlung und Sachkapitalerhöhung und zur Erfüllung des Ausgleichsanspruchs durch Aktien, NZG 2007, 497; Bayer, ZHR 163 (1999), 505, 544 ff.; Baums in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 109, 122.

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Strategien gegen missbräuchliche Anlegerklagen

betroffenen Aktionäre. Im Ergebnis besteht damit Waffengleichheit zwischen den Aktionären der übernehmenden und der übertragenden Gesellschaft bzw. der herrschenden und der abhängigen Gesellschaft. In diesen Fällen wie auch in den Fällen der Kapitalerhöhung besteht der unübersehbare Vorteil des Spruchverfahrens gegenüber dem Anfechtungsverfahren darin, dass das Spruchverfahren reformatorisch wirkt, während sich das Anfechtungsverfahren in der Kassation des Beschlusses erschöpft, der anfechtende Aktionär zwar die Beseitigung des rechtswidrigen Beschlusses, aber nicht wie im Spruchverfahren das aus seiner Sicht zutreffende Beschlussergebnis erreichen kann. Von den weiteren Vorteilen des Spruchverfahrens sei in diesem Zusammenhang nur noch auf den das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit prägenden Grundsatz der Amtsermittlung hingewiesen, durch den die Darlegungs- und Beweislast des Aktionärs erheblich erleichtert wird. Ist somit das Spruchverfahren aus vielen Gründen für die Aktionäre von Vorteil und deshalb ohnehin auszuweiten76, so kommt in diesem Zusammenhang noch der wesentliche Aspekt der Beseitigung erheblichen Missbrauchspotentials hinzu. Kaum ein Bereich ist mit derartigen Unsicherheiten und psychologischen Reizwirkungen versehen wie der Bereich der Unternehmensbewertung. Er ist gleichsam ein Eldorado für jeden Missbrauchstäter. Befreit man die Anfechtungsklage von diesem Missbrauchspotential oder mindert man es nur, so ist schon einiges gewonnen. Der Beschluss ist wegen einer Bewertungsrüge nicht angreifbar und deshalb im Anfechtungsverfahren außer Streit. Der Streit verlagert sich in das Spruchverfahren, dessen Auswirkungen für die Gesellschaft zwar auch erheblich sein können, das aber die Wirksamkeit des Hauptversammlungsbeschlusses nicht tangiert.

V. Zusammenfassung Der bisherige Kampf gegen den Rechtsmissbrauch im Aktienrecht gleicht dem Kampf mit der Hydra, der für jedes abgeschlagene Haupt zwei Häupter nachwachsen. Offensichtlich ist die Not der Gesellschaften nach wie vor derart groß, dass man sich nolens volens mit diesen Missbrauchstätern arrangieren muss. Aufgerufen, diesem unseligen Treiben ein Ende zu bereiten, ist primär der Gesetzgeber, der ja auch über das geeignete Regelungsinstrumentarium verfügt. Leider kann man bisher nicht feststellen, dass er davon hinreichenden, effizienten Gebrauch gemacht hat. Die im deutschen Aktienrecht konzentrierten Bemühungen um eine ständige Reformierung des Freigabeverfahrens zugunsten der Gesellschaften sind in vieler Hinsicht kritikwürdig. Ihr Preis ist ein Verlust an materieller Gerechtigkeit, der Missbrauchstäter und der Gesellschaft loyal verbundene Aktionäre in gleicher Weise trifft. Wenn die Eintragung nur noch „bei massiver Verletzung elementarer Aktionärsrechte“ unter-

__________ 76 Eine solche Ausweitung bedingt allerdings, sollen die im Text genannten Vorteile erreicht werden, auch eine entsprechende Ausweitung der den Bestand des jeweiligen Beschlusses sichernden Regelung, wie sie z. B. in §§ 246a Abs. 4 Satz 2 AktG, 20 Abs. 2 UmwG vorgesehen ist.

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bleiben soll, liegt darin eine Preisgabe aller anderen Aktionärsrechte. In Verbindung mit der korrespondierenden Bestandsschutzregelung ist der rechtswidrige Beschluss unangreifbar, lediglich noch Spielmaterial in Form platonischer Schadensersatzansprüche. Dieser Weg der Missbrauchsbekämpfung führt in die Irre wie auch das in der Strategie vergleichbare Vorgehen in Amerika gegen missbräuchliche kapitalmarktrechtliche Sammelklagen. Mit Recht wird dem US Supreme Court eine „mistaken hostility towards the § 10(b) private cause of action“77, d. h. eine verfehlte Feindschaft gegenüber dem Schadensersatzanspruch wegen kapitalmarktrechtlichen Fehlverhaltens vorgeworfen, da er diesen Anspruch allein unter dem Aspekt seines Missbrauchs bewertet und deshalb die Rechte aller Anleger gleichermaßen verkürzt. Was Not tut, das ist jeweils eine Missbrauchsregelung, die zielgenau den Missbrauchstäter erfasst und allein ihn seiner Anlegerrechte entledigt. Der Kampf gegen den Missbrauch kann nicht durch die umfassende Beseitigung von Aktionärsrechten gewonnen werden.

__________ 77 So der Verfasser des Minderheitsvotums Justice Stevens in Stoneridge Investment Partners, LLC v. Scientific-Atlanta, Inc., 128 S. Ct. 761, 779 (2008).

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Die unverhältnismäßig teure Nachbesserung beim Kauf Inhaltsübersicht I. Der Ausgangsfall II. Die Entscheidung des BGH III. Der Nacherfüllungsanspruch 1. Rechtsgrundlagen 2. Einschränkungen IV. Rechtsfolgen im Anwendungsbereich des Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung 1. Voraussetzung des Anspruchs

2. Anspruchsinhalt V. Zwei Sonderfragen 1. Der Zeitpunkt für die Berechnung der Herstellungskosten 2. Abzug neu für alt VI. Bedeutung für den Handelskauf VII. Zusammenfassung

I. Der Ausgangsfall Kürzlich hatte der V. Zivilsenat des BGH1 folgenden Fall zu entscheiden: Der Kläger hatte von dem Beklagten im Jahr 2000 ein mit einem Mehrfamilienhaus bebautes Grundstück gekauft. Dem Kaufvertrag war eine dort als verbindlich bezeichnete Liste mit Angaben über die bestehenden Mietverhältnisse und die Wohnflächen beigefügt. Darunter befanden sich zwei Dachgeschosswohnungen von 48 und 38 qm; diese waren aber baurechtswidrig. Der Kläger verlangte daher Schadensersatz nach § 463 BGB a. F. wegen des Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft. Dieser Anspruch ist dem Grunde nach rechtskräftig zugesprochen worden. Gestritten wird nun noch über die Höhe des zu ersetzenden Schadens. Der Kläger verlangt rund 217 000 Euro als Kosten eines den heutigen baurechtlichen Anforderungen entsprechenden Ausbaus der beiden Wohnungen. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses betrug der nach der Ertragswertmethode berechnete Minderwert des Grundstücks wegen der Unbenutzbarkeit der beiden Wohnungen aber nur 90 000 DM gleich 46 016 Euro. Um die Differenz zwischen beiden Beträgen, also um rund 171 000 Euro, streiten die Parteien. Das OLG Düsseldorf hatte als Vorinstanz nur den geringeren Betrag zuerkannt und die weitergehende Klage abgewiesen. Im Grundsatz schulde nämlich nach § 463 BGB a. F. der Verkäufer nicht die Herstellung des mangelfreien Zustandes, sondern nur den Ausgleich des mangelbedingten Minderwerts. Für dessen Ermittlung könnten zwar die Kosten der Mangelbeseitigung als Anhalt dienen. Wenn sie aber erheblich höher ausfielen, müsse wieder auf den eigentlich zu ersetzenden Minderwert zurückgegriffen werden.

__________ 1 BGH, NJW 2008, 436 f.

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II. Die Entscheidung des BGH Der BGH2 hat das Berufungsurteil in vollem Umfang gebilligt: Zwar sei es grundsätzlich zulässig, die für den sog. kleinen Schadensersatz maßgebliche Wertdifferenz nach den Kosten für die Herstellung des mangelfreien Zustands zu berechnen. Doch bilde dies nur eine vereinfachte Form der Berechnung des auszugleichenden Minderwerts. Denn der Verkäufer sei – auf der Grundlage des BGB in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung – nicht zur Beseitigung des Mangels bzw. zur Herstellung der zugesicherten Sacheigenschaft verpflichtet. Wegen des Fehlens eines entsprechenden Primäranspruchs stehe dem Käufer daher ein eigenständiger, unmittelbar auf Ersatz der Herstellungskosten gerichteter Sekundäranspruch nicht zu. Wenn diese Herstellungskosten deutlich höher seien als die Wertminderung und die Abweichung nicht nur mit dem Fehlen eines Abzugs „neu für alt“ bei den Herstellungskosten zu erklären sei, könne der Käufer also nur den Ersatz der Wertminderung fordern. Bemerkenswert an dieser Begründung ist der Hinweis, das Urteil beruhe auf der bis zum 31.12.2001 geltenden Rechtslage3. In der Tat wäre ja auch seit der Schuldrechtsreform das Argument nicht mehr richtig, der Verkäufer sei nicht zur Herstellung der zugesicherten Eigenschaft verpflichtet (§§ 433 Abs. 1 Satz 2, 439 BGB). Daher bleibt die im Folgenden zu prüfende Frage, wie der Fall nach dem reformierten Schuldrecht zu entscheiden ist. Denn die Antwort ist keineswegs selbstverständlich: Der Nacherfüllungsanspruch des Käufers auf Herstellung unterliegt ja mancherlei Einschränkungen.

III. Der Nacherfüllungsanspruch Wegen dieser Einschränkungen bleibt zu prüfen, ob und wie sich die Rechtslage wirklich zu Gunsten des Käufers verändert hat. 1. Rechtsgrundlagen Der alte § 463 BGB ist auf den ersten Blick ersatzlos verschwunden. Ein Grund dafür war, dass Zusicherungen oder Arglist einer Partei auch bei anderen Typenverträgen vorkommen und dort die gleichen Rechtsfolgen haben sollen. Dementsprechend ist die Regelung hinsichtlich der Zusicherung jetzt in das Allgemeine Schuldrecht gerückt, nämlich in den teils neu gefassten § 276 BGB. Denn dort wird jetzt als Grund für ein Vertretenmüssen die Übernahme einer Garantie genannt4 (die dort weiter erwähnte Übernahme eines Beschaffungsrisikos ersetzt den alten § 279 BGB)5.

__________ 2 BGH, NJW 2008, 436 Rz. 11 f. 3 BGH, NJW 2008, 436 Rz. 12. 4 Anders noch der Vorschlag der Schuldrechtskommission, vgl. BMJ (Hrsg.), Abschlussbericht der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1992, S. 121 ff. 5 Allerdings kann die Garantie nicht mehr ohne weiteres dem Leistungsversprechen des Verkäufers entnommen werden: BGH, ZGS 2008, 28 Rz. 35 ff.

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Dagegen war eine besondere Erwähnung der im alten § 463 BGB angeordneten Arglisthaftung unnötig: Diese folgt jetzt ohne weiteres daraus, dass die mangelfreie Lieferung nach § 433 Abs. 1 Satz 2 BGB eine Rechtspflicht des Verkäufers bildet, deren Verletzung nach den §§ 280 ff. BGB ohne weiteres zu einer Ersatzpflicht führt. Die Arglist des Verkäufers verlängert jetzt nur noch die Verjährungsfrist (§ 438 Abs. 3 BGB) und beschränkt die Möglichkeit eines Haftungsausschlusses (§ 444 BGB). Rechtsfolge des alten § 463 BGB war der Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Das ging über Wandelung und Minderung weit hinaus, auch über den Ersatz von Begleitschäden aus positiver Forderungsverletzung. Insbesondere umfasste der Ersatz hier auch die Nachteile aus der Mangelhaftigkeit der Sache, wobei dieser Posten durch den BGH6 auf die bloße Wertdifferenz beschränkt war. Seit der Schuldrechtsreform ergibt sich die Ersatzpflicht für das positive Interesse (jetzt als „Schadensersatz statt der Leistung“ bezeichnet) aus den §§ 280 Abs. 3, 281, 283 BGB, vielleicht u. U. in Verbindung mit § 311a Abs. 2 Satz 1 BGB. Ob auch dieser Schadensersatz sich – wie früher – auf den Minderwert beschränkt, bleibt zu prüfen. 2. Einschränkungen Der BGH hat in der Ausgangsentscheidung für wesentlich gehalten, dass der Verkäufer nach dem damals geltenden Recht nicht zu mangelfreier Leistung verpflichtet gewesen sei. Das hat sich für neue, seit dem 1.1.2002 abgeschlossene Verträge geändert: Der Anspruch auf mangelfreie Erfüllung setzt sich nach mangelhafter Lieferung regelmäßig in dem Nacherfüllungsanspruch (§ 439 Abs. 1 BGB) fort. Diese Regel hat jedoch gewichtige Ausnahmen. a) Die Nacherfüllung kann unmöglich sein, § 275 BGB. Das ist gerade für den Ausgangsfall denkbar: Der Ausbau von Mansarden zu Wohnungen kann baurechtlich überhaupt unzulässig sein. Dann kann weder Nacherfüllung durch einen solchen Ausbau noch durch die Leistung eines anderen Grundstücks mit ausbaufähiger Mansarde verlangt werden. Zwar ist eine solche Ersatzlieferung auch beim Stückkauf nicht allemal ausgeschlossen7. Aber die nötige Gleichartigkeit zwischen dem gekauften und einem als Ersatz zu leistenden Grundstück wird sich kaum jemals bejahen lassen. Der Nacherfüllungsanspruch scheitert dann also völlig. b) Aber selbst bei einer möglichen Nacherfüllung kann der Verkäufer die vom Käufer gewählte Art unter den Voraussetzungen des § 439 Abs. 2 Satz 1 BGB verweigern, nämlich „wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist“. Das lässt zunächst an § 275 Abs. 2 BGB denken. Aber es gibt doch Unterschiede. Solche sind schon deshalb nötig, weil § 439 Abs. 3 Satz 1 BGB gerade „unbeschadet des § 275 Abs. 2 und 3“ gelten soll, also offenbar einen anderen

__________

6 Vgl. Westermann in MünchKomm.BGB, 3. Aufl. 1995, § 463 BGB Rz. 22 für den „kleinen“ Schadensersatz. 7 So die seit BGHZ 168, 64 Rz. 18 ff. herrschende Meinung; Nachweise bei Weidenkaff in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 439 BGB Rz. 15 sub cc.

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Inhalt haben muss. Das ist auch sinnvoll. Denn bei § 275 Abs. 2 und 3 BGB geht es darum, ob überhaupt geleistet werden muss, dagegen bei § 439 Abs. 3 BGB zunächst nur darum, ob gerade in der vom Käufer gewählten Art erfüllt werden soll. Die deutsche Schuldrechtskommission hatte das Wahlrecht zwischen der Mängelbeseitigung und der Nachlieferung zunächst dem Verkäufer gewähren wollen8. Er muss ja auch die Kosten tragen und kann diese am besten einschätzen. Die EG-Richtlinie für den Verbrauchsgüterkauf9 hat dann aber zwingend den Käufer/Verbraucher für wahlberechtigt erklärt. Um das Kaufrecht in diesem Punkt nicht zu spalten, hat der deutsche Gesetzgeber dann für das allgemeine Kaufrecht ebenso entscheiden. Wegen des Unterschieds zu § 275 Abs. 2 BGB wird man die „Unverhältnismäßigkeit“ bei § 439 Abs. 3 BGB eher bejahen müssen als das „grobe Missverhältnis“ bei § 275 Abs. 2 BGB10. Eine vom Käufer geforderte Art der Nacherfüllung kann also zwar möglich sein, darf aber trotzdem wegen ihrer unverhältnismäßigen Kosten vom Verkäufer verweigert werden. Gerade so dürfte es in dem Ausgangsfall liegen. Denn wenn ein Kostenaufwand von ca. 217 000 Euro nur zu einer Werterhöhung von ca. 46 000 Euro führt, übersteigen die Kosten den Nutzen um etwa das 4,7-fache. Ein solches Missverhältnis bedeutet mehr als das Zehnfache der Zahlen, die für § 439 Abs. 3 BGB als noch verhältnismäßig diskutiert werden (etwa 130 %)11. In dem vom BGH entschiedenen Fall hätte sich also der Verkäufer gegen den teuren Ausbau wehren können. Auch nach neuem Recht hätte sich also das Ergebnis nicht geändert, weil der Anspruch auf den Ausbau der Mansarde an § 439 Abs. 3 BGB gescheitert wäre.

IV. Rechtsfolgen im Anwendungsbereich des Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung 1. Voraussetzung des Anspruchs Führt ein Nacherfüllungsverlangen des Käufers zum Erfolg, also zu einer Kaufsache in mangelfreiem Zustand, so kommt ein umfassender Schadensersatzanspruch nicht mehr in Betracht; zu ersetzen sein können dann allenfalls Verzögerungs- oder Begleitschäden12. Unterbleibt dagegen eine wirksame Nacherfüllung (ggf. nach einem zweiten vergeblichen Versuch des Verkäufers, § 440 Satz 2 BGB), so ist bei Vertretenmüssen des Verkäufers der Weg zu den §§ 280 Abs. 3, 281 BGB frei. Allerdings muss regelmäßig dem Verkäufer zunächst nach § 281 Abs. 1 BGB noch eine angemessene Frist zur Leistung gesetzt wer-

__________ 8 Abschlussbericht (Fn. 4), S. 212. 9 Vom 25.6.1999, Art. 3 Abs. 2 und 3, zwingend nach Art. 7. 10 H. M., vgl. Westermann in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 439 BGB Rz. 21 mit Angaben. 11 Vgl. Westermann (Fn. 10), § 439 BGB Rz. 24 mit Nachweisen. 12 Vgl. Weidenkaff (Fn. 7), § 439 BGB Rz. 22 sub d.

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den. Doch ist dies nach § 440 Abs. 1 BGB über die Fälle von § 281 Abs. 2 BGB hinaus entbehrlich, wenn der Verkäufer die Nacherfüllung verweigert oder wenn die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung gescheitert oder unzumutbar ist. Dann endlich schuldet der Verkäufer, der den Mangel zu vertreten hat (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB), Schadensersatz statt der Leistung. 2. Anspruchsinhalt a) Der Inhalt dieses Anspruchs ergibt sich aus Folgendem: Er soll an die Stelle der primär geschuldeten Leistung treten, also diese ersetzen. Primär geschuldet ist die mangelfreie, nämlich den Vereinbarungen entsprechende (§ 434 Abs. 1 Satz 1 BGB) Beschaffenheit. Im Ausgangsfall war das die Ausstattung der Mansarde mit zwei vermietbaren Wohnungen. Diesen Zustand hatte der Verkäufer also – wenn nicht § 275 BGB eingreift – primär herzustellen. Der Übergang zu den für die Herstellung erforderlichen Kosten gelingt analog § 249 Abs. 2 BGB. b) Die Eigenart des Ausgangsfalls besteht in dem Missverhältnis zwischen den Herstellungskosten und dem durch sie zu bewirkenden Vermögenszuwachs. Das führt zu der Frage nach der Anwendbarkeit von § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB. Sie ist zu bejahen: § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB gilt auch für den Anspruch auf Kostenersatz13. Nach der Rechtsprechung ist hier Unzumutbarkeit i. S. v. § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB zu bejahen. Zwar kann man für Gebäude oder bebaute Grundstücke nicht einfach die 130 %-Grenze anwenden. Diese ist von der Praxis für die Frage entwickelt worden, ob ein beschädigtes Kraftfahrzeug noch repariert werden darf oder ob der Wiederbeschaffungswert für ein gleichwertiges Ersatzfahrzeug hingenommen werden muss14. Aber ein Grundstück oder ein Gebäude sind regelmäßig um ein Vielfaches individueller als ein Kraftfahrzeug. Daher wiegt das durch die Herstellung zu befriedigende Integritätsinteresse des Geschädigten erheblich schwerer. Immerhin hat aber der BGH15 es bei einem Verhältnis der Herstellungskosten zu der Werterhöhung von 10 zu 1 als Rechtsfehler angesehen, dass § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB nicht geprüft worden ist. Im Ausgangsfall lag das Wertverhältnis nur bei etwa 4 zu 1. Doch dürfte auch das für die Unzumutbarkeit genügen. Denn das Fehlen der Mansardenwohnungen scheint für den Käufer keine Nachteile gebracht zu haben, die über die Minderung des Mietertrags und damit des Verkehrswertes des Grundstücks hinausgehen. Diese Posten aber werden durch den Ersatz der Wertminderung ausgeglichen.

__________ 13 Etwa BGHZ 59, 365, 367; 102, 322, 330; BGH, NJW 2006, 2399 Rz. 27, alle mit Nachweisen. 14 Teils abweichende Praktiken bei Heinrichs in Palandt (Fn. 7), § 251 BGB Rz. 14 f. 15 BGH, NJW 2006, 2399 Rz. 28.

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V. Zwei Sonderfragen Im Zusammenhang mit dem positiven Interesse des geschädigten Käufers können noch zwei Sonderfragen auftauchen; sie seien hier wenigstens angedeutet. 1. Der Zeitpunkt für die Berechnung der Herstellungskosten Im Ausgangsfall hatte der Kläger die Kosten „eines heutigen Anforderungen entsprechenden Dachausbaus“ gefordert. Der BGH16 brauchte hierüber nicht zu entscheiden, weil er ja entsprechend dem alten Recht überhaupt nur den Minderwert zugesprochen hat. Auch nach neuem Schuldrecht stellt sich die Frage nicht, wenn der Anspruch auf einen Ausbau nach § 439 Abs. 3 BGB scheitert. Aber andernfalls hätte nicht auf die „heutigen Anforderungen“ abgestellt werden dürfen. Man denke nämlich an den Fall, dass die baurechtlichen Vorschriften in der Zwischenzeit verschärft worden sind (etwa hinsichtlich der Wärmeisolierung oder des Brandschutzes). Dann hätte der Kläger als Vertragserfüllung nur Wohnungen fordern dürfen, die dem alten Standard genügten. Folglich stehen ihm als Schadensersatz auch nur die Kosten für einen solchen Ausbau zu. Denkbar ist allerdings, dass die Verschärfung der Bauvorschriften nur neu ausgebaute Wohnungen betroffen und den Altbestand unberührt gelassen hat. Dann bedeutet die Unmöglichkeit, jetzt noch nach den alten Vorschriften auszubauen, für den Käufer einen Verzögerungsschaden. Dieser ist ihm bei Vorliegen der Verzugsvoraussetzungen nach den §§ 280 Abs. 2, 286 BGB zu ersetzen. Freilich wird sich der Käufer die Werterhöhung anrechnen lassen müssen, die sich aus der Einhaltung der neuen, strengeren Vorschriften etwa ergeben hat. 2. Abzug neu für alt Ähnlich liegt es bei dem zweiten Fragenkreis: Die Herstellung eines neuen Gebäudes als Ersatz für ein altes führt regelmäßig zu einem Wertzuwachs des Grundstücks. Dieser ist durch einen Abzug neu für alt auszugleichen, soweit er dem Geschädigten zumutbar ist und ihm Nutzen bringt17. Man kann dann fragen, ob bei der Abwägung nach § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB nur dieser verkürzte Anspruch mit der eingetretenen Wertminderung verglichen werden soll. Das hat der BGH18 bejaht, wie ich glaube mit Recht: Die für § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB maßgebliche Unzumutbarkeit für den Schädiger ergibt sich erst aus dem wirklich zu zahlenden Betrag und nicht aus einem bloßen Rechenposten.

__________ 16 BGH, NJW 2008, 436 f. 17 Etwa BGH, NJW 2006, 2399 Rz. 29 mit Nachweisen. 18 BGH, NJW 2006, 2399 Rz. 27.

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VI. Bedeutung für den Handelskauf Für den Handelskauf im Sinne des HGB haben die hier diskutierten Fragen offenbar keine eigenständige Bedeutung. Denn das HGB hat – anders als das alte AHGB – keine umfassende Regelung für den Kauf zwischen Kaufleuten entwickelt, sondern sich auf wenige ergänzende Vorschriften beschränkt. Und von ihnen werden die hier interessierenden §§ 433 Abs. 1 Satz 2, 439, 440, 251 BGB nicht betroffen. Das zum allgemeinen Kauf Gesagte gilt also auch für den Handelskauf. Dem Handelskauf nahe steht die umfassende Regelung des grenzüberschreitenden Kaufs durch das (Wiener) UN-Kaufrecht (CISG). Hier sind der Anspruch des Käufers auf Nacherfüllung und das korrespondierende Recht des Verkäufers zu einer zweiten Andienung in den Art. 46 Abs. 2 und 3, 47, 48 ausdrücklich geregelt; diese Normen haben sogar ein Vorbild für das neue deutsche Schuldrecht bedeutet19. Dort findet sich in Art. 46 Abs. 3 eine dem § 439 Abs. 3 BGB funktionsgleiche Vorschrift: Der Verkäufer soll die Nachbesserung verweigern dürfen, wenn sie „unter Berücksichtigung aller Umstände unzumutbar ist“. Im Rahmen dieser sehr unbestimmten Formulierung können Fragen auftauchen, die den hier diskutierten gleichen. Dann dürften auch die hier angestellten Überlegungen verwendbar sein.

VII. Zusammenfassung Der Nacherfüllungsanspruch des Käufers bildet wegen der in § 439 Abs. 3 BGB enthaltenen Einschränkung gewissermaßen einen Anspruch zweiter Klasse: Auf die Interessen des Schuldners (= Käufers) wird mehr Rücksicht genommen als bei anderen Erfüllungsansprüchen. Soweit der Käufer deswegen keine Nacherfüllung erlangen kann, entfällt also auch ein Schadensersatzanspruch statt dieser Leistung. Besteht dagegen für den Käufer ein Nachbesserungsanspruch, so ist dieser nach § 251 Abs. 2 Satz 1 BGB beschränkt: Statt einer unverhältnismäßig teuren Nachbesserung kann nur Ersatz der mangelbedingten Wertminderung verlangt werden.

__________ 19 Vgl. Abschlussbericht (Fn. 4), S. 210; schon U. Huber in BMJ (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts I, 1981, S. 915 f. hatte im Fehlen von Nachbesserungsanspruch und -recht Hauptmängel des alten Schuldrechts gesehen.

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Die Einpersonen-Vor-GmbH im Spiegel der rechtswissenschaftlichen Diskussion Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtsnatur 1. Problemstellung 2. Meinungsstand a) Festhalten am Konzept der Gesamthand b) (Teil-)Rechtsfähigkeit der Einpersonengründerorganisation c) Entstehung eines Sondervermögens d) Stellungnahme III. Einzelfragen des Rechts der Einpersonen-Vorgesellschaft 1. Geschäftsführer a) Bestellung b) Aufgaben und Befugnisse c) Anstellung 2. Finanzverfassung a) Trennung der Vermögensmassen

b) Einlagenleistung und Sicherungsbestellung aa) Die Leistung der Einlagen bb) Sicherungsbestellung 3. Die Einpersonen-Vorgesellschaft im Rechtsverkehr 4. Haftungsfragen a) Haftung des Einpersonengesellschafters b) Handelndenhaftung c) Die Folgen der Eintragung aa) Übergang der Rechte und Pflichten bb) Folgen für die Haftung von Gesellschafter und Geschäftsführer d) Folgen des Scheiterns der Eintragung und der Aufgabe der Eintragungsabsicht VII. Fazit

I. Einführung Das Sonderproblem der Einpersonengründung beschäftigt die rechtswissenschaftliche Diskussion seit Jahrzehnten. Es resultiert im Kern daraus, dass die Einpersonengründung seit der GmbH-Novelle von 1980 zwar ausdrücklich zugelassen ist, dass aber gleichzeitig unklar geblieben ist, ob vor der Eintragung und der Erlangung der Rechtspersönlichkeit ein irgendwie gearteter Rechtsträger überhaupt vorhanden ist. „Wenn der Gesetzgeber …“, so lesen wir bei Karsten Schmidt, „… die Einpersonengründung zulässt (§ 1 GmbHG, § 2 AktG) …, dann ist damit – über alle rechtsdogmatischen Konstruktionsschwierigkeiten hinweg – vom Gesetzgeber anerkannt, dass es auch hier eine regelrechte Vorgesellschaft als Rechtsträgerin gibt. Aufgabe der Rechtsdogmatik ist es dann nicht, dies für möglich oder unmöglich zu erklären, sondern dies richtig zu erklären.“1

__________ 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 305.

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In der Tat lässt uns der Gesetzgeber durch seine Entscheidung, die Einpersonengründung zuzulassen, wobei der Einpersonengründer eine natürliche Person, eine juristische Person oder eine Gesamthandsgesellschaft sein kann2, mit einer ganzen Reihe ungeklärter Fragen zurück. Zwar verlangt § 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG eine Sicherungsbestellung durch den Einpersonengründer für die noch ausstehenden Einlagen bei Anmeldung, und nach § 8 Abs. 2 Satz 2 GmbHG ist durch den Einpersonengründer zu versichern, dass die nach § 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG erforderliche Sicherheit bestellt ist. Aus dem Fehlen weiterer Sondervorschriften zur Einpersonengründung lässt sich aber im übrigen wohl nur schließen, dass der Gesetzgeber die Einpersonengesellschaft so behandelt wissen will wie die Mehrpersonengesellschaft3. Deshalb haben die Gesellschafter auch bei der Einpersonengründung bereits vor der Eintragung einen oder mehrere Geschäftsführer zu bestellen und die Leistungen auf die nach § 7 Abs. 2 und 3 GmbHG erforderlichen Mindesteinlagen zu erbringen4. Soweit nun besondere Regelungen zur Einpersonengründerorganisation fehlen, sind die Rechtsverhältnisse der Einpersonengründerorganisation wiederum im Wege der Rechtsfortbildung in Anlehnung an das zur Mehrpersonen-Vorgesellschaft entwickelte Recht zu bestimmen. Die Fülle der dabei auftretenden Probleme resultiert nun daraus, dass der Gesetzgeber das Ausmaß der Divergenzen zwischen der Einpersonen- und der Mehrpersonengesellschaft ganz offensichtlich unterschätzt hat. Der folgende Beitrag will einen Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion bieten. Umstritten ist zunächst – wie schon angedeutet – bereits, ob bei der Einpersonengründung überhaupt eine Vorgesellschaft und damit ein selbständiger Rechtsträger entsteht. Dieses Problem ergibt sich insbesondere dann, wenn man mit einem Teil der Literatur davon ausgeht, dass es sich bei der Vorgesellschaft um eine Gesamthandsgemeinschaft handelt, denn gerade sie ist bei einer Einpersonengründung nicht denkbar. Der Jubilar hat dieses Problem mit der Rechtsfigur der „Einmann-Gesamthand“ auf den Punkt gebracht5. Aus dieser ungeklärten Frage nach der Rechtsnatur resultiert eine ganze Reihe weiterer Probleme bei der Einpersonengründerorganisation. So ist die Rechtsstellung des einzelnen Gründers innerhalb der Einpersonen-Vorgesellschaft ebenso umstritten wie die Rechtsstellung der Geschäftsführer, und dies insbesondere in den Fällen, in denen der Einpersonengesellschafter selbst Geschäftsführer wird. Zudem ist bis heute ungeklärt, ob bereits die bewirkten Leistungen auf die Stammeinlagen der Gesellschaft zuzuordnen sind und wer durch rechtsgeschäftliches Handeln vor Eintragung der Gesellschaft verpflichtet wird.

__________ 2 Karsten Schmidt in Scholz, Kommentar zum GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 11 GmbHG Rz. 145. 3 Ulmer in Ulmer, Großkommentar zum GmbHG, 2005, § 11 GmbHG Rz. 17; Hueck/ Fastrich in Baumbach/Hueck, Kommentar zum GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 11 GmbHG Rz. 35; Ulmer/Ihrig, Die Rechtsnatur der Einmann-Gründungsorganisation, GmbHR 1988, 373, 375. 4 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 375. 5 Karsten Schmidt, Grundzüge der GmbH-Novelle, NJW 1980, 1769, 1775.

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Die Einpersonen-Vor-GmbH in der rechtswissenschaftlichen Diskussion

II. Rechtsnatur 1. Problemstellung Bei der Frage nach der Rechtsnatur der Einpersonen-Vor-GmbH geht es im Kern darum, ob auch bei einer Einpersonengründung eine rechtsfähige Gründerorganisation entsteht, die neben dem Einpersonengesellschafter Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Bei der Mehrpersonengründung entspricht die Annahme der Rechtsfähigkeit der Vorgesellschaft der ganz herrschenden Meinung. Die Frage lautet, ob dies auch auf die Einpersonen-Vor-GmbH übertragbar ist. Immerhin ging der Gesetzgeber offenbar von einer Gleichbehandlung von Einpersonen- und Mehrpersonengründungsgesellschaft aus, weshalb – wie schon gesagt – besondere gesetzliche Regelungen für die Einpersonengründung fehlen. Bei der Frage nach der Rechtsnatur der Einpersonengründerorganisation ist jedenfalls zu beachten, dass durch die Verpflichtung des Einpersonen-Gründers zur Erbringung der Einlagen im Gründungsstadium wie bei der Mehrpersonengründung ein Sondervermögen der Gesellschaft bereits vor Eintragung entstehen muss (§§ 7 Abs. 2, 8 Abs. 2, 9c GmbHG)6. Eine Übertragung der zur Rechtsnatur der Mehrpersonengründerorganisation entwickelten Grundsätze ist aber dann nicht möglich, wenn man mit der noch herrschenden Meinung die Vor-GmbH als eine Gesamthandsgemeinschaft qualifiziert. Denn die Gesamthand besteht begriffsnotwendig aus zwei oder mehr Personen7. Einigkeit besteht daher zumindest insoweit, als die Einpersonengründerorganisation – wenn man eine solche anerkennen will – jedenfalls keine Gesamthand darstellt8. Es sind also andere Erklärungsmodelle zu suchen, wenn man eine rechtliche Verselbständigung der Einpersonen-Vorgesellschaft und die Bildung eines Sondervermögens durch die Einlagenleistung begründen will. Diese Modelle zur Rechtsnatur der Einpersonen-Vorgesellschaft müssen aber jedenfalls dem Umstand Rechnung tragen, dass die Einlagenleistung und die Geschäftsführerbestellung auch bei der Einpersonengründung bereits im Gründungsstadium erfolgen müssen9. 2. Meinungsstand Zur Rechtsnatur der Einpersonen-Vorgesellschaft bestehen im Wesentlichen drei unterschiedliche Meinungen.

__________ 6 Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff, Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 11 GmbHG Rz. 142; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 375. 7 Gegen die von Karsten Schmidt angedachte Figur der Einpersonen-Gesamthand Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 21, 25; Hüffer, Zuordnungsprobleme und Sicherung der Kapitalaufbringung bei der Einmanngründung der GmbH, ZHR 145 (1981), 521, 522, 527; Fleck, Neueste Entwicklung in der Rechtsprechung zur Vor-GmbH, GmbHR 1983, 5, 16; relativierend Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 149. 8 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 25; Fleck, GmbHR 1983, 5, 16; Hüffer, ZHR 145 (1981), 521. 9 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 375.

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a) Festhalten am Konzept der Gesamthand Denkbar ist zunächst, an dem bei der Mehrpersonengründung entwickelten Konzept der Gesamthand festzuhalten10 mit der Folge, dass weder die Entstehung eines Sondervermögens noch einer Rechtsfähigkeit in Betracht kommen11. Dies ist folgerichtig, denn die Gesamthandsgemeinschaft setzt sich eben zwingend aus mindestens zwei Personen zusammen. Nach dieser Ansicht wird zwar durch die Einpersonengründung bereits die Verfassung der später entstehenden GmbH festgelegt. Eine vom Einpersonen-Gesellschafter zu trennende, rechtlich selbständige Vorgesellschaft wie bei der Mehrpersonengründung soll dagegen nicht entstehen. Hält man sich aber streng an die Einordnung der Vorgesellschaft als Gesamthand, dann hat das zur Konsequenz, dass vor der Eintragung der Gesellschaft eine Leistung von Einlagen ebenso wenig wie die Bestellung eines Geschäftsführers vor Eintragung überhaupt möglich ist12. Die Einlagen bleiben dann im Privatvermögen des Gründers und können erst im Zeitpunkt der Eintragung auf die dann entstandene GmbH übergehen13. Indessen lässt sich nicht leugnen, dass diese Sicht mit den gesetzlichen Regelungen schwer zu vereinbaren ist. Auch bei der Einpersonengründung sind die Einlagen bereits vor Eintragung zu erbringen, § 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG, und es ist ein Geschäftsführer zu bestellen. Demnach geht auch das Gesetz von der Entstehung einer Einpersonengründerorganisation aus, weshalb diese Auffassung heute verbreitet auf Ablehnung stößt. b) (Teil-)Rechtsfähigkeit der Einpersonengründerorganisation Eine zweite Ansicht, die maßgeblich von Karsten Schmidt begründet wurde, befürwortet demgegenüber die Entstehung einer Einpersonengründungsorganisation, und zwar als eigenständiger Rechtsträger14. Zwar ist die dafür verwendete Terminologie von Autor zu Autor unterschiedlich; in der Sache lässt sich

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10 Vgl. Ulmer in Hachenburg, Großkommentar zum GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 11 GmbHG Rz. 15 (alte Auflage); in der Neuauflage Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 23, wird auf diese Ansicht nicht mehr eingegangen. 11 Ulmer, Die Einmanngründung der GmbH – ein Danaergeschenk?, BB 1980, 1001, 1003 f.; Hüffer, ZHR 145 (1981), 521, 522, 532. 12 Kritisch hierzu Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 143. 13 Hierfür ausdrücklich Hüffer, ZHR 145 (1981), 521. 14 OLG Dresden, GmbHR 1997, 215, 217; Karsten Schmidt, NJW 1980, 1769; ders., Einmanngründung und Einmann-Vorgesellschaft, ZHR 145 (1981), 540, 556 ff.; ders., Zur Rechtslage der gescheiterten Einmann-Vor-GmbH, GmbHR 1988, 89 f.; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 37; Raiser, KapGesR, 4. Aufl. 2006, § 26 Rz. 58; ders., Das neue GmbHRecht in der Diskussion, 1981, S. 38; Im Ergebnis, wenn auch mit anderer Terminologie Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 142 f.; Roth in Roth/Altmeppen, Kommentar zum GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 11 GmbHG Rz. 69 ff.; Geßler, Die GmbH-Novelle, BB 1980, 1385, 1389; John, Die Gründung der Einpersonen-GmbH, 1986, S. 37 ff.; ders., Zur Problematik der Vor-GmbH, insbesondere bei der EinmannGründung, BB 1982, 505, 513; Kleberger, Die rechtliche Behandlung von Sicherungen bei der Gründung der Einpersonen-GmbH, 1986, S. 189 ff.

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Die Einpersonen-Vor-GmbH in der rechtswissenschaftlichen Diskussion

ein Unterschied allerdings nicht erkennen. So wird die Einpersonen-Vorgesellschaft verschiedentlich als teilrechtsfähig bezeichnet15. Begründet wird die eigenständige Rechtsträgerschaft der Einpersonen-Vorgesellschaft zumeist damit, dass der Gesetzgeber die Einpersonen-Vor-GmbH der Mehrpersonen-VorGmbH gleichgestellt habe. Dies ergebe sich daraus, dass die Einpersonengründung nunmehr ausdrücklich zugelassen sei und das Gesetz ebenso wie bei der Mehrpersonengründung die Leistung der Einlage durch den Gründer bereits vor Eintragung fordere (§ 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG). Damit entspreche alleine das Konzept der Rechtsfähigkeit der Einpersonen-Vorgesellschaft den gesetzlichen Vorgaben und könne nicht aufgrund rein dogmatischer Bedenken abgelehnt werden16. Die Einpersonen-Vorgesellschaft sei ebenso wie die Mehrpersonen-Vor-GmbH eine werdende juristische Person und damit genauso zu behandeln17. Außerdem gebe allein dieses Konzept eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Rechtsstellung der Vor-GmbH und den Folgen ihrer Eintragung18. Ein weiterer entscheidender Vorteil der Anerkennung der Rechtsfähigkeit liege zudem darin, dass nur auf diese Weise eine konsequente Trennung der Vermögensmassen der entstehenden GmbH und der Person des Gründers erreicht und somit vermieden werde, dass die persönlichen Gläubiger des Gründers auf das Gesellschaftsvermögen zugreifen könnten19. Insbesondere aber sei die Annahme der Rechtsfähigkeit erforderlich, um die vorzeitige Aufnahme der Geschäftstätigkeit durch die Vorgesellschaft auch im Rahmen der Einpersonengründung rechtlich richtig einzuordnen. Wenn die Einpersonen-Vor-GmbH bereits vor Eintragung ein Unternehmen betreibe, so sei die Gründerorganisation auch als Unternehmensträger anzusehen, da ein Unternehmen ohne einen Unternehmensträger nicht existieren könne20. Dieser aber müsse notwendigerweise auch rechtsfähig sein21. c) Entstehung eines Sondervermögens Die dritte und wohl noch herrschende Ansicht spricht sich für die Entstehung eines der Person des Gründers zugeordneten Sondervermögens mit eigenständiger Organisation aus22. Rechtsfähigkeit könne die Einpersonen-Vorgesell-

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John, BB 1982, 505, 508; Winter, Pro GmbH, 1980, S. 201. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147, 149. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147; dies räumt auch die Gegenansicht ein, Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 24. Karsten Schmidt, NJW 1980, 1769; ders., ZHR 145 (1981), 540, 556 ff.; ders., GmbHR 1988, 89 f.; Raiser, KapGesR (Fn. 14), § 26 Rz. 58. Karsten Schmidt, HandelsR, 5. Aufl. 1999, § 4 IV 2 a; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147. Karsten Schmidt, HandelsR (Fn. 20), § 5 II 1; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147. Flume, Die Gründung der Einmann-GmbH nach der Novelle zum GmbHG, DB 1980, 1781, 1783; ders, Die GmbH-Einmanngründung, ZHR 146 (1984), 205, 208; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 25; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11

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schaft hingegen nicht erlangen. Nach dieser Ansicht führt die Einlagenleistung seitens des Gründers zur Entstehung eines Sondervermögens bei der Einpersonen-Vor-GmbH. Da jedoch die Vor-GmbH kein selbständiger Rechtsträger sei, müsse das Vermögen dem Gründer zugeordnet sein. Auch wenn die Befürworter dieser Ansicht hierfür unterschiedliche Begründungen liefern, stimmen sie doch darin überein, dass die „Einpersonengründerorganisation“ keine Rechtsfähigkeit haben könne. Denn das Gesetz billige neben den natürlichen und den als solchen rechtlich anerkannten juristischen Personen nur den Gesamthandsgemeinschaften generelle Rechtsfähigkeit zu. Im Übrigen sei die Erlangung der Rechtsfähigkeit von besonderen gesetzlich geregelten Voraussetzungen abhängig23. Die bloße Bildung eines rechtlich verselbständigten Sondervermögens führe dagegen nicht dazu, dass auch ein eigenständiger Rechtsträger entstehe, dem diese Vermögensmasse zugeordnet werden könne. Vielmehr bleibe es bei der Zuordnung zum Inhaber dieses Vermögens und damit im Rahmen der Gründung einer Einpersonengesellschaft bei der Zuordnung zum Gründer. Auch könne dem Vermögen selbst keine Rechtsfähigkeit zuerkannt werden24. Nur der Gesetzgeber könne über die geltenden Grundsätze hinaus der Einpersonengründerorganisation als verselbständigter Vermögensmasse Rechtsfähigkeit zuerkennen. Der Rechtsprechung sei dies nicht möglich. Aufgrund dieser dogmatischen Bedenken soll es nach dieser Ansicht bei der Anerkennung eines Sondervermögens der Einpersonen-Vorgesellschaft bleiben. Nachteile bei der Sicherung der Kapitalaufbringung seien trotz Versagung der Teilrechtsfähigkeit nicht zu befürchten25. Indessen sprechen auch die Vertreter der Sondervermögenstheorie vielfach von einer Einpersonen-Vorgesellschaft und von einem Gesellschaftsvermögen, obgleich wohl sie die Einpersonengründerorganisation nicht als eigenständigen Rechtsträger anerkennen26. Dieser Widerspruch zeigt plastisch die Schwierigkeiten, die mit der rechtlichen Einordnung der Einpersonengründerorganisation verbunden sind. Auch der BGH hat die Einpersonen-Vorgesellschaft bereits als solche bezeichnet, wobei er stets offen gelassen hat, ob er einer der beiden Auffassungen zugeneigt ist27.

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GmbHG Rz. 37; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 11 GmbHG Rz. 28; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 142 f.; Fleck, GmbHR 1983, 5, 17; Brinkmann, Begrenzte Haftung der Einmann-GmbH in Gründung?, GmbHR 1982, 269, 271 f.; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 376 f. Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 24; Flume, DB 1980, 1781, 1783; Hüffer, ZHR 145 (1981), 521, 522, 531 f.; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 376 ff. Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 24; Hüffer, Vorgesellschaft, Kapitalaufbringung und Drittbeziehungen bei der Einmanngründung, ZHR 142 (1978), 486, 507 f.; ders., ZHR 145 (1981), 521, 522, 525 f.; Ulmer, BB 1980, 1001, 1003. Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 25; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 376 ff. So ausdrücklich Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 37, 39. BGHZ 91, 148, 149.

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Die Einpersonen-Vor-GmbH in der rechtswissenschaftlichen Diskussion

d) Stellungnahme Pragmatisch betrachtet wird man zunächst feststellen, dass die Gleichbehandlung von Ein- und Mehrpersonen-Vorgesellschaft mit der daraus folgenden Rechtsfähigkeit der Einpersonen-Vorgesellschaft eine Reihe von Vorteilen gegenüber der Theorie vom Sondervermögen hat. Sie bietet klare und schlüssige Lösungen für alle auftretenden Rechtsfragen. Dies gilt insbesondere für die Rechtsstellung des Gründers und des Geschäftsführers, die Sicherung der Kapitalaufbringung durch die Erbringung der Einlagen, das rechtsgeschäftliche Handeln vor Eintragung der Einpersonen-Vorgesellschaft und den Übergang der Vorgesellschaft in die GmbH im Zeitpunkt der Eintragung. Mit anderen Worten: Behandelt man die Einpersonen-Vor-GmbH wie die MehrpersonenGmbH, dann ist die Entwicklung eines Sonderrechts für die Einpersonengründung überflüssig. Aus dogmatischem Blickwinkel ist die Begründung der Teilrechtsfähigkeit der Einpersonen-Vorgesellschaft indessen nicht unproblematisch. Das gilt besonders, wenn die Eintragung der GmbH scheitert und die Eintragungsabsicht seitens der Gründer nicht weiter verfolgt wird. Betrachtet man nämlich die Einpersonen-Vorgesellschaft als einen eigenständigen Rechtsträger, dann bedarf es beim Scheitern der Eintragung oder im Fall der Aufgabe der Eintragungsabsicht – wie bei der Mehrpersonengründung – eines Auflösungsbeschlusses und einer nachfolgenden Liquidation, bei der das Gesellschaftsvermögen nach Befriedigung der Gläubiger an den Gründer zurückfließt28. Selbst wenn ein solcher Auflösungsbeschluss auch bei der Einpersonengründung für möglich gehalten wird29, ergeben sich Probleme, wenn der Gründer untätig bleibt. Für diesen Fall gehen die Befürworter der (Teil-)Rechtsfähigkeit davon aus, dass die Vorgesellschaft automatisch erlischt und dass alle ihre Rechte und Pflichten auf den Gründer übergehen. Einer Auflösung oder Liquidation bedürfe es trotz der Eigenständigkeit der Vorgesellschaft nicht30. Mit dem Konzept der Einpersonen-Vorgesellschaft als eigenständigem Rechtsträger lässt sich dies allerdings nur schwer vereinbaren31. Der Vergleich zeigt, dass die Stärke der Sondervermögenstheorie dort liegt, wo es um die Folgen des Scheiterns der Vorgesellschaft geht, während die Theorie der Teilrechtsfähigkeit dort überzeugt, wo es darum geht, den Status und die rechtliche Behandlung der Einpersonengründerorganisation sowie die Rechtsfolgen der Eintragung der GmbH zu erklären. Letztlich beschränken sich die Unterschiede der beiden Ansichten auf die dogmatische Einordnung der Einpersonengründerorganisation. Was die Behandlung der Einpersonen-Vor-GmbH

__________ 28 Diese Schwierigkeiten einräumend: Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148. 29 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148, 153; John (Fn. 14), S. 62 ff. 30 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148; ders., ZHR 145 (1981), 540, 563; ders., GmbHR 1988, 89 ff.; John (Fn. 14), S. 58 ff.; Hub. Schmidt, Zu den prozessualen Rechtsfolgen des Untergangs einer Vor-GmbH mit automatischem Übergang der Rechte auf den Gründungsgesellschafter, GmbHR 1987, 393. 31 Dies eingestehend Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148.

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in der Rechtspraxis angeht, kommen das Konzept der Teilrechtsfähigkeit und die Theorie des Sondervermögens regelmäßig zu identischen Ergebnissen, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung. Entscheidend für die Frage nach den auf die Einpersonen-Vorgesellschaft anwendbaren Rechtsgrundsätzen ist nämlich wie auch bei der Mehrpersonengründung ihre Stellung als werdende juristische Person. Insoweit aber steht fest, dass auch die Einpersonengründerorganisation eine der fertigen GmbH angenäherte Stellung einnimmt, die es gestattet, das für die GmbH geltende Recht anzuwenden, wenn und soweit nicht zwingend die Eintragung der Gesellschaft vorausgesetzt wird32. Dieser Grundsatz bestimmt auch das Recht der Einpersonen-Vorgesellschaft und zwar unabhängig davon, wie man ihre Rechtsnatur einordnet. Daher erscheint es sachgerecht und dogmatisch schlüssig, die Einpersonen-Vorgesellschaft wie die Mehrpersonen-Vorgesellschaft zu behandeln und hierbei den Besonderheiten der Gründung durch eine Einzelperson durch eine abweichende rechtliche Behandlung Rechnung zu tragen33.

III. Einzelfragen des Rechts der Einpersonen-Vorgesellschaft 1. Geschäftsführer a) Bestellung Da die Einpersonen-Vorgesellschaft nach richtiger Ansicht grundsätzlich entsprechend den Regeln der Mehrpersonen-Vorgesellschaft zu behandeln ist, soweit sich nicht aus den Besonderheiten der Einpersonen-Gründung etwas anderes ergibt, gilt auch für sie die Vorschrift des § 6 GmbHG, wonach die Bestellung von mindestens einem Geschäftsführer bereits in der Gründungsphase notwendig ist. Die Geschäftsführerbestellung erfolgt demnach ebenfalls wie bei der Mehrpersonengründung durch die Satzung oder einen nachträglichen Gesellschafterbeschluss. Geschäftsführer der Einpersonen-Vor-GmbH kann auch nach der Sondervermögenslehre der alleinige Gesellschafter sein. Die Bestellung eines Fremdgeschäftsführers ist insofern auch bei der EinpersonenVorgesellschaft nicht zu fordern. Ebenso wenig ist die Einsetzung eines Treuhänders erforderlich, der das Vermögen verwaltet34, wie dies vereinzelt gefordert wurde35. Zwar würde die Bestellung eines Fremdgeschäftsführers eine einfachere Trennung der Vermögensmassen von Gesellschafter und Gesellschaft gewährleisten und somit der geforderten organisatorischen Verselbständigung des Sondervermögens entgegen kommen. Allerdings würde die Forderung nach einem Fremdgeschäftsführer in der Einpersonen-Vor-GmbH der Intention des Gesetzgebers zuwiderlaufen, mit der Zulassung der Einpersonengründung der-

__________ 32 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 147; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 145. 33 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 37. 34 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 6 GmbHG Rz. 29, § 7 GmbHG Rz. 66; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 147; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 37. 35 Hüffer, ZHR 145 (1981), 521, 533 f., 536.

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Die Einpersonen-Vor-GmbH in der rechtswissenschaftlichen Diskussion

artige Gründungen ohne Mithilfe eines Dritten zu erleichtern. Die Notwendigkeit eines Fremdgeschäftsführers würde die Einpersonengründung erschweren, weshalb sie abzulehnen ist36. Die Trennung der Vermögensmassen ist auf anderem Wege zu gewährleisten. Bestellt sich der Alleingesellschafter selbst zum Geschäftsführer, so liegt hierin auch kein Verstoß gegen §§ 47 Abs. 4 GmbHG, 181 BGB. Für das rechtsgeschäftliche Handeln des GesellschafterGeschäftsführers ist zwar gemäß § 35 Abs. 4 GmbHG die Vorschrift des § 181 BGB zu beachten, soweit er Rechtsgeschäfte mit der Vorgesellschaft abschließt37. Diese Vorschrift gilt allerdings nicht für Sozialakte wie die Geschäftsführerbestellung. Auch die Vorschrift des § 48 Abs. 3 GmbHG, wonach Gesellschafterbeschlüsse unverzüglich zu protokollieren sind, ist auf die Einpersonengründerorganisation anwendbar38. b) Aufgaben und Befugnisse Grundsätzlich hat der Geschäftsführer der Einpersonen-Vorgesellschaft die gleichen Aufgaben wie der Geschäftsführer einer Mehrpersonen-Vorgesellschaft39. Somit obliegt ihm gemäß den §§ 7, 8, 78 GmbHG die Entgegennahme der Einlagenleistungen der Gründer sowie die Vorbereitung und die Vornahme der Anmeldung der Einpersonen-Vorgesellschaft zum Handelsregister. Die Geschäftsführungsbefugnis beschränkt sich wie bei der Mehrpersonengründung grundsätzlich auf die gründungsnotwendigen Geschäfte, es sei denn, der Einpersonengründer hat sie ausdrücklich oder konkludent auf die Aufnahme des Geschäftsbetriebes ausgeweitet. Nach der noch herrschenden Ansicht richtet sich auch die Vertretungsmacht des Geschäftsführers nach der Geschäftsführungsbefugnis und damit nach dem Zweck der Vorgesellschaft40. Diese Grundsätze sind auch auf die Einpersonen-Vorgesellschaft übertragbar. Die Vertretungsmacht des Geschäftsführers umfasst damit ebenfalls nur die zur Vollendung der Gründung notwendigen Geschäfte. Nach der Gegenansicht ist auf die Vorgesellschaft bereits die Vorschrift des 37 Abs. 2 GmbHG anwendbar,

__________ 36 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 378. 37 BGHZ 33, 189.191 = NJW 1960, 2285; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 6 GmbHG Rz. 29; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 150; Hueck/ Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; John (Fn. 14), S. 39; a. A. Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 148, der davon ausgeht, dass § 35 Abs. 4 GmbHG die Eintragung der GmbH voraussetze, da die Geltung dieser Vorschrift nur im Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen werden könne und somit der Registerpublizität unterliege. 38 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 150; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 148. 39 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 378. 40 BGHZ 53, 210, 212 = NJW 1970, 806; BGHZ 65, 378, 383 = NJW 1976, 419; BGHZ 72, 45, 49 = NJW 1978, 1978; BGHZ 80, 129 = NJW 1981, 1373; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 68 f.; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 83; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 11; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 18.

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wonach die Vertretungsmacht im Außenverhältnis unbeschränkbar ist41. Dies soll auch für die Einpersonengründerorganisation gelten42. Indessen ist nicht zu erkennen, warum insoweit die Dinge bei der Einpersonengesellschaft anders liegen sollen als bei der Mehrpersonengesellschaft. Vielmehr bleibt eine Erweiterung der Vertretungsmacht über die gründungsnotwendigen Rechtshandlungen hinaus alleine vom Willen des Gründers abhängig. Im Rahmen der ihm zustehenden Vertretungsmacht kann der Geschäftsführer mit Wirkung für das Sondervermögen bzw. für die Einpersonen-Vorgesellschaft Rechte und Verbindlichkeiten begründen. Wenn der Gründer auch gleichzeitig alleiniger Geschäftsführer der Vorgesellschaft ist, muss er jedoch deutlich machen, dass er für die Gesellschaft handelt und nicht für sich selbst. Tut er dies nicht, so begründet er eine eigene Verbindlichkeit gemäß § 164 Abs. 2 BGB, die sich alleine gegen sein Privatvermögen richtet43. Wurde der Geschäftsführer schon vor Eintragung vom Einpersonen-Gründer zur Aufnahme des Geschäftsbetriebes ermächtigt, so umfassen seine Kompetenzen auch die mit der werbenden Tätigkeit verbundene Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft. c) Anstellung Von der Bestellung des Geschäftsführers ist dessen Anstellung zu unterscheiden. Die Anstellung setzt auch bei der Einpersonen-Vorgesellschaft den Abschluss eines Vertrages zwischen dem Gründer und dem Geschäftsführer voraus. Problematisch ist der Abschluss eines solchen Vertrages nach der Sondervermögenstheorie dann, wenn der Einpersonengründer sich selbst als Geschäftsführer bestellt. Dem Abschluss eines solchen Vertrages steht nicht etwa § 181 BGB entgegen, denn diese Vorschrift kann in der Satzung abbedungen werden. Schwierigkeiten ergeben sich aber daraus, dass der Einpersonengründer als Geschäftsführer mit sich selbst als Träger des Sondervermögens einen privatrechtlichen Vertrag abschließen möchte. Die praktische Relevanz eines solchen Vertrages ist jedoch sehr gering, weil der Einpersonengründer bereits durch seine Bestellung die Pflichten und Kompetenzen eines Geschäftsführers erhält und die Vergütung ohnehin seine eigene Haftung auf Ausgleich der Vorbelastungen erhöht. Verschiedentlich geht man deshalb davon aus, dass ein solcher im Gründungsstadium geschlossener Vertrag erst mit Eintragung der GmbH wirksam wird44. Jedoch ist auch hier nicht zu erkennen, warum die Einpersonen-Vorgesellschaft anders als die Mehrpersonen-Vorgesellschaft be-

__________ 41 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 63 f.; Gummert in MünchHdb. GesR III, 2. Aufl. 2003, § 16 Rz. 49; Raiser, KapGesR (Fn. 14), § 26 Rz. 87; M. Scholz, Die Haftung im Gründungsstadium der GmbH, 1979, S. 29 f.; Theobald, Vor-GmbH und Gründerhaftung, 1984, S. 27 ff.; Roth, Die Gründerhaftung im Recht der VorGmbH, ZGR 1984, 597, 609; Weimar, Abschied von der Gesellschafter- und Handelnden-Haftung im GmbH-Recht?, GmbHR 1988, 289, 292; Beuthien, Vertretungsmacht bei der Vor-GmbH – erweiterbar oder unbeschränkbar?, NJW 1997, 565 ff. 42 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 150. 43 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 378. 44 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379.

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handelt werden soll. Dies spricht dafür, den Abschluss eines Vertrages zwischen dem Sondervermögen und dessen Träger auch im Rahmen der EinpersonenVorgesellschaft zuzulassen. Nach der Lehre von der Teilrechtsfähigkeit der Einpersonen-Vorgesellschaft ist der Abschluss eines solchen Anstellungsvertrages ohne weiteres möglich. Erkennt man mit dieser Ansicht die Einpersonen-Vor-GmbH als eigenständigen Rechtsträger an, so kann der Einpersonengründer als Geschäftsführer angestellt werden. Der Anstellungsvertrag wird dann zwischen dem Einpersonengründer und der Einpersonen-Vorgesellschaft abgeschlossen. Eine Identität der Vertragsparteien scheidet insofern von vorneherein aus. 2. Finanzverfassung a) Trennung der Vermögensmassen Nach ganz überwiegender Ansicht gilt auch im Rahmen der Einpersonen-Vorgesellschaft das Prinzip der Vermögenstrennung. Vermögenswerte der Gesellschaft sind vom Privatvermögen der Gesellschafter zu trennen, so dass sie nicht dem Zugriff der Privatgläubiger der Gesellschafter unterliegen. Dieses Prinzip spielt sowohl nach der Theorie der Teilrechtsfähigkeit als auch nach der Sondervermögenstheorie im Gründungsstadium der Einpersonengesellschaft eine wichtige Rolle, weil die eingebrachten Vermögensgegenstände beim Fehlen weiterer Gesellschafter in besonderem Maße dem Zugriff des Einpersonengründers und dessen Privatgläubigern ausgesetzt sind45. Und daher überrascht es nicht, dass die Gewährleistung dieser Vermögenstrennung im Rahmen der Diskussion um die rechtliche Qualifizierung der Einpersonen-VorGmbH sozusagen eine Nagelprobe darstellt. Für die Teilrechtsfähigkeitslehre bereitet die Verwirklichung dieses Prinzips grundsätzlich keine Schwierigkeiten, da aus der Anerkennung der Vorgesellschaft als eigenständiger Rechtsträgerin eine Trennung der Vermögensmassen zwingend folgt. Die Sondervermögenstheorie versucht diesem Prinzip Rechnung zu tragen, indem sie die Entstehung einer vom Privatvermögen des Einpersonengründers zu unterscheidenden Vermögensmasse durch die Erbringung der Einlage annimmt. Zudem hat auch nach der Sondervermögenstheorie allein der Geschäftsführer, nicht hingegen der Gründer die Befugnis, über das dem Einpersonengründer zugeordnete Sondervermögen zu verfügen. Ein besonderer Vermögensschutz wird dadurch jedoch dann nicht gewährleistet, wenn der Einpersonengesellschafter zugleich Geschäftsführer der Einpersonen-Vorgesellschaft ist. Das Problem ließe sich lösen, indem für diese Fälle eine Fremdgeschäftsführung zwingend vorgeschrieben würde. Das aber würde dem Bestreben zuwider laufen, die Einpersonengründung zu vereinfachen. Hinzu kommt, dass das Risiko des Zugriffs der Gesellschafter auch bei Mehrpersonengründungen besteht. Nimmt man es dort hin, wird man bei der Einpersonengründung kaum anders ent-

__________ 45 Hüffer, ZHR 145 (1981), 521 ff.; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 71; Roth in Roth/Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 83.

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scheiden können46. Entscheidende Bedeutung für den Schutz vor einem Zugriff des Gesellschafters kommt daher wie auch bei der Mehrpersonengründung der registergerichtlichen Kontrolle der Unversehrtheit des Gesellschaftsvermögens im Zeitpunkt der Eintragung zu47. Zu verhindern ist aber nicht nur der Zugriff des Einpersonengesellschafters auf das Gesellschaftsvermögen, sondern auch die Inanspruchnahme durch Privatgläubiger des Gründers. Um eine Zwangsvollstreckung der Privatgläubiger des Einpersonengesellschafters in das Gesellschafts- bzw. Sondervermögen zu verhindern, kann sowohl nach der Teilrechtsfähigkeitslehre als auch nach der Sondervermögenstheorie aus einem Urteil gegen den Gesellschafter nicht in das Gesellschaftsvermögen vollstreckt werden. Dem Geschäftsführer steht insoweit die Drittwiderspruchsklage gemäß § 771 ZPO zu48. Allerdings können die Privatgläubiger das Mitgliedschaftsrecht des Gründers an der Gesellschaft pfänden49. b) Einlagenleistung und Sicherungsbestellung aa) Die Leistung der Einlagen Gemäß den §§ 7 Abs. 2 und 3 sowie 8 Abs. 2 GmbHG sind auch bei der Einpersonengründung die Einlagen bereits im Gründungsstadium zu leisten. Bei der Mehrpersonengründung wird die Einlage unproblematisch durch eine Übertragung des Leistungsgegenstandes auf die Vorgesellschaft erbracht. Umstritten ist, wie die Einlage im Rahmen einer Einpersonengründung erbracht wird. Auch hier kommt der Unterschied zwischen Teilrechtsfähigkeits- und Sondervermögenslehre zum Tragen. Nach der Teilrechtsfähigkeitslehre wird die Einlage unproblematisch durch rechtsgeschäftliche Übertragung der Vermögensgegenstände auf die Vor-GmbH erbracht50. Es besteht insofern kein Unterschied zur Einlagenerbringung bei der Mehrpersonen-Vorgesellschaft. Anders verhält es sich nach der Theorie vom Sondervermögen. Manche Vertreter dieser Lehre lehnen die Möglichkeit eines solchen rechtsgeschäftlichen Übertragungsaktes ab. Begründet wird dies damit, dass eine Übertragung der Einlage mangels eigenständiger Rechtspersönlichkeit der Einpersonengründerorganisation unmöglich sei51. Im Gründungsstadium der Einpersonen-GmbH bestehe nur eine „dingliche Berechtigung des Gründers“ an den zu leistenden Vermögensgegenständen. Da jedoch im Gründungsstadium bereits ein Sondervermögen bestehe, das vom Privatvermögen des Alleingesellschafters zu tren-

__________ 46 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 71; Roth in Roth/Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 83. 47 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 71; Roth in Roth/Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 83. 48 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 71; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 149; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28. 49 LG Berlin, GmbHR 1988, 71; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 149; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28. 50 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 151. 51 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 66; a. A. Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39.

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nen sei, sei zur Einlagenleistung „die Überführung“ der Vermögensgegenstände in das Sondervermögen notwendig52. Das Sondervermögen sei zwar bis zur Eintragung ohnehin dem zur Einlageleistung verpflichteten Gründer zugeordnet. Mit der Entstehung der GmbH gehe es jedoch auf diese über. Entscheidend ist nach dieser Ansicht alleine, die Trennung der Vermögensmassen zu gewährleisten, nicht jedoch, einen Rechtsübergang zu begründen. Der Übergang der Rechte an den eingebrachten Vermögensgegenständen vollziehe sich vielmehr erst mit Entstehung der GmbH durch Eintragung im Handelsregister53. Andere Vertreter der Sondervermögenstheorie fordern dagegen wie die Befürworter der Lehre von der Teilrechtsfähigkeit eine rechtsgeschäftliche Übertragung der zu leistenden Einlagen auf die Einpersonen-Vorgesellschaft54. Ein solcher Übertragungsakt sei trotz Identität der Träger der Vermögensmassen deshalb erforderlich, weil nur auf diesem Wege der Übergang der Vermögensgegenstände vom Privatvermögen des Gründers in das Sondervermögen nach außen erkennbar werde. Diese Argumentation folgt praktischen Bedürfnissen, ist aber dogmatisch nur schwer begründbar. Eine schlüssige und dogmatisch überzeugende Lösung für das Problem der Einlagenleistung des Einpersonengründers liefert alleine die Theorie von der Teilrechtsfähigkeit. Trotz dieser Unterschiede in der Begründung kommen beide Ansichten in aller Regel wiederum zu identischen praktischen Ergebnissen. Erforderlich ist nämlich auch nach der Theorie vom Sondervermögen zumindest ein objektiver Überführungsakt, der nach außen erkennbar ist, um die tatsächliche Trennung von Privat- und Sondervermögen zu gewährleisten55, auch wenn dieser Akt nicht zu einer rechtsgeschäftlichen Übertragung führt. Dementsprechend sind die Konten, auf die die Geldeinlagen des Gesellschafters eingezahlt werden, nach beiden Ansichten bereits auf den Namen der Vor-GmbH zu führen56. Wird eine Sacheinlage geleistet, so ist es nach der Sondervermögenstheorie erforderlich, einen Publizitätstatbestand zu schaffen57. Bei Einbringung von Grundstücken im Wege der Sacheinlage ist die Auflassung des Grundstücks an die Einpersonen-Vorgesellschaft unter deren Firma, also in der Regel der Firma der zukünftigen GmbH mit Gründungszusatz notwendig58. Ein Teil der Befürworter der Sondervermögenstheorie will es dabei bewenden lassen, dass die einzubringenden Vermögensgegenstände in eine besondere, öffentlich beglaubigte Übersicht aufgenommen werden, die ihre Zugehörigkeit zum Sonder-

__________ 52 53 54 55

Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 67. Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379. Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39. BayObLG, DB 1994, 524; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 Rz. 67; Hueck/ Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 147. 56 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 62; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 147. 57 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379. 58 Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 147; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; a. A. Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 95, § 7 GmbHG Rz. 69; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379.

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vermögen für den Rechtsverkehr dokumentiert59. Nach dieser Ansicht erfolgt der Rechtsübergang auf die Gesellschaft grundsätzlich erst mit Eintragung. Durch die bloße Aussonderung ändert sich danach vor der Eintragung nicht die rechtliche Zuordnung der Vermögensgegenstände. Dies habe zur Folge, dass Vermögenswerte wie z. B. Grundstücke, deren Übertragung grundsätzlich an die Beachtung einer Form gebunden ist, alleine durch die Aufnahme in das Vermögensverzeichnis und die spätere Eintragung der Gesellschaft auf diese übergehen können60. Auch nach dieser Ansicht bedarf es zum Übergang der Rechte vom Sondervermögen des Gründers in das Vermögen der eingetragenen Gesellschaft keines Übertragungsaktes mehr. Diese Voraussetzung der Einlagenleistung ist dann unproblematisch erfüllt, wenn man mit der Teilrechtsfähigkeitslehre und manchen Befürwortern der Sondervermögenstheorie eine rechtsgeschäftliche Übertragung der einzubringenden Vermögensgegenstände in das Gesellschafts- bzw. Sondervermögen für möglich und zulässig hält. Fraglich ist aber, ob die Einlagen auch dann zur freien Verfügung der Geschäftsführer stehen, wenn sie nur in das Sondervermögen überführt werden, ohne dass es zu einem Übertragungsakt kommt. Nach Ansicht derjenigen, die eine Aussonderung der einzubringenden Vermögensgegenstände aus dem Privatvermögen und die Überführung in das Sondervermögen für ausreichend halten, erfüllt diese Vorgehensweise auch den Tatbestand der Leistung zur freien Verfügung der Geschäftsführer. Ausreichend hierfür sei bereits, dass sich der Gesellschafter der Verfügungsbefugnis über die Vermögenswerte entledige und der Geschäftsführer diese zu Zwecken der Einpersonengründerorganisation uneingeschränkt benutzen könne61. Hinreichend, aber auch erforderlich sei, dass der Geschäftsführer bei der Verfügung über das Sondervermögen nicht von Seiten des Gründers eingeschränkt werden könne. Auch die rechtsgeschäftliche Übertragung der Gegenstände auf das Sondervermögen könne Zugriffe des Gründers nicht ausschließen, da der Einpersonengründer auch in diesem Fall über ein Weisungsrecht gegenüber dem Geschäftsführer verfüge. Insbesondere im Falle der Identität von Gründer und Geschäftsführer bestehe eine erhöhte Missbrauchsgefahr, die sich auch im Wege der Annahme der Teilrechtsfähigkeit nicht bannen lasse. Nach der Teilrechtsfähigkeitslehre steht der Einpersonen-Vorgesellschaft eine Einlageforderung gegen den Gründer zu62. Die Begründung einer solchen Forderung bereitet bei Anerkennung der Einpersonen-Vorgesellschaft als eigenständiger Rechtsträgerin keine Schwierigkeiten. Problematisch ist die Begründung einer solchen Forderung jedoch im Rahmen der Sondervermögenstheorie, denn hier besteht gerade noch keine Vorgesellschaft, die Inhaberin der Forde-

__________ 59 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 95, der allerdings die Voraussetzung der öffentlichen Beglaubigung nicht nennt; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 380. 60 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379. 61 Fezer, Die Einmann-Gründung der GmbH, JZ 1981, 608, 617; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379. 62 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 149.

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rung sein könnte. Konsequenterweise lehnen die Vertreter der Sondervermögenstheorie das Bestehen einer solchen Forderung im Gründungsstadium der Einpersonengesellschaft ab63. Eine Einlageforderung entstehe vielmehr erst mit Eintragung der Gesellschaft, soweit sie nicht bereits erfüllt worden sei. Vorher sei die Begründung eines solchen Anspruchs auch nicht sinnvoll, zumal er gar nicht erfüllt werden könne, weil eine rechtsgeschäftliche Übertragung der einzulegenden Vermögensgegenstände noch nicht möglich sei. Überdies fehle ein praktisches Bedürfnis für ein Forderungsrecht der Vorgesellschaft, denn die Erbringung der Einlage liege als Eintragungsvoraussetzung im ureigenen Interesse des Gründers. bb) Sicherungsbestellung Das Gesetz regelt in § 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG die Leistung einer Sicherheit des Einpersonengesellschafters für die noch ausstehenden Einlagen. Diese Sicherungsbestellung hat insbesondere den Zweck, die bei der Einpersonengründung fehlende Ausfallhaftung der übrigen Gesellschafter für die Resteinlagen gemäß § 24 GmbHG zu kompensieren64. Zudem dient sie aber auch als Ausgleich für die fehlende Kontrolle des Einpersonengründers durch andere Gesellschafter und die nur schwer zu verwirklichende Trennung zwischen Privat- und Gesellschafts- bzw. Sondervermögen65. Der Alleingesellschafter hat demgemäß für die über die gesetzliche Mindesteinlage hinausgehende und noch nicht erbrachte Geldeinlage eine Sicherung zu bestellen. Als Sicherung der Einlagen kommen nach verbreiteter Ansicht nicht nur die in § 232 BGB genannten Sicherheiten, also namentlich die Hinterlegung von Geld und Wertpapieren und die Bestellung von Hypotheken in Betracht. Vielmehr ergibt sich aus dem in § 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG verwendeten Begriff der „Sicherung“, dass auch eine andere wirtschaftlich gleichwertige Absicherung der Einlagen möglich ist. So sind auch selbstschuldnerische Bürgschaften, Schuldmitübernahmen66 sowie die Bestellung von Grundschulden oder die Sicherungsübereignung möglich67. Manche Vertreter der Sondervermögenstheorie verlangen bei der Sicherungsbestellung ebenso wie bei Erbringung der Einlagen die Aufnahme der zur Sicherung bestellten Gegenstände in eine Vermögensübersicht, um ihre Zugehörigkeit zum Sondervermögen deutlich zu machen68Das Gesetz enthält keine Regelung über die Freigabe der Sicherung. Die Freigabe kann jedoch verlangt werden, wenn der Zweck der Sicherung wegfällt, insbesondere

__________ 63 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379; Ulmer, BB 1980, 1001, 1002; Fezer, JZ 1981, 608, 617. 64 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 72. 65 Raiser, KapGesR (Fn. 14), § 26 Rz. 84. 66 BayObLGZ 1988, 248; OLG Celle, GmbHR 1985, 195; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 76. 67 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 76. 68 Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 381.

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bei vollständiger Erbringung der Einlage69. Dies muss auch beim nachträglichen Entstehen einer Mehrpersonengesellschaft gelten70. 3. Die Einpersonen-Vorgesellschaft im Rechtsverkehr Geht man von der Rechtsfähigkeit der Einpersonen-Vorgesellschaft aus, so kann sie unproblematisch bereits vor der Eintragung selbständiger Träger von Rechten und Pflichten sein. Sie ist dann wie die Mehrpersonen-Vorgesellschaft als werdende juristische Person anzusehen, und ihre Rechtsstellung ist derjenigen der fertigen GmbH angenähert71. Die Teilrechtsfähigkeitslehre behandelt sie also genauso wie die Mehrpersonengründergesellschaft. So kann sie, vertreten durch die Geschäftsführer, Rechtsgeschäfte tätigen. Sie ist bereits parteifähig, grundbuchfähig, wechselfähig, namens- bzw. firmenrechtsfähig und insolvenzfähig, und sie kann ein Konto auf ihren eigenen Namen führen72. Auch die Leistungen auf die Stammeinlagen sind an die Vorgesellschaft zu erbringen, und diese kann sie auch fordern. Da die Vorgesellschaft bereits über eine eigenständige Rechtspersönlichkeit verfügt und damit von der Person des Gründers zu trennen ist, kann aus einem gegen den Gesellschafter erwirkten Urteil nicht in das Gesellschaftsvermögen vollstreckt werden und ebenso wenig aus einem gegen die Gesellschaft ergangenen Urteil in das Privatvermögen des Einpersonengesellschafters. Nach der Sondervermögenstheorie bleibt der Gründer alleiniger Träger von Rechten und Verbindlichkeiten, da er Inhaber des nur organisatorisch verselbständigten Sondervermögens ist. Allerdings soll auch nach dieser Ansicht eine Verpflichtung der Vorgesellschaft anzunehmen sein, wenn der Geschäftsführer in ihrem Namen handelt, so dass sich die Rechtslage der Einpersonen-Vorgesellschaft kaum von der der Mehrpersonengründerorganisation unterscheidet. Auch die Sondervermögenstheorie verkennt nicht, dass der Gesetzgeber die Einpersonengründung der Mehrpersonengründung gleichstellen wollte. Im Ergebnis ist festzustellen, dass bei allen dogmatischen Divergenzen die ganz herrschende Meinung das zur Mehrpersonen-Vorgesellschaft entwickelte Recht auch auf die Einpersonen-Vorgesellschaft angewendet sehen will73.

__________ 69 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 81; Raiser, KapGesR (Fn. 14), § 26 Rz. 86. 70 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 81; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 7 GmbHG Rz. 8. 71 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 149; ders., GesR (Fn. 1), § 11 IV 2 b. 72 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 149; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz, 40; John (Fn. 14), S. 37, 47. 73 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 38 mit vielen weiteren Nachweisen.

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4. Haftungsfragen a) Haftung des Einpersonengesellschafters Die zur Mehrpersonen-Vorgesellschaft entwickelten Haftungsgrundsätze sind auch auf die Einpersonen-Vor-GmbH übertragbar. So trifft die Gesellschafter bis zur Eintragung grundsätzlich die Verlustdeckungshaftung. Allerdings ist diese bei der Einpersonen-Vorgesellschaft nach herrschender Meinung stets als persönliche und unbeschränkte Außenhaftung ausgestaltet. Zwar folgt die herrschende Meinung grundsätzlich dem Binnenhaftungsmodell des BGH. Für den Fall der Einpersonengründung nimmt jedoch der überwiegende Teil der Befürworter des Binnenhaftungsmodells ebenso wie der BGH74 ausnahmsweise eine unbeschränkte Außenhaftung der Gründer an75. Die Gegenansicht, die auch bei der Mehrpersonengründung eine Außenhaftung annimmt76, kommt für die Einpersonen-Vorgesellschaft zum gleichen Ergebnis77. Die herrschende Meinung begründet die Ausnahme vom Binnenhaftungsmodell mit der besonderen Interessenlage in der Einpersonen-Vor-GmbH und den erhöhten Risiken der Gläubiger dieser Gesellschaften78. Die Interessenlage in der EinpersonenVorgesellschaft entspricht schon deshalb nicht der Interessenlage in der Mehrpersonen-Vorgesellschaft, weil der Einpersonengründer nicht auf eine Mit-

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74 BGHZ 134, 333, 341 = NJW 1997, 1507, 1509. 75 Lutter, Haftungsrisiken bei der Gründung einer GmbH, JuS 1998, 1073, 1077; Ulmer, Zur Haftungsverfassung in der Vor-GmbH, ZIP 1996, 733, 737; Wiegand, Offene Fragen zur neuen Gründerhaftung in der Vor-GmbH, BB 1998, 1065, 1069; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 84; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 40; Roth in Roth/Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 87, 53. 76 OLG Thüringen, GmbHR 1999, 772; LAG Köln, DStR 1998, 178, 179 m. Anm. Goette; LSG Stuttgart, NJW-RR 1997, 1463; Altmeppen, Das unvermeidliche Scheitern des Innenhaftungskonzepts in der Vor-GmbH, NJW 1997, 3272 ff.; ders., Konkursantragspflicht in der Vor-GmbH, ZIP 1997, 273; Beuthien, Vorgesellschafterhaftung nach innen oder außen?, GmbHR 1996, 309, 312 ff.; Ensthaler, Haftung der Gesellschafter einer Vor-GmbH – Innenhaftung oder Außenhaftung?, BB 1997, 257 ff.; Flume, Die Rechtsprechung zur Haftung der Gesellschafter der Vor-GmbH und die Problematik der Rechtsfortbildung, DB 1998, 45 ff.; Kleindiek, Zur Gründerhaftung in der Vorgesellschaft, ZGR 1997, 427, 443 ff.; J. Meyer, Haftungsbeschänkung im Recht der Handelsgesellschaften, 2000, S. 519 ff.; Michalski/Barth, Außenhaftung der Gesellschafter einer Vor-GmbH, NZG 1998, 525 ff.; Karsten Schmidt, Zur Haftungsverfassung der Vor-GmbH, ZIP 1997, 671; Raab, Die Haftung der Gesellschafter der Vor-GmbH im System des Gesellschaftsrechts, WM 1999, 1596 ff.; Raiser/Veil, Die Haftung der Gesellschafter einer Gründungs-GmbH, BB 1996, 1344; Schwarz, Offene Fragen bei der sogenannten unechten Vor-GmbH, ZIP 1996, 2005, 2007; Wilhelm, Rechtsanwendung und Konzepte, DB 1996, 921 ff.; ders., Das Innenhaftungskonzept geht in sich, DStR 1998, 457 ff.; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 96 ff.; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 82; Roth in Roth/ Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 51; Raiser, KapGesR (Fn. 14), § 26 Rz. 89; Sandberger, Die Haftung bei der Vorgesellschaft, in FS Fikentscher, 1998, S. 389, 408 ff. 77 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 155; ders., ZHR 145 (1981), 540, 561 f. 78 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 84; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 382.

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haftung der anderen Gesellschafter verweisen kann, so dass der ansonsten notwendige Interessenausgleich unter den Gesellschaftern wegfällt79. Er hat ohnehin alleine persönlich für die bis zur Eintragung entstandenen Verluste der Gesellschaft einzustehen, so dass schon aus Gründen der Prozessökonomie eine direkte Inanspruchnahme des Gründers möglich sein muss80. Zudem hat der Einpersonengründer die Möglichkeit, die Begleichung der Forderungen aus dem Gesellschaftsvermögen zu veranlassen, da er aufgrund seiner alleinigen Gesellschafterstellung eine ungleich stärkere Position innerhalb der Gesellschaft hat als ein Gesellschafter in einer Mehrpersonengesellschaft. Es ist deshalb nicht notwendig, den Einpersonengesellschafter vor einer unmittelbaren Inanspruchnahme durch die Gläubiger zu schützen, wie dies bei der Mehrpersonen-Vorgesellschaft aufgrund der Existenz mehrerer Gesellschafter erforderlich erscheint. Aber auch aus Gläubigerschutzgründen ist eine unbeschränkte Außenhaftung des Einpersonengesellschafters angezeigt81. Die erhöhte Schutzbedürftigkeit der Gläubiger ergibt sich daraus, dass ihnen bei der Einpersonengründung nur ein Einlagenschuldner zur Verfügung steht, auf den sie zur Befriedigung ihrer Forderungen zurückgreifen können. Zudem besteht bei einer Einpersonengesellschaft eine erhöhte Gefahr, dass der Gesellschafter seine eigenen Interessen auf Kosten der Gesellschaft in den Vordergrund stellt, da der Einpersonengründer als Alleingesellschafter eine ungleich stärkere Position innerhalb der Gesellschaft innehat als dies bei einem Gesellschafter in einer Mehrpersonengesellschaft der Fall ist. Umstritten ist ebenso wie bei der Mehrpersonen-Vorgesellschaft, ob die persönliche Haftung des Einpersonengründers erst bei Scheitern der Eintragung entsteht oder ob sich diese Haftung als kontinuierliche Verlustausgleichspflicht der Gesellschafter darstellt. Die Interessenlage ist derjenigen bei der Mehrpersonengründung vergleichbar. Daher sind die dort angestellten Überlegungen auch hier gültig. Für die Mehrpersonen-Vorgesellschaft hat der BGH entschieden, dass die Haftung erst mit Scheitern der Eintragung entsteht82. Diese zeitliche Beschränkung der Haftung erscheint auch für die Einpersonen-Vorgesellschaft sachgerecht. Die Gegenansicht hält demgegenüber eine Geltendmachung schon dann für möglich, wenn die Verluste entstanden sind83. Die Haftung des Gründers kann nur durch eine besondere Vereinbarung mit dem Gläubiger ausgeschlossen werden. Die Verwendung eines Gründungszusatzes oder ein Auftreten im Namen der GmbH sind insoweit nicht ausreichend. Hier gelten die gleichen Überlegungen wie bei der Mehrpersonengründung. Die Haftung des Gesellschafters erlischt auch bei der Einpersonen-Vor-

__________ 79 Roth in Roth/Altmeppen (Fn. 14), § 11 Rz. 53. 80 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 84; Gummert, Die Haftungsverfassung der Vor-GmbH nach der jüngsten Rechtsprechung des BGH, DStR 1997, 1007, 1010. 81 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 84; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 380. 82 BGHZ 134, 333, 341 = NJW 1997, 1507, 1509; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 40. 83 Roth in Roth/Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 87.

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gesellschaft mit deren Eintragung im Handelsregister. Ab diesen Zeitpunkt greift dann die Unterbilanzhaftung ein, so dass der Einpersonengründer ebenfalls die Differenz zwischen dem tatsächlichen Gesellschaftsvermögen und dem Stammkapital auszugleichen hat. In diesem Fall wandelt sich demnach die Außenhaftung des Einpersonengründers mit der Eintragung in eine Innenhaftung auf Ausgleich der Unterbilanz gegenüber der Gesellschaft84. b) Handelndenhaftung Die Handelndenhaftung gemäß § 11 Abs. 2 GmbHG greift auch bei der Einpersonen-Vorgesellschaft. Unter den Begriff des Handelnden fällt allerdings auch hier nur der Geschäftsführer, nicht hingegen der Einpersonengründer85. Ist der Gründer jedoch, wie häufig, gleichzeitig auch Geschäftsführer der Einpersonen-Vor-GmbH, dann stehen die Verlustdeckungshaftung des Gesellschafters und die Handelndenhaftung nebeneinander. Die Handelndenhaftung in der Einpersonen-Vorgesellschaft folgt den gleichen Regeln wie in der Mehrpersonen-Vorgesellschaft und erlischt damit ebenso mit Eintragung der Gesellschaft ins Handelsregister. c) Die Folgen der Eintragung aa) Übergang der Rechte und Pflichten Mit der Eintragung ins Handelsregister gelangt eine vollwertige EinpersonenGmbH, und damit eine juristische Person, zur Entstehung. Die Rechte und Verbindlichkeiten der Einpersonen-Vorgesellschaft gehen mit der Eintragung auf die entstandene GmbH über, ohne dass es hierfür eines Übertragungsaktes bedürfte86. Dieses Ergebnis entspricht der ganz herrschenden Meinung, und zwar sowohl nach der Teilrechtsfähigkeitslehre als auch nach der Sondervermögenstheorie. Hierfür werden unabhängig von der Einordnung der Einpersonen-Vorgesellschaft als eigenständigem Rechtsträger oder als Sondervermögen unterschiedliche Begründungen geboten. Nach der ganz überwiegenden Ansicht soll sich dieser Übergang wie bei der Mehrpersonengründung im Wege der Gesamtrechtsnachfolge vollziehen87. Diese Gesamtrechtsnachfolge bedarf nach der Lehre von der Teilrechtsfähigkeit keiner besonderen Begründung. Nach der Sondervermögenstheorie ist eine Gesamtrechtsnachfolge nicht nur

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84 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 40; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28. 85 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 84, 133; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 156; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 150; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 40. 86 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; Schmidt-Leithoff (Fn. 6), § 11 GmbHG Rz. 151; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28; Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 95; John (Fn. 14), S. 55; im Ergebnis auch Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 157, der von einer Identität der Gesellschaften ausgeht und daher einen Übergang nicht für notwendig hält. 87 Zur Einpersonengründung: Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; a. A. Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 157.

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in das Gesamthandsvermögen einer Mehrpersonen-Vorgesellschaft möglich, sondern auch in das dem Gründer zugeordnete Sondervermögen bei einer Einpersonengründung88. Dies ergebe sich bereits aus § 56a UmwG. Teilweise wird bei einer Sachgründung aus Gründen der Rechtsklarheit für die Eintragung und damit für die Rechtsnachfolge entsprechend den §§ 52 Abs. 4, 56c Abs. 3 UmwG die Vorlage einer besonderen, öffentlich beglaubigten Übersicht über die Vermögensgegenstände des Sondervermögens verlangt89. Nach überwiegender Ansicht sind die Vorschriften des UmwG jedoch nicht auf die Eintragung der Einpersonen-Gründungsgesellschaft anwendbar. Nach der Gegenansicht werden die Rechte und Verbindlichkeiten der Einpersonen-Vorgesellschaft mit der Eintragung solche der Einpersonen-GmbH, ohne dass es hierfür überhaupt eines „Überganges“ bedürfe, was aus der Identität der beiden Gesellschaften folge90. Verbindlichkeiten, die bereits im Stadium der Vorgründungsgesellschaft im Namen der Gesellschaft begründet wurden, gehen dagegen nach beiden Theorien nicht auf die Einpersonen-Vorgesellschaft und damit auch nicht auf die fertige GmbH über91. Insofern ergeben sich keinerlei Besonderheiten gegenüber den Folgen der Eintragung der Mehrpersonen-Vorgesellschaft. bb) Folgen für die Haftung von Gesellschafter und Geschäftsführer Auch bei der Einpersonen-Vorgesellschaft erlöschen sowohl die persönliche Haftung des Gesellschafters als auch die Handelndenhaftung des Geschäftsführers mit Eintragung der GmbH92. Ab diesem Zeitpunkt haftet der Gesellschafter dann auch für eine eventuell bestehende Unterbilanz des Gesellschaftsvermögens93. Die Unterbilanzhaftung des Einpersonengesellschafters richtet sich nach Grundsätzen, die auch bei der Mehrpersonengesellschaft gelten, allerdings mit dem Unterschied, dass nur ein Gesellschafter alleine haftet. Der Einpersonengründer hat demnach die bei Eintragung bestehende Differenz zwischen Gesellschaftsvermögen und Stammkapital aus seinem Privatvermögen auszugleichen. Diese Unterbilanzhaftung des Einpersonengründers ist insbesondere im Falle der Insolvenz der Einpersonengesellschaft von großer praktischer Bedeutung.

__________ 88 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 95; Karsten Schmidt, ZHR 145 (1981), 540, 562; John, BB 1982, 505, 513. 89 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 95; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 379 f. 90 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 157. 91 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39. 92 Ulmer in Großkomm.GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 95; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 158; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28. 93 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 40; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28; Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 159; John (Fn. 14), S. 14; Fleck, GmbHR 1983, 5, 17.

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Die Einpersonen-Vor-GmbH in der rechtswissenschaftlichen Diskussion

d) Folgen des Scheiterns der Eintragung und der Aufgabe der Eintragungsabsicht Bei der Mehrpersonengründung ist die Vorgesellschaft als eigenständiger Rechtsträger im Falle des Scheiterns der Eintragung oder der Aufgabe der Eintragungsabsicht durch die Gesellschafter aufzulösen und zu liquidieren. Im Falle der Einpersonen-Vorgesellschaft ist nach der Theorie vom Sondervermögen eine Auflösung und Liquidation nicht notwendig. Vielmehr fällt die zuvor erfolgte Aussonderung des Vermögens im Zeitpunkt der rechtskräftigen Ablehnung der Eintragung ipso iure und ohne Liquidation weg, so dass die Vermögensgegenstände wieder dem Privatvermögen des Gründers zuzuordnen sind94. Eine Vermögenstrennung besteht ab diesem Zeitpunkt nicht mehr, da das Sondervermögen mit dem Wegfall des Gründungszwecks seine Bestimmung verliert95. Schwierigkeiten bereitet das Scheitern der Gründung, wenn man der Teilrechtsfähigkeitslehre folgt. Da nach dieser Ansicht die Einpersonen-Vorgesellschaft einen eigenständigen Rechtsträger darstellt, müsste sie grundsätzlich durch einen Gesellschafterbeschluss aufgelöst und anschließend liquidiert werden, indem der Gründer das Gesellschaftsvermögen nach Befriedigung der Gläubiger zurück erwirbt96. Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein solcher Auflösungsbeschluss auch bei der Einpersonengründung möglich ist97, bleibt fraglich, wie vorzugehen ist, wenn der Gründer einen solchen Beschluss nicht fasst und eine Auflösung daher unterbleibt. Wegen dieser Schwierigkeiten wollen die Befürworter der Teilrechtsfähigkeitslehre beim Scheitern der Gründung den gleichen Weg gehen wie die Vertreter der Sondervermögenstheorie: Es soll zum automatischen Wegfall der Vorgesellschaft und zum Übergang aller Rechte und Pflichten auf den Gründer kommen, ohne dass es einer Auflösung oder Liquidation bedürfe98. In diesem Zeitpunkt soll die Vorgesellschaft auch ihre Rechts- und Parteifähigkeit verlieren99. Die erbrachten Einlagen sollen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die Gründer übergehen100. Damit kommen die unterschiedlichen Ansichten in Bezug auf die Rechtsnatur der Einpersonen-Vorgesellschaft auch im Falle des Scheiterns der Eintragung der Gesellschaft und der Aufgabe der Eintragungsabsicht zu einheitlichen Ergebnissen.

__________ 94 BayObLG, NJW-RR 1987, 812; LG Berlin, GmbHR 1988, 71; Ulmer in Großkomm. GmbHG (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 57; Ulmer/Ihrig, GmbHR 1988, 373, 383 f.; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39. 95 Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; Lutter/Bayer (Fn. 22), § 11 GmbHG Rz. 28. 96 Diese Schwierigkeiten einräumend Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148. 97 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148, 153; John (Fn. 14), S. 62 ff. 98 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148; Hueck/Fastrich (Fn. 3), § 11 GmbHG Rz. 39; Karsten Schmidt, ZHR 145 (1981), 540, 563; ders., GmbHR 1988, 89 ff.; John (Fn. 14), S. 58 ff.; Hub. Schmidt, GmbHR 1987, 393. 99 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148. 100 Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 2), § 11 GmbHG Rz. 148.

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Für die Teilrechtsfähigkeitslehre stellt dies jedoch einen Systembruch dar, der dogmatisch nur schwer zu begründen ist. Führt der Gesellschafter die Geschäftstätigkeit der Einpersonen-Vorgesellschaft trotz Scheiterns der Eintragung oder Aufgabe der Eintragungsabsicht fort, so finden die zur Mehrpersonengründung entwickelten Grundsätze der unechten Vorgesellschaft Anwendung101. Die Gesellschaft ist in diesem Fall als Einzelunternehmen zu behandeln. Hieraus ergeben sich allerdings keine praktischen haftungsrechtlichen Konsequenzen, da die Verlustdeckungshaftung in der Einpersonen-Vorgesellschaft nach ganz herrschender Meinung ohnehin keine Innenhaftung, sondern mit Rücksicht auf die Besonderheit der Einpersonengesellschaft als unmittelbare Außenhaftung ausgestaltet ist. Die haftungsrechtliche Position des Einpersonengründers verschlechtert sich insoweit durch die Anwendung der Grundsätze zur unechten Vorgesellschaft nicht.

VII. Fazit Das Recht der Einpersonen-Vorgesellschaft wird beherrscht vom Streit zwischen der Teilrechtsfähigkeitslehre und der Sondervermögenstheorie. Dieser Streit zieht sich von der Grundfrage der dogmatischen Qualifikation dieser Gesellschaftsform durch sämtliche Einzelaspekte ihrer Existenz bis hin zur Auflösung. Der Vergleich zeigt, dass die Stärke der Sondervermögenstheorie dort liegt, wo es um die Folgen des Scheiterns der Vorgesellschaft geht, während die Theorie der Teilrechtsfähigkeit da überzeugt, wo es darum geht, den Status und die rechtliche Behandlung der Einpersonengründerorganisation sowie die Rechtsfolgen der Eintragung der GmbH zu erklären. Letztlich beschränken sich die Unterschiede der beiden Ansichten auf die dogmatische Einordnung der Einpersonengründerorganisation und die daraus folgenden Unterschiede in der konstruktiven Bewältigung von Einzelproblemen etwa bei der Bestellung des Geschäftsführers, bei der Einlagenleistung und der Sicherungsbestellung, bei der Gesellschafter- und der Handelndenhaftung und schließlich bei den Folgen der Eintragung, insbesondere im Fall des Scheiterns der Eintragung und der Aufgabe der Eintragungsabsicht. Aus praktischer Sicht dürfte allerdings beruhigen, dass beide Ansichten in nahezu sämtlichen Fragen zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangen.

__________ 101 OLG Oldenburg, NZG 1999, 729 m. Anm. Michalski/De Vries; Roth in Roth/ Altmeppen (Fn. 14), § 11 GmbHG Rz. 87.

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Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichtbeachtung der Regeln des ARAG-Urteils über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Pflichtenlage des Aufsichtsrats nach dem ARAG-Urteil 1. Die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs 2. Kritik a) Beschränkung auf die Regeln über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern b) Unklarheit über das Rangverhältnis zwischen der Pflicht des Aufsichtsrats, einen Vermögensschaden von der Gesellschaft fernzuhalten, und der Pflicht, Vorstandsmitglieder rechtlich zu belangen c) Problematische Entgegensetzung von Erkenntnis- und Handlungsbereich

d) Zweistufenverhältnis von Prozessrisikoanalyse und Prüfung der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen unter dem Gesichtspunkt des Gesellschaftsinteresses e) Entgegensetzung von nachträglicher Überwachungstätigkeit und unternehmerischem Handeln f) Gesamtwürdigung III. Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichteinhaltung der Anforderungen des Bundesgerichtshofs zur Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder?

I. Einleitung Nach dem ARAG-Urteil1 sind Aufsichtsratsbeschlüsse nichtig, wenn diese die Regeln nicht beachten, die der Bundesgerichtshof über die Verpflichtung eines Aufsichtsrats, pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, in diesem Urteil aufstellt. Von diesen Regeln spricht man inzwischen als „gefestigten Grundsätzen“; die Kommentarliteratur stellt sie heute überwiegend als gesicherten Rechtsbestand dar2.

__________ 1 BGHZ 135, 244. 2 Teilweise wird in den Kommentaren sogar die Diktion des BGH fast wörtlich übernommen; vgl. etwa Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 111 AktG Rz. 27. Einwendungen immerhin bei Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 145 ff.; Hopt/Roth in GroßKomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 111 AktG Rz. 353 ff.; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 4b; Kindler, ZHR 162 (1998), 101, 116; Götz in FS Lüke, 1997, S. 167, 184; ders., NJW 1997, 3275, 3276.

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Hier sei gefragt, wie es mit der Haftung des Aufsichtsrats nach §§ 93, 116 AktG steht, wenn er Vorstandsmitglieder entgegen den Vorgaben des Bundesgerichtshofs nicht auf Schadensersatz in Anspruch nimmt. Mehrheitlich scheint man ohne weiteres davon auszugehen, dass sich auch die schadensersatzrechtliche Verantwortung des Aufsichtsrats nach diesen Vorgaben richtet3. Dagegen ist Widerspruch anzumelden4 und davon handelt dieser Beitrag.

II. Die Pflichtenlage des Aufsichtsrats nach dem ARAG-Urteil 1. Die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs Das ARAG-Urteil erlegt dem Aufsichtsrat die Pflicht auf, „eigenverantwortlich das Bestehen von Schadenersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern aus ihrer organschaftlichen Tätigkeit zu prüfen und, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, solche unter Beachtung des Gesetzes- und Satzungsrechtes und der von ihnen vorgegebenen Maßstäbe zu verfolgen“5. Dies erfordere zunächst „die Feststellung des schadensersatzverpflichtenden Tatbestandes in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht sowie eine Analyse des Prozessrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung“6. Soweit es um die Entscheidung über das Bestehen und die Durchsetzbarkeit von Ersatzansprüchen gehe, habe der Aufsichtsrat kein Handlungsermessen. Im Rahmen der Prüfung dieser Frage steht – wie der Bundesgerichtshof ausführt – „dem Aufsichtsrat keine andere Aufgabe zu als jedem anderen, der in eigener oder fremder Sache ein Urteil über das Bestehen eines Anspruchs und die Aussichten einer gerichtlichen Geltendmachung desselben abzugeben hat. Die Haltbarkeit und Richtigkeit seiner Beurteilung der Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Anspruchsverfolgung sind im Streitfall vor Gericht grundsätzlich voll nachprüfbar, da es bis hierher nicht um Fragen des Handlungs-, sondern allein des Erkenntnisbereichs geht, für die allenfalls die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht kommen kann.“7 Führe eine solche sorgfältig und sachgerecht vom Aufsichtsrat vorgenommene Prozessrisikoanalyse zu dem Ergebnis, der Gesellschaft könnten voraussichtlich – Gewissheit könne nach Lage der Dinge insoweit nicht verlangt werden – durchsetzbare Schadensersatzansprüche gegen eines ihrer Vorstandsmitglieder zustehen, dann könne sich „auf der nächsten Stufe die Frage stellen, ob der Aufsichtsrat gleichwohl von einer Verfolgung des Anspruchs und damit einer Wiedergutmachung des der Gesellschaft zugefügten Schadens absehen kann“8.

__________ 3 Vgl. z. B. Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 4. Aufl. 2008, S. 132. 4 Vgl. auch Hüffer (Fn. 2); Thümmel, DB 1997, 1117, 1119. 5 BGHZ 135, 244, 252. 6 BGHZ 135, 244, 253. 7 BGHZ 135, 244, 254. 8 BGHZ 135, 244, 254.

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Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichtbeachtung des ARAG-Urteils?

Auch für diese Entscheidung billigt der Bundesgerichtshof dem Aufsichtsrat aber keinen – wie es im ARAG-Urteil heißt – autonomen unternehmerischen Ermessensspielraum zu9. Die Entscheidung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder sei nämlich keine unternehmerische Tätigkeit, sondern Teil der nachträglichen Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats, „deren Ziel darauf gerichtet ist, den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden …“. Da diese Entscheidung allein dem Unternehmenswohl verpflichtet ist, das grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlangt, wird der Aufsichtsrat von der Geltendmachung voraussichtlich begründeter Schadenersatzansprüche gegen einen pflichtwidrig handelnden Vorstand nur dann ausnahmsweise absehen dürfen, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen. Diese Voraussetzung wird im allgemeinen nur dann erfüllt sein, wenn die Gesellschaftsinteressen und -belange, die es geraten erscheinen lassen, keinen Ersatz des der Gesellschaft durch den Vorstand zugefügten Schadens zu verlangen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind.“10 Für prinzipiell unbeachtlich hält der Bundesgerichtshof dagegen Gesichtspunkte, die für eine Schonung des Vorstandsmitglieds aus in dessen Person liegenden Gründen sprechen könnten11, wobei er allerdings nicht ausdrücklich auf die Konstellation eingeht, dass die Beachtung dieser Gesichtspunkte wesentlich dafür sein kann, ein Vorstandsmitglied im Interesse der Gesellschaft im Amt zu behalten. Als Schlussfolgerung hält der Bundesgerichtshof fest, „dass die Verfolgung der Schadenersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muss. Hingegen bedarf es gewichtiger Gegengründe und einer besonderen Rechtfertigung, von einer – voraussichtlich – aussichtsreichen Anspruchsverfolgung … abzusehen; sie muss die Ausnahme darstellen … Nur in diesen engen Grenzen kann dem Aufsichtsrat … ein Entscheidungsermessen für die Frage zuzubilligen sein, ob er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohles ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadenersatzanspruches absehen möchte. Dieses Ermessen des Aufsichtsrates „kann aber erst dann einsetzen, wenn die gegeneinander abzuwägenden Umstände festgestellt worden sind.“12

__________ 9 BGHZ 135, 244, 254. 10 BGHZ 135, 244, 255. 11 BGHZ 135, 244, 255 f., wonach allerdings Ausnahmen durchaus in Betracht kommen sollen. Der BGH erwähnt dafür als Beispiel, dass auf der einen Seite das pflichtwidrige Verhalten nicht „allzu schwerwiegend und die der Gesellschaft zugefügten Schäden verhältnismäßig gering sind, auf der anderen Seite jedoch einschneidende Folgen für das ersatzpflichtig gewordene Vorstandsmitglied drohen“. Wie Letzteres bei verhältnismäßig geringen Schadensersatzverpflichtungen eines Vorstandsmitglieds der Fall sein kann, wäre einer Erklärung wert gewesen. Gegen die Berücksichtigung in der Person des Vorstands gegebener Verschonungsgründe überhaupt Paefgen (Fn. 2), S. 146 m. w. N. 12 BGHZ 135, 244, 256.

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2. Kritik a) Beschränkung auf die Regeln über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern Auf kritische Stimmen zu dem Urteil ist bereits hingewiesen worden13. Im Folgenden sollen nur die Punkte angesprochen werden, die für die Frage einer Schadensersatzverantwortlichkeit des Aufsichtsrats wegen Nichtinanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern von Bedeutung sind, namentlich also die Anforderungen, die der Bundesgerichtshof an die Prüfung und Geltendmachung solcher Ansprüche stellt, und die Begründungen, die er dafür angibt. Wie ich meine, sind dem Urteil in dieser Hinsicht gewisse Unklarheiten, Inkonsistenzen und Fehleinschätzungen vorzuhalten, die es – wie anschließend zu zeigen sein wird – als tragfähiges Fundament für eine Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats ungeeignet erscheinen lassen, zumal diese an andere gesetzliche Voraussetzungen anknüpft, als sie der Bundesgerichtshof für die Gültigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen aufstellt. Eine stärkere Orientierung des diesbezüglichen Richterrechts an der gesetzlichen Schadensersatzhaftung, als sie der Bundesgerichtshof im ARAG-Urteil für notwendig gehalten hat, ist allerdings – so das Fazit dieses Beitrags – zu befürworten. b) Unklarheit über das Rangverhältnis zwischen der Pflicht des Aufsichtsrats, einen Vermögensschaden von der Gesellschaft fernzuhalten, und der Pflicht, Vorstandsmitglieder rechtlich zu belangen Unklar bleibt in der Begründung des Bundesgerichtshofs vor allem das Rangverhältnis zwischen der Pflicht des Aufsichtsrats, Organmitglieder wegen einer Pflichtverletzung rechtlich zu belangen, und seiner Pflicht, einen Vermögensschaden von der Gesellschaft fernzuhalten. Der Bundesgerichtshof entzieht sich einer klaren Stellungnahme zu dieser Frage, indem er die Möglichkeit eines Konfliktes zwischen diesen Pflichten ausblendet und als Ziel der nachträglichen Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats bezeichnet, „den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden …“14, als ob diese Ziele nicht konträr zueinander stehen könnten. Er konzediert dem Aufsichtsrat zwar die Möglichkeit, von der Anspruchsverfolgung abzusehen, aber das nur ausnahmsweise, und er lässt ungesagt, dass der Aufsichtsrat zum Zwecke der Schadensvermeidung dazu verpflichtet sein könnte. Andererseits stellt der Bundesgerichtshof ausdrücklich auf die Verantwortung des Aufsichtsrats für das Vermögen der Gesellschaft ab, wenn er sich darauf beruft, dass dessen Entscheidung allein dem Unternehmenswohl

__________ 13 Vgl. oben Fn. 2. 14 Legt man den vom OLG Düsseldorf, ZIP 1995, 1183, der Vorentscheidung zum Urteil des BGH, festgestellten Tatbestand zugrunde, so gab es allerdings im ARAG-Fall auch keine ausreichend substantiierten Anhaltspunkte dafür, dass die Inanspruchnahme des Vorstandsvorsitzenden, die der Aufsichtsrat abgelehnt hatte, nennenswerte Schäden für die Gesellschaft hätte hervorrufen können.

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verpflichtet sei, das grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlange. Ist das ARAG-Urteil so auszulegen, dass es letztlich entscheidend darauf ankommt, ob durch das Vorgehen gegen Organmitglieder eine Verbesserung der Vermögenslage der Gesellschaft erwartet werden kann, so kann die Pflicht zur Geltendmachung dieser Ansprüche auch nur dann zum Tragen kommen, wenn dies der Fall ist. Der Gedanke des Bundesgerichtshofs, der Aufsichtsrat dürfe nur ausnahmsweise mit Rücksicht auf die Belange der Gesellschaft von einer Rechtsverfolgung absehen, könnte somit nicht besagen, dass es ihm gestattet sei, eine von der Erhebung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder zu erwartende Verschlechterung der Vermögenslage der Gesellschaft in Kauf zu nehmen, nur um eine Pflichtwidrigkeit nicht unverfolgt zu lassen. Die einfache Regel für den Aufsichtsrat wäre also: Ist zu erwarten, dass die Gesellschaft im Ergebnis von der Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder profitiert, so muss er gegen diese vorgehen; ist dagegen unter Würdigung aller Umstande damit zu rechnen, dass sich eine Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder – insgesamt gesehen – negativ auf das Vermögen der Gesellschaft auswirken würde, so braucht und darf er es nicht. Der These des Bundesgerichtshofs, dass ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen der Geltendmachung aussichtsreicher und durchsetzbarer Schadensersatzansprüche und dem Absehen von einer solchen Geltendmachung besteht, bedürfte es insofern nicht. Will der Bundesgerichtshof also möglicherweise mit dieser These doch darauf hinaus, dass der Aufsichtsrat auch zum voraussichtlichen Schaden der Gesellschaft vorgehen darf oder sogar muss, wenn nicht ganz besonders wichtige, über eine Schadensvermeidung hinausgehende Belange der Gesellschaft dagegen sprechen, die Ansprüche geltend zu machen? Aber was sollten das für Belange sein? Und kann ein Gericht einem Aufsichtsrat aufgeben, seiner Gesellschaft sehenden Auges zu schaden? Die Antwort kann nur lauten: Nein, er soll ihr Vermögen behüten, und keine Aussichten auf eine erfolgreiche Inanspruchnahme eines Vorstandsmitglieds können ihm erlauben, es zu schmälern. c) Problematische Entgegensetzung von Erkenntnis- und Handlungsbereich Als problematisch erweist sich auch ein weiterer Baustein der Begründung, nämlich die Entgegensetzung eines von den Gerichten voll nachprüfbaren Erkenntnisbereichs hinsichtlich des Bestehens und der Aussichten einer Durchsetzbarkeit von Ansprüchen15 und eines Handlungsbereichs, in dem der Aufsichtsrat über ein Entscheidungsermessen verfüge, von dem er allerdings erst dann Gebrauch machen dürfe, wenn er die für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Umstände festgestellt habe. Ob auch diese Feststellung von den Gerichten in Hinblick auf ihre Richtigkeit oder vielleicht auch nur auf die

__________ 15 Unter der Durchsetzbarkeit versteht der BGH nicht nur die Aussichten zur Erlangung eines gerichtlichen Urteils, sondern auch die Beitreibbarkeit; vgl. BGHZ 135, 244, 253, 256.

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Erfassung aller gerichtlicherseits für relevant gehaltenen Umstände voll nachprüfbar sein soll, bleibt in der Urteilsbegründung offen. Ist die Zuordnung des Bestehens von Ansprüchen sowie ihrer gerichtlichen und faktischen Durchsetzbarkeit zum Erkenntnisbereich im Sinne einer Verpflichtung des Aufsichtsrats zu verstehen, diese zutreffend zu erkennen, so handelt es sich um ein unerfüllbares Postulat. Gewiss kann dem Aufsichtsrat keine objektiv richtige Erkenntnis in Bezug auf die faktische Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs abverlangt werden, muss er sich doch mit den Anhaltspunkten über die Vermögenslage eines Vorstandsmitglieds begnügen, die ihm zu Gebote stehen16. Aber auch in Bezug auf das Bestehen von Schadensersatzansprüchen gegen ein Vorstandsmitglied und die Chancen ihrer erfolgreichen gerichtlichen Geltendmachung muss der Aufsichtsrat mit Wahrscheinlichkeiten, Prognosen und Risikoabwägungen operieren; denn bekanntlich ist die richtige Rechtslage in etwas komplexeren Fällen nur relativ selten als Gegenstand einer Rechtserkenntnis zu haben, der man objektive Richtigkeit attestieren kann, weil die anzuwendenden Normen und ihre Aussage in Bezug auf die Beurteilung des Streitfalls unzweifelhaft sind17. Vielmehr ist man meistens auf mehr oder minder sichere Mutmaßungen darüber angewiesen, was die mit normativer Rechtsautorität, aber nicht mit höherer Einsicht in das „wahre Recht“ ausgestatteten Rechtsinstanzen als normative Prämissen für ihre Beurteilung bestimmen werden. Im Bereich vertretbarer Auswahlmöglichkeiten für diese Prämissen kann es Richtigkeit nur im Sinne der Vereinbarkeit der dafür angeführten Argumente mit unbezweifelbaren methodischen Akzeptabilitätskriterien geben18, vorausgesetzt, die letzteren sind nicht ihrerseits unterschiedlich interpretierbar und stehen in einem Kollisionen ausschließenden Verhältnis zueinander. Diese Voraussetzungen können Rechtssysteme, die eine hohe gesellschaftliche Komplexität zu verarbeiten haben und den Rechtsanwendern dazu weite Wertungsspielräume gewähren müssen, nur in sehr eingeschränktem Umfang er-

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16 Besteht eine D&O-Versicherung, so muss er in diesem Zusammenhang auch schon die heikle Frage der Schwere der Schuld des Vorstandsmitglieds beurteilen; denn durchweg schließen die Versicherungsbedingungen Ansprüche wegen vorsätzlicher Schadensverursachung oder auf Grund wissentlicher Pflichtverletzung aus. Was unvermeidlich zu Fällen führt, in denen gerade die besonders schwere Schuld eines Vorstandsmitglieds die Inanspruchnahme der D&O-Versicherung – nicht selten zur Erleichterung des Aufsichtsrats, der von einer Rechtsverfolgung im Klagewege zu Recht oder Unrecht gravierende Folgen für die Zukunft der Gesellschaft befürchtet – als nicht aussichtsreich erscheinen lässt. Ein wesentliches, aber vermeidbares Hindernis, das generell aus den Versicherungsbedingungen der D&0 Versicherung entfernt werden sollte, ist die Erhebung einer Klage vor den ordentlichen Gerichten als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, die ausschließt, dass sich nachteilige Folgen für das Unternehmen aufgrund der geschäftsschädigenden Publizität eines Schadensfalls bei der Inanspruchnahme der Versicherung vermeiden lassen. 17 Gegen Zweifel, dass es derartige Fälle überhaupt gibt, mit Recht Hoerster, Was ist Recht?, 2006, S. 119 f. 18 Zutreffend Schuhr, JZ 2008, 603, 604 ff.

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füllen. Eine Rechtsprechung, die sich zur Rechtsfortbildung und Hilfsgesetzgebung berufen sieht, und eine Rechtswissenschaft die dementsprechend einen Mix von Hermeneutik und Politik pflegt, ohne sich an ein bestimmtes Mischungsverhältnis halten zu müssen, haben dem Recht den Weg zu seiner modernen gesellschaftlichen und politischen Macht geebnet. Welche Rolle auch immer auf diesem Wege die Vorstellung gespielt haben mag, dass Juristen des Rechts, das sie verkünden oder propagieren, im Wege eines objektive Richtigkeit gewährleistenden Erkenntnisprozesses teilhaftig geworden sind, sei dahingestellt; heute ist eine solche Vorstellung jedenfalls philosophisch und wissenschaftstheoretisch unverkäuflich und selbst rechtspolitisch nicht mehr nützlich, weil allzu einfach als Anmaßung durchschaubar19. Das bedeutet, eine Pflicht des Aufsichtsrats, so zu entscheiden, wie es ein Gericht dereinst tun wird, kann es nicht geben. „Hellseherische Fähigkeiten“ können – wie Götz treffend bemerkt hat20 – vom Aufsichtsrat nicht verlangt werden. Hinzuzufügen ist: Auch die Rechtsprechung verfügt nicht darüber. Das gilt für die materielle Rechtslage wie für die Prozessaussichten, insbesondere beispielsweise für den Ausgang einer Beweisaufnahme, wie für die Beitreibbarkeit eines Anspruchs. Indessen ist festzustellen, dass es dem Bundesgerichtshof fern gelegen hat, mit der Zuordnung der Problematik des Bestehens von Ansprüchen und ihrer Durchsetzbarkeit dem Aufsichtsrat eine nachprüfbar richtige Erkenntnis vorschreiben zu wollen. Vielmehr verwendet er den Hinweis, es gehe um richtige Erkenntnis, nur als rhetorischen Blickfang. Wie sich aus dem Zusammenhang der Urteilsbegründung erschließen lässt, meint er damit nämlich nichts anderes, als ein Gebot, diese Fragen allein auf der Basis juristischer Argumente zu entscheiden und dabei alle unternehmerischen Abwägungen auszuschalten. Denn er schließt zum einen nicht aus, dass dem Aufsichtsrat ein begrenzter Beurteilungsspielraum zugebilligt werden kann, ohne allerdings dazu konkrete Hinweise zu geben. Zum anderen erwähnt er neben der Richtigkeit auch die Haltbarkeit der Entscheidung des Aufsichtsrats als Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung, nimmt also anscheinend auch eine unrichtige, aber vertretbare Entscheidung als pflichtgemäß hin. Schließlich bezeichnet er als das Ergebnis, das für das weitere Vorgehen des Aufsichtsrats maßgeblich sei, eine von der Gewissheit nicht allzu weit entfernte Erkenntnis, dass die Wahrscheinlichkeit aussichtsreicher und voraussichtlich durchsetzbarer Ansprüche der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied besteht. Ausdrücklich erwähnt er im Leitsatz c der Entscheidung, es komme auf eine Abschätzung der Erfolgsaussichten aufgrund einer sorgfältigen Risikoanalyse an.

__________ 19 Der eigentümliche Sprachgebrauch der Juristen, die jeweils von ihnen zu streitigen Fragen bevorzugte Rechtsmeinung als die richtige zu bezeichnen oder sich untereinander zu bestätigen oder vorzuwerfen, dass sie Recht oder Unrecht hätten, kann immerhin insoweit gerechtfertigt sein, als sich schon aus dem Diskussionszusammenhang zumindest konkludent ergibt, dass es um subjektive Standpunkte und nicht um objektive Richtigkeit geht. 20 Götz, NJW 1997, 3275, 3276.

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Es geht ihm also doch nur um Wahrscheinlichkeit und Prognosen und Risikoabwägung, was im Übrigen bei Schadensersatzansprüchen ohnehin dem Standpunkt des Gesetzes entspricht, das für die Bestimmung des Schadens Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkte für ausreichend und einigermaßen plausible Schätzungen für zulässig hält. Letztere werden in Fällen, in denen eine Pflichtverletzung – man denke beispielsweise an eine Nichtverhinderung von Korruption oder Geldwäsche – dem Unternehmen auch Vorteile gebracht hat, normalerweise auch diese erfassen müssen. Sie kraft „wertender Betrachtung“ durchweg unberücksichtigt zu lassen, geht jedenfalls bei fahrlässigen Pflichtverletzungen sicherlich nicht an. Ebenso wird man auch mittelbaren Nachteilen, die auf Reaktionen von Dritten, namentlich auch staatlicher Instanzen beruhen, Rechnung zu tragen haben. Damit sind vielfältige und unsichere Kausalzusammenhänge und Betragsgrößen zu berücksichtigen, so dass Schadenszurechnung und Schadensschätzung durch hohe Ungewissheit und extreme Spielräume21 gekennzeichnet sein können22. d) Zweistufenverhältnis von Prozessrisikoanalyse und Prüfung der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen unter dem Gesichtspunkt des Gesellschaftsinteresses Die vorstehenden Ausführungen erwecken Zweifel an der vom Bundesgerichtshof geforderten Zweistufigkeit der Prüfung des Aufsichtsrats. Das gilt jedenfalls dann, wenn man sie so versteht, dass der Aufsichtsrat die Ermittlung der Rechtslage und der Durchsetzbarkeit etwaiger Ansprüche als ersten Schritt abgeschlossen haben muss, ehe er sich als zweitem Schritt der Frage zuwenden darf, ob eine Rechtsverfolgung der Gesellschaft nützt oder schadet.

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21 Diese Unsicherheitsfaktoren sind selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn es zu Unternehmensbußen oder einer Abwendung von Strafverfahren gegen Geldzahlungen gekommen ist; denn die Höhe derartiger Sanktionen hängt zumeist von Verhandlungen mit den zuständigen Behörden ab, in die vielerlei Gesichtspunkte einfließen können und bei denen es auch nicht auszuschließen ist, dass ein Unternehmen „Tauschgeschäfte“ macht, deren Zurechnungszusammenhang mit der individuellen Pflichtverletzung eines Vorstandsmitglieds zweifelhaft erscheint, beispielsweise die Einstellung von Ermittlungen in Bezug auf andere Problemkomplexe oder die Verschonung anderer Vorstandsmitglieder. 22 Was im Übrigen sollen Aufsichtsräte für die Erfüllung einer ihnen zur Pflicht gemachten richtigen oder zumindest haltbaren Rechtserkenntnis mit der Aussage des Bundesgerichtshofs anfangen, Ansprüche seien geltend zu machen, wenn der Aufsichtsrat mit Wahrscheinlichkeit (Gewissheit kann nicht verlangt werden) annehmen kann, dass sie gegeben sind. Soll jedes Überwiegen der Möglichkeit, dass ein Anspruch bestehen könnte, einem Aufsichtsrat Anlass zu dessen Geltendmachung geben? Vernunftbegabten Rechtssubjekten wird das nur selten ausreichen, sich auf Gerichtsverfahren einzulassen. Aber wenn nicht jede Wahrscheinlichkeit, welche dann? Bei Schadensersatzansprüchen ergibt sich übrigens im Fall eines Schadens im Verantwortungsbereich eines Vorstandsmitglieds eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit des Erfolgs einer Klage schon aus § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG. Soll die Möglichkeit, dem – typischerweise inzwischen ausgeschiedenen – Vorstandsmitglied die Beweislast zuzuschieben, bereits seine Inanspruchnahme gebieten, wenn abzusehen ist, dass es einen Gegenbeweis schwerlich zu führen vermag?

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Die Frage, ob und in welcher Höhe Schadensersatzansprüche Erfolg haben könnten, und die Frage, ob nicht selbst bei einem Erfolg der Klage die Geltendmachung der Ansprüche auf eine Schädigung der Gesellschaft hinauslaufen könnte, sind vielmehr prinzipiell gleichermaßen wertungs- und prognoseabhängig. Beide können ziemlich einfach und sicher zu beantworten sein; beide können so komplex sein, dass man dem Aufsichtsrat nur unvertretbare Entscheidungen zum Vorwurf machen kann. Dieser kommt vernünftigerweise auch nicht umhin, den Grad der Erfolgswahrscheinlichkeit einer Klage und den Grad der Wahrscheinlichkeit einer daraus folgenden Vermögensschädigung der Gesellschaft gegeneinander abzuwägen. Die Unterscheidung des Bundesgerichtshofs zwischen einer möglichst richtig zu beurteilenden Rechtsfrage des Bestehens von Ansprüchen und ihrer gleichfalls als Erkenntnisproblem zu behandelnden Durchsetzbarkeit einerseits und der Frage, ob ihre Geltendmachung im Interesse der Gesellschaft liegt, andererseits kann somit eine vernünftige Entscheidungsfindung des Aufsichtsrats eher behindern als fördern. Verwerfen kann man sie deshalb nicht ohne weiteres. Begründungen sind bekanntlich oft nur Nachrationalisierungen intuitiver Entscheidungen, die ihre Klugheit durch deren Unlogik nicht ohne weiteres einbüssen23. Immerhin hat das Postulat einer Zweistufenprüfung nicht nur die Kommentarliteratur beeindruckt, sondern – wenn auch vielleicht im Ergebnis nicht besonders nachhaltig – die Unternehmenspraxis, die sich seit ARAG mit ganz anderem Aufwand der Prüfung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder unterzieht als zuvor. Das Gebot, zunächst einmal die Frage zu beantworten, ob ein Schadensersatzverlangen begründet und aussichtsreich wäre, und erst dann Fragen eines gegenläufigen Gesellschaftsinteresses Raum zu geben, hat der bekannten Tendenz der Aufsichtsräte entgegen gewirkt, die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern unter pauschaler Berufung auf das Unternehmenswohl zu vermeiden. Durch die Qualifizierung der Frage, ob aussichtsreiche Ansprüche gegen ein Vorstandsmitglied bestehen, als Rechtsproblem sehen sich die Aufsichtsräte zunehmend genötigt, interne oder externe Rechtsgutachten einzuholen24. Halten diese solche Ansprüche für gegeben, so kommt der Aufsichtsrat heute um eine intensive Problemdiskussion nicht mehr herum und kann auch die Frage gegenläufiger Interessen der Gesellschaft nicht mehr

__________ 23 Dazu etwa Gigerenzer, Gut Feelings 2007, S. 13 ff. und passim mit Bemerkungen zur Bedeutung der Intuition auf das decision-making, die auch Juristen zu denken geben können. Schäfer, ZIP 2005, 1253, 1257 merkt zur Behandlung des Bestehens durchsetzbarer Ansprüche als Erkenntnisproblem an: „Das greift zwar zu kurz, im Ergebnis erscheint diese Beurteilung aber gleichwohl gerechtfertigt; denn es … mag … aus Gründen der Prävention durchaus veranlasst sein, den Bereich der unternehmerischen Entscheidung eher eng zu ziehen …“ 24 Auch im ARAG Fall gab es bereits – einander widersprechende – Rechtsgutachten; vgl. dazu den Tatbestand der Entscheidung des OLG Düsseldorf, ZIP 1995, 1183, 1185.

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so floskelhaft und unspezifisch beantworten, wie dies früher oft der Fall gewesen ist25. Das wird sich voraussichtlich aber auch dann nicht mehr ändern, wenn man die vom Bundesgerichtshof verordnete Zweistufigkeit relativiert und auf ein Maß beschränkt, das Schäden für die Gesellschaft ausschließt. Das aber bleibt dringend zu empfehlen. Den tragenden Gesichtspunkt dafür, dass der Aufsichtsrat Vorstandsmitglieder, die einen Vermögensschaden der Gesellschaft zu verantworten haben, in Anspruch zu nehmen habe, hat der Bundesgerichtshof mit Recht letztendlich in dessen Vermögensverantwortung gesehen. Dem widerspricht es, wenn ihm auferlegt würde, die Prüfung des Anspruchs ohne Rücksicht auf Kosten und Zeitaufwand bis an die Grenze des Möglichen zu treiben, ohne Rücksicht darauf, dass sich dessen Geltendmachung unter dem Gesichtspunkt des Gesellschaftsinteresses verbieten könnte. Unter dem Gesichtspunkt der Vermögensverantwortung muss vielmehr als Regel gelten, dass der Prüfungsaufwand, den eine Gesellschaft in Bezug auf die Feststellung eines Anspruchs und seiner Durchsetzbarkeit treibt, in einem angemessenen Verhältnis zu der Frage zu stehen hat, ob eine Geltendmachung unter dem Gesichtspunkt des Unternehmenswohls überhaupt in Betracht kommen kann. Liegen Gesichtspunkte vor, die letzteres ausschließen, so kann der Aufsichtsrat, der für das Vermögen der Gesellschaft Verantwortung trägt, nicht dazu verpflichtet werden, zum Schaden der Gesellschaft einen kostenträchtigen Aufwand zur abschließenden und letztlich ohnehin meistens nicht mit absoluter Gewissheit zu treffenden Feststellung der Rechtslage und zu einer ebenfalls nur eingeschränkt sicheren Prognostizierung der Durchsetzbarkeit eines Anspruchs zu treiben. e) Entgegensetzung von nachträglicher Überwachungstätigkeit und unternehmerischem Handeln Hat der Aufsichtsrat das Bestehen von aussichtsreichen Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder festgestellt oder hätte er es feststellen müssen, so gesteht ihm das ARAG-Urteil keinen „autonomen“ Ermessensspielraum zu, ob er die Ansprüche geltend macht oder nicht, sondern bindet ihn an eine richterrechtliche Regel, deren Befolgung es – obwohl es die Entscheidung des Aufsichtsrats insoweit nicht mehr dem Erkenntnis –, sondern dem Handlungsbereich zuordnet – offenbar wiederum voller richterlicher Nachprüfung zu unterwerfen gewillt scheint: Das Absehen von der Anspruchs-

__________ 25 Wie weit die Intensivierung der Diskussion im Aufsichtsrat zu anderen Ergebnissen führt als früher, ist noch nicht absehbar. Auch anschließend an spektakuläre Fälle der Verhängung von Geldbußen gegen Unternehmen wie etwa wegen Wettbewerbsverstößen, war jedenfalls bisher über eine Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern wenig zu hören. Man hört zur Zeit von entsprechenden Plänen bei Siemens, auf deren Umsetzung man nicht zuletzt im Hinblick auf die bereits angedeuteten Probleme der Schadensberechnung und der Grenzen der individuellen Zurechenbarkeit genereller Defizite unternehmensinterner Überwachungssysteme und Organisationsabläufe gespannt sein darf.

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verfolgung sei nur ausnahmsweise zulässig, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft es geraten erscheinen lassen. Die Verfolgung müsse die Regel, die Nichtverfolgung die Ausnahme sein, die nur kraft gewichtiger Gegengründe in Frage komme und einer besonderen Rechtfertigung bedürfe. Ganz so ernst scheint es der Bundesgerichtshof mit diesem Regel- Ausnahmeverhältnis aber nicht zu nehmen, denn er relativiert es, indem er für eine Nichtgeltendmachung die über die Maßen flexible Voraussetzung statuiert, dass die Gesellschaftsinteressen, die gegen eine Geltendmachung des Schadens sprechen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, „überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind“. Den Grund für das Regel-Ausnahmeverhältnis findet der Bundesgerichtshof darin, dass dem Aufsichtsrat die Entscheidung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder nicht als unternehmerische, sondern als Teil seiner nachträglichen Überwachungstätigkeit obliege. Insoweit habe er keine unternehmerische Entscheidung zu treffen und kein unternehmerisches Ermessen. Die Literatur hat diese Qualifizierung überwiegend kritiklos hingenommen26, ja sogar zum Teil auf die Geltendmachung von Ansprüchen der Gesellschaft durch den Vorstand – und zwar nicht nur gegen Aufsichtsratsmitglieder, sondern sogar auch gegen Dritte – übertragen27. Letzteres: also ein Vorstand, der gegen Dritte jeden aussichtsreichen Anspruch geltend machen müsste, wenn nicht ausnahmsweise ganz besondere Umstände dagegen sprächen, und der sich nicht einfach nach der Business Judgement Rule davon zu leiten lassen hätte, ob die Anspruchsverfolgung aus unternehmerischen Sicht für das Unternehmen nützlich oder schädlich wäre, dürfte allerdings ins juristische Absurditätenkabinett gehören. Die Frage, ob die Gesellschaft von einer Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Profit erwarten kann oder Schaden befürchten muss, kann nicht anders als aus unternehmerischer Sicht entschieden werden. Es kann sich beispielsweise verbieten, einen wichtigen Kunden wegen einer Vertragsverletzung in Anspruch zu nehmen, wenn die Gefahr besteht, ihn dadurch zu verlieren. Aber auch die Entscheidung eines Organs über die Inanspruchnahme von Mitgliedern des anderen kann nur eine unternehmerische sein, wenn sie unter dem Gebot steht, die Vermögensinteressen der Gesellschaft zu wahren und Schaden von ihr abzuwenden. Soll man beispielsweise einen Arbeitsdirektor wegen rechtswidriger Streikbeteiligung belangen, obwohl dadurch das Verhältnis zu den Gewerkschaften belastet werden könnte; kann man den aufgrund einer Schadensersatzklage drohenden Verlust eines Vorstandsmitglieds in Kauf nehmen, weil der von ihm geleitete Unternehmensbereich ohnehin untergewichtet werden soll, oder gerade nicht, weil es einen expandierenden Unternehmensbereich verantwortet und nicht zu erwarten ist,

__________ 26 Dagegen aber vor allem Paefgen (Fn. 2), S. 146 ff. unter Hinweis darauf, dass der Richter die „Befugnis der Gesellschaftsorgane zur Konkretisierung des Gesellschaftszwecks durch Artikulation des Gesellschaftsinteresses in der konkreten Entscheidungssituation“ zu respektieren hat. 27 Vgl. Bürgers/Israel in Bürgers/Körber, AktG, 2008, § 93 AktG Rz. 12 m. w. N.

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dass gleichwertiger Ersatz gefunden werden kann? Selbst der Aufsichtsrat kann hier manchmal nur vorsichtige Wertungen treffen und muss sich dazu möglicherweise in Verbindung mit dem Vorstand setzen, soweit dieser nicht von einer Klage betroffen wäre. Ein Prinzip der Inanspruchnahme um fast jeden Preis ist ebenso fehl am Platz wie die Vorstellung, Richter könnten besser wissen, was für die Gesellschaft das Richtige ist. Hier im Namen einer wünschbaren Präventionswirkung die Vorstand und Aufsichtsrat gleichermaßen treffende unternehmerische Vermögensverantwortung zu relativieren, verbietet sich28. f) Gesamtwürdigung Die auffälligen Inkonsistenzen und Unklarheiten der Begründung des ARAGUrteils sollten es verbieten, ihre Aussagen als fertige richterrechtliche Grundsätze zu qualifizieren. Es scheint eher, als wäre es dem Bundesgerichtshof darum gegangen, einerseits Regeln zu entwerfen, um zur Rechtfertigung einer möglichen Nichtigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse eine Gesetzesverletzung und nicht nur eine fehlerhafte Ausübung unternehmerischen Ermessens anführen zu können, und diese Regeln so zu fassen, dass dem Berufungsgericht, das in der Tat die Grenzen einer sachangemessenen Ermessenskontrolle viel zu eng gezogen hatte, die Möglichkeit, in einer erneuten Entscheidung zum gleichen Ergebnis zu kommen, verbaut wurde; andererseits aber auch darum, sich selbst durch relativ vage oder sogar inkonsistente Formulierungen Freiräume zur Entscheidung späterer Fälle vorzubehalten.

III. Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichteinhaltung der Anforderungen des Bundesgerichtshofs zur Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder? Die Problematik, dass die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen den Vermögensinteressen der Gesellschaft auch dann widersprechen kann, wenn sie aussichtsreich erscheint, spielte nach Lage der Dinge im ARAG-Urteil keine Rolle. Der Bundesgerichtshof konnte hier ohne weiteres davon ausgehen, dass die Geltendmachung von Ersatzansprüchen für die Gesellschaft von Vorteil war. Er brauchte sich auch nicht mit Zurechnungs- und Verschuldensfragen zu befassen, da es darauf für die Nichtigerklärung des Beschlusses nicht ankam. Für die Frage einer Schadensersatzverantwortlichkeit eines Aufsichtsrats haben dagegen ganz andere Ansatzpunkte zu gelten. Zunächst muss vorgetragen und als wahrscheinlich erwiesen sein, dass die Unterlassung der Geltendmachung von Ansprüchen zu einem Schaden für die Gesellschaft geführt hat. Das ist nicht der Fall, wenn sich die Geltendmachung unter Berücksichtigung aller

__________

28 Zumal durchaus zweifelhaft ist, ob Haftung zu besserer Geschäftsführung beiträgt. Vgl. zu Vorzügen und Nachteilen einer Verschärfung der Haftung von Organmitgliedern Mertens in Feddersen/Hommelhoff/Schneider (Hrsg.), Corporate Governance, 1996, S. 155, 158 ff.

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Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichtbeachtung des ARAG-Urteils?

Umstände negativ ausgewirkt hätte. Stellt der Richter dies fest, so muss er die Schadensersatzklage abweisen. Welches Prüfungsverfahren der Aufsichtsrat insoweit benutzt hat, also etwa ob er zunächst die Aussichten von wahrscheinlichen Ansprüchen der Gesellschaft und dann erst die gegenläufigen Interessen der Gesellschaft geprüft hat und wie gründlich er dabei vorgegangen ist, ist in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant. Für Schadensersatzansprüche kann die vom Bundesgerichtshof befürwortete Zweistufigkeit der Prüfung schon deshalb nicht in Betracht gezogen werden, weil der Schaden zur Anspruchsgrundlage gehört. Die umfassende Würdigung des voraussichtlichen Gewinns und der voraussichtlichen Schädigungen aus einer Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen für das Unternehmen, die der Aufsichtsrat zu treffen hat, kann auch zumeist nicht ohne unternehmerische Überlegungen auskommen29. Selbst der Richter ist hier darauf angewiesen, im Rahmen seiner Schadensschätzung die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft nach Maßgabe ihrer unternehmerischen Planung zugrunde zu legen. Insofern können die Regeln des ARAG-Urteils darüber, unter welchen Umständen ein Aufsichtsratsbeschluss als nichtig anzusehen ist, die Schadenersatzverantwortlichkeit des Aufsichtsrats nicht präjudizieren. Eher sollte man daran denken, die Anforderungen, die dieses Urteil zur Voraussetzung für die Gültigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen über die Nichtinanspruchnahme eines Vorstandsmitglieds erhebt, aus der schadensersatzrechtlichen Optik noch einmal zu überdenken.

__________ 29 Dazu nunmehr auch der erst nach Abfassung dieses Beitrags erschienene Aufsatz von Paefgen, AG 2008, 761.

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Systembezüge subjektiver Rechte Inhaltsübersicht I. Iherings Erbe II. Zwecke im Sittengesetz und im Recht 1. Die Sitte als Selbstbeschränkung der Freiheit 2. Zwecke im Kampf ums Recht III. Recht auf Glück und Pflicht zum Glück: Die Rechtstheorie Jeremy Benthams

IV. Der Personenbezug subjektiver Rechte 1. Subjektive Rechte und das Paradox der Freiheit 2. Juristische Personen V. Subjektive Rechte in der EU 1. Rechtssubjekte 2. Geschützte Interessen 3. Klagebefugnis 4. Subjektive Rechte und objektive Rechtsordnung

I. Iherings Erbe Karsten Schmidt hat „Iherings Geist in der heutigen Rechtsfortbildung“ anhand eines Streifzuges durch den Geist des römischen Rechts vergegenwärtigt1. Die in Leitsätzen zusammengefasste Aktualität Iherings sieht Karsten Schmidt hauptsächlich in einer Methode der Rechtsfortbildung, an der die Wissenschaft nach dem Vorbild der gemeinrechtlichen Literatur hervorragenden Anteil hat. Dieses Wissenschaftsverständnis leugnet nicht die Bedeutung der Rechtsfortbildung durch Gesetzgeber und Rechtsprechung. Aber unverkennbar ist doch, dass Karsten Schmidt der Wissenschaft im Wettstreit der Methoden einen Rang zuweist, den selbst Kodifikationen nicht in Frage stellen können (Leitsatz 3). Diese Position soll sich bewähren im Wettstreit der nationalen Rechtsordnungen ebenso wie in der europäischen Rechtsangleichung (Leitsatz 11). Dieses Programm kann sich in der Tat auf den „naturwissenschaftlichen“ und den „utilitaristischen“ Ihering berufen. Ihering findet den Gedanken, von dem das ganze römische Privatrecht durchdrungen sei, in der Autonomie des Individuums. Das ist die Idee, wonach das individuelle Recht nicht dem Staat seine Existenz verdankt, sondern aus eigener Machtvollkommenheit existiert und seine Berechtigung in sich selber trägt2. Das gegenwärtige System bezeichnet Ihering als das „supranationale und freiere System“3. Seine Herausforderung an die Jurisprudenz sei es, sich

__________ 1 In Okko Behrens (Hrsg.), Privatrecht heute und Iherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 77–106. 2 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1. Teil, 7. und 8. Aufl. 1924, S. 82. 3 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), S. 85.

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bei der Ausbildung des internationalen Rechts der rein national römischen Eigentümlichkeit zu entschlagen. Es gehe um einen „Denationalisierungsprozess“, in dem das wissenschaftliche Wunderwerk des römischen Rechts als Inbegriff von Recht überhaupt noch ein Jahrtausend später von fremden Völkern rezipiert werde. Das Privatrecht qualifiziert sich zu kosmopolitischer Geltung, weil es seine Legitimation auf die Autonomie des Individuums zurückführt und seine praktische Wirksamkeit im staatsfreien, internationalen Wirtschaftsverkehr erweist. Der Begriff, der geeignet ist, diesen Gedanken eine juristische Form zu geben, ist der des subjektiven Rechts. Damit soll nicht die naturwissenschaftliche Methode aufgenommen werden, die den Rechtsstoff in einen höheren Aggregatzustand versetzt. Auch ist es nicht die Erwartung, dem Gebot der Deckung des positiven Stoffes und des Nichtwiderspruchs zu genügen4. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die subjektiven Rechte, die nach Ihering zu den Momenten gehören, welche sich für die Systematik der Privatrechtsordnung im Ganzen qualifizieren5, über das Privatrecht hinausweisen. Das gilt für die prägende Wirkung der Definition des subjektiven Rechts in der juristischen Methodenlehre; für die Fernwirkungen im öffentlichen Recht wie im europäischen Gemeinschaftsrecht. Es gilt aber ebenso und nicht weniger wirkmächtig für die Wirtschaftssysteme, die auf wirtschaftlichen Freiheitsrechten beruhen und die eben deshalb seit Karl Marx Gegenstand einer Radikalkritik sind, die auch ihren Rechtsgehalt in Frage stellt. Es bestätigt den Rang von Ihering, dass sein Werk wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis dieser Grundsatzfragen bietet. Jedenfalls sollen einige dieser Fragen im Licht Iheringscher Ausgangspunkte erörtert werden.

II. Zwecke im Sittengesetz und im Recht Die Schlüsselrolle, die subjektiven Rechten für den Freiheitsgehalt einer Rechts- und Gesellschaftsordnung zukommt, hat Bernd Rüthers anhand der Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Kommunismus eindringlich dargestellt6. Die radikale Leugnung subjektiver Rechte in diesen Systemen verweist auf die Bedeutung, die ihnen in Rechtsordnungen zukommt, denen die Person als Selbstzweck und als Träger von Rechten und Pflichten vorgegeben ist. Damit scheint der Systembezug der subjektiven Rechte eindeutig zu sein. Das gilt bei Ihering jedoch nur für das Rechtssystem, nicht aber für die Bezüge auf Gesellschaft und Wirtschaft. Der Vater dieses Zwiespaltes ist Jeremy Bentham. Mit dessen Utilitarismus begründet Ihering die Identität des Sittlichen mit dem gesellschaftlich Nützlichen7. Dagegen weist er das nicht weni-

__________ 4 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), S. 371–379. 5 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), S. 365. 6 Bernd Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rz. 69–70; siehe auch Ernst-Joachim Mestmäcker, Die Wiederkehr der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts, in ders., Recht in der offenen Gesellschaft, 1993, S. 60–73. 7 Rudolph von Ihering, Der Zweck im Recht, 4. Aufl. 1905, Band II, S. 128, 133 ff.

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ger grundlegende Moment der Benthamschen Theorie, wonach das subjektiv Nützliche auch Maßstab und Kriterium des objektiv oder gesellschaftlich Nützlichen sei, als Eudämonismus unter Berufung auf Kant strikt zurück8. Offen bleibt bei Ihering damit der Zusammenhang seiner eigenen Rechtstheorie mit der von Jeremy Bentham, die er gleichfalls umfassend und zustimmend in Bezug nimmt9. Ihering setzt sich auch nicht mit der Benthamschen Handlungs- und Gesellschaftstheorie auseinander, soweit sie zugleich das Wesen des Rechts begründen soll. Für Bentham gehorcht jedes Urteil über „right and wrong“, sei es, das des Gesetzgebers, der Gerichte oder das der Bürger in ihrem Verhältnis zueinander einem einheitlichen Prinzip. In der Einführung zu den Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung heißt es: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes and effects are fastened to their throne10.“

Ihering stellt dagegen den durch die Staatsgewalt garantierten Zwang des Rechts auf der einen Seite und den psychologischen Zwang von Sittlichkeit und Sittengesetz einander „apriorisch“ gegenüber11. Dieser Satz für sich allein erklärt, warum Iherings Werk Zustimmung und heftigen Widerspruch zugleich erfahren hat12. Anhand von Begriff und Funktion des subjektiven Rechts bei Ihering und Bentham soll versucht werden, die Vielfalt der Interpretationen auf ihren rechtstheoretischen Kern zurückzuführen. Ihering kennzeichnet das Wesen des subjektiven Rechts anhand des Gegensatzes von Recht als Willensmacht und Recht als Interessenschutz. Der Wille sei nicht der Zweck und nicht die bewegende Kraft der Rechte. Der Willens- und Machtbegriff, wie er in den Lehrbüchern der Pandekten dargestellt werde13, sei nicht imstande, das praktische Verständnis der Rechte zu erschließen. Daraus folgt: „Zwei Momente sind es, die den Begriff des Rechts konstituieren, ein substantielles, in dem der praktische Zweck desselben liegt, nämlich der Nutzen, Vorteil, Gewinn, der durch das Recht gewährleistet werden soll, und ein formales, welches sich zu jedem Zweck bloß als Mittel verhält, nämlich der Rechtsschutz, die Klage. Ersteres ist der Kern, letzteres die schützende Schale des Rechts.

__________ 8 Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), S. 54. 9 Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), S. 133. 10 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1822), University of London Edition, 1970, S. 11. 11 Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), S. 142. 12 Umfassend dazu Steffen Luik, Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft, 2003. Siehe auch Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, Mitteleuropäischer Rechtskreis, 1976, S. 101–282; Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Ein Entwicklungsbild unserer Rechtsanschauung, 1939, S. 491–540; Helmut Schelsky, Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in ders. (Hrsg.), Die Sozialwissenschaften und das Recht, 1980, S. 147–186. 13 Nachweise in Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 330, Fn. 438.

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Der Begriff des Rechts beruht auf der rechtlichen Sicherheit des Genusses, Rechte sind rechtlich geschützte Interessen“14. Ein wichtiger Grund für die Dissonanzen in der Wirkungsgeschichte von Ihering sind die Versuche, ihn als Vorläufer oder Gewährsmann für spätere gesellschaftswissenschaftliche Theorien in Anspruch zu nehmen. Den häufigsten Anknüpfungspunkt dafür bietet der an Bentham anknüpfende gesellschaftliche Eudämonismus, der durch die Regeln der Sitte verwirklicht wird. Näheres Zusehen zeigt jedoch, dass der Zusammenhang von Recht und Sitte der von Ihering stets geforderten und vorausgesetzten Einheit der rechtshistorischen und rechtstheoretischen Erkenntnis entspricht. Dem ist anhand der verschiedenen Funktionen nachzugehen, die den Zwecken im Sittengesetz und in der Sitte auf der einen und den subjektiven Rechten im Kampf um das Recht auf der anderen Seite zukommt. 1. Die Sitte als Selbstbeschränkung der Freiheit Im Geist des römischen Rechts würdigt Ihering die Sitte als Selbstbeschränkung der durch das abstrakte Recht gewährleisteten Freiheit15. Dieses Prinzip weist Ihering im römischen Recht für die verschiedenen Institute des Privatrechts und des öffentlichen Rechts nach16. Für das Staatsrecht, so fasst er seine Thesen zusammen, besteht die Aufgabe darin, über der Sitte nicht das abstrakte Recht zu vergessen, für das Privatrecht komme es dagegen darauf an, über dem abstrakten Recht nicht die Sitte zu übersehen17. Abgrenzend heißt es zum Gewohnheitsrecht, dass ihm ein Zustand der Unbestimmtheit vorausgehe, den man als Sitte (Herkommen) bezeichnen könne18. Dieser Gedanke verweist auf die maßgebliche Rolle, welche der Sitte auch für die Entwicklung des Rechts zukommt. Erhellend ist ferner der ergänzende Hinweis von Ihering zur Herrschaft der Sitte in der englischen und amerikanischen Tradition19. Zum Vorbild wird diese Tradition für Ihering im Zweck im Recht mit der umfassenden Darstellung der Sitte, der Theorie der Umgangsformen und der Rolle von Anstand und Höflichkeit. In diesen Regeln der Sitte sieht Ihering die Grundlage für das „soziale Zwangssystem“, welches das Rechtssystem ergänzt. In der englischen Tradition sind das die Regeln, die zum freiheitlichen Privatrecht hinzukommen müssen, wenn von „constitutional liberty“ gesprochen wird. Der von Ihering für dessen Darstellung des römischen Rechts gerühmte Edward Gibbon hat diesen Gleichklang von Sitte und Recht am Ende des 18. Jahrhunderts klassisch formuliert: Grundlage eines europäischen Gemeinwesens könnte eine Zivilgesellschaft sein, gegründet auf ein gemeinsames Sys-

__________ 14 15 16 17 18 19

Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 339. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 308. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 143. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 286. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 294. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 143, Fn. 157.

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tem der Künste, des Rechts und des höflichen Umgangs miteinander20. Wenn Ihering das individualistische Glückseligkeitskalkül von pleasure and pain als Grundlage seiner Rechtstheorie zurückweist, dann stimmt er darin nicht nur mit Kant überein, sondern kann sich auf die Bentham entgegengesetzte Theorie von David Hume stützen. Pleasure and pain gehören für David Hume zu den ursprünglichen Interessen und Instinkten. Sie gehören zu den Gründen, aus denen eine Gesellschaft auf Rechtsregeln angewiesen ist und die eben deshalb als Maßstab für diese Regeln nicht in Betracht kommen21. Der rechtswissenschaftliche Ertrag einer normativ verstandenen Sitte erschöpft sich nicht in ihrer Abgrenzung vom Recht. Ihering sieht in den Regeln der Sittlichkeit ganz in Übereinstimmung mit seiner Theorie im Geist des römischen Rechts eine notwendige Ergänzung der Rechtsordnung22. Mit dem Recht haben sie gemeinsam, dass sie als äußere Gebote von ihren gesellschaftlichen Zwecken abgeleitet sind23. Den Übergang der gesellschaftlichen Normen in Rechtsnormen hat Ihering nicht thematisiert. Aber es ist doch unverkennbar, dass das Privatrecht gestützt auf Privatautonomie und dezentrale Regelbildung und deren Orientierung an den Zwecken der Beteiligten einen engen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Prozess aufweisen, den Ihering als „Teleologie des objektiv Sittlichen“ kennzeichnet. Dieser Zusammenhang ist evident bei gesellschaftlich begründeten, normativ in Rechnung zu stellenden Erwartungen, die als Verkehrssitte und Handelsbrauch Teil der Privatrechtsordnung sind. In seiner Interpretation der Iheringschen Rechts- und Gesellschaftstheorie als Theorie des sozialen Wandels durch Recht erkundet Helmut Schelsky dessen Beitrag zu einer allgemeinen soziologischen Theorie24. Wie das Recht zu seiner Verwirklichung der praktisch-sozialen Bedürfnisse bedürfe, so forderten diese Bedürfnisse ihre Verwirklichung durch Recht. Dazu gehöre deren Abstraktion zur Rechtsidee, um sie in dauerhafte Lebensbedingungen der Gesellschaft zu verwandeln25. Schelsky fasst diesen für die Rolle der Rechtswissenschaft grundlegenden Zusammenhang im unmittelbaren Anschluss an Ihering zusammen: „Da alles konkrete Recht durch die Prozesse der Verallgemeinerung und Ideeierung immer wieder in neue Rechtsgrundsätze und Rechtsvorstellungen aufgehoben wird, die durch konkrete, politisch-soziale Kräfte und Konstellationen wiederum zu konkretem Recht werden, findet eine Selbstbewegung des Rechts statt, die „Kritik des Rechts durch sich selber“. Ihering spricht von der Aufgabe der Rechtswissenschaft aus halben Wahrheiten ganze

__________ 20 Edward Gibbon, The Decline and Fall of the Roman Empire, The text edited by J. B. Bury, with the notes by Mr. Gibbon, The Introduction and the Index as prepared by Professor Bury and a letter to the reader from Philipp Guedalla (1780), 1946, S. 1221. 21 David Hume, Dialogues concerning natural religion, in The Philosophical Works (Edition Th. Green/Th. Grose), Vol. II, S. 377, 446. 22 Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), Band II, S. 138 ff. 23 Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), Band II, S. 105 ff. 24 Helmut Schelsky (Fn. 12), S. 147–186. 25 Helmut Schelsky (Fn. 12), S. 164.

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zu machen und sieht darin den Beitrag der Rechtswissenschaft zu Fortschritten im Recht26. Wolfgang Fikentscher sieht in Iherings Kampf ums Recht das juristische Seitenstück zu Adam Smiths ökonomischer Theorie vom Gesamtwohl, das am ehesten durch Verfolgung individuellen Wohls erreicht werde27. Ihering hat jedoch diesen Zusammenhang der Wahrnehmung von Eigeninteressen mit dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse ausdrücklich verworfen. Er weist den „völlig unrichtigen Gedanken“ bei Bentham zurück, dass das Sittliche seinen Charakter der Nützlichkeit subjektiv bewähren müsse28. Ihering hat die Relevanz sozialer und selbst sozialistischer Gedanken für eine Gesamtordnung der Gesellschaft nicht ausgeschlossen29. Wettbewerb und Markt betrachtet er als Teil der natürlichen, dem Recht vorgegebenen Ordnung. 2. Zwecke im Kampf ums Recht Zum Kern der Rechtstheorie von Ihering führt ein Vergleich von Begriff und Funktion der subjektiven Rechte bei Ihering und der Ablehnung aller Erscheinungsformen subjektiver Rechte in der Theorie Jeremy Benthams. Zu vergleichen ist vorab die klassische Definition des subjektiven Rechts im Geist des römischen Rechts mit der Rolle des subjektiven Rechts im „Kampf ums Recht“. Dasjenige Werk Iherings, in dem das subjektive Recht ganz im Mittelpunkt steht, ist der „Kampf ums Recht“30: „Ich wende mich dem Kampf um das subjektive Recht zu. Er wird hervorgerufen durch die Verletzung oder Vorenthaltung desselben. Da kein Recht, weder das der Individuen, noch das der Völker, gegen diese Gefahr geschützt ist – denn dem Interesse des Berechtigten an seiner Behauptung steht stets das eines anderen an seiner Missachtung entgegen – so ergibt sich daraus, dass dieser Kampf sich in allen Sphären des Rechts wiederholt: In den Niederungen des Privatrechts so gut wie auf den Höhen des Staatsrechts und Völkerrechts31.“

Wenn der Zweck der Schöpfer des ganzen Rechts sei, dann bewähre es sich in dem übergreifenden Zweck seiner Wahrnehmung durch die Berechtigten. Die wichtigsten subjektiven Rechte, die Aufhebung der Sklaverei, die Freiheit des Grundeigentums, der Gewerbe und des Glaubens sind ihrerseits das Ergebnis des fortgesetzten Kampfes um „das Recht“32. Der Rechtsbildungsprozess, in dem diese Rechte durchgesetzt werden, führt zum objektiven Recht, dessen Teil sie werden. Es gibt keine natur- oder vernunftrechtlich vorgefundenen

__________ 26 Rudolph von Ihering, Aufgabe und Methode der Rechtsgeschichtsschreibung, in Christian Rusche (Hrsg.), Der Kampf ums Recht. Ausgewählte Schriften mit einer Einleitung von Gustav Radbruch, 1965, S. 427. 27 Wolfgang Fikentscher (Fn. 12), S. 241. 28 Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), Band II, S. 133. 29 So z. B. Rudolph von Ihering, Zweck im Recht (Fn. 7), Band II, S. 134 f. 30 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht, 13. Aufl. 1897. 31 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht (Fn. 30), S. 13 f. 32 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht (Fn. 30), S. 8.

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Systembezüge subjektiver Rechte

Rechte. Demgemäß handelt der Kampf ums Recht hauptsächlich von der Verwirklichung der subjektiven Privatrechte als Teil des Rechts im objektiven Sinne. Die Frage, welche Zeitgenossen und Nachfahren wie keine andere bewegt hat, lässt sich auf den bereits erwähnten Gegensatz von Recht und gesellschaftlichem Eudämonismus zurückführen: Wie hältst du es mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirkungen und Nebenwirkungen einer Rechtstheorie, die Egoismus, Prozesssucht und Rechthaberei zu ermutigen scheint? Die Antworten der Nachfahren sind in der Rechtswissenschaft ebenso zwiespältig wie in den Gesellschaftswissenschaften. Erik Wolf schreibt 1939: „Die ganze Lehre bedurfte, um fest gegründet zu sein, eines obersten Rechtswertes. Ihering hätte ihn schon folgerichtig aus dem alle Einzelinteressen umfassenden Daseinszweck der Gemeinschaft herleiten können. Das gelang ihm aber nicht33.“

Auch wenn man von dem deutlich zeitgebundenen Bezug auf die Gemeinschaft bei Erik Wolf absieht, formuliert er eine Grundfrage nach dem Verhältnis der Iheringschen Rechtstheorie zu der aus der Ausübung von Rechten hervorgehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Ihering hat die Frage gesehen und an dem Gegensatz von Recht und gesellschaftlicher Sittlichkeit mit ihren je besonderen Ordnungsprinzipien festgehalten. Die Einzelinteressen, die der Einzelne mit der Wahrung seines Rechts wahrnimmt, folgen nach Ihering nicht aus Eigennutz und Egoismus und stehen nicht im Dienst des nackten Materialismus34. Auch wenn das Interesse der praktische Kern des Rechts im subjektiven Sinne sei, so treffe die Rechtsverletzung mit dem Recht doch zugleich die Person: „Das Eigentum ist nur die sachlich erweiterte Peripherie meiner Person35.“ Das Privatrechtssubjekt kämpft um sein Recht zur Befriedigung seines Rechtsgefühls. Das Rechtsgefühl begründet die Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst36. Hier soll nicht der nahe liegenden Frage nachgegangen werden, wie realistisch die Trennung der Motivation des Eigennutzes von der idealistischen Wahrung des Rechts ist. Von Einwendungen dieser Art nicht betroffen ist der grundlegende Gedanke, dass die subjektiven Rechte zu ihrer Verwirklichung zwar auf die Rechtsordnung angewiesen sind, die Rechtsordnung ihrerseits für ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit aber ebenso auf die Verwirklichung subjektiver Rechte angewiesen ist37. „Die Solidarität des Gesetzes“ mit dem konkreten Recht (S. 58) verweist auf den Rechtsgehalt der Privatrechtsordnung als Teil einer Gesamtordnung. Dieser Gedanke, dass zwischen dem subjektiven Recht, das zu seiner Verwirklichung auf die geltende Rechtsordnung angewiesen ist, und dem öffentlichen Interesse an der Verwirklichung der Rechtsordnung kein Gegensatz besteht, sondern beide aufeinander angewiesen sind, ist ein Schlüs-

__________ 33 Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Ein Entwicklungsbild unserer Rechtsanschauung, 1939, S. 509. 34 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht (Fn. 30), S. 39. 35 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht (Fn. 30), S. 40. 36 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht (Fn. 30), S. 20 ff. 37 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht (Fn. 30), S. 57, 58.

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sel zum systematischen Verständnis der subjektiven Rechte und ein zu erschließender Zugang zu ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Der gesellschaftliche Eudämonismus, den Ihering von Bentham für die Sittlichkeit übernimmt, taugt aber dazu nicht, weil er kein anschlussfähiges Ordnungsprinzip erkennen lässt. Ihering belässt es bei der Rechtsidee, die sich im geltenden Recht verwirklichen soll38. Auf der Ebene des Privatrechts, das heißt im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander, wirken subjektive Rechte nicht als menschenrechtliche Leuchttürme, sondern als Ausgangspunkt für dezentrale Regelbildung. Das subjektive Recht als Interessenschutz weist den Weg zur „Interessenjurisprudenz“. Ihr Begründer beruft sich auf die bahnbrechenden Forschungen von Ihering39. Die Rechtssubjekte stehen einander mit widerstreitenden Interessen gegenüber. Jede richterliche Entscheidung ist als eine Abgrenzung dieser Interessen aufzufassen und durch eine Abwägung nach gesetzlichen Werturteilen und Wertideen zu gewinnen. Bei der Gesetzesanwendung und der abhängigen Gebotsergänzung ist der Richter an diejenigen Werturteile gebunden, die sich aus dem Gesetz ergeben und eventuell an diejenigen, die in der Rechtsgemeinschaft herrschen40. Helmut Coing hat diesen privatrechtlichen Kern subjektiver Rechte zusammengefasst: „Die privaten Rechtsbeziehungen werden als ein Gegenüberstehen von individuellen Rechten aufgefasst, und die Grundlage solcher Rechte wird jeweils in einer menschlichen Handlung gefunden, sei es nun ein Rechtsgeschäft, sei es eine rechtswidrige Handlung, ein Delikt. In diesem System sind die Gesichtspunkte von Freiheit und Gleichheit gewahrt. Alle sind frei und gleich, – denn alle haben Rechte und diese Rechte können nur durch freie Handlungen verändert werden41.“

Freie Handlungen, welche auf die subjektiven Rechte einwirken und sie verändern, sind Verträge ebenso wie zurechenbare unerlaubte Handlungen. Es ist die Veränderung der Rechte durch freie Handlungen, welche die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik der Privatrechtsordnung erklärt. Auslegung und Anwendung der damit in den Blick kommenden Rechtsnormen begrenzen und ordnen die unübersehbar vielfältigen, dauernden Veränderungen im Bestand und im wirtschaftlichen Wert der subjektiven Rechte. Wenn die Interessenjurisprudenz häufig auf Ihering und auf den Einfluss Benthams zurückgeführt wird, so bedeutet dies nicht, dass die Auslegung und Anwendung der Gesetze einem utilitaristischen Kalkül unterworfen wird, wie es für Bentham selbstverständlich war. Zu den gesellschaftlichen Prozessen, zu denen freie Handlungen führen, gehört auch der Wettbewerb, dessen rechtliche Grundlage ein subjektives Recht ist, nämlich die Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit. Hier sind nicht erneut die Rechtsentwicklungen nachzuzeichnen, die den lauteren vom unlauteren Wett-

__________ 38 39 40 41

Nachdrücklich hervorgehoben von Wolfgang Fikentscher (Fn. 12), S. 276. Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1968, S. 9. Philipp Heck (Fn. 39), S. 35. Helmut Coing, Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, 1959, S. 18.

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bewerb, den freien vom beschränkten Wettbewerb unterscheiden und die Grenzen der Handlungsfreiheit von Unternehmen mit Marktmacht begründet haben. Die spezifische Schwierigkeit, den Wettbewerb in ein System subjektiver Rechte einzufügen, folgt nicht zuletzt daraus, dass auch der erlaubte Wettbewerb wirtschaftliche Schäden zu Lasten anderer Wettbewerber zur Folge hat42. Wenn aber Schäden im erlaubten Wettbewerb nicht rechtswidrig sind, wird die Frage nach den Grenzen dieses Prinzips unabweisbar. Das führt über manche Umwege zum Unlauterkeits- und Beschränkungsrecht. Weil im System des BGB wirtschaftliche Schäden ohne Eingriffe in subjektive Rechte im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB nur ausnahmsweise zum Ersatz verpflichten, konnten die Grenzen erlaubten Wettbewerbs zunächst nur mit Hilfe von § 826 BGB ermittelt werden43. Zusammenfassend geht es um die eigenständige und systembegründende Bedeutung, die der Wechselwirkung von subjektivem und objektivem Recht im Privatrecht zukommt44. Zugleich geht es aber um die rechtliche und gesellschaftliche Qualität einer Ordnung, die aus der Ausübung subjektiver Freiheitsrechte hervorgeht. Diese Ordnung ist die Privatrechtsgesellschaft45. Mit der Privatrechtsgesellschaft werden neue Herausforderungen an die Fähigkeit des Privatrechts zur Selbstkorrektur formuliert. Zu diesen Herausforderungen gehört der Einfluss der sich entfaltenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte auf das Recht. Ihering betrachtet sie nicht als Gerechtigkeitsproblem, sondern als Ursache sozialen Wandels und als dem Recht vorgegebene natürliche Eigengesetzlichkeit. Wieacker hat ihn dafür hart kritisiert46.

III. Recht auf Glück und Pflicht zum Glück: Die Rechtstheorie Jeremy Benthams Die nachhaltigste Wirkung ist von Iherings Begriff des subjektiven Rechts als Schutz berechtigter Interessen ausgegangen. Gustav Radbruch spricht von

__________ 42 Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft, 1993, S. 465, hebt diesen Tatbestand als Beispiel „struktureller Koppelung von Recht und Wirtschaft“ und als folgenreiches Rechtsproblem hervor. Zur strukturellen Koppelung von Recht und Wirtschaft auch unten IV.1. 43 Zur Rechtsentwicklung Ernst-Joachim Mestmäcker, Das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), 535 ff.; auch in ders., Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl. 1984, S. 369 ff. 44 Unzutreffend ist die Annahme von Helmut Schelsky (Fn. 12), S. 181, Ihering habe den Gegensatz von subjektivem und objektivem Recht nicht erwähnt, um ihn zu überwinden, Ihering hat im Gegenteil die Koinzidenz von subjektivem und objektivem Recht hervorgehoben. 45 Umfassend dazu jetzt die Beiträge zum Symposium Privatrechtsgesellschaft, Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, herausgegeben von Karl Riesenhuber, 2007. 46 Franz Wieacker, SavZRom 86 (1969), 1, 25 ff.; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl. 1967, S. 564 f. Siehe auch Ernst-Joachim Mestmäcker, Der Kampf ums Recht in der offenen Gesellschaft, in ders., Recht in der offenen Gesellschaft, 1993, S. 11 ff.

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einem apriorischen Rechtsbegriff, der unabhängig von der Rechtsphilosophie in jeder Rechtsordnung anzutreffen sei47. Er fügt jedoch hinzu, dass sich der Inhalt dieses Begriffs in Abhängigkeit von der Entwicklung der Rechts- und Sozialordnung verändere. An die Stelle der Person als Gleichheitsbegriff trete der sozial gebundene, der kollektive Mensch als Grundlage des sozialen Rechts48. Entgegen der Annahme von Radbruch hat der Begriff jedoch seinen personalen Bezug bewahrt und seine Gegner auf den Plan gerufen. Der wichtigste unter ihnen ist Jeremy Bentham. Ihering nimmt ihn in den bereits hervorgehobenen Grenzen gleichwohl für seine eigene Theorie in Anspruch. Hier kann die philosophische Umwelt unbeachtet bleiben, in die Ihering den Utilitarismus einordnet. Nachzugehen ist vielmehr den Gründen für die mit der Theorie Iherings unvereinbare Ablehnung subjektiver Rechte. Der Widerspruch kommt am deutlichsten in der Kritik der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den U.S.A. und Frankreich zum Ausdruck49. Der „Unsinn auf Stelzen“ ist als polemisches Schlagwort zwar in die Literatur eingegangen. Weniger Beachtung hat jedoch die dieser Kritik zugrunde liegende sorgfältig ausgearbeitete Rechtstheorie gefunden. Auf sie ist im Folgenden begrenzt auf ihre Bedeutung für den Systembezug subjektiver Rechte einzugehen. Die Rechtstheorie von Bentham ist im Kern eine Gesetzgebungstheorie. Sie ist eine positivistische Theorie, weil ihr Zweck ein vollständiges und lückenloses, vom staatlichen Gesetzgeber zu schaffendes Rechtssystem ist, welches das Fallrecht des Common Law durch Kodifikation überwindet. Sie ist eine holistische Theorie, weil sie die Förderung des Wohls der Individuen und der Gesellschaft nach dem Prinzip des Utilitarismus als Zweck aller Gesetzgebung postuliert50. Das größte Glück der größten Zahl der Mitglieder eines Gemeinwesens umfasst alle ihre Rechte. Es ist auch der einzige erlaubte Maßstab, nach dem wohltätige oder schädliche Maßnahmen des Herrschers zu beurteilen sind51. Die Rechtstheorie stellt für eine solche Gesetzgebung die Formen („grammar“) erschöpfend zur Verfügung. Zum Positivismus dieser Theorie gehört es, dass sie alle Rechtspositionen auf den souveränen Gesetzgeber zurückführt. Die Rechtsordnung besteht aus der Summe originärer oder delegier-

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47 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 1947, S. 10 f. 48 Gustav Radbruch (Fn. 47), S. 98. 49 Jeremy Bentham, A critical examination of the declaration of rights, in Bhikhu Parekh (ed.), Bentham’s political thought, 1973, S. 257. Dazu auch Steffen Luik, Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft, 2003, S. 72 ff.; siehe auch Ernst-Joachim Mestmäcker, Mehrheitsglück und Minderheitsherrschaft. Zu Jeremy Benthams Kritik der Menschenrechte, in ders., Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl. 1984, S. 158 ff. 50 Zum Holismus als Ganzheitslehre, Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, 7. Aufl. 1992, S. 95. Popper verweist zwar auf Bentham als Zeugen für eine rationale „öffentliche Politik“ (Band II, S. 278). Aber er hebt die Gefahr hervor, dass der Utilitarismus zu einer Art von wohlwollender Diktatur führen könne (ebd. Band I, S. 290). 51 So kennzeichnet Bentham die einzig möglichen Rechte der Bürger unter der von ihm vorgeschlagenen Verfassung für Tripolis, vgl. Jeremy Bentham, Securities against misrule and other constitutional writings for Tripoly and Greece, Philip Schofield (ed.), 1990, S. 78.

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ter Zwangsbefugnisse: „It is thus that every mandate that is issued within the limits of the sovereignty and that is not illegal, is in one sense or the other the mandate of the sovereign52.“ Auf diese Weise werden auch alle vertraglich begründeten Pflichten zu gesetzlichen Pflichten, wenn und soweit sie der Gesetzgeber anerkennt (adopts). Der Zivilprozess ist ein „Wettbewerbsverfahren“ in dem sich die Beteiligten um ein günstiges Urteil bewerben. Das Urteil ist Teil der Gesetzgebung. Ein Gesetzesverstoß liegt erst vor, wenn dem Ausspruch des Urteils zuwidergehandelt wird53. In diesem System gibt es keine Privatautonomie, die für sich allein Verträge legitimiert. Alle gesetzmäßigen Handlungen, welche die Befugnis zu zwingen mit sich führen können (imperatives), werden vom Gesetzgeber vorläufig anerkannt (preadoption). Die Entscheidung, ob und mit welchen Inhalten sie zu gesetzlichen Geboten (mandats) werden, ist dem Gericht vorbehalten. Dieser Vorbehalt ist nicht nur formell. Es besteht vielmehr ein prinzipieller Gegensatz zwischen dem Inhalt frei vereinbarter oder auch formpflichtiger Verträge im Verhältnis der Parteien zueinander und ihrer Beurteilung durch den Richter. Erst der Richter verwandelt eine vorläufige in eine zwingende Obligation. Wer ihr zuwiderhandelt verstößt gegen ein gesetzliches Verbot, das mit dem Urteil in Kraft tritt54. Der gültige wie der unwirksame Vertrag bieten dafür eine vorläufige, für das Urteil des Richters jedoch nicht verbindliche Grundlage. Maßgeblich ist für den Richter der utilitaristische Imperativ. Ein formpflichtiger, aber formlos oder formwidrig geschlossener Vertrag ist darauf zu prüfen, ob seine Durchführung nachteilige Wirkungen (mischievous consequences) haben würde. Ist das nicht der Fall, so ist er wie ein gültiger Vertrag zu behandeln55. Wie der Gesetzgeber, so hat auch der Richter die Vor- und Nachteile im Hinblick auf das Gesamtinteresse gegeneinander abzuwägen und danach über die Erfüllung des Vertrages zu entscheiden56. Ein verantwortungsvoller Richter solle stets den Schleier der Regeln durchschauen und die zugrunde liegenden Zwecke (rationals) und die zu lösenden Probleme in Betracht ziehen. Die besten Urteile seien die, welche in jedem Einzelfall der Gesamtheit der erheblichen Umstände Rechnung tragen57. Die Rahmenordnung und die ihr entsprechenden Spielregeln enthält der Code. Die Anpassung an die Erfordernisse des wirtschaftlichen und sozialen Wandels ist in erster Linie Sache der Beteiligten (des Marktes). Die Rechtsprechung entscheidet jedoch unter Berücksichtigung berechtigter Erwartungen und der Gesamtwohlfahrt. Die Parteien regeln ihre eigene Zukunft, der Richter urteilt ex post im Lichte von Erfahrung und unter Berücksichtigung des utilitaristischen Imperativs. Es ist die Aufgabe der Gesetzgebung, die für die Planung der Ein-

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Jeremy Bentham, Of Laws in General, edited by Herbert L. A. Hart, 1970, S. 22. Jeremy Bentham (Fn. 52), S. 223. Jeremy Bentham (Fn. 52), S. 226, Fn. 12. Hierzu und zum Folgenden Gerald J. Postema, Bentham and the Common Law Tradition, 1986, S. 446. 56 Gerald J. Postema (Fn. 55), S. 447. 57 Gerald J. Postema (Fn. 55), S. 448.

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zelnen und für die Entscheidung der Gerichte maßgeblichen Gründe in das Gesetz oder in die Materialien aufzunehmen. Der Richter ist dem Gesetzgeber nur untergeordnet, damit er den Willen des Gesetzes im Einzelfall zur Geltung bringen kann. Der Richter gilt als ermächtigt, im Einzelfall die für die Parteien und ihre Erwartungen beste Lösung unter Berücksichtigung der Gesamtwohlfahrt zu finden. Dies sind zugleich die Gründe, aus denen das subjektive Recht als Inbegriff rechtlich geschützter und gewährleisteter individueller Freiheit in der Rechtstheorie von Bentham keinen Platz hat. Die Freiheit (liberty) folgt wie bei Hobbes aus dem Schweigen der Gesetze. Das Schweigen der Gesetze führt jedoch nicht – wie bereits hervorgehoben – zu einem rechtsfreien Raum. Es sind vielmehr die aus dem vorläufigen Schweigen des Gesetzgebers folgenden „indecisive mandats“, die auf seine Universalzuständigkeit verweisen58. Erfasst wird damit der weite Bereich der Handlungsfreiheiten. Bentham selbst weist auf diese Parallele hin: „It is easy to see that some of the most important laws that enter into the code, laws in which the people found what are called their liberty, may be of this description59.“ Hart schlägt für „indecisive mandate“ oder „permissions“ den Begriff „liberty right“ vor60. Seine Bedeutung sieht er hauptsächlich darin, dass er den vom Gesetzgeber bewusst ungeregelt gelassenen Bereich erfasse, zum Beispiel den des wirtschaftlichen Wettbewerbs61. Die Terminologie von Bentham, das bloße Fehlen einer Rechtspflicht, werde der praktischen Bedeutung des so geschaffenen Freiraums nicht gerecht. Rechte sind bei Bentham der Reflex von Rechtsnormen, die befehlen, verbieten oder erlauben (command, prohibition, permission). Die stillschweigenden Erlaubnisgesetze, die nach Max Weber die für die Wirtschaftsordnung wichtigsten sind (siehe unten S. 19 f.), haben nur dies gemeinsam, dass sie eine Tätigkeit nicht verbieten. Will der Gesetzgeber die Befugnis zum Betrieb eines Gewerbes begründen, so muss er nur davon absehen, diese Tätigkeit zu verbieten62. Die faktische gesellschaftliche oder wirtschaftliche Stellung („condition“), die aus der Ausübung nicht verbotener Tätigkeiten entsteht, ist nicht als solche geschützt. Die Vorteile (benefits), die mit dieser Stellung verbunden sind, gehören nicht zum Vermögensrecht, sie sind deshalb nur geschützt durch die allgemein geltenden gesetzlichen Verbote (offences). Regulierungen, welche für die Ausübung eines Gewerbes gelten, begründen entsprechende Pflichten, die ihrerseits gesetzlich sanktioniert sein können. In Benthams Rechtstheorie treffen mithin die wichtigsten Gründe zusammen, aus denen subjektive Rechte abgelehnt oder in Frage gestellt werden: Der Endzweck aller Normen als utilitaristische Maximierung des Gesamtwohls; die positivistische Rechtstheorie, die alles Recht auf den Gesetzgeber zurückführt,

__________ 58 Jeremy Bentham (Fn. 52), S. 99. 59 Jeremy Bentham (Fn. 52), S. 99. 60 Herbert L. A. Hart, Bentham on Legal Rights, in Oxford Essays in Jurisprudence, 1972, S. 170, 175. 61 Herbert L. A. Hart (Fn. 60), S. 175. 62 Jeremy Bentham (Fn. 52), S. 212.

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so dass individuelle Rechte nur Reflex des objektiven Rechts sind; die imperative Theorie des Rechts, wonach alles Recht auf Befehl und Gehorsam zurückzuführen ist.

IV. Der Personenbezug subjektiver Rechte Es ist der notwendige Personenbezug subjektiver Rechte, der ihnen ihre nicht hintergehbare Bedeutung verleiht. Subjektive Rechte sind notwendig „individualistisch“. Ihering hat auf die weit reichende systemische Bedeutung dieser Symbiose im Begriff des subjektiven Rechts hingewiesen. Die juristische Person als Träger subjektiver Rechte begründet die Notwendigkeit für die von ihr wahrgenommenen Rechte das Außen- und Innenverhältnis zu unterscheiden. Weil alle durch subjektive Rechte schutzfähigen Interessen auch organisierbar sind, ergeben sich aus der Beteiligung der juristischen Person wichtige Konsequenzen. Das gilt für die subjektiven Rechte der Mitglieder im Innenverhältnis und für die der juristischen Person, die sie im Außenverhältnis wahrnimmt. Die damit in den Blick kommenden Rechtsfragen decken sich nicht. Ihering stellt den Zusammenhang anhand seiner Definition des subjektiven Rechts her: Nach innen sind die einzelnen Mitglieder der juristischen Person die Berechtigten, nach außen tritt die juristische Person als gedachte Gesamtheit, als Inbegriff der berechtigten Personen auf63. Ihering grenzt diese Überlegung zutreffend von der anderen Frage nach dem „Wesen“ der juristischen Person ab64. Gerade dadurch tritt aber die Bedeutung klar hervor, die mit der rechtstechnischen Besonderheit der juristischen Person als Träger subjektiver Rechte verbunden ist. Niklas Luhmann hat auf diesen Zusammenhang scheinbar ironisch hingewiesen: „In der im objektiven Recht vorgesehenen Form der subjektiven Rechte macht das Rechtssystem sich selbst auf die Problematik der Inklusion von Personen ins Rechtssystem aufmerksam65.“ Diese Problematik folgt einmal aus den Eigenarten subjektiver Rechte und sodann aus den besonderen Zwecken, zu denen juristische Personen als Rechtssubjekte anerkannt und in das Rechtssystem aufgenommen werden. Der beobachtende Blick der Systemtheorie ist geeignet, die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen jenseits der juristischen Disziplinen aufzuzeigen66. 1. Subjektive Rechte und das Paradox der Freiheit Luhmann bezeichnet die Figur der subjektiven Rechte „als wohl bedeutendste Errungenschaft der neuzeitlichen Rechtsevolution“67. Nur sie ermöglichten eine rechtstechnisch brauchbare Erfassung des Freiheitsparadoxes, d. h. die Notwendigkeit von Freiheitsbeschränkungen als Bedingung von Freiheit, näm-

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Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 224. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 224 Fn. 277. Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 487. Dazu auch Thomas Vesting, Regulierte Selbstregulierung, in Die Verwaltung, Beiheft aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, 2000, S. 21–57. 67 Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 292.

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lich einer Einschränkung des Ausgeschlossenen, eine Juridifizierung von Willkür68. Vertragsfreiheit und subjektive Rechte gehören entwicklungsgeschichtlich zusammen, weil subjektive Rechte von Zwecken der Reziprozität abstrahieren, ohne aber den Vertrag als Institution preiszugeben. Das Individuum werde zur Entschädigung für den Verlust fester Positionen mit subjektiven Rechten ausgestattet69. Realgeschichtlich gehört dies zu den wichtigsten Wirkungen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich. Verträge sind das Instrument, das die Rechtsordnung zur Verfügung stellt, diese „Ausstattung der einzelnen durch Eigentum und andere subjektive Rechte“ zum Gegenstand des Rechtsverkehrs zu machen. In systemtheoretischer Terminologie stabilisieren Verträge auf Zeit eine spezifische Differenz unter Indifferenz gegen alles andere, insbesondere der Betroffenheit von aus dem Vertrag nicht beteiligten Personen und Geschäften70. Luhmann fügt treffend hinzu, dass die Vertragsfreiheit ihre Entsprechung im Disziplinierungsinstrument der Märkte finden müsse. Er erfasst damit einen für das Verständnis des Privatrechts und der mit ihm verbundenen Rechts- und Wirtschaftsordnung grundlegenden Sachverhalt71. Subjektive Rechte und Verträge setzen den Einzelnen instand, von den nur ihm zugänglichen Informationen vollen Gebrauch zu machen. Individuelle Rechtspositionen werden durch ein System von Regeln gerechten Verhaltens in die Privatrechtsordnung eingefügt. Diese normiert berechtigte Erwartungen, insbesondere die vertragliche oder deliktsrechtliche Haftung für Tun oder Unterlassen. Der übergeordnete Grundsatz lautet: Relevant sind nur die Umstände, die den Teilnehmern bekannt sind oder bei gehöriger Sorgfalt bekannt sein können. Dies begrenzt zugleich die Umstände, die vom Richter in sein Urteil einzubeziehen sind. Luhmann hat in bemerkenswerter Weiterentwicklung seiner Rechtssoziologie72 die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaftssystem in seine Theorie aufgenommen. Solche Kopplungen entstehen, wenn ein System bestimmte Eigenschaften seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt73. Die Begriffe oder Institutionen, die diese Kopplung leisten, sind Vertragsfreiheit, Eigentum, andere subjektive Rechte und die Konkurrenz. Ein Vergleich mit der Rolle von Vertragsfreiheit und subjektiven Rechten bei Max Weber zeigt den überlegenen Zugriff auf das seit Karl Marx im Mittelpunkt stehende Verhältnis von Recht und Wirtschaftssystem. Max Weber übernimmt von Bentham nicht nur dessen Rechtspositivismus, sondern auch die Einteilung der Rechtssätze in verbietende, gebietende und erlau-

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Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 291. Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 487 f. Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 459. Dazu Ernst-Joachim Mestmäcker, Franz Böhm und die Lehre von der Privatrechtsgesellschaft, in Karl Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft, Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 2007, S. 35, 47. 72 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1987. 73 Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 441.

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bende74. Zu den erlaubenden oder ermächtigenden Rechtssätzen gehören bei Max Weber alle „sogenannten Freiheitsrechte und die Vertragsfreiheit“. Sie seien für die Wirtschaftsordnung besonders wichtig75. Alle subjektiven Rechte stünden nämlich im Dienst der Marktverbreiterung. Auf diese Weise dienten sie nur noch dem Verwertungsstreben des Kapitals mit Sachen, Gütern und Menschen. In deutlicher Anlehnung an Karl Marx heißt es zusammenfassend zur Vertragsfreiheit: „Das Resultat der Vertragsfreiheit ist also in erster Linie: Die Eröffnung der Chance durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt, diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen76.“ Luhmann würdigt die aus der Ausübung subjektiver Rechte entstehenden Konflikte dagegen als ein Kennzeichen von Gesellschaften, die das Spannungsverhältnis von subjektiven Rechten und objektivem Recht in Kauf nehmen und die Spannung mit Hilfe des Rechts bewältigen. Dazu gehört der notwendige Personenbezug aller subjektiven Rechte für den Rechtsträger selbst und die davon betroffenen Dritten. Konfliktlösung mit Hilfe von Klagebefugnissen lässt sich in Analogie zum Vertragsrecht auch als „spezifische Differenz unter Indifferenz gegen alles andere“ definieren. Konflikte werden dezentralisiert und lokalisiert. Sie werden begrenzt auf das von den Beteiligten von Rechts wegen zurechenbare Handeln oder Unterlassen. Die „Indifferenz“ gilt für die Motive der am Konflikt Beteiligten, für ihre Folgeplanungen und für die ferneren Wirkungen der erfolgreich abgeschlossenen Transaktionen. Die Interessen Dritter werden von der Beurteilung aus materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Diese Begrenzung hat im Vertragsrecht eine lange Tradition. Aber auch die gerichtliche Streitbeilegung setzt einen Streitgegenstand voraus, der durch den konkreten Konflikt und den für seine Beurteilung erheblichen Sachverhalt begrenzt ist. 2. Juristische Personen Mit großer Selbstverständlichkeit heißt es in einem Standardlehrbuch des bürgerlichen Rechts, das ganze Privatrecht sei auf subjektive Rechte ausgerichtet. Wolle man die von ihnen bewirkte Bindung von Gütern für die Zwecke jener Organisation (juristische Person) mit dem übrigen Privatrecht in Einklang bringen, so könne das nur dadurch geschehen, dass man die Organisation als

__________ 74 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 2. Halbband, 5. Aufl. 1976, S. 397–440. 75 Martin Nettesheim, Subjektive Rechte im Unionsrecht, AöR 132 (2007), 346, unterscheidet in der Typologie subjektiver Berechtigungen Anspruch, Kompetenz und Erlaubnisnormen (Freiheiten). Erlaubnisse, die einen rechtlich umrissenen Freiraum definieren sollen, seien „praktisch nicht viel wert“, wenn ihnen nicht ein gewährender (materiellrechtlicher) Unterlassungsanspruch zur Seite gestellt werde. Der eklatante Gegensatz zur Typologie Max Webers verweist nicht nur auf eine abweichende Terminologie, er führt auch innerhalb der eigenen Typologie von Nettesheim zu der Frage, warum Erlaubnisse und Freiheiten, sei es normativ oder funktional, „nicht viel wert sind“. 76 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 74), S. 439.

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Rechtssubjekt anerkenne77. Es ist diese gegenseitige Abhängigkeit von subjektiven Rechten und ihren Rechtsträgern, die auch Ihering für die juristische Person begründet hat78. Die dargestellten Funktionen subjektiver Rechte bestätigen den Grundsatz, dass freies gesellschaftliches Handeln funktional begrenztes und gegebenenfalls normiertes Handeln ist79. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen der Wahrnehmung rechtlich anerkannter Interessen durch natürliche und juristische Personen. Diese nur anhand des „Wesens der juristischen Person“ (Art. 19 Abs. 3 GG) begrenzte Gleichstellung ist für „Wirtschaftsvereine“ auch verfassungsrechtlich weitgehend unstreitig. Sie verselbständigen Vermögen und sind Träger der subjektiven Rechte, die sie in Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit wie natürliche Personen in Anspruch nehmen. Die Verselbständigung wirkt im Verhältnis zu Dritten als Haftungsbeschränkung. Im Verhältnis zu den Mitgliedern führt sie zur gesellschaftsrechtlichen Herausbildung eigener subjektiver Rechte als Mitgliedschaftsrechte. Der Gesetzgeber des BGB hat für Wirtschaftsvereine das Konzessionssystem vorgeschrieben, um die Umgehung zwingender Normen des Gesellschaftsrechts zu verhindern. Dieser Zweck bestimmt auch die Diskussion über das Verhältnis von Wirtschafts- und Idealverein. Sie wird hauptsächlich anhand der Frage geführt, welche Grenzen sich für Idealvereine daraus ergeben, dass ihr Zweck nicht auf einen „wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb“ gerichtet sein darf80. Es kommt darin die lange Zeit auch zutreffende Meinung zum Ausdruck, dass das Normativsystem für den Idealverein unproblematisch sei, weil er durch die Vereinigungsfreiheit und Meinungsfreiheit legitimiert werde. Auch seien die außerhalb des unternehmenswirtschaftlichen Bereichs zu erwartenden internen Interessenkonflikte zwischen Mitgliedern und Vereinsorganen leichter zu regeln81. Eine ähnliche Beurteilung lässt die Diskussion über die Reichweite der Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 und 2 GG erkennen. Das Bundesverfassungsgericht82 nimmt den „menschenrechtlichen Gehalt“ der Vereinigungsfreiheit in Bezug und betont seinen „personalen Grundzug“. Es ist dieser personale Bezug, der das Verhältnis von subjektivem Recht und juristischer Person für Idealvereine abschließend zu erklären scheint. Das bestätigen die von Rupert Scholz spezifizierten Teilgarantien der Vereinigungsfreiheit als der Gründungsfreiheit, der freien Existenz und der internen Funktionsentfaltung sowie der Vereinsbetätigungsfreiheit (externe Vereinigungsfreiheit)83. Die externe Ver-

__________ 77 Ludwig Enneccerus, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, bearbeitet von Hans C. Nipperdey, 14. Aufl. 1952, § 103, S. 402. 78 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 2), Band III, S. 224 und S. 356. 79 Dazu Ernst-Joachim Mestmäcker, Macht – Recht – Wirtschaftsverfassung, in ders., Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl. 1984, S. 24. 80 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 667 ff.; Dieter Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 22 BGB Rz. 4 ff. 81 Dieter Reuter in MünchKomm.BGB (Fn. 80), § 22 BGB Rz. 11. 82 BVerfGE 50, 92, 354 f. 83 Rupert Scholz in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 9 GG Rz. 78–86.

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einigungsfreiheit ist in den Grenzen der allgemeinen Gesetze ein Abwehrrecht der Vereinigung gegen Staatseingriffe. Die Rechte Dritter werden durch die Organisation gemeinsamer ideeller Interessen und ihrer gewaltfreien Wahrnehmung im Grundsatz nicht berührt. Das ändert sich jedoch grundlegend, wenn Organisationen für klagebefugt erklärt werden, wo es sich nicht um „ihre Rechte“, also nicht um Rechte ihrer Mitglieder oder der Vereinigung handelt. Ein wichtiges Beispiel sind Idealvereine, die mit Befugnissen zur Durchsetzung der Werte ausgestattet werden, zu deren Wahrung und Förderung sich die Mitglieder zusammengeschlossen haben. Dieser Weg zeichnet sich in der Europäischen Union vor allem im Zusammenhang mit dem durch den Vertrag von Amsterdam eingefügten Art. 13 EGV ab. Zu den dort vorgesehenen „geeigneten Vorkehrungen“ gehören Richtlinien, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Die Mitgliedstaaten werden unter anderem verpflichtet, Organisationen, die ein Interesse daran haben, für die Einhaltung der Richtlinien zu sorgen, an deren Durchsetzung zu beteiligen. Dieser Verpflichtung entspricht § 23 AGG. Die im Recht der Idealvereine neu zu bedenkenden Interessenkonflikte treten besonders klar vor, wenn Antidiskriminierungsverbände Klagerechte bei abstrakten Gefährdungen eingeräumt werden84. Damit wird die für subjektive Rechte kennzeichnende Verbindung der rechtlich geschützten Interessen einer Person und der daran anknüpfenden Klagebefugnis aufgelöst. Der Verband scheidet als Rechtsträger in diesen Fällen ebenso aus wie seine Mitglieder. Diese Problematik ist nicht auf Antidiskriminierungsverbände begrenzt. Sie ist für privatrechtliche Organisationen kennzeichnend, die befugt sind, die „Ideale“ ihrer Mitglieder durch Popularklagen zu fördern. Ihre Ambivalenz folgt daraus, dass sie andere, auch menschenrechtlich relevante Interessen Dritter gefährden: Vertragsfreiheit, Kommunikations- und Meinungsfreiheit und nicht zuletzt die Privatsphäre. Selbst ernannte Wächter über die Sitten und Gewohnheiten ihrer Mitmenschen zeichnen sich durch Selbstgewissheit und Missionsgeist aus. Luhmann hat in die hier nur angedeuteten Probleme generalisierend analysiert85. Damit werde die Klammer gelockert, die materielles Recht und Prozessrecht verknüpft hatte und man gelange vor die Frage, weshalb eine Organisation als Rechtsperson sich für Rechte einsetzen kann, über die sie nicht verfügen kann; und vor allem: weshalb eine solche Rechtsperson wie ein Individuum die Freiheit haben soll, dies zu tun – oder nicht zu tun. Die Fokussierung der Selbstbeschreibung des Systems auf das Rechtssubjekt werde dadurch gesprengt. Der Bezug auf die veränderte Rolle des Rechtssubjekts und seine neuen Freiheiten verweist auf den Umschlag subjektiver Rechte in Kompetenzen, die Raum für Eingriffe in Rechte Dritter und für Willkür lassen.

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84 Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion im Gemeinschaftsrecht Norbert Reich, EuZW 2008, 229 f. 85 Niklas Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. 42), S. 536.

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V. Subjektive Rechte in der EU86 Subjektive Rechte, die das Gemeinschaftsrecht den Bürgern in den Mitgliedstaaten verleiht, soweit es sich um seine unmittelbar anwendbaren Normen handelt, sind konstitutiv für seinen Verfassungsrang87. Zum rechtstheoretischen Verständnis kann die weiterentwickelte Theorie von Ihering beitragen: Subjektive Rechte sind gemeinschaftsrechtlich geschützte Interessen; der Einzelne, der von diesen Rechten Gebrauch macht, die ihm die objektive Rechtsordnung verleiht, trägt damit auch zur Verwirklichung eben dieser Ordnung bei. Die formelle Seite des subjektiven Rechts (Klagebefugnis) ist mit seinem Inhalt zu verbinden. Im Gemeinschaftsrecht sind zusätzlich die Besonderheiten des Rechtsträgers zu berücksichtigen, das heißt des Rechtssubjekts und die neu zu definierenden geschützten Interessen. 1. Rechtssubjekte Der Wortlaut des Vertrages lässt die Bedeutung subjektiver Rechte nicht erkennen. Ihre Rechtsquelle ist die Rechtsprechung des EuGH. Er wahrt „das Recht in der Anwendung und Auslegung des Vertrages“. In systematischer, einer Verfassung angemessenen Auslegung des EG-Vertrages hat der EuGH entschieden, dass Rechtssubjekte außer den Mitgliedstaaten auch die Bürger in den Mitgliedstaaten sind. Nur wer Rechtssubjekt der Gemeinschaft ist, kann Träger subjektiver Rechte in ihrer Rechtsordnung sein. Diese Rechtsordnung kann sich als selbständige Rechtsordnung nur behaupten, wenn sie über ihren personalen Anwendungsbereich selbst entscheidet. In seinem Urteil vom 5.2.1963 hat der EuGH diese Erfordernisse formuliert. Rechtssubjekte der Gemeinschaft sind neben den Mitgliedstaaten auch die Einzelnen. Das selbständige Gemeinschaftsrecht erlegt den Einzelnen nicht nur Pflichten auf, sondern verleiht ihnen auch Rechte: „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt“88. Die wichtigste Wirkung der durch subjektive Rechte durchgesetzten Rechtsordnung der Gemeinschaft besteht im Vergleich zum traditionellen Völkerrecht darin, dass Konflikte nicht mehr die Angelegenheit der unmittelbar beteiligten Staaten sind, die sie durch gegenseitige Konzessionen oder Repressionen ausgleichen können. An die Stelle des bilateralen Interessenausgleichs ist das Gemeinschaftsrecht getreten. Es ist ein wirksames Sanktionssystem, das im allgemeinen Völkerrecht, auch im Wirtschaftsvölkerrecht fehlt89. Die Beteiligung der Bürger an der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist geeignet,

__________ 86 Umfassend Martin Nettesheim, Subjektive Rechte im Unionsrecht, AöR 132 (2007), 333–392. 87 EuGH v. 14.12.1991, Slg. 1991, I 6084, 6102, Rz. 21 – Gutachten Europäischer Wirtschaftsraum. 88 EuGH v. 5.2.1963, Slg. 1963, 1, 25 – Van Gent und Loos. 89 Dazu Erik A. Posner, International Law: A welfarist’s approach, 2005.

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die Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu neutralisieren und zu entpolitisieren. Diese Entlastung gilt nicht nur im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Sie wirkt ebenso im Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Kommission, die als „Hüter des Vertrages“ die Kompetenz hat, im Verfahren des Artikels 226 EGV gegen Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten einzuschreiten. Die vom EuGH in Rechnung gestellte erhöhte Effektivität der an Eigeninteressen anknüpfenden Klagebefugnisse zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die praktische Wirksamkeit privater Verfahren gegen Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten die der Kommission bei weitem übertrifft. 2. Geschützte Interessen Die besondere Rolle von subjektiven Rechten im Gemeinschaftsrecht tritt nicht nur im Verhältnis zum Völkerrecht, sie tritt auch im Vergleich zum deutschen öffentlichen Recht hervor. Der Gegensatz zum Schutz subjektiver Rechte im deutschen öffentlichen Recht folgt daraus, dass dem von Ihering übernommenen Begriff des subjektiven Rechts eine grundlegend veränderte Interessenlage unterlegt wurde. Georg Jellinek hat die Besonderheiten subjektiver Rechte im öffentlichen Recht darin gesehen, dass sie gegen das staatliche Machtsubjekt gerichtet seien. Ihr Gegenstand sei daher stets ein Gewähren dessen, was dem Individuum durch individuelle Tat nicht verschafft werden könne. Ferner beruhe die öffentlich-rechtliche Qualifikation des Einzelnen auf dem streng persönlichen Verhältnis zum Staat. Daher sei der Inhalt des öffentlichen subjektiven Rechts nicht private Verfügungsmacht90. Die systembegründende Bedeutung des individuellen Interesses als Begriffsmerkmal des subjektiven öffentlichen Rechts hat Masing zusammengefasst: „Von grundlegender Bedeutung und von der Lehre bis heute in seinem historischen Kontext kaum hinreichend geklärt ist hierbei das Begriffsmerkmal „im individuellen Interesse“. Wie schon durch die zivilrechtliche Ableitung als solche vorgezeichnet, untermauert der in diesem Merkmal manifeste Rückgriff auf Rudolf von Ihering das Wesen des subjektiv öffentlichen Rechts endgültig: Es ist streng individualbezogen, es dient speziell den Interessen des Einzelnen91.“ Dem steht das vom Staat zu wahrende öffentliche Interesse gegenüber. Diese Tradition, die sich vor allem auf den Rechtsschutz im Verwaltungsrecht und auf die Auslegung der Grundrechte als Abwehrrechte auswirkt, wird hier abgrenzend erwähnt, weil sie geeignet ist, grundlegende Gegensätze zum Gemeinschaftsrecht hervortreten zu lassen. Die subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts stehen nicht im Gegensatz zum öffentlichen Interesse der Gemeinschaft, sondern sie dienen ihrer Verwirklichung.

__________ 90 Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, Neudruck 1963, S. 57. Zur Geschichte Hartmut Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986. 91 Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, 1997, S. 65.

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3. Klagebefugnis Die begrenzte Übertragung von Souveränitätsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft führt zu ihrer Transformation in Gemeinschaftskompetenzen. Soweit das Gemeinschaftsrecht auf Grund dieser Kompetenzen eindeutige, also justiziable Verpflichtungen der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane begründet, die durch keinen Vorbehalt eingeschränkt sind, entstehen subjektive Rechte der Einzelnen. Das Kriterium justiziabler Normen korrespondiert der Eigenart aller subjektiven Rechte eine Klagebefugnis vor mitgliedstaatlichen Gerichten zu begründen. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob das Gericht von subjektiven Rechten spricht oder entscheidet, dass sich der Bürger auf Gemeinschaftsrecht berufen oder seine Verletzung geltend machen kann. Die so begründeten Rechte der Gemeinschaftsbürger genießen Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten. Dieser muss effektiv und dem des mitgliedstaatlichen Rechts äquivalent sein. 4. Subjektive Rechte und objektive Rechtsordnung Welche Interessen gemeinschaftsrechtlich geschützt sind und den Inhalt des subjektiven Rechts bestimmen, ist anhand des Zwecks der gemeinschaftsrechtlichen Regelung und ihrem Verhältnis zur Kompetenz der Mitgliedstaaten zu bestimmen. Aus dem Prinzip der enummerierten Zuständigkeiten (Art. 5 EGV) folgt, dass vorrangig das Kompetenzverhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist. Die „Mobilisierung“ des Bürgers (Masing) für Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts wäre nicht möglich gewesen ohne die Koinzidenz des öffentlichen Interesses der Gemeinschaft an Binnenmarkt und Wettbewerb mit dem durch subjektive Rechte bewehrten individuellen Interesse der Gemeinschaftsbürger an dem dadurch eröffneten grenzüberschreitenden Wettbewerb teilzunehmen. Die Grundfreiheiten europäisieren die seit der französischen Revolution in den meisten Mitgliedstaaten grundrechtlich gewährleisteten wirtschaftlichen Freiheitsrechte92. Die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten hat deren Grundrechtscharakter begründet. Indem sie den Mitgliedstaaten die Herrschaft über den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr entzogen hat, wurden Grundrechte der Bürger aktiviert, die auf staatlicher Ebene im öffentlichen Interesse durch protektionistische Maßnahmen der Außenwirtschaftspolitik überlagert waren. Auch dieser Zusammenhang spricht dafür, die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts als Grundrechte zu qualifizieren. Auch in diesem Kernbereich der Grundfreiheiten, der für das Gemeinschaftsrecht repräsentativ ist, muss über die Reichweite der subjektiven Rechte in Abhängigkeit von dem behaupteten Gesetzesverstoß und den dafür geltenden Ausnahmen entschieden werden. Nur bei Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, für die keine

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92 Näher Ernst-Joachim Mestmäcker, On the Legitimacy of European Law, RabelsZ 50 (1954), 635–651; auch in ders., Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006, S. 133–152.

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gemeinschaftsrechtlich normierte Ausnahme gilt, stimmen Inhalt und Wirkung des subjektiven Rechts mit dem Verbotstatbestand überein. Bei den unterschiedslos anwendbaren, aber gleichwohl den Binnenmarkt behindernden Maßnahmen, führen die von der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen zugunsten zwingender öffentlicher Interessen der Mitgliedstaaten zu entsprechenden Modalitäten in der Reichweite subjektiver Rechte93. Ein Gegensatz zwischen dem vermeintlich individualistisch liberalen Charakter der subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts zu Beginn der Integration und den subjektiven Rechte im Zeichen der politischen Union besteht nicht94. Auch lässt sich aus einer „vorgegebenen Integrationsteleologie“ nicht folgern, dass es bei Herstellung des Gemeinsamen Marktes, bei der Schaffung der Agrarmärkte, der Einrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion um Zielsetzungen gegangen sei, „die selbst nicht Gegenstand des politischen Prozesses in der EU waren“. Der politische Prozess in der EU lässt sich nicht auf organisierende, regulierende oder planende Maßnahmen einer dafür eingesetzten hoheitlichen Instanz reduzieren. Der verfassungsrechtliche Rang von Binnenmarkt und Wettbewerbssystem würde damit verfehlt. Unberücksichtigt bleibt ferner der grundlegende Beitrag auch der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu einer gemeinschaftsrechtlichen „rule of law“. Generalanwalt Jacobs hat zutreffend hervorgehoben, dass diese Grundsätze insbesondere die mitgliedstaatlichen Gerichte binden, wenn sie über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht entscheiden95. Max Weber hat Vertragsfreiheit und wirtschaftlichen Freiheitsrechte ihren Freiheits- und Rechtsgehalt in der Wirklichkeit des „Kapitalismus“ abgesprochen. Soweit darin auch eine Voraussicht auf zukünftige Entwicklungen enthalten sein sollte, ist sie durch das europäische Gemeinschaftsrecht widerlegt. Das gilt insbesondere für die von Max Weber festgestellte Aufnahme kapitalistischer Verwertungs- und Herrschaftsinteressen in die politischen Strategien der Staaten. Die System bestimmende Bedeutung der subjektiven Rechte im Gemeinschaftsrecht folgt nicht zuletzt daraus, dass die Staaten den Bürgern in den Mitgliedstaaten auf der Ebene der Gleichordnung begegnen und wie diese in Kernbereichen des Gemeinschaftsrechts berechtigt und verpflichtet sind. Der Vertrag von Lissabon bestätigt diesen Befund auch für Binnenmarkt und Wettbewerbssystem96. Ein den erreichten Rechtszustand in Frage stellender Konflikt mit den Zielen der politischen Union oder mit der Grundrechtscharta ist nicht erkennbar.

__________ 93 Einen Überblick über die hier in Betracht zu ziehenden Bestimmungsgründe subjektiver Rechte gibt Ivo Schwartz, Rechtsangleichung und Rechtswettbewerb im Binnenmarkt, Zum Europäischen Modell, EuR 2007, 194–207. 94 Abweichend aber Martin Nettesheim, Subjektive Rechte im Unionsrecht, AöR 132 (2007), 334. 95 Francis Jacobs, The Sovereignty of Law. The European Way, 2007, S. 102–104. 96 So mit Recht Peter Behrens, Der Wettbewerb im Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 193. Das Protokoll über Binnenmarkt und Wettbewerb lautet: „In der Erwägung, dass zu dem Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrages über die Europäische Union beschrieben wird, ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“.

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbesondere am Beispiel des § 28 WpHG Inhaltsübersicht I. Einführung und Problemstellung II. Dogmatische Strukturen im Recht des Rechtsverlusts 1. Nebeneinander von zivil- und öffentlich-rechtlichen Verhaltensgeboten 2. Der Rechtsverlust als Sanktion einer Obliegenheit 3. Praktische Folgeprobleme III. Tatbestandsvoraussetzungen eines Rechtsverlusts 1. Die relevanten Verhaltensverstöße 2. Gleichsetzung von Nichterfüllung (Satz 1) und Unterlassen (Satz 2)? IV. Das Verschuldenserfordernis bei Satz 1 V. Der zivilrechtliche Rechtscharakter des Vorsatzerfordernisses in Satz 2 1. Meinungsstand a) Kapitalmarktrechtlicher Vorsatzbegriff

b) Zivilrechtlicher Vorsatzbegriff 2. Die Vorzugswürdigkeit des zivilrechtlichen Vorsatzbegriffs 3. Folgefragen a) Kein Vorsatz kraft einer Wissenszurechnung nach § 166 BGB b) Vorsatz kraft Zurechnung nach §§ 31, 278 BGB c) Der Entlastungsbeweis VI. Immanente Grenzen des Rechtsverlusts nach § 28 WpHG 1. Irrelevanz eines Rechtsverlusts 2. Beendigung des Rechtsverlusts a) Grundregeln b) Keine Erstreckung auf späteren Neuerwerb des Meldepflichtigen VII. Schlussbemerkungen

I. Einführung und Problemstellung § 28 WpHG hat sich zur zentralen Vorschrift im Recht des Rechtsverlusts entwickelt. Zunächst kannte die vom 2. Finanzmarktförderungsgesetz im Jahre 1994 eingeführte Norm nur den Verlust des Stimmrechts und trat neben die §§ 20, 21 AktG 1965, die als Sanktion seit jeher die Nichtausübung der Rechte aus Aktien vorsahen. Das 3. Finanzmarktförderungsgesetz brachte 1998 dann einen harmonisierenden Abgleich. Der Rechtsverlust gemäß § 28 WpHG wurde mit einer differenzierten Regelung auf alle Rechte aus der Aktie erstreckt, börsennotierte Aktiengesellschaften i. S. d. § 21 Abs. 2 WpHG a. F. wurden von §§ 20, 21 AktG ausgenommen und die §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 AktG wurden dem neu gefassten § 28 WpHG angepasst. Der nächste Schritt bestand in der Schaffung des § 59 WpÜG nach dem Vorbild des § 28 WpHG. Schließlich führte das Risikobegrenzungsgesetz in § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG zwei neue Tatbestände des Stimmrechtsverlusts ein und brachte zudem eine erneute Verschärfung der Sanktion des § 28 Satz 1 WpHG in Form des nachwirkenden 1219

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Rechtsverlusts: Vorbehaltlich des Dividenden- und Liquidationsanspruchs (Satz 2) endet der Rechtsverlust nunmehr nicht mehr mit der richtigen Mitteilung, sondern dauert weitere sechs Monate an, wenn der Mitteilungspflichtige die richtige Mitteilung vorsätzlich oder grob fahrlässig unterlassen hat (Satz 3). Insgesamt zeigt das neuere Recht des Rechtsverlusts damit zwei klare Tendenzen: Verschärfung und Ausdehnung. Gleichwohl dräng(t)en sich Ausweitungen dieser Rechtsfigur schon unter praktischen Aspekten keineswegs auf. Für die Ausweitung des § 28 WpHG im Jahre 1998 berief sich die Regierungsbegründung lapidar auf die „mit den Meldepflichten in der Praxis gewonnenen Erfahrungen“1, also auf deren mangelnde Befolgung. Aber auch danach wurde der Vorschrift pauschal attestiert, dass sie nur wenige Anreize für die Einhaltung der Mitteilungspflichten schaffe2. Diese Einschätzung ohne weiteres übernehmend3, sah der Gesetzgeber des Risikobegrenzungsgesetzes – politisch getrieben auch durch die Erfahrungen mit einem von aktiven Finanzinvestoren (Private Equity, Hedgefonds) geprägten Kapitalmarktgeschehen – wiederum nur eine Reaktionsmöglichkeit, nämlich die neuerliche Verschärfung des § 28 WpHG in der beschriebenen Weise. Zudem bildet der Rechtsverlust im Rahmen der vom Grundgesetz etablierten Eigentums- und Wirtschaftsordnung einen äußerst gravierenden Eingriff in das Anteilseigentum. Dessen ungeachtet befürworten viele Stimmen aus freilich ganz unterschiedlichen Motiven eine strenge Sanktionierung von Verstößen gegen die Beteiligungstransparenzvorschriften. Die jüngste Verschärfung des § 28 WpHG durch das Risikobegrenzungsgesetz etwa begrüßten nicht allein diejenigen, denen ausländische institutionelle Investoren wegen der Vereinnahmung inländischer Dividenden zur Finanzierung ausländischer Renten suspekt sind, sondern etwa auch der aktivistische Aktionäre fürchtende Bundesverband der Deutschen Industrie. Und bereits zuvor war in der praxisnahen Kommentarliteratur zu § 28 WpHG gefordert worden, das Vorliegen eines relevanten Mitteilungsfehlers zur „präventiven Vermeidung von Nachlässigkeiten und im Interesse der Rechtssicherheit“ nach strengen Maßstäben zu beurteilen4. Insgesamt erscheinen die verschiedentlich befürworteten Maßstäbe in mehrfacher Hinsicht zu streng und bedürfen teils schon aus verfassungsrechtlichen Gründen gewisser Korrekturen. Das gilt für die Frage, wie der relevante Verlusttatbestand zu fassen ist (III.), ob beim Rechtsverlust auf ein Verschulden zu verzichten ist (IV.) und ob der den endgültigen Verlust des Dividenden- und Liquidationsanspruchs begründende Vorsatz sich nach zivil- oder strafrecht-

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1 Begr. RegE eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Drittes Finanzmarktförderungsgesetz), BT-Drucks. 13/8933, S. 95. 2 Übereinstimmend Schneider in Assmann/Schneider (Hrsg.), WpHG, 4. Aufl. 2006, § 28 WpHG Rz. 6 f.; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG, 2007, § 28 WpHG Rz. 6. 3 S. Begr. RegE eines Gesetzes zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz), BT-Drucks. 16/7438, S. 8 f., 13. 4 Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 28; Bayer in MünchKomm.AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 3.

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbes. am Beispiel des § 28 WpHG

lichen Maßstäben bemisst (V.). Ergänzend ist schließlich auf einige immanente Grenzen eines Rechtsverlusts nach § 28 WpHG einzugehen (VI.). Zunächst sind aber einige dogmatische Grundstrukturen im Recht des Rechtsverlusts zu entfalten (II.).

II. Dogmatische Strukturen im Recht des Rechtsverlusts Die Regelungsinhalte der einen Rechtsverlust des Aktionärs anordnenden aktien- und kapitalmarktrechtlichen Normen5 zeigen im Detail vielfältige Unterschiede. Immerhin sind im ordnenden Zugriff jedoch gewisse dogmatische Grundstrukturen zu erkennen. Erwähnt seien die folgenden Punkte: 1. Nebeneinander von zivil- und öffentlich-rechtlichen Verhaltensgeboten Die mit der Rechtsverlustsanktion durchzusetzenden materiellen Verhaltensgebote sind in Teilen dem Gesellschaftsrecht und im Übrigen der öffentlichrechtlichen Komponente des Kapitalmarktrechts zuzuordnen. Zivilrechtlich sind zunächst die in § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG sanktionierten Mitteilungsgebote6 einzuordnen. § 67 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 AktG impliziert, dass die Satzung einem im Aktienregister eingetragenen Nichtaktionär eine Offenlegungsverpflichtung gegenüber der Gesellschaft auferlegen kann7. § 67 Abs. 4 Satz 2, 3 AktG gewährt der Gesellschaft einen Auskunftsanspruch gegen den jeweils im Aktienregister Eingetragenen, der im Verhältnis zu einem Aktionär als Bestandteil der Mitgliedschaft und gegenüber einem eingetragenen Nichtaktionär jedenfalls zivilrechtlich zu deuten ist. Dem Zivilrecht zugehörig sind ferner die Mitteilungspflichten nach §§ 20, 21 AktG. Die Mitteilungspflicht nach § 20 AktG gegenüber einer AG oder KGaA wird allgemein als Ausfluss der Mitgliedschaft gesehen8. Die Mitteilungspflicht einer AG oder KGaA aus § 21 AktG gegenüber einer inländischen Kapitalgesellschaft lässt sich ebenfalls mitgliedschaftlich deuten, auch wenn es § 21 AktG in erster Linie um die Rückwirkungen der Beteiligung auf die mitteilungspflichtige AG oder KGaA selbst geht9. Demgegenüber ist bei § 21 Abs. 1, 1a WpHG neben der Übermittlungspflicht auch die Pflicht zur Mitteilung an den Emittenten als eine öffentlich-recht-

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5 § 28 WpHG, § 59 WpÜG, §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4, 67 Abs. 2 AktG. 6 Dazu, ob es sich bei diesen Verhaltensgeboten um Obliegenheiten oder um echte Rechtspflichten handelt, s. sogleich II.2. Der Begriff „Pflicht“ findet im Folgenden daher zunächst im untechnischen Sinne Verwendung. 7 Zumindest missverständlich daher der Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 16/9821, S. 18, wenn er einen Ausschluss der Stimmrechte in dem Fall für gerechtfertigt hält, „in dem völlig ohne Offenlegung der Legitimationsstellung eine Eintragung begehrt wird“. Vielmehr setzt diese Sanktion voraus, dass die Satzung die Offenlegung der Legitimationsstellung bei Stellung des Eintragungsbegehrens vorschreibt. Zum Ganzen jetzt auch Noack, NZG 2008, 721, 722 ff. 8 S. nur Windbichler in Großkomm.AktG, Bd. 1, 4. Aufl. 1992/2004, § 20 AktG Rz. 8; Veil in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, Bd. 1, 2008, § 20 AktG, Rz. 7. 9 Dazu etwa Windbichler in Großkomm.AktG (Fn. 8), § 21 AktG Rz. 1.

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liche einzustufen10, 11. Allerdings folgt dies nicht schon aus der Qualifizierung dieser Pflicht als „kapitalmarktrechtlich“12. Denn das Kapitalmarktrecht steht nicht selbständig neben dem Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht, sondern nimmt als systematische Ordnungskategorie diejenigen Vorschriften dieser drei Rechtsgebiete auf, die durch einen spezifischen Bezug zur Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts gekennzeichnet sind13. Entscheidend ist vielmehr, dass die §§ 21 ff. WpHG vor allem Beteiligungstransparenz im Interesse (aller Teilnehmer) des Kapitalmarkts herstellen sollen. Dass die Mitteilung an den Emittenten zu machen ist, der wiederum die erhaltene Mitteilung unverzüglich zu veröffentlichen hat, soll rechtstechnisch die effiziente Versorgung des Kapitalmarkts mit diesen Informationen gewährleisten, nicht hingegen den Emittenten zum primären Adressaten dieser Informationen erheben. Bei den Primärpflichten aus § 35 WpÜG ist die Pflicht des Bieters aus Abs. 1 zur Veröffentlichung der Kontrollerlangung schon kraft eines Erst-RechtSchlusses aus dem soeben zu § 28 WpHG Ausgeführten als eine öffentlichrechtliche zu qualifizieren. Denn im Gegensatz zu § 28 WpHG ist der Bieter nicht einmal zur Mitteilung an eine bestimmte Person, etwa die Zielgesellschaft, verpflichtet, sondern lediglich zu einer Veröffentlichung, die der Gesamtheit aller Kapitalmarktteilnehmer zugänglich ist. Was die Verpflichtung aus Abs. 2 zur Abgabe eines Pflichtangebots angeht, handelt es sich ebenfalls lediglich um eine dem öffentlichen Recht zuzuordnende aufsichtsrechtliche Pflicht14; eine zivilrechtliche Verpflichtung (auch) zur Abgabe eines Pflichtangebots oder gar zur Übernahme der Aktien Zug-um-Zug gegen die Gewährung der nach §§ 30, 39, 35 Abs. 2 WpÜG gebotenen Gegenleistung lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen15.

__________ 10 Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 4; eine Doppelnatur annehmend Hirte in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 21 WpHG Rz. 5; Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), Vor § 21 WpHG Rz. 8 (weil der – allerdings erst vom 3. Finanzmarktförderungsgesetz eingeführte (!) – § 20 Abs. 8 AktG für die börsennotierte AG die §§ 21 ff. WpHG an die Stelle des § 20 AktG setze); a. A. – zwingendes Privatrecht – Schwark in Schwark (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2004, Vor § 21 WpHG Rz. 7; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2005, § 17 Rz. 4. 11 Soweit die Mitteilungsvorschriften zugleich die von § 28 WpHG implizierte Mitteilungsobliegenheiten fundieren, handelt es sich um zivilrechtliche Verhaltensgebote. Näher sogleich II.2. a. E. 12 So aber Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 4. 13 Aus funktionaler Perspektive umfasst das Kapitalmarktrecht das Marktorganisations-, das Marktverhaltens- und das Marktaufsichtsrecht; s. Mülbert, WM 2001, 2085, 2086 f. 14 Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum WpÜG, 2. Aufl. 2005, § 35 WpÜG Rz. 5; Mülbert/Schneider, WM 2003, 2301, 2307 f. 15 Ganz h. M.; s. nur Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2005, § 35 WpÜG Rz. 252; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 35 WpÜG Rz. 5; Mülbert/Schneider, WM 2003, 2301, 2307 f.; Hecker in Baums/Thoma (Hrsg.), WpÜG, Loseblatt, Stand 2007, § 35 WpÜG Rz. 296; a. A. Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 35 WpÜG Rz. 49: Anspruch auf Angebotsabgabe; Schlitt in MünchKomm.AktG, Bd. 9/1, 2. Aufl. 2004, § 35 WpÜG Rz. 245: Anspruch auf Abschluss eines Erwerbsvertrags.

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Inwieweit diese rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers zu überzeugen vermag, steht auf einem anderen Blatt. Bei der Angebotspflicht aus § 35 Abs. 2 WpÜG geht es nämlich im Unterschied zu den Veröffentlichungs- und Mitteilungspflichten der § 35 Abs. 1 WpÜG, § 21 Abs. 1 WpHG nicht um gegenüber dem Kapitalmarkt bzw. der Allgemeinheit der Kapitalmarktteilnehmer bestehende Pflichten, sondern um eine solche gegenüber einem individualisierten Personenkreis in Gestalt der derzeitigen Aktionäre der Zielgesellschaft. Diesem Personenkreis gleichwohl einen zivilrechtlichen primären Erfüllungsanspruch zu versagen, kann nicht befriedigen16, und erst recht wäre die Regelung defizitär, könnten die Aktionäre entsprechend den Andeutungen des BGH im WMF-Urteil17 nicht einmal den Zinsanspruch aus § 38 WpÜG selbständig geltend machen. 2. Der Rechtsverlust als Sanktion einer Obliegenheit Die rechtsdogmatische Einordnung der im Aktiengesetz vorgesehenen Fälle eines Rechtsverlusts hat daran anzusetzen, dass das Gesetz zwar durchweg von einer Mitteilungs- oder Auskunftspflicht spricht, aber keine Erfüllungsansprüche oder Sanktionen für Verhaltensverstöße vorsieht. Dies führt auf die zivilrechtliche Figur der Obliegenheit (vgl. § 254 BGB). Der Pflichtige behält seine Rechte aus der Aktie nur, wenn er der Gesellschaft gegenüber bestimmte Verhaltensgebote befolgt. Dieses rechtstechnische Erklärungsmodell trifft für § 20 Abs. 7 AktG18 ebenso das Richtige wie für § 20 Abs. 4 AktG19. Der zugunsten einer Qualifikation als echte Leistungspflicht angeführte Einwand, dass die §§ 20, 21 AktG nach allgemeiner Meinung als Schutzgesetze i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB zu qualifizieren seien20, vernachlässigt, dass Obliegenheiten ebenso wie Rechtspflichten im Interesse Dritter und nicht des Belasteten selbst angeordnet werden21, und er ist insofern zirkulär22, als die Schutzgesetzeigenschaft den spezifisch drittschützenden Charakter einer Norm voraussetzt und nicht etwa begründet23. Schließlich sind auch die vom Risikobegrenzungsgesetz eingeführten Fälle eines satzungsförmig (§ 67 Abs. 2 Satz 2 AktG) und eines kraft Gesetzes (§ 67 Abs. 4 Satz 2 und 3 AktG) begründeten Auskunftsgebots als Obliegenheit einzuordnen. Denn Schadensersatzansprüche der Gesellschaft aus §§ 280 Abs. 1, 3,

__________ 16 S. auch sogleich II.2. in Fn. 27. 17 BGHZ 169, 98, 102 f. = WM 2006, 2080; andere Bewertung der Funktion des § 38 WpÜG etwa bei Mülbert/Schneider, WM 2003, 2301, 2304 ff. 18 S. nur Windbichler in Großkomm.AktG (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 9; Veil in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 7; a. A. – echte Pflichten – Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 2; Koppensteiner in KölnKomm.AktG, Bd. 6, 3. Aufl. 2004, § 20 AktG Rz. 11. 19 S. etwa Windbichler in Großkomm.AktG (Fn. 8), § 21 AktG Rz. 6. 20 Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 2; Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 18), § 20 AktG Rz. 11. 21 Sogleich im Text bei Fn. 29. 22 Ebenso Veil in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 7 m. Fn. 18. 23 S. nur Hager in Staudinger, BGB, §§ 823–825, Neub. 1999, § 823 BGB Rz. G 21.

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281 BGB, die bei der alternativen Deutung als echte Auskunftspflichten im Raum stünden, könnten nie den gesetzlich angeordneten Rechtsverlust zum Inhalt haben. § 28 WpHG und § 59 WpÜG liegen zugunsten der Allgemeinheit oder bestimmter Dritter (Aktionäre der Zielgesellschaft) angeordnete echte öffentlichrechtliche Pflichten voraus24. Hierauf aufbauend soll der Rechtsverlust als eine von mehreren Sanktionen mittels der Einbeziehung Privater eine möglichst effektive Durchsetzung dieser Pflichten gewährleisten: Die Mitteilungspflichten aus § 21 Abs. 1, 1a (auch i. V. m. § 22) WpHG können von der BaFin nämlich mittels einer auf § 4 Abs. 2 Satz 1 WpHG gestützten Anordnung durchgesetzt werden25 und sind zudem in § 39 Abs. 2 Nr. 2e WpHG bußgeldbewehrt; bei den pflichtangebotsrechtlichen Primärpflichten des § 35 Abs. 1, 2 WpÜG kommt neben der Bußgeldsanktion des § 60 Abs. 1 Nr. 1a WpÜG in Betracht, dass die BaFin im Rahmen der ihr obliegenden allgemeinen Missstandsaufsicht eine auf § 4 Abs. 1 Satz 3 WpÜG gestützte Anordnung des Inhalts erlässt, die Tatsache der Kontrollerlangung26 oder/und ein gebotenes Pflichtangebot27 zu veröffentlichen. Trotz der Inbezugnahme öffentlich-rechtlicher Pflichten sind auch § 28 WpHG und § 59 WpÜG rechtstechnisch als Sanktion einer Obliegenheitsverletzung einzuordnen28. Obliegenheiten werden vom Gesetz entgegen einer zumindest missverständlichen häufigen Charakterisierung nicht im Interesse des Belasteten29, sondern – insoweit ganz wie echte Pflichten – im Interesse Dritter angeordnet. Das eigene Interesse des Belasteten gilt ebenso wie im Falle einer echten Pflicht lediglich der Befolgung der Obliegenheit, um den andernfalls drohenden Rechtsnachteil zu vermeiden, nicht dem als Obliegenheit statuierten Verhaltensgebot als solchen. Daher besteht auch kein Hindernis dafür, aus der

__________ 24 25 26 27

Soeben II.1. VG Frankfurt, BKR 2007, 40, 42. v. Bülow in KölnKomm.WpÜG, 2003, § 35 WpÜG Rz. 187. Dafür etwa Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 15), § 35 WpÜG Rz. 248; v. Bülow in KölnKomm.WpÜG (Fn. 26), § 35 WpÜG Rz. 187; Hommelhoff/ Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 35 WpÜG Rz. 104 m. w. N.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 5. Aufl. 2008, Vor § 311 AktG Rz. 24; a. A. noch Habersack, ZHR 166 (2002), 619, 622; Hecker in Baums/ Thoma (Fn. 15), § 35 WpÜG Rz. 295; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 35 WpÜG Rz. 242. Eine dahingehende Anordnungsbefugnis ist der BaFin insbesondere dann zuzubilligen, wenn man den Aktionären der Zielgesellschaft einen gesellschaftsrechtlich begründeten außervertraglichen Abfindungsanspruch nicht zuerkennt. Einen solchen ablehnend etwa Krause/Pötzsch, ebenda Rz. 256; Hecker in Baums/Thoma (Fn. 15), § 35 WpÜG Rz. 303; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 35 WpÜG Rz. 245; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 35 WpÜG Rz. 6; a. A. Mülbert/Schneider, WM 2003, 2301 ff. 28 Daher – nicht aber deswegen, weil diese Bestimmungen selbst Sanktionsnormen sind (so aber Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 21 AktG Rz. 23 a. E.) – sind diese Vorschriften kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB. 29 S. aber etwa Olzen in Staudinger, BGB, Einl zu §§ 241 ff., §§ 241–243, Neub. 2005, § 241 BGB Rz. 131 m. w. N.

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbes. am Beispiel des § 28 WpHG

Normierung einer öffentlich-rechtlichen Pflicht zugleich die Statuierung einer zivilrechtlichen Obliegenheit als Grundlage des in § 28 WpHG, § 59 WpÜG angeordneten Rechtsverlusts abzuleiten. Rechtsdogmatisch präzise gewendet gestalten die beiden Vorschriften für ihren sogleich noch näher präzisierten sachlichen Anwendungsbereich30 die primären Verhaltensgebote („Primärpflichten“) des § 21 Abs. 1, 1a WpHG31 und des § 35 Abs. 1, 2 WpÜG als zivilrechtliche Obliegenheiten aus. 3. Praktische Folgeprobleme Mit der Regelungstechnik des § 28 WpHG und des § 59 WpÜG, die Durchsetzung öffentlich-rechtlicher Pflichten mittels der Indienstnahme Privater zu effektuieren, verbinden sich neben rechtsdogmatischen Einordnungsfragen vor allem auch gravierende praktische Anwendungsprobleme. Insbesondere hat dies nämlich zur Folge, dass über das Vorliegen eines nach § 21 Abs. 1 (auch i. V. m. § 22) WpHG mitteilungspflichtigen Vorgangs oder das Vorliegen eines Kontrollerwerbs i. S. d. § 35 WpÜG nicht allein die BaFin und die entsprechenden Rechtsmittelinstanzen zu befinden haben, sondern dass sich diese Rechtsfragen auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten unterschiedlichen Zuschnitts – Anfechtungsklagen, Klagen auf Dividendenzahlung etc. – stellen können. Dabei sind divergierende oder gar konträre Entscheidungen jedenfalls theoretisch denkbar. Weder sind die Zivilgerichte an die Beurteilung der BaFin oder der Verwaltungsgerichte bzw. des OLG Frankfurt (§§ 48 Abs. 4, 62 Abs. 1 WpÜG) gebunden noch sieht das Gesetz eine Bindung in Gegenrichtung vor. Vor diesem Hintergrund wird im Rahmen des Beteiligungstransparenzregimes (§§ 21 ff. WpHG) dem Mitteilungspflichtigen empfohlen, bei Unsicherheiten in der rechtlichen Beurteilung alternative Meldungen abzugeben32. Bei dieser Lösung droht allerdings eine zumindest temporäre Beeinträchtigung der Beteiligungstransparenz33. Zudem versagt sie beim Pflichtangebotsregime dann, wenn die BaFin eine Angebotspflicht verneint, ohne dass eine gegenteilige rechtliche Beurteilung durch ein zur Entscheidung über das Vorliegen eines Rechtsverlusts (§ 59 WpÜG) berufenes Zivilgericht ganz auszuschliessen wäre. Dem Bieter die alternative Vorlage eines Pflichtangebots anzuraten, wäre offenkundig keine Lösung.

__________ 30 Unten III.1. 31 Ebenso i. E. Schwark in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 21 WpHG Rz. 17 (auf Basis des Gebots zur Mitteilung gegenüber dem Emittenten als zwingendem Privatrecht, s. ebenda vor § 21 WpHG Rz. 7); Opitz in Schäfer/Hamann (Hrsg.), Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl., Loseblatt, Stand 2008, § 21 WpHG Rz. 41; a. A. – echte privatrechtliche Leistungspflicht des Mitteilungspflichtigen – Hirte in KölnKomm. WpHG (Fn. 2), § 21 WpHG Rz. 185; Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 21 WpHG Rz. 94. 32 Besonders weitgehend Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 67 („in dubio pro publicatione“); vgl. auch VG Frankfurt, BKR 2007, 40, 42. 33 Vgl. Nolte in Bürgers/Körber, Heidelberger Kommentar zum AktG, 2008, § 20 AktG Rz. 25: AG und Öffentlichkeit werden mehr verwirrt als informiert.

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Die danach noch verbleibende Alternative, dass Mitteilungspflichtiger und Emittent bzw. Bieter und Zielgesellschaft übereinkommen, einen problematischen Sachverhalt der BaFin zu unterbreiten und deren rechtliche Bewertung zugrunde zulegen, bildet dann keinen Ausweg, wenn man dem Mitteilungspflichtigen bzw. Bieter mit gewichtigen Stimmen auch bei einem solchen Vorgehen nicht in aller Regel einen unvermeidbaren, d. h. einen nicht einmal auf leichter Fahrlässigkeit beruhenden Rechtsirrtum zuzubilligen bereit ist34.

III. Tatbestandsvoraussetzungen eines Rechtsverlusts 1. Die relevanten Verhaltensverstöße Alle Vorschriften mit Ausnahme des § 35 Abs. 2 WpÜG knüpfen den Rechtsverlust jedenfalls an ein fehlerhaftes Mitteilungsverhalten. Zumeist ist die Vornahme einer Mitteilung beim Eintritt bestimmter gesetzlicher oder in der Satzung statuierter (§ 67 Abs. 2 Satz 2 AktG)35 Voraussetzungen geschuldet; nur § 67 Abs. 4 Satz 2, 3 AktG setzt eine Nachfrage der Gesellschaft voraus, auf die der im Aktienregister Eingetragene keine Auskunft gibt. Bei § 28 WpHG soll überdies ein relevanter Verstoß nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift auch dann vorliegen, wenn der Meldepflichtige gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1a WpHG dem Emittenten eine Veränderung seiner Stimmrechtsbeteiligung mitteilt und lediglich die nach diesen Normen ebenfalls gebotene Meldung an die BaFin unterlässt36. § 28 WpHG geht es nach Sinn und Zweck jedoch allein um die Absicherung, dass der Meldepflichtige die zur Schaffung der Beteiligungstransparenz gebotene Mitteilung an den Emittenten macht, nicht um eine Unterstützung der BaFin bei der Überwachung, ob die Beteiligungstransparenzvorschriften eingehalten werden. Daher ist die Vorschrift hinsichtlich der fehlenden Übermittlung an die BaFin teleologisch zu reduzieren. § 59 WpÜG schließlich nimmt nach seinem Wortlaut eine ganze Palette an Veröffentlichungs-, Mitteilungs- sowie Übermittlungspflichten in Bezug. Bereits die Regierungsbegründung bezog diese Sanktion freilich explizit allein auf die Verletzung der so genannten Primärpflichten des § 35 Abs. 1, 2 WpÜG, wenn also der Bieter die Kontrollerlangung nicht unverzüglich nach Eintritt dieses Umstandes (§ 35 Abs. 1 Satz 1 WpÜG) oder/und das Pflichtangebot nicht im sich anschließenden Vier-Wochen-Zeitraum (§ 35 Abs. 2 WpÜG) form-

__________ 34 Die entlastende Wirkung einer Auskunft der BaFin für den absoluten Regelfall zu Recht bejahend Segna, AG 2008, 311, 315 in Auseinandersetzung mit dem strenge Anforderungen postulierenden LG Köln, AG 2008, 336 (insoweit nicht abgedruckt); noch strenger als das LG Köln wohl Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 67. 35 Näher oben II.1. 36 Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 12; Hüffer (Fn. 28), § 21 AktG Rz. 22; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 24; Nolte in Bürgers/Körber (Fn. 33), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 2.

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gerecht veröffentlicht37. Nach dem Normzweck des § 59 WpÜG erscheint eine entsprechende teleologische Reduktion dieser Vorschrift also unausweichlich38. 2. Gleichsetzung von Nichterfüllung (Satz 1) und Unterlassen (Satz 2)? Die § 28 WpHG, § 59 WpÜG und §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 AktG differenzieren, was die relevante Pflichtverletzung angeht, durchgängig zwischen der zum (generellen) Rechtsverlust führenden Nichterfüllung nach Satz 1 und dem zum Verlust des Dividenden- und Liquidationsanspruchs führenden Unterlassen des gebotenen Verhaltens (Satz 2). Über diese divergierenden Formulierungen in den Sätzen 1 und 2 geht die ganz h. M. hinweg. Bei § 28 WpHG wird die Nichterfüllung der Mitteilungspflichten i. S. des Satzes 1 unter Anknüpfung an die konkretisierende Formulierung des § 39 Abs. 2 Nr. 2e WpHG dahin detailliert, dass die Mitteilung „nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Form oder nicht rechtzeitig“ erfolgt39 und ein Unterlassen i. S. des Satzes 2 auch für eine lediglich fehlerhafte Erfüllung bejaht40. Ein ganz paralleles Meinungsbild besteht unter Inbezugnahme des § 60 Abs. 1 Nr. 1a WpÜG für § 59 WpÜG41 und im Ergebnis auch für die §§ 20 Abs. 742, 21 Abs. 4 AktG.

__________ 37 Begr. RegE eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen, BT-Drucks. 14/7034, S. 68. 38 Treffend auch in der detaillierten Einzelanalyse Kremer/Oesterhaus in KölnKomm. WpÜG (Fn. 2), § 59 WpÜG Rz. 14 ff.; mit Abweichungen im Detail ferner Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 59 WpÜG Rz. 14 (unter Aufgabe der gegenteiligen Position der Vorauflage); Hecker in Baums/Thoma (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 20 f.; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 12 ff.; auch Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 59 WpÜG Rz. 2; a. A. insbesondere noch Schneider in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 13 (unter Berufung u. a. auf die freilich gegenteilige Regierungsbegründung). 39 S. nur Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 16; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 27; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 3; Riegger in FS Westermann, 2008, S. 1331, 1333; Weber-Rey in Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008, § 23 Rz. 117; Heinrich in Heidel (Hrsg.), Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2007, § 28 WpHG Rz. 3; krit., aber ohne abweichende Ergebnisse Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 5. 40 S. nur Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 61 i. V. m. Rz. 9 und 15 ff.; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 22 Anh § 2 WpHG Rz. 3; Riegger (Fn. 39), S. 1333. 41 Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 59 WpÜG Rz. 15 i. V. m. Rz. 39; Hecker in Baums/Thoma (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 124; Schlitt in MünchKomm. AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 12 ff. i. V. m. Rz. 55; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 59 WpÜG Rz. 11 ff. i. V. m. Rz. 76; a. A. Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 59 WpÜG Rz. 3. 42 S. Windbichler in Großkomm.AktG (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 68; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 41; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 27), § 20 AktG Rz. 45; Nolte in Bürgers/Körber (Fn. 33), § 20 AktG Rz. 25 i. V. m. Rz. 27; a. A. – engerer Fehlerbegriff – etwa Weber-Rey in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 39), § 23 Rz. 118 Fn. 186.

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Demgegenüber streitet Hüffer43 für § 28 WpHG unter Verweis auf die genannte Ordnungswidrigkeitsvorschrift und die Regierungsbegründung zum 2. Finanzmarktförderungsgesetz zu § 28 WpHG a. F. für eine Einschränkung dahingehend, dass eine Nichterfüllung i. S. des Satzes 1 nur vorliege, wenn die gebotene Mitteilung unterlassen wird. Allerdings werde bei einer inhaltlich falschen Mitteilung zugleich die inhaltlich richtige Mitteilung unterlassen. In der Sache rückt er damit der h. M. ganz nahe und zwar umso mehr, als die h. M. ihrerseits den § 28 WpHG für lediglich formale Mitteilungsmängel teleologisch reduzieren und insoweit keinen Fall einer relevanten Nichterfüllung annehmen will44. Grundsätzliches Unbehagen trifft beide Positionen und gilt dem methodischen Ansatz, durch den Wechsel der Perspektive vom fehlerhaften Tun zu einem Unterlassen des Gebotenen jedweden Mitteilungsfehler in den tatbestandlichen Anwendungsbereich des § 28 Satz 2 WpHG einzubeziehen. Denn dieser altbekannte Kunstgriff ist dem WpHG und dem gesamten Kapitalmarktrecht im Grundsätzlichen fremd. Schon § 32 Abs. 1 Nr. 1c WpHG a. F. kannte nämlich die nunmehr in 39 Abs. 2 Nr. 2e WpHG enthaltene Unterscheidung von Mitteilungsfehlern danach, ob eine Mitteilung „nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Form oder nicht rechtzeitig“ erfolgt. Diese Differenzierung nach fehlerhaften und fehlenden Mitteilungen/Informationen beschränkt sich auch nicht etwa auf Beteiligungsmitteilungen nach §§ 21 ff. WpHG, wie schon § 39 Abs. 2 Nr. 2 WpHG erhellt. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein die Ordnungswidrigkeitstatbestände des § 39 WpHG transzendierendes ein regelungstechnisches Kernkonzept des WpHG und sogar des gesamten Kapitalmarktrechts. Insbesondere unterscheidet das Gesetz bei den §§ 37b, 37c WpHG zwischen fehlerhaften und unterlassenen Ad hocMitteilungen, so dass der Emittent bei einer mangelhaften Veröffentlichung für eine fehlerhafte Ad hoc-Mitteilung haftet, nicht wegen des gänzlich Fehlens einer (fehlerfreien) Mitteilung. Ebenso liegt es nunmehr auch im Falle von Prospektfehlern beim öffentlichen Angebot; für den fehlerhaften Prospekt wird nach § 13 VerkProspG und nicht wegen Fehlen eines (fehlerfreien) Prospekts nach § 13a VerkProspG gehaftet45. Andererseits geht die Regierungsbegründung zum 2. Finanzmarktförderungsgesetz offenkundig davon aus, dass ein „Unterlassen“ bei jeder (pflichtwidrigen) Nichterfüllung der Mitteilungspflicht aus § 21 Abs. 1 WpHG a. F. vor-

__________ 43 Hüffer (Fn. 28), § 20 AktG Rz. 22; krit. (wenn auch teilweise zu kurz greifend) etwa Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 16; Riegger (Fn. 39), S. 1332 f.; Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 5. 44 S. nur Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 19; Nolte in Bürgers/ Körber (Fn. 33), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 2; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2) § 28 WpHG Rz. 28 f.; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 3. 45 Hierzu etwa Mülbert/Steup in Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 2. Aufl. 2008, § 33 Rz. 51 f.

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liegt46, und auch die Regierungsbegründung zum 3. Finanzmarktförderungsgesetz legt dieses Konzept der Gleichsetzung einer fehlerhaften Mitteilung mit dem Unterlassen der gebotenen Mitteilung zugrunde47. Im Kern geht es letztlich um den Umfang der vom jeweiligen Satz 2 vorgenommenen Privilegierung des Dividenden- und Liquidationsanspruchs. Soll lediglich die Möglichkeit eröffnet werden, den endgültigen Rechtsverlust im Falle eines unvorsätzlichen Mitteilungsfehlers durch die heilende Nachholung der gebotenen Mitteilung zu vermeiden, oder steht auch eine Einschränkung des Fehlertatbestands im Raum? Die Schwere der Sanktion einerseits und ihre zweifelhafte Eignung, den vom Gesetzgeber verfolgten Regelungszweck sachgerecht zu befördern, spricht nachhaltig für eine weitergehende Eingrenzung bereits auf Tatbestandsebene. Erforderlich ist ein derart gewichtiger inhaltlicher – also nicht lediglich formaler – Verstoß, dass bei wertender Betrachtung gar keine Mitteilung und also ein Unterlassen vorliegt. Nach diesem Maßstab fehlt es an einem Unterlassen, wenn die folgenden zwei Kernpunkte genannt werden: – der vom Mitteilungspflichtigen unmittelbar oder kraft Zurechnung gehaltene Stimmrechtsanteil, wobei die Angabe eines höheren („Heraufmelden“) bzw. niedrigeren („Heruntermelden“) als des tatsächlich gehaltenen Anteils sub specie Satz 2 unschädlich ist, sofern nur die genannte Meldeschwelle zutrifft, und – der Tag, an dem der Mitteilungspflichtige den Schwellenwert erreicht oder überschritten hat, wobei die Angabe eines zu frühen („Heraufmelden“) bzw. zu späten („Heruntermelden“) Zeitpunkts sub specie Satz 2 unschädlich ist.

IV. Das Verschuldenserfordernis bei Satz 1 Der Forderung nach einer strengen Handhabung der Rechtsverlustvorschriften entspricht es, wenn gewichtige Stimmen für § 59 Satz 1 WpÜG48 den Rechtsverlust generell und für § 28 Satz 1 WpHG49 sowie §§ 20 Abs. 7 Satz 1, 21

__________ 46 Begr. RegE eines Gesetzes über den Wertpapierhandel und zur Änderung börsenrechtlicher und wertpapierrechtlicher Vorschriften (Zweites Finanzmarktförderungsgesetz), BT-Drucks. 12/6679, S. 56. 47 S. Begr. (Fn. 1), S. 96. 48 Schneider in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 15 (unter unzutreffender Berufung auf Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 59 WpÜG Rz. 4 und jedenfalls zweifelhafter Berufung auf die Begr. RegE (Fn. 37), S. 68, die das Verschulden zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber explizit auf die Geltung der zu § 28 WpHG entwickelten Grundsätze verweist); ferner mit Differenzierung Hecker in Baums/Thoma (Fn. 15), § 59 Rz. 31. 49 Hüffer (Fn. 28), § 20 AktG Rz. 23 i. V. m. Rz. 11; Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 26), § 22 AktG Anh §§ 21 ff. WpHG Rz. 45 i. V. m. § 20 AktG Rz. 56.

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Abs. 4 AktG50 den Verlust insbesondere des Stimmrechts und der sonstigen hauptversammlungsbezogenen Aktionärsrechte unabhängig von einem Verschulden des Meldepflichtigen eintreten lassen wollen. Dem Gesetzeswortlaut widerstreitet dies zwar schon insoweit, als dieser lediglich eine unverzügliche, d. h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB) erfolgende Mitteilung fordert (s. nur § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG). Andererseits trifft es natürlich zu, dass die Gesellschaft bzw. die Hauptversammlung und deren Leiter das Vorliegen eines Verschuldens auf Seiten des Mitteilungspflichtigen aufgrund der begrenzten Erkenntnismittel und des begrenzten Zeitraums für Nachforschungen nicht zu beurteilen vermögen. Und auch die Reform des § 28 Satz 1 WpHG durch das Risikobegrenzungsgesetz steht diesem Verzicht auf ein Verschuldenserfordernis wohl nicht zwingend entgegen. Daraus folgt nur, so mag man argumentieren wollen, dass der nachwirkende Rechtsverlust ein mindestens grob fahrlässiges Verhalten fordert. Zu dieser Kontroverse ist zunächst klarzustellen, dass die Qualifizierung der Rechtsverlusttatbestände als Sanktion einer Obliegenheitsverletzung nichts daran ändert, dass die Anwendung des Maßstabs des § 276 BGB in Frage steht. Wenn im zivilrechtlichen Schrifttum bei der Verletzung von Obliegenheiten von einem Verschulden gegen sich selbst die Rede ist, bleibt es doch dabei, dass das Gesetz Verhaltensgebote in Form einer Obliegenheit im Interesse von Dritten und nicht im Interesse des hierdurch Belasteten statuiert51 und also der Maßstab des § 276 BGB als analog heranzuziehender Verantwortlichkeitsmaßstab berufen ist52. Die jüngste Reform des § 28 Satz 1 WpHG, die den nachwirkenden Rechtsverlust an zumindest grobe Fahrlässigkeit geknüpft hat, bestätigt dies ebenso wie die Privilegierung in Satz 2 der eingangs genannten Vorschriften für unvorsätzliches Verhalten. Im Übrigen lässt sich festhalten, dass unabhängig vom einfach-gesetzlichen Auslegungsergebnis ein Verschuldenserfordernis jedenfalls verfassungsrechtlich geboten ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG folgt aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip sowie aus Art. 1 Abs. 1 GG, dass jede staatliche Strafe auf Seiten des Täters Vorwerfbarkeit, also Schuld, voraussetzt53. Diese Grundsätze hat das Gericht seit langem über die Strafe für kriminelles Unrecht hinaus auf jede strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht ausgedehnt. Strafen in diesem Sinne zeichneten sich dadurch aus, dass

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50 OLG Schleswig, ZIP 2007, 2214, 2216; Hüffer (Fn. 28), § 20 AktG Rz. 11; Koppensteiner in KölnKomm.AktG (Fn. 26), § 20 AktG Rz. 56; Krieger in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4: Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, § 68 Rz. 132; zurückhaltender – nur wenn Aktionär in der Hauptversammlung sein fehlendes Verschulden nicht nachweisen kann – Nolte in Bürgers/Körber (Fn. 33), § 20 AktG Rz. 25; a. A. – auch insoweit Verschulden erforderlich – Windbichler in Großkomm.AktG (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 70; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 49; Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 27), § 20 AktG Rz. 46. 51 Oben II.2. 52 S. nur Olzen in Staudinger (Fn. 29), § 241 BGB Rz. 133; Löwisch in Staudinger, BGB, §§ 255–304, Neub. 2004, § 276 BGB Rz. 8; Kramer in MünchKomm.BGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2007, Einl. §§ 241 ff. BGB Rz. 52. 53 BVerfGE 50, 205, 214; 80, 82, 87.

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbes. am Beispiel des § 28 WpHG

sie im Gegensatz zu reinen Präventionsmaßnahmen – wenn nicht ausschließlich, so doch auch – auf Repression und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielen54 oder, diese Extension lässt sich jüngeren Judikaten55 entnehmen, in tatsächlicher Hinsicht einer solchen Sanktion gleichkommen. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die in Rede stehende Vorschrift dem Art. 103 Abs. 2 GG unterfällt56. Dass die fraglichen Rechtsverlusttatbestände als strafähnliche Sanktion im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur einzustufen sind57, bleibt trotz deren Zuordnung zum Zivilrecht unbenommen. Soweit das verfassungsrechtliche Schrifttum zivilrechtlichen Sanktionen für den Regelfall einen strafrechtsähnlichen Charakter abspricht, hält es doch eine gegenteilige Beurteilung dann für möglich, wenn die zivilrechtliche Sanktion auch repressiv wirken soll58. Beim Rechtsverlust ist dies der Fall, weil er auch Vergeltung für den erfolgten Meldeverstoß bezweckt, nicht nur die Verhinderung künftiger Verstöße. Das manifestiert sich insbesondere darin, dass der Rechtsverlust ein Dauerdelikt bildet und bis zur Nachholung der richtigen Meldung fortbesteht. Nachdem das Risikobegrenzungsgesetz in § 28 Satz 1 WpHG nunmehr sogar einen nachwirkenden Rechtsverlust eingeführt hat, sollten sich diesbezügliche Zweifel an der Strafähnlichkeit der Rechtsverlustsanktion endgültig erledigt haben. Nach alledem ist ein Verschuldenserfordernis verfassungsrechtlich zwingend geboten59 und gegebenenfalls mittels einer verfassungskonformen Interpretation des § 28 Satz 1 WpHG – und ebenso der § 59 Satz 1 WpÜG, §§ 20 Abs. 7 Satz 1, 21 Abs. 4 Satz 2 AktG – zu implementieren.

V. Der zivilrechtliche Rechtscharakter des Vorsatzerfordernisses in Satz 2 Die vielleicht bemerkenswerteste Verwerfung im Recht des Rechtverlusts bildet die Diskussion, ob für § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG ein kapitalmarktrechtlicher statt des zivilrechtlichen Vorsatzbegriffs gilt.

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54 Grundlegend BVerfGE 20, 323, 331 ff. = NJW 1967, 195, 196. 55 S. BVerfGE 80, 109, 120 = NJW 1989, 2679, 2680; BVerfG, NJW 1992, 1952, 1953. Diese zu Art. 103 Abs. 2 GG entwickelte Gleichstellung muss auch gelten, soweit das Vorliegen einer lediglich strafähnlichen und damit nicht Art. 103 Abs. 2 GG unterfallenden Sanktion in Frage steht. 56 S. nur BVerfGE 80, 82, 89. 57 Ebenso Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 7; Schäfer in MarschBarner/Schäfer (Fn. 10), § 17 Rz. 46; s. auch Weber-Rey in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 39), § 23 Rz. 133; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 59 WpÜG Rz. 17; Tschauner in Geibel/Süßmann (Hrsg.), WpÜG, 2002, § 59 WpÜG Rz. 67. 58 S. Degenhart in Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 103 GG Rz. 56 a. E. unter Hinweis auf die Reorientierung der Schmerzensgeldrechtsprechung in den Caroline v. Monaco-Fällen. 59 Ebenso Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 7; Schäfer in MarschBarner/Schäfer (Fn. 10), § 17 Rz. 46; Widder/Kocher, AG 2007, 13, 19; s. auch WeberRey in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 39), § 23 Rz. 133.

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1. Meinungsstand a) Kapitalmarktrechtlicher Vorsatzbegriff Der für § 28 Satz 2 WpHG60 und § 59 Satz 2 WpÜG61 verbreitet postulierte eigenständige kapitalmarktrechtliche Vorsatzbegriff entspricht in der Sache ganz dem strafrechtlichen Vorsatzbegriff62, auch wenn ihn seine Befürworter in rechtstechnischer Hinsicht zwischen dem strafrechtlichen und dem zivilrechtlichen Vorsatzbegriff verorten63. Zur rechtsdogmatischen Begründung wird zum einen angeführt, dass es sich bei § 28 WpHG um eine kapitalmarktrechtliche Vorschrift handele und also auch der Vorsatzbegriff kapitalmarktrechtlich zu bestimmen sei64. Zum anderen wird geltend gemacht, dass der Sanktion „Rechtsverlust“ Strafcharakter zukomme und daher eine Parallele zum strafrechtlichen Vorsatzbegriff nahe liege65. In der Sache geht es den Protagonisten eines kapitalmarktrechtlichen Vorsatzbegriffs vor allem auch darum, den Weg für eine eigenständige kapitalmarktrechtliche Behandlung des Verbots- bzw. Rechtsirrtums zu eröffnen. Nach kapitalmarktrechtlichen Regeln solle nur die objektiv unvermeidbare Unkenntnis vom Bestehen der die Mitteilungspflicht begründenden Norm den Vorsatz entfallen lassen66. Damit könne sich insbesondere auch der häufig apostrophierte „typische ausländische Aktionär“ in aller Regel nicht auf einen Verbotsirrtum berufen, weil die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten heute zum internationalen Standard gehörten67. Besondere Strenge habe bei einem Irrtum über die Auslegung der Beteiligungstransparenzvorschriften zu walten. Eine Auskunft der BaFin mache den Irrtum ebenso wenig unvermeidbar wie die Einholung von Rechtsrat bei einem im Kapitalmarktrecht unerfahrenen Anwalt oder gar einer Investmentbank68. Ein unvermeidbarer Rechtsirrtum

__________ 60 Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 63; Schneider/Schneider, ZIP 2006, 493, 499 f.; Weber-Rey in Habersack/Mülbert/Schlitt (Fn. 39), § 23 Rz. 130; i. E. auch Krieger in MünchHdb.AG (Fn. 50), § 68 Rz. 163 i. V. m. Rz. 137. 61 Schneider in Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 50 f.; Tschauner in Geibel/Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 67; ohne Begründung ferner Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 59 WpÜG Rz. 21; Hommelhoff/Witt (Fn. 14), § 59 WpÜG Rz. 40; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 57. 62 Schwark in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 28 WpHG Rz. 13; s. auch Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 59 WpÜG Rz. 21; Tschauner in Geibel/Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 67. 63 Instruktiv dazu Schneider/Schneider, ZIP 2006, 493, 499 f. 64 Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 63. 65 Tschauner in Geibel/Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 67. 66 Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 66; Tschauner in Geibel/ Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 69; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 59. 67 Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 66; ders. in Assmann/ Pötzsch/Schneider (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 53. 68 Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 67; ders. in Assmann/ Pötzsch/Schneider (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 54.

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könne allenfalls vorliegen, wenn die meldepflichtige Person von einem fachkundigen Rechtsanwalt dahin gehend beraten wurde, dass in der konkreten Sachverhaltskonstellation keine Mitteilungspflicht bestehe69. b) Zivilrechtlicher Vorsatzbegriff Die Gegenposition interpretiert den Vorsatzbegriff in § 28 Satz 2 WpHG70 und § 59 Satz 2 WpÜG71 nach zivilrechtlichen Regeln, so dass im Falle eines Rechtsirrtums kein vorsätzliches Handeln vorliegt72. 2. Die Vorzugswürdigkeit des zivilrechtlichen Vorsatzbegriffs Die zivilrechtliche Einordnung des Vorsatzmerkmals in § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG erscheint bei näherem Zusehen unabweisbar. Die aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel erfolgende Qualifizierung als strafähnlich, das sei hierzu vorab klargestellt, hat nicht etwa zur Folge, dass aus Gründen des Verfassungsrechts strafrechtliche Maßstäbe zur Anwendung kommen müssten73. Die zu § 28 Satz 2 WpHG entwickelte Grundposition, dass diese Vorschrift als eine kapitalmarktrechtliche auch kapitalmarktrechtlich auszulegen sei, ist eine schlichte petitio principii leerformelhaften Zuschnitts. Niemand kommt etwa auf die Idee, die Bußgeldvorschrift des § 39 WpHG kapitalmarktrechtlich statt ordnungswidrigkeitsrechtlich auszulegen oder die Haftungstatbestände der §§ 37b, 37c WpHG und der §§ 44 ff. BörsG als eigenständige kapitalmarktrechtliche statt als zivilrechtliche Haftungstatbestände zu qualifizieren. In der Sache liegt dem die erwähnte Erkenntnis zugrunde, dass das Kapitalmarktrecht nicht selbständig neben den drei Gebieten Privat-, Straf- und Öffentliches Recht steht, sondern Vorschriften dieser drei Rechtsgebiete mit spezifischem Bezug zur Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts in sich aufnimmt74. Selbst die Verfechter eines kapitalmarktrechtlichen Vorsatzbegriffs beschränken ihre These denn auch auf den Vorsatzbegriff des jeweiligen Satzes 2 von

__________ 69 S. etwa Schneider/Schneider, ZIP 2006, 493, 500; Tschauner in Geibel/Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 69; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 59. 70 Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 56 (freilich in gewissem Widerspruch zu Rz. 10); Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2) § 28 WpHG Rz. 80; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 6; Riegger (Fn. 39), S. 1337 f. 71 Hecker in Baums/Thoma (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 125. 72 Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 80; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 6; Hecker in Baums/ Thoma (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 125; Riegger (Fn. 39), S. 1337 f. 73 S. BVerfGE 80, 82, 87 f.: strafähnlicher Charakter des § 890 ZPO zwingt Zivilgerichte nicht dazu, bei dessen Anwendung die strafprozessualen Beweisanforderungen zugrunde zu legen. Es bleibt dabei, dass es sich um die Durchsetzung privatrechtlicher Verpflichtungen in einem Verfahren zwischen privaten Parteien handelt. 74 Oben II.1.

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§ 28 WpHG und § 59 WpÜG und lassen, was den Verlust der sonstigen Rechte nach dem jeweiligen Satz 1 angeht, den hierbei maßgeblichen Verschuldensmaßstab des § 276 BGB unberührt75. Damit verkehren sie für den Fall eines Rechtsirrtums die vom Gesetzgeber mit dem jeweiligen Satz 2 gewollte Privilegierung der Vermögensansprüche freilich geradezu ins Gegenteil. Unterliegt der Meldepflichtige einem Rechtsirrtum, entfällt nämlich ein Rechtsverlust nach Satz 1 nur bei fehlender Fahrlässigkeit und nach Satz 2 nur bei Unvermeidbarkeit des Irrtums und (!) heilender Nachholung der zutreffenden Mitteilung. In systematischer Hinsicht gilt es sodann zu beachten, dass die §§ 20, 21 AktG seit jeher einen Rechtsverlust für alle Rechte aus einer Aktie vorsahen und dass das 3. Finanzmarktförderungsgesetz die aktien- und wertpapierhandelsrechtlichen Vorschriften zu den Beteiligungsmeldevorschriften harmonisierend abglich. Für die §§ 20 Abs. 7 Satz 2, 21 Abs. 4 Satz 2 AktG hat die These vom kapitalmarktrechtlichen Vorsatz bislang naturgemäß keine Resonanz gefunden, so dass insbesondere ein Verlust von Dividenden- und Liquidationsanspruch nicht schon bei einem fahrlässigen Rechtsirrtum eintritt76. Angesichts ihrer bewussten Angleichung durch das 3. Finanzmarktförderungsgesetz sind die §§ 20 Abs. 7 Satz 2, 21 Abs. 4 Satz 2 AktG und § 28 Satz 2 WpHG jedoch möglichst einheitlich auszulegen, auch wenn die §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 Satz 2 AktG einerseits und § 28 WpHG andererseits im regelungstechnischen Detail noch immer divergieren. Durchschlagende Einwände gegen die These vom spezifisch kapitalmarktrechtlichen Vorsatzbegriff knüpfen sich schließlich an die erwähnte Erkenntnis, dass keine inhaltlichen Unterschiede zwischen dem kapitalmarktrechtlichen und dem strafrechtlichen Vorsatzbegriff bestehen. Wenn gleichwohl ein eigenständiger Vorsatzbegriff propagiert wird, ist dies bei genauerem Zusehen lediglich dem Umstand geschuldet, dass andernfalls nicht einmal der unvermeidbare Verbotsirrtum den Vorsatz ausschlösse und also im Unterschied zum Strafrecht (fehlende Schuld, s. § 17 Satz 1 StGB) gänzlich unbeachtlich wäre77. In der Sache impliziert dies eine sich grundsätzlich am Strafrecht orientierende Handhabung von § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG, die insbesondere auch in der analogen Anwendung des § 17 Satz 1 StGB bei

__________ 75 S. Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 20 f.; Noack in Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 10), § 59 WpÜG Rz. 4; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen (Fn. 14), § 59 WpÜG Rz. 17; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 16; a. A. – auch für § 59 Satz 1 WpÜG – aber Tschauner in Geibel/ Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 20. 76 S. Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 49, 83; wohl auch Emmerich in Emmerich/Habersack (Fn. 27), § 20 AktG Rz. 46 (kein Rechtsverlust bei entschuldbarer Unkenntnis von der Mitteilungspflicht), Rz. 57 (bei Rechtsirrtum allenfalls fahrlässiger Verstoß), aber auch Rz. 55 (zum Vorsatz gehört auch die Kenntnis von der Mitteilungspflicht, so dass ein unvermeidbarer (!) Rechtsirrtum ausnahmsweise entschuldigt); a. A. nur Krieger in MünchHdb.AG (Fn. 50), § 68 Rz. 137 (mit unberechtigten Effektivitätsbedenken). 77 S. etwa Schneider/Schneider, ZIP 2006, 493, 499.

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Rechtsirrtümern78 sowie der fehlenden Inbezugnahme des § 278 BGB als Zurechnungsnorm ihren Ausdruck findet. Dem Gesetzgeber ist eine straf- bzw. ordnungswidrigkeitsrechtliche Einordnung allerdings fremd. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum 3. Finanzmarktförderungsgesetz forderte der Bundesrat eine Erweiterung des § 28 Satz 2 WpHG um die grobe Fahrlässigkeit79. Die Bundesregierung wendete sich hiergegen nicht etwa deswegen, weil diese Rechtsfolge systemwidrig wäre, sondern verwies (nur) auf deren überzogene Härte80. Im vorliegenden Zusammenhang ist dies insofern von zentraler Bedeutung, als dem Strafrecht der Begriff der groben Fahrlässigkeit bekanntlich fremd ist und stattdessen der auch in § 39 WpHG enthaltene Begriff der Leichtfertigkeit Verwendung findet. Ist die grobe Fahrlässigkeit aber ein zivilrechtliches Konzept, das nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch bei § 28 WpHG zur Anwendung kommt, verbietet es sich, mit dem Kunstgriff der Kreierung eines kapitalmarktrechtlichen Vorsatzbegriffs den § 28 WpHG in der Sache nach strafrechtlichen Kategorien zu behandeln. Zudem eröffnet allein die zivilrechtliche Zuordnung den Zugriff auf die erforderlichen Zurechnungsnormen. Das betrifft zunächst alle Meldepflichtigen in der Rechtsform einer juristischen Person oder einer sonstigen rechtsfähigen Entität. Das Merkmal eines vorsätzlichen Rechtsverlusts in § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG erfordert eine Zurechnung des Verhaltens und insbesondere des Vorsatzes von Organmitgliedern an den Meldepflichtigen. Hierbei geht es um eine zivilrechtliche Zurechnungskonzeption, für die § 31 BGB analog zur Verfügung steht. Bei einer strafrechtsnahen Vorsatzkonzeption müsste eine Zurechnung hingegen unterbleiben, weil das Straf- und Ordnungswidrigkeitsrecht eine solche (Vorsatz-)Verhaltenszurechnung gar nicht kennt und folgerichtig auch keine passende Zurechnungsnorm bereit hält. Insbesondere wäre auch der Rechtsgedanke des § 30 OWiG insoweit unbehelflich81. § 30 OWiG setzt nämlich voraus, dass eine Person in Gestalt eines Organmitglieds selbst eine so genannte Anknüpfungstat begangen hat. Zum andern löst sich hiermit das potentiell für alle Meldepflichtigen unabhängig von ihrer Rechtsform bestehende Problem, das Verhalten interner Mitarbeiter (z. B. Rechtsabteilung) und externer Berater wie etwa Anwälten, Investmentbanken etc. sachgerecht zu erfassen. Bei einer strikt zivilrechtlichen Konzeption von § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG beantwortet sich

__________ 78 Z. B. Tschauner in Geibel/Süßmann (Fn. 57), § 59 WpÜG Rz. 69; Schlitt in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 59 WpÜG Rz. 59. 79 Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 1), S. 168. 80 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 1), S. 183. 81 A. A. insoweit Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 10. Dass er wegen des Strafcharakters des § 28 WpHG umgekehrt Bedenken gegen eine Zurechnung analog § 31 BGB hegt, passt im Übrigen nicht recht zu seinem zivilrechtlichen Verständnis des Vorsatzbegriffs.

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die Zurechnungsfrage zwanglos nach § 278 BGB82. Bei einer strafrechtsnahen Konzeption verbietet sich diese Zurechnung hingegen83, so dass sich die Vertreter des kapitalmarktrechtlichen Vorsatzbegriffs damit behelfen (müssen), strenge Anforderungen an den Vorsatz und einen diesen ausschließenden unvermeidbaren Verbotsirrtum zu postulieren. 3. Folgefragen a) Kein Vorsatz kraft einer Wissenszurechnung nach § 166 BGB Schaltet der Meldepflichtige einen Externen, typischerweise einen Anwalt, im Rahmen der Beteiligungsmeldepflichten ein (§§ 21 ff. WpHG, §§ 20, 21 AktG), steht bei der Abgabe einer Beteiligungsmitteilung als einer rechtsgeschäftsähnlichen Handlung84 eine Wissenszurechnung gemäß § 166 BGB im Raum85. Bei unbefangener Heranziehung dieser Norm86 wäre freilich die nebensächliche Zufälligkeit ergebnisrelevant, ob der Anwalt nur beratend tätig war und hierbei die Mitteilung im Einzelnen formulierte oder ob er es zudem übernimmt, die dem Meldepflichtigen obliegende und mit diesem im Einzelnen abgestimmte Erklärung in dessen Namen abzugeben. Sachangemessen erscheint daher die Annahme, dass das Gesetz eine eigene Willensbildung des Meldepflichtigen betreffend die Stimmrechtsmitteilung fordert und der Anwalt diese als gebundener Vertreter i. S. d. § 166 Abs. 2 BGB oder als Bote abgibt. Im Übrigen wäre bei § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG ein vorsätzliches Verhalten selbst im Falle einer Zurechnung des Wissens eines Externen ausgeschlossen. Vorsatz erfordert nämlich Wissen und Wollen der rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichung87. Eine rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung kann jedoch nur derjenige wollen, der eigene und nicht lediglich zugerechnete Kenntnis vom betreffenden Rechtssatz hat – Kenntniszurechnung nach § 166 BGB kann also nicht den Vorwurf eines vorsätzlichen Verhaltens begründen88 – oder dem auch der Vorsatz eines Dritten zugerechnet wird. Letzteres bleibt jedoch der Anwendung des § 278 BGB vorbehalten.

__________ 82 Folgerichtig daher Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 82. Näher dazu unter V.3.b). 83 Vgl. auch BVerfGE 27, 231, 236. 84 S. etwa Windbichler in Großkomm.AktG (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 9; Veil in Karsten Schmidt/Lutter (Fn. 8), § 20 AktG Rz. 8. 85 Zur unstreitigen Anwendung des § 166 BGB auch auf rechtsgeschäftsähnliche Erklärungen s. nur Schilken in Staudinger, BGB, §§ 164–240, Neub. 2004, § 166 BGB Rz. 10 m. w. N. 86 S. nur Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 8 (zu § 20 AktG). 87 Statt aller Heinrichs in Palandt, BGB, 67. Aufl. 2008, § 276 BGB Rz. 10; Löwisch in Staudinger (Fn. 52), § 276 BGB Rz. 24; Stadler in Jauernig, BGB, 12. Aufl. 2007, § 276 BGB Rz. 15. 88 S. nur Schilken in Staudinger (Fn. 85), § 166 BGB Rz. 8 (nicht einschlägig ist die dort zitierte abweichende Judikatur des BGH, da sie lediglich die Wissenszurechnung innerhalb von Organisation betrifft).

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbes. am Beispiel des § 28 WpHG

b) Vorsatz kraft Zurechnung nach §§ 31, 278 BGB Mit der Maßgeblichkeit des zivilrechtlichen Vorsatzbegriffes erfolgt auch bei § 28 Satz 2 WpHG und § 59 Satz 2 WpÜG eine Zurechnung des Verhaltens Dritter nach Maßgabe der §§ 31, 278 BGB. Dem Mitteilungspflichtigen ist also ein vorsätzliches Verhalten von Organmitgliedern sowie derjenigen Personen zuzurechnen, die der Mitteilungspflichtige zur Erfüllung seiner Obliegenheiten nach den Beteiligungsmeldevorschriften und dem Übernahmerecht einschaltet. Die Anwendbarkeit des § 278 BGB entfällt auch nicht deswegen, weil die Rechtsverlustvorschriften implizit eine zivilrechtliche Obliegenheit voraussetzen89. Wie § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB zeigt, kann § 278 BGB jedenfalls dem Grundsatz nach auch bei Obliegenheiten herangezogen werden. Seine Anwendung bei sonstigen Vorschriften wird im Schrifttum allerdings nur zurückhaltend bejaht und stößt vor allem im Versicherungsrecht verbreitet auf Ablehnung90. Vorliegend sind entsprechende Bedenken jedoch nicht angebracht. Wie dargelegt, implizieren § 28 WpHG und § 59 WpÜG jeweils eine zivilrechtliche Obliegenheit als Kehrseite der materiellen öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten aus § 21 Abs. 1, 1a WpHG und § 35 WpÜG91. Diese Vorschriften begründen gesetzliche Sonderverbindungen, in deren Rahmen auch § 278 BGB entsprechende Anwendung findet. Hiergegen spricht unter Wertungsaspekten umso weniger, als den Mitteilungsgeboten der §§ 20, 21 AktG teilweise sogar der Charakter einer echten Rechtspflicht zuerkannt92 und folgerichtig die Anwendbarkeit des § 278 BGB bejaht wird93. Im Rahmen des § 278 BGB ist selbst ein externer Anwalt dann als Erfüllungsgehilfe anzusehen, wenn und soweit er die dem Meldepflichtigen obliegende Mitteilung selbst erstellt94. Dass der Meldepflichtige gegebenenfalls zur Kontrolle und Überwachung des eingeschalteten Anwalts nicht in der Lage ist, hindert die Zurechnung nicht95. Die Auffassung, dass Fehler des professionellen Rechtsberaters nach dem Rechtsgedanken des § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB dem Mitteilungspflichtigen nicht zuzurechnen seien96, trägt im Anwendungsbereich des § 278 BGB nicht. Bei dieser Vorschrift richtet sich der jeweilige Umfang der Zurechnung vielmehr flexibel danach, welche Verpflichtung der Schuldner übernommen hat und ob er den Dritten gerade hierbei einschaltet.

__________ 89 Oben II.2. 90 Löwisch in Staudinger (Fn. 52), § 278 BGB Rz. 42 ff.; Kramer in MünchKomm.BGB (Fn. 52), Einl. §§ 241 ff. BGB Rz. 52; noch enger Heinrichs in Palandt (Fn. 87), § 278 BGB Rz. 24; zu Recht großzügiger etwa Grundmann in MünchKomm.BGB (Fn. 62), § 278 BGB Rz. 24. 91 Oben II.2. a. 92 Oben II.2. 93 Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 4), § 20 AktG Rz. 8. 94 Dazu, dass auch ein Rechtsanwalt als Erfüllungsgehilfe zu qualifizieren sein kann, s. nur BGHZ 58, 207, 211; ferner Löwisch in Staudinger (Fn. 52), § 278 BGB Rz. 97 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 95 Heinrichs in Palandt (Fn. 87), § 278 BGB Rz. 7; Löwisch in Staudinger (Fn. 52), § 278 BGB Rz. 25. 96 Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 7.

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c) Der Entlastungsbeweis Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Unvorsätzlichkeit des Pflichtverstoßes liegen nach der Formulierung des jeweiligen Satzes 2 von § 28 WpHG, § 59 WpÜG und § 20 Abs. 7 Satz 2 AktG beim anspruchstellenden Aktionär. Er hat das Fehlen von Vorsatz als eine innere Tatsache zu beweisen. Das gilt auch dann, wenn er den ihn selbst treffenden Mitteilungs- und sonstigen Verhaltensgeboten nachgekommen ist. Was die Anforderungen an den Negativbeweis der Unvorsätzlichkeit als innerer Tatsache anbelangt, lassen sich die zu § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB entwickelten Grundsätze über den Entlastungsbeweis des Schuldners für sein fehlendes Verschulden heranziehen. Hiernach gilt, dass an den Entlastungsbeweis des Schuldners keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Erforderlich, aber auch ausreichend ist im Allgemeinen die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (nicht der bloßen Möglichkeit), dass die Pflichtverletzung nicht auf einem Verschulden des Schuldners oder seines Erfüllungsgehilfen beruht97. Für den Rechtsverlust nach Satz 2 verlangt dies die Darlegung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass das tatbestandlich relevante Unterlassen98 der Mitteilung nicht vorsätzlich erfolgte.

VI. Immanente Grenzen des Rechtsverlusts nach § 28 WpHG 1. Irrelevanz eines Rechtsverlusts Bei einigen Mitteilungsfehlern geht ein Rechtsverlust naturgemäß ins Leere und ist daher keine sachgerechte Sanktion. Dies betrifft zunächst die unterlassene Mitteilung für den Fall, dass der Meldepflichtige seine Beteiligung unter Unterschreitung mindestens eines Schwellenwerts vollständig aufgibt99. Ebenso liegt es, wenn eine Person unzutreffend den Erwerb eines schwellenwertrelevanten Stimmrechtsanteils mitteilt, obwohl sie gar keine Beteiligung innehat. Funktional folgt dies daraus, dass der vorgeblich Meldepflichtige keine Aktien hält und also die Anordnung eines Rechtsverlusts ihm gegenüber ohne Wirkung bleiben müsste. Formal ist dies daran festzumachen, dass es an der für § 28 WpHG erforderlichen Nichterfüllung einer Mitteilungspflicht aus § 21 Abs. 1 WpHG fehlt. Der Urheber der unzutreffenden Mitteilung hielt nämlich gerade keinen mitteilungspflichtigen Stimmrechtsanteil und unterlag also gerade keiner Mitteilungspflicht. Im Falle von „Kleinstbeteiligungen“ unterhalb des Mindestschwellenwerts von drei bzw. fünf Prozent soll freilich anderes gelten. Unterlässt der Meldepflichtige die Mitteilung vom Unterschreiten mindestens einer Meldeschwelle und verbleibt ihm eine „Kleinstbeteiligung“, soll diese dem Rechtsverlust nach

__________ 97 S. nur Stadler in Jauernig (Fn. 87), § 280 BGB Rz. 25. 98 Dazu oben III.2. 99 Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 5.

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbes. am Beispiel des § 28 WpHG

§ 28 WpHG unterliegen100. Für den formal komplementären Fall, dass eine Person eine Beteiligungsmitteilung nach § 21 Abs. 1 WpHG macht, obwohl der erworbene Stimmrechtsanteil unter der Mindestmeldeschwelle liegt, sprechen allerdings wiederum die schon erwähnten Gründe gegen das Eingreifen der Rechtsverlustsanktion. Es fehlt im Sinne des § 28 WpHG daran, dass der Urheber der unzutreffenden Mitteilung eine Mitteilungspflicht nach § 21 Abs. 1 WpHG nicht erfüllte. Mangels Innehabung eines mitteilungspflichtigen Stimmrechtsanteils trifft diesen nämlich gerade keine Mitteilungspflicht. 2. Beendigung des Rechtsverlusts a) Grundregeln Die Beendigung eines Rechtsverlusts nach § 28 WpHG hat regelmäßig Wirkung allein für die Zukunft. Nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 28 Satz 2 WpHG – fehlender Vorsatz und heilende Nachholung der gebotenen Mitteilung – entfällt der vorläufige Verlust von Dividenden- und Liquidationsanspruch mit ex tunc-Rückwirkung. Zur ex nunc-Beendigung des Rechtsverlusts kommt es vor allem aufgrund der folgenden drei Vorgänge: – wenn der Mitteilungspflicht ordnungsgemäß genügt101, also die gebotene Mitteilung nachgeholt wird, wobei aber die kraft einer teleologischen Reduktion des § 28 WpHG ohnehin unerheblichen formalen und inhaltlichen Mängel nicht schaden, – wenn eine spätere Beteiligungsveränderung eine neue Mitteilung erforderlich macht und dieser neuen Mitteilungspflicht nunmehr ordnungsgemäß genügt wird102, wobei wiederum die kraft einer teleologischen Reduktion des § 28 WpHG ohnehin unerheblichen formalen und inhaltlichen Mängel nicht schaden, – wenn die Aktien veräußert werden, da ein rechtsgeschäftlicher Rechtsnachfolger dem Rechtsverlust nicht unterliegt103. Die im Risikobegrenzungsgesetz eingeführte Neuerung, dass ein mindestens grobfahrlässiger Meldeverstoß einen nachwirkenden Rechtsverlust zur Folge hat (§ 28 Satz 3 WpHG), stellt die zweite Möglichkeit einer ex nunc-Beendigung nicht grundsätzlich in Frage und lässt die dritte völlig unberührt. Was die

__________

100 Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 37, 39. 101 S. nur Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 27; Opitz in Schäfer/ Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 39. 102 Kremer/Oesterhaus in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 73. Das muss erst recht annehmen, wer ein Ende des Rechtsverlusts bei mehreren unterlassenen Mitteilungen mit der bloßen Nachholung der letzten Mitteilung eintreten lässt. So etwa Schneider/Schneider, ZIP 2006, 493, 496; a. A. Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 41; Riegger (Fn. 39), S. 1339. 103 S. nur OLG Stuttgart, AG 2005, 125, 127; Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 28 WpHG Rz. 70; Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 31), § 28 WpHG Rz. 39; Nolte in Bürgers/Körber (Fn. 33), § 22 AktG Anh § 28 WpHG Rz. 3.

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Peter O. Mülbert

Abgabe einer zutreffenden neuen Meldung betrifft, führt dies weiterhin zur Beendigung des Rechtsverlusts mit ex nunc-Wirkung; war der ursprüngliche Mitteilungsverstoß mindestens grobfahrlässig erfolgt, entfällt der Rechtsverlust freilich erst sechs Monate nach der gebotenen neuen Mitteilung. Für den Fall der rechtsgeschäftlichen Veräußerung muss dagegen weiterhin gelten, dass der rechtsgeschäftliche Rechtsnachfolger keinem Rechtsverlust unterliegt, und zwar auch nicht bei einer Veräußerung während der sechsmonatigen Nachwirkungsfrist. Was letzteren Fall im Besonderen betrifft, lässt sich dieser nicht strenger behandeln als der Fall einer Veräußerung ohne vorherige Nachholung der gebotenen korrekten Meldung. Und im Grundsätzlichen gilt weiterhin, dass durch die Erstreckung des Rechtsverlusts auch auf den rechtsgeschäftlichen Rechtsnachfolger mit verfassungsrechtlich bedenklicher Intensität in die Verkehrsfähigkeit und damit die Substanz der Mitgliedschaft eingegriffen würde104. b) Keine Erstreckung auf späteren Neuerwerb des Meldepflichtigen Hat der Mitteilungspflichtige seine Beteiligung vollständig veräußert und baut er später erneut eine Beteiligung auf, gilt als Konsequenz vorstehender Regeln auch weiterhin, dass ein vormals eingetretener Rechtsverlust sich nicht auf die neu erworbene Beteiligung erstreckt. Anders gewendet hat sich der Rechtsverlust als Sanktion mit der vollständigen Anteilsveräußerung erledigt, setzt sich also nicht etwa an einem neuerlich erworbenen Anteil fort. Der Standardkommentarliteratur scheint dies derart selbstverständlich zu sein, dass sie diese Konstellation, soweit ersichtlich, nicht einmal beiläufig erwähnt. Eine Ausnahme von dieser Regel ist weder für die Wertpapierleihe und das echte Pensionsgeschäft (Repogeschäft) noch gar für die Kettenleihe und das Kettenpensionsgeschäft veranlasst. Freilich ist für die Wertpapierleihe und das echte Pensionsgeschäft der Fall abzuschichten, dass dem Wertpapierdarlehensgeber/Pensionsgeber die Stimmrechtsanteile nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG weiterhin zugerechnet werden105. In dieser Konstellation fehlt es nämlich an einer Vollveräußerung, so dass es gegebenenfalls beim Rechtsverlust bewendet. Entfällt aufgrund der Wertpapierleihe bzw. des Pensionsgeschäfts die Zurechnung an den Darlehensgeber/Pensionsgeber und kommt es zum Wieder- bzw. Rückerwerb der verliehenen oder in Pension gegebenen Aktien, wirkt sich der früher eingetretene Rechtsverlust bei diesen nicht aus; die auch nur zeitweilige vollständige Aufgabe bzw. Nichtzurechenbarkeit der Beteiligung bewirkt bezüglich des Rechtsverlusts eine Art Unterbrechung des Rechtswidrigkeits-

__________ 104 Zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben für zulässige gesetzgeberische „Eingriffe“ in die Mitgliedschaft ausführlich Mülbert/Leuschner, ZHR 170 (2006), 615 ff. 105 Hierzu etwa BaFin, Jahresbericht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht 2004, S. 205 f.; Schneider in Assmann/Schneider (Fn. 2), § 22 WpHG Rz. 71 f. (Wertpapierleihe), 73 (Pensionsgeschäft); v. Bülow in KölnKomm.WpHG (Fn. 2), § 22 WpHG Rz. 80 (Pensionsgeschäft), 84 f. (Wertpapierleihe).

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Das Recht des Rechtsverlusts – insbes. am Beispiel des § 28 WpHG

zusammenhangs. Die rechtsdogmatische Begründung hierfür ist darin zu sehen, dass der Wertpapierdarlehensnehmer/Pensionsnehmer seine „Rückgewährpflicht“ mit beliebigen Stücken der betroffenen Wertpapiergattung, also auch anderen als den ursprünglich hingegebenen, erfüllen kann. Unter Wertungsgesichtspunkten erklärt sich diese Unterbrechung daraus, dass der Rechtsverlust nach § 28 WpHG nur die dem Meldepflichtigen zuzurechnenden Aktien erfasst und dass ein Fortwirken des Rechtsverlusts beim Wiedererwerb die in § 22 WpHG vorgegebenen Grenzen einer Stimmrechtszurechnung in der Zeit unterliefe. Für den Fall der Kettenwertpapierleihe und des Kettenpensionsgeschäfts gelten diese Überlegungen zur Unterbrechungswirkung einer vollständigen Veräußerung bzw. Nichtzurechenbarkeit der Beteiligung naturgemäß erst recht.

VII. Schlussbemerkungen Im überwältigenden Schrifttum des Jubilars gehört der Rechtsverlust eines Aktionärs wegen Verletzung von Mitteilungs- oder sonstigen Pflichten zu den ebenso seltenen wie winzigen weißen Flecken. Dabei leidet diese Rechtsfigur in besonderem Maße darunter, unter unmittelbarem Rückgriff auf individuelle Partikularinteressen und allgemeine rechtspolitische Überzeugungen instrumentalisiert zu werden. Erleichtert oder gar befördert wird dies durch fehlende Klarheit über die rechtsdogmatischen Grundlagen dieser Rechtsfigur. Der Jubilar erscheint daher in besonderem Maße berufen, diesen weißen Flecken in seinem Werk zu tilgen. Denn er betreibt tiefschürfende rechtsdogmatische Grundlagenarbeit nie als Selbstzweck, sondern stets im Dienste eines hellwachen rechtspolitischen Interesses. Eine Untersuchung der Rechtsfigur „Rechtsverlust“ durch den Jubilar verspräche daher einen reichen und, wie stets, eminent lesbaren Ertrag. In diesem Sinne hoffen die vorstehenden Überlegungen, den Jubilar zu einer der für ihn charakteristischen Grundlagenuntersuchungen anregen zu können.

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Martin Peltzer*

Unternehmerische Mitbestimmung und gute Corporate Governance: Führt die Unvereinbarkeit zur Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers? Inhaltsübersicht I. Einleitung: Verhaltenssteuerung am Beispiel der §§ 113 und 114 AktG II. Die Verhaltenssteuerung durch das Mitbestimmungsgesetz 1. Gefahrensituation durch das Mitbestimmungsgesetz 2. Die Weisung des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber, das Mitbestimmungsgesetz u. U. nachzubessern 3. Allgemein: Anforderungen an Gesetze 4. Die Fehlsteuerung des Verhaltens durch das Zusammenspiel zwischen betrieblicher und Unternehmensmitbestimmung a) Fallkonstellationen der gegenseitigen Begünstigung b) Anwendung dieser Fallkonstellation bei der Mitbestimmung 5. Das Hochschnellen der Bezüge des Managements 6. Das Beispiel Mannesmann a) Die Rolle des Arbeitnehmervertreters im Personalausschuss bei der Prämiengewährung b) Die Zwiespältigkeit der Rolle des Arbeitnehmervertreters 7. Das Beispiel Volkswagen

8. Ein drittes Beispiel a) Erster Akt b) Zweiter Akt c) Die Instrumentalisierung der Arbeitnehmerseite 9. Weitere Fälle III. Das Aufsichtssystem wird geschwächt, die Entscheidungen werden verlangsamt 1. Zusammenspiel zwischen Vorstand und Arbeitnehmerbank 2. Die Beteiligten stehen sich im Dreieck gegenüber IV. Teamgeist und Diskussionskultur fehlen im mitbestimmten Aufsichtsrat 1. Der Aufsichtsrat besteht aus zwei separaten Hälften; die Qualifikation der Aufsichtsratmitglieder a) Welches Anforderungsprofil muss ein Aufsichtsratmitglied erfüllen? b) Gemeinsame Beurteilung des Vorstandes unmöglich c) Das Bänke-System V. Die Übergröße der mitbestimmten Aufsichtsräte 1. Aufsichtsräte mit 20 oder 16 Aufsichtsratmitgliedern sind zu groß 2. Vor- und Nachteile der Bildung von Ausschüssen

__________ * Der Autor ist oder war Praktiker der betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung. Er war vor 1976 Vorstand in zwei börsennotierten Publikumsgesellschaften, davon 5 Jahre in einem Unternehmen mit zunächst 10.000 und später 14.000 Beschäftigten, wobei das Personalressort zu seinem Verantwortungsbereich gehörte (betriebliche Mitbestimmung). Überdies war er zwischen 1962 und 2004 Mitglied in über 20 Aufsichtsräten und Beiräten. Von diesen Gremien waren 7 Aufsichtsräte, die dem MitBestG 76 unterlagen. In 4 dieser Aufsichtsräte war er Vorsitzender (unternehmerische Mitbestimmung) (Einzelheiten: www.martinpeltzer.de).

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Martin Peltzer 3. Der Fraktionszwang, die „BänkeBildung“ versus der unabhängigen Amtsausübung des Aufsichtsratmitgliedes a) Die Amtsausübung nach Aktiengesetz b) Die Amtsausübung im Rahmen der Mitbestimmung c) Der Januskopf der Bänke-Bildung VI. Die bisherigen Versuche, die Auswirkungen der Mitbestimmung zu evaluieren 1. Keinerlei einheitliche Ergebnisse der bisherigen Versuche

2. Methodische Schwierigkeiten der Evaluierung 3. Einziger Ausweg: Zerlegung der Kausalketten 4. Weitere Untersuchungen notwendig VII. Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers 1. Verfehlte Prognose 2. Die veränderten Umstände 3. Vermeidbare Prognosefehler

I. Einleitung: Verhaltenssteuerung am Beispiel der §§ 113 und 114 AktG Der Mensch ist schwach und korrumpierbar. Das ist eine anthropologische Konstante1. Auf diese Tatsache muss sich der Gesetzgeber bei seiner Arbeit einstellen. Der deutsche Gesetzgeber, unterstützt durch die Rechtsprechung, hat dies punktuell im Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft erkannt. Wäre der Vorstand in der Lage, mit einzelnen Aufsichtsratmitgliedern unkontrolliert und unbeschränkt lukrative Beratungsverträge abzuschließen, wäre für eine gegenseitige Korrumpierung Tür und Tor geöffnet: Denn das beauftragte Aufsichtsratmitglied stimmt ja mit, wenn es um die Verlängerung der Vorstandsbestellung geht und ist vielleicht auch Mitglied des Personalausschusses2. Der Gesetzgeber hat diese Gefahrensituation gesehen. Ein derartiger Beratungsvertrag darf nach dem System der §§ 113 und 114 AktG nur abgeschlossen werden, wenn er keine Gegenstände betrifft, die von den organschaftlichen Überwachungs- und Beratungspflichten des Aufsichtsrates umfasst werden – also ist praktisch alles, außer dem Tagesgeschäft ausgeschlossen –; zudem muss der gesamte Aufsichtsrat der Beauftragung in genauer Kenntnis des Beratungsgegenstandes und der dafür vorgesehenen detailliert bestimmten Vergütung zustimmen3. Einer noch besseren Corporate Governance wäre es dienlich, wenn derartige Beratungsverträge schlechthin verboten würden, denn es fehlt ja auf dem Beratungsmarkt nicht an Dienstleistern, die nicht dem betref-

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1 Vor knapp 2000 Jahren sagte Jesus im Garten Gethsemane zu seinen Jüngern, die er schlafend fand, obwohl die Häscher – und der Verräter Judas in ihrer Mitte – schon vor dem Gartentor standen: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallt. Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“. Aber die Jünger schliefen sofort wieder ein (Matthäus 26. 40 und 41). Seitdem hat sich nichts geändert. 2 BGH, ZIP 2006, 1529 (1531 li.Sp.); LG Stuttgart, ZIP 1998, 1275 (1280 re. Sp. cc). 3 BGH, ZIP 2007, 1056; BGH, ZIP 2007, 22 mit Bespr. Peltzer, ZIP 2007, 305 ff.; Kort, ZIP 2008, 717 (723 ff.).

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fenden Aufsichtsrat angehören und es soll ja gerade vermieden werden, dass der Vorstand denjenigen Vergütungen zukommen lässt, die ihn kontrollieren sollen4. Immerhin war der Gesetzgeber hier problembewusst und hat selbst – unterstützt durch die Rechtsprechung – Schranken eingebaut, um einem Misstand zu steuern5.

II. Die Verhaltenssteuerung durch das Mitbestimmungsgesetz 1. Gefahrensituation durch das Mitbestimmungsgesetz Derartige, durch die Schwäche der menschlichen Natur bedingten Gefahrensituationen werden auch durch das Mitbestimmungsgesetz 76 – vor allem auch durch das seitdem mögliche Zusammenspiel zwischen unternehmerischer und betrieblicher Mitbestimmung – hervorgerufen. Die Frage, ob der Gesetzgeber diese Möglichkeiten erkannt und wirksame Gegenmaßnahmen getroffen hat, ist Gegenstand dieses Beitrages. Vor allem soll dabei der Frage nachgegangen werden, ob die Fehler des Mitbestimmungsgesetzes die Effizienz der Überwachung des Vorstandes durch den Aufsichtsrat – und damit ein Kernstück guter Corporate Governance6 – wesentlich beeinträchtigen. Der Jubilar hat sich hierzu mehrfach geäußert7, so dass zu hoffen ist, dass dieser Beitrag sein Interesse findet. 2. Die Weisung des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber, das Mitbestimmungsgesetz u. U. nachzubessern Das Bundesverfassungsgericht8 hat bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des MitBestG 1976 gesehen, dass sich die Annahmen des Gesetzgebers, die dem Gesetz zugrunde lagen, durch die spätere Entwicklung als unrichtig oder dass sich die Prognosen als fehlerhaft erweisen könnten. In dem Urteil heißt es dazu: (S. 335): „Insgesamt hat der Gesetzgeber sich mithin an dem derzeitigen Stand der Erfahrungen und Einsichten orientiert. Wenn er sich auf dieser Grundlage für die Lösung des Mitbestimmungsgesetzes entschieden hat, so ist die damit verbundene Beurteilung der Auswirkungen des Gesetzes als vertretbar anzusehen, mag sie sich später auch teilweise oder gänzlich als Irrtum erweisen, so dass der Gesetzgeber zur Korrektur verpflichtet ist (BVerfGE 25, 1 (13))“ und ähnlich auf Seiten 352 und 377/378.

3. Allgemein: Anforderungen an Gesetze Dieser Beitrag kann nicht näher auf die Kunst der Gesetzgebung eingehen. Immerhin dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass der Gesetzgeber die verhaltenssteuernde Wirkung von Gesetzen sorgfältig zu beachten hat und Gesetze

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BGH, ZIP 2007, 22; Peltzer, ZIP 2007, 305. BGH, ZIP 2007, 22 (23 li. Sp.). Kort, AG 2008, 137 li. Sp. U. a. in Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 479 bis 481. BVerfGE 50, 290 ff. vom 1.3.1979.

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vermeiden muss, die negatives – etwa Dritte ausbeutendes – Verhalten und Korrumpierung ermöglichen, erleichtern oder begünstigen9. Weiterhin ist der Gesetzgeber einer widerspruchsfreien Rechtsordnung verpflichtet und darf keine sich widersprechenden Gesetze erlassen; schließlich ist er – zumal in einer als „globalisiert“ bezeichneten Welt – verpflichtet, keine Gesetze zu erlassen, die zu einer wesentlichen Effizienzminderung der – im Wettbewerb mit ausländischen Gesellschaften stehenden – heimischen Wirtschaftsunternehmen führen. Die Mitbestimmung in ihrer heutigen Gestalt weist erhebliche Missstände auf, die teilweise vorhersehbar waren. Möglicherweise war allerdings nicht zu erkennen, wie sich das Einflusspotential der Arbeitnehmerseite durch das Zusammenspiel von betrieblicher Mitbestimmung und Unternehmensbestimmung – nicht zuletzt durch die weitgehende Personenidentität der Akteure beider Mitbestimmungsformen auf der Arbeitnehmerseite – verstärken würde10. Schließlich hat sich das wirtschaftliche und soziale Umfeld durch die Globalisierung, die Fortschritte in der Telekommunikation, die maßgeblich durch die Bilanzskandale in den USA verstärkte Corporate Governance Bewegung und das Internet grundlegend geändert. 4. Die Fehlsteuerung des Verhaltens durch das Zusammenspiel zwischen betrieblicher und Unternehmensmitbestimmung a) Fallkonstellationen der gegenseitigen Begünstigung Das eingangs gegebene Beispiel der Regelung der Beratungsverträge mit Aufsichtsratmitgliedern hat gezeigt, dass folgende Fallkonstellation regelmäßig zu Missbräuchen führt11. A (Aufsichtsrat oder Aufsichtsratmitglied) kann B (Vorstand oder Vorstandsmitglied) Vorteile verschaffen – ebenso wie umgekehrt B dem A – wobei der Vorteil, dem A oder B jeweils persönlich oder aber für seine Klientel zufließt. Die gewährten Vorteile gehen nicht etwa zu Lasten von A oder B persönlich, sondern hierfür hat C aufzukommen (die Gesellschaft und ihre Aktionäre, deren Residuum geschmälert wird), d. h. die dem jeweils Anderen Vorteile gewährenden A und B plündern dabei regelmäßig einen Dritten, nämlich C aus. b) Anwendung dieser Fallkonstellation bei der Mitbestimmung Genau diese Situation wird durch das Zusammenspiel von betrieblicher Mitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung herbeigeführt. Die betrieb-

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9 S. dazu Emmenegger, Gesetzgebungskunst, 2006, S. 169 ff. 10 Manfred Gentz in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2006/I, S. 33 ff. (S. 34 ff.). 11 Die Fälle, bei denen Beratungsverträge mit Aufsichtsratmitgliedern vor Gericht angegriffen wurden (durch den Insolvenzverwalter oder nach einem Mehrheitswechsel mit personeller Neubesetzung des Aufsichtsrates oder nachdem man sich mit dem Auftragnehmer entzweit hatte) haben meist dazu geführt, dass das Gericht feststellen musste, der Vertrag habe an Mängel gelitten und sei unwirksam. Peltzer, ZIP 2007, 305 ff.

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liche Mitbestimmung allein gibt demgegenüber den Vertretern der Arbeitnehmerschaft Mitbestimmungs-, Beratungs- und Informationsrechte, aber eben keinen – oder nur einen geringen Einfluss – auf diejenigen, die die geäußerten Wünsche letztlich erfüllen können, nämlich den Vorstand und dessen Mitglieder. Das ändert sich schlagartig, wenn zur betrieblichen Mitbestimmung die Unternehmensmitbestimmung nach dem MitbestG 76 hinzutritt12. Dann kann auf den Vorstand Druck ausgeübt werden und zwar auch angesichts des leichten Übergewichts der Anteileignerseite13. Die Vertreter beider Mitbestimmungsformen sind zu 85–90 % personenidentisch, d. h. ca. 85–90 % der unternehmensangehörigen Arbeitnehmeraufsichtsratsmitglieder sind zugleich Betriebsratsmitglieder14. Im Übrigen ist eine leise Andeutung von Seiten der Arbeitnehmerseite, dass man überlege, wie im Falle einer Wiederbestellung zu votieren sei, ausreichend um Druck auszuüben15. Also kommt es zum vorauseilenden Gehorsam, der sich im Übrigen der ganzen Hierarchie mitteilt, denn warum sollte man als Abteilungs- oder Werksleiter Wünsche des Betriebsrates zurückweisen, wenn die Arbeitnehmerseite die Angelegenheit unverzüglich in den Aufsichtsrat bringt, der Vorstand dann einknickt und man selbst der Blamierte ist16. Diese durch das Zusammenspiel von betrieblicher und Unternehmensmitbestimmung herbeigeführte Situation, dass Vorstand und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat sich gegenseitig Vorteile zukommen lassen und dies auch lassen können und mindestens die Arbeitnehmerseite darüber hinausgehendes Druckpotential hat, führt zu einer Reihe von Situationen, die mit guter Corporate Governance, mit Anstand und Moral völlig unvereinbar sind17; dabei dürfte es inzwischen Gemeingut sein, dass Unternehmensführung und das ganze System einer freien und sozial bewussten Marktwirtschaft werte-orientiert sein muss18. 5. Das Hochschnellen der Bezüge des Managements Um ihre Ziele zu erreichen, muss die Arbeitnehmerseite den Vorstand gewogen stimmen (genau wie umgekehrt auch). Die Bezüge der Vorstandmitglieder – insbesondere diejenigen der DAX-30-Gesellschaften – sind in den letzten 10 Jahren deutlich – um ein Mehrfaches – stärker angestiegen, als die Bezüge der

__________ 12 Was regelmäßig der Fall ist, denn es dürfte kein Unternehmen in Deutschland geben, das dem MitBestG 76 unterliegt und das keinen Betriebsrat hat. 13 §§ 29 Abs. 2 und 31 Abs. 4 MitBestG. 14 Oliver Stettes, Unternehmensmitbestimmung in Deutschland, Vorteil oder Ballast, Institute for Law and Finance, Working Paper Series No. 64 07/2007, S. 5. 15 Raabe in Mitbestimmung 2005, 38 (42 li. Sp. unten). 16 Aus der Praxis hierzu Manfred Gentz, ehemaliges Vorstandsmitglied der Daimler AG in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2006/I, S. 33 ff. (36–39). 17 Vgl. dazu die Beispiele, die Klosterkemper in FS Wissmann, 2007, S. 456, 462 ff., bringt. 18 Peltzer in FS Huber, 2006, S. 885, 886 ff.

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anderen Leistungsträgergruppen, also etwa der Führungsschichten unter dem Vorstand19 – ohne dass sich erkennen lässt, dass sich der Beitrag zum Unternehmenserfolg zwischen den Führungsgruppen verschoben hätte. Die Begründung, der internationale Wettbewerb um die Spitzenführungskräfte gebiete dies, ist vorgeschoben20, denn die Erfahrung zeigt, dass der Markt für Spitzenführungskräfte im Wesentlichen national oder auf den deutschen Sprachraum begrenzt ist21. Die teilweise pharaonenhaften Bezüge werden auch bei wenig überzeugenden unternehmerischen Leistungen und auch dann gewährt, wenn gleichzeitig Mitarbeiter in großer Zahl entlassen werden. Das Hochschnellen der Vorstandsbezüge bei teilweise sehr schwachen Börsenkursen in den ersten Jahren des Jahrzehnts hat wohl mehr als irgendetwas anderes zur Verunsicherung der Anleger und deren Abkehr von der Börse beigetragen22. 6. Das Beispiel Mannesmann a) Die Rolle des Arbeitnehmervertreters im Personalausschuss bei der Prämiengewährung Der Mannesmann-Prozess23 behandelte einen Fall, bei dem der Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft, der zunächst eine erbitterte Gegenwehr gegen die Übernahme durch Vodafone organisiert hatte, sich später in das Unvermeidliche schickte und auf Vorschlag eines Großaktionärs, der durch die Kurssteigerung aufgrund des Übernahmekampfes sehr viel Geld verdient hatte, eine Anerkennungsprämie bekommen sollte; diese Anerkennungsprämie in Höhe von immerhin ca. 16 Mio. Euro wurde aber nicht von dem dankbaren Aktionär gezahlt, wie zunächst angenommen, sondern von der Gesellschaft selbst, die ja aus dem Strohfeuer ihrer Kurse keinerlei Nutzen gezogen hatte. Der Beschluss über die Gewährung der Prämie musste zuständigkeitshalber vom Personalausschuss (= „Präsidium“) des Aufsichtsrates gefasst werden, dem

__________ 19 Im Jahre 2005 verdiente ein deutsches Vorstandsmitglied 1,8 Mio. Euro, d. h. achtmal so viel wie 1976; demgegenüber verdreifachten sich die Durchschnittslöhne (nur) (Kienbaum Beratungsstudie, über die die FAZ am 22.7.2007, S. 44 berichtete); in den sechs Jahren von 1998–2004 stiegen die Vorstandsbezüge in den DAX-Gesellschaften um 108 % auf die erwähnten 1,8 Mio. Euro p. a. (Quelle Dr. Heinz Evers, Vortrag vor der 2. DAX/M-DAX-Konferenz für Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten Berlin, Oktober 2005); die Vorstandsvorsitzenden der deutschen DAX-Gesellschaften verdienten im Durchschnitt im Jahre 2007 4,86 Mio. Euro (Quelle Towers Perrin lt. FAZ vom 4.4.2008, S. 11). 20 Lutter, ZIP 2003, 734; Peltzer in FS Huber, 2006, S. 885, 893 ff. 21 Peltzer in FS Huber, 2006, S. 885, 893. Die FTD vom 13.5.2008, S. 10 zählt neben Klaus Kleinfeld ganze drei deutsche Manager an der Spitze von US Konzernen auf. 22 Hellwig, Gutachter der V. Abteilung Wirtschaftsrecht beim 64. Deutschen Juristentag im September 2002 in Berlin formuliert (Thesen der Gutachter S. III Ziff. 9): „Die vielfach exzessiven Praktiken bei Aktienoptionen für Vorstandsmitglieder und ihre nicht ausreichende Transparenz haben auf das Vertrauen der Anleger besonders zerstörerisch gewirkt. Dasselbe gilt für überhöhte und nicht hinreichend transparente Vorstandsvergütungen (einschließlich Abfindungen) insgesamt.“ 23 BGH, ZIP 2006, 72 ff.

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zulässigerweise24 die Vertragsangelegenheiten des Vorstandes delegiert waren. Es traf sich, dass nur zwei Mitglieder des vierköpfigen Personalausschusses zunächst zur Verfügung standen – beide Anteilseignervertreter – deren Beschluss zunächst unwirksam war25. Der Gewerkschaftsführer Zwickel, der als Arbeitsnehmervertreter ebenfalls Mitglied des Personalausschusses war, nahm wenig später telefonisch an einer weiteren Abstimmung des Personalausschusses teil und war sich dabei bewusst, dass seine Teilnahme als Dritter unbeschadet dessen, wie er abstimmen würde – dem Beschluss zur Gültigkeit verhelfen musste26. Wie das LG Düsseldorf als erster Tatrichter feststellte „… wollte er sich nicht gegen die Gewährung der Anerkennungsprämie stellen; im Ergebnis hatte er damit „kein Problem“. Folglich billigte er das Ergebnis der Mehrheitsentscheidung und wollte diese mit herbeiführen“27. b) Die Zwiespältigkeit der Rolle des Arbeitnehmervertreters Im Rahmen dieser Betrachtung bleibt das Verhalten der beiden anderen Präsidiumsmitglieder ungeprüft. Sie hatten möglicherweise einen noch besseren Überblick und eine noch stärkere Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der Gesellschaft als der Arbeitnehmervertreter. Alle gemeinsam trifft der Vorwurf, ihre Pflichten in Bezug auf die Angemessenheitsprüfung der Sonderprämie vernachlässigt zu haben28. Der Arbeitnehmervertreter Zwickel enthielt sich der Stimme „mit Rücksicht auf die von ihm zu vertretenden Arbeitnehmerinteressen“29. Durch seine – wie immer geartete – Stimmabgabe verhalf er dem Beschluss zur Gültigkeit und schanzte dem Vorstandsvorsitzenden ca. 16 Mio. Euro zu. Die einzige Möglichkeit, etwas zu ändern, wäre eine Nichtbeteiligung an der Abstimmung gewesen. In Wirklichkeit wollte er die Zahlung, die dem System entsprach, Vorstände durch sehr hohe Bezüge gewogen zu halten oder sich ihnen gegenüber als dankbar zu erweisen30; andererseits wollte er aber der Basis verheimlichen, einer Einmalzahlung von 16 Mio. Euro zugestimmt zu haben, also einer Summe, für die ein von ihm vertretenes Gewerkschaftsmitglied hätte über 250 Jahre arbeiten müssen. Der Fall zeigt die ganze Zwiespältigkeit der Mitbestimmung. Man hätte erwartet, dass Arbeitnehmervertreter in Zeiten, in denen bei Tarifverhandlungen nur minimale Lohnerhöhungen erzielt wurden und Arbeitnehmer durch Infla-

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24 Umkehrschluss aus § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG. 25 Weil ein derartiger Beschluss eines Aufsichtsratausschusses mindestens dreier Stimmen bedarf; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 108 AktG Rz. 11 mit weiteren Nachweisen. 26 BGH, ZIP 2006, 72, 78 Ziff. 2; LG Düsseldorf, ZIP 2004, 2044, 2045 re. Sp. oben. 27 LG Düsseldorf, ZIP 2004, 2044, 2045 re. Sp. oben. 28 Nach § 87 Abs. 1 AktG. 29 BGH, ZIP 2006, 72, 78 li. Sp. Ziff. 2 oben. 30 Esser ist kurz darauf aus dem Vorstand ausgeschieden, was Zwickel wohl zur Zeit der Beschlussfassung wusste.

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tion und höhere Kosten und Steuern real Kaufkraftverluste erlitten, für ein striktes Maßhalten bei der Entwicklung der Vorstandsvergütungen eingetreten wären. Das war aber anscheinend nirgends der Fall31 – was allerdings die Anteilseignervertreter in den Personalausschüssen und die begünstigten Vorstandsmitglieder in keiner Weise entlastet32. 7. Das Beispiel Volkswagen Das zweite Beispiel ist der „Fall Volkswagen“. Der stellvertretende Aufsichtsratvorsitzende und Konzernbetriebsratvorsitzende Volkert, wie auch andere Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wurden systematisch korrumpiert und ließen sich systematisch korrumpieren. Volkert erhielt Bezüge, die weit über das hinausgingen, was als Vergütung für sein Arbeitsgebiet angemessen gewesen wäre. Seine brasilianische Geliebte wurde von der Firma ausgehalten. Ihm und seinen Arbeitnehmeraufsichtsratkollegen wurden Lustbarkeiten jeder Art von der Firma bezahlt. Der zu beaufsichtigende Vorstand gab zu Lasten der Gesellschaft und ihrer Aktionäre Millionen aus, um seine Aufseher zu schmieren. Würde da im Personalausschuss ein Arbeitnehmervertreter gegen eine kräftige Erhöhung der Bezüge des Vorstandes stimmen? Gewiss, der Fall Volkswagen gehört in die Pathologie und er hat teilweise Züge einer derben Komödie – oder Tragödie. Aber er ist gleichwohl für unser Thema interessant, zeigt er doch in seiner Massenhaftigkeit, der großen Zahl der Nehmer von Vorteilen und ihrer Ungeniertheit und Unverfrorenheit, dass jedes Unrechtsbewusstsein fehlte, wie hier mit dem Geld der Gesellschaft und der Aktionäre umgegangen, wie geplündert wurde: Ein Menetekel, was ein Gesetz mit einer falschen Verhaltenssteuerung alles anrichten kann. 8. Ein drittes Beispiel a) Erster Akt Der Autor kann zu diesem Punkt auch aus eigenem Erleben beitragen: Er beriet eine Gesellschaft A, deren Vorstandsvorsitzender eine Tantieme in Höhe einer mittleren zweistelligen Millionenzahl beanspruchte33. Dies beruhte darauf, dass die Gesellschaft, eine Holding, sich von einem großen Teil ihres Beteiligungsbesitzes getrennt und dabei hohe Buchgewinne erzielt hatte. Der

__________ 31 Dreher in Henze/Hoffmann-Becking, Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 203 ff., 212. 32 Die Vorstandsmitglieder verstießen gegen ihre Pflicht, für rechtsmäßiges Verhalten in der ganzen Gesellschaft zu sorgen. Dazu zählt § 87 Abs. 1 AktG, die Einhaltung der Angemessenheit bei den Vorstandsbezügen zu überwachen, und zwar auf Geber(Aufsichtsrat) wie auf Nehmerseite (Vorstand) (Semler in FS Happ, 2006, S. 277 ff.; Peltzer in FS Lutter, 2000, S. 571, 573; a. A. der 3. Strafsenat des BGH in ZIP 2006, 72, 81 re. Sp. E I). Der Vorstandsvorsitzende habe bei den ihn begünstigenden Beschlüssen des Präsidiums keine Vermögensbetreuungspflicht gehabt! 33 Der Autor hat über den ersten Teil des Falles (Gesellschaft A) bereits in der FS Lutter, 2000, S. 571 ff. berichtet.

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Vorstandsvorsitzende hatte es listenreich verstanden, den Personalausschussvorsitzenden kurz davor davon zu überzeugen, dass ein Cap (eine Begrenzung nach oben) für die Bezüge abgeschafft werden sollte, da er ja auch keine Mindestuntergrenze für seine Tantieme habe! Seine Tantiemeforderung betrug – ca. ein Jahr später – das 20-fache der kurz zuvor abgeschafften Obergrenze (des Caps), die 2,5 Mio. DM betragen hatte. Der Autor wurde gebeten, beratend an einer Personalausschuss-Sitzung der Gesellschaft teilzunehmen und schlug vor – da Verhandlungen gescheitert waren – die Sache streitig werden zu lassen; er sah sich daraufhin wütenden Angriffen der beiden Arbeitnehmervertreter des vierköpfigen Personalausschusses ausgesetzt, die für den „Anspruch“ des Vorstandsvorsitzenden stritten. b) Zweiter Akt Wenige Jahre später wurde der Autor vom Aufsichtsratvorsitzenden der Gesellschaft B gebeten, ein Gutachten zu erstatten. Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft B war wiederum der ehemalige Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft A, der dort reiche Beute gemacht hatte. Gegenstand des Gutachtens war die Zulässigkeit eines Antrages des Vorstandes, der Aufsichtsrat möge beschließen bei Gericht zu beantragen, das Aufsichtsratmitglied X abzulösen (§ 103 Abs. 3 AktG). X war der Großaktionär der Gesellschaft und ein sehr aktives Aufsichtsratmitglied. Der Antrag war unzulässig, denn der Vorstand kann sich seine Kontrolleure nicht selbst aussuchen34. In der Aufsichtsratsitzung kam es zum Showdown zwischen X und dem Vorstandsvorsitzenden, der an Dramatik nichts zu wünschen übrig ließ; danach konnte der Vorstandsvorsitzende nicht mehr in der Gesellschaft bleiben. Er war aber nur gegen Zahlung eines hohen Millionenabfindungsbetrages bereit, freiwillig zu gehen. Eine sofortige Abberufung und außerordentliche Kündigung des Dienstvertrages scheiterte daran, dass die Arbeitnehmerseite geschlossen gegen einen derartigen Beschluss gestimmt haben würde. Die Anteilseignerseite musste nachgeben, da das dreistufige Abberufungsverfahren35 in dieser Situation zu langsam gewesen wäre und zudem nicht ausgeschlossen werden konnte, dass ein bestimmter Anteilseignervertreter sich der Stimme enthalten würde und somit die Zweitstimme des (Anteilseigner) Vorsitzenden nicht zum Tragen gekommen wäre. Wie von vielen erwartet, war wenige Wochen später zu lesen, dass der Vorstandsvorsitzende einen neuen Job an der Spitze eines Unternehmens angetreten hatte, das er im Übrigen nach kurzer Zeit wiederum reich belohnt verließ.

__________ 34 Unbeschadet dessen, dass er dies in der Praxis häufig tut. Von Gesetzes wegen ist er aber davon ausgeschlossen, sich an Vorschlägen zu beteiligen, mit denen der HV Kandidaten für die Zuwahl von Anteilseigervertretern zum Aufsichtsrat vorgeschlagen werden (vgl. § 124 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 AktG), und dieser Rechtsgedanke gilt auch für die Abberufung eines Aufsichtsratmitgliedes nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG. 35 Nach § 31 Abs. 2–5 MitBestG.

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c) Die Instrumentalisierung der Arbeitnehmerseite Das Verhalten der Arbeitnehmervertreter bei beiden Gesellschaften braucht nicht auf im Einzelfall vorwerfbaren und den Tatbestand der Untreue erfüllenden Sachverhalten beruhen; jedenfalls war dies im konkreten Fall nicht nachweisbar. Der betreffende Vorstandvorsitzende war nicht nur ungewöhnlich geldgierig, sondern auch ungewöhnlich geschickt mit den Arbeitnehmervertretern und nicht nur im persönlichen Umgang mit ihnen, sondern auch was ihre eigenen und ihre Klientelwünsche anging. Vielleicht war ihm insoweit direkt (anders als im Fall Volkswagen) gar nichts vorzuwerfen. Das Problem liegt woanders. Es kann keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, dass der Vorstandsvorsitzende die Arbeitnehmervertreter final für seine Zwecke – und mit großem Erfolg – instrumentalisiert hatte, damit die Gesellschaft und ihre Aktionäre schädigte und hierfür bot ihm das MitBestG 76 die allerbesten Voraussetzungen. 9. Weitere Fälle Es gibt zahlreiche weitere Fälle von gegenseitigen Begünstigungen, von „Tauschgeschäften“, bei denen die Gesellschaft die Zeche zahlt und die das den Aktionären zustehende Residuum verkürzen36, die nur durch die Korrumpierungsmöglichkeit und die nachlassende Konfliktbereitschaft der Anteilseignerseite möglich sind. Es ist dabei keineswegs so, dass der Arbeitnehmerseite die überwiegende „Schuld“ zuzuschieben wäre. Bei den exzessiven Steigerungen der Vorstandsbezüge in den letzten 15 Jahren haben die Vorstände entsprechende Forderungen gestellt, obwohl auch sie an die Angemessenheitsvorschrift des § 87 AktG gebunden sind37. Die Arbeitnehmervertreter in den Personalausschüssen haben weggesehen oder die Exzesse gar gefördert – auch sie in Verletzung ihrer Pflichten, als Aufsichtsratmitglieder die Angemessenheit der Vorstandsbezüge zu berücksichtigen –; die Anteilseignervertreter in den Personalausschüssen trifft dabei der größere Vorwurf38, dem Hochschnellen der Vorstandsbezüge keinen Einhalt geboten zu haben.

__________ 36 Vgl. Gentz in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2006/I, S. 33, 36 unten. Es ist nicht zweifelhaft, dass den von Gentz, ehemaliges Vorstandsmitglied der Daimler AG, erwähnten Beispielen reale Fälle zugrunde liegen; von Werder, DBW 2004, 229, 233; Bericht der Kommission Mitbestimmung von BDA und BDI, S. 5. Jirijan, Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, 2006, S. 5 unten. Vgl. Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut, Unternehmensmitbestimmung ohne Zwang, Schriftenreihe Bd. 47, 2007, verfasst von den Mitgliedern des „Kronberger Kreises“, Vorsitzender Prof. Eekhoff, S. 33. 37 Semler in FS Happ, 2006, S. 277 ff., Peltzer in FS Lutter, 2000, S. 571, 573. A. A. BGH (3. Strafsenat), ZIP 2006, 72 ff., 81 re. Sp. 38 Allerdings war die Angemessenheitsgrenze bei den Vorstandsbezügen wohl nicht mehr zu halten, nachdem bekannt geworden war, dass vielfach in Unternehmen dagegen verstoßen und eine ungewöhnliche Steigerung der Vorstandsbezüge zu beobachten war. Denn damit war ja die unmittelbare Vergleichbarkeit mit deutschen Unternehmen gegeben.

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Es ist im Übrigen nicht auszuschließen, dass teilweise vorausgesehen wurde, welche Reaktion in der Politik und der Öffentlichkeit die exzessiven Managergehälter hervorrufen würden und dass dies Teil des Kalküls der Gewerkschaften war, dem nicht im Wege zu stehen. Es gibt hier zweifellos Einiges ans Tageslicht zu holen und aufzuarbeiten. Die bisherigen diesbezüglichen Versuche sind auf eine weit verbreitete Omertà39 gestoßen. Aktive Organmitglieder redeten nicht, weil sie Nachteile befürchten mussten40. Lediglich aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene Vorstandsmitglieder haben sich inzwischen zu Wort gemeldet41. Der Fall Siemens – einmal aufgearbeitet – wird sicherlich weiteres Anschauungsmaterial für die Auswirkung der Unternehmensmitbestimmung liefern.

III. Das Aufsichtssystem wird geschwächt, die Entscheidungen werden verlangsamt 1. Zusammenspiel zwischen Vorstand und Arbeitnehmerbank Die obigen Fälle zeigen, dass die Wirksamkeit des aktienrechtlichen Aufsichtsratsystems durch das Zusammenspiel von unternehmerischer und betrieblicher Mitbestimmung entscheidend geschwächt, wenn nicht weitgehend außer Kraft gesetzt wird. Ein geschickter Vorstand wird es immer verstehen, die Arbeitnehmerseite des Aufsichtsrates auf seine Seite zu ziehen. Das ist auch so schwer nicht, denn die Kombination beider Mitbestimmungsformen führt zu einem häufigen Kontakt zwischen dem Vorstand und den Vertretern der Belegschaft, entweder auf der Ebene der Unternehmensmitbestimmung (bei den Aufsichtsratsitzungen und den getrennten Sitzungen des Arbeitnehmerflügels als Vorbereitung für die Aufsichtsratsitzung in Anwesenheit des Vorstandes) ebenso wie bei den Sitzungen des Wirtschaftsausschusses, des Konzern- und des Gesamtbetriebsrates. Bei diesen und anderen Kontakten entsteht Nähe, Vertrauen und die bekannte „Biss-Sperre“. Überdies kann der Vorstand den Arbeitnehmervertretern und deren Klientel Gutes tun oder dies lassen. Das mag punktuell noch durchaus seine positiven Seiten haben, aber es erschwert oder verunmöglicht eine kritische Aufsicht, ein „nein“ zu bestimmten Plänen des Vorstandes und zu der Wiederbestellung eines Vorstandsmitgliedes, das wenig leisten mag, aber Sympathien genießt. Die Zweitstimmen des Aufsichtsratsvorsitzenden wird gegen einen widerstrebenden Arbeitneh-

__________ 39 Vor allem bei den Vorstandsmitgliedern in mitbestimmten Gesellschaften, die empfindliche Nachteile zu gewärtigen haben, wenn sie die Mitbestimmung kritisieren. Siehe Klosterkemper in FS Wissmann, 2007, S. 456, 467 oben. 40 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut, Unternehmensmitbestimmung ohne Zwang (Fn. 36). 41 Siehe auch Fn. 10, 16, 36 und Fn. 50, 59, 72 die in diesem Beitrag öfters zitierten ehemaligen Vorstandsmitglieder Gentz (früher Daimler AG) und Neubürger (ehemals Finanzvorstand von Siemens).

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merflügel ungern und selten eingesetzt. Auf jeden Fall werden die Entscheidungen häufig verlangsamt42. Gefährlich wird die Situation vor allem dann, wenn der Vorstand die Arbeitnehmerseite (die mit der Anteilseignerseite erheblich weniger Kontakt hat als mit dem Vorstand) zu sich herüberzieht und hierdurch die Spaltung beider Flügel notwendigerweise fördert. 2. Die Beteiligten stehen sich im Dreieck gegenüber Die Mitbestimmung bewirkt letztlich, dass sich die Beteiligten im Dreieck gegenüber stehen. Der Vorstand, die Anteilseignerseite und die Arbeitnehmerseite des Aufsichtsrates, wobei die Bindungen zwischen Vorstand und Arbeitnehmerseite ungleich enger sind als zwischen den beiden Aufsichtsratflügeln. Die Vertreter der Anteilseignerseite, die die Arbeitnehmervertreter vier Mal im Jahr sehen, kennen kaum deren Namen43, wenn man sich auf der Straße trifft. Man mache die Probe! Im Übrigen ist dies ein Gesichtspunkt, der bei der Frage, ob Vorstandsvorsitzende und Vorstandsmitglieder nach ihrer Pensionierung in den Aufsichtsrat wechseln sollen oder nicht, viel zu wenig beachtet wird. Sie mögen entscheidende Figuren seien, um dem Auseinandertriften der beiden Flügel entgegen zu wirken, denn sie kennen die Arbeitnehmervertreter häufig ganz genau.

IV. Teamgeist und Diskussionskultur fehlen im mitbestimmten Aufsichtsrat Die Wirksamkeit eines Gremiums oder Teams hängt entscheidend von den Innenbeziehungen seiner Mitglieder ab. Dies lässt sich von der Fußballmannschaft bis zum Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft nachweisen. Ein Aufsichtsrat, der kollegial und vertrauensvoll zusammenarbeitet, erreicht viel mehr als ein Kollegium, dessen Mitglieder sich kaum kennen und letztlich wenig gemeinsam haben44, und zwar auch dann, wenn die einzelnen Mitglieder des zweiten Aufsichtsrates begabter sind als die diejenigen des ersten. Die Synergie einer Mannschaft ist für deren spezifischen Erfolg ein, wenn nicht der

__________ 42 Oliver Stettes, I. W. Trends 2007, 1, 11: 48,4 % der befragten paritätisch mitbestimmten Unternehmen waren der Auffassung, dass sich die Entscheidungsprozesse eher oder stark verlangsamt haben. Die Verlangsamung der Entscheidung wird auch von Vitols, Mitbestimmung 12/2004, 46, 48 eingeräumt, der im Übrigen über positive Urteile ausländischer Manager hinsichtlich der paritätischen Mitbestimmung berichtet. 43 Jürgens/Lippert, Kommunikation und Wissen im Aufsichtsrat: Voraussetzungen und Kriterien guter Aufsichtsratarbeit aus der Perspektive leitender Angestellter. Discussion Paper SP III 2005/301, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 2005, S. 36. Das gilt selbst für den leitenden Angestellten „Die überwiegende Mehrheit der leitenden Angestellten gibt an, dass außerhalb der Aufsichtsratsitzung nur selten (64 %) oder nie (23 %) Kontakte zu den Anteilseignern bestehen“. 44 Schwalbach, AG 2004, 186, 189 re. Sp.

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entscheidende Faktor45. Fehlt er, sinken die Erfolgschancen des Teams rapide, wobei es zunächst keine Rolle spielt, warum sich die Synergie nicht einstellt. Dies ist beim Aufsichtsrat besonders nachteilig, denn dieser kann ja – anders als der Vorstand – im Regelfall nur als Gesamtorgan tätig werden. Einzelaktionen sind im Allgemeinen nur dem Aufsichtsratvorsitzenden vorbehalten. Im mitbestimmten Aufsichtsrat gibt es eine lange Reihe von Gründen46, warum sich keine Synergie einstellt: 1. Der Aufsichtsrat besteht aus zwei separaten Hälften; die Qualifikation der Aufsichtsratmitglieder Das Gremium besteht aus zwei Hälften, die von verschiedenen Wahlkörpern, (Hauptversammlung47 einerseits und Wahlgremien der Arbeitnehmerseite andererseits) bestimmt werden48. Soziale Herkunft, Ausbildung und Erfahrungshintergrund sind innerhalb der jeweiligen Hälften auch nicht einheitlich, gleichwohl wird man deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedern beider Hälften feststellen, die ein Zusammenwachsen erschweren. a) Welches Anforderungsprofil muss ein Aufsichtsratmitglied erfüllen? Zu fragen ist, welches fachliche Anforderungsprofil ein Aufsichtsratmitglied erfüllen muss49. Es muss in der Lage sein, unternehmerische Entwicklungen, die außerordentlich kondensiert und im Wesentlichen in Zahlen dargestellt werden, zu beurteilen und zwar vergangenheitsorientiert und prognostisch. Der Aufsichtsrat muss in der Lage sein, die Zahlen zu interpretieren, sich ein zutreffendes Bild zu machen und zu der Beurteilung des gesamten Aufsichtsrates durch seine Äußerungen beizutragen. Noch wichtiger als die Beurteilung

__________ 45 Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 73, 74. Innerhalb der befragten Aufsichtsräte wird kein Selbstverständnis in Richtung auf ein gemeinsam arbeitendes Gremium gesehen. 46 A. A. Kort, AG 2008, 137, 141 li. Sp. oben, der zwar die Bedeutung der persönlichen Beziehungen zwischen den Aufsichtsratmitgliedern einräumt, aber davon ausgeht, dass es im deutschen mitbestimmten Aufsichtsrat kein „Bänke-Prinzip“ gäbe! 47 In der Praxis ist allerdings der Wahlvorschlag des Aufsichtsrates nach § 124 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 AktG, der nach Ziffer 5.3.3 DCGK von einem zu bildenden Nominierungsausschuss erarbeitet werden soll, der eigentliche Willensakt innerhalb des Wahlvorganges, der nahezu immer von der HV bestätigt wird. Die Bildung eins Nominierungsausschusses ist insofern ein Fortschritt, als die Nominierung, sprich Kooptierung des Aufsichtsrates, damit etwas transparenter werden mag. In der Praxis ist allerdings häufig ein großer, wenn nicht gar überwiegender informeller Einfluss des Vorstandes auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrates zu beobachten. 48 Was allerdings keinerlei Unterschiede der Rechte und Pflichten der einzelnen Aufsichtsratmitglieder bewirkt; Semler in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 111 AktG Rz. 53. 49 Vgl. von Werder, AG 2004, 166, 170; ders., DBW 2004, 229, 233; Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 55.

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der Zahlen ist allerdings die Beurteilung der Menschen, die diese Zahlen verantworten, nämlich des Vorstandes50. Hier treten gleich verschiedene Probleme auf: Die Beurteilung von Zahlen ist nicht zuletzt eine technische Fertigkeit. Man muss Bilanzen „lesen“ und erkennen können, welche Zahlen und welche Relationen von Zahlen wichtig sind; weiterhin ist ein Blick für die Verwirklichungswahrscheinlichkeit von unternehmerischen Plänen vonnöten. Letzteres ist aber eine Fertigkeit, die unternehmerische Erfahrung, d. h. Erfahrung an der Spitze eines Unternehmens voraussetzt, die Arbeitnehmervertreter im Allgemeinen nicht haben51. Diese Erfahrung ist auch nicht kompensierbar durch die Arbeitsplatzerfahrung innerhalb des jeweiligen Wirkungskreises des Arbeitnehmervertreters. Insoweit kann sich kein Anteilseignervertreter mit ihm messen, aber diese Betriebserfahrung ist ja eher der Sphäre des laufenden Geschäftes zuzuordnen, in der der Aufsichtsrat gar nichts zu suchen hat. b) Gemeinsame Beurteilung des Vorstandes unmöglich Ganz schwierig wird es schließlich mit einer gemeinsamen Beurteilung des Vorstandes. Das ist im mitbestimmten Aufsichtsrat tabuisiert52. Die sogar von der Corporate Governance Kommission empfohlenen getrennten Vorbesprechungen der beiden Hälften des Aufsichtsrates53 – die ihrerseits zur Spaltung beitragen – sind schon deswegen notwendig, da die Anteilseignerseite sich in Gegenwart der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, also der Mitarbeiter des Vorstandes nicht kritisch über den Vorstand oder einzelne seiner Mitglieder äußern kann. Nicht nur, dass anderenfalls die Autorität des betreffenden Vorstandsmitgliedes bei den anwesenden Arbeitnehmervertretern untergraben würde; vielmehr ist in der Praxis davon auszugehen, dass kritische Bemerkungen des Aufsichtsrates über Vorstandsmitglieder in den Betriebsräten und dann darüber hinaus bekannt werden54. Es fehlt dementsprechend durch die Mitbe-

__________ 50 Zur Qualifikation von Aufsichtsratmitgliedern vgl. Kort, AG 2008, 137, 143 re. Sp.; Scheffler, ZGR 1993, 63, 71; Neubürger in Hommelhoff/Hopt/von Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, S. 177 ff., 189 ff. Neubürger gibt zu bedenken, entscheidende strategische Fragen nur durch einen mit entsprechend qualifizierten Ausschussmitgliedern besetzten Ausschuss entscheiden zu lassen und die Arbeitnehmerseite auf die Gebiete zu beschränken, die die Arbeitnehmer in den Betrieben unmittelbar betreffen. 51 Über die Rolle eines Aufsichtsratsmitgliedes, was den Ausführungen des Vorstandes folgen kann, vgl. Säcker, AG 2005, 180 ff., 182 li. Sp. Nach Oliver Stettes, IW Trends 2007, 1, 10, halten 41,3 % der Unternehmen, die unter die Mitbestimmung 76 fallen, die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat als Berater und Begleiter unternehmerischer Entscheidungen als für „weniger oder nicht kompetent“. Die Mitwirkung unternehmensexterner Gewerkschaftsmitglieder in den Aufsichtsräten wird sogar von 43,8 % der Unternehmen, die dem MitbestG 76 unterfallen, als „sehr oder eher hinderlich“ wahrgenommen. 52 Neubürger (Fn. 50), S. 177, 194 unten; von Werder, DBW 2004, 229, 234 li. Sp.; Raabe, Mitbestimmung 2005, 38, 41 li. Sp. 53 DCGK 3.6; von Werder, DBW 2004, 229, 233 li. Sp. 54 Neubürger (Fn. 50), S. 177, 190 unten.

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stimmung an der Erfüllung einer der wichtigsten Aufgaben eines Aufsichtsrates, der gemeinsamen aufmerksamen Beobachtung und gelegentlichen Evaluierung des Vorstandes und des Meinungsaustausches über die gemachten Feststellungen55. c) Das Bänke-System Vor allem aber führt das „Bänke-System“ und die getrennten Vorbesprechungen dazu, dass im Plenum nicht mehr ergebnisoffen diskutiert wird, sondern in zahlreichen Fällen wird bei streitigen Traktanden in der getrennten Vorbesprechung das Ergebnis festgelegt, an dem dann auch die Argumente der Gegenseite nichts mehr ändern56. Meist werden die Vorbesprechungen nicht unmittelbar vor der Aufsichtsratsitzung, sondern einen oder gar mehrere Tage davor durchgeführt57, was u. U. mehrfache Anreisen erfordert und zu weiteren Effizienzverlusten führt.

V. Die Übergröße der mitbestimmten Aufsichtsräte 1. Aufsichtsräte mit 20 oder 16 Aufsichtsratmitgliedern sind zu groß Die mitbestimmten Aufsichtsräte, mindestens soweit sie 16 oder 20 Mitglieder haben,58 sind zu groß und damit ineffizient59. Das ist eine triviale Alltagserfahrung, für die es letztlich keinerlei Berufung auf Gurus der Organisationslehre oder der Gruppendynamik bedarf. Wenn von Gewerkschaftsseite dagegen eingewandt wird, je mehr Mitglieder ein Aufsichtsrat habe, desto mehr Sachverstand und Vielfalt der Meinungsbildung werde in das Gremium hineingetragen60, so fragt sich, wo die Grenze sein soll. Überdies ist die These vom Nutzen der großen Aufsichtsgremien in jüngster Zeit durch einen praktischen Großversuch – dem wohl teuersten der Menschheitsgeschichte61 – widerlegt

__________

55 DCGK Ziff. 3.5. 56 Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 42; Klosterkemper in FS Wissmann, 2007, S. 456, 471; Raabe, Mitbestimmung 2005, 38, 39. Gegen die getrennten Vorbesprechungen Schwalbach, AG 2004, 186, 188 re. Sp. 57 Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 40. 58 Im Jahre 2005 hatten von den insgesamt 729 Unternehmen, die dem MitBestG 76 unterlagen, 100 Unternehmen einen 16-köpfigen Aufsichtsrat und 142 Unternehmen einen Aufsichtsrat von 20 Personen. Die übrigen Aufsichtsräte hatten jeweils 12 Mitglieder. 59 Neubürger (Fn. 50), S. 177 ff., 190; von Werder, DBW 2004, 299, 233; Schwalbach, AG 2004, 186, 187 re. Sp.; nach Oliver Stettes, IW Trends 2007, 1 ff., 9, halten 56 % der Kapitalgesellschaften für die über 2000 Beschäftigten die Größe des Aufsichtsrates für hinderlich. Raabe, Mitbestimmung 2005, 38 und 40; Lutter, ZHR 159 (1995), 287, 297 und Fn. 38; a. M. Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 63 (breiteres Wissensund Kompetenzrepertoir), S. 66. 60 Bertelsmann-Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen, 1998, Empfehlung Ziffer 16 (unentschieden); Raabe, Mitbestimmung 2005, 38. 61 Kosten bzw. Verluste in dreistelliger Milliardenhöhe. Einzelheiten in FAZ vom 28.4.2008, S. 14.

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worden: Die in Schwierigkeiten geratenen Landesbanken – wie z. B. die Westdeutsche Landesbank und die Sächsische Landesbank – haben Verwaltungsräte mit jeweils ca. 40 Personen! 2. Vor- und Nachteile der Bildung von Ausschüssen Der viel gelobte Ausweg62 aus der Übergröße wird in der Bildung von Ausschüssen, wie Personalausschuss, Prüfungsausschuss, Investitionsausschuss, etc. gesehen. Ohne Personal- und Prüfungsausschuss ist in der Tat bei einem mitbestimmten Aufsichtsrat nicht mehr auszukommen, schon weil die Vertragsangelegenheiten des Vorstandes und die Vorbereitung von Neubestellungen nicht in einem (über) großen Aufsichtsrat behandelt werden können. Zudem behandelt der Prüfungsausschuss mit der Beobachtung des Risikoüberwachungssystems, der Prüfung des Rechnungswesens und des Jahresabschlusses schwierige Themen, die erhebliches Fachwissen verlangen. Gleichzeitig soll er eng mit dem Abschlussprüfer zusammen arbeiten, diesem u. U. Prüfungsschwerpunkte vorgeben und die Verhandlungen über das Prüfungshonorar vor der Beauftragung durch die HV führen, etc. also Aufgabenstellungen, mit denen das Plenum überfordert wäre. Die Bestellung von Ausschüssen hat indessen Nebenwirkungen. Die Mitglieder der jeweiligen Ausschüsse werden über das zu behandelnde Fachgebiet erheblich besser informiert als die Nicht-Ausschussmitglieder63. Die gesetzlich vorgeschriebene64 Unterrichtung des Plenums findet schon aus Zeitgründen nur sehr kursorisch statt65. Es kommt deswegen zur Gruppenbildung; innerhalb des Aufsichtsrates haben die Aufsichtsratmitglieder in vielen Punkten einen unterschiedlichen Informationsstand66. Es werden also neben der „Bänke“ Bildung durch Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter weitere Trennwände aufgestellt, die die Einheitlichkeit des Aufsichtsrates in Frage stellen. Dabei ist es nur ein schwacher Trost, dass es innerhalb der Ausschüsse zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern durchaus zu einer stärkeren Annäherung kommen kann. 3. Der Fraktionszwang, die „Bänke-Bildung“ versus der unabhängigen Amtsausübung des Aufsichtsratmitgliedes a) Die Amtsausübung nach Aktiengesetz Das Amt des Aufsichtsrates ist im Unternehmensinteresse auszuüben und dabei ist das Aufsichtsratmitglied nur seinem Gewissen verantwortlich. Das

__________ 62 63 64 65 66

DCGK 5.3.1; Lutter, ZHR 159 (1995), 287, 298. Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 38. § 107 Abs. 3 letzter Satz AktG. Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 38 unten. Jürgens/Lippert (Fn. 43), S. 38 unten.

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Aufsichtsratmitglied ist unabhängig und übt sein Amt weisungsfrei aus67. Dies war schon ein fester Bestandteil des deutschen Aktienrechtes lange, bevor sich die EU-Kommission des Themas annahm68. Dabei ist der Begriff der „Unabhängigkeit“ in deutscher und europäischer Sicht sicherlich unterschiedlich. Die EU-Kommission versteht darunter vor allem die Unabhängigkeit von der Gesellschaft, ihrem Management und von Großaktionären der Gesellschaft. Letzteres ist zum Schutz der Kleinaktionäre gedacht, dessen es in deutschem Recht wegen des kodifizierten Konzernrechtes69 nicht oder mindestens weniger bedarf. b) Die Amtsausübung im Rahmen der Mitbestimmung Die Mitbestimmung schafft nun eine neue Abhängigkeit, die das Prinzip der Selbstverantwortung, der nur dem eigenen Gewissen unterworfenen Amtsführung konterkariert, die Rechtslage gänzlich widersprüchlich macht und sich wiederum dem Missbrauch leiht: Die Abhängigkeit von der Willensbildung der eigenen Bank. Dies ist nur scheinbar ein Problem ausschließlich der Anteilseignerseite, weil nur diese über eben jenes – hier kritische – hauchdünne Stimmenübergewicht verfügt70. Die Arbeitnehmerseite votiert in der Praxis bei streitigen Abstimmungen stets einheitlich aus ihrem Selbstverständnis eben als „Arbeitnehmerbank“ heraus71 und weil ein Herausscheren aus dieser Solidarität eben bedeuten könnte, bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt zu werden. So verschieden ist die Motivationslage auf der Anteilseignerseite nicht, aber es kommt noch hinzu, dass ein Abweichler angesichts der mit Sicherheit zu erwartenden geschlossenen Stimmabgabe der Arbeitnehmerseite verhindern würde, dass die Anteilseignerseite ihre hauchdünne Majorität, die Zweitstimme des Aufsichtsratvorsitzenden, überhaupt geltend machen kann; denn die Karte sticht ja nur, wenn die (ggf. vorherige) Abstimmung ein Patt ergeben hat; ein Abweichler, d. h. derjenige, der sich nicht dem Fraktionszwang beugt, sondern so wie das deutsche Aktiengesetz es will, sich unabhängig zeigt, würde dabei riskieren, dass seine „Bank“ die Abstimmung verliert72. Hierdurch entsteht faktisch ein Druck, der die unabhängige selbstverantwortliche Stimmab-

__________ 67 Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrates, 4. Aufl. 2002, Rz. 692; Hoffmann-Becking in MünchHdb. des Gesellschaftsrechts, AktG, 3. Aufl. 2007, § 33 Rz. 7. 68 Empfehlung der Kommission zu den Aufgaben der nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratmitglieder börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungsrat/Aufsichtsrats vom 15. Februar 2005, ABl. EU L 52/51 (20052/162/EG). 69 §§ 304 ff. AktG. 70 §§ 29 Abs. 2 und 31 Abs. 4 MitBestG. 71 Jürgens/Lippert (Fn. 43) stellen fest – S. 45 –, dass „die Loyalität gegenüber der in der eigenen Gruppe festgelegten Linie“ nach Meinung der Hälfte der befragten leitenden Angestellten sogar schon die offene Diskussion verhindere; Raabe, Mitbestimmung, 2005, 38, 41; Scheffler, ZGR 1993, 63, 72. 72 Neubürger (Fn. 50), S. 177, 191 unten.

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gabe verhindert, wenn derjenige, der abstimmen soll, anderer Meinung als die übrigen Mitglieder ist. Mithin tut sich ein klarer Widerspruch in der Rechtsordnung auf: Das Aktienrecht gebietet die unabhängige, nur dem Unternehmensinteresse und dem eigenen Gewissen unterworfene Amtsausübung und Stimmabgabe und die Mitbestimmung verhindert dies. c) Der Januskopf der Bänke-Bildung Die ganze Janusköpfigkeit der Mitbestimmung wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eben diese Situation vom einzelnen Abweichler auf der Anteilseignerseite auch ausgenutzt werden kann, um eigene Interessen zu verfolgen, die mit denen der Arbeitnehmerseite übereinstimmen (nicht aber mit denen der Anteilseignerseite). Im Einzelfall mag es auch durchaus so sein, dass die Stimme des Abweichlers der Anteilseignerseite im konkreten Falle auch ohne unmittelbare Interessenparallelität mit der Arbeitnehmerseite abgegeben wird, nur um die Arbeitnehmerseite für andere, in seinem Spezialinteresse liegenden Fragen gewogen zu halten oder zu machen (so genanntes System Piëch)73. Die Mitbestimmung führt demnach nicht nur zu Widersprüchlichkeiten in der Rechtsordnung, sondern darüber hinaus setzt die hauchdünne Überlegenheit der Anteilseignerseite – die wiederum Voraussetzung dafür war, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit bejahte74 –, voraus, dass das „Bänke-System“ funktioniert, d. h. dass im Streitfall jede Bank geschlossen abstimmt. Ein intaktes „Bänke-System“ wiederum verhindert, dass die zwei Seiten des Aufsichtsrates ein Team bilden (was wiederum Voraussetzung einer effektiven Aufsicht ist)75 und dass das einzelne Aufsichtsratmitglied sich unabhängig von jedem Gruppenzwang eine eigene Meinung bildet und dementsprechend abstimmt – was wiederum ein Grundpfeiler des aktienrechtlichen Verständnisses der Arbeit des Aufsichtsrates ist.

VI. Die bisherigen Versuche, die Auswirkungen der Mitbestimmung zu evaluieren 1. Keinerlei einheitliche Ergebnisse der bisherigen Versuche Es fehlt nicht an Versuchen, die Auswirkungen der betrieblichen und Unternehmensmitbestimmung nach verschiedenen Gesichtspunkten, wie etwa Aus-

__________ 73 So bezeichnet nach dem Aufsichtsratvorsitzenden von VW, der mit der Arbeitnehmerseite und gegen die Anteilseignerseite stimmte, als ein Nachfolger für den Personalvorstand Hartz gesucht wurde und auch bei MAN auf die Arbeitnehmerseite setzte. 74 BVerGE 50, 290 ff., 345 fasst den Fall zwar ins Auge, dass eine Minderheit der Anteilseignerseite mit der Arbeitnehmerseite gemeinsame Sachen macht, und so die Anteilseignerseite überstimmt wird, führt aber dann – ohne Begründung (!) fort, dass dies „zu keiner qualitativen Veränderung des Anteilseigentums (führt)“. 75 Säcker, AG 2004, 180 ff.

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wirkungen auf Eigenkapitalrendite76, Shareholder Value77, Börsenbewertung78, Produktivität79 oder Mitarbeitermotivation80 zu bewerten81. Die Untersuchungen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen82 und sind naturgemäß davon beeinflusst, welchem „Lager“ die Autoren jeweils zuzurechnen sind. Mit Recht wird auf die beim jetzigen Erkenntnisstand fast unüberwindlichen systemimmanenten Schwierigkeiten derartiger Untersuchungen hingewiesen83. 2. Methodische Schwierigkeiten der Evaluierung Der nahe liegende Vergleich zwischen mitbestimmten und nicht mitbestimmten Unternehmen stößt sofort auf die Schwierigkeit, dass die Mitbestimmungsgesetze, also insbesondere das MitBestG 76 und das Drittelbeteiligungsgesetz, alle Unternehmen der gleichen Rechtsform einheitlich erfassen, es also gar kein geeignetes, nicht dem jeweiligen Mitbestimmungsgesetz unterliegendes vergleichbares Unternehmen gibt84. Man müsste also Unternehmen mit großen und kleinen Belegschaften vergleichen, so dass der Unterschied viel eher eben in der jeweiligen Mitarbeiterzahl und nicht in der Mitbestimmungsform begründet sein mag. Ein Vergleich mit ausländischen, nicht mitbestimmten Unternehmen mit deutschen Gesellschaften stößt ebenfalls auf große Schwierigkeiten. Noch wichtiger ist aber die Kausalitätsfrage. Das jeweils anzuwendende Mitbestimmungssystem ist nur eine Ursache für die verschiedenen Untersuchungsgegenstände, wie eben Börsenkurs, Mitarbeitermotivation oder Produktivität. Die Ursache „Mitbestimmung“ für die verschiedenen Untersuchungsgegen-

__________ 76 Kraft/Ugarkovic, Gesetzliche Mitbestimmung und Kapitalrendite, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 2006, Bd. 226/5, S. 588 ff.: keine Verschlechterung der Eigenkapitalrendite. 77 Frank A. Schmid/Frank Seger, ZFB 1998, 453, 468 (Marktwert der dem MitbestG 76 unterliegenden Unternehmen wäre ohne paritätische Mitbestimmung 21–24 % höher). 78 Gary Gorton/Frank A. Schmid in Capital, Labor and the Firm, A Study of German Codetermination, Journal of European Economic Association, Sept. 2004, S. 864, 895. Mitbestimmung führt zu einem Abschlag an der Börse von 31 % im Vergleich zu Gesellschaften, die dem Drittelbeteiligungsgesetz unterliegen; Baums/Frick, Economic Analysis Vol. I, No. 2 1998, kommen zu dem Ergebnis, dass sich kein Zusammenhang zwischen Gerichtsurteilen, die sich mit der Mitbestimmung befassten, und der Börsenbewertung nachweisen lässt. 79 Fitzroy/Kraft, Co-Determination, Efficiency and Productivity, Discussionpaper IVO 1442, Dec. 2004, S. 19. Leichte Erhöhung der Produktivität, aber weitere Erforschung erforderlich. 80 Fitzroy/Kraft (Fn. 79). 81 Siehe auch Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut (Fn. 36), S. 32. 82 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut (Fn. 36), S. 33 ff.: Hier werden einige der Studien exemplarisch skizziert; Vgl. weiterhin S. 38 und 49; Jirijan, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, 2006, S. 2 ff. 83 Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung, Bericht der wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission, S. 14. 84 Vgl. Stiftung Marktwirtschaft/Frankfurter Institut (Fn. 36), S. 32 ff.

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stände mag dabei an Wirkungskraft hinter anderen Ursachen weit zurücktreten. Die A AG ist mitbestimmt und hat eine gute Produktpalette, während die Produkte der nicht mitbestimmten B AG im Markt nicht ankommen. Ein allseits respektierter und charismatischer Leiter des Außendienstes ist allemal wichtiger für die Verkaufsergebnisse als alles, was sich im Aufsichtsrat abspielt. 3. Einziger Ausweg: Zerlegung der Kausalketten So gesehen bleibt gar nichts anderes übrig, als die Kausalketten zu zerlegen und die Auswirkungen der einzelnen Module der Mitbestimmung auf bestimmte abgrenzbare Bereiche, also wie z. B. in diesem Beitrag auf die Effizienz der Corporate Governance hin zu überprüfen. Je kleinteiliger die Wirkungszusammengänge auseinander gehalten und untersucht werden, umso größer wird die Chance, eventuell andere Ursachen auszuschließen. Nur so ist es auch möglich, auf Vergleiche zu verzichten und den Wirkungszusammenhang zwischen der Ursache und der Folge – gewissermaßen absolut – darzustellen. Dementsprechend ist jede Untersuchung der Effizienzförderung oder Effizienzminderung des Zusammenspiels zwischen Vorstand und Aufsichtsrat – also der Kernfrage der Corporate Governance – durch die Mitbestimmung in verschiedene Fragestellungen zu zerlegen85. a) Wie wirkt sich aus, dass Vorstand und Arbeitnehmervertreter sich im Aufsichtsrat gegenseitig Vorteile gewähren können, während es im mitbestimmungsfreien Aufsichtsrat so etwas gar nicht oder erheblich weniger gibt?86 b) Wie wirkt sich die anders geartete, nicht auf Aufsichtsratfähigkeit zugeschnittene Qualifikation der Arbeitnehmervertreter aus, eine Fragestellung, die es im mitbestimmungsfreien Aufsichtsrat nicht gibt? c) Wie wirkt sich die Aufspaltung des Organs Aufsichtsrat in zwei Hälften aus, der jeweilige Mitglieder soziologisch und ausbildungsmäßig sehr unterschiedlich sind? d) Wie wirkt sich auf die Effizienz der Aufsichtsarbeit aus, dass die wahrscheinlich wichtigste Aufgabe des Aufsichtsrates, die den Vorstand betreffenden Entscheidungen nur sehr eingeschränkt in Gegenwart der Arbeitnehmervertreter beraten werden können? e) Wie wirkt sich die Übergröße der 16 oder 20 Mitglieder umfassenden großen mitbestimmten Aufsichtsräte aus? f) Ist die Ausschussbildung ein wirksames Gegenmittel? 4. Weitere Untersuchungen notwendig Diese Fragestellungen sind im obigen Text nur angerissen worden. Sie bedürfen der weiteren Untersuchung. Entscheidend für die Richtigkeit der Ergebnis-

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85 Vgl. hierzu von Werder, AG 2004, 166, 169 ff. 86 Siehe dazu am Anfang des Textes gegebene Beispiele der §§ 113 und 114 AktG.

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se einer diesbezüglichen Untersuchung ist nach den gemachten Erfahrungen, welchem Gremium sie anvertraut wird. Die Mitglieder müssen praktische Erfahrungen haben, unabhängig und in der Lage sein, Auskunftspersonen auf deren Bitte hin Vertraulichkeit zuzusichern. In dem Maße, in dem eine gute Corporate Governance, d. h. ein wirksames System von Führung und Kontrolle sich in der Börsenbewertung niederschlägt87, und dem Maße, in dem festgestellt wird, dass gute Corporate Governance durch die deutsche Mitbestimmung gestört oder verunmöglicht wird, stellt sich die Frage, ob die verfassungsmäßige Eigentumsgarantie noch gewahrt ist; denn entsprechend ist die Auswirkung auf den Börsenkurs, also die Bewertung des Marktes. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch zu untersuchen, ob die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers überhaupt davon abhängt, ob die Mitbestimmung die Inhaberschaft an einem mitbestimmten Unternehmen in einer das Grundrecht des Art. 14 GG verletzenden Weise tangiert hat88, weil sie eben die Funktionsfähigkeit des Unternehmens – ein von Bundesverfassungsgericht mehrfach betonter Gesichtspunkt – erheblich beeinträchtigt: Eben dadurch, dass die Mitbestimmung gute und effiziente Corporate Governance signifikant behindert.

VII. Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers 1. Verfehlte Prognose Das Mitbestimmungsgesetz hat die Prognose des Gesetzgebers nicht erfüllt bzw. die Umstände haben sich seit Erlass des Gesetzes im Jahre 1976 dramatisch verändert. Die Corporate Governance – ein Begriff der im Jahre 1976 in Deutschland noch völlig unbekannt war – wird durch das Mitbestimmungsgesetz erheblich beeinträchtigt. Das Bundesverfassungsgericht bescheinigt dem Gesetzgeber allerdings, im Jahre 1976 die notwendige Sorgfalt an den Tag gelegt und eine zumindest vertretbare Lösung gefunden zu haben. Dessen ungeachtet verpflichtet es den Gesetzgeber zu einer Nachbesserung, wenn sich später herausstellt, dass seine Beurteilung zurzeit des Gesetzeserlasses zwar richtig war, sich aber die Umstände verändern, und die spätere Beurteilung ergibt, dass die Regelung inzwischen verfassungswidrig ist89. 2. Die veränderten Umstände Die veränderten Umstände sind im Wesentlichen die in den Jahrzehnten seit Erlass des Gesetzes im Jahre 1976 eingetretene Globalisierung, d. h. die im Jahr

__________

87 Vgl. McKinsey & Co., Global Investor Opinion Survey: Key Findings 2002; Schwalbach, AG 2004, 186, 187; Strenger, Corporate Governance „Transatlantische Erfahrungen für eine bessere Unternehmenskultur“, 21. Karl-Heinz Beckurts Gedächtnisrede am 9.4.2008 vor der Atlantikbrücke e.V., S. 7. 88 Was bekanntlich in der Entscheidung des BVerfGE 50, 290, 339 beim damaligen Erkenntnisstand verneint wurde. 89 BVerfGE 25, 1, 12; BVerfGE 39, 210, 226; Christian Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, 1995, S. 109.

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Martin Peltzer

1976 noch unbekannte oder zumindest in dieser Stärke nicht bekannte internationale Konkurrenz. Das Mitbestimmungsgesetz ist – wie jedes Gesetz – einem Alterungsprozess unterworfen. Gesetze „stehen in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen, mit deren Wandel sich auch der Norminhalt ändern kann“90, so dass die Norm dann nicht mehr anwendbar ist. Ein weiterer neuer Umstand ist die inzwischen vom Gesetzgeber u. a. durch Berufung der Corporate Governance-Kommission und durch flankierende gesetzliche Maßnahmen91 geförderte Corporate Governance Bewegung, d. h. die ständige Verbesserung der Führungsstrukturen und Führungsmechanismen der deutschen Unternehmen. 3. Vermeidbare Prognosefehler Neben der Veränderung der Umstände sind dem Gesetzgeber auch vermeidbare Prognosefehler unterlaufen. Er hat nicht gesehen, wie sich das Zusammenspiel zwischen der im Jahre 1976 bereits seit langem bestehenden betrieblichen Mitbestimmung und der neu einzuführenden Unternehmensmitbestimmung auswirken würde92. Die dadurch ermöglichte Korrumpierungsmöglichkeit, sowohl des Vorstandes wie auch der Arbeitnehmervertreter, hat der Gesetzgeber verkannt, wobei ihm einzuräumen ist, dass diese Prognose sicherlich schwierig war. Auf der anderen Seite hätte er diese Gefahr sehen können, weil sie von ihm im eingangs geschilderten Parallelvorgang der §§ 113 und 114 AktG bereits erkannt und (einigermaßen) befriedigend gelöst war. Mit der Korrumpierungsmöglichkeit im engen Zusammenhang steht auch die Blockademöglichkeit der Arbeitnehmerseite für unternehmerische Pläne, die zu deren Verhinderung oder mindestens erheblichen Hinauszögerung führen kann. Die Globalisierung bedeutet, dass deutsche Unternehmen im Wettbewerb stehen mit Unternehmen in Ländern mit wesentlich günstigeren Arbeitskosten, so dass eine Fertigung in eben diesen Ländern unumgänglich sein kann, wobei dies typische unternehmerische Entscheidungen sind, die durch die Mitbestimmungsmechanismen mindestens verzögert werden. Neben die Notwendigkeit einer Korrektur wegen unvermeidbarer und vermeidbarer Prognosefehlern – Verkennen der Gefahr des Zusammentreffens von betrieblicher und Unternehmensmitbestimmung – tritt also die Notwendigkeit das Mitbestimmungsgesetz wegen geänderter Umstände nachzubessern93 und zwar auch schon dann, wenn das nachzubessernde Gesetz erst verfassungswidrig zu werden droht94.

__________ 90 BVerfGE 82, 1, 12. 91 Z. B. durch Einführung der §§ 107 Abs. 3 Satz 3 AktG, völlige Veränderung des § 148 AktG, Einführung des § 161 AktG und Verschärfung des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. 92 Mertens, RdA 1975, 89 ff., 95 re. Sp. hält eine Prognose für gänzlich unmöglich. 93 BVerfGE 49, 89, Leitsatz 3; Badura in FS Eichenberger, 1982, S. 481, 484. 94 Badura in FS Eichenberger, 1982, S. 481, 487.

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Andreas Pentz

Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Zur Lehre der verdeckten Sacheinlage 1. Ausgangspunkt: Die gesetzliche Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlage 2. Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage a) Kennzeichnung und methodischer Ansatzpunkt b) Abrede und maßgeblicher Zeitpunkt 3. Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage nach altem Recht 4. Kritik an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage III. Änderungen durch das MoMiG 1. Definition der verdeckten Sacheinlage 2. Keine Befreiung von der Bareinlageverbindlichkeit 3. Unzulässigkeit der verdeckten Sacheinlage auch nach neuem Recht 4. Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage nach neuem Recht a) Wirksamkeit der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte b) „Anrechnungslösung“ 5. Einzelfragen zur „Anrechungslösung“ a) Auswirkungen der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte auf die Bareinlagepflicht aa) Rechtslage vor der Eintragung der Gesellschaft

bb) Rechtslage ab Eintragung der Gesellschaft bei bereits durchgeführtem Vertrag cc) Vertragsabschluss vor der Eintragung, dingliche Ausführung hiernach (1) Übertragung vor Erfüllung des Bareinlageanspruchs (2) Übertragung nach Erfüllung des Bareinlageanspruchs dd) Vertragsabschluss und dingliche Ausführung erst nach der Eintragung b) Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands übersteigt die fällige Einlage c) Minderheitenschutz aa) Notwendiger Schutz der AltGesellschafter? bb) Schutz später hinzukommender Gesellschafter IV. Übergangsrecht 1. Vor Inkrafttreten des MoMiG bewirkte „Einlageleistungen“ 2. Die „aus der Unwirksamkeit folgenden Ansprüche“ 3. Die „Vereinbarung“ 4. Materiellrechtliche Unstimmigkeiten der Rückwirkungslösung a) Problemstellung: Nachträglich kollidierende Rechtsgeschäfte b) Lösung: Teleologische Reduktion des § 3 Abs. 4 EGGmbHG IV. Fazit und Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

I. Einführung Das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) hat die größte Reform des GmbH-Rechts seit der Ein1265

Andreas Pentz

führung dieser Rechtsform im Jahre 1892 zum Gegenstand. Nachdem der Gesetzgeber ursprünglich mit der Herabsenkung des Mindestkapitals bei der GmbH die in Deutschland beängstigend niedrige Zahl von Unternehmensgründungen erhöhen wollte, dieses Vorhaben aber zugunsten einer weiterreichenden Reform aufgegeben hatte, war zunächst geplant, den Schutz der Gläubiger zu erhöhen und in diesem Zusammenhang insbesondere gläubigerschädigende „Beerdigungen“ von GmbH in den Griff zu bekommen. Dazwischen gekommen sind mehrere EuGH-Entscheidungen und ein damit verbundenes (mutmaßliches) Phänomen, der sog. „Wettbewerb der Gesellschaftsformen“. Nach den Entscheidungen des EuGH ist – abweichend von der in Deutschland herrschenden Sitztheorie – eine in einem EU-Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft in einem anderen Staat auch dann als ausländische Gesellschaft in ihrer Rechtsform anzuerkennen, wenn sie ihren effektiven Verwaltungssitz nicht im Gründungsstaat hat1. Dem Begriff des „Wettbewerbs der Gesellschaftsformen“ lag die – eher lebensfremde – Annahme zugrunde, dass Einwohner der EU dann, wenn sie unternehmerisch unter Inanspruchnahme einer Haftungsbeschränkung tätig werden wollen, sich unter den in der EU vertretenen Gesellschaftsformen umsehen und dann eine Gesellschaftsform wählen werden, die ihnen möglichst geringe Schwierigkeiten bereitet. Bemerkenswert war bei dieser Diskussion, dass sich die Betrachtung vor allem auf das aufzubringende Kapital beschränkte. Sonstige Fragen, wie etwa die nach der Handhabbarkeit der ausländischen Rechtsform, wurden in der Diskussion nur vereinzelt behandelt2. Hinzu kam eine erstaunliche Bewunderung und Orientierung der Betrachtungsweise am englischen Recht, die der Jubilar mit dem Bonmot bedacht hat, man könne hieraus den Eindruck gewinnen, dass einige der jüngeren Rechtswissenschaftler den mit ihrem Auslandsaufenthalt verbundenen Kulturschock anscheinend noch nicht ganz überwunden hätten. Die Auswirkungen des in dieser Form unterstellten „Wettbewerbs der Gesellschaftsformen“ waren beträchtlich und stellten das ursprüngliche gesetzgeberische Ziel, die Erhöhung des Gläubigerschutzes, auf den Kopf. Augenscheinlich ist man auch nicht näher der Frage nachgegangen, wie es sich denn tatsächlich mit diesem angeblichen Wettbewerb der Gesellschaftsformen verhielt3 und ob der vermeintliche Druck der in diesem Zusammenhang in den

__________ 1 EuGH, NJW 1999, 2027 – Centros; EuGH, NJW 2002, 3614 – Überseering; EuGH, NJW 2003, 3331 – Inspire Art. 2 Warnend aber schon Maul/Schmidt, BB 2003, 2297, 2298 ff. 3 Kritisch deshalb bereits Pentz in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2006, 2007, S. 115, 119; ders. in Bayer/Koch, Das neue GmbH-Recht, S. 69, 71. Eine Ausnahme bildete hier die FDP-Fraktion, vgl. BT-Drucks. 16/9737, S. 89 des Ausdrucks in der elektronischen Vorab-Fassung: „3. Ein Bedarf für eine deutsche Limited (Ltd.) in Form der Unternehmergesellschaft besteht nicht. Belastbare Untersuchungen für die Notwendigkeit einer deutschen Ltd. gibt es nicht. Vielmehr ist die Zahl der Limited-Gründungen rückläufig. Deutlich wird dieser Trend durch den Rückgang des absoluten Zuwachses der Ltds. In 2006, dem stagnierenden Trend der monatlichen Anmeldungen in 2006 und dem in 2007 deutlich negativem Wachstum gegenüber dem Vorjahresmonat.“

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Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

Vordergrund gerückten englischen Limited denn tatsächlich so stark wie unterstellt war4. Betrachtet man das MoMiG heute, fühlt man sich in Anlehnung an einen bekannten Film aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts5 zu der Bemerkung „Kein Platz für Gläubiger“ veranlasst: Wurde in der GmbH-Novelle 1980 die Anhebung des Mindestkapitals von seinerzeit 20 000 DM auf 50 000 DM noch damit begründet, dass der bis dahin geltende Mindestbetrag des Stammkapitals von 20 000 DM in der Regel keine Gewähr für eine ausreichende wirtschaftliche Basis der Gesellschaft biete und die Gesellschaftsgläubiger auch mehr als bisher vor unsoliden Gründungen geschützt werden sollten6, ist dieses Wissen inzwischen augenscheinlich verloren gegangen. Das MoMiG lässt die „Unternehmergesellschaft (UG) haftungsbeschränkt“ als Unterform der GmbH mit lediglich einem Euro Mindestkapital zu. Die gläubigerschützende Vorfeldwirkung der Rechtsprechungsregeln zum Kapitalersatz ist durch die Einfügung von § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG abgeschafft worden7, im Gegenzug hat sich das Haftungsrisiko des Geschäftsführers (der als weisungsabhängiges Organ bei der GmbH für eine solche Haftungsverschiebung sicher nicht die richtige Adresse ist) durch § 64 Satz 3 GmbHG in diesem Zusammenhang signifikant erhöht8. Ob der materielle Eigenkapitalcharakter9 kapitalersetzender Leistungen im Rahmen der neuen Regelungen noch Bedeutung haben wird – was auf die Frage des Anwendungsbereichs des neuen Rechts in gegenständlicher Hinsicht Einfluss hat – ist unklar. Gesellschafter können – was man kaum als sachgerechte Lösung ansehen kann10 – allein wegen zeitlicher Momente nach § 135 InsO in die Haftung geraten, ohne dass es materiell auf die Krisenbezogenheit ihrer Leistungen ankäme. Das Hin- und Herzahlen bei der Kapitalaufbringung, bisher eine auf his-

__________ 4 Hierzu näher Niemeier, ZIP 2006, 2237, 2242; ders., ZIP 2007, 1794 ff.; nach seinen neueren, noch unveröffentlichten Untersuchungen ist der Trend noch weiter rückläufig. 5 Gemeint ist der auf dem gleichnamigen Buch von 1954 beruhende Film „Kein Platz für wilde Tiere“ aus dem Jahre 1956 von Bernhard Grzimek und Michael Grzimek, der im gleichen Jahr mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet worden ist. 6 Begr. RegE, abgedruckt bei Deutler, Das neue GmbH-Recht, 2. Aufl. 1981, S. 21. 7 S. hierzu auch den Diskussionsbeitrag des Jubilars auf der Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung 2006, vgl. den Diskussionsbericht von Olberg in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2006, 2007, S. 139, 143; ders., ZIP 2007, 1794 ff. 8 Kritisch hierzu bereits Karsten Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1932 f. und zu der inzwischen geänderten Fassung des § 19 Abs. 3 InsO; ders., GmbHR 2008, 449 ff.; treffend ders., BB 2008, 461 ff.: „Die MoMiG-Reform ist eine Reform auf dem Rücken der Geschäftsführer!“; s. auch Pentz in VGR (Fn. 3), S. 115, 135 f. 9 Zu der hiermit verbundenen materiellen Begründung des Kapitalersatzrechts s. Pentz in VGR (Fn. 3), S. 115, 134 f.; ders. in Bayer/Koch (Fn. 3), S. 69, 83; zu den – absichtlichen oder unabsichtlichen – Missverständnissen der Kritiker des Kapitalersatzrechts Karsten Schmidt, ZIP 2006, 1925 f. m. w. N. 10 Pentz in VGR (Fn. 3), S. 115, 136; ders. in Bayer/Koch (Fn. 3), S. 69, 84.

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Andreas Pentz

torisch belegten Erfahrungswerten11 beruhende kapitalgesellschaftsrechtliche „Todsünde“, wird in § 19 Abs. 5 GmbHG (mit eigentümlichem Wortlaut12) bei liquidem Rückzahlungsanspruch zugelassen, um das Cash Pooling auch bei der Gründung zu ermöglichen. Neu ist auch, dass bereits das Bestehen eines Gewinnabführungsvertrags nach § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG und § 57 Abs. 1 AktG13 von der Einhaltung der Kapitalerhaltungsbestimmungen suspendiert, obwohl ein derartiger Vertrag von seinem auf die Abführung des Gewinns beschränkten Vertragsgegenstand her für eine solche Rechtsfolge überhaupt keinen sachlichen Anlass bietet. Und auch bei der Kapitalerhaltung soll nunmehr – ebenfalls mit Blick auf das Cash Pooling – ein liquider Rückzahlungsanspruch genügen14. Ein weiteres GmbH-rechtliches Institut, das mit dem MoMiG gleichsam unter die Räder geraten ist, ist die bisherige Lehre von der verdeckten Sacheinlage. Dies gilt jedenfalls für das GmbH-Recht, nachdem sich hierzu nunmehr in § 19 Abs. 4 GmbHG eine Regelung findet, die von den bislang hierzu geltenden Grundsätzen ausdrücklich abweicht. Auf das Aktienrecht15 wird das MoMiG insoweit keine Auswirkungen haben. Dort steht § 27 Abs. 3 AktG einer entsprechenden Regelung entgegen, und nach zutreffender Auffassung ist den durch die Kapitalrichtlinie vorgegebenen Sacheinlagevorschriften der Umgehungsschutz immanent16, was Änderungsvorhaben – selbst wenn eine bestimmte Reaktion auf Umgehungsversuche europarechtlich nicht unmittelbar vorgeschrieben ist – Grenzen setzt.

__________ 11 Zum Hintergrund des heute geltenden Rechts s. etwa die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die KGaA und die AG von 1884, abgedr. bei Schubert/ Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4, S. 55 ff. sowie das Gutachten des ROHG, ebenda, S. 157, 160 ff. und die Allgemeine Begründung des Gesetzentwurfs von 1884, ebenda, S. 407, 408 ff., 426 ff. 12 Nach dem Wortlaut der Bestimmung scheint es, als ob die Rückzahlungsvereinbarung Voraussetzung für die befreiende Wirkung der Leistung wäre („Ist vor der Einlage eine Leistung an den Gesellschafter vereinbart worden, die wirtschaftlich einer Rückzahlung der Einlage entspricht …, so befreit dies den Gesellschafter von seiner Einlageverpflichtung nur dann, …). 13 Die Änderung des § 57 Abs. 1 AktG dürfte mit den europarechtlichen Vorgaben der Kapitalrichtlinie nicht vereinbar sein, vgl. hierzu bereits Pentz, Status:Recht 2007, 239, 240; Habersack, ZHR 170 (2006), 607, 610. 14 In aktienrechtlicher Hinsicht gelten hierzu die Bemerkungen in Fn. 13 entsprechend. Es hätte sich empfohlen, in Verfolgung der bisher geltenden Grundsätze auf die „betriebliche Veranlassung“ abzustellen, näher hierzu Pentz in VGR (Fn. 3), S. 115, 129 ff.; ders. in Bayer/Koch (Fn. 3), S. 69, 78 f.; hierdurch hätte sich bei § 57 Abs. 1 AktG auch der Widerspruch zu den europäischen Vorgaben durch die Kapitalrichtlinie vermeiden lassen. 15 Zu der dort ebenfalls geltenden Lehre von der verdeckten Sacheinlage vgl. nur Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 9 ff.; Pentz in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 27 AktG Rz. 84 ff.; Röhricht in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 27 AktG Rz. 188 ff.; Bayer in Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 27 AktG Rz. 49 ff.; Heidinger in Spindler/Stilz, AktG, 2008, § 27 AktG Rz. 100. 16 Näher insbes. Kindler in FS Boujong, 1996, S. 299, 308 ff.; weitere Nachweise bei Pentz in MünchKomm.AktG (Fn. 15), § 27 AktG Rz. 87, jeweils auch mit Nachweisen zu abweichenden Auffassungen.

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Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

Nachdem sich der Jubilar bereits mit dem Recht der verdeckten Sacheinlage nach dem Regierungsentwurf kritisch auseinander gesetzt hat17, hofft der Verf., mit den nachstehenden Überlegungen auf das Interesse des Jubilars zu stoßen, und würde sich freuen, wenn dieser die nachstehenden Ausführungen gleichsam als Fortsetzung der gemeinsamen Diskussionen im „Arbeitskreis Kapital in Europa“18 verstehen würde.

II. Zur Lehre der verdeckten Sacheinlage 1. Ausgangspunkt: Die gesetzliche Unterscheidung zwischen Bar- und Sacheinlage Ausgangspunkt der Lehre von der verdeckten Sacheinlage ist die im Kapitalgesellschaftsrecht gesetzlich vorgegebene Unterscheidung zwischen der Barund der Sacheinlage. Bareinlagen sind solche, die durch Zahlung von Bargeld bzw. in den gesetzlich jeweils zugelassenen (vgl. hierzu § 54 Abs. 3 AktG19) Einbringungsformen erfolgen. Jede andere Einlage ist eine Sacheinlage. Die Einbringung von Sacheinlagen ist ein unter dem Aspekt der realen Kapitalaufbringung gefährlicher Vorgang. Um sicherzustellen, dass der Gesellschaft auch im Falle der Sacheinlage mindestens ein dem Wert der hierfür zugeteilten Geschäftsanteile bzw. Aktien entsprechender Sachwert zugeführt wird, sieht das Gründungsrecht bei Kapitalgesellschaften für die Sachgründung Sicherungsvorschriften vor, die durch zwei präventiv wirkende Schutzmechanismen gekennzeichnet sind20: Zum einen dadurch, dass das Vorliegen einer Sacheinlage publiziert werden muss, zum anderen durch die Kontrolle des Registergerichts, die gewährleisten soll, dass die Gesellschaft nur dann mit der Eintragung als juristische Person zum Entstehen kommt (vgl. § 11 Abs. 1 GmbHG, § 41 Abs. 1 Satz 1 AktG), wenn die Einlagefähigkeit der Gegenstände und auch ihre Vollwertigkeit überprüft worden sind. 2. Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage Der Lehre von der verdeckten Sacheinlage geht es um die Erfassung von Umgehungsfällen, in denen nach den hinter der Unterscheidung zwischen der Barund der Sacheinlage stehenden Vorgaben rechtlich nicht bei der äußeren Form eines Vorgangs halt gemacht werden kann, sondern aufgrund einer Gesamtbetrachtung des Vorgangs die Anwendung der Sacheinlagevorschriften geboten ist:

__________ 17 Karsten Schmidt, GmbHR 2008, 449, 451 ff. 18 Sog. Lutter-Gruppe, die Ergebnisse sind veröffentlicht in dem ZGR-Sonderheft Nr. 17. 19 Zur entsprechenden Anwendung der Bestimmung im GmbH-Recht s. nur Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 19 GmbHG Rz. 107. 20 Hierzu insbes. Ulmer, ZHR 154 (1990), 128, 131 f.

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a) Kennzeichnung und methodischer Ansatzpunkt Die Fälle der verdeckten Sacheinlage sind durch die formale Aufteilung eines wirtschaftlich einheitlich gewollten Vorgangs in mehrere Teile gekennzeichnet. Der Gesellschaft fließt zwar formal Bargeld als Einlage zu. Diese Einlage wird jedoch gegen einen anderen Vermögensgegenstand, den wirtschaftlich tatsächlich gewollten (Sach-)Einlagegegenstand, eingetauscht. Ohne Bedeutung ist dabei, in welcher Reihenfolge dies geschieht, ob der Gesellschaft also zunächst Bargeld zugeführt wird und dieses dann in einem zweiten Schritt an den Gründer (oder einen ihm gleichzustellenden Dritten21) – etwa als Kaufpreis – zurückfließt oder ob der Vorgang umgekehrt stattfindet22. Die die verdeckte Sacheinlage kennzeichnende Aufspaltung des wirtschaftlich einheitlich gewollten Vorgangs in mehrere rechtlich getrennte Geschäfte steht unabhängig von der Reihenfolge der Vorgänge im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Sacheinlagebestimmungen und ist deshalb unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben als unzulässiges Umgehungsgeschäft anzusehen, ohne dass es auf eine Umgehungsabsicht der Beteiligten in dem Sinne ankäme, dass diese die ihnen bekannten Sacheinlagevorschriften absichtlich vermeiden wollen23. b) Abrede und maßgeblicher Zeitpunkt Die Feststellung, dass die Beteiligten die Sacheinlagevorschriften hätten einhalten müssen, ist nur gerechtfertigt, wenn beide Vorgänge – der gesetzliche Grundfall und die in Rede stehende Gestaltung – auch tatsächlich mit einander vergleichbar sind. Zur Gleichstellung der Vorgänge muss im Zeitpunkt der Begründung der Einlagepflicht zwischen den Beteiligten eine Abrede vorliegen, nach der der Gesellschaft der Sache nach (im wirtschaftlichen Ergebnis) statt der geschuldeten Bareinlage eine Sacheinlage zufließen soll24. Denn nur dann lässt sich davon sprechen, dass nach dem tatsächlichen (Gesamt-)Vorhaben der Beteiligten eine Sacheinlage beabsichtigt war und sie deshalb auch entsprechend hätte festgesetzt werden müssen. Die nur einseitige Absicht oder die bloße Erwartung eines von mehreren Gründern, die Gesellschaft werde mit den eingelegten Mitteln einen Gegenstand von ihm erwerben, genügt diesbezüglich nicht. Soweit es bei einer Einpersonengesellschaft eine Abrede in diesem Sinne nicht geben kann, genügt für die Gleichstellung der Vorgänge ein

__________ 21 Zu Konzernverhältnissen in diesem Zusammenhang zuletzt BGHZ 171, 113 Tz. 8 ff. = BGHReport 2007, 453 mit Anm. Pentz. 22 Hierzu nur BGHZ 170, 47 Tz. 11; BGH, NJW 1982, 2444, 2446 (insoweit in BGHZ 83, 319 nicht abgedruckt); BGHZ 113, 335, 345; BGHZ 118, 83, 94; BGHZ 132, 133, 138. 23 Hierzu statt anderer nur Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 19 GmbHG Rz. 39; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 5 GmbHG Rz. 43; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 19 GmbHG Rz. 122; Ulmer in Ulmer, GmbHG, 2005 § 19 GmbHG Rz. 108; Winter/ H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2005, § 5 GmbHG Rz. 77, jew. m. w. N. 24 Zur notwendigen Abrede s. zuletzt BGH, NZG 2008, 425, 426 f. Tz. 13; BGH, NZG 2008, 311 f. Tz. 12, jew. m. w. N.

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Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

entsprechendes einseitiges Vorhaben des Gründers25. Die notwendige Abrede bzw. das notwendige Vorhaben ist mithin das Element, das die verbotene Sacheinlage von der zulässigen Mittelverwendung abgrenzt26. 3. Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage nach altem Recht Die Rechtsfolgen des Vorliegens einer verdeckten Sacheinlage bestanden bis zum Inkrafttreten des MoMiG im GmbH-Recht (zum neuen Recht nachstehend unter III.) zunächst darin, dass die Bareinlagepflicht des Gründungsgesellschafters durch die Zahlungen an die Gesellschaft nicht erfüllt wurde, weil es an der erforderlichen Leistung zur endgültigen freien Verfügung der Geschäftsführer im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG fehlte27. Der Gesellschafter konnte deshalb die insoweit nur vermeintlich schuldbefreiend geleisteten Einlagemittel nach § 812 Abs. 1 BGB von der Gesellschaft zurückfordern. Die Einlageverbindlichkeit blieb mangels Erfüllung bestehen und der hiernach geschuldete Betrag war von seiner Fälligkeit an zu verzinsen. Die im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage abgeschlossenen schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte waren entsprechend § 27 Abs. 3 AktG der Gesellschaft gegenüber unwirksam28, und die insoweit wechselseitig erbrachten Leistungen konnten nach § 812 Abs. 1 BGB zurückgefordert werden29. Die analoge Anwendung des § 27 Abs. 3 AktG im GmbH-Recht rechtfertigte sich (abweichend von der Begründung des BGH30) daraus, dass eine gegenüber dem Aktienrecht strengere Handhabung des Vorgangs im tendenziell eher großzügigeren GmbH-Recht nicht begründbar war31. Hinzu kam die Strafbarkeit des Geschäftsführers nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG32 sowie eine

__________ 25 BGH, NZG 2008, 311 f. Tz 12. 26 Auf die Vermutung der somit notwendigen Abrede/Vermutung bei sachlichem und zeitlichem Zusammenhang und den hierfür maßgeblichen Zeitraum ist hier nicht einzugehen, s. stattdessen nur Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 19 GmbHG Rz. 124 ff.; Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 5 GmbHG Rz. 171; § 19 GmbHG Rz. 109. 27 Statt anderer: Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 23), § 19 GmbHG Rz. 41; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff (Fn. 23), § 5 GmbHG Rz. 48; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 19 GmbHG Rz. 127 f.; Winter/H. P. Westermann in Scholz (Fn. 23), § 5 GmbHG Rz. 80a; Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 19 GmbHG Rz. 132. 28 Der BGH hat in diesem Zusammenhang nicht ganz präzise von Nichtigkeit gesprochen, vgl. BGHZ 155, 329, 339 f. LS 2; zur Bedeutung der Unterscheidung näher Pentz, ZIP 2003, 2093, 2096 ff. 29 Zur Saldierung gegenüberstehender Ansprüche BGHZ 155, 329, 339 f.; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff (Fn. 23), § 5 GmbHG Rz. 53; Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 19 GmbHG Rz. 135, jew. m. w. N. 30 BGHZ 155, 329, 338 f. 31 Pentz, ZIP 2003, 2093, 2099 f. 32 Zur Strafbarkeit bei der verdeckten Sacheinlage statt anderer Schaal in Rowedder/ Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 82 GmbHG Rz. 43 f.; Tiedemann in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 82 GmbHG Rz. 115 ff., jew. m. w. N., auch unter dem Aspekt des strafrechtlichen Analogieverbots.

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mögliche Haftung von Beratern bzw. des beurkundenden Notars33. Stellte das Registergericht eine verdeckte Sacheinlage fest, hatte es die Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister abzulehnen. 4. Kritik an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage ist schon vor der im Zusammenhang mit dem MoMiG in Gang gekommenen Diskussion kritisiert worden. Den in diesem Rahmen angebotenen Alternativmodellen – Differenzhaftung, Schadensersatzpflichten der Vertretungsorgane bei unausgeglichenen Austauschgeschäften – stand jedoch bereits im Ansatz der präventive Charakter der Sachkapitalvorschriften entgegen, der eine erst nachträglich eingreifende Reaktion ausschloss34.

III. Änderungen durch das MoMiG In dieses in sich geschlossene und systematisch folgerichtige Konzept von der Behandlung verdeckter Sacheinlagen hat das MoMiG im GmbH-Recht eingegriffen. Im Anschluss an einen Vorschlag des Handelsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins35 hat sich das MoMiG dabei für eine „Anrechnungslösung“ in § 19 Abs. 4 GmbHG entschieden: „(4) Ist eine Geldeinlage eines Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung und aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu bewerten (verdeckte Sacheinlage), so befreit dies den Gesellschafter nicht von seiner Einlageverpflichtung. Jedoch sind die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung nicht unwirksam. Auf eine fortbestehende Geldeinlagepflicht des Gesellschafters wird der Wert des Vermögensgegenstandes im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister oder im Zeitpunkt seiner Überlassung an die Gesellschaft, falls diese später erfolgt, angerechnet. Die Anrechnung erfolgt nicht vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister. Die Beweislast für die Werthaltigkeit des Vermögensgegenstandes trägt der Gesellschafter.“

Diese Änderung soll rückwirkend in Kraft treten (vgl. noch unter III.). Mit der Neuregelung der verdeckten Sacheinlage im GmbH-Recht kommt es zu einem unschönen Auseinanderlaufen bisher parallel geregelter Bereiche im Aktien- und GmbH-Recht, da das Aktienrecht keine entsprechende Änderung erfahren hat und eine Übertragung des GmbH-rechtlichen Modells auf die Aktiengesellschaft unter europarechtlichen Aspekten wohl auch bedenklich wäre (vgl. bereits oben vor I.). Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten wirft das neue

__________ 33 Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 19 GmbHG Rz. 135 m. w. N. 34 Zum Ganzen statt anderer Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 19 GmbHG Rz. 127 m. w. N. auch auf abw. Meinungen. 35 Die Stellungnahme findet sich u. a. in NZG 2007, 735, 739 Rz. 45 mit Hinweis auf die Stellungnahme zum RefE MoMiG in NZG 2007, 211, Rz. 110 ff. und vom Juni 1996, WiB 1996, 707 ff.; vgl. zur Anrechnungslösung auch bereits Winter in FS Priester, 2007, S. 867, 878; ihm zust. Priester, ZIP 2008, 55, 56.

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Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

Recht jedoch auch eine Vielzahl von Fragen auf, die hier schon aus Raumgründen nicht alle angesprochen werden können, von denen aber die wichtigsten nachstehend behandelt werden sollen: 1. Definition der verdeckten Sacheinlage Nach der Definition des § 19 Abs. 4 GmbHG soll eine verdeckte Sacheinlage dann vorliegen, wenn „eine Geldeinlage eines Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung und aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu bewerten“ ist. Dass „eine Geldeinlage … als Sacheinlage zu bewerten“ sein soll, entspricht indessen nicht der Lehre von der verdeckten Sacheinlage36. Wie unter I. dargelegt, geht es dieser Lehre vielmehr darum, Umgehungsgeschäfte zu erfassen und einer Regelung zuzuführen. Mit einer „Geldeinlage“, die aufgrund einer Abrede „als Sacheinlage zu bewerten“ ist, hat dies nichts zu tun, zumal sich schon aufgrund der objektiven Auslegung von Satzungen37 auch nicht argumentieren ließe, die Gesellschafter hätten im Rahmen einer falsa demonstratio eine Sacheinlage lediglich als Bar-(Geld-)Einlage dargestellt. Der Gesetzestext verdunkelt insoweit mehr als er erhellt. Wer mit den Grundsätzen von der verdeckten Sacheinlage nicht vertraut ist, wird mit dem Gesetzeswortlaut wenig bzw. gar nichts anfangen können. Entgegen der abweichenden Darstellung in der Begründung des Regierungsentwurfs38 entspricht die Definition des § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG auch nicht derjenigen des BGH. Vielmehr spricht der II. Senat davon, dass eine verdeckte Sacheinlage dann vorliege, „wenn die gesetzlichen Regeln für Sacheinlagen dadurch unterlaufen werden, dass zwar eine Bareinlage vereinbart wird, die Gesellschaft aber bei wirtschaftlicher Betrachtung von dem Einleger aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Einlage getroffenen Absprache einen Sachwert erhalten soll“39.

Bei diesem Verständnis vom Institut der verdeckten Sacheinlage hat es trotz des insoweit abweichenden Gesetzestextes zu verbleiben, zumal ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs40 eine Neudefinition des Tatbestands der verdeckten Sacheinlage nicht beabsichtigt war. Zur Verdeutlichung ist lediglich anzumerken, dass der vom BGH verwendete Begriff der „wirtschaftlichen Betrachtung“ keine kaufmännische o. ä. Betrachtungsweise meint, son-

__________ 36 Zutreffend Gesell, BB 2007, 2241, 2245 f. 37 Hierzu statt anderer nur Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck (Fn. 23), § 2 GmbHG Rz. 25 ff.; Emmerich in Scholz (Fn. 23), § 2 GmbHG Rz. 33; Schmidt-Leithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 2 GmbHG Rz. 78 ff.; Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 2 GmbHG Rz. 138 ff., alle m. w. N. 38 RegE S. 92 zu Nr. 17 lit. b und c: „Die abstrakte Umschreibung der Voraussetzungen für das Vorliegen einer verdeckten Sacheinlage … setzt auf die in der Rechtsprechung übliche Definition auf, so dass insoweit eine Kontinuität gewahrt bleibt“. 39 St. Rspr., vgl. nur BGH, NZG 2008, 311 f. Tz. 12; BGH, NZG 2008, 425, 426 Tz. 10; BGHZ 173, 145 Tz. 14; BGHZ 170, 47 Tz. 11, m. w. N. 40 S. bei Fn. 38.

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dern nur verdeutlichen soll, dass es insoweit um die Erfassung des zu Grunde liegenden Gesamtvorgangs vor dem Hintergrund der gesetzlichen Wertungsvorgaben geht, also um eine teleologische, auf das Erreichen des Gesetzeszwecks gerichtete Betrachtungsweise. 2. Keine Befreiung von der Bareinlageverbindlichkeit Auch die Formulierung, dass die Bewertung der „Geldeinlage … als Sacheinlage (…) den Gesellschafter nicht von seiner Einlageverpflichtung“ befreie, erscheint nicht geglückt. Grundsätzlich41 befreit allein die Erfüllung des zu Grunde liegenden Anspruchs von der spiegelbildlich hiermit verbundenen Verpflichtung, so dass es von vornherein nicht um die Befreiung durch eine rechtliche „Bewertung“ gehen kann. Die Gesetzesformulierung dürfte vor dem Hintergrund der abweichenden Regelung im Regierungsentwurf allein als Klarstellung dahin zu verstehen sein, dass mangels Leistung zur endgültigen freien Verfügung der Geschäftsführer gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auch nach neuem Recht bei der verdeckten Sacheinlage die Einlageschuld des Gesellschafters nicht erfüllt wird. Zwar ließe sich die Bestimmung – dann als Klarstellung – auch dahin auslegen, dass es unabhängig von der Vereinbarung einer verdeckten Sacheinlage bei der in der Satzung verlautbarten Bareinlagepflicht verbleiben und die Leistung eines sonstigen Vermögensgegenstandes in Form der Leistung an Erfüllungs statt unzulässig sein solle. Vor dem Hintergrund des § 19 Abs. 2 GmbHG wäre eine solche Anordnung aber überflüssig gewesen. 3. Unzulässigkeit der verdeckten Sacheinlage auch nach neuem Recht Im Zusammenhang mit der wegen § 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG fortbestehenden Bareinlageverpflichtung des Gesellschafters ist die neue Regelung in § 19 Abs. 4 Satz 3 und 4 GmbHG zu sehen. Nach dieser Bestimmung wird „der Wert des Vermögensgegenstandes im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister oder im Zeitpunkt seiner Überlassung an die Gesellschaft, falls diese später erfolgt, angerechnet“, allerdings „nicht vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister“. Aus der Gesetzesformulierung folgt damit zunächst, dass die verdeckte Sacheinlage nach wie vor als rechtswidriger Vorgang anzusehen ist. Denn entgegen der vom Geschäftsführer bei der Anmeldung abgegebenen Versicherung gem. § 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG fehlt es bei der verdeckten Sacheinlage an der endgültigen freien Verfügung über die Bareinlagemittel. Auch die Strafbarkeit nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG bleibt mithin unberührt, ebenso eine möglicherweise eingreifende Haftung von Beratern bzw. des Notars; insoweit wird es allerdings im Regelfall an einem erstattungsfähigen Schaden fehlen, da die schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäft nach neuem Recht wirksam

__________

41 Zur Bedeutung der Anrechnungslösung des § 19 Abs. 4 GmbHG in diesem Zusammenhang s. nachstehend unter 4.

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sind. Ebenso bleibt es dabei, dass das Registergericht die Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister in diesen Fällen abzulehnen hat42. 4. Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage nach neuem Recht Grundlegend geändert haben sich allerdings die GmbH-rechtlichen Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage: a) Wirksamkeit der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte Die Wirksamkeit sowohl des schuldrechtlichen als auch des dinglichen Rechtsgeschäfts ist im Gesetz in § 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG ausdrücklich angeordnet. Dies bedeutet, dass die im Rahmen der verdeckten Sacheinlage verabredeten schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte ausgeführt werden dürfen bzw. sogar ausgeführt werden müssen, sofern bereits entsprechende Vertragspflichten begründet worden sind. Hierauf wird im Zusammenhang mit der „Anrechnungslösung“ (unter 5.) und dem Übergangsrecht (unter III.) zurückzukommen sein. b) „Anrechnungslösung“ Ohne Vorbild im bisherigen Recht43 der Erfüllungssurrogate ist die vom Gesetzgeber gewählte „Anrechnungslösung“, wonach der Wert des Vermögensgegenstands im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister bzw. im Zeitpunkt seiner späteren Überlassung an die Gesellschaft auf die mangels Erfüllung noch offene Einlageverbindlichkeit des Gesellschafters angerechnet wird. Nach dem Gesetzeswortlaut tritt diese Anrechnung unabhängig von dem Willen der Parteien kraft Gesetzes ein44. Dogmatisch dürfte diese „Anrechnung“ als verrechnungsähnliches Erfüllungssurrogat eigener Art einzuordnen sein. Der Annahme einer Leistung an Erfüllungs Statt steht entgegen, dass die „Anrechnung“ unabhängig vom Willen der Parteien kraft Gesetzes eintritt und der Gegenstand auch nicht vom Gläubiger angenommen werden muss. Dass der Wert eines – auf der Grundlage eines immerhin wirksamen Vertrages – wirksam übertragenen Vermögensgegenstandes losgelöst von diesem Austauschverhältnis Bedeutung für eine Einlageverbindlichkeit haben und diese sogar zum Erlöschen bringen kann, ist nicht eben leicht nachzuvollziehen. Soweit von der Kritik an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage teilweise die Behauptung aufgestellt worden ist, diese Grundsätze ließen sich – was nach den Erfahrungen des Verf. so allerdings keineswegs zutrifft – ausländischen Unternehmen nicht vermitteln, wäre es deshalb interessant zu erfahren, wie es denn insoweit mit der Vermittlung dieser

__________ 42 Missverständlich in diesem Zusammenhang die Beschlussempfehlung und der Bericht des Rechtsausschusses in BT-Drucks. 16/9737 S. 97: Richter „kann“ ablehnen. 43 Zutr. Ulmer, ZIP 2008, 45, 52; Maier-Reimer/Wenzel, ZIP 2008, 1449, 1451. 44 Beschlussempfehlung und der Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/9737, S. 97.

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neuen Anrechnungslösung bestellt wäre. Unter Wertungsaspekten erscheint es allemal widersprüchlich, vor der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister noch auf der Einhaltung des Sachgründungsrechts zu bestehen und insbesondere vom Fortbestand der Einlageverbindlichkeit auszugehen, nach der Eintragung jedoch diesen Vorgang vermögensmäßig durch eine „Anrechnung“ anzuerkennen. 5. Einzelfragen zur „Anrechungslösung“ Die „Anrechnungslösung“ ist jedoch nicht nur wegen der hierin liegenden Wertungswidersprüchlichkeit problematisch. Auch ihre Umsetzung im Einzelnen wirft Probleme auf. Aus der Vielzahl der sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen soll nachstehend zunächst auf die jeweiligen schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte und ihre Auswirkung auf die Bareinlagepflicht eingegangen werden (unter a); hier wird insbesondere der Frage nachzugehen sein, welche Bedeutung die gesetzliche Anrechung auf den Bereicherungsanspruch hat, der dem Gesellschafter wegen der nur vermeintlich geleisteten Bareinlage zusteht. Im Anschluss hieran wird untersucht, ob bzw. zu welchem Zeitpunkt ein die eingeforderte Mindesteinlage übersteigender Wert des Vermögensgegenstands auf die Resteinlage anzurechnen ist (unter b). Abschließend wird auf Fragen des Minderheitenschutzes eingegangen (unter c). a) Auswirkungen der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte auf die Bareinlagepflicht Bei den Auswirkungen des neuen Rechts auf die jeweiligen Ansprüche ist zwischen den unterschiedlichen Stadien zu unterscheiden: aa) Rechtslage vor der Eintragung der Gesellschaft Vor der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister bleibt der Gesellschafter verpflichtet, seine mangels Erfüllung noch offene Einlageschuld zu erfüllen. Umgekehrt kann er den von ihm an die Gesellschaft auf die Bareinlage als vermeintliche Erfüllung gezahlten Betrag nach § 812 Abs. 1 BGB zurückverlangen; eine Aufrechnung mit diesem Anspruch gegen die Bareinlageforderung ist ihm wegen § 19 Abs. 2 GmbHG verwehrt. Die im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage abgeschlossenen schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte sind wirksam. Beträgt die Einlageschuld beispielsweise 50 000 Euro und entspricht dieser Betrag auch dem Wert des erworbenen Vermögensgegenstands, verfügt die Gesellschaft im Ergebnis über ein Nettovermögen in Höhe von 50 000 Euro: Sie hat einen Vermögensgegenstand im Werte von 50 000 Euro sowie eine Einlageforderung gegen den Gesellschafter in Höhe von 50 000 Euro, ist allerdings ihrerseits einer Rückzahlungsforderung des Gesellschafters in Höhe von 50 000 Euro ausgesetzt. Im Überblick stellt sich die vermögensmäßige Situation der Gesellschaft nach der Kaufpreiszahlung mithin wie folgt dar: 1276

Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

Aktiva 1. 50 000 Vermögensgegenstand 2. 50 000 Offener Bareinlageanspruch

Passiva 50 000 Verbindlichkeit aus § 812 BGB

bb) Rechtslage ab Eintragung der Gesellschaft bei bereits durchgeführtem Vertrag Wird der im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage verabredete schuldrechtliche Vertrag bereits vor der Eintragung der Gesellschaft abgeschlossen und dinglich ausgeführt, bleiben diese Rechtsgeschäfte wirksam. Die Bareinlageverbindlichkeit des Gesellschafters bleibt zunächst offen, erlischt aber aufschiebend bedingt mit der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister in Höhe des Wertes, den der betreffende Vermögensgegenstand im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister hat. (1) Unterstellt man, dass sich der Wert des Vermögensgegenstands aus dem vorstehenden Beispiel nicht geändert hat, scheint sich die Vermögenslage der Gesellschaft durch die Eintragung zu ändern. Denn sie hat dann den Vermögensgegenstand gleichsam doppelt „bezahlt“: Zum einen mit Kaufpreisleistung von 50 000 Euro, zum anderen mit der Anrechnung des Wertes des Vermögensgegenstandes auf ihre noch offene Einlageforderung. In dem vorstehenden Beispiel würde dies bedeuten, dass sich im Vermögen der Gesellschaft der Vermögensgegenstand mit einem Wert von 50 000 Euro befindet, die bislang hierneben bestehende Einlageforderung durch die „Anrechnung“ erloschen ist und die Gesellschaft dem Gesellschafter Rückzahlung der 50 000 Euro schulden würde. Die Gesellschaft hätte überhaupt kein Nettovermögen mehr: Aktiva 1. 50 000 Vermögensgegenstand 2. – – (Bareinlageanspruch durch Anrechnung erloschen)

Passiva 50 000 Verbindlichkeit aus § 812 BGB

(2) Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis nicht dem gesetzlichen Anliegen entsprechen kann, da die Gesellschaft zum Eintragungszeitpunkt gesetzlich mit einem Mindestnettovermögen in Höhe des ausgewiesenen Stammkapitals ausgestattet sein soll. Fraglich ist indessen, ob bei der vorstehenden Feststellung stehen geblieben werden muss: Klar ist zunächst, dass der Rechtsgrund für die Kaufpreiszahlung durch die „Anrechnung“ nach § 19 Abs. 4 GmbHG nicht entfällt. Der Kaufvertrag zwischen dem Gesellschafter und der Gesellschaft stellt nach wie vor den Rechtsgrund für die Kaufpreiszahlung dar, weshalb die Gesellschaft ihn nicht zurückverlangen kann. Umgekehrt erlangt der Gesellschafter durch die gesetzliche Anrechnung hinsichtlich der Kaufpreiszahlung als solcher nichts, und für die Befreiung von der Einlageschuld bildet § 19 Abs. 4 GmbHG den Rechts1277

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grund. Besinnt man sich aber darauf, dass die Gesellschaft aufgrund der Anrechnungslösung des Gesetzes im Ergebnis für den Vermögensgegenstand gleichsam eine doppelte Leistung erbringt, nämlich den Kaufpreis und das Erlöschen ihrer Einlageforderung, erscheint es gerechtfertigt, hier hinsichtlich des Rückforderungsanspruchs des Gesellschafters auf Seiten der Gesellschaft von einem Wegfall der Bereicherung i. S. v. § 818 Abs. 3 BGB auszugehen: Die Gesellschaft erlangt zwar vom Gesellschafter zunächst ohne Rechtsgrund den auf die Bareinlage ohne Erfüllungswirkung geleisteten Betrag. Aufgrund der im kausalen Zusammenhang mit dem Gesamtvorgang der verdeckten Sacheinlage stehenden Anrechnung muss sie jedoch für den Erwerb des Vermögensgegenstands ihre Einlageforderung gleichsam zusätzlich aufwenden, sodass ihr in Höhe des angerechneten Betrags letztlich kein Vermögenszuwachs verbleibt. Daraus folgt zugleich, dass eine Entreicherung nur dann erfolgt, wenn die Gesellschaft bereits den Kaufpreis bezahlt hat, und sie auch nur in Höhe des nach § 19 Abs. 4 GmbHG angerechneten Betrages entreichert wird, also in Höhe des jeweils maßgeblichen Wertes der Sacheinlage. Denn nur in dieser Höhe wendet die Gesellschaft ihre Bareinlageforderung gleichsam auf und nur in dieser Höhe ist es deshalb gerechtfertigt, von Entreicherung auszugehen. Nach der Anrechnung und der hiermit verbundenen Entreicherung der Gesellschaft stellt sich ihr Vermögensstatus im vorstehenden Beispiel mithin wie folgt dar: Aktiva 1. 50 000 Vermögensgegenstand

Passiva – – (Verbindlichkeit aus § 812 BGB durch Entreicherung weggefallen)

2. – – (Bareinlageanspruch durch Anrechnung erloschen)

cc) Vertragsabschluss vor der Eintragung, dingliche Ausführung hiernach (1) Übertragung vor Erfüllung des Bareinlageanspruchs Wird der im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage verabredete schuldrechtliche Vertrag vor der Eintragung der Gesellschaft abgeschlossen, aber erst hiernach dinglich ausgeführt, sind beide Rechtsgeschäfte wirksam. Die Bareinlageverbindlichkeit des Gesellschafters bleibt bis zur Übertragung des Vermögensgegenstandes (§ 19 Abs. 4 Satz 3, 2. Var. GmbHG) auf die Gesellschaft offen, erlischt aber durch die gesetzliche „Anrechnung“ im Zeitpunkt seiner dinglichen Übertragung in Höhe seines zu diesem Zeitpunkt gegebenen Wertes. (2) Übertragung nach Erfüllung des Bareinlageanspruchs Erfüllt der Gesellschafter vor der Übertragung des Vermögensgegenstandes seine Bareinlageschuld (freiwillig oder unfreiwillig), fehlt es an einer noch offenen Einlageverbindlichkeit, auf die die Anrechnung des Wertes des Vermögensgegenstands erfolgen könnte. Insoweit verbleibt es deshalb auch bei 1278

Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

dem Rückforderungsanspruch des Gesellschafters hinsichtlich der vorgeblich geleisteten Einlagemittel aus § 812 Abs. 1 BGB. dd) Vertragsabschluss und dingliche Ausführung erst nach der Eintragung Wird der im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage verabredete schuldrechtliche Vertrag erst nach der Eintragung der Gesellschaft abgeschlossen und ausgeführt, sind beide Rechtsgeschäfte wirksam. Die Bareinlageverbindlichkeit des Gesellschafters bleibt bis zur Übertragung des Vermögensgegenstandes auf die Gesellschaft offen, erlischt jedoch durch gesetzliche „Anrechnung“ im Zeitpunkt seiner dinglichen Übertragung in Höhe seines zu diesem Zeitpunkt gegebenen Wertes. b) Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands übersteigt die fällige Einlage Nicht von vornherein eindeutig ist die „Anrechnung“, wenn bei der Gründung der Gesellschaft zwar eine satzungsrechtlich vorgeschriebene Mindesteinlage fällig gestellt und eingefordert worden ist, die Resteinlage in ihrer Fälligkeit aber von einem Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 2 GmbHG abhängt und der Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstandes die volle Höhe der gesamten Bareinlagepflicht erreicht bzw. sogar übersteigt. Hier stellt sich die Frage, ob es hinsichtlich der Einlageverbindlichkeit des Gesellschafters auch bezüglich des noch nicht fälligen Teils zu einer „Anrechnung“ kommt oder ob der Wert des Vermögensgegenstands zunächst nur in Höhe der fälligen Einlage angerechnet wird und eine weitere „Anrechnung“ erst dann erfolgt, wenn auch die Resteinlage fällig gestellt wird. Im letzteren Falle könnte konsequenterweise nur der Wert des Vermögensgegenstands zu Grunde gelegt werden, der im Zeitpunkt der Fälligstellung (noch) vorhanden ist. Nachdem das Gesetz die umgesetzte verdeckte Sacheinlage nach Eintragung der Gesellschaft akzeptieren und nur noch einer „Anrechnungslösung“ zuführen will, kann es in diesem Zusammenhang nur noch darum gehen, ob eine solche „Anrechnung“ in voller Höhe rechtlich hingenommen werden kann oder besondere zivil- bzw. GmbH-rechtliche Gründe dem entgegenstehen könnten. Weder das eine noch das andere ist der Fall: Eine Leistung des Schuldners vor Fälligkeit ist – abgesehen von hier nicht einschlägigen Ausnahmen45 – nach § 271 Abs. 2 BGB zivilrechtlich ohne Weiteres möglich. Aber auch gesellschaftsrechtlich ist eine Zahlung der Einlage, und damit auch ihr Erlöschen durch ein Erfüllungssurrogat vor Fälligkeit, anzuerkennen. Zwar war es vor allem früher streitig, inwieweit Einlagen, die freiwillig über die satzungsrechtlich vorgeschriebenen Mindesteinlagen hinaus geleistet worden sind, befreiende Wirkung haben konnten. In diesem Zusammenhang ging es aber insbesondere vor dem Hintergrund des seinerzeit ange-

__________ 45 Statt anderer Krüger in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2007, § 271 BGB Rz. 35 m. w. N.

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nommenen Vorbelastungsverbots maßgeblich um die Frage, ob solche Einlagen im Eintragungszeitpunkt noch im Geld vorhanden sein mussten. Seit der Überwindung des Vorbelastungsverbots kann dieses Problem deshalb im Wesentlichen als überholt angesehen werden46. Zudem stellt sich die diesem Streit zugrunde liegende Frage auch nach der „Anrechnungslösung“ schon deshalb nicht, weil eine „Anrechnung“ erst nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister erfolgt und es von daher um keine Vorbelastung der Gesellschaft gehen kann. Ein die fällige Einlage übersteigender Wert des Vermögensgegenstands ist deshalb auch auf eine noch nicht fällig gestellte Resteinlage anzurechnen und bringt diese in entsprechender Höhe ebenfalls schon vor ihrer Fälligkeit zum Erlöschen. c) Minderheitenschutz Fragen des Minderheitenschutzes können sich im Zusammenhang mit der neuen Regelung zur verdeckten Sacheinlage dann stellen, wenn der in diesem Rahmen verabredete schuldrechtliche Vertrag noch nicht abgeschlossen worden ist. Insoweit ist hinsichtlich des Personenkreises zu unterscheiden: aa) Notwendiger Schutz der Alt-Gesellschafter? Unproblematisch ist die Situation hinsichtlich der an der Gründung bzw. der Kapitalerhöhung beteiligten Gesellschafter. Da sie an der Abrede über die verdeckte Sacheinlage beteiligt sind, wissen sie um die verdeckte Sacheinlage und die damit in Verbindung stehenden Rechtsgeschäfte. Ein besonderes Schutzbedürfnis, auf das rechtlich reagiert werden müsste, ist insoweit nicht erkennbar. bb) Schutz später hinzukommender Gesellschafter Anders verhält es sich hinsichtlich der später hinzukommenden Gesellschafter: Neu hinzukommende Gesellschafter dürfen sich grundsätzlich auf die in der Satzung verlautbarte Bareinlagepflicht verlassen; denn auch insoweit wird man trotz der Änderung des § 19 GmbHG nach wie vor von der objektiven Auslegung der Satzung der GmbH auszugehen haben47. In diesem Zusammenhang entsteht aber ein Spannungsverhältnis dadurch, dass das Gesetz gleichwohl die Wirksamkeit der im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage

__________ 46 Näher hierzu Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 7 GmbHG Rz. 46 f.; ob es in diesem Zusammenhang tatsächlich auf die Zustimmung der Gründer zur vorzeitigen Geschäftsaufnahme ankommt, ist fraglich, da nach zutreffender (allerdings str.) Ansicht bereits im Stadium der Vor-GmbH von einer unbeschränkten Vertretungsmacht der Geschäftsführer auszugehen ist, vgl. hierzu statt anderer nur Karsten Schmidt in Scholz (Fn. 23), § 11 GmbHG Rz. 50 f. m. w. N. 47 Hierzu statt anderer nur Emmerich in Scholz (Fn. 23), § 2 GmbHG Rz. 33; SchmidtLeithoff in Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 2 GmbHG Rz. 78 ff.; Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 2 GmbHG Rz. 138 ff., alle m. w. N.

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geschlossenen schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte anordnet. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den zumindest aus Sicht der hinzugekommenen Gesellschafter ungewöhnlichen Vorgang sowie angesichts des Umstandes, dass es zumindest im Ergebnis zum Austausch der Bareinlage durch eine Sacheinlage kommt, erscheint es konsequent, zum Schutz der hinzukommenden Gesellschafter einen dem schuldrechtlichen Rechtsgeschäft zustimmenden Gesellschafterbeschluss zu fordern. Fraglich ist, mit welcher Mehrheit ein solcher Gesellschafterbeschluss zu fassen ist. In Betracht kommen insoweit die einfache oder die qualifizierte Mehrheit gemäß § 53 Abs. 2 GmbHG, aber auch die Notwendigkeit einer Zustimmungserklärung jedes einzelnen Gesellschafters. Geht man mit dem BGH48 davon aus, dass die Heilung verdeckter Sacheinlagen durch schlichte Satzungsänderung möglich ist und es hierfür nicht der Zustimmung eines jeden Gesellschafters bedarf49, ist es nur konsequent, auch für den hier in Rede stehenden Vorgang von einer solchen Zustimmungsbedürftigkeit abzusehen. Die Nähe der die Satzungsbestimmung zu der die Einlageform überspielenden Abrede zur Satzungsänderung selbst spricht aber immerhin dafür, zwar – mangels formeller Satzungsänderung – keine notarielle Beurkundung des betreffenden Beschlusses und auch nicht seine Eintragung in das Handelsregister zu verlangen, wohl aber die qualifizierte Mehrheit des § 53 Abs. 2 GmbHG.

IV. Übergangsrecht Zu erheblichen Problemen kann es außerdem im Zusammenhang mit der in § 3 Abs. 4 EGGmbHG i. d. F. des MoMiG bestimmten Anwendung des Gesetzes auf Altfälle kommen. Diese Anordnung fand sich bereits im Regierungsentwurf; mit Recht erhobene Bedenken hiergegen50 haben sich nicht durchsetzen können. Nach § 3 Abs. 4 EGGmbHG gilt § 19 Abs. 4 GmbHG n. F. auch für „Einlageleistungen“, die vor Inkrafttreten des MoMiG bewirkt worden sind, soweit sie nach altem Recht wegen einer verdeckten Sacheinlage keine Erfüllung der Einlageverpflichtung bewirkt haben. Nur „soweit über die aus der Unwirksamkeit folgenden Ansprüche“ zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes ein rechtskräftiges Urteil ergangen oder eine wirksame Vereinbarung zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter getroffen worden ist, verbleibt es beim alten Recht.

__________ 48 BGHZ 132, 141, 150 ff. = NJW 1996, 1473. 49 A. A. insoweit Ulmer in Ulmer (Fn. 23), § 19 GmbHG Rz. 138 m. w. N. zum Streitstand. 50 Stellungnahme Goette vor dem Rechtsausschuss, abrufbar unter http://www.bundes tag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/28_MoMiG/04_Stellungnahmen/Stellungnah me_Prof__Goette.pdf.

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1. Vor Inkrafttreten des MoMiG bewirkte „Einlageleistungen“ Die Formulierung von § 3 Abs. 4 EGGmbHG um die bewirkte „Einlageleistung“ stammt noch aus dem Regierungsentwurf51, nach dem die auf die Einlage des Gesellschafters geleistete Zahlung trotz verdeckter Sacheinlage zur Erfüllung der Einlageverbindlichkeit führen sollte. Nach geltendem Recht passt diese Formulierung nicht mehr. Denn als „Einlageleistung“ käme insoweit nur die Zahlung des Gesellschafters auf die Bareinlageverpflichtung in Betracht, die aber in der jetzigen Fassung wegen § 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG keine Erfüllungswirkung hat und vom Gesellschafter zurückgefordert werden kann. Dass der Bareinlageanspruch der Gesellschaft offen bleibt, ist gerade Voraussetzung für das Eingreifen von § 19 Abs. 4 GmbHG und die dortige „Anrechnung“. Die geschuldete Bareinlage wird vom Gesellschafter nach der Gesetz gewordenen „Anrechnung“ überhaupt nicht erbracht. Was der Gesellschafter nach der Neuregelung auf die Einlage „leistet“ – und dies auch nur im Wege der gesetzlich angeordneten „Anrechnung“ – ist der Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands. So verstanden bedeutet § 3 Abs. 4 Satz 1 EGGmbHG nichts anderes, als dass die Anrechnungslösung des Gesetzes auch auf Altfälle anzuwenden ist, soweit nicht die Ausnahmetatbestände des Satzes 2 (hierzu sogleich unter 3.) eingreifen. Wenn die Anrechnungslösung gelten soll, muss dies allerdings auch für die in § 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG angeordnete Wirksamkeit der schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte gelten, weil diese die Voraussetzung hierfür bilden. Dann bedeutet § 3 Abs. 4 Satz 1 EGGmbHG jedoch insgesamt nichts anderes als die unter dem Vorbehalt des Satzes 2 stehende Anwendbarkeit des § 19 Abs. 4 GmbHG auch auf Altfälle. 2. Die „aus der Unwirksamkeit folgenden Ansprüche“ Zur Anwendung des neuen Rechts kommt es gemäß § 3 Abs. 4 Satz 2 EGGmbHG nicht, „soweit … über die aus der Unwirksamkeit folgenden Ansprüche zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter vor dem Inkrafttreten des MoMiG ein rechtskräftiges Urteil ergangen oder eine wirksame Vereinbarung getroffen worden ist“. Die „aus der Unwirksamkeit folgenden Ansprüche“ betreffen den Bereicherungsanspruch des Gesellschafters wegen seiner vermeintlichen (wegen § 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG nicht schuldbefreienden) Einlageleistung, sowie die wechselseitigen Rückforderungsansprüche aufgrund der schuldrechtlichen und dinglichen Unwirksamkeit der Rechtsgeschäfte entsprechend § 27 Abs. 3 AktG und den Einlageanspruch der Gesellschaft nebst Zinsen. Dem Gesetzeswortlaut ist nicht unmittelbar zu entnehmen, ob ein Urteil bzw. eine Vereinbarung über sämtliche der im Zusammenhang mit der verdeckten Sacheinlage stehenden Ansprüche vorliegen muss. Da die auf die Unwirksam-

__________ 51 Es ist nur die für § 8 Abs. 2 Satz 2 GmbHG vorgesehene Bestimmung in § 19 Abs. 5 GmbHG verlegt worden.

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keit der jeweiligen Vorgänge beruhenden Ansprüche jedoch nur im Zusammenhang mit dem Gesamtvorgang der verdeckten Sacheinlage gesehen werden können, ist das Gesetz dahin zu verstehen, dass ein rechtskräftiges Urteil bzw. eine Vereinbarung über einen einzelnen Anspruch bereits genügt. Es reicht deshalb aus, wenn über den aus dem Tatbestand der verdeckten Sacheinlage folgenden Rückforderungsanspruch des Gesellschafters hinsichtlich des bereits geleisteten Vermögensgegenstands ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. In gleicher Weise genügt es, wenn ein rechtskräftiges Feststellungsurteil hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse an dem betreffenden Vermögensgegenstand ergangen ist. 3. Die „Vereinbarung“ Der Begriff der „Vereinbarung“52 über die betreffenden Ansprüche bereitet keine Probleme. Auch die Fälle, in denen der Vorgang der verdeckten Sacheinlage entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „geheilt“ worden ist, wird man hierunter subsumieren können. Zwar passt der Begriff der Vereinbarung wegen der in diesem Zusammenhang vorgenommenen Änderung der Einlageverpflichtung des Gesellschafters nicht unbedingt, da diese Heilung im Wege der Satzungsänderung und nicht im Wege einer vertraglichen Abrede zwischen der durch den Geschäftsführer vertretenen GmbH und dem Gesellschafter erfolgt. Der Begriff der Vereinbarung ist jedoch offen genug, um auch diesen Vorgang zu erfassen. Wollte man dies anders sehen, käme es auch zu Problemen hinsichtlich der infolge der Heilung des Vorgangs geleisteten Einlagegegenstände, was ersichtlich nicht in der Regelungsabsicht des Gesetzes liegt. 4. Materiellrechtliche Unstimmigkeiten der Rückwirkungslösung a) Problemstellung: Nachträglich kollidierende Rechtsgeschäfte Die materiellrechtliche Problematik der „Anrechnungslösung“ wird deutlich, wenn der Gesellschafter im Vertrauen auf das Vorliegen einer verdeckten Sacheinlage über den betreffenden Vermögensgegenstand zu Gunsten eines Dritten verfügt hat und ein gutgläubiger Erwerb (beispielsweise wegen einer Verfügung gemäß §§ 929, 931 BGB oder bei der Verfügung über ein Recht) nicht in Betracht kommt. Denn in diesem Fall kollidieren nunmehr die jeweiligen Vertragspflichten und Verfügungen. Der Gesellschafter hätte aufgrund der jetzt angeordneten Wirksamkeit der Verfügung bei der zweiten Übereignung als Nichtberechtigter gehandelt und wäre darüber hinaus den Ansprüchen seines Käufers nach § 437 BGB ausgesetzt, der selbst – sofern er zwischenzeitlich (immerhin auch als seinerzeitiger Eigentümer) weiter verfügt hat – seinem Vertragspartner gegenüber in gleicher Weise haften würde.

__________ 52 Ausführungen zu prozessualen Folgen werden aus Raumgründen an anderer Stelle veröffentlicht.

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b) Lösung: Teleologische Reduktion des § 3 Abs. 4 EGGmbHG Für die Lösung erscheint es richtig, zunächst am Verfügungsgeschäft anzusetzen und von dort aus die Lösung für das schuldrechtliche Geschäft zu erarbeiten: Ein Wirksamwerden der zunächst unwirksamen Übereignung zugunsten der Gesellschaft liefe im Ergebnis auf eine nachträgliche Enteignung des zweiten Erwerbers hinaus, wofür das Gesetz mit § 3 Abs. 4 EGGmbHG insbesondere vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1, 3 GG keine hinreichende Grundlage bietet. Zudem würde sich der Zweck des Gesetzes, das mittelständische Gesellschafter vor den Rechtsfolgen einer verdeckten Sacheinlage schützen sollte53, in sein Gegenteil verkehren und die Gesellschafter stärker als bisher belasten. Vor diesem Hintergrund ist § 3 Abs. 4 EGGmbHG teleologisch dahin zu reduzieren, dass Zwischenverfügungen des Gesellschafters, der nach altem Recht immerhin als Berechtigter gehandelt hat, wirksam bleiben, was gleichzeitig auf die endgültige Unwirksamkeit der Übereignung an die Gesellschaft hinauslaufen muss. Entsprechendes muss konsequenterweise auch hinsichtlich des mit der Gesellschaft geschlossenen Kaufvertrags gelten, aus dem der Gesellschafter der Gesellschaft gegenüber im Falle seiner Wirksamkeit sonst haften würde. Abgesehen davon, dass das schuldrechtliche und das dingliche Rechtsgeschäft in § 19 Abs. 4 GmbHG untrennbar zusammengehören dürften, würde sich auch hier bei einer einschränkungslosen Wirksamkeit der Gesetzeszweck in sein Gegenteil verkehren. Auch insoweit ist § 3 Abs. 4 EGGmbHG deshalb unter teleologischen Gesichtspunkten in seinem Anwendungsbereich zu reduzieren. Im Ergebnis findet die in § 3 Abs. 4 EGGmbHG angeordnete Ersteckung auf Altfälle bei Zwischenverfügungen des Gesellschafters unter teleologischen Aspekten mithin keine Anwendung. Es verbleibt vielmehr bei der Unwirksamkeit der mit der Gesellschaft geschlossenen schuldrechtlichen und dinglichen Verträge und bei der Wirksamkeit der nachfolgenden Rechtsgeschäfte.

IV. Fazit und Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Insgesamt lässt sich feststellen, dass das neue Recht keineswegs zu einer Vereinfachung des Rechts führt, sondern zahlreiche neue Probleme aufwirft. Die wichtigsten Ergebnisse der vorstehenden Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. An der Definition der verdeckten Sacheinlage hat sich trotz der missglückten Formulierung in § 19 Abs. 4 GmbHG nichts geändert. Es geht nicht um eine Bareinlage, die aufgrund einer getroffenen Abrede als Sacheinlage zu bewerten ist, sondern darum ob die gesetzlichen Regeln für Sacheinlagen dadurch unterlaufen werden, dass zwar eine Bareinlage vereinbart wird, die

__________ 53 RegE S. 91; an dieser Zielsetzung hat sich auch durch die Neufassung nichts geändert.

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Die verdeckte Sacheinlage im GmbH-Recht nach dem MoMiG

Gesellschaft aber der Sache nach von dem Inferenten aufgrund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Einlagepflicht getroffenen Absprache ein Sachwert zufließen soll. 2. Auch nach neuem Recht bleibt die verdeckte Sacheinlage unzulässig und steht wegen der fehlenden Erfüllung der Einlagepflicht durch den Gesellschafter der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister entgegen. 3. Hinsichtlich der Wirkungen der „Anrechnung“ gem. § 19 Abs. 4 GmbHG gilt Folgendes: a) Bis zur Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister bleiben die wechselseitigen Ansprüche der Gesellschaft auf Leistung der Bareinlage bzw. des Gesellschafters auf Rückzahlung der nur vermeintlich geleisteten Bareinlage bestehen. Die im Rahmen der verdeckten Sacheinlage geschlossenen schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfte sind abweichend vom bisherigen Recht wirksam. b) Nach der Eintragung ist zu unterscheiden: aa) Hat die Gesellschaft den verdeckt eingelegten Vermögensgegenstand bereits bezahlt, zahlt sie aufgrund der „Anrechnung“ des Wertes dieses Gegenstands auf ihre bis dahin noch offene Bareinlageforderung gleichsam ein weiteres Mal. In Höhe dieser „Anrechnung“ kann sie dem aus der unwirksamen Einlageleistung resultierenden Rückzahlungsanspruch des Gesellschafters Entreicherung entgegenhalten. bb) Hat der Gesellschafter vor der Übertragung des Vermögensgegenstands seine Bareinlagepflicht ordnungsgemäß erfüllt, fehlt es an einer offenen Einlageforderung, auf die der Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstandes noch angerechnet werden könnte. Insofern kommt es deshalb auch zu keiner Entreicherung der Gesellschaft. 4. Übersteigt der Werts des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstands die fällig gestellte Einlageverbindlichkeit, wird die Differenz auf den noch nicht fälligen Teil „angerechnet“ und bringt diesen in entsprechender Höhe zum Erlöschen. 5. a) Fragen des Minderheitenschutzes stellen sich zu § 19 Abs. 4 GmbHG nur hinsichtlich neu hinzukommender Gesellschafter. Die bisherigen Gesellschafter sind wegen ihrer Beteiligung an der Abrede über die verdeckte Sacheinlage nicht schutzbedürftig. b) Zum Schutz neu hinzukommender Gesellschafter bedarf es für den Abschluss des verabredeten schuldrechtlichen Vertrags eines zustimmenden Gesellschafterbeschlusses. Dieser Beschluss bedarf wegen seiner Nähe zur Satzungsänderung der qualifizierten Mehrheit, aber keiner Beurkundung oder Eintragung in das Handelsregister. 6. a) Das Übergangsrecht des § 3 Abs. 4 EGGmbHG ist trotz seines auf die letzte Gesetzesänderung nicht zugeschnittenen Wortlauts dahin auszulegen, dass das neue Recht des § 19 Abs. 4 GmbHG insgesamt auch auf Altfälle anzuwenden ist, sofern es über einen der aus dem Tatbestand der ver1285

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deckten Sacheinlage resultierenden Ansprüche noch kein rechtskräftiges Urteil oder eine wirksame Vereinbarung gibt. b) Unter den Begriff der „Vereinbarung“ fällt auch die Änderung der Einlagepflicht des Gesellschafters im Rahmen der „Heilung“ einer verdeckten Sacheinlage. c) § 3 Abs. 4 EGGmbHG ist teleologisch dahin zu reduzieren, dass Zwischenverfügungen des Gesellschafters über den verdeckt eingelegten Vermögensgegenstand der dort angeordneten Anwendung auf Altfälle entgegenstehen.

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Differenzhaftung bei Verschmelzung Inhaltsübersicht I. Vorspann II. Kapitalaufbringung und Differenzhaftung 1. Grundsatz realer Kapitalaufbringung 2. Differenzhaftung a) Geltendes Recht b) Historische Entwicklung c) Grundlage der Haftung III. Behandlung der Verschmelzung 1. Meinungsstand 2. Sachgründung bzw. Sachkapitalerhöhung 3. BGH: Argumente und Gegenargumente a) Kapitaldeckungspflicht b) Gesellschafter als Sacheinleger c) Keine nochmalige Einlageleistung d) Position der Gläubiger 4. Differenzierung zwischen GmbH und AG?

5. Sonderregelung durch § 22 UmwG? 6. Zwischenergebnis IV. Durchführung der Haftung 1. Haftungsadressaten a) Nur Zustimmende? b) Alle Gesellschafter c) Minderheitenrechte 2. Haftungsumfang 3. Sonderfälle a) Gewährung eigener Anteile b) Mehrfachverschmelzung c) Publikums-AG 4. Haftung Dritter: Organe und Prüfer V. Fazit 1. Thesen 2. Bewertung VI. Abspann

I. Vorspann Im Mai 2008 haben der Jubilar und der Verfasser zum 25. Mal auf der Steuerrechtlichen Jahresarbeitstagung der Fachanwälte für Steuerrecht in Wiesbaden im Rahmen einer „gesellschaftsrechtlichen Nische“ unter der Leitung des Vorsitzenden Richters des Gesellschaftsrechtssenats beim Bundesgerichtshof – jetzt also von Wulf Goette – jeder drei aktuelle Entscheidungen vorgetragen, dazu kritisch Stellung genommen und untereinander auf dem Podium sowie bei entsprechender Beteiligung auch mit den Teilnehmern darüber diskutiert. Einer der vom Verfasser dabei vorgestellten Fälle sah so aus: Kläger war wieder einmal der Insolvenzverwalter, hier einer Wo. AG. Vorausgegangen war im Kern folgendes: Ein Herr W. hatte im Jahre 1997 die W.W. AG gegründet und war deren Alleinvorstand geworden. Ihr Grundkapital betrug nach mehreren Kapitalerhöhungen zuletzt 3,2 Mio. Euro. Anfang 2000 erwarb er eine VorratsAG, verlegte ihren Sitz und firmierte sie um in Wo. AG. Im April 2000 verkaufte er der späteren Beklagten 475.000 Aktien = 15 % des Grundkapitals der WW-AG für 22 Mio. DM. Anschließend wurde die W.W. AG auf die Wo. AG verschmolzen, wobei deren Grundkapital auf 3,25 Mio. Euro erhöht wurde. 1287

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Gemäß Verschmelzungsvertrag sollten die W.W.-Aktien 1 : 1 in Aktien der Wo. AG umgetauscht werden. Die Bewertung des zu übertragenden Vermögens der W.W. AG beruhte auf Testaten der vorangegangenen Jahresabschlüsse durch eine WP-Gesellschaft, die im Zuge einer gem. §§ 67 UmwG, 52 Abs. 4 AktG für die Wo. AG durchgeführten Nachgründungsprüfung feststellte, dass der – auf ca. 120 Mio. DM geschätzte – Wert des von der Wo. AG zu übernehmenden Unternehmens der W.W. AG den Nennbetrag der dafür zu gewährenden Aktien bei weitem erreiche. Nach Eintragung der Verschmelzung stellte sich jedoch heraus, dass die W.W. AG schon vor dem Aktienerwerb der Beklagten überschuldet und wertlos war, weil Herr W. in großem Umfang Scheinumsätze gebucht und die Bilanzen gefälscht hatte. Der Kläger verlangte Zahlung des Nennbetrags der von der Beklagten aufgrund der Verschmelzung erworbenen Aktien i. H. v. 475.000 Euro. Er war der Ansicht, die Beklagte treffe eine Differenzhaftung entsprechend §§ 9, 56 GmbHG. Das LG München II hatte der Klage entsprochen; das OLG München hatte sie abgewiesen1. Die Revision des Klägers blieb erfolglos. Der BGH meinte ebenso wie die Vorinstanz, in Verschmelzungsfällen komme eine Differenzhaftung nicht zum Zuge2. Auf seine Argumentation ist unten im einzelnen einzugehen. An dieser Stelle sei nur verraten, dass der Verfasser genau umgekehrter Ansicht war. Der Jubilar hat sich dahin geäußert, er neige diesem letzteren Standpunkt zu. Wenn er allerdings einen Aufsatz schreiben würde, sei offen, was dabei herauskomme. Für den Verfasser, einen aktenkundigen Verehrer des Jubilars3, Grund genug, über die Frage noch einmal nachzudenken. Das Ergebnis seiner Bemühungen, wird nachstehend wiedergegeben.

II. Kapitalaufbringung und Differenzhaftung 1. Grundsatz realer Kapitalaufbringung Die ordnungsgemäße und vollständige Aufbringung des Nennkapitals als Pendant zur Haftungsbeschränkung der Gesellschafter bildet einen zentralen Grundsatz des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts4. Dabei dient die Kapitalaufbringung einerseits als Seriositätsschwelle und Risikobeitrag auf Seiten des Gesellschafters; andererseits als Betriebsmittelausstattung bei der Gesellschaft. Letzterer Aspekt steht hier im Vordergrund. Es ist zwar nicht zu verkennen, dass dieser Grundsatz neuerdings Zweifeln ausgesetzt ist, insbesondere im Hinblick auf gesetzliche Mindestkapital-Vor-

__________ 1 OLG München v. 27.10.2005, DB 2006, 146 = ZIP 2005, 2108; dazu zust. Grunewald, EWiR 2006, 29 f.; Simon/Leuering, NJW-Spezial 2006, 31, 32; abl. Thoß, NZG 2006, 376 ff.; Wälzholz, AG 2006, 469 ff. 2 BGH v. 12.3.2007, BGHZ 171, 293 = DB 2007, 1241. 3 Vgl. Priester, ZIP 2004, 191. 4 Eingehender Überblick bei Pentz/Priester/Schwanna, in Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, ZGR-Sonderheft 17, 20006, S. 42 ff.

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Differenzhaftung bei Verschmelzung

gaben. Der Gesetzgeber will aber an diesem Grundsatz festhalten: Das Mindeststammkapital wird durch das MoMiG nicht herabgesetzt, und die Kapitalaufbringungsregeln werden zwar „dereguliert“, bleiben aber im Prinzip erhalten5. Beim Regelfall der Geldeinlage ist die Aufbringung im Kern nicht problematisch – der Wertmaßstab steht fest. Schwierigkeiten bereiten nur die Modalitäten, etwa: Zahlungen auf debitorisches Bankkonto, Zahlungen an Gesellschaftsgläubiger, Voreinzahlung auf geplante Kapitalerhöhung oder das jetzt vom MoMiG im Grundsatz sanktionierte Hin- und Herzahlen. Ganz anders sieht es auf dem Felde der Sacheinlagen aus. Bei ihnen ist sicherzustellen, dass ihr Wert den Nennbetrag des dafür gewährten Kapitalanteils (Geschäftsanteil, Aktie) voll abdeckt. Die insoweit getroffenen gesetzlichen Vorkehrungen sind bekannt: Wertnachweis – Registerprüfung – Eintragungsablehnung im Falle einer Überbewertung des Einlagegegenstandes. Was aber, wenn diese Kautelen nicht greifen, weil das Registergericht den Minderwert nicht bemerkt hat, gar überhaupt nicht bemerken konnte? 2. Differenzhaftung a) Geltendes Recht In § 9 GmbHG heißt es „Erreicht der Wert einer Sacheinlage … nicht den Betrag der dafür übernommenen Stammeinlage, hat der Gesellschafter in Höhe des Fehlbetrages eine Einlage in Geld zu leisten.“ Gleiches gilt aufgrund der Verweisung in § 56 Abs. 2 GmbHG für die Kapitalerhöhung. Die Haftung ist unabhängig von einem Verschulden des Einlegers. Ob ihre Höhe auf den Betrag der Stammeinlage begrenzt ist oder bei einer negativen Einlage – insbesondere in Gestalt eines überschuldeten Unternehmens – auch den Mehrbetrag umfasst, ist streitig. Die überwiegende Ansicht nimmt letzteres an6. Das erscheint zutreffend, denn bei negativer Einlage wird das Kapital erst recht nicht voll aufgebracht. Der Minusbetrag belastet vielmehr das Vermögen des aufnehmenden Rechtsträgers. Das Aktiengesetz enthält keine entsprechenden Bestimmungen. Nach allgemeiner Ansicht finden die genannten Grundsätze aber auch im Aktienrecht Anwendung7. Diskutiert wird allerdings, woraus sich diese Anwendbarkeit ergibt. Teilweise wird sie aus einer Kapitaldeckungszusage in Verbindung mit dem Verbot der Unterpariemission abgeleitet8. Andere betonen unter Verzicht

__________ 5 Zur Verabschiedung des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) im Deutschen Bundestag Seibert/Decker, ZIP 2008,1208 ff. 6 Statt vieler: Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 34 II 3 a aa), S. 1007; Röhricht in GroßkommAktG, 4. Aufl. 1997, § 27 AktG Rz. 103; Roth in Roth/ Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 9 GmbHG Rz. 6. 7 Jetzt wieder ausdrücklich BGH v. 12.3.2007, BGHZ 171, 293 Tz. 5; LG Frankfurt v. 22.11.2006, AG 2007, 375, 376. 8 BGH v. 27.2.1975, BGHZ 64, 52, 62; BGH v. 14.3.1977, BGHZ 68, 191, 195.

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auf eine Zusagefiktion das Prinzip realer Kapitalaufbringung9. Daneben wird eine Analogie zu § 9 GmbHG gezogen10. b) Historische Entwicklung Die Reichweite der Differenzhaftung und damit die Frage einer Erstreckung auf Verschmelzungsfälle muss zunächst vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Entwicklung gesehen werden. Dabei zeigt sich, dass ihre heutige Kodifizierung im GmbH-Recht ebenso überrascht wie das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung im Aktienrecht. Im Aktienrecht wurden Schutzvorkehrungen bei Sacheinlagen schon mit der Novelle von 1884 eingeführt. Im Mittelpunkt stand dabei aus unserer Sicht das Verbot der Unterpari-Emission, Art. 209a Abs. 2 ADHGB11. Der GmbHGesetzgeber des Jahres 1892 glaubte dagegen, weniger einschneidende Anforderungen vorsehen zu können. Wegen ihrer andersartigen Konstruktion sei es möglich, dass der Schutz der Gesellschaft und ihrer Mitglieder „in der Hauptsache den Betheiligten selbst überlassen bleibe“12. Dementsprechend war die Bewertung von Sacheinlagen Sache der Gesellschafter untereinander. Auch die Rechtsprechung hat das anfangs hingenommen13. Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kam es zu einem Umschwung in der Judikatur14. Interessanterweise gab es den ersten Anstoß zu einer Differenzhaftung dann allerdings aus dem Aktienrecht. In einem Urteil vom 1975, in dem es vorderhand um die Haftung des Gründungsprüfers ging, stellte der BGH am Ende fest: Sei eine Sacheinlage erheblich überbewertet, habe der betreffende Gründer „den Unterschied zwischen dem Wert der Einlage und dem Aktiennennbetrag in bar nachzuzahlen“. Insofern enthalte das Sacheinlageversprechen zugleich eine Kapitaldeckungszusage. Das folge aus dem Verbot des § 9 Abs. 1 AktG, Aktien für einen geringeren Betrag als den Nennbetrag auszugeben15. Im Anschluss daran entwickelte sich auch im GmbH-Recht die Vorstellung, eine solche Haftung greife hier gleichermaßen ein16. Die Novelle von 1980 hat dem mit dem heutigen § 9 GmbHG Rechnung getragen.

__________ 9 10 11 12 13 14 15 16

Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 9 GmbHG Rz. 6; Röhricht (Fn. 6), § 27 AktG Rz. 104. Hüffer (Fn. 9), § 183 AktG Rz. 21. RGBl. 1884,123; für Kapitalerhöhungen s. Art. 215a Abs. 2 Satz 3 ADHGB. Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, Amtliche Ausgabe, 1891, S. 51. So noch KG v. 8.3.1934, JW 1934, 1124, 1125 mit Nachweisen zur eigenen Rechtsprechung und zur Kommentarliteratur. RG v. 20.7.1937, RGZ 155, 211, 214 ff. BGHZ 64, 52, 62. Insoweit sind insbesondere BGH v. 14.3.1977, BGHZ 68, 191 = GmbHR 1978, 9 und der grundlegende Aufsatz von Karsten Schmidt, GmbHR 1978, 9 ff. zu nennen. Weitere Nachweise bei H. Winter in Scholz, GmbHG, 6. Aufl. 1978, § 5 GmbHG Rz. 24.

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Differenzhaftung bei Verschmelzung

c) Grundlage der Haftung Eine zweite, mindestens ebenso wichtige Beurteilungskomponente für die Reichweite der Differenzhaftung bildet deren Begründung17. Das wird sich im folgenden bei der Auseinandersetzung mit der Argumentation des BGH deutlich zeigen18. Die Frage lautet: Was rechtfertigt es, den Sacheinleger zu einer Geldzahlung zu verpflichten, wenn der Wert des Einlagegegenstandes den Nennwert des Kapitalanteils nicht abdeckt? Ein erster Ansatz liegt in einem Deckungsversprechen. So meinte Boesebeck19, der Sacheinleger gebe in der Sacheinlagevereinbarung ein Deckungsversprechen ab. Das hat ihm den Vorwurf Lutters eingetragen, es handle sich um eine Willensfiktion20. Dies gelte gleichermaßen für den objektiven Erklärungstatbestand wie für den inneren Willen des Sacheinlegers. Einen zweiten Begründungsansatz hat Wiedemann betont, der eine Herleitung der Haftung aus einem Einlageversprechen abgelehnt und sie als Folge eines „Gebots der Rechtsordnung“ angesehen hat, „einen bestimmten Einsatz an Kapital zur Verfügung zu stellen, bevor die beschränkte Haftung in Anspruch genommen werden kann.“21 Auf dieser Linie hat dann Karsten Schmidt überzeugend festgestellt: „Die Differenzhaftung ist objektivrechtliche Sanktion des Überbewertungsverbots.“22

III. Behandlung der Verschmelzung 1. Meinungsstand Eine mangelnde Kapitaldeckung bei verschmelzungsbedingter Kapitalerhöhung wurde schon unter der Geltung des Aktiengesetzes 1937 als Verstoß gegen das Verbot der Unterpari-Emission angesehen. Man hielt den Registerrichter deshalb für verpflichtet, die Kapitaldeckung zu überprüfen und bei deren Fehlen die Eintragung abzulehnen23. Die Frage einer Differenzhaftung der Anteilsinhaber wurde zuerst mit der GmbH-Novelle von 1980 thematisiert und gegenläufig beantwortet. Auch im folgenden blieben die Ansichten geteilt: Die ablehnende Auffassung berief sich vor allem darauf, dass Sacheinleger die übertragende Gesellschaft sei, nicht

__________ 17 Dazu eingehend Karsten Schmidt, GmbHR 1978, 5, 6 ff.; Trölitzsch, Differenzhaftung für Sacheinlagen in Kapitalgesellschaften, 1998, S. 102 ff. 18 Nicht zutreffend erscheint die Feststellung von Gienow in FS Semler, 1993, S. 165, 166, die Auseinandersetzungen um den Grund der Differenzhaftung hätten sich mit Einführung des § 9 GmbHG erledigt. 19 Boesebeck, DR 1939, 431 in Anm. zu RGZ 155, 211. 20 Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den GmbH-Rechten der EWG, 1964, S. 281 f. 21 Wiedemann in FS Ernst E. Hirsch, 1968, S. 257, 261. 22 Karsten Schmidt, GmbHR 1978, 5, 8. 23 Schilling in GroßKomm.AktG, 2. Aufl.1965, § 237 AktG Anm. 13; Böttcher/ Meilicke, Umwandlung und Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, 5. Aufl. 1958, § 237 AktG Rz. 22.

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dagegen deren Gesellschafter. Die Befürworter einer Differenzhaftung sahen demgegenüber den Grundsatz gehöriger Kapitalaufbringung als ausschlaggebend an24. Schaut man in die aktuellen Kommentierungen, so bietet sich für das GmbHRecht einerseits und das Aktienrecht andererseits ein unterschiedliches Bild: Bei der GmbH als übernehmender Gesellschaft wird zu § 55 UmwG ganz überwiegend angenommen, die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft treffe eine Differenzhaftung25. Sie seien bei wirtschaftlicher Betrachtung die Sacheinleger, da sie die neuen Geschäftsanteile erwerben. Demgegenüber wird im Aktienrecht die ablehnende Auffassung weiterhin prominent vertreten. Sie verweist nach wie vor auf die fehlende Sacheinlegerstellung der Gesellschafter. Daneben wird geltend gemacht, sie hätten keinen Einfluss auf die Bewertung der Sacheinlage und möglicherweise sogar gegen die Verschmelzung gestimmt26. Die Gegenansicht ist allerdings nicht ohne Anhänger27. 2. Sachgründung bzw. Sachkapitalerhöhung Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Differenzhaftung bei Verschmelzung muss sein, dass es sich bei der – sehr seltenen – Verschmelzung zur Neugründung um eine Sachgründung und bei der – regelmäßigen – Verschmelzung zur Aufnahme um eine Sachkapitalerhöhung handelt: Einlagegegenstand ist das (Netto-)Vermögen der übertragenden Gesellschaft. In § 69 Abs. 1 UmwG wird demgemäß ausdrücklich von einer Sacheinlage gesprochen28. Es stellt sich demnach das mit Sacheinlagen stets verbundene Problem ordnungsgemäßer Kapitalaufbringung bzw. deren Gefährdung29. Nun ist nicht zu leugnen, dass der Gesetzgeber diesem Umstand zumindest partiell Rechnung getragen hat: Die Verschmelzungsprüfung ersetzt nicht die Wertprüfung der Sacheinlage bei einer Kapitalerhöhung zur Durchführung der

__________ 24 Gersch/Herget/Marsch/Stützle, GmbH-Reform 1980, Rz. 464 lehnten eine Haftung ab und sahen allenfalls anmeldende Geschäftsführer als haftbar an; eine Haftung verneinend auch Schilling/Zutt in Hachenburg, GmbHG, 7. Aufl., § 22 KapErhG Rz. 11. Dagegen Priester in Scholz, GmbHG, 6. Aufl. 1981, § 55 GmbHG Rz. 16: Haftung der Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft; ebenso ders. in Scholz, 7. Aufl. 1988, AnhUmw, § 22 KapErhG Rz. 11. 25 Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 55 UmwG Rz. 5; D. Mayer in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, 92. Erg.Lfg. Dez. 2006 § 55 UmwG Rz. 80; Reichert in Semler/ Stengel, UmwG, 2. Aufl. 2007, § 55 UmwG Rz. 11; Winter in Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 55 UmwG Rz. 12. 26 So insbesondere Grunewald in Lutter (Fn. 25), § 69 UmwG Rz. 27; dies., bereits in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, 1991, § 343 AktG Rz. 20; Diekmann in Semler/Stengel (Fn 25), § 69 UmwG Rz. 8. 27 Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 4. Aufl. 2006, § 69 UmwG Rz. 29; Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch, Umwandlungsrecht, 1995, § 69 UmwG Rz. 31. 28 Was der BGH in BGHZ 171, 293 Tz. 7 auch ausdrücklich erwähnt. 29 Was denn selbst von denen nicht bestritten wird, die eine Differenzhaftung ablehnen; etwa jüngst Veil/Teigelack, WuB II P. § 2 UmwG 1.08 S. 281 f.

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Differenzhaftung bei Verschmelzung

Verschmelzung30. Eine solche ist allerdings nicht für jeden Fall angeordnet. So heißt es in § 69 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 UmwG, eine Prüfung der Sacheinlage nach § 183 Abs. 3 AktG finde nur statt, wenn übertragende Rechtsträger eine Personenhandelsgesellschaft, … sei, nicht die Buchwerte angesetzt würden oder das Gericht Zweifel an der Wertdeckung habe. 3. BGH: Argumente und Gegenargumente Das hier zum Ausgangspunkt genommene Urteil des Bundesgerichtshofs liefert eine ganze Reihe eingehend begründeter Argumente gegen eine Differenzhaftung im Verschmelzungsfall. Sie sind im Folgenden einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. a) Kapitaldeckungspflicht Ein wesentliches Argument des BGH ist zunächst das Fehlen einer Deckungszusage der Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft. Sie erlangten ihre Mitgliedschaft in der übernehmenden Gesellschaft – in casu einer Aktiengesellschaft – anders als bei der „normalen“ Kapitalerhöhung nicht durch Zeichnung neuer Aktien, sondern durch den Verschmelzungsvertrag. Dieser werde zwar nur mit ihrer Zustimmung wirksam. Der Zustimmungsbeschluss enthalte aber keine „Kapitaldeckungszusage der Aktionäre, die als Grundlage für eine Differenzhaftung erforderlich wäre“31. Das begegnet Bedenken: Mit einer solchen Sichtweise greift der BGH auf eine frühe Begründung der Differenzhaftung zurück. Nach dem schon länger erreichten Stand der Diskussion ist nämlich nicht eine Kapitaldeckungszusage auslösendes Moment für die Einstandspflicht bei unterwertiger Sacheinlage, sondern die Notwendigkeit vollständiger Kapitalaufbringung32. Der BGH meint allerdings weiter, die Gesellschafter des übertragenden Rechtsträgers treffe keine Kapitalaufbringungsverantwortung, da sie typischerweise keinen Einfluss auf die Bewertung seines Gesellschaftsvermögens hätten33. Das mag durchaus zutreffen. Es geht aber nicht darum, ihnen aus der etwaigen Unterdeckung einen Vorwurf zu machen, sondern um die verschuldensunabhängige Gewährleistung vollständiger Kapitalaufbringung. Hinzu kommt: Die Gesellschafter sind am Risiko „näher dran“ als die Gläubiger.

__________ 30 Welf Müller in Kallmeyer (Fn. 25), § 9 UmwG Rz. 4 f.; Zeidler in Semler/Stengel (Fn. 25), § 9 UmwG Rz. 4. 31 So der BGH in BGHZ 171, 293 Tz. 8 unter Berufung auf Grunewald (Fn. 25), § 69 UmwG Rz. 27; Marsch-Barner in Kallmeyer (Fn. 25), § 69 UmwG Rz. 18; Zimmermann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, Anh. nach § 77 GmbHG Rz. 385. 32 Dazu oben II 2 c. 33 BGHZ 171, 293 Tz. 8.

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b) Gesellschafter als Sacheinleger Als weiteres wichtiges Argument zur Verneinung einer Differenzhaftung dient dem BGH der Hinweis, Sachinferent sei der übertragende Rechtsträger. Im Parallelfall der Verschmelzung zur Neugründung bestimme das Gesetz in § 36 Abs. 2 Satz 2 UmwG ausdrücklich, als Gründer des neuen Rechtsträgers seien (allein) die übertragenden Rechtsträger anzusehen34. Das ist gewiss richtig. Richtig ist aber auch: Die übertragende Gesellschaft erlischt mit Eintragung der Verschmelzung (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 UmwG). Sie wird zu keinem Zeitpunkt Anteilseigner der übernehmenden. Gesellschafter des neuen bzw. des übernehmenden Rechtsträgers werden die Anteilseigner des übertragenden (§ 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG). Sie erwerben die neuen Anteile und verlieren ihre alte Beteiligung. Die Sacheinlage des Vermögens ihrer bisherigen Gesellschaft geschieht zu ihren Lasten, für ihre Rechnung35. Jedenfalls wirtschaftlich sind demnach die Anteilsinhaber Sacheinleger beim übernehmenden Rechtsträger36. Es trifft deshalb nicht zu, dass die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft „in die Haftung genommen werden“37. Im Gegenteil: Die Betrachtungsweise des BGH erscheint formal. Das Gericht verwahrt sich zwar ausdrücklich gegen diesen Vorwurf, aber letztlich ohne Erfolg. Der Gesetzgeber wollte mit der Verschmelzung das Verfahren der Vermögensübertragung erleichtern, nicht aber die damit verbundene Haftung der Gesellschafter einschränken38. Die Bezugnahme auf § 36 Abs. 2 Satz 2 UmwG erscheint deswegen nicht durchschlagend, weil diese Vorschrift ausweislich der Gesetzesbegründung festlegt, „von wem die erforderlichen Gründungsmaßnahmen vorzunehmen sind“ und der Verfahrenserleichterung dienen soll39. Insofern ist dem BGH zwar zuzustimmen, wenn er die – verschuldensabhängige – Gründerhaftung (§ 46 AktG, § 9a GmbHG) bei den übertragenden Gesellschaften bzw. deren Organen, nicht bei ihren Gesellschaftern sieht40. Das ist aber etwas anderes, da es in solchen Fällen um Fehlverhalten geht, während die Differenzhaftung des Sacheinlegers eine verschuldensunabhängige Einstandspflicht darstellt. c) Keine nochmalige Einlageleistung Als drittes Argument gegen eine Differenzhaftung nennt der BGH den „Grundsatz, dass Aktionäre, die ihre Einlagepflicht gegenüber der übertragenden Ge-

__________ 34 BGHZ 171, 293 Tz. 9. 35 Kallmeyer, GmbHR 2007, 1121, 1123 sieht insoweit ein Dreiecksverhältnis: Valutaverhältnis sei die Sacheinlageverpflichtung der Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers, Deckungsverhältnis die Gesellschafterstellung der Anteilsinhaber beim übertragenden Rechtsträger. 36 Stratz (Fn. 27), § 55 UmwG Rz. 5. 37 So BGHZ 171, 293 Tz. 9. 38 Fischer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 12. Auf. 1987, § 22 KapErhG Rz. 6. 39 Ganske, Umwandlungsrecht, 1994, S. 74. 40 BGHZ 171, 293 Tz. 13.

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sellschaft erfüllt oder deren Aktien derivativ gutgläubig lastenfrei erworben haben, … keine weiteren Einlageleistungen schulden“. Es geht indessen nicht um weitere Leistungen an die übertragende, sondern um eine Verpflichtung gegenüber der übernehmenden Gesellschaft. Insoweit ließe sich zwar einwenden, das durch die Einlageleistung „beitragsfrei“ gewordene Engagement in der bisherigen Gesellschaft finde aufgrund der Verschmelzung eine schlichte, ebenfalls „beitragsfreie“ Fortsetzung in der neuen. Dem steht aber entgegen, dass die Kapitalneubildung auch eine Kapitaldeckung erfordert. Der Grundsatz ordnungsgemäßer Kapitalaufbringung ist vorrangig gegenüber der durch seinerzeitige Einlageleistung in die alte Gesellschaft dort erworbenen „Beitragsfreiheit“. d) Position der Gläubiger Der BGH meint ferner, die Altgläubiger der übertragenden Gesellschaft stünden durch die Verschmelzung nicht schlechter da41. Das ist zutreffend: Selbst wenn sie bei dieser keine (volle) Befriedigung erlangt hätten, könnten sie sich an die übernehmende Gesellschaft halten, soweit sie (im Urteilsfalle nicht) leistungsfähig ist. In Rede steht aber der Gläubigerschutz bei der aufnehmenden Gesellschaft: Ihre Altgläubiger konkurrieren künftig mit den Gläubigern der übertragenden Gesellschaft. Ihre Neugläubiger dürfen eine vollständige Deckung des erhöhten Nennkapitals erwarten. Zur Stützung seiner Auffassung zieht der BGH den Fall heran, dass eine Kapitalgesellschaft bei „normaler“ Kapitalerhöhung eine überbewertete Sacheinlage leistet und später insolvent wird. So etwas löse eine Differenzhaftung ihrer Gesellschafter nicht aus42. Das ist aber ein anderer Sachverhalt. Hier ist die Kapitalgesellschaft nicht nur formal – wie bei der Verschmelzung –, sondern auch materiell Sacheinleger. Auf seinen insolvenzfreien Fortbestand gibt es aber kein Vertrauen. 4. Differenzierung zwischen GmbH und AG? Sondervorschriften über die Kapitalerhöhung zur Durchführung der Verschmelzung enthalten § 55 UmwG für die GmbH und § 69 UmwG für die AG. Beide erklären einzelne Bestimmungen der ordentliche Kapitalerhöhung für unanwendbar. Diese betreffen die Übernahme bzw. Zeichnung der neuen Anteile und die Einlageleistung darauf. Ihr Ausschluss ist sachgerecht, denn beides findet im Falle der Verschmelzung nicht statt. Für die GmbH ist dabei wichtig, dass § 56 GmbHG und damit die in dessen Abs. 2 enthaltene Verweisung auf § 9 GmbHG nicht ausgeschlossen wird. Das

__________ 41 BGHZ 171, 293 Tz. 14. 42 BGHZ 171, 293 Tz. 15.

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bedeutet: Die in § 9 GmbHG geregelte Differenzhaftung greift auch bei einer Kapitalerhöhung zur Durchführung der Verschmelzung ein43. Im Falle der Verschmelzung auf eine Aktiengesellschaft sieht der BGH das anders. Er meint, aus § 69 Abs. 1 UmwG lasse sich das Nichteingreifen einer Differenzhaftung ableiten. Dort heiße es ausdrücklich, § 188 Abs. 2 AktG sei nicht anwendbar. Damit entfalle auch dessen Verweisung auf § 36a Abs. 2 Satz 3 AktG als Grundlage für eine Differenzhaftung44. Zu bedenken ist indessen: Ob sich die Differenzhaftung des Sacheinlegers im Aktienrecht wirklich – zentral – aus § 36a Abs. 2 Satz 3 herleiten lässt, erscheint so ausgemacht nicht. Die Vorschrift sagt zwar, der Wert einer Sacheinlage müsse „dem geringsten Ausgabebetrag … entsprechen.“ Damit wird aber nur das in § 9 AktG niedergelegte Verbot der Unterpari-Emission als Anweisung für die Einlageleistung konkretisierend wiederholt45. Basis einer Differenzhaftung ist vielmehr der in § 9 AktG ausgesprochene Grundsatz vollständiger Aufbringung des Nennkapitals. Das ist schon daraus abzuleiten, dass dieses im Aktienrecht seit 1884 ausdrücklich enthaltene Prinzip – wie sich oben gezeigt hat46 – den Ausgangspunkt der Kodifikation der Differenzhaftung in § 9 GmbHG gebildet hat. Stellt aber § 9 AktG den eigentlichen Bezugspunkt der Differenzhaftung im Aktienrecht dar, ist die von § 69 Abs. 1 AktG – mittelbar – ausgesprochene Unanwendbarkeit des § 36a Abs. 2 Satz 3 AktG kein Grund, sie für die Verschmelzung zu verneinen. Der entscheidende § 9 AktG ist nämlich nicht ausgeschlossen. Unter diesen Umständen dürfte eine Differenzierung zwischen GmbH und AG als übernehmendem Rechtsträger nicht gerechtfertigt sein. Außerdem: Die Haftung trifft die Anteilseigner der übertragenden Gesellschaft. Es wäre unter dem Gesichtspunkt ihres Schutzes – wenn überhaupt – richtiger, nach der Rechtsform des übertragenden Rechtsträgers zu unterscheiden47. Möglicherweise ist der Entscheidung des BGH aber zu entnehmen, dass sich das Gericht auch bei der Verschmelzung auf eine GmbH gegen eine Differenzhaftung aussprechen würde48. Nach hier vertretener Auffassung wäre das jedoch angesichts der zuvor gebrachten Gegenargumente nicht der richtige Weg. 5. Sonderregelung durch § 22 UmwG? Nicht vom BGH, aber im Schrifttum wird die Frage thematisiert, ob eine Differenzhaftung bei Verschmelzung etwa deshalb ausscheiden muss, weil der

__________ 43 44 45 46 47 48

Ganz h. M., vgl. oben Fn. 25. BGHZ 171, 293 Tz. 7. Ähnlich Hüffer (Fn. 9), § 36a AktG Rz. 6. Unter II.2.b). Worauf Wälzholz, AG 2006, 469, 471 hingewiesen hat. Dagegen spricht wenig dafür, dass der BGH eine Differenzhaftung bei der AG generell in Frage stellen will, wie dies Kallmeyer, GmbHR 2007, 1121, 1124 meint.

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Gläubigerschutz in Umwandlungsfällen durch die Spezialvorschrift des § 22 UmwG abschließend geregelt ist49. Das Verhältnis von § 22 UmwG zu den allgemeinen Instrumenten des Gläubigerschutzes ist ein weites Feld, das hier nicht zu beackern ist. Immerhin sollte festgehalten werden: Im Anschluss an Karsten Schmidt50 unterscheidet man heute zwischen individuellem und institutionellem Gläubigerschutz. Beim individuellen geht es um Haftungs- und Sicherungsansprüche zugunsten individualisierbarer Unternehmensgläubiger. Demgegenüber basiert institutioneller Gläubigerschutz „auf rein objektivem Recht“ und ist „generalpräventiv angelegt“. Er ist ein Schutz des Rechtsverkehrs vor umgewandelten Gesellschaften. die nicht den an sie zu stellenden Anforderungen entsprechen.51 Die Bestimmung des § 22 UmwG bildet das Paradebeispiel für individuellen Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht. Sie steht zwar im Zweiten Buch „Verschmelzung“, findet aber über § 125 UmwG und § 204 UmwG auch auf die Spaltung und den Formwechsel Anwendung. Insoweit hat sie umfassende Bedeutung für alle Umwandlungsarten. Aber: Sie schützt eben nur konkrete Gläubiger, nämlich nur solche, deren Ansprüche bei Wirksamwerden der Verschmelzung bereits bestanden haben,52 also Altgläubiger. Ein Schutz der nach dem Umwandlungsvorgang hinzukommenden Gläubiger, der Neugläubiger, lässt sich dagegen aus § 22 UmwG nicht herleiten. Dies bedeutet zugleich: Ein institutioneller Schutz aus den allgemeinen Bestimmungen des Gesellschaftsrechts muss neben die Sicherung durch § 22 UmwG treten. Das gilt insbesondere für die Regeln zur Kapitalaufbringung, die lm UmwG selbst vielfach ausdrücklich angesprochen sind, sich geradezu wie ein roter Faden durch das Gesetz ziehen.53 Es dürfte deshalb kein Zufall sein, dass sich der BGH in seinem Urteil mit § 22 UmwG nicht beschäftigt hat. 6. Zwischenergebnis Nach alledem sollte man von einer Differenzhaftung bei unzureichender Abdeckung des zur Durchführung der Verschmelzung bei der übernehmenden Gesellschaft erhöhten Nennkapitals infolge nicht werthaltigen Nettovermögens einer übertragenden Gesellschaft sowohl im Falle der GmbH als auch im Falle der Aktiengesellschaft ausgehen. Für die Verschmelzung zur Neugründung sieht es nicht anders aus.

__________ 49 Veil in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2008, § 183 AktG Rz. 9; ähnlich Servatius in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 183 AktG Rz. 73. 50 Karsten Schmidt, ZGR 1993, 366 ff. 51 Jens Petersen, Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001, S. 17. 52 Unstr.; abw. Ans. gibt es nur darüber, ob auf den Zeitpunkt der Einigung oder deren Bekanntmachung abzustellen ist; dazu: Grunewald (Fn. 25), § 22 UmwG Rz. 7 m. w. N. in Fn. 5. 53 Insbes. §§ 36, 56, 73, 197, 220, 245 UmWG.

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IV. Durchführung der Haftung 1. Haftungsadressaten a) Nur Zustimmende? Nimmt man die Vorstellung des BGH zum Ausgangspunkt, dass die Übernahme einer Einlageverpflichtung die Differenzhaftung des Sacheinlegers begründet54, könnte man zu dem Schluss kommen, im positiven Votum bei der Zustimmung zum Verschmelzungsvertrag liege zwar nicht technisch, wohl aber wertungsmäßig die Übernahme einer Einlageleistung nebst Deckungszusage55. Auch hier müsste man zwar formal gesehen noch etwas Großzügigkeit walten lassen, da der Kapitalerhöhungsbeschluss bei der übernehmenden Gesellschaft durch deren Anteilseigner gefasst wird. Dieser Beschluss kann aber nur Wirksamkeit entfalten, wenn die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft der Verschmelzung zugestimmt haben56. Deshalb ließe sich im Ergebnis sagen: In der Zustimmung zu einer Verschmelzung mit Kapitalerhöhung liegt – wirtschaftlich betrachtet – eine solche Deckungszusage. Das wiederum würde bedeuten: Nur der dem Verschmelzungsvertrag Zustimmende kommt als Adressat einer Differenzhaftung in Betracht57. Ein solches Ergebnis würde mit der gesetzlichen Regelung in §§ 219, 245 UmwG übereinstimmen, wonach beim Formwechsel nur diejenigen als Gründer angesehen werden, die dem entsprechenden Beschluss zustimmen. Ob das auch für die Differenzhaftung gilt, ist allerdings sehr streitig58. Für eine Beschränkung auf die dem Verschmelzungsbeschluss Zustimmenden ließe sich ferner anführen, dass sie mit ihrem Votum die Verschmelzung und damit die gegebenenfalls haftungsauslösende Kapitalerhöhung „in der Hand“ haben. b) Alle Gesellschafter Gleichwohl sollte man eine derartige Lösung nicht befürworten. Zunächst einmal: Auch die am Zustimmungsbeschluss nicht beteiligten Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft und sogar die widersprechenden erwerben die neuen Anteile, sind also im Regelfall der unproblematischen Kapitaldeckung

__________ 54 BGHZ 171, 293 Tz. 8. 55 In diese Richtung offenbar Kallmeyer, GmbHR 2007, 1121, 1123. 56 Zur konditionellen Verknüpfung von Kapitalerhöhung und Verschmelzung Winter (Fn. 25), § 53 UmwG Rz. 4, § 55 UmwG Rz. 3. 57 So Thoß, NZG 2006, 376, 377 f. 58 Bejahend – also Haftung nur der Zustimmenden – Joost in Lutter (Fn. 25), § 219 UmwG Rz. 4; Bärwaldt in Semler/Stengel (Fn. 25), § 197 UmwG Rz. 33, letzterer freilich unter dem speziellen Gesichtspunkt der Kommanditistenhaftung; jetzt auch D. Mayer /fn. 25), Erg.-Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 64 unter Berufung auf BGH v. 12.3.2007 (Fn. 2); verneinend – Haftung aller – Decher in Lutter, (Fn. 25), § 197 UmwG Rz. 38; Vossius in Widmann/Mayer (Fn. 25), Erg.-Lfg. Juni 1997, § 219 UmwG Rz. 22, 32 ff. Die verneinende Ansicht erscheint im Hinblick auf die verschuldensunabhängige Einstandspflicht für eine ordnungsgemäße Kapitalaufbringung richtiger.

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Nutznießer des Vorgangs. Sodann: Man kann nicht sagen, der Mehrheitsbeschluss verstoße gegen das Belastungsverbot, also das Verbot, dem Gesellschafter ohne sein Einverständnis neue Pflichten aufzubürden59. Die Differenzhaftung ist nämlich gesetzliche Folge des Erwerbs der neuen Anteile. Ebenso lässt es sich deshalb nicht von einer unzulässigen Drittverpflichtung der Aktionäre sprechen60. Darüber hinaus ergeben sich vielfach praktische Schwierigkeiten einer exakten Ermittlung der nicht zustimmenden Gesellschafter. Schließlich: Wollte man nur die Zustimmenden heranziehen, würde sich das Problem einer Deckungslücke stellen: Soll diese nur von ihnen geschlossen werden, würden die cleveren Nicht-Zustimmer61 zwar im positiven Falle mitberechtigt, im negativen aber begünstigt. Hier leistet die Konstruktion von Ihrig Hilfestellung, der die Differenzhaftung der Gesellschafter aus einem Erwerb von Anteilen am übernehmenden Rechtsträger herleitet, auf die „der im Nominalbetrag des Anteils zum Ausdruck gebrachte Kapitaldeckungsbeitrag“ nicht (voll) geleistet ist. Auf einen gutgläubig lastenfreien Erwerb könnten sich die Gesellschafter nicht berufen, da sie die Anteile kraft Gesetzes erhalten, so dass es an einem dafür erforderlichen Verkehrsgeschäft fehlt62. Ihrig verlagert damit das Gewicht von einer Kapitaldeckungsverantwortung wegen Mitwirkung an der Verschmelzung auf eine solche aus dem Anteilserwerb. Das erleichtert die Vorstellung einer Differenzhaftung aller Gesellschafter, auch der nicht mitwirkenden und sogar der gegen die Verschmelzung stimmenden. Festzuhalten ist allerdings, dass der BGH diesem Weg ausdrücklich widersprochen hat. Dabei führt er an, dass „ein zwingender Zusammenhang zwischen originärem Aktienerwerb und Differenzhaftung nicht besteht.“ Das zeige die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln63. Bei ihr lehnt die herrschende Ansicht in der Tat Differenzhaftungsansprüche gegen die Anteilseigner wegen unzureichender Rücklagen ab64. Man kann das allerdings auch anders sehen65. Nicht befriedigen können vor diesem Hintergrund des weiteren vermittelnde Auffassungen, wonach nur solche Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft heranziehbar sind, die über eine Sperrminorität verfügen66. Gleiches hätte für Überlegungen zu gelten, etwa Kleinbeteiligte nach Art von § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG zu privilegieren.

__________ 59 Das Verbot hat seine Wurzel in § 707 BGB und wurde von Wiedemann, ZGR 1977, 690, 692 als „mitgliedschaftliches Grundrecht“ bezeichnet. 60 Wie dies Veil/Teigelack, WuB II P.§ 2 UmwG 1.08, S. 282 getan haben. 61 Verständnis für sie zeigt Thoß, NZG 2006, 376, 378. 62 Ihrig, GmbHR 1995, 622, 634 f. 63 BGHZ 171, 293 Tz. 12. 64 Etwa für das Aktienrecht Hüffer (Fn. 9), § 211 AktG Rz. 4 f.; für das GmbH-Recht Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl., 2004, § 57i GmbHG Rz. 11 – je m. w. N. 65 Priester in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 57i GmbHG Rz. 21; zustimmend Hermanns in Michalski, GmbHG, 2002, § 57i GmbHG Rz. 21. 66 So aber Bärwaldt in Semler/Stengel (Fn. 25), § 36 UmwG Rz. 56; ähnlich Grunewald (Fn. 26), § 74 UmwG Rz. 5.

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Im Ergebnis heißt das: Schließt man sich der hier vertretenen Auffassung an, dass eine Differenzhaftung auch bei Verschmelzung eingreift, sind davon alle Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft betroffen, die Anteile an der übernehmenden erhalten. c) Minderheitenrechte Bedarf der Verschmelzungsbeschluss – wie bei der AG ex lege stets und bei der GmbH im gesetzlichen, aber nicht unbedingt im praktischen Regelfall67 – lediglich einer qualifizierten Mehrheit, fragt man sich nach Schutzmöglichkeiten einer dissentierenden Minderheit. Dabei lassen sich Instrumente unterscheiden, die ex ante, also vor Wirksamwerden der Verschmelzung eingreifen, und solche, die danach für eine Interessenwahrung sorgen könnten. Wichtigster Schutz vor dem Vollzug der Verschmelzung ist sicher die registergerichtliche Kontrolle der ordnungsmäßigen Kapitalaufbringung, sei es im Falle einer Neugründung, sei es einer Kapitalerhöhung bei Verschmelzung zur Aufnahme. Diese Kontrolle schützt reflexiv die Minderheiten, denn ohne Eintragung keine Differenzhaftung. Den übrigen Ex-ante-Instrumenten wird dagegen wenig praktische Bedeutung zukommen. Sie müssten bei einer Kenntnis oder zumindest bei einem Verdacht ansetzen, dass der Wert der übertragenden Gesellschaft denjenigen der neuen Anteile nicht abdeckt. Wenn aber die dem Registergericht vorgelegten Bewertungsunterlagen darauf keine Hinweise geben, wird ein Minderheitsgesellschafter in aller Regel davon auch keine Kenntnis haben. Der Urteilsfall des BGH beweist das eindrucksvoll. Gleichwohl seien hier als Möglichkeiten genannt: Minderheitsgesellschafter könnten den Verschmelzungsbeschluss anfechten68. Für den Kapitalerhöhungsbeschluss sind sie zwar nicht zuständig, er kann aber – wie erwähnt69 – Wirksamkeit nur in Verbindung mit dem Verschmelzungsbeschluss des übertragenden Rechtsträgers erlangen. Dieser wäre bei drohender Differenzhaftung fehlerhaft. Sie könnten ferner die Eintragung der Verschmelzung im Wege einer einstweiligen Verfügung zu hindern versuchen oder – schlichteres Mittel – den Registerrichter auf ihre Bedenken hinweisen. Ob ihnen ein Austrittsrecht zusteht, ist umstritten70. In Anlehnung an die ordentliche Kapitalerhöhung bei der GmbH sollte man das bejahen. Dort greift bekanntlich die Ausfallhaftung des § 24 GmbHG auch zu Lasten solcher Gesellschafter ein, die gegen den Erhöhungsbeschluss gestimmt haben71. Zum

__________ 67 Im Hinblick auf § 13 Abs. 2 UmwG, wonach Gesellschafter eines übertragenden Rechtsträgers, von deren Genehmigung die Anteilsabtretung abhängt, dem Verschmelzungsbeschluss zustimmen müssen. Bei der personalistischen GmbH gilt das aber zumeist für alle Gesellschafter. 68 Kallmeyer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 7; ders., GmbHR 2007, 1121, 1123. 69 Oben IV.1.a). 70 Ablehnend D. Mayer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 82; Stratz (Fn. 27), § 55 UmwG Rz. 6. 71 Vgl. nur Emmerich in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 24 GmbHG Rz. 16 f.

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Ausgleich wird ihnen dafür überwiegend das Recht zugebilligt, aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft auszuscheiden72. Als Schutzinstrument ex post werden Ausgleichsansprüche gegen die zustimmenden Gesellschafter diskutiert73. Sie erscheinen auf den ersten Blick einleuchtend: Wer die Verschmelzung mit seinem Votum getragen hat, soll auch für die Haftungsfolgen einstehen und die Ablehnenden freihalten. Trotzdem dürfte insoweit Zurückhaltung geboten sein, denn in aller Regel kennen auch die Zustimmenden die Unterdeckung nicht, so dass man von einer Risikogemeinschaft ausgehen kann. Das gilt auch deshalb, weil – um dies zu wiederholen – im Normalfall haftungsfreien Erwerbs der neuen Anteile die Ablehnenden gleichermaßen partizipieren. Kennt der Mehrheitsgesellschafter dagegen einmal die Unterdeckung oder ist ihm insoweit Fahrlässigkeit vorzuwerfen, kann ihn eine Schadensersatzhaftung wegen Treupflichtverletzung treffen74. 2. Haftungsumfang Nach allgemeiner Ansicht haftet der Gesellschafter – nur – pro rata seiner Beteiligung am Nennkapital – bei Neugründung – bzw. am Kapitalerhöhungsbetrag75. Das erscheint zutreffend, denn seine Kapitalaufbringungsveranwortung beschränkt sich auf seinen Anteil am übernehmenden Rechtsträger. Das sollte auch für die Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft als übertragender Gesellschaft gelten. Wollte man der Betrachtungsweise des BGH folgend die OHG als Sacheinleger ansehen, könnte man zu einem abweichenden Ergebnis kommen76. Hält man dagegen, wie es hier vertreten wird, die Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft für die eigentlichen Sacheinleger77, bleibt es bei der Pro-rata-Haftung. Etwas anders sieht es freilich bei einer GmbH als neuem bzw. aufnehmendem Rechtsträger aus. Hier kommt die Ausfallhaftung des § 24 GmbHG zum Zuge Sie trifft auch die Altgesellschafter der übernehmenden GmbH78. Maßgebend für die Höhe des auszugleichenden Fehlbetrags ist einerseits der Gesamtnennbetrag der gewährten Aktien/Geschäftsanteile – zuzüglich etwaiger barer Zuzahlungen –, andererseits das (Netto-)Vermögen des übertragenden Rechtsträgers. Streit besteht dagegen über den Zeitpunkt, auf den die Höhe des Fehlbetrags zu ermitteln ist. Mehrere Stichtage kommen in Betracht: Tag der

__________ 72 Vgl. nur Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 6), § 37 V 1 a dd) S. 1174 m. w. N. 73 Bejahend: Reichert (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 11; Winter (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 12 a. E.; verneinend Stratz (Fn. 27), § 55 UmwG Rz. 6. 74 Kallmeyer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 7. 75 Etwa: Kallmeyer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 5; D. Mayer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 81; Winter (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 13. 76 So D. Mayer (Fn. 25), Erg.Lfg. Mai 2008, § 197 UmwG Rz. 63 für den Fall des Formwechsels. 77 Oben III.3.b). Gleiches gilt, wenn man die Differenzhaftung mit Ihrig, GmbHR 1995, 622, aus dem Anteilserwerb ableiten will. 78 Vgl. etwa Bermel in Goutier/Knopf/Tulloch, UmwR, 1996, § 55 UmwG Rz. 35; Wälzholz, AG 2006, 469, 472.

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Schlussbilanz gemäß § 17 Abs. 2 UmwG, Tag des Verschmelzungsbeschlusses, Tag der Registeranmeldung, Tag des Vermögensüberganges durch Eintragung beim übernehmenden Rechtsträger79. Obwohl erst mit letzterem die Kapitalaufbringung erfolgt, erscheint der Tag der Registeranmeldung zutreffend, da § 9 GmbHG ausdrücklich auf ihn abstellt. Deshalb sollte man weder einer Vorverlegung noch einem späteren Zeitpunkt das Wort reden80. Hinsichtlich der Bewertung des übertragenen Vermögens ist nicht auf die Buchwerte der Schlussbilanz abzustellen, sondern auf die Verkehrswerte, so dass stille Reserven berücksichtigt werden können. Das entspricht der herrschenden Ansicht zur Kapitalaufbringung im Rahmen von § 220 UmwG81. Ergibt sich selbst bei Ansatz der wahren Werte ein Fehlbetrag, ist dieser auszugleichen, und zwar auch soweit er den Kapitalerhöhungsbetrag überschreitet, also negatives Vermögen eingebracht wird82. 3. Sonderfälle a) Gewährung eigener Anteile Bei einer Verschmelzung zur Aufnahme auf eine Kapitalgesellschaft werden den Gesellschaftern der übertragenden Gesellschaft gelegentlich statt neuer Anteile aus einer Kapitalerhöhung bereits vorhandene – eigene – Anteile der übernehmenden gewährt83. Hier fragt sich, ob die Erwerber solcher Anteile von einer Differenzhaftung ausgenommen sind. Letzteres würde naheliegen, denn insoweit besteht vorderhand keine Kapitaldeckungspflicht aus Anteilserwerb. Gleichwohl sollte man das verneinen84. Zum einen: Ein befriedigender Maßstab dafür fehlt, wer denn – haftungsfreie – eigene Anteile bekommen soll und wer – haftungsbedrohte – neue85. Man sollte im Gegenteil von einem Gleichbehandlungsgebot auf der Ebene der Gesellschafter der übertragenden Rechtsträger ausgehen86. Zum zweiten: Die Gewährung eigener Anteile führt zu einem Vermögensabfluss bei der übernehmenden Gesellschaft, der bei der Ermittlung des Fehlbetrags als Abzugsposten berücksichtigt werden muss87.

__________ 79 80 81 82 83 84 85 86 87

So Ihrig, GmbHR 1995, 622, 640 f. Ebenso D. Mayer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 81. Ganz h. M., statt vieler: Joost in Lutter (Fn 25), § 220 UmwG Rz. 13 m. zahlr. Nachw. Vgl. dazu oben II.2.a). Kallmeyer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 6 meint sogar, solche eigenen Anteile seien zur Verminderung des Kapitalerhöhungsbetrages und damit einer möglichen Differenzhaftung vorrangig zu verwenden. Allg. Ans., etwa Reichert (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 13; Winter (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 16. Reichert (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 13 und Winter (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 16 meinen, das hänge eher von Zufällen ab. Ihrig, GmbHR 1995, 622, 642. Ihrig, GmbHR 1995, 622, 641 f.

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Als Ergebnis ist festzuhalten: Bezugsgröße des Fehlbetrages ist zwar allein der Nennbetrag des erhöhten Kapitals88, aufzubringen ist er aber pro rata von allen Anteilserwerbern, gleich, ob sie neue Anteile erhalten oder alte. b) Mehrfachverschmelzung Das Gesetz erlaubt die gleichzeitige – uno actu – Verschmelzung mehrerer übertragender auf eine übernehmende Gesellschaft. Wird davon Gebrauch gemacht, ist zu klären, wie mit einer etwaigen Differenzhaftung umzugehen ist. Das Schrifttum bietet solchenfalls als Lösung an: Der auszugleichende Fehlbetrag ist für jeden einzelnen übertragenden Rechtsträger getrennt zu ermitteln. Für ihn haften seine Anteilseigner jeweils pro rata ihrer Beteiligung, nicht dagegen auch für Fehlbeträge bei anderen übertragenden Gesellschaften. Ist einmal ein Anteilseigner bei mehreren übertragenden beteiligt, müssen unzureichende Vermögensanteile an einer mit etwaigen Überdeckungsbeträgen an anderen verrechnet werden. Seine anteilige Differenzhaftung bemisst sich dann nach dem Saldo89. Das erscheint sachgerecht: Die Kapitalaufbringungsverantwortung ist gesellschafterbezogen. Inwieweit er ihr gerecht geworden ist, bestimmt sich nach dem (Gesamt-)Wert der per Verschmelzung – anteilig – eingebrachten Vermögenswerte. c) Publikums-AG Sonderfragen ergeben sich auch, wenn an der Verschmelzung Publikumsaktiengesellschaften beteiligt sind. Ist eine solche übertragender Rechtsträger, lässt sich einwenden, die Haftungsinanspruchnahme Klein- oder Kleinstbeteiligter sei wertungsmäßig nicht gerechtfertigt, will sie nun wirklich keinerlei Einfluss auf die Bewertung hätten und sich zumindest je einzeln nicht gegen die Verschmelzung sperren könnten90. Das ist richtig. Akzeptiert man aber, dass die Kapitaldeckungsverantwortung aus einem Anteilserwerb im Wege der Sacheinlage resultiert, muss es auch für sie beim Grundsatz der Pro-rataHaftung bleiben. Eine ganz andere Frage ist die praktische Relevanz einer solchen Haftung. Zunächst einmal dürften die Prüfungsmechanismen im Falle einer börsennotierten Gesellschaft deutlich schärfer greifen. Des weiteren fragt sich, inwieweit die anspruchsberechtigte übernehmende Gesellschaft ihre Neuaktionäre überhaupt in Haftung nehmen würde. Sie kennt diese zwar durch den gemäß § 71 UmwG zu bestellenden Treuhänder. Man wird dem Vorstand aber ein pflichtgemäßes Ermessen einräumen können, ob er Kleinbeträge geltend macht. Bei den regelmäßig geringfügigen Einzelbeträgen dürfte deren Geltendmachung

__________ 88 Winter (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 15 hat zutreffend darauf hingewiesen, nur insoweit könne der Rechtsverkehr auf eine reale Kapitalzufuhr vertrauen. 89 D. Mayer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 81; Reichert (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 12; Winter (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 13. 90 So D. Mayer (Fn. 25), § 55 UmwG Rz. 80.

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den damit verbundenen Aufwand zumeist nicht lohnen. Hinzu kommt: Auch Kleinaktionäre sollte man bei Laune halten. 4. Haftung Dritter: Organe und Prüfer Im rechtlichen Ansatz weniger problematisch sind Ansprüche gegen die Organe der beteiligten Rechtsträger, wie sie in §§ 25, 27 UmwG angesprochen werden. Sie schützen auch die Anteilseigner, so dass sich diese sich im Falle eines Verschuldens der Haftungsunterworfenen bei diesen wegen einer etwaigen Differenzhaftung erholen können. Schwieriger sind Ansprüche gegen Prüfer zu handhaben. Das Umwandlungsgesetz behandelt sie in seinem § 11. Darin geht es um die Haftung der Verschmelzungsprüfer. Diese haben aber ein anderes Prüfungsziel, nämlich die Vollständigkeit des Verschmelzungsvertrages, die Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben und die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses91. Die Werthaltigkeit des übertragenen Vermögens mag dabei auch im Blick der Prüfer sein, eigentlicher Prüfungsgegenstand ist sie aber nicht. Die Verschmelzungsprüfung macht deshalb eine bei bestimmten Konstellationen gebotene Sacheinlageprüfung nicht überflüssig92. Ein Problem ist das Verhältnis von Differenzhaftung und Prüferhaftung. Der BGH hatte vor Jahrzehnten judiziert, die Haftung der Gesellschafter für eine ordnungsgemäße Kapitalaufbringung führe dazu, dass der Gesellschaft bei Durchsetzbarkeit dieser Ansprüche kein Schaden entstanden sei, den die Prüfer wegen Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten zu ersetzen hätten93. Dem hat Karsten Schmidt seinerzeit mit Recht vorgehalten, es bereite die „Vorstellung Unbehagen, dass der schuldhaft handelnde Gründungsprüfer unbehelligt davon kommt, weil der schuldlos handelnde Sacheinleger für den Überbewertungsbetrag aufzukommen hat“94. Der BGH hat in seinem neuen Urteil eine Haftung der Verschmelzungs- bzw. Nachgründungsprüfer zwar en passant angesprochen, aber nicht eigentlich thematisiert. Eine weitere Erörterung dieser Prüferhaftung wird denn im Anschluss an das Urteil auch angemahnt95. Das kann hier jedoch nicht geschehen.

__________ 91 Welf Müller (Fn. 30), § 9 UmwG Rz. 16 im Anschluss an BGH v. 22.5.1989, BGHZ 107, 296 = ZIP 1989, 980, 982 – Kochs Adler. 92 Welf Müller (Fn. 30), § 9 UmwG Rn. 4 f.; Zeidler (Fn. 30), § 9 UmwG Rz. 3. 93 BGH v. 27.2.1975, BGHZ 64, 53,62 f. Dazu eingehend Karsten Schmidt, DB 1975, 1781 ff. 94 Karsten Schmidt, GmbHR 1978, 5,9; im Ansatz schon ders., DB 1975, 1781, 1784 f. 95 Veil/Teigelack, WuB II P. § 2 UmwG 1.08, S. 282.

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Differenzhaftung bei Verschmelzung

V. Fazit 1. Thesen Das Ergebnis der vorstehenden Überlegungen lässt sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Die Differenzhaftung des Sacheinlegers ist Ausfluss der Pflicht zur vollständigen Aufbringung des Nennkapitals, oder – in den Worten Karsten Schmidts – „objektivrechtliche Sanktion des Überbewertungsverbots.“ 2. Sie greift deshalb auch bei Kapitalaufbringung im Verschmelzungsfall ein, und zwar sowohl bei Verschmelzung zur Neugründung als auch zur Aufnahme. 3. Für eine Aktiengesellschaft als übernehmende Gesellschaft gelten insoweit die gleichen Grundsätze wie für eine GmbH. 4. Adressaten der Haftung sind alle Gesellschafter, die im Zuge der Verschmelzung Anteile an der übernehmenden Gesellschaft erwerben, seien es neue oder bestehende. Das schließt solche Gesellschafter ein, die gegen die Verschmelzung gestimmt haben. 5. Die Haftung bezieht sich auf den Betrag des neuen bzw. erhöhten Nennkapitals. Dafür haben die Anteilserwerber pro rata im Verhältnis der von ihnen erworbenen neuen oder vorhandenen Anteile einzustehen. 2. Bewertung Das einleitend zum Ausgangspunkt genommene BGH-Urteil sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass eine Differenzhaftung bei Verschmelzung in der Praxis keineswegs ein solches Ungeheuer darstellt, wie es hier vielleicht den Anschein hat. Zunächst: Etwa haftungsauslösende Verschmelzungen zur Neugründung sind vergleichsweise äußerst selten. Bei den Verschmelzungen zur Aufnahme handelt es sich in der großen Mehrzahl der Fälle um solche im Konzern: Die übernehmende Gesellschaft ist mehrheitlich an der übertragenden beteiligt. Insoweit entfällt eine Kapitalerhöhung (§§ 54, 68 UmwG), bei der zahlenmäßig wohl dominierenden Aufnahme 100 %iger Töchter sogar vollständig. Es bleibt eine Anteilsgewährung an außenstehende Anteilseigner. Unser BGH-Fall, in dem die übernehmende Gesellschaft an der übertragenden nicht beteiligt war, erscheint daher als Ausnahme. Man darf ihn auch deshalb nicht zur Messlatte nehmen, weil er eine nachgerade kriminelle Konstellation betraf. Die Sympathien, ja sogar das Mitleid waren auf Seiten der betrogenen Beklagten. Sie sollte nicht per Differenzhaftung nochmals zur Kasse gebeten werden. Das ist verständlich, aber nicht verallgemeinerungsfähig. Vielmehr: Die ordnungsmäßige Kapitalaufbringung darf nicht davon abhängen, welchen rechtskonstruktiven Weg die Beteiligten beschreiten. Das zeigt deut-

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Hans-Joachim Priester

lich ein Vergleich mit dem neuen „Rheinmöve“-Urteil des BGH96, in dem ebenfalls ein marodes, wenngleich von den Prüfern als werthaltig beurteiltes Unternehmen auf eine Vorrats-AG übertragen wurde. Nur geschah dies nicht im Wege der Verschmelzung, sondern im Wege eines Unternehmenskaufs nach Barkapitalerhöhung. Der BGH sah darin eine gemischte verdeckte Sacheinlage – mit bösen Haftungsfolgen für die Beteiligten.

VI. Abspann Zurück zum Start. Dort war berichtet worden, dass der Jubilar in Wiesbaden zwar spontan dem hier vertretenen Standpunkt zuneigte, sich aber das Resultat eines von ihm zu schreibenden Aufsatzes durchaus offen halten wollte. Der Verfasser hofft zwar, den Jubilar auch nach den hier ausgebreiteten Überlegungen weiter auf seiner Seite zu wissen und setzt dabei nicht zuletzt auf dessen grundlegende Ausführungen in GmbHR 1978, 5 ff. Vielleicht aber hat er das Gegenteil bewirkt und wir werden demnächst aus der Feder von Karsten Schmidt einen Aufsatz mit dem Titel „Keine Differenzhaftung bei Verschmelzung“ lesen.

__________ 96 BGH v. 18.2.2008, DB 2008, 920.

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Handelsgesellschaften und politische Verbände in der Rechtssoziologie Max Webers Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Max Weber als Jurist III. Die Formen der Begründung subjektiver Rechte IV. Methodische Grundlagen von Webers Analyse sozialer Vereinigungen V. Rechtsfähigkeit und innere Ordnung der Verbände 1. Außenbeziehungen

2. Innere Ordnung 3. Zusammenfassung VI. Juristische Würdigung VII. Neuere Entwicklung 1. Privatrecht als Schutzrecht 2. Kontinentales und angloamerikanisches Recht 3. Juristische Person und Gesamthand

I. Einleitung Karsten Schmidt, dem die folgenden Bemerkungen gewidmet sind, ist ein überaus fruchtbarer Dogmatiker und Systematiker. Sein wissenschaftliches Interesse gilt der juristischen Lehre, d. h. der in sich stimmigen Auslegung und Fortbildung des geltenden Rechts. Das Ziel seines Handelsrechtslehrbuchs, wie er es selbst im Vorwort formuliert hat, ist es, „aus einer stagnierenden Handelsrechtswissenschaft wieder ein Forum für Fragen der Dogmatik, Praxis und Rechtspolitik zu machen“1. Ähnlich versteht er sein Gesellschaftsrecht „als Beitrag zur Einheit der Rechtsordnung“, und zwar in dem mehrfachen Sinn, dass es „nicht nur zu einer dogmatischen und praktischen Geschlossenheit des Gesellschaftsrechts beitragen, sondern auf dieser Basis auch Rechtlehre, Rechtpraxis und Rechtspolitik miteinander in Einklang bringen“ will2. Der Ansatz schließt – sogar sehr weit reichende – Vorschläge zu Rechtsfortbildung keineswegs aus, wie namentlich Schmidts Hinwendung vom überlebten Kaufmannsrecht zu einem „Außenprivatrecht der Unternehmen“3, seine daraus abgeleitete Unterscheidung zwischen Unternehmen und Unternehmensträgern und seine neue Interpretation des § 25 HGB belegen. Doch geht es ihm auch dabei um Rechtsdogmatik. Die sozialen und wirtschaftlichen Entstehungsursachen der Institute des geltenden Rechts und die politischen Wirkungskräfte der aktuellen Rechtsentwicklung sieht er zwar und greift sie auch

__________ 1 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. V. 2 Karsten Schmidt, Vorwort zu „Gesellschaftsrecht“, Leitsatz schon zur ersten Auflage, wieder aufgegriffen in der 5. Aufl. S. VI. 3 Karsten Schmidt, Handelsrecht (Fn. 1), § 3 I 2.

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auf. Doch bilden sie nicht den zentralen Gegenstand seines rechtswissenschaftlichen Denkens. Schmidt steht mit dieser Methode in bester und bewährter rechtswissenschaftlicher Tradition, die bis tief in das neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Doch bahnte sich schon damals eine andere, sozialwissenschaftliche, Sicht des Rechts an, die wichtige über die Rechtdogmatik hinausweisende Perspektiven eröffnete. Sie sind in Deutschland vor allem mit dem Namen von Max Weber verbunden. Weber gilt heute nicht nur im Inland, sondern auch in den Ländern der romanischen und der angloamerikanischen Rechtstradition als einer der maßgebenden Denker des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, welche die Sozialwissenschaften revolutionierten. Manche sehen in ihm ein wissenschaftliches Genie. Er war von Haus aus Jurist. Gleichwohl haben ihn gerade die deutschen Juristen bisher erstaunlich wenig wahrgenommen. Dies mag es rechtfertigen, ihm die folgenden Ausführungen zu widmen.

II. Max Weber als Jurist Weber hat von 1882 bis 1886 in Heidelberg, Straßburg, Berlin und Göttingen Jura studiert und das Studium mit dem ersten juristischen Staatsexamen in Celle abgeschlossen. Anschließend ging er als Referendar nach Berlin, hörte daneben Vorlesungen in Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie und arbeitete an einer von Levin Goldschmidt betreuten Dissertation. Gegenstand seiner 1889 vollzogenen Promotion war die Schrift „Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten“, die er kurz danach in erweiterter Form unter dem Titel „Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen“ veröffentlichen konnte4. Von der öffentlichen Disputation lohnt sich zu erwähnen, dass auch der alte Theodor Mommsen an ihr teilnahm und Weber in eine fachliche Auseinandersetzung verwickelte, sodann aber abschließend geäußert haben soll, ganz überzeugt sei er von Webers These zwar nicht, aber die jüngere Generation habe oft neue Ideen, denen sich die ältere nicht sofort anschließen kann, und dann fortfuhr: „wenn ich einmal in die Grube fahren muß, so würde ich keinem lieber sagen: Sohn, da hast du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer“5. 1891 legte Weber das Assessorexamen ab und betätigte sich dann bis zur Berufung nach Freiburg 1893 als Gerichtsassessor und Anwalt. Schon seit dem Abschluss der Promotion hatte er zugleich Habilitationspläne verfolgt mit dem Ziel, die Lehrbefugnis für die in der Zeit des Schulenstreits zwischen Romanisten und Germanisten ungewöhnliche Kombination von Römischem Recht

__________ 4 Die Bedeutung der Dissertation ist ausführlich gewürdigt in dem Aufsatz von Dilcher, Von der Rechtsgeschichte zur Soziologie. Max Webers Auseinandersetzung mit der historischen Rechtsschule, JZ 2007, 105 ff. 5 Zitiert nach Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, 1926, S. 121.

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Handelsgesellschaften und politische Verbände bei Max Weber

und Handelsrecht zu erlangen6. Er hatte die römische Agrargeschichte studiert und war dabei dem Nationalökonomen und Agrarhistoriker August Meitzen begegnet, der dann die Habilitationsschrift betreute, welche Weber bereits 1891 abschließen und unter dem Titel „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“ veröffentlichen konnte7. Die Schrift erfuhr in der juristischen Fakultät zwar sachlich kein ungeteiltes Echo, doch erkannten und rühmten die Gutachter, zu denen auch Goldschmidt, Gierke und Dernburg gehörten, übereinstimmend nicht allein Webers „großen Fleiß, mannigfache Kenntnisse und ungewöhnlichen Scharfsinn“, sondern auch seine außerordentliche Begabung, Erkenntnisse unterschiedlicher Wissensgebiete und Fachwissenschaften zu einer Gesamtschau zusammenzufügen8. Das Urteil über den jungen Gelehrten war so günstig, dass sich der preußische Kultminister Althoff mit Unterstützung der Fakultät anschließend darum bemühte, Weber zur Vertretung der beiden genannten Fächer Römisches Recht und Handelsrecht für die Berliner Universität zu gewinnen. Dieser zog es 1893 jedoch vor, ein Ordinariat für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft in Freiburg anzutreten und drei Jahre später nach Heidelberg zu wechseln. Soweit diese biographischen Notizen. Sie rufen nicht nur in Erinnerung, das Weber ein voll ausgebildeter und ausgewiesener Jurist war, sondern deuten zugleich wenigstens an, wie sich ein kreativer junger Wissenschaftler im ausgehenden 19. Jahrhundert veranlasst sehen konnte, die Grenzen der Begriffsjurisprudenz und des Schulenstreits zwischen Germanisten und Romanisten hinter sich zu lassen und sich den aufstrebenden Sozialwissenschaften zuzuwenden, zuerst der Nationalökonomie, später der Soziologie9.

III. Die Formen der Begründung subjektiver Rechte Wie verwendet und verarbeitet nun der reife Weber seine juristischen Kenntnisse und Erfahrungen in seinem späteren soziologischen Werk? Der Versuch dies in Bezug auf die Handelsgesellschaften nachzuzeichnen, ist der Gegenstand der folgenden Bemerkungen. Die Komplexität von Webers Gedankenführung verlangt allerdings weit auszuholen. Weber behandelt die Handelsgesellschaften in seiner Rechtssoziologie in dem Abschnitt „Die Formen der Begründung subjektiver Rechte“ im Rahmen einer allgemeinen Analyse aller Arten privater Verträge und Verbände10. Schon diese Zuordnung macht stutzig und verlangt eine Erklärung. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist seine Definition von Recht im Gegensatz zu Sitte und Kon-

__________ 6 Einzelheiten dazu und zum Folgenden bei Deininger, Nachwort zum Neudruck der Habilitationsschrift, Studienausgabe, 1988, S. 190 ff. 7 Neue Studienausgabe, 1988. 8 Zitiert nach Deininger (Fn. 6), S. 195. 9 Dies hat Dilcher in seinem Aufsatz über Webers Dissertation (Fn. 2) eindrucksvoll nachgezeichnet und soll daher hier nicht mehr weiter aufgegriffen werden. 10 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Teil 2, Kapitel VII (Rechtssoziologie), 5. Aufl. 1972, § 2.

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vention als einer Ordnung, deren Geltung garantiert ist durch die „Chance zwangsweiser Durchsetzung mit Hilfe eines eigens dazu berufenen Stabes von Menschen“11. Kennzeichen der modernen Rechtskultur ist der Anspruch des Staats auf das Monopol der Zwangsgewalt12. Indem der Staat privaten Rechtsträgern subjektive Rechte zuweist, stellt er ihnen seinen Zwangsapparat für die Durchsetzung bestimmter ohnehin vorhandener Positionen einer Herrschaft über Personen oder Sachen zur Verfügung, oder er schafft solche Positionen. Die Anerkennung subjektiver Rechte gewährt demnach zusätzliche Macht und ist deshalb auch geeignet, soziale Strukturen zu befestigen oder zu verändern. Historisch ist sie eine späte Erscheinung, ein Produkt der Rationalisierung alles gesellschaftlichen Lebens. Die Gestaltungsfreiheit gegenüber Verträgen und Verbänden ist jedoch nirgends und zu keiner Zeit schrankenlos. Wie weit einerseits die Freiheit, andererseits die Zwangsgewalt reicht, ist historisch und von Land zu Land außerordentlich verschieden, sie charakterisiert den Zustand einer Gesellschaft und der in ihr praktizierten Wirtschaft. Für archaische, auf Eigenversorgung mit den notwendigen Gütern basierende Gesellschaften sind Statusverträge kennzeichnend, welche – wie heute noch zum Beispiel die Eheschließung und die Adoption – den gesamten sozialen Status einer Person verändern. Ihre Zahl ist gering. In modernen Gesellschaften herrschen demgegenüber Zweckverträge vor, die sich im Austausch einzelner Güter erschöpfen, deren Zahl jedoch unendlich viel größer ist als die der Statusverträge. Zweckverträge sind ein Produkt der Ausweitung wirtschaftlicher Bedürfnisse und der dieser folgenden „Markterweiterung“, das heißt des Wachstums der Güterversorgung und der Zunahme des Handels. Der in der liberalen Verkehrswirtschaft des 19. Jahrhunderts erreichte Endzustand der Rechtsentwicklung ist die prinzipielle Zulassung reiner Konsensualverträge beliebigen Inhalts. Vor diesem Hintergrund sind die noch bestehende Schranken der Vertragsfreiheit zu würdigen: Sie dienen dem Schutz bestimmter religiöser, moralischer oder politischer Werte sowie den sozialen und ökonomischen Interessen der maßgebenden (bürgerlichen) Schichten, vor allem aber dem Schutz Dritter, die von einer vertraglichen Sonderverbindung betroffen sind, ohne an ihr teilzuhaben. Rechtliche Sonderverbindungen wirken sich mittelbar immer auf die Freiheit Dritter aus. Sowohl die Vertragsfreiheit als auch ihre Grenzen sind so ein Zeichen der Rationalität der modernen Wirtschaft und, dieser folgend, des modernen Rechts. Kennzeichnend für dieses sind nicht mehr Verbotsgesetze, sondern die Aufstellung bestimmter Vertragsschemata, „deren Normen jede Vereinbarung von Interessenten als zwingend zugrunde legen muß, um rechtswirksam zu sein“, d. h. „vom Rechtszwang auch jedem Dritten gegenüber garantiert zu werden“,

__________ 11 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 1, Kapitel I (Soziologische Grundbegriffe), § 6. 12 Vgl. zum Folgenden Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII (Rechtssoziologie), § 2.

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Handelsgesellschaften und politische Verbände bei Max Weber

und die so ausgestaltet sind, dass sie „mit Vertragsabreden der vom Recht nicht gebilligten Art logisch unvereinbar“ sind13.

IV. Methodische Grundlagen von Webers Analyse sozialer Vereinigungen Auf der Grundlage dieser Konzeption der Funktion subjektiver Rechte entwickelt Weber anschließend an seine soziologische Deutung des Vertrags seine umfangreiche Analyse der sozialen Verbände. Diese beschränkt sich nicht auf wirtschaftliche Unternehmen, sondern umschließt Vereinigungen aller Art: Familienverbände, Hausgemeinschaften, Sippen, ethnische und religiöse Vereinigungen, Kommunen, Zweckverbände, schließlich den Staat als übergeordneten politischen Verband. Die Analyse ist historisch aufgebaut. Weber fragt jeweils nach der urwüchsigen Struktur in archaischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, um vor dem Hintergrund dieses Ursprungs die historische Entwicklung und den modernen Zustand zu verstehen und beschreiben zu können. Zugrunde liegt ein evolutionistisches Geschichtsverständnis. Die Methode gibt ihm zugleich Gelegenheit, die historischen Fakten als empirisches Anschauungsmaterial für die Herausarbeitung unterschiedlicher rechtlicher Strukturen zu verwenden. Als zweite methodische Basis benützt Weber die begriffliche Unterscheidung zwischen „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“14. Die Begriffe greifen die von Ferdinand Tönnies entwickelte Gegenüberstellung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ auf15, betonen zugleich aber die Unterschiede. Vergemeinschaftung ist nach Weber eine soziale Beziehung, in der das soziale Handeln „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten“ beruht. Er nennt dazu Beispiele: pneumatische Brüdergemeinden, erotische Beziehungen, Pietätsverhältnisse, ethnische Gemeinschaften, Familiengemeinschaften, kameradschaftlich zusammengehaltene Truppen16. Im urwüchsigen Zustand sind alle Gemeinschaften „durch Tradition oder Satzung entstandene Einverständnisgemeinschaften“, deren Entstehen durch „objektive Tatbestände: Geburt, politische, ethnische, religiöse Zugehörigkeit, Lebensführung oder Art des Erwerbs“ bedingt ist oder die durch „ausdrückliche Verbrüderung“ entstehen17. Vergesellschaftung meint demgegenüber eine Beziehung, in der das Handeln „auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung“ beruht18. Die reinsten Typen der Vergesellschaftung sind der

__________ 13 Beide Zitate Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, § 2. 14 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 1, Kapitel I, § 9. 15 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der einen Soziologie, 1887, zahlreiche Neuauflagen. 16 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 1, Kapitel I, § 9. 17 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII (Rechtssoziologie), § 2, S. 417. 18 So die Begriffsbestimmungen in der Soziologischen Kategorienlehre, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 1, Kapitel I, § 9.

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„frei paktierte Tausch auf dem Markt“ (den Weber demnach als einen Fall der Vergesellschaftung begreift), und ferner einerseits „der reine, frei paktierte Zweckverein“, das heißt „eine nach Absicht und Mitteln rein auf Verfolgung sachlicher (ökonomischer oder anderer) Interessen der Mitglieder abgestellte Vereinbarung kontinuierlichen Handelns“, andererseits „der wertrationale Gesinnungsverein“, zum Beispiel bestimmte Sekten, die von der Pflege emotionaler und affektueller Interessen absehen19. Die Parallelität des Begriffspaars Gemeinschaft und Gesellschaft zu dem Gegensatz zwischen Statusverträgen und Zweckverträgen ist offensichtlich. Selbstverständlich handelt es sich um Idealtypen, die in der gesellschaftlichen Realität nicht rein vorkommen, sondern Hilfsmittel für die gedankliche Orientierung und wissenschaftliche Erforschung bilden. Die dritte von Weber für die Analyse benützte methodische Kategorie ist der Unterschied zwischen Außenverhältnis und Innenverhältnis der Verbände. Im ursprünglichen Zustand herrscht im Innenverhältnis „patriarchale Streitschlichtung“ ohne eigene Rechte der Mitglieder und formal geordnetes Verfahren. Im Außenverhältnis, im Verkehr zwischen verschiedenen Verbänden und deren Mitgliedern, kommt es hingegen bei Streitigkeiten zur Vereinbarung von Sühneverfahren, aus denen sich früh eine jeweils zwischen den Verbänden vereinbarte partikulare Rechtsordnung entwickelt20. Der Dualismus, schreibt Weber, zwischen autonom geschaffenem Innenrecht der Verbände und für die Streitschlichtung zwischen Verbänden geltenden Normen steht am Anfang aller Rechtsgeschichte21. Dabei nehmen die Verbände für sich in Anspruch, aus eigenem Recht zu existieren und in diesem Sinn autonom zu sein, weshalb sie sowohl hinsichtlich der im Inneren eines Verbandes praktizierten als auch der zwischen zwei Verbänden vereinbarten Regelungen in Gegensatz zu jeder politischen Instanz geraten, welche wie der moderne Staat das Monopol der legitimen Rechtbildung für sich beansprucht. Es gibt also drei Schichten der Rechtsbildung, und die Spannungen zwischen ihnen bestimmen nach Weber den Gang der Rechtsgeschichte. Überall muss die Zentralgewalt lange Zeit um ihre Durchsetzung kämpfen. Dabei muss sie wegen des Autonomieanspruchs der Verbände Sonderrechte und ständische Privilegien zugestehen. Solche Strukturen prägen das Bild schon im alten Perserreich und im römischen Reich, und später gleichfalls auch im Frankenreich, in islamischen Reichen, im englischen Recht. Der Gedanke formaler Rechtsgleichheit ist ein Ausfluss der Monopolisierung der Staatsgewalt, der alle gleichermaßen unterworfen sind. Er konnte sich deshalb erst spät und langsam durchsetzen. Weber deutet, wie nach dem Gesagten kaum mehr ausgeführt zu werden braucht, die Struktur von Verbänden aller Art seiner Zeit an Hand dieser Kate-

__________ 19 Soziologische Kategorienlehre, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 1, Kapitel I, § 9. 20 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, § 2, S. 417. 21 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, § 2, S. 417.

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gorien. Die in Europa und in Nordamerika bestehende soziale Ordnung ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen der Vergesellschaftung und durch die prinzipielle Durchsetzung des staatlichen Rechtsmonopols. Infolge solcher Strukturen zeigt sie einen prinzipiell anderen Charakter als frühere Ordnungen. Sie ist „das Werk der beiden großen rationalisierenden Mächte: der Markterweiterung einerseits, der Bürokratisierung des Organhandelns der Einverständnisgemeinschaften andererseits“22. In ihr gibt der Staat den Grad der Freiheit partikularer Verbände – wir würden sagen: das Maß der Vereinigungsfreiheit – vor. Doch die so gewährte Freiheit ist „etwas qualitativ anderes“ als die urwüchsige Autonomie23. Soweit es noch Sonderrechte gibt, zum Beispiel für die Landwirtschaft, für Anwälte, Apotheker und bestimmte Arten von Unternehmen, sind diese nicht mehr an ständische Vorrechte geknüpft, sondern an rein „technische und ökonomische Tatbestände“24. Der Unterschied zeigt sich auch in dem verschiedenen Verständnis des Begriffs der Treue (fides), der sowohl in alten „Klientelrecht“ als auch im modernen Verkehrsrecht eine zentrale Rolle spielt. Denn dort umfasst er die Pflichten, die „aus Pietätsverhältnissen folgen“, hier, als bona fides, „den guten Glauben an die Redlichkeit des reinen Geschäftsverkehrs“25.

V. Rechtsfähigkeit und innere Ordnung der Verbände In Webers folgenden Ausführungen lassen sich drei Schritte unterscheiden. Im ersten beschäftigt er sich mit den Außenbeziehungen der Verbände und dabei vor allem mit der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit. Im zweiten folgen Analysen des Variationsreichtums ihrer inneren Organisation. Im dritten beschreibt und vergleicht er die realen und rechtlichen Verbandsstrukturen in konkreten historischen Gesellschaften vom Altertum bis zur Gegenwart und arbeitet dabei wiederum die Einzigartigkeit der okzidentalen Entwicklung heraus. 1. Außenbeziehungen Was die Außenbeziehungen angeht, stehen am Anfang überall Gemeinschaften (mit dem von Weber auch gebrauchten Begriff: Verbrüderungen) mit geringer Eigenständigkeit ihrer Mitglieder, und ökonomisch Eigenwirtschaften mit wenig Geschäftsverkehr nach außen. Unter solchen Bedingungen brauchte den Verbänden kein eigenes, vom Vermögen der Mitglieder getrenntes Vermögen zuerkannt werden, über das rechtsgeschäftlich verfügt werden muss, und konnte deshalb auch auf eine eigene Rechtsfähigkeit der Verbände verzichtet werden. Die Außenbeziehungen erledigten sich einfach dadurch, dass „die Glieder des einen Verbandes … die des anderen solidarisch für das Tun jedes

__________ 22 23 24 25

Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, § 2, S. 419. Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, § 2, S. 420. Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, § 2, S. 418. Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 422 f.

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ihrer Mitglieder, also auch der Verbandsorgane, verantwortlich“ machten26. Alle Vereinbarungen zwischen zwei Verbänden waren jeweils nur für die Mitglieder verbindlich, welche ihnen zugestimmt hatten; Mehrheitsbeschlüsse erlangten keine alle bindende Geltung. Erst seitdem die wirtschaftliche Entwicklung eine wachsende Zahl von Verträgen sowohl zugunsten und zulasten des Verbands als auch getrennt davon zugunsten und zulasten einzelner Verbandsmitglieder hervorgebracht hat, wurde die Trennung des Verbandsvermögens vom Privatvermögen der Mitglieder und damit zugleich die Zubilligung eigener Rechtspersönlichkeit an die Verbände unvermeidlich27. Rechtstechnisch ist die völlige Scheidung der Rechtssphäre der Mitglieder von der des Verbandes mit dem Begriff der juristischen Person verknüpft. Doch dieser bezeichnet zwar die „rationalste Durchführung des Gedankens der Rechtspersönlichkeit“, ist aber nur eine mögliche Lösung des Problems. Der Begriff der juristischen Person ist ein rechtliches Kunstprodukt, und zwar schon allein deshalb, weil der Rechtsbegriff der Person selbst, auch soweit er sich auf natürliche Personen bezieht, bestimmte vorgegebene gesellschaftliche Verhältnisse abbildet. Sklaven sind rechtlich keine Personen. In Bezug auf die Verbände verdeckt der Begriff der juristischen Person die „sehr viel reicheren“ Alternativen, welche für deren rechtliche Stellung zur Verfügung stehen, und die zum Beispiel in der Unterscheidung zwischen Körperschaften, Stiftungen und Anstalten zu Ausdruck kommen. Für einen Verband, der kein eigenes Vermögen hat, ist die eigene Rechtspersönlichkeit ganz entbehrlich. Inadäquat ist die mit der Figur der juristischen Person verknüpfte absolute Sonderung der Rechtssphäre des einzelnen von derjenigen der Gesamtheit auch für solche Gesellschaften, welche ihrem sachlichen Wesen nach eine eng begrenzte Zahl von Teilhabern umfassen und zeitlich begrenzt sind. Da die spezifische Kreditwürdigkeit zwar auch auf der Existenz eines gesonderten Vermögens, in erster Linie aber auf dem Einstehen aller Teilhaber für die Schulden der Gesamtheit beruht, wäre sie für solche Gesellschaften kreditschädlich. Auch die Schaffung besonderer Vertretungsorgane ist in ihnen oft unzweckmäßig. Stattdessen kommt für solche Gesellschaften das Prinzip der Gesamthand in Betracht, das „wenigstens in der Vergangenheit den meisten Rechten irgendwie bekannt“ war. Kennzeichnend für dieses ist die Legitimation rechtsgeschäftlichen Handelns entweder durch alle Mitglieder gemeinsam oder durch die Einzelvertretungsmacht sei es aller, sei es bestimmter Mitglieder sowie die Haftung aller mit ihrer Person und ihrem Vermögen28, modern ausgedrückt also die Selbstorganschaft und die persönliche gesamtschuldnerische Haftung. Ursprünglich ist der Begriff der Rechtspersönlichkeit mit der Vorstellung rechtlicher Autonomie auch gegenüber dem Staat verbunden. Erst die Mediatisierung der Eigenrechtlichkeit zugunsten des Rechtsschöpfungsmonopols des

__________ 26 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 423. 27 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 424. 28 Sämtliche Zitate Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 425.

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Handelsgesellschaften und politische Verbände bei Max Weber

Staates zieht dessen Anspruch nach sich, den Verbänden die Rechtsfähigkeit und damit subjektive Rechte zu verleihen29. Die Handelsgesellschaften behandelt Weber in dieser großen historischen Perspektive auffallend kurz. Er schreibt dazu: „Das heutige Recht der offenen Handelsgesellschaft ist … direkt die rationale Fortbildung der hausgemeinschaftlichen Beziehung zum Zweck des kapitalistischen Betriebs. Die verschiedenen Formen der Kommanditen sind Kombinationen dieses Prinzips mit dem Recht der universell verbreiteten commenda und societas maris. Die deutsche Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist eine rationale Neuerfindung zum Ersatz der für die Zwecke kleinerer und familienhafter, speziell erbengemeinschaftlicher Unternehmungen rechtlich nicht adäquaten, speziell durch den modernen Publizitätszwang unbequemen Aktiengesellschaft. Die Verbrüderung … der Kaufleute, Schiffsbesitzer und Schiffsbesatzung war der gemeinsamen Unternehmung einer Seefahrt der Natur der Sache nach urwüchsig. Sie entwickelte sich ganz entsprechend der Entstehung des Betriebes aus der Hausgemeinschaft in der Reederei zu einer Gesamthandvergesellschaftung der Unternehmer, während sie auf der anderen Seite in der Bodmerei und in den Grundsätzen über den Seewurf in eine rein sachliche Gefahrengemeinschaft der Fahrtinteressenten ausmündete. In allen jenen Fällen war das Typische die Verdrängung der Verbrüderungen durch Geschäftsbeziehungen, der Statuskontrakte durch Zweckkontrakte, unter Erhaltung aber der rechtstechnisch zweckmäßigen Behandlung der Gesamtheit als eines gesonderten Rechtssubjektes und der Sonderung des gemeinsam besessenen Vermögens. Andererseits ersparte man die formale Bürokratisierung des Organapparats, wie er bei der Konstituierung als Körperschaft technisch notwendig geworden wäre. In dieser Struktur sind die rational umgebildeten Gesamthandverhältnisse in keinem Rechtssystem so spezifisch entwickelt wie in denjenigen des Okzidents seit der Mittelalter“30.

2. Innere Ordnung Zur inneren Struktur der Verbände heißt es einige Seiten später31: „Das mittelalterliche Recht des Kontinents stand unter dem dreifachen Einfluß der germanischen Genossenschaftsformen, des kanonischen Rechts und der Form, in welcher der römische Rechtsstoff von der juristischen Praxis rezipiert wurde. … (Hinweis auf die „großartigen Arbeiten“ Gierkes). Von den einfachen Gesamthandsverhältnissen bis zur rein politischen Gemeinde, vom Haus im Mittelalter bis zur Stadtgemeinde erstreckten sich in fast lückenlosen Übergängen eine Serie von Gebilden, welche rechtstechnisch die formale Prozeß- und Vermögensfähigkeit gemeinsam haben, bei denen dagegen die Art der Beziehungen zwischen Gesamtheit und Einzelnen in den allermannigfachsten Typen geregelt erscheint. Ob der Einzelne überhaupt nicht als Inhaber eines Anteils am Gesamtvermögen gilt, oder ob umgekehrt dieser Anteil sein freies, in Wertpapierformen übertragbares Privateigentum ist, aber eben nur einen Anteil am Ge-

__________ 29 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 423. 30 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 425 f. Es folgen Ausführung dazu, dass eine entsprechende Entwicklung im römischen Recht wegen des damals herrschenden „Sklavenkapitalismus“ und Staatskapitalismus nicht erforderlich war, und anschließend ausführliche Erörterungen zur Ausbildung der Rechtspersönlichkeit des Staats und seiner Gliederungen seit dem Altertum und Mittelalter. 31 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 431 f.

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Thomas Raiser samtkomplex der Vermögens und nicht an dessen Einzelbestandteilen darstellt, oder ob umgekehrt die Einzelobjekte als zu geteiltem Eigentum von den Anteilhabern besessen gelten, inwieweit ferner die Gesamtheit Rechte der Einzelnen zu begrenzen und ihren Inhalt zu bestimmen hat oder inwieweit umgekehrt die Rechte der Einzelnen den Verfügungen der Gesamtheit im Wege stehen; ob ein Beamter oder ein bestimmtes Mitglied als solches oder in gewissem Umfang alle Mitglieder die Gesamtheit nach außen vertreten und nach innen verwalten; ob die Mitglieder mit ihrem eigenen Vermögen oder mit persönlichen Diensten beitragspflichtig sind oder nicht; ob die Mitgliedschaft prinzipiell offen oder prinzipiell geschossen und nur kraft Beschlusses erwerbbar ist – dies war in der allerverschiedensten Art geregelt“.

Eine ähnliche Vielfalt findet sich ferner in den Strukturen der inneren Verwaltung und in dem Ausmaß, in dem die Verwaltungsträger Zwang gegen die Mitglieder ausüben können; wieweit die Gesamtheit den Privatpersonen gleichgestellt wird, also wie diese zum Beispiel Namensrechte, Standesrechte, Erfinderrechte, Besitz haben können und selbst als deliktsfähig angesehen werden; wieweit Gleichheit oder Ungleichheit der Rechte der Beteiligten herrscht, insbesondere bei der Bestellung der Organe, oder ob es Privilegien gibt; ob die Amtsträger turnusmäßig gewählt werden oder die Führung des Verbands ein „autokratisches Herrenrecht“ Einzelner ist, das vererbt und nach Belieben übertragen werden kann; ob die Ausübung von Herrschaftsbefugnissen als subjektives Recht der Herrschenden oder lediglich objektives, auch deren Macht begrenzendes Recht verstanden werden; wie weit die Mitgliedschaft „streng zweckverbandsmäßig gebunden oder frei beweglich“ und die Verbandsorganisation mehr vereinsmäßig oder mehr anstaltsmäßig ausgestaltet sind32. Welche von diesen Alternativen im Einzelfall verwirklicht wird, hängt nach Weber bei freier Verbandsbildung von den besonderen Zwecken jedes Verbandes ab. In vorwiegend wirtschaftenden Gemeinschaften bestimmt sich die Ordnung „wesentlich ökonomisch durch Maß und Art der Bedeutung des Kapitals und dessen innere Struktur einerseits, der Kreditbasis und des Risikos andererseits“33. In diesem Zusammenhang geht Weber auf die Aktiengesellschaft ein. Er führt aus: „Kapitalistischer Erwerb als Zweck bedingt infolge der vorwiegenden Bedeutung des Kapitals für die Leistungsfähigkeit des Verbandes und der Gewinnanteilchancen für die Interessen der Einzelnen prinzipielle Geschlossenheit der Mitgliedschaft und relativ feste Zweckgebundenheit, dabei aber formal unantastbare, frei vererbliche und meist frei veräußerliche Mitgliedschaftsrechte, bürokratische Verwaltung und unmittelbare oder repräsentative, dem Recht nach demokratisch, faktisch plutokratisch beherrschte, durch Debatten und Abstimmung nach Kapitalanteilen abstimmende Mitgliederversammlung“, ferner „fehlende, weil für die Kreditwürdigkeit an Bedeutung zurücktretende Haftung der Mitglieder nach außen … und auch nach innen“34.

__________ 32 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 431 f. 33 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 432 f. 34 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 432 f.

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Handelsgesellschaften und politische Verbände bei Max Weber

3. Zusammenfassung Die folgenden Einzeluntersuchungen beziehen sich mit Schwerpunkt auf die Besonderheiten des englischen Rechts. Sie gipfeln in der Feststellung, dass die Entwicklung der Rechtstruktur der Verbände keineswegs vorwiegend ökonomisch bedingt gewesen ist, vielmehr die gleichen ökonomischen Anforderungen durch unterschiedliche Rechtsformen befriedigt werden können35. Im Vergleich mit der russischen, indischen, ägyptischen, byzantinischen und chinesischen Rechtsentwicklung betont Weber die Einzigartigkeit des differenzierten Genossenschaftsrechts und der Ausbildung des rationalen Korporationsbegriffs im mittelalterlichen Europa36. Die Einzelheiten müssen hier auf sich beruhen. Erwähnenswert ist jedoch noch Webers abschließende Bemerkung: „In wieweit [durch die Zunahme der rechtlichen Freiheit] auch im praktischen Ergebnis eine Zunahme der individuellen Freiheit in der Bestimmung der Bedingungen der eigenen Lebensführung dargeboten worden ist, oder inwieweit trotzdem und, zum Teil vielleicht in Verbindung damit, eine Zunahme der zwangsmäßigen Schematisierung der Lebensführung eintrat, dies kann durchaus nicht aus der Entwicklung der Rechtsformen allein abgelesen werden. Denn die formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontraktschemata und auch die formale Ermächtigung, nach eigenem Belieben unter Absehen von allen offiziellen Schemata Kontraktinhalte zu schaffen, gewährleistet an sich in keiner Art, dass diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich jedermann zugänglich sind. Dies hindert vor allem die vom Recht garantierte Differenzierung der tatsächlichen Besitzverteilung. Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitvertrag jedes beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für den Arbeitsuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen. … Das Resultat der Vertragsfreiheit ist also in erster Linie: Die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen. Die Marktmachtinteressenten sind die Interessenten einer solchen Rechtsordnung“37.

VI. Juristische Würdigung Versucht man diese Ausführungen aus der Sicht eines heutigen Juristen zu würdigen, so erscheinen sie auf den ersten Blick geläufig und daher wenig spektakulär. Die begrifflichen Kategorien, mit denen Weber arbeitet, klingen vertraut, insbesondere seine Gegenüberstellungen von archaischer Haus- und moderner Verkehrswirtschaft, von familien- und erbrechtlichen Statusverträgen gegenüber schuldrechtlichen Zweckverträgen, seine auf das strukturell Wesentliche beschränkte Charakterisierungen der offenen Handelsgesellschaft und der Aktiengesellschaft nach Maßgabe ihrer Kreditwürdigkeit und ihrer Führungsstruktur, seine Differenzierung zwischen Körperschaft und Anstalt, der von ihm aufgegriffene Dualismus von juristischer Person und Gesamthand, die Spannung zwischen dem Anspruch der Verbände auf Autonomie und dem

__________ 35 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 433. 36 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 437. 37 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII, S. 439.

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Anspruch des Staates auf das Rechtssetzungsmonopol. In der Tat erweist sich Weber durch den Gebrauch dieser Begriffe und Kategorien als gelernter Jurist, welcher die Denkmodelle der Rechtswissenschaft beherrscht und sie für seine soziologischen Analysen zu nutzen versteht. Sein Interesse und seine umfassende Kenntnis der Rechtsgeschichte spiegeln den Einfluss der historischen Schule wieder, seine Betonung sowohl des römischen Rechts als auch des mittelalterlichen Genossenschaftswesens den Gegensatz zwischen Romanisten und Germanisten in der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts. Mit gutem Grund lässt sich also sagen, sowohl Webers juristische Schulung als auch die in seiner Dissertation und seiner Habilitationsschrift gewonnenen rechtwissenschaftliche Forschungsergebnisse wirken auch in seinem späteren soziologischen Werk nach. Auf der anderen Seite bewähren sich die überkommenen juristischen Begriffe und Kategorien als adäquates Hilfsmittel auch für Webers soziologische Deutung des Rechts. Und doch ist bei ihm alles – Fragestellung, Arbeitsmethode, Erkenntnisziel – anders und aufregend neu. Weber beschäftigt sich nicht mit der Auslegung, Anwendung und Systematisierung des geltenden Rechts. Ziel seiner wissenschaftlichen Erkenntnis ist es nicht, die Rechtspraxis anzuleiten, damit diese in sich stimmige, dem Gesetz genügende und sachlich überzeugende Entscheidungen trifft. Sein Bemühen gilt nicht der logischen und normativen Konsistenz des geltenden Rechts. Die formale Rationalität der Begriffsjurisprudenz preist er zwar an anderer Stelle der Rechtssoziologie38 als herausragende und der liberalen Bürgergesellschaft seiner Zeit gemäße Errungenschaft der Rechtskultur. Zu ihrer Entfaltung trägt er aber selbst nichts bei. Einzelne Gesetze zitiert er nicht. Nicht einmal das kurz vor der Ausarbeitung der Rechtssoziologie in Kraft getretene BGB und das HGB kommen in seinen Ausführungen vor. Kurz: die normative Rechtsdogmatik interessiert ihn nicht. Stattdessen richtet er seinen Blick auf den Sinn der allgemeinen Strukturen menschlicher Gesellschaften, auf deren Bedingtheit durch natürliche und ökonomische Anforderungen an das soziale Zusammenleben, und auf ihre historische Relativität und Entwicklung. Er will die Gesellschaft verstehen, nicht steuern. Daher sieht er das Recht nicht als Verhaltensforderung, sondern als Stoff der Wahrheitserkenntnis. Das Recht ist zwar das Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, es zeigt aber auch eine gewisse immanente Eigengesetzlichkeit. Beides verlangt, es in den größeren Zusammenhang der geschichtlichen Evolution aller Ausprägungen der Kultur und Zivilisation zu stellen. Methodisch sucht Weber sein Ziel auf zwei Wegen zu erreichen. Einerseits formuliert er Begriffe und Denkmuster, welche sich als allgemeines und zeitloses Instrumentarium für die soziologische Analyse eignen. Das wichtigste Werkzeug hierfür ist die Konzeption des Idealtypus, die es erlaubt, die kennzeichnenden Strukturen bestimmter sozialer Erscheinungen unter Abstraktion

__________ 38 Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), Teil 2, Kapitel VII (Rechtssoziologie) § 8, S. 503 ff.

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von ihren variablen und zeitbedingten Elementen gedanklich zu erfassen. Andererseits nutzt er die Vielfalt der historischen Fakten als Objekt der Erkenntnis und Vergleichsmaterial. Dabei verarbeitet er nicht nur ein außergewöhnliches geschichtliches Wissen, sondern zeigt nicht weniger einen staunenswerten Blick für die jeweils wesentlichen Strukturen historischer Sachverhalte und Zusammenhänge im Gegensatz zu ihren zufälligen Besonderheiten. Auch die von ihm aufgegriffenen juristischen Begriffe und Figuren dienen ihm als Idealtypen, deren reale Ausprägungen inhaltlich, räumlich und zeitlich relativ und veränderlich bleiben.

VII. Neuere Entwicklung Wenn Webers letztes Erkenntnisziel das Verständnis der kapitalistischen Bürgergesellschaft und der darüber stehenden bürokratischen Herrschaftsstrukturen seiner Zeit ist und es ihm darum geht, deren spezifische Rationalität zu erfassen, um damit zugleich ihren außerordentlichen Erfolg und Einfluss auf andere Kulturen erklären zu können, so fordert ein solches Programm Überlegungen dazu heraus, wie eine gleichartige Zeitdiagnose heute, hundert Jahre später, aussehen müsste. Was hat sich im Lauf des 20. Jahrhunderts geändert? Indessen wäre es offenkundig vermessen, auf die Frage hier eine bündige Antwort geben zu wollen. Und Ausführungen zur Fortentwicklung des Gesellschaftsrechts würden, zumal in einem Karsten Schmidt gewidmeten Aufsatz, Eulen nach Athen tragen. Immerhin bieten sich einige wenige Bemerkungen an, welche geeignet erscheinen, die Bedeutung von Webers Rechtssoziologie auch für die Gegenwart zu demonstrieren. Ich knüpfe dafür an die drei oben ausgeführten Erkenntnisschritte an, mit deren Hilfe Weber die sozialen Verbände deutet. 1. Privatrecht als Schutzrecht Webers im Hinblick auf die soziale Ohnmacht der Arbeiterschaft seiner Zeit formulierte Schlussbemerkung, wonach die formale Rechtsgleichheit und die Vertrags- und Vereinigungsfreiheit de facto keineswegs allen zugänglich sind, sondern nur den Vermögenden die Chance eröffnen, auf dem Markt ihre Macht über andere zu steigern, ist zum zentralen Thema des gesamten Zivil- und Wirtschaftsrechts geworden. Der größte Teil des geltenden Rechts ist Schutzrecht zugunsten von Verbrauchern, Mietern, Minderheitsgesellschaftern, Gesellschaftsgläubigern, Kapitalmarktinteressenten, Wettbewerbern usw. Immerhin gibt es auch Gegentendenzen der Deregulierung, namentlich im Aktienund im GmbH-Recht, aber auch z. B. bei der Zulassung von Schieds- und Mediationsverfahren. Die Entwicklung betrifft auch das grundsätzliche Verhältnis von Privatautonomie und staatlichem Monopol der Rechtssetzung und des Rechtszwangs. Das Recht des steuernden und fürsorgenden Staats, den Einzelnen subjektive Rechte und damit Freiheit und Macht zuzuweisen, wird von der Politik immer unbedenklicher und grenzenloser in Anspruch genommen und in der Rechtswissenschaft schwächer als früher infrage gestellt. Man wird 1319

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sagen können, die Balance zwischen beidem ist schwieriger geworden. Insofern hat sich der Stil des Rechts nachhaltig geändert. In der rechtssoziologischen Theorie tritt demgemäß die Signifikanz der Begriffe des Zweckkontrakts und der Gesellschaft zurück. Zwar wird eine Rückkehr zu den Paradigmen des Statuskontrakts und der Gemeinschaft ausgeschlossen. Stattdessen sucht man neue Deutungsmuster. Manfred Rehbinder ist der – allerdings nur begrenzt aussagekräftige – Versuch zu verdanken, zur Kennzeichnung den Begriff der sozialen Rolle heranzuziehen: das Recht regelt die Rechtsstellung der Einzelnen jeweils in ihrer Rolle als Verkäufer oder Käufer, Grundstücks- oder Mobiliareigentümer, Unternehmer, Kapitalist oder Arbeitnehmer39. Mehr Ausstrahlungskraft hat die amerikanische Theorie des „relational contract“ erlangt. Diese stützt ihre Deutungen auf die Feststellung, dass Verträge sich nicht in dem kurzen Akt des Vertragsschlusses erschöpfen. Vielmehr sind sie das Produkt eines oft langen Verhandlungsprozess, der eine soziale Beziehung zwischen den Beteiligten begründet oder gefestigt hat. Der Vertragsschluss selbst legitimiert und stabilisiert die so bereits geschaffene Beziehung zwar für die Zukunft. Gleichwohl bleiben angesichts der Wechselhaftigkeit des Lebens immer neue Anstrengungen und Abstimmungen des Verhaltens notwendig, welche sich auch rechtlich zu Ansprüchen und Pflichten verdichten40. 2. Kontinentales und angloamerikanisches Recht Nicht weniger aktuell ist Webers durch den Vergleich zwischen kontinentaleuropäischem und angloamerikanischem Recht gewonnene Einsicht, dass die gleichen ökonomischen Anforderungen mit Hilfe ganz unterschiedlicher Rechtsformen befriedigt werden können und das Recht insofern nicht nur Ausfluss ökonomischer Vorgaben ist, sondern auch anderen Entwicklungslinien und einer inneren Eigengesetzlichkeit folgt. Die Beobachtung hat angesichts der heutigen Bestrebungen einer transnationalen Rechtsvereinheitlichung eine zu Webers Zeit ungeahnte Bedeutung gewonnen. Sie stützt eine Politik, welche sich damit begnügt, ein einheitliches übernationales Recht nur in den Fällen durchzusetzen, in denen dies unerlässlich ist. 3. Juristische Person und Gesamthand Soweit sich Weber mit den Außenbeziehungen der Verbände beschäftigt, bleibt bis heute seine Feststellung bemerkenswert, dass die Zubilligung einer eigenen Rechtsfähigkeit des Verbandes überall und zu allen Zeiten unverzichtbar wird, sobald es im Zug eines zunehmenden Wirtschaftsverkehrs dazu kommt, den

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39 Rehbinder, Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, in Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 1967, 197 ff.; ders., Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, S. 92 ff. 40 Macneil, Jan, The Many Futures of Contracts, South California Law Review 1974, 691, ders., The New Social Contract, An Inquiry into Modern Contractual Relations, 1980.

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Verbänden ein eigenes, vom Vermögen der Mitglieder getrenntes Vermögen zuzuweisen und bei jedem Vertragsschluss klarzustellen, ob der Vertrag zugunsten und zulasten des Verbands oder eines seiner Mitglieder geschlossen wird. Als allgemeine und dem Recht vorgegebene Strukturaussage begründet und rechtfertigt sie die von Karsten Schmidt schon seit langem geforderte, von der deutschen Rechtsprechung aber erst kürzlich vollzogene Anerkennung der eigenen Rechtsfähigkeit der Außengesellschaften bürgerlichen Rechts und der nicht eingetragenen Vereine. Die Anerkennung erscheint so gesehen nicht mehr als ein revolutionärer Schritt der Rechtsfortbildung, sondern als ein wegen der Natur der Sache unverzichtbarer Akt, von dem man sich wundert, dass sich ihm Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft so lange verweigern konnten. Nicht weniger bedenkenswert sind Webers Ausführungen zu dem Gegensatz zwischen Gesamthand und juristischer Person. Auf den ersten Blick scheinen sie nur den noch heute vertrauten Stand der Rechtslehre seiner Zeit, insbesondere Otto v. Gierkes, wiederzugeben. Aber der Schein trügt auch hier, denn wiederum stellt Weber nicht auf die normative Rechtsdogmatik ab, sondern auf dem Recht vorgegebene soziale und wirtschaftliche Anforderungen. Beide Verbandsformen unterscheiden sich nach Weber nicht in Bezug auf ihre Rechtsfähigkeit, sondern infolge ihrer unterschiedlichen Größe, Kreditfähigkeit und Führungsorganisation. Die Gesamthand ist die geeignete Organisationsform für Gesellschaften mit kleiner Mitgliederzahl, die nur über geringes eigenes Vermögen verfügen und daher auf die persönliche Haftung der Mitglieder angewiesen sind, und bei denen die Selbstorganschaft noch möglich und die nächstliegende Art der Führungsstruktur ist. Die juristische Person ist die für große Verbände mit zahlreichen Mitgliedern bestimmte Rechtsform, welche eine komplexere Führungsstruktur und eine striktere Trennung ihres Vermögens vom Privatvermögen der Mitglieder brauchen. Nicht nur im ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Verständnis, sondern auch in der juristischen Klassifikation ist eine solche zweigliedrige Typologie weiterhin hilfreich. Allerdings muss ihre Aussagekraft angesichts der von Weber im Hinblick auf die Geschichte herausgearbeiteten und auch heute noch offensichtlichen Vielfalt der inneren Organisationsmöglichkeiten begrenzt bleiben. Es handelt sich um Idealtypen, welche für die wissenschaftliche Erkenntnis hilfreich sind, in der Realität aber variiert werden können. Die Typologie der Gesellschaftsformen des geltenden Rechts gibt die so verstandene Differenzierung zwischen juristische Personen und Gesamthandsgesellschaften aber nicht mehr zutreffend wieder. Hinsichtlich der Rechtsfähigkeit unterscheiden sich die Gesellschaften in keinem wesentlichen Punkt mehr. Namentlich die GmbH, welche die bei weitem häufigste und auch ökonomisch wichtigste Gesellschaftsform geworden ist, weist sowohl nach der Konzeption des Gesetzes und auch in ihren realen Ausprägungen regelmäßig Webers Merkmale der Gesamthand auf: kleine Mitgliederzahl, geringer Organisationsgrad und Selbstorganschaft, niedrige eigene Kreditwürdigkeit und daher zusätzliche, auf vertraglicher Verpflichtung oder Delikt beruhende Haf1321

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tung der Gesellschafter. Gleichwohl wird sie rechtlich als juristische Person eingeordnet. Auf der anderen Seite führen insbesondere Kommanditgesellschaften häufig eine große Zahl von Kapitalgebern zusammen und erfordern deshalb eine differenzierte Führungsorganisation. In der hybriden Gestalt der GmbH & Co KG entgehen sie auch formell der Selbstorganschaft und der persönlichen Haftung. Gemäß Webers soziologischer Typologie müssten sie deshalb als juristische Personen verstanden werden, während sie rechtlich weiterhin Gesamthandsgesellschaften sind. Schließlich ist auch das von Weber noch herangezogene Unterscheidungsmerkmal überholt, wonach in der juristischen Person Rechtsbeziehungen der Mitglieder nur zu dieser, nicht aber untereinander bestehen, in der Gesamthandsgesellschaft dagegen umgekehrt nur zwischen den Gesellschaftern, nicht aber zwischen Gesellschafter und Gesellschaft als eigenem Rechtsträger. Im Ergebnis hat sich die juristische Klassifikation demnach von Webers historisch fundierter und strukturell begründeter Unterscheidung zwischen juristischer Person und Gesamthand gelöst und rechtsdogmatisch verselbständigt. Manches spricht dafür, dass eine solche Diskrepanz zwischen Rechtsform und Realität nur ein Durchgangsstadium bildet, das eines Tages auch rechtsdogmatisch wieder einer realistischeren Deutung Platz macht. Immerhin ist schon jetzt die Zahl der regelungsbedürftigen Gegenstände immer größer geworden, bei denen es sachwidrig wäre, zwischen juristischen Personen und Gesamthandsgesellschaften zu differenzieren, und geschieht dies in wirtschaftsrechtlichen Gesetzen auch tatsächlich immer seltener.

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Peter Rawert Von süffigen Parolen, einem dicken Sargnagel und der Philosophie des »Als Ob«

Karsten Schmidt und das Stiftungsrecht Inhaltsübersicht I. Der Virtuose: Musik mit Karsten Schmidt II. Museale Gedanken: Rettet das Stiftungsrecht III. Deutliche Kritik: Gewollt ist nicht gekonnt

IV. Virtuelle Welten: Wir tun mal so, „als ob“ 1. Etwas Furchtbares geschieht: Eine Theorie entsteht 2. Bewegte Gemüter: Skepsis und Hokus Pokus 3. Die Probe aufs Exempel: Hinein in den Simulator

I. Der Virtuose: Musik mit Karsten Schmidt Karsten Schmidt ist ein Virtuose1. Er beherrscht nicht nur die Kerngebiete des Privatrechts. Nein: Wie so typisch für den wahren Meister brilliert er selbst im Entlegenen. Vollkommen gleichgültig ob Bürgerliches, Handels- oder Gesellschaftsrecht, ob Konnossemente, Pfandrechtstheorien oder – nota bene! – das Automatenwesen2: Kaum ein wissenschaftlicher Schauplatz, auf dem die Musik ohne Karsten Schmidt gemacht würde. Mehr als vierzig selbständige Schriften, einige Dutzend Kommentierungen, Hunderte von Aufsätzen sowie zahllose Anmerkungen, Glossen und Rezensionen sind die Blätter eines atem-

__________ 1 Zur Figur des Virtuosen in jeder Hinsicht lesenswert: Arburg (Hrsg.), Virtuosität – Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, 2006. Auf dem Umschlag des Buches ist eine Zeichnung von Wilhelm Busch aus dessen Zyklus „Der Virtuos“ wiedergegeben. Man findet sie auch unter www.wilhelm-busch.de. Vermutlich darf man sich so den Jubilar bei der Arbeit vorstellen. In einer Rezension des Buches von Arburg hat übrigens Jürgen Kaube – der Wissenschaftsexperte der FAZ – in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 25.2.2007 den Virtuosen folgendermaßen auf den Begriff gebracht: „Im Virtuosen mischen sich … Merkmale des Adels wie der Gaukler. Er ist weit gereist, gegenüber dem Publikum ein Außenseiter, überbietet jede bürgerliche Fähigkeit, etwa die, ein Instrument zu spielen, und mischt hohe mit niederer Kunst, sublimste Ausdrucksmöglichkeiten mit der Imitation von Tierstimmen auf der Violine.“ Nebenbei: Karsten Schmidt spielt Violine! Und seine zahlreichen aber bislang leider unveröffentlichten Gedichte (für ein kleines Beispiel siehe Fn. 3) sind „niedere Kunst“ höchster Klasse. 2 v. Olshausen/Schmidt, Automatenrecht – Eine Darstellung des Rechts der Automatenwirtschaft, Berlin, 1972, 484 Seiten (sic!). Im Schmidt’schen Schriftenverzeichnis steht das Werk an erster Stelle. Zu des Autors eigener Einschätzung der Wirkungsgeschichte des Buches siehe Fn. 3.

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beraubenden Œuvres3. Es überrascht also nicht, dass selbst Stiftungsfragen – bei Lichte betrachtet eher randseitige Probleme – die Aufmerksamkeit des vielseitigen Künstlers gefunden haben. Ohnehin kann er sich bei ihnen – vermutlich anders als im Umgang mit Waren- oder gar Spielautomaten – füglich auch als einen gestandenen Praktiker bezeichnen. Schließlich gehört er seit beinahe zwanzig Jahren dem Vorstand der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius an. Und nicht zuletzt wegen seines Engagements ist sie eine der erfolgreichsten Einrichtungen dieser Art in der deutschen Kultur- und Wissenschaftslandschaft geworden. Was also hat Karsten Schmidt zum Stiftungsrecht komponiert?

II. Museale Gedanken: Rettet das Stiftungsrecht Beginnen wir mit der Nummer „eins“ von Karsten Schmidts stiftungsrechtlichem Werkverzeichnis4. Es ist die Veröffentlichung eines Vortrags, den er im

__________ 3 Und dann noch das oben (Fn. 1 und 2) bereits angesprochene nicht-juristische Werk. Hier eine Kostprobe zum Stichwort Automatenrecht! Karsten Schmidt: „Meine frühen Geistestaten handelten von Automaten. Und der Fachmann staunt nicht schlecht: Was ist „Automatenrecht“? Nun: Die Dinger leisten viel, Tabak, Service, Tickets, Spiel. Leistung gegen gutes Geld. Und die regulierte Welt will, dass alles kommentiert, weil das Recht so kompliziert. Doch das Buch war echter Frust, Sklavenarbeit, Zeitverlust! Rechtlich hat es nichts bewegt, wurde nicht neu aufgelegt, nie und nimmer neu ediert, weil man schnell die Lust verliert. Kurz: Der Autor, überdrüssig, fand: Das Werk ist überflüssig. Ungeeignet in der Tat selbst für’s Antiquariat.“ Mit der letzten Verszeile allerdings irrt der Dichter. Ich musste 30 Euro plus 4,50 Euro Porto und Verpackung investieren, um des raren Werkes habhaft zu werden. Ich gebe allerdings zu: Es ist ein sehr schönes Exemplar. Ohne jede Gebrauchsspur! 4 Karsten Schmidt, Stiftungswesen – Stiftungsrecht – Stiftungspolitik, 1987; Karsten Schmidt, Wohin steuert die Stiftungspraxis?, DB 1987, 261 ff.; Karsten Schmidt, Kurzkommentar zu BGH, Urteil v. 22.1.1987 – III ZR 26/85 (Stiftungszweck/Stifterwillen, Destinatär, benachteiligende Satzungsänderung), EWiR 1987, 747; Karsten Schmidt, Anmerkung zu BGH, Urteil v. 22.1.1987 – III ZR 26/85 – Kein Klagerecht der Destinatäre bei Änderung der Stiftungssatzung, JuS 1988, 310 f.; Karsten Schmidt, Konzessionssystem und Stiftungsrecht, in v. Campenhausen/Kronke/Werner (Hrsg.), Stiftungen in Deutschland und Europa, 1998, S. 229 ff.; Karsten Schmidt, »Ersatzformen« der Stiftung – Unselbständige Stiftung, Treuhand und Stiftungskörperschaft –, in Hopt/Reuter (Hrsg.), Stiftungsrecht in Europa, 2001, S. 175 ff.; Karsten Schmidt,

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November 1986 auf Einladung der Kölner Juristischen Gesellschaft hielt – übrigens lange bevor das Stiftungsrecht zum Modethema avancierte. Das Auditorium hatte sich in den eben eröffneten und damals noch gemeinsamen Räumen des Wallraf-Richartz-Museums und Museums Ludwig in der Nähe des Kölner Doms versammelt. „Stiftungswesen – Stiftungsrecht – Stiftungspolitik“ lautete einladend das Programm. Und die Parole, die der Redner vor dem Hintergrund seiner Enttarnung „autoritären Staatsdenkens“ und eines „objektivierenden Utilitarismus“ als der „Hauptfeinde des Stiftungsgedankens“ ausgab, war süffig5. „Ein Staat, der Pluralität nur als Kampf gegen das Elitäre begreift, ein Staat, der die Daseinsvorsorge monopolisiert und sie voll unter politische Legitimationszwänge bringt, ein Staat schließlich, der die Versöhnung von Staat und Gesellschaft im Munde führt, aber hiermit nur die Allgegenwart des Staatlichen meint, wird das Stiftungswesen gewiss nicht verbieten, aber er kann es ersticken.“ In der Tat: Das deutsche Stiftungswesen der 1970er und 1980er Jahre rang nach Luft. Als Rechtsform fristete die Stiftung das Dasein eines Mauerblümchens. Nur wenige „Exzentriker“ leisteten sich den vermeintlichen Luxus einer Rechtsperson, deren schwindelnde Abstraktionshöhe und offenkundige Tendenz, sich gegen staatliche und gesellschaftliche Kontrolle abzukapseln, manchem Apologeten staatlicher Gemeinwohlpflege unheimlich erschien6. Nicht einmal 5.000 rechtsfähige Stiftungen des Bürgerlichen Rechts existierten zum Zeitpunkt des Schmidt’schen Vortrags hierzulande7. Und die rechtlichen Rahmenbedingungen des Stiftungswesens beruhten auf Parametern, die sämtlich aus dem 19. Jahrhundert stammten: Fehlende Rechtseinheitlichkeit durch ein verwirrendes Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht, mangelnde Rechtssicherheit durch ein von „fürsorglichen“ Stiftungsbeamten nicht selten nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten handgesteuertes Gründungsverfahren, ungeklärte Rechtsfragen in Hinblick auf rein privatnützig oder erwerbswirtschaftlich tätige Stiftungen, eine Stiftungsaufsicht, die mit sich rang, ob sie lediglich rechtliche oder nicht zuweilen doch auch fachliche

__________ Brave New World: Deutschland und seine Unternehmenserben auf dem Wege in ein Stiftungsdorado?, ZHR 166 (202), 145 ff. Veröffentlichungen mit im weiteren Sinne stiftungsrechtlichen Bezügen sind: Karsten Schmidt, Kapitalsicherung in der GmbH & Co. KG – Schlussbilanz oder Zwischenbilanz einer Rechtsfortbildung? Eine Skizze mit Ausblicken auf die Auslandsgesellschaft & Co. sowie die Stiftung & Co. KG, GmbHR 1989, 141 ff.; Karsten Schmidt, Unternehmen als Stifter und Spender – Überlegungen aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts, Non Profit Law Yearbook 2001, S. 107 ff.; Karsten Schmidt, Hochschulen in Rechtsformen des privaten Rechts, in Kämmerer/Rawert (Hrsg.), Hochschulstandort Deutschland, 2003, S. 105 ff. 5 Karsten Schmidt, Stiftungswesen – Stiftungsrecht – Stiftungspolitik, 1987, S. 11. Nur damit kein falscher Eindruck entsteht: Die „süffige Parole“ ist Originalton Karsten Schmidt. Ich hätte mich nie getraut, seine These so zu apostrophieren. 6 Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 5. 7 Anheier, Das Stiftungswesen in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme in Zahlen, in Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Handbuch Stiftungen 2. Aufl. 2003, S. 43 ff. Im Juni 2008 sollen es nach einer dpa-Meldung bereits 15.500 gewesen sein.

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Weisungen erteilte durfte8, und am Ende die mangelnde Publizität des Stiftungswesens, die auf dem Fehlen eines Stiftungsregisters beruhte, welches dem Vereins- oder Handelsregister mit seinen „Gutglaubensregeln“ in §§ 68 BGB und 15 HGB entsprach. Man hätte nun von Karsten Schmidt an jenem Abend ein flammendes Plädoyer für eine Reform des deutschen Stiftungsrechts erwarten können – zumindest nach den deutlichen Thesen, von denen der Vortrag seinen Ausgang genommen hatte: Schluss mit dem überkommenen Verwaltungsmodell obrigkeitsstaatlicher Prägung und hin zu einem liberalen, bürgerlichen Stiftungswesen! Aber gefehlt: Womöglich waren es die museale Atmosphäre oder die Nähe zum Kölner Dom als dem in Stein gemeißelten Sinnbild für Beharrungsvermögen, die Karsten Schmidt erstaunlich zurückhaltend bleiben ließen. Rechtspolitische Vorschläge, die der 44. Deutsche Juristentag (DJT) bereits 1962 im Hinblick auf eine bundeseinheitliche Regelung des Stiftungsrechts, den Übergang zu einem Normativsystem und die Einführung eines Stiftungsregisters gemacht hatte9, hielt er zwar für „beherzigenswert“. Die Forderung nach einer Neubestimmung der Genehmigungsgrenzen bei unternehmensverbundenen Stiftungen erschien ihm „nicht von vornherein“ unplausibel. Und die gegen Ende der 1980er Jahre gerade aufkommende Stiftung & Co. KG belegte er gar mit einem Bannfluch („Perversion des Stiftungsgedankens“10), dessen assoziative Kraft ihn zum bevorzugten Zitat derer machte, die gegen diese homunculi der Vertragsgestaltung verwegen zu Felde zogen11. Indes: Sowohl de lege lata als auch de lege ferenda blieb das Fazit unter der zum Himmel über dem Dome schreienden Überschrift „Rettet das Stiftungsrecht!“ seltsam unbestimmt. „Mein Plädoyer gilt nicht … einer Beseitigung der Stiftungsunternehmen. Es gilt aber doch einer Rückbesinnung von der Rechtsform der Stiftung auf den Sinn des Stiftungsgeschehens. … Man erwiese dem Stiftungsgedanken … einen schlechten Dienst, wenn die Rechtsform der Stiftung zum Massenprodukt der Kautelarjurisprudenz würde.“12 Und wenig später fast mediatorisch an anderer Stelle: „Die kautelarjuristische Praxis hat es in der Hand, ob sie

__________ 8 So leistete sich z. B. die Freie und Hansestadt Hamburg trotz eindeutig entgegenstehender Rechtsprechung des BVerwG (BVerwGE 40, 347) noch bis zum Inkrafttreten des Hamburgischen Stiftungsgesetzes v. 14.12.2005 (HambGVBl. S. 521) eine sog. „wirtschaftliche Stiftungsaufsicht“, von der selbstverständlich behauptet wurde, sie nehme ausschließlich Rechtsaufsichtsfunktionen wahr, die aber gleichwohl neben der für diese eigentlich zuständigen Senatskanzlei zu einer Art Doppelprüfung eingesetzt wurde. De facto hieß das, dass es in nahezu jeder Behörde eine eigene „sachnahe“ Stiftungsabteilung gab, die gerne – auch ungebeten – mit fachlichem Rat „behilflich“ war. Mittlerweile wurde dieser Missstand allerdings beseitigt. Heute liegt die alleinige (Rechts-)Aufsicht bei der Justizbehörde. Und dort geht natürlich alles ganz rechtsstaatlich zu. 9 Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, 1962, Arbeitstitel: Soll das Stiftungsrecht bundesgesetzlich vereinheitlicht und reformiert werden, gegebenenfalls mit welchen Grundzügen?, Gutachten von Ballerstedt und Salzwedel sowie Referat von Mestmäcker. 10 Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 30 f.; Karsten Schmidt, JbFStR 1993/1994, 425. 11 Es waren vor allem Dieter Reuter und später auch ich. 12 Karsten Schmidt (Fn. 5), S. 31 f.

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das Stiftungsrecht – und mittelbar auch das Personengesellschaftsrecht! – vor eine Kraftprobe stellen will. Sie sollte die Ergebnisse ihres eindrucksvollen und juristisch ausdifferenzierten Erfindungsreichtums sorgsam darauf prüfen, ob sie um kurzfristiger Gestaltungsvorteile willen Grundsatzdebatten heraufbeschwört, die nicht ohne schmerzhafte Folgen sein können.“13

III. Deutliche Kritik: Gewollt ist nicht gekonnt Eigentlich war Karsten Schmidts Befund eindeutig: Es knirscht im Stiftungsrecht! Aber dennoch: Musste deshalb gleich der Gesetzgeber gerufen werden? Das gerne gescholtene Konzessionssystem hatte wegen der Grundrechtsbindung der Verwaltung doch längst seine historischen Zähne verloren. Schließlich hatte er, Karsten Schmidt, das an anderer Stelle überzeugend nachgewiesen14. Und die Debatte um die unternehmensverbundene Stiftung? Ließ sie sich nicht einfach durch Konsens erledigen? Durch eine vernünftige Stiftungspraxis, die sich auf den Gemeinwohlbezug des Stiftungsrechts besann und von hypertrophen Gestaltungsvorschlägen Abstand nahm?15 Indes: Dem war offenbar nicht so. Die Kritik wurde lauter. Sie zog immer weitere Kreise16. Und sie erreichte eine gute Dekade später tatsächlich die Legislative, allerdings an einer unerwarteten Stelle. Es war ausgerechnet die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Ende 1997 den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Stiftungswesens vorlegte17. Unter Federführung der Abgeordneten und ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer hatte dort seit geraumer Zeit eine kleine Arbeitsgruppe getagt, welche die rechtspolitischen Vorstöße des vorangegangenen Jahrzehnts systematisch aufgearbeitet und zu einem Vorschlag „destilliert“ hatte18. Neben steuerlichen Anreizen19 für Stifter und Stiftungen sah dieser Vorschlag den Übergang zu einem System von bundeseinheitlichen Normativbestimmungen nebst Errichtung eines von den Amtsgerichten geführten Stif-

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13 Karsten Schmidt, DB 1987, 261, 263. 14 Karsten Schmidt, Verbandszweck und Rechtsfähigkeit im Vereinsrecht, 1984, S. 60 ff.; vgl. dazu auch Karsten Schmidts Vorarbeiten BB 1974, 254 ff.; NJW 1979, 2239 ff.; AcP 182 (1982), 1 ff. 15 Karsten Schmidt, DB 1987, 261, 263. Freilich ist es gerade der von Schmidt damals wie heute – vgl. ZHR 166 (2002), 145, 148 f. – unterstellte Gemeinwohlbezug des Stiftungsrechts über den in der rechtspolitischen Diskussion keine Einigkeit erzielt werden konnte und kann. 16 Zur Diskussion eingehend Rawert in Hager (Hrsg.), Entwicklungstendenzen im Stiftungsrecht, 2008, S. 18, 21 ff. 17 BT-Drucks. 13/9320 v. 1.12.1997. 18 Die Vorlage (Fn. 17) stammte ganz überwiegend aus meiner Feder und orientierte sich an den Gedanken, die Dieter Reuter in seiner Kommentierung der §§ 80–88 BGB im Münchener Kommentar und später ich im Staudinger entwickelt hatten. 19 Der Entwurf sah erstmals rechtsformspezifische Privilegien für gemeinnützige Stiftungen vor. Sie wurden später aus ihm ausgekoppelt, noch etwas erweitert und schließlich zum Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen v. 14.7.2000 (BGBl. I. S. 1034); dazu statt vieler Crezelius/Rawert, ZEV 2000, 421 ff.; Hüttemann, DB 2000, 1984 ff.

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tungsregisters vor. Die überkommene Stiftungsgenehmigung sollte abgeschafft und entsprechend der Rechtslage bei Vereinen und Kapitalgesellschaften durch einen konstitutiven Registereintrag ersetzt werden. Damit aber nicht genug: Für unternehmensverbundene Stiftungen waren Zulässigkeitsschranken in Analogie zu den Regelungen über den wirtschaftlichen Verein (§ 22 BGB) vorgesehen, um erwerbswirtschaftlich tätigen Stiftungen die Fluchtwege aus den Normativbestimmungen des Gesellschaftsrechts abzuschneiden20. Und für reine Unterhaltsstiftungen sollten zeitliche Begrenzungen nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Rechts eingeführt werden, um ein privatrechtlich systemwidriges Unterlaufen der BGB-Regelungen über die zeitlichen Grenzen zulässiger Nachlassbindungen qua Stiftungskonstruktion zu verhindern21. Gleichwohl: Trotz gewisser Eingriffe in das bislang als Dogma geltende „Prinzip der gemeinwohlkonformen Allzweckstiftung“ war erklärte Absicht des Entwurfes eine Deregulierung des Gründungsverfahrens um „… engagierten Bürgern in kleinem und großem Rahmen die Möglichkeit [zu bieten], einen dauerhaften Beitrag zur Gemeinwohlpflege zu leisten und damit komplementär oder in Konkurrenz zu staatlichen Institutionen zu wirken.“22 Systemwechsel also war die Parole und Öffnung der Rechtsform „Stiftung“ für breite Kreise der Bevölkerung – freilich nicht schrankenlos, sondern im Einklang mit den sonstigen Prinzipien der Privatrechtsordnung, vor allem jenen des Gesellschafts- und Erbrechts. Die Reaktion auf den Entwurf war allerdings (vorhersehbar) heftig. Durch die etablierte Stiftungsszene ging ein Aufschrei: Die Grünen (also: die Linken23) wollen den Familienstiftungen ans Leder! Stiftungswillige Unternehmer sollen ihrer Freiheit beraubt werden! Den Ländern droht Entmachtung! Die bewährte Stiftungsaufsicht gerät ins Wanken! Das ganze deutsche Stiftungswesen ist in

__________ 20 Vgl. § 81 Abs. 1 BGB (Entwurf – o. Fn. 17): „Eine Stiftung darf jeden erlaubten Zweck verfolgen, der nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb (§ 22) gerichtet ist.“ 21 Vgl. § 81 Abs. 2 BGB (Entwurf – o. Fn. 17): „Die Errichtung einer Stiftung, deren überwiegender Zweck die Versorgung eines lediglich durch persönliche Merkmale bestimmten Kreises von Begünstigten ist, ist längstens für dreißig Jahre ab ihrer Eintragung in das Stiftungsregister zulässig. Die Stiftung ist erloschen, wenn nicht ihr Zweck vor Ablauf der Frist geändert wird oder alle Begünstigten und Anfallberechtigten ihrer Fortsetzung für einen weiteren Zeitraum von längstens dreißig Jahren zustimmen. Die Zustiftung ist dem Stiftungsregister vor Ablauf der Frist nachzuweisen. Mehrfache Fortsetzung ist zulässig.“ Auch das österreichische Privatstiftungsgesetz kennt eine vergleichbare Regelung (§ 35 Abs. 2 Nr. 3) – allerdings mit längeren Fristen. 22 BT-Drucks. 13/9320 v. 1.12.1997, S. 1. 23 Dabei war die Stiftungsrechtsreform im Ansatz als eine Art erstes grün/schwarzes Projekt gedacht, denn es ging ja um ein bürgerliches Thema. Indes: Kurz vor den Wahlen 1998 standen die Zeichen für solche Kooperationen nicht günstig. In der Opposition griff die CDU/CSU Fraktion in einem Entschließungsantrag vom 9.11.1999 (BT-Drucks. 14/2029) dann etliche der „grünen“ Forderungen auf. Da freilich hatten sich die Verhältnisse erneut zu Ungunsten eines schwarz/grünen Farbenspiels geändert.

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Gefahr! Her mit den Steuervorteilen, aber weg mit dem Rest! Schluss der Debatte, bevor sie beginnt!24 Und Karsten Schmidt? Der wusste natürlich, aus welcher „Ecke“ der Entwurf in Wahrheit kam. Schließlich hatte er mit der grünen Hauptprotagonistin und dem Verfasser dieser Zeilen aus frohem Anlass im Herbst 1997 im Schatten des Kirchturms von St. Georg zu Hamburg bei Vino und Antipasti einen erquicklichen Abend verbracht25. Und überdies: Natürlich kannte er die von der „grünen“ Initiative aufgenommenen Forderungen des DJT, welche er eine Dekade zuvor höchst selbst als „beherzigenswert“ bezeichnet hatte. Ihm war klar, dass hinter den Vorschlägen keine „linken Verschwörer“, sondern bürgerliche Zeitgenossen mit eher ordoliberalen denn roten Vorstellungen standen. Und mehr noch: Für das Anliegen, das Stiftungswesen vor einer Instrumentalisierung für rein privatnützige und vornehmlich erwerbswirtschaftliche Zwecke zu schützen26, hegte er offenkundig Sympathie: „Der rechtspolitische Grundgedanke des § 22 BGB, der für die sog. wirtschaftlichen Vereine das Konzessionssystem beibehält, verdient auch im Stiftungsrecht Beachtung. Im Interesse einer Reinhaltung des Stiftungswesens ist die Aufnahme einer Vorschrift zu erwägen, dass eine Stiftung als Rechtsform eines wirtschaftlichen Unternehmens nur dann errichtet werden darf, wenn der auf das Gemeinwohl gerichtete Zweck nur durch den Betrieb des Unternehmens unmittelbar verwirklicht werden kann.“27 Aber gleichwohl: Es blieb Skepsis gegenüber der Machart der Vorschläge. Sie erschienen technisch unausgereift; zu sehr von dem Bestreben getragen, „jede gut gemeinte Kleininitiative“ künftig mit dem „Statussymbol“ der Stiftung auszuzeichnen. Und weil er, Karsten Schmidt,

__________ 24 Es ist hier nicht der Ort, die Reformdebatte der Jahre 1997–2002 erneut zu führen. Insoweit sei aus der fast unübersehbarer Literatur zwischen Vorlage des bündnisgrünen Entwurfes und der späteren Verabschiedung des Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts lediglich verwiesen auf die kontroversen Stellungnahmen von Achilles, ZRP 2002, 23 ff.; Andrick/Suerbaum, NWVBI 1999, 329 ff.; Andrick/ Suerbaum, NJW 2002, 2905 ff.; Bischoff, ZRP 1998, 391 ff.; Burgard, NZG 2002, 697 ff.; Crezelius/Rawert, ZIP 1999, 337 ff.; Funke in Hopt/Reuter (Fn. 4) S. 219 ff.; Hüttemann, ZHR 167 (2003), 35 ff.; Muscheler, ZRP 2000, 390 ff., Muscheler, NJW 2003, 3161 ff.; Muscheler/Schewe, WM 1999, 1693 ff.; Reuter in FS Kraft, 1998, S. 493 ff.; Reuter in Non Profit Law Yearbook 2001, S. 27 ff. Eine zusammenfassende Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens findet sich bei Nissel, Das neue Stiftungsrecht, 2002. Dort sind auch die wichtigsten parlamentarischen Dokumente wiedergegeben. Symptomatisch für die im vermeintlichen Interesse der Privatautonomie geäußerte – und natürlich vordergründig dankbar auf Karsten Schmidt gestützte – Kritik am Entwurf Kögel, Stellungnahme zu den Gesetzentwürfen der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN aus Beratersicht, in Bertelsmann-Stiftung/Mäzenata Institut für Dritter Sektor Forschung (Hrsg.), Expertenkommission zur Reform des Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrechts 1999 ff., Loseblatt, Arbeitspapiere, C 20 ff. 25 Er bildete den Abschluss der Feier zum 200. Jahrestag der Gründung von Hamburgs ältester und noch immer bestehender Notarsozietät. Karsten Schmidt hatte dort einen viel beachteten Vortrag gehalten. Man kann ihn in ZIP 1998, 1 ff. nachlesen. 26 Immerhin hätte die Verabschiedung des Entwurfs das Ende der Stiftung & Co. KG bedeutet (s. o. Fn. 21). 27 Karsten Schmidt, DB 1987, 261, 262.

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soeben (ausgerechnet!) dem Bundesverband Deutscher Stiftungen28 zu dessen bevorstehendem 50. Gründungstag einen stiftungsrechtlichen Festschriftbeitrag versprochen hatte, warum nicht den Entwurf als ein aktuelles Thema wählen – und kritisch auf seine Tauglichkeit durchleuchten? Also griff der Gelehrte zur Feder und schrieb, was seine Überzeugung ihm gebot: „Das Konzessionssystem ist die technisch weniger ausgereifte und archaischere unter den Methoden für die Erlangung der Rechtsfähigkeit. Es ist umso mehr zu überwinden, je weiter die Rechtsentwicklung in der Herausarbeitung von Normativbestimmungen vorangeschritten ist. Vice versa sind aber dem Konzessionssystem auch Vorzüge zuzugestehen, wo die Herausarbeitung subsumtionsfähiger Normativbestimmungen noch nicht gelungen ist, denn die Vorstellung eines Beurteilungsspielraums passt nun einmal besser in das Bild der gebundenen Verwaltung als in das der Tätigkeit von Registergerichten.“29 Das waren deutliche Worte, aber es kam noch dicker: „Zugunsten des Konzessionssystems werden vor allem folgende Aspekte ins Feld geführt: [1. seine] Flexibilität [und 2.] die frühzeitige, eine Ablehnung von Genehmigungsanträgen vermeidende Beratung. Es ist nicht leicht, diesen Argumenten etwas entgegenzuhalten. Wer aus eigener Anschauung auch nur einen partiellen Eindruck von der Vielfalt der Stiftungswirklichkeit hat, wird rasch erkennen, dass diese Vorteile nicht aus der Luft gegriffen sind.“30 Die Stiftungsbeamten klatschten Beifall. Und zur unternehmensverbundenen Stiftung: „Der Entwurf schneidet diese Diskussion, formal betrachtet, einfach ab. Sie würde sich unter einer solchen Gesetzesfassung aber wohl nur verlagern: verlagern auf die streitige Frage, wann eine „wirtschaftliche Stiftung“ i. S. von § 22 BGB vorliegt. Das wäre alter Wein in neuen Schläuchen.“31 Die Vertreiber von Stiftungshybriden rieben sich die Hände.

__________ 28 Wie jeder gute Interessenverband stets an Steuergeschenken interessiert, aber – zumindest damals – jeder sonstigen Veränderung strikt abhold; siehe die Stellungnahme von Mecking (weiland Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen) in Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode – Innenausschuss – 16. Juni 1998, Bonn: Anhörung von Experten zum Thema „Stiftungswesen“, S. 8 ff. 29 Karsten Schmidt, Konzessionssystem und Stiftungsrecht – Bemerkungen zum Entwurf eines Stiftungsförderungsgesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – in v. Campenhausen/Kronke/Werner, Stiftungen in Deutschland und Europa, 1998, S. 229, 233 f. 30 Karsten Schmidt (Fn. 29), S. 234. Gegen die Stichhaltigkeit des „Beratungsarguments“ treffend Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, Vor § 80 BGB Rn. 13. 31 Karsten Schmidt (Fn. 29), S. 240. Leider muss ich Karsten Schmidt im Nachhinein Recht geben. Die Formulierung im ursprünglich vorgeschlagenen § 81 Abs. 1 BGB war misslungen. Später habe ich dann – nicht zuletzt als Reaktion auf Karsten Schmidts Kritik – einen differenzierteren Vorschlag gemacht. Er lautete: „Eine Stiftung darf jeden erlaubten Zweck verfolgen. Dazu darf sie auch ein Unternehmen betreiben oder an einem Unternehmensträger beteiligt sein, sofern dessen wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb dazu dient, die verfassungsmäßigen Zwecke der Stiftung zu verwirklichen und diese nur durch einen solchen Geschäftsbetrieb verwirklicht wer-

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Aber als wäre das alles noch nicht genug gewesen, dann das mitleidige Fazit: „Die gute Absicht [des Entwurfs] ist unverkennbar, unleugbar ist aber auch die von ihm ausgehende Änderung des gesamten Stiftungswesens.“ Denn, liebe wohlgesinnte Reformfreunde: „Stiftungsgesetzgebung setzt einen hohen Grad an rechtspolitischer Vergewisserung voraus. Es ist immer wieder bemängelt worden, dass es daran fehlt. Das ist auch hier wieder spürbar. Indem der Entwurf nach Normativbestimmungen ruft, ersetzt er das Konzessionssystem durch ein Registrierungsverfahren. Dieses wiederum setzt Normativbestimmungen von einer Abgrenzungsschärfe voraus, wie sie im Stiftungsrecht – und auch im Entwurf – vorerst noch nicht gewährleistet sind.“32 Das war deutliche Kritik von einem großen Wissenschaftler, brillant geschrieben, veröffentlicht in reformkritischem Umfeld und überdies bereits im Frühjahr 1998 – also gleich zu Beginn der Reformdiskussion. Damit war ein dicker Nagel eingeschlagen: Im Sargdeckel des Registrierungssystems und der Normativbestimmungen für privatnützige und unternehmensverbundene Stiftungen. Vor allem das sympathisch klingende Wort von der „Vielfalt der Stiftungswirklichkeit“ – erneut ein Bonmot mit assoziativer Wirkung33 – machte als Argument für die Beibehaltung eines behördlich administrierten Gründungsverfahrens fortan die Runde. Es wurde zur Lieblingsreferenz jener, die gerne alles beim Alten belassen und auf keinen Fall einen Systemwechsel wollten. In Karsten Schmidt hatten sie endlich einen Fürsprecher von Rang gefunden34 – zumindest konnte man es meinen35. Und dennoch: Die Reform kam, wenn auch eher nach Art einer „kosmetischen Remedur“36. Immerhin: Die privatrechtlichen Voraussetzungen für die Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung Bürgerlichen Rechts wurden unter ein-

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den können. Kann die Stiftung ihren Zweck auch ohne den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb verwirklichen, so dürfen die Organe der Stiftung weder durch die Verfassung noch durch den Gesellschaftsvertrag oder die Satzung des Unternehmensträgers, an dem die Stiftung beteiligt ist, an der Umschichtung des Stiftungsvermögens gehindert werden. Der Betrieb eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs selbst ist kein zulässiger Stiftungszweck.“; siehe: Rawert in Deutscher Bundestag, Ausschuss für Kultur und Medien, BT-Drucks. 14/0066 v. 15.12.1999, S. 26. Mit dieser Passage sollten die Grundlagen der „Stiftungsklassenabgrenzung“ in Anlehnung an die von Karsten Schmidt entwickelten Grundsätze der Vereinsklassenabgrenzung gesetzlich definiert werden. Den Vorschlag wollte aber niemand mehr zur Kenntnis nehmen. Karsten Schmidt (Fn. 29), S. 241, 242. Man denkt sogleich an ein Gärtchen voller schöner Wiesenblumen, die jetzt zertreten werden sollen. Paradigmatisch die Stellungnahme von Peiker (Stiftungsaufsicht Frankfurt/M.) in Protokoll zur Anhörung am 22.3.1999 zum Gesetzentwurf der F.D.P. zum Stiftungsrechtsreformgesetz, S. 133 ff. Wer allerdings das Editorial liest, das Karsten Schmidt kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für die Reform der §§ 80–88 BGB in der ZHR 166 (2002), 145 ff., veröffentlichte, spürt deutliches Unbehagen am Ergebnis der Debatte. Immerhin: Karsten Schmidts Kritik am bündnisgrünen Entwurf (Fn. 29) enthielt eine Fußnote, die eine weitere Stellungnahme des Autors zur in Aussicht genommenen Reform ankündigte. Schade, dass sie nie erschienen ist. Karsten Schmidt, ZHR 166 (2002), 145.

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fachgesetzlicher Anerkennung eines „Rechts auf Stiftung“ mehr als einhundert Jahre nach in Kraft treten des BGB in dessen §§ 80 und 81 endlich bundeseinheitlich abschließend definiert. Zumindest einige der bislang sakrosankten Landeskompetenzen mussten also „daran glauben“37. Aber: Die von den Bürokraten mit Zähnen und Klauen verteidigte Stiftungsgenehmigung38 blieb – lediglich bürgerfreundlich umgetauft in „Anerkennung“. Auf Sonderregelungen für rein privatnützige und erwerbswirtschaftlich orientierte Stiftungen hingegen wurde „liberal“39 verzichtet. Und der Schmidt’sche Appell an die Vernunft der Kautelarpraxis? Verhallte. Unerhört!40

IV. Virtuelle Welten: Wir tun mal so, „als ob“ Wer nach alledem meint, man müsse Karsten Schmidt im Stiftungsrecht eine eher rückwärts gewandte Rolle zumessen, der irrt allerdings. Sein Meisterstück nämlich kam noch – eher am Rande der Reformdebatte aber dafür mit Wirkung weit über sie hinaus. 1. Etwas Furchtbares geschieht: Eine Theorie entsteht Im Mai 2000 veranstalteten das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg, und das Institut für Wirtschafts- und Steuerrecht der Christian-Albrechts-Universität, Kiel, unter Leitung von Klaus J. Hopt und Dieter Reuter auf Schloss Salzau in Schleswig-Holstein ein mehrtägiges Symposion über „Stiftungsrecht in Europa“. Vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich auch in anderen europäischen Ländern geführten Debatte über eine Neubestimmung des Regelungsrahmens für die Gründung und Tätigkeit von Stiftungen ging es um die Gewinnung rechtsvergleichender Erkenntnisse für die Schlussphase der Reform, welcher die §§ 80–88 BGB schließlich 2002 unterzogen werden sollten41.

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37 Vor allem die Bayern haben das bis heute nicht verwunden, vgl. Backert, ZSt 2004, 51 ff. 38 Siehe statt Vieler die Stellungnahme des Referatsleiters Stiftungsangelegenheiten im Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen in Deutscher Bundestag (Fn. 28), S. 30 ff. 39 Vgl. Schiffer, BB 2002, Heft 42, I. 40 Mittlerweile kennt der Instrumentalismus, mit dem Stiftungen zu eigentlich stiftungsfremden, d. h. rein erwerbswirtschaftlichen und privatnützigen Anliegen genutzt werden, keine Grenzen mehr (kritisch dazu bereits Rawert, ZEV 1999, 294 ff., mit Replik des „Instrumentalisten“ Schiffer, ZEV 1999, 424 ff. und Duplik von Rawert, ZEV 1999, 426 f.). Vor allem die – zugegeben brillant geschriebene – Habilitationsschrift von Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, hat begonnen, alle überkommenen Grundpfeiler des Stiftungsrechts im vordergründig populären Interesse einer grenzenlosen „Privatautonomie“ von Stiftern (den modernen Helden der Zivilgesellschaft) zu schleifen. Eingehende Kritik an Burgards Thesen bei Rawert, ZHR 171 (2007), 105 ff.; Rawert in FS Priester, 2007, S. 647 ff. 41 Zum Zeitpunkt der Tagung waren die steuerlichen Regelungen des Gesetzes zur weiteren Förderung von Stiftungen, mit denen diese Rechtsform erstmals allein auf sie zugeschnittene Privilegien erhielt, aus dem ursprünglichen bündnisgrünen Entwurf herausgekoppelt worden und standen kurz vor der Verabschiedung (Fn. 19). Es

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Karsten Schmidt hatte es übernommen, über „Ersatzformen“ der Stiftung zu sprechen – also vornehmlich die so genannten Stiftungskörperschaften sowie die unselbständige Stiftung42. Man ahnte, dass es darum gehen sollte, wie Vereine und Gesellschaften Stiftungsfunktionen ausüben können, wie man ihre Statuten zu gestalten hatte, um sie auf einen „Stifterwillen“ zu verpflichten, und wie es um die Rechtsnatur der nicht im Sinne der §§ 80–88 BGB rechtsfähigen Stiftung bestellt war – Treuhandvertrag oder Schenkung unter Auflage? Dies alles, so ließ der Referent seine Zuhörer dann auch erwartungsgemäß wissen, habe er in seinem Beitrag Stück für Stück und getreulich ausbreiten wollen. Aber: „Bei [der] Ausarbeitung geschah dann … etwas Furchtbares. Der Stoff bekam Eigenleben, und herausgekommen ist eine rechtswissenschaftliche These.“ „Und wie lautete sie?“, war die neugierige Frage. Antwort: „Die unselbständige Stiftung ist eine virtuelle juristische Person, organisiert vom Stifter und vom Stiftungsträger.“43 Das war keine schlechte Überraschung. Hans Vaihingers „Philosophie des Als Ob“44 war im Stiftungsrecht angekommen. Und was das zu bedeuten hatte, lässt sich auf einen knappen Nenner bringen45: Als Rechtssubjekte sind an der unselbständigen Stiftung der Stifter und der Stiftungsträger beteiligt. Durch die unter ihnen mit den Mitteln der Vertragsgestaltung begründeten Beziehungen wird zwar kein Rechtssubjekt im technischen Sinne kreiert. Es kommt aber zur „Simulation“ einer Stiftung im Sinne der §§ 80–88 BGB. Sie erfolgt durch Schenkung, Erbeinsetzung oder Vermächtnis unter Auflage. Mit der Auflage wird der Stiftungsträger verpflichtet, das ihm zugewandte Vermögen im Interesse und für Rechnung der Stiftung als einer gedachten Rechtsperson zu verwalten. Seine Verhaltenspflichten sind die eines »Als-ob-Organs« einer »Als-ob-Stiftung«. Sie sind ihm zwar vom Stifter vorgegeben. Aber sie treffen ihn nicht kraft Treuhandauftrages. Der Stifter, der sich seines Vermögens endgültig entäußert hat, ist nämlich kein Treugeber. Sie treffen ihn vielmehr kraft Auflage mit Treuhandcharakter. Ihr Vollzug kann vom Stifter und seinen Rechtsnachfolgern allerdings gleichwohl durchgesetzt werden, und zwar im Wege einer gleichsam „privaten Stiftungsaufsicht“ gestützt auf §§ 525, 2194

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bedarf kaum der Erwähnung, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Tagung den politischen Prozess nicht mehr erreichten. Dass sich die vom Bundesministerium der Justiz zur Prüfung von Reformbedarf im Stiftungsrecht eingesetzte BundLänder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht in ihrem Abschlussbericht v. 19.10.2001 in einer Fußnote gleichwohl auf Hopt/Reuter bezog, war anlässlich des Graswurzelniveaus, mit dem die Ministerialen unter Federführung eines Ex-DDR-Funktionärs dort Rechtsvergleichung betrieben (vgl. Rawert, FAZ v. 23.4.2007), eher peinlich. Karsten Schmidt, »Ersatzformen« der Stiftung – Unselbständige Stiftung, Treuhand und Stiftungskörperschaft – in Hopt/Reuter, Stiftungsrecht in Europa, 2001, S. 175 ff. Karsten Schmidt (Fn. 42), S. 176. Zur virtuellen Rechtsperson vgl. auch Karsten Schmidt in FS Bezzenberger, 2000, S. 401 ff. Hans Vaihinger (1852–1933) war Kant-Forscher. Sein Hauptwerk, die „Philosophie des Als Ob“ (1911), stellte die Frage: „Wieso erreichen wir oft Richtiges mit bewusst falschen Annahmen?“ Es geht also um nützliche Fiktionen, die ihre Legitimation in den guten Diensten finden, die sie der Praxis leisten. Vgl. Karsten Schmidt (Fn. 42), S. 177 ff., 193 f.

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BGB mit einer subsidiären Kompetenz staatlicher Behörden, zumindest sofern die Zwecke der Stiftung im öffentlichen Interesse liegen. Und mehr noch: Da auch die Zugehörigkeit des Stiftungsvermögens im Sinne einer »virtuellen juristischen Person« zu denken ist, hat das Modell sogar haftungsrechtliche Konsequenzen. Für Verbindlichkeiten des Stifters haftet das Stiftungsvermögen nicht und für solche des Stiftungsträgers nur im Rahmen der Stiftungstätigkeit. Die Rechte auf Aussonderung (§ 47 InsO) und Drittwiderspruch (§ 711 ZPO) macht der Stifter nicht zur Verteidigung eigener Rechte geltend, sondern zugunsten derer eines gedacht eigenständigen Rechtsträgers. Umgekehrt jedoch gilt: Da die virtuelle Stiftung keine reale juristische Person ist, bleibt der Stiftungsträger selbst mit seinem Eigenvermögen für Stiftungsverbindlichkeiten „verhaftet“ – es sei denn er träfe mit Dritten durch Rechtsgeschäft eine abweichende Vereinbarung. Man kann es nicht anders sagen: Karsten Schmidts Denkmodell war revolutionär und ist mit Recht auch so genannt worden46. Die mit den Mitteln der Vertragsgestaltung bewirkte Erzeugung echter Stiftungswirkungen in einem weitestgehend staatsfreien Regelungsrahmen als „deregulierte Variante“47 des Stiftungsgedankens! Keine behördliche Errichtungskontrolle mit den noch immer gängigen Hinweisen auf die guten, hausgemachten Einheitssatzungen, keine laufende staatliche Aufsicht mit zuweilen zweifelhaftem Vorlage- und Prüfungsaufwand und – umgekehrt – ein erhöhter Grad an Flexibilität, vor allem wenn es um die Anpassung der Auflage an veränderte Verhältnisse geht, also durch Satzungs- und sogar Zweckänderung. Überdies machte die Verlagerung der Diskussion um die unselbständige Stiftung von der Vertragstypenzur Organisationslehre deutlich, wie nebensächlich der noch immer geführte Streit um die Zuordnung des Stiftungsgeschäfts zum Recht der Schenkung oder des Auftrags für die Kautelarpraxis tatsächlich war. Es ging nicht um „Schenkung oder Treuhand?“. In Wahrheit ging es um die Kopie eines Konzeptes, das zwar nicht kraft Analogie, aber doch kraft rechtsgeschäftlicher Vereinbarung auf die unselbständige Stiftung übertragbar erschien, nämlich das der rechtsfähigen Stiftung des Bürgerlichen Rechts. 2. Bewegte Gemüter: Skepsis und Hokus Pokus Seit Salzau bewegt Karsten Schmidts Konzept die Gemüter. „Schon der Rang des Urhebers in der Rechtswissenschaft im Allgemeinen und im Stiftungsrecht im Besonderen“, so konnte man aus der Feder von Klaus J. Hopt und Dieter Reuter lesen, „bürgt dafür, das Theorie und Praxis sich mit der These von der unselbständigen Stiftung als einer virtuellen juristischen Person und den daraus gezogenen Konsequenzen noch intensiv beschäftigen werden.“48 Und genau das geschieht tatsächlich mit einigem Eifer.

__________ 46 So Hopt/Reuter, Stiftungsrecht in Europa: Eine Einführung, in Hopt/Reuter, Stiftungsrecht in Europa, 2001, S. 1, 17. 47 Karsten Schmidt (Fn. 42), S. 190. 48 Hopt/Reuter (Fn. 46), S. 17.

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Von Skeptikern wird vor allem die Sperre des Zugriffs der Privatgläubiger des Stiftungsträgers auf das Stiftungsvermögen in Frage gestellt. Sie sei nur gerechtfertigt, wenn das Stiftungsvermögen verlässlich gesichertes Fremdvermögen und nicht verkapptes Eigenvermögen des Stiftungsträgers sei. Das aber erfordere zwingend staatliche Mitwirkung durch die Gewährung eigener Rechtspersönlichkeit und laufende Aufsicht49. Andere bezweifeln die unterstellte Intention, mit einer unselbständigen Stiftung tatsächlich „rechtsfähige Stiftung“ simulieren zu wollen50 oder halten Karsten Schmidt entgegen, das für das gesamte Tätigwerden oder Untätigbleiben des Stiftungsträgers notwendige Vertrauen könne nur zwischen den natürlichen Personen auf der Stifter- und Trägerseite, nicht jedoch zwischen einer »virtuellen Stiftung« und ihrem Träger bestehen51. Stephan Koos52 wiederum gehen Karsten Schmidts Thesen nicht weit genug. Er will in der unselbständigen Stiftung eine durch den Stifterwillen konstituierte echte „Teilpersonifikation“ sehen. Sie soll nicht nur virtueller Rechtsträger, sondern reales Zuordnungssubjekt für ein als subjektives Recht verstandenes wirtschaftliches Eigentum am Stiftungsvermögen sein. Zumindest vermögensrechtlich führt dies für Koos zu einer weitgehenden Gleichstellung der selbständigen und der unselbständigen Stiftung. Folglich will er die Errichtung einer unselbständigen Stiftung auch nicht mehr als das Ergebnis eines auf Einvernehmen zwischen Stifter und Stiftungsträger beruhenden (Vertrags-) Rechtsverhältnisses sehen. Sie ist für ihn vielmehr ein einseitiger Akt der Vermögensverfügung53, durch welchen eine „fiduziarische Person“ entsteht, die gegenüber dem Stiftungsträger als dem gewissermaßen „Außenrechtsberechtigten“ die Funktion des Treugebers von wirtschaftlichem aber gleichwohl absolut-dinglich wirkendem Eigentum haben soll54. Und um es gleichsam auf die Spitze zu treiben, soll all dieses nicht nur für die fiduziarische Fremdstiftung gelten, d. h. für eine „Teilpersonifikation“, die durch die Übertragung von Vermögen auf einen vom Stifter verschiedenen Träger entsteht. Nein: Durch einen nach Koos sowohl kausal als auch dinglich wirkenden Widmungsakt soll der Stifter sogar die Rechtsmacht erhalten, eine unselbständige Stiftung in seiner persönlichen Trägerschaft – also eine „Eigenstiftung“ – zu errichten55, und auf diese Weise in der Lage sein, ein körperschaftsähnliches Sondervermögen mit Vollstreckungs- und Insolvenzfestigkeit

__________ 49 Hopt/Reuter (Fn. 46), S. 17; vgl. zur Diskussion auch Reuter in MünchKomm.BGB (Fn. 30), Vor § 80 BGB Rz. 87 ff. 50 Herzog, Die unselbständige Stiftung des bürgerlichen Rechts, 2006, S. 66 ff. 51 So z. B. Hof in Münchener Vertragshandbuch, Bd. 1, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2005, S. 1291. 52 Fiduziarische Person und Widmung – Das stiftungsspezifische Rechtsgeschäft und die Personifikation treuhändisch geprägter Stiftungen, 2004. 53 Koos (Fn. 52), S. 287 ff. 54 Koos (Fn. 52), S. 319. 55 Koos (Fn. 52), S. 357.

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gegenüber seinen Privatgläubigern zu schaffen56. Man stelle sich also den Sammler vor, der seinen Meißener Tellern und Tassen eines Tages im stillen Kämmerlein zuruft: „Ich erkläre Euch zur Johann Friedrich Böttger57 Stiftung für Porzellanwesen und Alchemie und immunisiere Euch gegenüber den Mächten des Bösen“ – also Gläubigern und Konkursverwaltern. Hokus Pokus ist eine feine Sache – aber nur so lange man ihn nicht ernst nimmt. 3. Die Probe aufs Exempel: Hinein in den Simulator Die Akademiker also debattieren emsig, aber was sagt die Kautelarpraxis zu Karsten Schmidts Thesen? Ihre Antwort ist einfach: Sie gibt ihm Recht! Wo immer in Handbüchern, Formularkommentaren oder anderen Anleitungswerken Gestaltungsvorschläge für unselbständige Stiftungen gemacht werden, beruhen sie auf dem Bestreben, das Modell der rechtsfähigen Stiftung des Bür-

__________ 56 Koos (Fn. 52), S. 296, 357. Das Koos’sche Modell verdient keine Zustimmung (so bereits Rawert in Hager (Fn. 16), Entwicklungstendenzen im Stiftungsrecht, 2008, S. 18 ff., S. 26). Die Anerkennung wirtschaftlichen Eigentums als einer absolut-dinglichen Rechtsposition ist mit dem geltenden Sachenrecht nicht vereinbar (so zutreffend Heiner, ZSt 2004, 216). Weil sie im zwecksetzenden und damit kausalen stiftungsrechtlichen Widmungsakt das Vollrecht in zwei (angeblich) dinglich wirkende Rechtspositionen spaltet (vgl. dazu Koos [Fn. 52], S. 343 ff.), verstößt sie gegen das Abstraktionsprinzip. Überdies führt die Anerkennung einer auf wirtschaftliches Eigentum beschränkten Teilpersonifikation anders als bei der BGB-Außengesellschaft zu einer Relativität der Rechtsfähigkeit, welche den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs nicht gerecht wird. Gerade weil die „fiduziarische Person“ auch bei Koos ihre Rechte ganz offenbar nicht ohne einen (Außenrechts-)Träger geltend machen kann, ist sie ohne Systemwiderspruch allenfalls als simulierte (mit einem anderen Wort: virtuelle), nicht aber als real konstituierte Rechtsperson zu erklären. Dessen ungeachtet führt es jedenfalls in die Irre, eine „fiduziarische Eigenstiftung“ zuzulassen. Eine auf sachenrechtlicher Publizität aufbauende Privatrechtsordnung kann es im Interesse der Vermeidung von Haftungsexklaven nicht dulden, dass ein Stifter durch einseitige Widmung und ohne staatlichen Konstitutivakt (Anerkennung) ein gegenüber den Ansprüchen seiner Gläubiger immunes Gebilde errichtet und diesem beliebig sowie ohne für Dritte erkennbare Übertragungsakte Vermögen zuordnet. Das hat natürlich auch Koos erkannt. Und deshalb schlägt er zur Vermeidung von Rechtsmissbrauch durch Eigenstiftungen vor, de lege ferenda (sic!) ein Verzeichnis „fiduziarischer Personen“ einzuführen, in dem Haftungsbeschränkungen des Stiftungsträgers auf das Stiftungsvermögen zum Schutze des Rechtsverkehrs eingetragen werden sollen (Koos [Fn. 52], S. 357 f.). Was freilich von einem Modell zu halten ist, das für sich in Anspruch nimmt, auf dem Boden der lex lata entwickelt worden zu sein, sich in die Rechtsordnung aber erst dann einpasst, wenn diese um der Systemkonformität der Theorie Willen zuvor geändert wird, kann man nur mit einem Wort ausdrücken: Nichts! Siehe zur Kritik an Koos auch Reuter in MünchKomm.BGB (Fn. 30), Vor § 80 BGB Rz. 104 ff. 57 Die Experten streiten übrigens, ob tatsächlich Johann Friedrich Böttger (1682–1719) oder nicht vielmehr Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708) der Erfinder des Hartporzellans gewesen ist. Vermutlich stimmt – fast so wie in der Rechtswissenschaft üblich – die vermittelnde These: Sie waren es beide. Aber es spielt keine Rolle, denn das Koos’sche Modell funktioniert ohnehin nicht.

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gerlichen Rechts in mehr oder minder großer Intensität zu simulieren58, also schlicht und einfach so zu tun, »als ob«. a) Typisch ist zunächst, dass die Praxis bereits die Vereinbarung zwischen Stifter und Stiftungsträger in bewusster Anlehnung an die Terminologie der §§ 80, 81 BGB als „Stiftungsgeschäft“ bezeichnet, und das obschon sie – anders als beim simulierten Original – kein einseitiger Akt ist, sondern vertraglichen Charakter hat59. b) Die Rechtsverhältnisse zwischen Stifter und Stiftungsträger normiert das „Stiftungsgeschäft“ gewöhnlich durch den Hinweis auf eine „Satzung“, welche kraft ausdrücklicher Bezugnahme zum Gegenstand der Vereinbarung gemacht wird. Sie enthält zumeist jene Angaben, welche § 81 Abs. 1 Satz 2 BGB auch für die rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts verlangt, nämlich Festlegungen zu Namen, Sitz, Zweck, Vermögen und gegebenenfalls Gremien mit (virtueller) Organfunktion, also Vorständen, Stiftungsräten oder Kuratorien. Während die Erstellung eines solchen „virtuellen“ Statuts (Karsten Schmidt: „Eine Satzung in dem von uns eingelernten, nur auf juristische Personen passenden Sinne kann es nicht sein.“60) dabei zivilrechtlich nicht zwingend erforderlich ist – schließlich bedarf es keiner Stiftungsstruktur, um den Empfänger freigebiger Leistungen auf einen bestimmten Verwendungszweck festzulegen –, verlangt jedenfalls das Steuerrecht ein entsprechendes Vorgehen. Die unselbständige Stiftung gilt dort nämlich als Körperschaft (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG). Entscheidend für ihre Selbständigkeit ist neben dem endgültigen Vermögenstransfer auf ihren Träger, dass die Erträge des Stiftungsvermögens diesem selbst nicht zugerechnet werden können und dass dauerhafte Bindung an einen (steuerbegünstigten) Zweck besteht. Die Vertragsgestaltung muss also

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58 Siehe statt Vieler Hof in Münchener Vertragshandbuch (Fn. 51), S. 1286 ff.; Wachter, Stiftungen Zivil- und Steuerrecht in der Praxis, 2001, S. 195 ff.; Katschinski in Kersten/Bühling, Formularbuch und Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, 21. Aufl., Ergänzungsband 2004, S. 50 ff.; Rawert in Beck’sches Formularbuch für Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 9. Aufl. 2006, S. 58 ff. 59 Dieser Vertrag ist Auflagenschenkung. Das lässt sich zivilrechtlich nach der Entscheidung des BGH in Sachen „Stiftung Dresdner Frauenkirche“ (BGH, NJW 2004, 1382) kaum noch ernsthaft bestreiten (vgl. Reuter in MünchKomm.BGB [Fn. 30] Vor § 80 BGB Rn. 87 ff. m. w. N.; siehe auch Rawert, Non Profit Law Yearbook 2005, 165, 170 f. für den insoweit vergleichbaren Fall einer Spende für gemeinnützige Zwecke). Jedenfalls gilt es aber bei angestrebter steuerlicher Gemeinnützigkeit. Diese setzt nämlich einen endgültigen Vermögenstransfer ohne die für eine Treuhand typische Möglichkeit der Rückholung durch den „Treugeber“ voraus (vgl. § 61 AO; siehe auch Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 4 Rz. 137 ff.). Diese Feststellungen schließen es freilich nicht aus, die unselbständige Stiftung einem verbreiteten und offenbar beliebten Sprachgebrauch folgend auch weiterhin als „Treuhandstiftung“ zu bezeichnen. Schließlich ist der Begriff der „Treuhand“ keineswegs auf das mit ihm gewöhnlich assoziierte Auftragsrecht festgelegt. Funktional verstanden erfasst er vielmehr alle Sachverhalte, bei denen einer Person Rechte anvertraut sind, über die sie zwar selbst verfügen kann, aber nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse anderer Personen oder bestimmter Zwecke (Kötz, Trust und Treuhand, 1963, S. 1). Elemente einer so verstandenen Treuhand hat zweifellos auch die Schenkung unter Auflage. 60 Karsten Schmidt (Fn. 42), S. 184.

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Peter Rawert

gewährleisten, dass der Stiftungsträger sich nicht als Eigentümer des Stiftungsvermögens geriert, sondern dieses gesondert von seinem sonstigen Vermögen, nämlich als die Ausstattung eines virtuellen Rechtsträgers verwaltet. Überdies ist vor allem dann, wenn zwischen den Zwecken der unselbständigen Stiftung und denen ihres Trägers61 (Teil-)Identität besteht, sicher zu stellen, dass der Träger bei Tätigwerden für die unselbständige Stiftung über den Einsatz des Stiftungsvermögens nicht kraft eigener – freier – Dispositionsbefugnisse handelt, sondern ausschließlich nach den Vorgaben des Stifters62. Der Praxis gelingt all dies, indem sie „rechtsfähige Stiftung simuliert“. Ganz regelmäßig stattet sie auch die unselbständige Stiftung mit „Kuratorien“ oder „Stiftungsräten“ aus, die gegenüber dem Stiftungsträger als (virtuellem) Vorstand Mitwirkungs-, Weisungs- oder Kontrollrechte ausüben, z. B. bei der Haushalts- und Wirtschaftsführung, bei der Vergabe von Stiftungsmitteln, bei der Feststellung des Jahresabschlusses und anderem mehr. Diese Gremien handeln als Binnen-„Organe“, deren Kompetenzen sich in der Sache nicht von denen vergleichbarer Einrichtungen bei einer rechtsfähigen Stiftung unterscheiden63. Dass bei alledem Inhaber des Stiftungsvermögens und Zuordnungssubjekt aller Rechte und Pflichten der virtuellen Stiftung nach außen stets der Stiftungsträger bleibt, ist unbestritten. Die nichtrechtsfähige Stiftung hat keinen Vorstand i. S. d. §§ 86, 26 BGB. Aber gleichwohl treffen ihren Träger64 keine anderen Pflichten als diejenigen, welche auch die Geschäftsführer eines real existierenden Rechtsträgers namens Stiftung diesem und seinem Vermögen gegenüber haben – zumindest in dem Maße, in dem die Kautelarpraxis sie mit den Mitteln des Schuldrechts nachbildet. c) Dass sich als Nagelprobe auf die Simulationskünste der Vertragsgestaltung am Ende die Frage einer wirksamen Immunisierung des Stiftungsvermögens gegen stiftungsfremde Verbindlichkeiten stellt, ist selbstverständlich nicht überraschend65. Karsten Schmidts Gedanke, dem Stifter oder einem anderen aus der Verwendungsauflage des Stiftungsgeschäfts Vollzugsberechtigten (vgl. §§ 525 Abs. 2, 2194 Abs. 2 BGB) die Ansprüche auf Aussonderung (§ 47 InsO) oder Drittwiderspruch (§ 711 ZPO) im Interesse der virtuellen Stiftung und eines ihr dann zuzuweisenden neuen Stiftungsträgers zu gewähren, ist freilich

__________ 61 In der Praxis ist dieser meist selbst eine steuerbegünstigte Körperschaft – man denke vor allem an die vielen Bürgerstiftungen, die sich mittlerweile mit „Satelliten“ in der Form von unselbständigen Stiftungen umgeben. 62 Eingehend dazu Hüttemann/Herzog, DB 2004, 1001 ff. 63 Selbstverständlich können solchen Organen auch Außenbefugnisse erteilt werden. Dies kann allerdings nicht durch Organisationsakt geschehen, sondern bedarf einer (rechtsgeschäftlichen) Bevollmächtigung. Diese kann in der „Satzung“ verankert sein oder durch den Stiftungsträger erteilt werden. Es ist übrigens das Verdienst von Herzog (Fn. 50), S. 85 ff., nachgewiesen zu haben, dass die Mitwirkungsrechte solcher „virtueller“ Organe trotz ihrer letztlich vertraglichen und nicht organisationsrechtlichen Natur durch bloßes Zusammenwirken allein von Stifter und Stiftungsträger nicht beseitigt werden können. 64 Im Falle einer juristischen Person gegebenenfalls deren Organe. 65 Eine Theorie muss sich eben auch im Ernstfall bewähren. In der Praxis freilich scheinen die berühmten Haftungsfragen keine nennenswerte Rolle zu spielen.

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Karsten Schmidt und das Stiftungsrecht

schlüssig. Im Recht der Treuhandverträge entspricht die von ihm vorgeschlagene Haftungssonderung schon lange herrschender Meinung66. Und selbst wenn heute feststehen dürfte, dass zumindest die steuerbegünstigte unselbständige Stiftung vertragstypologisch als Schenkung zu qualifizieren ist, so kann aufgrund der Treuhandelemente der mit ihr verbundenen Auflage67 haftungsrechtlich nichts anderes gelten. Man kann also getrost die These wagen, dass Karsten Schmidt sich durchsetzen wird, wenn der erste Fall Not leidender Stiftungsträger vor die Gerichte kommt. Voraussetzung ist allerdings eine umsichtige Vertragsgestaltung, die für zweierlei gesorgt hat: Erstens, dass die Vermögenssphären von realem Stiftungsträger und virtueller Stiftung durch ein Transparenz schaffendes Regelwerk über die Vermögensverwaltung und den Nachweis entsprechender Praxis unterscheidbar geblieben sind, und zweitens, dass das Statut der virtuellen Stiftung für den Ernstfall einen Ersatzstiftungsträger vorsieht, der in der Krise einspringt. d) Indes: Wer mangels entsprechender Judikate einstweilen sicher gehen will, muss anders als im reinen Vertrauen auf Karsten Schmidt verfahren. Zum Beispiel so wie ein gedachter Wohltäter, der eine vermietete Immobilie zu guten Zwecken stiftet und aus Angst vor dem Vermögensverfall seines Stiftungsträgers mit diesem und einem „Ersatzmann“ die Vereinbarung trifft, dass das Haus im Falle von Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung oder der Insolvenz auf Letzteren zu übertragen sei. Zur Sicherung dieses Anspruchs ließe sich eine Auflassungsvormerkung (§ 883 BGB) in das Grundbuch eingetragen. Käme es also künftig zur befürchteten Krise, könnte der neue Träger die Übertragung des Vermögens auf sich verlangen. Bei Stiftung beweglicher Sachen wiederum käme für den Fall von (Gesamt-)Vollstreckungsmaßnahmen die aufschiebend bedingte Übereignung des „Stiftungsvermögens“ an den im „Stiftungsgeschäft“ oder in der „Satzung“ vorgesehenen Ersatzstiftungsträger in Betracht – mit den womöglich rettenden Wirkungen des § 161 Abs. 1 BGB68. All dies sind jedoch schwer vermittelbare, komplexe und zuweilen auch teure Konstruktion. Die Praxis scheint sie daher – und vielleicht auch wegen in Wahrheit fehlender Relevanz – bislang nicht standardmäßig zu verwenden69. In jedem Fall allerdings unterstreicht ihre Möglichkeit die Richtigkeit von Karsten Schmidts Überlegungen. Warum also kompliziert, wenn es auch einfacher ginge – mit der virtuellen Stiftung des realen Virtuosen.

__________ 66 Vgl. Reuter in MünchKomm.BGB (Fn. 30), Vor § 80 BGB Rn. 90; Rawert in Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1995, Vorbem zu §§ 80 ff. BGB Rn. 168 – jeweils m. w. N. 67 S. o. Fn. 59; a. A. Reuter in MünchKomm.BGB (Fn. 30) Vor § 80 BGB Rn. 98. 68 Hier stellt sich freilich im Falle etwaiger Surrogate bzw. bei Treuhandkonten und -depots mit wechselndem Bestand die (umstrittene) Frage nach der Anwendbarkeit des insolvenzrechtlichen Unmittelbarkeitsprinzips, vgl. dazu Bäuerle in Braun, InsO, 3. Aufl. 2007, § 47 InsO Rn. 65 ff. 69 Jedenfalls enthält keines der gängigen Formularbücher (s. o. Fn. 58) entsprechende Vorschläge.

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Golden Shares und andere Schutzmechanismen – Ergänzungen oder Alternativen zu staatlichen Eingriffsrechten? Inhaltsübersicht I. Problemaufriss II. Bestehende und geplante Kontrollmechanismen auf nationaler Ebene 1. Derzeitige staatliche Eingriffsrechte durch § 7 AWG und § 52 AWV 2. Regierungsentwurf 3. Diskussion der geplanten Gesetzesnovelle

III. Selbstschutz der Gesellschaften durch gesellschaftsrechtliche Gestaltungen 1. Golden Shares – Case Studies 2. Instrumentarien nach geltendem deutschen Recht a) AG, SE b) GmbH IV. Europarechtliche Beurteilung V. Schlussbetrachtung

I. Problemaufriss Nachdem seit langem das Wirken von Hedge-Fonds und Private Equity-Fonds und deren Investitionsstrategien rechtspolitisch kritisch beobachtet wurden, sind seit einiger Zeit insbesondere die so genannten Staatsfonds in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt1. Es handelt sich um Unternehmen, deren Eigentümer ein Staat ist. Vor allem Schwellenländer, wie China oder Russland sowie einige arabische Staaten, die in den letzten Jahren zu enormen Vermögen gekommen sind, bündeln ihre Ressourcen häufig in Staatsfonds. Ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren enorm vermehrt. 12 der 32 aktiven Fonds sind seit dem Jahr 2000 entstanden2. Die staatlichen Devisenreserven sind in einem raschen Wachstum begriffen, das von den Staatsfonds verwaltete Vermögen wird auf 3,2 Bio. US-Dollar3 geschätzt und könnte sich nach den Erwartungen der Experten bis 2015 auf ca. 12 Bio. US-Dollar4 vervierfachen. Die Staatsfonds verfolgen in der Regel das Ziel, zum Wohle des jeweiligen Staates Renditen zu erzielen und damit die Einkommenssituation ihrer Bürger dauerhaft abzusichern. Gleichwohl besteht die zunehmende Besorgnis, dass manche Staaten die Staatsfonds auch für machtpolitische Ziele einsetzen

__________ 1 Vgl. hierzu auch Bayer/Ohler, ZG 2008, 12 ff. 2 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007/08 – Das Erreichte nicht verspielen, Rz. 600 (Tabelle 55). 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Fn. 2), Rz. 602 (Schaubild 88). 4 Schürmann et al., Wirtschaftswoche vom 14. April 2008, S. 136, 140: „Heiße Luft“.

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könnten. Hierbei geht es um den Zugang zu deutschem Know-how und deutscher Technologie. Darüber hinausgehend könnte die Herrschaft über nationale Schlüsselindustrien, einschließlich solcher Unternehmen, die für die Verteidigung und Infrastruktur von entscheidender Bedeutung sind, unter den Einfluss von Staaten geraten, die nur schwach verankerte demokratische und marktwirtschaftliche Traditionen aufweisen. Hinzu kommt die oft beklagte Intransparenz der agierenden Fonds5. Dieser Befund hat die Bundesregierung auf den Plan gerufen. Am 5. November 2007 hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie einen Referentenentwurf vorgelegt6. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland will sich die Bundesregierung ein Kontroll- und Vetorecht ausbedingen, wenn ausländische Staatsfonds Beteiligungen von 25 % oder mehr an inländischen Unternehmen erwerben. Auf diese Weise werden Eingriffsmechanismen, die im Außenwirtschaftsrecht bereits vorgesehen sind, erweitert. Das Vorhaben der Bundesregierung ist nicht nur auf europarechtliche Bedenken gestoßen; es wird auch rechtspolitisch sehr kontrovers diskutiert7. So hat sich etwa auch die Mehrheit des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gegen die im Referentenentwurf vorgesehene Erweiterung des Außenwirtschaftsrechts ausgesprochen. Während die Kontrollausübung durch den Staat eingehend diskutiert wird, ist jedenfalls in Deutschland eine Diskussion über Mechanismen, die die betroffenen Industrieunternehmen selbst durch Gestaltung ihrer Verfassung einsetzen können, im Hintergrund geblieben. Von daher lohnt ein Blick darauf, welche gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten den Unternehmen zur Verfügung stehen, um das Eindringen unliebsamer Gesellschafter zu verhindern. Insbesondere der Blick auf die Instrumentarien, die von Gesellschaften in Nachbarländern eingesetzt werden, mögen der Veranschaulichung dienen und darüber hinaus möglicherweise die Frage auslösen, ob der von der Politik angestrebte Schutz deutscher Unternehmen nicht auch – oder vielleicht eher – durch eine Flexibilisierung des deutschen Gesellschaftsrechts erreicht werden könnte. Dabei sind nicht allein die Grenzen des deutschen Gesellschaftsrechts, sondern vor allem auch die europäischen Vorgaben der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit zu beachten, die in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur Renaissance des Schutzes heimischer Schlüsselindustrien stehen.

__________ 5 Vgl. dazu Schäfer/Voland, EWS 2008, 166. 6 Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung vom 5. November 2007, im Internet abrufbar unter folgender Adresse: http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Service/gesetze,did=2233 94.html. 7 Vgl. dazu nachfolgend unter II.3.

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Golden Shares und andere Schutzmechanismen

II. Bestehende und geplante Kontrollmechanismen auf nationaler Ebene 1. Derzeitige staatliche Eingriffsrechte durch § 7 AWG und § 52 AWV Der im Außenwirtschaftsgesetz (AWG) verankerte Grundsatz der Außenhandelsfreiheit (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AWG) wird durch § 7 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 5 AWG eingeschränkt, der die Bundesregierung ermächtigt, Rechtsgeschäfte über den Erwerb von Anteilen an gebietsansässigen Unternehmen zu beschränken, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten8. Nach dem gegenwärtigen Recht gilt dies indes nur im Hinblick auf Unternehmen, die Kriegswaffen, Rüstungsgüter oder Kryptosysteme, also Techniken zur Verschlüsselung der Datenübertragung, herstellen. Die Bundesregierung hat im Jahre 2004 auf der Grundlage von § 7 AWG die Vorschrift des § 52 AWV erlassen. Sie reagierte damit u. a. auf die Veräußerung des deutschen Triebwerkherstellers MTU Aero durch Daimler an den US Finanzinvestor KKR sowie auf die vorausgegangene Veräußerung der Howaldtswerke-Deutsche Werft AG, die U-Boote herstellt, an den US-Fonds One Equity Partner. Nach § 52 AWV muss ein gebietsfremdes Unternehmen dem Bundeswirtschaftsministerium den Erwerb einer Beteiligung an einem gebietsansässigen Unternehmen, das Kriegswaffen, Rüstungsgüter oder Kryptosysteme herstellt, melden, sofern der Stimmrechtsanteil nach dem Erwerb 25 % oder mehr beträgt. Das Bundeswirtschaftsministerium kann dann den Erwerb innerhalb eines Monats untersagen, soweit es erforderlich ist, um wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik zu gewährleisten (§ 52 Abs. 2 AWV). Nach § 31 Abs. 2 AWG ist der Beteiligungserwerb während der behördlichen Prüfungsphase schwebend unwirksam. Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass sich diese Regelung bei internationalen M&A-Transaktionen als ein scharfes Schwert erweisen kann, da sie sich als international zwingende Vorschrift gemäß Art. 34e EGBGB auch gegenüber der Anknüpfung an ein ausländisches Vertragsstatut durchsetzt. 2. Regierungsentwurf Dieses Instrumentarium soll durch den Regierungsentwurf vom 20. August 2008 deutlich verschärft werden9. Der erste Referentenentwurf10 zielte ursprünglich darauf ab, alle Beteiligungserwerbe, in Folge derer ein Gebietsfremder unmittelbar oder mittelbar einen Stimmrechtsanteil von 25 % oder mehr erreicht, dahingehend zu überprüfen, ob der Erwerb die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Während der

__________ 8 Vgl. zur aktuellen Rechtslage auch Bayer/Ohler, ZG 2008, 12, 15 f. 9 Regierungsentwurf v. 20. August 2008, im Internet abrufbar unter http://www. bmwi.de/BMWi/Navigation/Presse/pressemitteilungen,did=266018.html. 10 Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung vom 5. November 2007, im Internet abrufbar unter folgender Adresse: http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Service/gesetze,did =223394.html.; vgl. zum Entwurf auch Bayer/Ohler, ZG 2008, 12, 16.

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Drei-Monats-Frist soll der Erwerb schwebend unwirksam bleiben. Im Lichte von Einwendungen der Europäischen Kommission soll der neue Eingriffstatbestand indessen nunmehr nicht für Investoren gelten, die ihren Sitz innerhalb der europäischen Gemeinschaft haben11. Die Entscheidungszuständigkeit soll nun auf Vorschlag des Bundeswirtschaftsministeriums bei der Bundesregierung liegen12. 3. Diskussion der geplanten Gesetzesnovelle Obwohl die geplante Novelle durchaus die Tendenz anderer Staaten widerspiegelt (etwa der USA13, Spaniens14 oder Frankreichs15, die ebenfalls Maßnahmen zum Schutz von unliebsamen Investoren kennen) und obwohl die politischen Gefahren, die von den Investments durch Staatsfonds ausgehen können, vielfach nicht in Abrede gestellt werden, ist der Entwurf sowohl unter politischen als auch unter rechtlichen Gesichtspunkten teils sehr kritisch bewertet worden. So wird eingewandt, das Vorhaben beschreite einen schmalen Pfad zwischen dem notwendigen Schutz deutscher Wirtschaftsinteressen einerseits und einer Gefährdung der traditionellen Offenheit Deutschlands im Handelsverkehr mit anderen Staaten andererseits. Er berge die Gefahren des Missbrauchs, der Abschreckung ausländischen Kapitals und des Einsatzes von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber deutschen Investitionen16. Naturgemäß wird in diesem Zusammenhang auch auf langjährige Beteiligungen von Staatsfonds verwiesen, die einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der Wirtschaft leisten können17. Schließlich wird darauf hingewiesen, dass zur Vermeidung der Zersplitterung des Binnenmarktes eine Harmonisierung auf der Ebene von EU, OECD und IMF sinnvoller sein könne als eine rein deutsche Regelung18. In rechtlicher Hinsicht wird neben weiteren Einwendungen das Bedenken erhoben, dass die Novelle gegen die über Art. 56 Abs. 1 EG gewährleistete Kapitalverkehrsfreiheit verstoße, auf die sich im Grundsatz auch Gesellschaften mit Sitz außerhalb der Gemeinschaft berufen können. Wäre hingegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EG thematisch einschlägig, wäre die geplante Maßnahme Deutschlands europarechtskonform: Da die Niederlassungsfreiheit nur innerhalb der EG gilt, können sich Unternehmen aus Drittstaaten nicht auf Art. 43 EG berufen.

__________ 11 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Januar 2008, S. 11: „Investoren aus der EU bleiben willkommen – Bundesregierung lockert Gesetzesentwurf zum Schutz vor unerwünschten Firmenaufkäufern“. 12 Vgl. Marschall, Financial Times Deutschland vom 6. Mai 2008, S. 12: „Minister Scholz beharrt auf Mitsprache bei Staatsfonds“. 13 Section 721 of Pub. L. 100-418, 102 Stat. 1107 („Exon-Florio-Act“). Siehe auch die Regelungen im „Foreign Investment and National Security Act“. 14 Articulo 7 del Ley 19/2003, de 4 de Julio 2003, BOE num. 160, R. 26166. 15 Art. R. 153 du Code Monétaire et Financier, J.O. 304 du 31 décembre 2005. 16 Schäfer/Voland, EWS 2008, 166, 172; kritisch auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Fn. 2), Rz. 6, 7, 9 ff. 17 Schürmann et al., Wirtschaftswoche vom 14. April 2008, S. 136, 137: „Heiße Luft“. 18 Schäfer/Voland, EWS 2008, 166, 172.

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Mithin kommt es auf die Abgrenzung zwischen Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit an19. Die Niederlassungsfreiheit soll nach der neueren Rechtsprechung des EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit verdrängen, soweit es um die Begründung von Kontrollbeteiligungen geht20. So wird – etwa von Roth – die Auffassung vertreten, in dem Gesetzesentwurf, der bekanntlich auf eine Beteiligung von 25 % und mehr abstellt, gehe es um einen derartigen Kontrollerwerb21. Dem wird entgegengehalten, dass laut EuGH eine Kontrollbeteiligung erst dann vorliege, wenn sie ihrem Inhaber ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidung der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeit zu bestimmen. Dabei komme es nicht auf den konkreten Fall an, sondern darauf, ob die Regelung abstrakt so konzipiert sei, dass sie nur einen Kontrollerwerb im Auge habe22. Daraus wird teilweise, etwa von Weller, abgeleitet, dass nur solche Bestimmungen der Kapitalverkehrsfreiheit entzogen seien, die auf einen Beteiligungserwerb von 50 % und mehr abzielen. Weller mag einzuräumen sein, dass es angesichts der Rechtsprechung des EuGH nicht gesichert ist, ob die 25 %-Schwelle ausreicht, um aus dem Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit heraus zu fallen. Immerhin gilt die 25 %-Beteiligung nach deutschem Recht vielfach als die Schwelle zur unternehmerischen Einflussmöglichkeit. Dieser Ansatz mag auch rechtspolitisch wünschenswert sein, da die Gewährung des Drittstaatenschutzes im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit in Bezug auf den hier diskutierten Regelungsgegenstand überzogen erscheint. Selbst wenn man jedoch nicht folgen wollte, so müssten jedenfalls Beschränkungen, die auf einen Beteiligungserwerb von 30 % und mehr abzielen, als unbedenklich anzusehen sein. Wie gerade die nationalen Rechtsakte zur Umsetzung der europäischen Übernahmerichtlinie zeigen, besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass zumindest bei 30 % eine abstrakte Schwelle, bei der ein entsprechender Einfluss auf das Unternehmen und damit die Ausübung von Kontrolle zu erwarten ist. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass das Konzept eines staatlichen Schutzes von Unternehmen im Interesse der Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland angesichts der europarechtlichen Vorgaben jedenfalls

__________ 19 Zuletzt EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-463/04, ZIP 2008, 21, 22 f., Rz. 20 f., 29 – Comune di Milano; ferner Bayer/Ohler, ZG 2008, 12, 21 f.; Kainer, ZHR 168 (2004), 542, 553 ff.; Müller-Graff in Streinz, EGV, 2003, Art. 43 EGV Rz. 15; Weller in Gebauer/ Wiedemann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 18, Rz. 16a. 20 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04, Slg. 2006, I-7995, Rz. 31 ff. – Cadbury Schweppes; dazu EWiR 2006, 679 (Jungblut); EuGH v. 10.5.2007 – Rs. C-492/04, Slg. 2007, I-3775, Rz. 19 f. – Lasertec, dazu EWiR 2007, 571 (Freitag). 21 W.-H. Roth, zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2008, S. 25: „Hürden für Staatsfonds zulässig – Europarecht schützt nur Investoren aus Mitgliedstaaten“. 22 EuGH v. 24.5.2007 – Rs. C 157/05, Slg. 2007, I-4051, Rz. 22 – Holböck: „Für die Beantwortung der Frage, ob eine nationale Regelung unter die eine oder die andere Verkehrsfreiheit fällt, ist nach gefestigter Rechtsprechung auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung abzustellen.“; Köhler/Tippelhofer, IStR 2007, 645, 646.

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nicht als „Selbstläufer“ umzusetzen ist. Auch von daher lohnt es, einen Blick auf die Möglichkeiten zu werfen, die Gesellschaften und Gesellschafter nutzen können, um sich im eigenen Interesse vor dem Eindringen unliebsamer Gesellschafter zu schützen.

III. Selbstschutz der Gesellschaften durch gesellschaftsrechtliche Gestaltungen 1. Golden Shares – Case Studies Von der gesetzlich verordneten Eingriffsmöglichkeit von Staaten beim Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen zu unterscheiden sind statutarische Bestimmungen, die entweder das Eindringen unliebsamer Gesellschafter verhindern oder bestimmten Gesellschaftern eine Rechtsposition im Unternehmen sichern, die einen Kontrollerwerb erschweren oder gar unmöglich machen. Ehe die Möglichkeiten, die das deutsche Recht dazu bietet, näher erörtert werden, soll ein Blick auf die Praxis außerhalb Deutschlands geworfen werden. Dabei werden die eingesetzten Instrumentarien am Beispiel von Unternehmen, die in besonders sensiblen Branchen – wie etwa der Verteidigungsindustrie – tätig sind, besonders deutlich. Oft werden die entsprechenden Instrumentarien – verallgemeinernd – unter dem nicht scharf abgegrenzten Begriff der „Golden Shares“ erfasst. Dies gilt jedenfalls für solche Bestimmungen, die die staatlichen Einflussrechte an bestimmten Gesellschaften erhöhen oder zementieren. Demgegenüber wirken andere Bestimmungen eher allgemein regulierend, wie Transfer Restrictions, die funktional weitgehend unseren Vinkulierungsbestimmungen entsprechen oder bestimmte Mechanismen, die der Abwehr eines Kontrollerwerbs dienen. So enthält z. B. die Satzung der börsennotierten britischen Gesellschaft British Aerospace eine Bestimmung, die die maximal zulässige Beteiligung ausländischer Aktionäre auf 15 % des Kapitals beschränkt. Vor dem Anteilserwerb müssen Erwerber Auskunft über ihren bisherigen Aktienbesitz geben; über Aktionäre, die unter ausländischem Einfluss stehen, wird ein separates Register geführt. Ein Chairman mit „Executive“-Funktionen muss britischer Staatsbürger sein; auch die übrigen Direktoren müssen überwiegend britische Staatsbürger sein. Der Board ist nur beschlussfähig ist, wenn die Mehrheit der anwesenden Board-Mitglieder britisch ist. Auch in den nachgeordneten Organen, auf die Führungsaufgaben übertragen werden, müssen britische Staatsbürger in der Mehrheit sein. Darüber hinaus sind dem britischen Staat als Aktionär Sonderrechte eingeräumt, durch die eine Veränderung der Satzung in den angesprochenen Fragen seiner Zustimmung unterworfen wird. Die Bestimmungen von Rolls Royce weisen Parallelen zu den Regelungen bei British Aerospace auf. Auch hier wird die Zulässigkeit einer Beteiligung ausländischer Aktionäre auf 15 % beschränkt; die Kontrolle wird durch Informationspflichten und ein separates Register abgesichert. Auch bei Rolls Royce können nur britische Staatsbürger zum Chairman oder zum CEO ernannt wer1346

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den; Ausländer können nur „non executive“-Funktionen übernehmen, wobei die Hälfte der Direktoren britische Staatsbürger sein müssen. Die Regelungen über die Beschlussfähigkeit der Direktoren entsprechen denjenigen bei British Aerospace. Auch der Schutz dieser Bestimmungen dadurch, dass ihre Änderung von der Zustimmung des Golden Shareholders abhängig gemacht wird, entspricht den Bestimmungen bei British Aerospace. Ähnliche Bestimmungen findet man auch in Frankreich, wenn es um Gesellschaften geht, die – zumindest auch – Verteidigungsaktivitäten zum Gegenstand haben. So hält der französische Staat „Golden Shares“ an Thales; jeder Erwerb von mehr als 10 % an dieser Gesellschaft bedarf, gleichgültig, ob es sich um In- oder Ausländer handelt, der Zustimmung des französischen Staates. Der französische Staat hat einen Sitz im Board ohne Stimmrecht, kann aber der Veräußerung der Mehrheit an bestimmten Thales-Tochtergesellschaften widersprechen. In gleicher Weise sind ihm Einflussrechte bei der Veräußerung strategischer oder so genannter „sensitive assets“ eingeräumt. Ferner ist gesichert, dass die öffentliche Hand 5 der 16 Board-Mitglieder benennt. Der Blick nach Italien bestätigt das Bild weitgehender Schutzmechanismen in der Verfassung von Gesellschaften, die sich auch mit Verteidigungsaktivitäten befassen. So darf nach der Satzung von Finmecchanica außer dem italienischen Staat kein Aktionär ohne dessen Zustimmung mehr als 3 % der Beteiligung erwerben, während die Beteiligung des italienischen Staates nicht unter 30 % fallen soll. Dem italienischen Staat sind ferner Vetorechte eingeräumt, die sich – ganz ähnlich wie bei den französischen Gesellschaften – auf den Verkauf bestimmter Geschäftsaktivitäten, der Verlagerung des Geschäftssitzes oder Veränderung des Unternehmensgegenstandes beziehen. Auch bei Finmecchanica stehen dem Staat Rechte zu, Mitglieder in den Board of Directors zu delegieren, die zwar keine Rechte bei Managemententscheidungen haben, aber Mitspracherechte bei Angelegenheiten, die das Interesse des italienischen Staates berühren. Diese Beispiele mögen genügen, um zumindest transparent zu machen, dass es in der EU außerhalb Deutschlands durchaus eine ganze Reihe von Gesellschaften gibt, die den Schutz vor dem Eindringen unliebsamer Gesellschafter, insbesondere solcher aus dem Ausland, nicht oder nicht ausschließlich durch staatliche Eingriffsermächtigungen verwirklichen, sondern unter Nutzung der Möglichkeiten des jeweiligen nationalen Gesellschaftsrechts entsprechende Schutzmechanismen in ihren Satzungen vorsehen. Es ist einzuräumen, dass die obige Analyse einiger weniger Gesellschaften rein beispielhaft ist und keinerlei statistische Absicherung hat. Es ist auch einzuräumen, dass es sich um Gesellschaften handelt, bei denen entsprechende Schutzinstrumentarien besonders nahe liegen, weil sie zumindest auch oder zumeist überwiegend im Verteidigungssektor tätig sind. Damit ist für sie selbst dann, wenn sie einer Kontrolle nach den Bestimmungen der Kapitalverkehrsfreiheit unterliegen, im Hinblick auf ihren Unternehmensgegenstand 1347

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eine Rechtfertigung eröffnet23. Andererseits ist auch zu konstatieren, dass die Erfahrung belegt, dass sich derartige Beschränkungen als kapitalmarktverträglich herausgestellt haben, den Handel an der Börse nicht ausschließen und – so die Einschätzung von Analysten – kaum zu einem Wertabschlag führen, da der Markt bei derartigen Gesellschaften entsprechende Schutzinstrumentarien erwartet. Der Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus auf andere europäische Staaten zeigt mithin, dass die staatliche Kontrolle über den Gesellschafterkreis an Schlüsselindustrien über gesetzliche Eingriffsermächtigungen und Verordnungen nur einer der denkbaren Wege ist, Gesellschaften zu schützen. Ein anderer liegt im Selbstschutz der Gesellschaften durch Einsatz des gesellschaftsrechtlichen Instrumentariums. Dies legt es nahe, zu prüfen, welche Instrumentarien nach deutschem Recht zur Verfügung stehen und diese an den europäischen Vorgaben aus der Kapitalverkehrsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit zu messen. 2. Instrumentarien nach geltendem deutschen Recht Für die Frage, welche Schutzmechanismen dem deutschen Recht zur Verfügung stehen, ist zwischen den einzelnen Gesellschaftsformen zu differenzieren. Die größte Relevanz hat die praktische Frage naturgemäß für börsennotierte Gesellschaften, so dass diese nachfolgend im Mittelpunkt der Betrachtung stehen sollen. Die nachfolgenden Überlegungen fokussieren sich daher auf die AG; sie gelten für die SE cum grano salis entsprechend. a) AG, SE aa) Es besteht Einigkeit, dass klassische Golden Shares, die spezielle Sonderrechte (wie etwa ein Recht zur Entscheidung über die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises oder Entsendungsrechte zum Vorstand oder Mitspracherechte im Vorstand) zum Gegenstand haben, mit den Grundprinzipien des deutschen Aktienrechts nicht vereinbar sind. Allenfalls in der SE mit monistischem System wären unmittelbare Entsendungsrechte denkbar. Gleichwohl lassen sich auch in deutschen Aktiengesellschaften durch konsortialvertrag-

__________ 23 Rechtfertigen lassen sich Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs (1) mit den in Art. 58 EG genannten Ausnahmetatbeständen, insbesondere Art. 58 Abs. 1 lit. b) EG aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit; (2) mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten (EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99, Slg. 2002, I-4781, Rz. 45 – Kommission/Frankreich); (3) mit den in Art. 296 Abs. 1 lit. b) EG aufgeführten Gründen, wonach jeder Mitgliedstaat die Maßnahmen ergreifen kann, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen. Die drei vorgenannten Rechtfertigungsgründe kommen prinzipiell in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat eine staatliche Beschränkung des freien Kapitalverkehrs aus nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsinteressen vornimmt.

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liche Regelung gewisse Mechanismen entwickeln, die allerdings voraussetzen, dass die in dem Konsortium zusammengeschlossenen Aktionäre über die Hauptversammlungsmehrheit verfügen. bb) Blickt man jedoch zunächst auf die statutarischen Möglichkeiten, bietet sich insbesondere die Statuierung von Vinkulierungsbestimmungen an, wie sie in Kombination mit der Namensaktie nach § 68 Abs. 2 AktG möglich sind. Diese müssen bei der Gründung der AG in der Satzung verankert werden24. Ihre spätere Einführung wird regelmäßig daran scheitern, dass sie der Zustimmung aller Aktionäre bedarf25. Nach § 68 Abs. 2 AktG kann die Gesellschaft die Übertragung von Aktien bekanntlich an ihre Zustimmung binden, die vom Vorstand zu erteilen ist. Die Satzung kann anordnen, dass die Entscheidung durch die Hauptversammlung oder durch den Aufsichtsrat getroffen wird. Sie kann auch die Gründe bestimmen, aus denen die Zustimmung verweigert werden darf. Tatsächlich sind vinkulierte Namensaktien in der deutschen Aktienrechtspraxis geläufig, wenn auch nicht weit verbreitet. Sie sind ganz üblich bei Versicherungsunternehmen oder auch bei Tendenzbetrieben, wie etwa der Springer AG. Auch die Lufthansa AG verfügt über vinkulierte Namensaktien, auch wenn es sich hierbei um einen Sonderfall handelt, der auf einer gesetzlich angeordneten Grundlage beruht26. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass börsennotierte Aktien zwar im Grundsatz frei handelbar sein müssen (§ 5 Abs. 1 BörsZulV). Die Börsen können aber eine Ausnahme gewähren, wenn das gesellschaftsrechtliche Zustimmungserfordernis des § 68 Abs. 2 AktG nicht zu einer Störung des Börsenhandels führt (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 BösZulV)27. In den genannten Fällen wurden entsprechende Ausnahmen gewährt, wobei sich die Gesellschaften in aller Regel verpflichtet haben, die Zustimmung zur Übertragung nur bei Geschäften zu verweigern, die eine gewisse Größenordnung überschreiten und daher nicht solche sind, wie sie im täglichen Börsenhandel vorkommen. Die ausländischen Börsen sind in diesem Punkt teilweise restriktiver; deswegen ist die oben genannte Bestimmung in England und in Frankreich meist so ausgestaltet, dass sie den Erwerb über die Börse nicht unwirksam macht, aber eine – ggf. mit dem sofortigen Fortfall des Stimmrechtes sanktionierte – Veräußerungspflicht des Erwerbers bei Versagung der nachträglichen Genehmigung anordnet. Das deutsche Recht ermöglicht es mithin, über Vinkulierungsbestimmungen eine Kontrolle über den Kreis der Gesellschafter auszuüben. Letztlich kann dies indessen nur verlässlich gelingen, wenn die Aktionäre, die die Hauptversammlungsmehrheit innehaben oder die – freilich ohne Weisungsbindung – im Aufsichtsrat mehrheitlich repräsentiert sind, dieselben Ziele verfolgen. Unter solchen Voraussetzungen ließen sich auch entsprechende Richtlinien fest-

__________ 24 25 26 27

Bayer in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2003, § 68 AktG Rn. 46. Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 68 AktG Rn. 13. Luftverkehrsnachweissicherungsgesetz (LuftNaSiG) v. 5.6.2006, BGBl. I, S. 1322. Vgl. hierzu Gebhardt in Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl. 2006, § 5 BörsZulV Rz. 11 ff.

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legen, in welchen Fällen unter welcher Beteiligungshöhe die Zustimmung zum Eindringen nicht willkommener Gesellschafter zu versagen ist. cc) Schwächer ist die Situation im deutschen Recht hingegen insoweit, als solche Einflussrechte nicht einem einzelnen Aktionär zugewiesen werden können. Dies wäre nur möglich, wenn sich die die Mehrheit haltenden Aktionäre in einem Konsortialvertrag dem einzelnen – etwa dem an der Gesellschaft beteiligten Staat oder Staatsunternehmen gegenüber – entsprechend verpflichten würden. Denkbar ist es demgegenüber, Entsendungsrechte zum Aufsichtsrat vorzusehen. Diese können allerdings durch § 101 Abs. 2 Satz 4 AktG auf höchstens ein Drittel der sich aus dem Gesetz oder der Satzung ergebenden Zahl der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre begrenzt werden. Damit lässt sich im Aufsichtsrat zwar ein gewisser Einfluss sichern. Dieser reicht jedoch aufgrund der nach deutschem Aktienrecht grundsätzlich geltenden einfachen Mehrheit für Aufsichtsratsbeschlüsse, die sich nicht ohne weiteres qualifizieren lässt28, nicht aus, um Vetopositionen aufzubauen, soweit die Entscheidungsbefugnis im Rahmen von Vinkulierungsklauseln auf den Aufsichtsrat verlagert wird. In diesem Punkt bietet die SE indessen Vorteile. Sie erlaubt flexiblere Mehrheitsregelungen im Aufsichtsrat29. In der SE ist es möglich, durch die Kombination von Entsendungsrechten und Beschlussmehrheitsregelungen im Aufsichtsrat bestimmten Gesellschaftern der SE eine Vetoposition bei der Aufnahme neuer Gesellschafter einzuräumen; eine echte Vetoposition ist es deswegen nicht, weil die von ihr entsendeten Aufsichtsratsmitglieder natürlich nicht weisungsgebunden sind. In der Aktiengesellschaft verbleibt demgegenüber nur die Möglichkeit, auf konsortialvertragliche Regelungen zurückzugreifen. Diese funktionieren nur bei dauerhaften Beteiligungsverhältnissen und wenn sich die Mehrheit zudem über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats einigt. Ebenso wie bei der SE verbleibt natürlich der Umstand, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats den Aktionären gegenüber nicht weisungsgebunden sind. Will man sich indessen vor den regelmäßig wenig wahrscheinlichen Fall des Auseinanderlaufens der Einschätzungen des von den Mehrheitsaktionären gewählten Aufsichtsrats und der Mehrheitsaktionäre schützen, muss die Entscheidungsbefugnis der Hauptversammlung vorgesehen werden, deren Handhabung – soweit die sich zusammenschließenden Gesellschafter über die Mehrheit in der Hauptversammlung verfügen – durch entsprechende konsortialvertragliche Regelungen näher festgelegt werden kann. dd) Die Zuweisung verschiedener Vorstandsressorts zugunsten bestimmter Aktionärsvertreter oder ein Mitwirkungserfordernis bei Vorstandsentscheidungen sind in der AG, wie erwähnt, nicht ohne weiteres zu etablieren. Hier können allenfalls weitere Absprachen helfen, auf den Aufsichtsrat im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten – letztlich also nur durch Bitten und nicht durch Weisung – einzuwirken, bei der Besetzung von Vorstandsressorts bestimmte Regeln zu beachten und für gewisse Entscheidungen ein Einstimmigkeitserfordernis im Vorstand anzuordnen, das dem einem bestimmten Aktio-

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28 Vgl. Habersack in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 108 AktG Rz. 23 f. 29 Vgl. Reichert/Brandes in MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2006, Art. 50 SE-VO Rz. 22 ff.

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när nahe stehenden Vorstandsmitglied der Sache nach eine Vetoposition einräumt. Darüber hinaus können an die Qualifikation von Aufsichtsräten und Vorstandsmitgliedern bestimmte Anforderungen gestellt werden30; dies würde es jedenfalls nach deutschem Aktienrecht auch nicht verbieten, bestimmte Anforderungen an die Staatsangehörigkeit zu stellen, wie dies etwa in den Satzungen der erwähnten Gesellschaften in Frankreich, Italien und England geschehen ist. Ein weiterer Schutzmechanismus, der bei den Gestaltungen der erwähnten Gesellschaften im europäischen Ausland auffällt, ist die Mitsprache bei der Veräußerung der Assets oder von Beteiligungsunternehmen. Auch insoweit lässt sich der Schutz am ehesten über Zustimmungserfordernisse des Aufsichtsrats realisieren, wenn dem Aktionär, dessen Einfluss gesichert werden soll, entsprechende Entsendungsrechte zum Aufsichtsrat eingeräumt werden. Auch hier bietet die SE, die Einstimmigkeitserfordernisse erlaubt, erhebliche Vorteile. Bei mitbestimmten Gesellschaften geht dies mit dem Nachteil einher, sich gleichzeitig auch an die Zustimmung der Arbeitnehmervertreter zu binden. Immerhin würde allerdings das System der auszuhandelnden und damit den Erfordernissen anpassbaren Mitbestimmungen ggf. bei der SE auch hier Lösungsmöglichkeiten erlauben31. All dies zeigt, dass ggf. auch über eine Liberalisierung der Gestaltungsmöglichkeiten bei der Aktiengesellschaft nachgedacht werden sollte. Dies gilt auch im Hinblick auf Instrumentarien, die früher zur Verfügung gestanden hätten und mittlerweile abgeschafft sind. So könnte gerade die Etablierung eines Höchststimmrechtes als milderes Mittel gegenüber Vinkulierungsklauseln in Betracht kommen, wenn es darum geht, den Einfluss bestimmter Gesellschafter auf die Gesellschaft zu beschränken. Bekanntlich waren Höchststimmrechtsaktien in der Vergangenheit ein wirksames und häufig gewähltes Mittel zur präventiven Abwehr feindlicher Übernahmen. Etliche Unternehmen, darunter BASF, Mannesmann und die Deutsche Bank, führten Höchststimmrechte als Reaktion auf die gesteigerte Beteiligung arabischer Investoren während der Ölkrise im Jahre 1973 ein32. Mit Einführung des KonTraG33 wurde börsennotierten Unternehmen die Möglichkeit der Einführung von Höchststimmrechten indessen genommen34. Seither steht diese Maßnahme nur noch nicht börsennotierten Unternehmen offen. Auch der Weg über Mehrstimmrechtsaktien, die in der Vergangenheit häufig im Bereich der Energiewirtschaft anzutreffen waren35, führt nicht mehr weiter. Seit Inkrafttreten des KonTraG ist die Neuschaffung von Mehrstimmrechtsaktien nicht mehr möglich, die zuvor in Fällen zulässig war, in denen aufgrund

__________ 30 Vgl. Hüffer (Fn. 25), § 76 AktG Rz. 26; Spindler in MünchKomm.AktG (Fn. 28), § 76 AktG Rz. 108. 31 Vgl. zum Verhandlungsverfahren Schwarz, SE-VO, 2006, Einleitung Rz. 244 ff.; Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767 ff. 32 Bayer, ZGR 2002, 588, 589. 33 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.4.1998, BGBl. I, S. 786. 34 Heider in MünchKomm.AktG (Fn. 28), § 12 AktG Rz. 11; Schanz, NZG 2000, 337, 342. 35 Bayer, ZGR 2002, 588, 590.

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des „Überwiegens der gesamtöffentlichen Belange“ eine ministerielle Ausnahmegenehmigung erteilt worden war. Neben anderen Motiven sollte diese Änderung unter anderem den Bedenken der EU-Kommission Rechnung tragen, die den Grundsatz „one share, one vote“ favorisiert. ee) Neben Vinkulierungen, Stimmbindungen und Entsendungsrechten mit entsprechender Ausgestaltung der Mehrheitserfordernisse bieten sich in Kapitalgesellschaften noch andere Instrumentarien an, um zumindest den Kontrollerwerb Dritter zu erschweren. Dazu zählen etwa die Schaffung genehmigten Kapitals und die Gestattung zum Ausschluss des Bezugsrechts. Auch Change of Control-Klauseln, wechselseitige Beteiligungen, Zukauf von Unternehmensbeteiligungen zur Schaffung kartellrechtlicher Probleme, Veräußerung von Vermögen oder die Gewährung von Call Optionen auf strategisch wichtige Beteiligungen zu Gunsten Dritter gehören zu dem Arsenal der Erschwerung des Erwerbs – insbesondere des Kontrollerwerbs – durch Dritte. Diese können und sollen im vorliegenden Rahmen nicht im Einzelnen dargestellt werden. Ihr Schutzzweck zielt in der Regel auch eher auf einen Schutz vor einer feindlichen Übernahme ab und ist nicht in erster Linie darauf gerichtet, bereits den Aufbau einer nicht unwesentlichen Beteiligung zu verhindern. b) GmbH Das Arsenal an Abwehrmechanismen wächst erheblich, wenn man den Blick auf nicht kapitalmarktfähige Gesellschaftsformen erweitert und die GmbH in die Betrachtung mit einbezieht. Der dispositive Charakter einer GmbH erlaubt im Grundsatz alle Gestaltungen, wie sie in den erwähnten ausländischen Gesellschaften vorexerziert werden: Hier lassen sich „Golden Shares“ – besser „Goldene Geschäftsanteile“ – verwirklichen, deren Inhaber allein über die Aufnahme von Gesellschaftern entscheiden. Es lassen sich Stimmbeschränkungen oder Höchststimmrechte etablieren. Ferner lassen sich auch beliebige Sonderrechte auf Entsendung von Geschäftsführern etablieren, denen Vetorechte innerhalb der Geschäftsführung eingeräumt werden. Auch lassen sich einzelne Gesellschafterbeschlüsse von der Zustimmung bestimmter Gesellschafter abhängig machen. Beschränkungen ergeben sich hier allein aus der gesellschafterlichen Treuepflicht und, soweit es sich um paritätisch mitbestimmte Gesellschaften handelt, aus dem zwingenden Erfordernis eines Aufsichtsrates und dessen Kompetenzen, zu denen auch die Personalkompetenz gehört. Die Flexibilität der GmbH kann auch bei der Strukturierung am Kapitalmarkt orientierter Gesellschaften von Vorteil sein, da sich Einflussrechte, die sich auf der Ebene der börsennotierten Gesellschaften nicht etablieren lassen, ggf. auf der Ebene der Tochtergesellschaften verwirklichen lassen, soweit die gebotenen Transparenzerfordernisse erfüllt werden. Im Extremfall hat die börsennotierte AG lediglich Holding-Funktion, während in den als GmbH verfassten operativen Gesellschaften „Goldene Beteiligungen“ eingesetzt werden, die einer oder mehreren Gesellschaften erlauben, den entscheidenden Einfluss auf deren Gesellschafter zu nehmen. Durch unmittelbare Minderheitsbeteiligungen an den Tochtergesellschaften kann erreicht werden, dass die Sonder1352

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rechte – wie Rechte auf Bestellung der Geschäftsführer, Vetorechte, Optionen auf den Erwerb von Assets – nicht ohne deren Zustimmung aufgehoben werden dürfen. Von daher erlaubt das Gesellschaftsrecht bei einer entsprechenden Konzernverfassung – sieht man es konzernweit – letztlich doch die Etablierung von Schutzmechanismen, mit denen sich ähnliche Ergebnisse erzielen lassen, wie sie in den erwähnten Beispielen in Großbritannien, Italien und Frankreich verwirklicht wurden. Sie setzen jedenfalls zum Teil nicht bei der konzernleitenden Holding, sondern bei den als GmbH oder Personengesellschaften verfassten Untergesellschaften an.

IV. Europarechtliche Beurteilung Der Blick auf die Möglichkeiten des Selbstschutzes durch die statutarische und konsortialvertragliche Verfassung von Unternehmungen hat gezeigt, dass das deutsche Recht zwar weniger flexibel ist als andere – indessen nur exemplarisch beleuchtete – Rechtsordnungen in Europa. Immerhin hält es jedoch gewisse Instrumentarien bereit, die indessen – cum grano salis – fast alle Gestaltungen ermöglichen, wenn die Sonderrechte nicht notwendigerweise auf der Ebene der börsennotierten Gesellschaft, sondern über entsprechende Minderheitsbeteiligungen an deren operativen Töchtern etabliert werden. Von daher rückt die Frage in den Vordergrund, ob den zu erwägenden Gestaltungen durch die Kapitalverkehrsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit Grenzen gesetzt werden. Dies erscheint bereits deshalb zweifelhaft, weil die Grundfreiheiten des EGVertrages ihrer Funktion nach nur Schutz gegenüber mitgliedstaatlichen Maßnahmen, nicht aber gegenüber Maßnahmen Privater bieten sollen36. Das Handeln Privater soll hingegen durch das EG-Wettbewerbsrecht (Art. 81, 82 EG) reglementiert werden. Während in der Rechtsprechung des EuGH für die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EG) in zunehmendem Maße eine Geltung zwischen Privaten und damit eine Drittwirkung anerkannt wird37, sind im Bereich der Niederlassungsfreiheit zumindest Kollektivregelungen privater Verbände bzw. Organisationen, welche staatliche Bestimmungen ersetzen, als von Art. 43 EG erfasst angesehen worden38. Demgegenüber hat der EuGH eine

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36 Vgl. zum gemeinschaftsrechtlichen Rahmen auch Bayer/Ohler, ZG 2008, 12, 19 ff. 37 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139, Rz. 30 ff. – Angonese; EuGH v. 12.12.1974 – Rs. C-36/74, Slg. 2006, I-9141, Rz. 17–19 – Walrave; EuGH v. 14.7.1976 – Rs. C-13/76, Slg. 1976, I-1333, Rz. 17 f. – Donà/Mantero; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rz. 82 – Bosman; EuGH v. 13.4.2000 – Rs. C-176/96, Slg. 2000, I-2681, Rz. 35 – Lehtonen. 38 EuGH v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Rz. 120 – Wouters. Der EuGH begründet seine Ansicht damit, dass andernfalls privatrechtlich autonome Vereinigungen durch Kollektivregelungen Hindernisse für die Freizügigkeit schaffen könnten, die den Mitgliedstaaten gerade verboten seien, was die Gewährleistung der Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang gefährde. Ferner gebiete auch die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine Anwendung des Art. 39 EG auf Kollektivregelungen in rechtlich-autonomen Vereinigungen, da gleiche Sachverhalte in einigen Mitgliedstaaten durch staatliche Vorschriften, in anderen Mitgliedstaaten dagegen durch Kollektivregelungen geregelt seien.

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Drittwirkung für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EG) bislang überwiegend abgelehnt. Was die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG) anbetrifft, fehlt es bislang an einer eindeutigen Rechtsprechung des EuGH dazu, ob Art. 56 EG Drittwirkung aufweist. Auch die Rechtsprechung des EuGH zu den Golden Shares ist insoweit nur teilweise weiterführend. In einem in der Satzung der British Airport Authority niedergelegten Recht zur Beschränkung des Anteilserwerbs berief sich die Britische Regierung darauf, dass dieses rein privatrechtlich eingeräumt worden sei, so dass es sich lediglich um die Nutzung von Mechanismen des privaten Gesellschaftsrechts handele. Dem hielt der EuGH entgegen, dass die Satzung gemäß dem Airports Act 1986 von einer Genehmigung des Secretary of State abhängig war. Daher handele der Staat in Ausübung öffentlicher Gewalt39. Bei den Golden Shares der Niederlande ging es um Sonderaktien des Niederländischen Staates an privatisierten Post- und Telefongesellschaften, welche dem niederländischen Staat besondere Zustimmungsrechte bei bestimmten Entscheidungen der Gesellschaften verliehen. Die Golden Shares waren durch eine Satzungsänderung eingeführt worden. Nach Ansicht der niederländischen Regierung lag hier daher keine staatliche Maßnahme vor, so dass er Art. 56 EG für unanwendbar hielt. Gegen diese Argumentation wandte der EuGH ein, dass die Aufnahme der Sonderaktien in die Satzungen der Gesellschaften aufgrund von Entscheidungen erfolgt sei, die der niederländische Staat bei der Privatisierung dieser Gesellschaften getroffen habe, um sich Sonderrechte zu sichern. Daher handele es sich um staatliche Maßnahmen, die von Art. 56 EG erfasst seien40. Schließlich enthält auch das EuGH-Urteil zum deutschen VW-Gesetz41 zu der Frage, ob Art. 56 EG als Prüfungsmaßstab für Gesellschaftssatzungen herangezogen werden kann, keine direkte Aussage. Zwar hat der Gerichtshof den Einwand der Bundesrepublik Deutschland, in der Sache gehe es um eine innergesellschaftliche Vereinbarung mit der Begründung verworfen, dass derartige Vereinbarungen an Art. 56 EG zu messen seien. Dabei hat der EuGH aber lediglich darauf abgestellt, dass der Gesetzgebungsakt eine staatliche Maßnahme sei. Insbesondere hat der EuGH gerade an die besondere Situation des VW-Gesetzes angeknüpft; und zwar, dass durch ein Gesetz auf die Binnen-

__________ 39 EuGH v. 13.5.2003 – Rs. C-98/01, Slg. 2003, I-4641, insb. Rz. 48 – Kommission/Vereinigtes Königreich Großbritannien. 40 EuGH v. 28.9.2006 – Rs. C-282/04, 2006, I-9141, insb. Rz. 22 – Kommission/Niederlande. Für weitergehende Beschränkungen des privatrechtlichen Handelns des Staates sprach sich der Generalanwalt Poiares Maduro in seinen Schlussanträgen aus: „Die Mitgliedstaaten unterliegen den Vorschriften über den freien Verkehr, deren Adressaten sie eindeutig sind, nicht wegen ihrer funktionalen Eigenschaft als öffentliche Stelle, sondern wegen ihrer Organeigenschaft als Unterzeichner des Vertrages. In dem Maße, in dem diese Vorschriften keine Verpflichtungen für Einzelne begründen, können Mitgliedstaaten, wenn sie als Marktteilnehmer tätig werden, Einschränkungen unterworfen sein, die für andere Marktteilnehmer nicht gelten.“ 41 EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995, Rz. 24, 27 – Kommission/ Deutschland.

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struktur einer Gesellschaft Einfluss genommen wird und hiervon gerade die öffentliche Hand selbst profitiert. Das allgemeine gesellschaftliche Instrumentarium mit der Festsetzung einer Sperrminorität in der Gesellschaftersatzung durch die Aktionäre wollte der EuGH aber wohl unberührt lassen42. Aus all dem folgt, dass der Selbstschutz von Unternehmen, der keine Staatsbezogenheit aufweist, europarechtlich unbedenklich ist. Unternehmen sind nicht daran gehindert, Vinkulierungsklauseln vorzusehen, konsortialvertragliche Regelungen zur Abwehr feindlicher Übernahmen zu treffen oder besondere Mitspracherechte bei Organen zu vertreten. Kritisch können solche Regelungen allenfalls dann sein, wenn sie den Staat begünstigen. Auch wenn sich die Entwicklung der europäischen Rechtsprechung insoweit nicht mit völliger Sicherheit abschätzen lässt, so sprechen indes die weitaus besseren Gründe dafür, dem Staat Einflussnahmerechte durch Satzungsgestaltung auf Gesellschaften zuzubilligen, die im Einklang mit den zulässigen Gestaltungsinstrumenten des Gesellschaftsrechtes stehen. Dies dürfte auch von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes jedenfalls solange getragen werden, wie die von den Gesellschaften privatautonom geschaffenen Hürden auf einer vom Gesetzgeber bereitgestellten allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grundlage beruhen und die Aktionäre, die jeweils zugrunde liegende Entscheidung ohne staatlichen Zwang oder entscheidenden staatlichen Einfluss getroffen haben43. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: Völlig zutreffend hat Pläster44 jüngst darauf hingewiesen, dass die europäische Übernahmerichtlinie in beträchtlichem Umfang zu einer Präklusion des Art. 56 Abs. 1 EG als Prüfungsmaßstab führt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Warenverkehrsfreiheit sind mitgliedstaatliche Vorschriften bei Vorliegen einer abschließenden sekundärrechtlichen Harmonisierungsmaßnahme nicht mehr am primären Gemeinschaftsrecht zu messen, sondern ausschließlich an der jeweils ein-

__________ 42 EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995, Rz. 40 ff. – Kommission/ Deutschland: „Wie aber die Kommission zutreffend ausgeführt hat, besteht ein Unterschied zwischen einer den Aktionären verliehenen Befugnis, von der sie Gebrauch machen können oder auch nicht, und einer den Aktionären durch Gesetz auferlegten spezifischen Verpflichtung, von der sie nicht abweichen können. … Zwar kann, wie die Bundesrepublik Deutschland dargelegt hat, in der Gesellschaftssatzung eine höhere als die im Aktiengesetz vorgesehene Mehrheit von 75 % des Grundkapitals verlangt werden. Wie die Kommission jedoch zutreffend ausgeführt hat, handelt es sich hierbei um eine Befugnis, von der die Aktionäre Gebrauch machen können oder auch nicht. Die Festlegung der erforderlichen Mehrheit durch § 4 Abs. 3 VW-Gesetz auf mehr als 80 % des Grundkapitals geht hingegen nicht auf den Willen der Aktionäre zurück, sondern, wie in Rz. 29 des vorliegenden Urteils festgestellt, auf eine nationale Maßnahme.“ 43 Bayer/Ohler, ZG 2008, 12, 29. So im Ergebnis auch Teichmann/Heise, BB 2007, 2577, 2581; Kainer, ZHR 168 (2004), 542, 560; vgl. weiter Lübke, Der Erwerb von Gesellschaftsanteilen zwischen Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit, 2006, S. 265 ff. Wie hier (zum Entsendungsrecht des § 101 Abs. 2 AktG) auch LG Essen, AG 2007, 797. 44 Pläster, EWS 2008, 173, 179.

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schlägigen Verordnung oder Richtlinie45. Dies muss auch für das Verhältnis zwischen Kapitalverkehrsfreiheit und Übernahmerichtlinie gelten46. Damit ist zwar kein Freifahrtschein für staatliche Sonderrechte verbunden, jedoch andererseits klar zum Ausdruck gebracht, dass Anteilsübertragungsbeschränkungen, Vorkaufsrechte und Stimmbindungsverträge, die in Art. 11 Abs. 2 bis Abs. 4 der Übernahmerichtlinie aufgeführt sind, im Grundsatz zulässig sind und nur dann unwirksam werden, wenn die Durchbrechungsregelung Anwendung findet und von der sog. Opt-in- bzw. Opt-out-Möglichkeit gem. Art. 12 der Übernahmerichtlinie kein Gebrauch gemacht wurde47.

V. Schlussbetrachtung Die derzeit diskutierten staatlichen Eingriffsmöglichkeiten, mit denen das Eindringen insbesondere von Staatsfonds, aber auch von anderen unliebsamen Gesellschaftern in deutsche Schlüsselindustrien einer Kontrolle unterworfen werden soll, stehen im Mittelpunkt der Diskussion. Die Möglichkeiten der Unternehmen, sich selbst zu schützen, sind dabei in den Hintergrund getreten. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass das deutsche Gesellschaftsrecht zumindest gewisse Schutzmechanismen zur Verfügung stellt, wenngleich andere europäische Rechtsordnungen zum Teil flexiblere Regelungen ermöglichen. Soweit es sich um verbreitete Instrumentarien, wie Vinkulierungsklauseln, Stimmbindungen und Entsendungsrechte handelt, vermögen diese, soweit sie in einer Übernahmesituation nicht suspendiert sind, einen europarechtskonformen Schutz zu entwickeln. Dies gilt jedenfalls so lange, als sie auf privatautonomen Entscheidungen der Gesellschafter und nicht auf staatlicher Einflussnahme beruhen. Allein die Mitwirkung eines staatlich Beteiligten an den entsprechenden Beschlussfassungen ist dann unschädlich. Dies dürfte der EuGH nach seiner gegenwärtigen Rechtsprechung zumindest in den Fällen ebenso sehen, in dem der Staat zur Etablierung dieser Rechte der Mitwirkung der privaten Anteilseigner bedurfte.

__________ 45 Vgl. EuGH v. 12.10.1993 – Rs. C-37/92, Slg. 1993, I-4947, Rz. 9 – Vanacker und Lessage; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99, Slg. 2001, I-9897, Rz. 32 – Daimler/ Chrysler; EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-322/01, Slg. 2003, I-14887, Rz. 64 – Deutscher Apothekerverband; EuGH v. 14.12.2004 – Rs. C-309/02, Slg. 2004, I-11763, Rz. 53 – Radlberger und Spitz/Land Baden-Württemberg; Pläster, EWS 2008, 173, 178. 46 Pläster, EWS 2008, 173, 178. 47 Näher zu der europäischen Durchbrechungsregel im deutschen Übernahmerecht Harbarth, ZGR 2007, 37 ff.

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Zur Lehre Karsten Schmidts vom Innenrecht der Personengesellschaft und der GmbH Inhaltsübersicht I. Kritische Fragen II. Bestimmtheitsgrundsatz und Kernbereichsschutz 1. Materielles oder formelles Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes? a) Der derzeitige Stand der Rechtsprechung b) Die Personengesellschaft – ein überpersonaler Verband? 2. Der Kernbereichsschutz – eine Alternative zum materiellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes?

a) Der Unterschied b) Schwächen des Kernbereichsschutzes III. Das Beschlussmängelrecht in Personengesellschaft und GmbH 1. Die Statutenänderung in der Personengesellschaft zwischen Vertrag und Beschluss 2. Die Statutenänderung in der GmbH IV. Schluss

I. Kritische Fragen Der Jubilar Karsten Schmidt ist der Autor, von dem ich für die Arbeit am verbandsrechtsdogmatischen Detail mit Abstand am meisten gelernt habe. Meine Kommentierung des Vereinsrechts im Münchener Kommentar zum BGB lebt über weite Strecken von der Rezeption verbandsrechtsdogmatischer Einsichten, die zuerst von ihm entwickelt worden sind. Das liegt nicht nur daran, dass er als bei weitem produktivster Teilnehmer am fachlichen Diskurs (nicht nur) auf diesem Rechtsgebiet im führenden Lehrbuch, in mehreren ebenfalls führenden Kommentarwerken und Aufsätzen in hoher dreistelliger Anzahl geradezu flächendeckend gearbeitet hat. Vor allem hat er das in einer Qualität getan, die den kundigen Thebaner veranlasst, wann immer er mit einem verbandsrechtlichen Problem zu kämpfen hat, soweit möglich zu einer einschlägigen Veröffentlichung von Karsten Schmidt zu greifen. Denn darin findet er regelmäßig wie kaum irgendwo sonst eine glasklare Problemanalyse, eine präzise Darstellung sowie konstruktive Kritik des Standes der Diskussion und – last not least – kreative dogmatische Lösungsansätze, und all dies in einer Sprache, die – was schon sehr viel ist – die oft höchst anspruchsvollen Gedankengänge nicht nur eingängig vermittelt, sondern nicht selten zu einem ausgesprochenen Lesevergnügen macht. In einigen wenigen Punkten bin ich trotzdem „belehrungsresistent“ geblieben, und dazu gehört vor allem die Lehre vom Innenrecht der Personengesellschaft und der GmbH. Nach Ansicht des Jubilars haben Rechtsprechung und Rechtswissenschaft einen Auftrag zur Angleichung des Innenrechts der Personengesellschaft an 1357

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das Innenrecht der GmbH. Dieser Auftrag soll sich daraus ergeben, dass der historische Gesetzgeber den Regelungen der Personengesellschaft im BGB und im HGB ein Verständnis des Innenverhältnisses zugrunde gelegt hat, das lediglich für die rein schuldrechtlichen Innengesellschaften zutrifft1. Die Existenz einer auf der Trennung von Leitungs- und Beschlussorganen basierenden Binnenorganisation habe er im Personengesellschaftsrecht – anders als im GmbHRecht (und erst recht im Aktienrecht) – ignoriert. Das Innenrecht der Personengesellschaft sei infolgedessen allzu lange als Vertragsverhältnis der Gesellschafter anstatt als Teilhabeverhältnis in der Gesellschaft problematisiert worden2. Daraus erkläre sich u. a. das lange Beharren von Rechtsprechung und Teilen der Literatur auf der Zustimmung aller Gesellschafter zur Änderung des Gesellschaftsvertrags zumindest in Form der antizipierten Zustimmung (materielles Verständnis des sog. Bestimmtheitsgrundsatzes), während in der GmbH die Mehrheitskompetenz für Änderungen des Gesellschaftsvertrags zum gesetzlichen Normalstatut gehöre. Auch die Unklarheiten über das Verhältnis des Bestimmtheitsgrundsatzes zum Kernbereichsschutz, den es sowohl im Personengesellschaftsrecht als auch im GmbH-Recht gebe, seien der Vernachlässigung des organisationsrechtlichen Charakters des Innenrechts der Personengesellschaft zuzuschreiben3. Schließlich spiegele sich der noch unausgereifte Zustand des Innenrechts der Personengesellschaft in der Rechtspraxis im unterschiedlichen Beschlussmängelrecht von Personengesellschaft und GmbH. Es sei nicht begründbar, weshalb das, was im GmbH-Recht geschehen sei, nämlich die Angleichung an das Beschlussmängelrecht der AG analog §§ 241 ff. AktG, nicht genauso im Personengesellschaftsrecht gelingen könne4. Das ist ein in sich geschlossenes widerspruchsfreies Konzept, brillant entwickelt, wie man das von dem Jubilar gewohnt ist. Auch die Kautelarpraxis hat Anlass zur Zufriedenheit. Denn danach wird die als schwierig geltende Verzahnung zwischen dem Innenverhältnis von GmbH und KG bei der (personengleichen) GmbH & Co KG nicht unwesentlich erleichtert5. Und doch bleiben Fragen. Einmal ist darauf hinzuweisen, dass selbst die inzwischen im Außenverhältnis im Wesentlichen der GmbH angeglichene GmbH & Co. KG6 in wichtigen Rechtsgebieten deshalb anders als die GmbH behandelt wird, weil man für die Personengesellschaft einen stärkeren personalen Bezug annimmt als für die GmbH. Zwar ist der deutsche Gesetzgeber hinsichtlich der Rechnungslegungspublizität der GmbH & Co. KG mit diesem Differenzierungsgrund an Europa gescheitert7. Aber das Steuerrecht nimmt nach wie vor an, in der GmbH & Co. KG seien Gesellschafter- und Gesellschaftssphäre so eng verbunden, dass ihre Nichtanerkennung als selbständiges Steuersubjekt im

__________ 1 Karsten Schmidt ZGR 2008, 1, 2; vgl. auch ders., Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 83. 2 ZGR 2008, 1, 2 f. 3 ZGR 2008, 1, 8 ff. 4 ZGR 2008, 1, 24 ff. 5 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 1647 f. 6 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 1655 ff. 7 Vgl. Zimmer/Eckhold, NJW 2000, 1361 ff.

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Gegensatz zur diesbezüglichen Anerkennung der GmbH geboten sei8. Eine ähnliche Prämisse beherrscht die Unterscheidung von Personengesellschaft und GmbH im Recht der unternehmerischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer. § 4 Abs. 1 MitbestG stellt die GmbH & Co. KG nicht etwa der GmbH mitbestimmungsrechtlich gleich. Vielmehr rechnet er lediglich der GmbH die Arbeitnehmer der KG zu, und auch das nur, wenn die Kapital- und/oder Stimmenmehrheit in GmbH und KG identisch ist. Es handelt sich also um einen Schutz der Mitbestimmung gegen Umgehung. Ist die Kapital- und/oder Stimmenmehrheit in der GmbH und in der KG verschieden, so ist die GmbH & Co. KG trotz einer Belegschaft von an sich mitbestimmungspflichtiger Größe mitbestimmungsfrei. Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit des MitbestG folgerichtig nicht auf die beschränkte Haftung der Gesellschafter in den mitbestimmungspflichtigen Rechtsformen, sondern entscheidend darauf gestützt, dass insoweit der personale Bezug des Anteilseigentums zurücktrete9. Dabei hat es insbesondere hervorgehoben, dass die mitgliedschaftsrechtlichen Befugnisse des Anteilseigentümers rechtlich durch die Anteilseigentümerversammlung als (vom Mehrheitsprinzip beherrschtes) Organ der Gesellschaft vermittelt sind10. Ist also das Gebot der praktischen Konkordanz der auf den Lebenssachverhalt Unternehmen bezogenen Regelungswerke nicht vielleicht doch ein Grund, wenigstens für die Grundlagen der Personengesellschaft an der Maßgeblichkeit des Gesellschaftsvertrags und damit an einem nicht organvermittelten Einfluss der Gesellschafter festzuhalten, wie es in der neueren Literatur vor allem von Flume11 (mit anderer – rechtshistorischer – Begründung) nach wie vor dezidiert vertreten wird? Immanent verbandsrechtlicher Art sind Zweifel daran, dass der Übergang vom (vertragsrechtlichen) Einstimmigkeitserfordernis für Vertrags-(Satzungs-)änderungen zur (organisationsrechtlichen) Mehrheitskompetenz im Personengesellschaftsrecht durch den Hinweis auf die normtypische Rechtslage im GmbH-Recht hinreichend gerechtfertigt werden kann. Auch wenn man mit dem Jubilar annimmt, das Innenverhältnis der Personengesellschaft sei insgesamt kein vertragsrechtliches, sondern ein organisationsrechtliches, bleibt die Grundwertung zu beachten, dass die Privatautonomie prinzipiell eine Richtigkeitsgewähr allein für Regelungen entfaltet, die die Rechte und Pflichten der an der Regelung Beteiligten betreffen12. Im Schrifttum gibt es daher Stimmen, die jede Verbandssatzung „wegen der Geltung über den Kreis der Gründer und ihrer Rechtsnachfolger hinaus in Hinsicht auf die Rechtsstellung der Mitglieder der richterlichen Inhaltskontrolle“ unterwerfen wollen13. Der BGH folgt

__________ 8 Kritisch dazu Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 8. Aufl. 1991, S. 1 ff. 9 BVerfGE 50, 290, 341 ff. 10 BVerfGE 50, 290, 343, 345 f. 11 Die Personengesellschaft, 1977, S. 56, 213 ff. 12 Larenz/Wolf, BGB AT, 8. Aufl. 1997, § 29 Rz. 1. 13 Flume, Die juristische Person, 1983, S. 320. Ähnlich Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003, S. 231; Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 234 f.

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dem zu Recht nicht, sondern beschränkt die Inhaltskontrolle auf wirtschaftlich oder sozial mächtige Verbände. Verbände – so heißt es in der Leitentscheidung – „bei denen die Mitgliedschaft in jeder Hinsicht freiwillig ist, aus denen das einzelne Mitglied also jederzeit ohne schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Nachteile austreten kann, werden in der Praxis um der Erhaltung ihres Mitgliederbestandes willen häufig dazu gezwungen sein, auf die Setzung von Normen zu verzichten, die ihre Mitglieder unbillig belasten können. Dieses Korrektiv entfällt, wenn der Verband aufgrund seiner Machtstellung und des Angewiesenseins seiner Mitglieder auf ihre Verbandszugehörigkeit nicht um die Mitglieder werben und alles daran setzen muss, diese möglichst lange zu binden.“14 Für das Vereinsrecht entspricht dem der grundlegende Zusammenhang zwischen der Mehrheitskompetenz für Satzungsänderungen (§ 33 BGB) und dem Recht des einzelnen Mitglieds zum kurzfristigen Austritt (§ 39 BGB). Das Austrittsrecht ist – so Larenz/Wolf15 – „das unentbehrliche Korrelat zu der grundsätzlichen Unterwerfung des Mitglieds unter die Satzungsgewalt des Vereins“ (exit statt voice16). Für wirtschaftliche Vereinigungen soll das allerdings nicht gelten. Nach Flume sind insoweit „wegen des Abfindungsanspruchs und u. U. auch wegen des Wegfalls der von dem Mitglied zu erbringenden Beitragsleistungen zugleich die vermögensmäßigen Interessen des Vereins und seiner Mitglieder zu beachten, so dass sowohl für den rechtsfähigen wie den nichtrechtsfähigen wirtschaftlichen Verein die Vorschrift des § 39 BGB als Begrenzung der Privatautonomie für die Vereinsbildung geradezu sinnwidrig ist“17. Nun mag es sein, dass das Anpassungsbedürfnis, das § 39 Abs. 2 BGB beim (Ideal-)Verein durch die Zulassung einer maximalen Austrittsfrist von zwei Jahren berücksichtigt, bei wirtschaftlichen Vereinigungen relativ größere Konzessionen erfordert. Dass der neuere Gesetzgeber in dieser Richtung denkt, belegt die 1975 erfolgte Verlängerung der Maximalfrist für das Austrittsrecht im Genossenschaftsrecht auf fünf Jahre (§ 65 Abs. 2 GenG), die bis dahin – wie im Vereinsrecht – zwei Jahre betragen hat. Aber es ist nicht zuzugeben, dass „das unentbehrliche Korrelat zu der grundsätzlichen Unterwerfung des Mitglieds unter die Satzungsgewalt“ bei wirtschaftlichem Charakter der Vereinigung ersatzlos entfallen kann. Das Kapitalgesellschaftsrecht kennt zwar von Gesetzes wegen keine zwingenden Austrittsrechte, sehr wohl jedoch unabdingbare Rechte zur Anteilsübertragung. Im Aktienrecht ist eine Beschränkung der Übertragbarkeit nur in der Weise vorgesehen, dass die Übertragung von Namensaktien an die Zustimmung der AG gebunden werden kann (§ 68 Abs. 2 AktG). Die rechtmäßige Verweigerung setzt unabhängig davon, ob sie vom Vorstand oder kraft Satzungsermächtigung von der Hauptversammlung erklärt wird, voraus, dass sie im Interesse der AG erfolgt. Für eine zulässige Verweigerung um eines gesell-

__________ 14 BGH, NJW 1989, 1724, 1726. Ausführlich Steinbeck, Vereinsautonomie und Dritteinfluss, 1999, S. 220 ff. 15 Larenz/Wolf (Fn. 12), § 10 Rz. 112 a. E. Vgl. auch BGHZ 48, 207, 210. 16 Dazu zuletzt Haar, Die Personengesellschaft im Konzern, 2006, S. 54 ff. 17 ZHR 148 (1984), 503, 520.

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schaftsfremden Sonderinteresses willen lässt jedenfalls das Gesetzesrecht keinen Raum. Mittels der Vinkulierung kann die AG die Anteilsübertragung steuern, nicht ausschließen18. Nicht anders war es nach dem Willen des historischen Gesetzgebers im GmbHRecht, obwohl § 15 Abs. 5 GmbHG offener formuliert, der Gesellschaftsvertrag könne die Abtretung der Geschäftsanteile an besondere Voraussetzungen knüpfen, insbesondere von der Genehmigung der Gesellschaft abhängig machen. Die Entstehungsgeschichte des GmbHG belegt das eindeutig. Danach ist erwogen worden, die Übertragung der GmbH-Anteile von Gesetzes wegen an die Zustimmung der Mitgesellschafter zu binden. Der Gedanke ist verworfen worden mit der Begründung, man könne den GmbH-Gesellschaftern nicht das einzige Mittel entziehen, das ihnen die Verfügung über ihr in dem Unternehmen angelegtes Kapital ermögliche19. Mit dieser Begründung sind entgegen der heute ganz h. M.20 weder die Vinkulierung in Form des Erfordernisses der Zustimmung der Mitgesellschafter (mit der Möglichkeit der Verfolgung von Sonderinteressen) noch der Ausschluss der Übertragbarkeit vereinbar. Gewiss ist das „Schnee von gestern“. Dass die Wirklichkeit die Theorie der GmbH überholt hat, ist seit langem ein Gemeinplatz21. Der Versuch, das Rad der Entwicklung insoweit zurückzudrehen, wäre reine Don-Quichotterie. Aber es fragt sich doch, ob man dem historischen Gesetzgeber nicht wenigstens noch insofern Gehorsam schuldet, als der Ausschluss der Übertragbarkeit zwingend die notwendige Einstimmigkeit von Vertragsänderungen nach sich zieht. Immerhin hat er das Recht des Gesellschafters zum kurzfristigen Ausscheiden im Fall der „Unterwerfung unter die Satzungsgewalt“ der Mehrheit (und erst recht einer Minderheit) für so unabweisbar gehalten, dass er sich nicht einmal selbst für befugt gehalten hat, es ersatzlos zu beseitigen. Liegt es nicht nahe, exit durch voice zu ersetzen, wenn exit als Mittel des Selbstschutzes der Minderheit – aus welchen Gründen auch immer – ausscheidet? Oder verbandsrechtsdogmatisch ausgedrückt: Ist es nicht geboten, anstatt – wie der Jubilar will22 – das Innenrecht der geschlossenen Personengesellschaft am organisationsrechtlichen Wesen der normtypischen GmbH, umgekehrt das Innenrecht der geschlossenen GmbH am (traditionell) vertragsrechtlichen Wesen der normtypischen Personengesellschaft genesen zu lassen?

__________ 18 BGH, NJW 1987, 1019, 1020 (mit problematischer Gleichsetzung des Wohls der AG mit der Wahrung ihres Charakters als Familiengesellschaft). Ausführlich Reuter, Privatrechtliche Schranken der Perpetuierung von Unternehmen, 1973, S. 434 ff. 19 Ausführlich mit Nachweisen Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, 1970, S. 246; H.F. Müller, Das Austrittsrecht des GmbH-Gesellschafters, 1996, S. 4 ff.; Reuter, Gutachten zum 55. Deutschen Juristentag B 52 (rechtsvergleichende Hinweise B 47). 20 RGZ 80, 179; BayObLG, 1989, 214, 215 f.; G. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 15 GmbHG Rz. 38; Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 1047. 21 Ausführlich J. Limbach, Theorie und Wirklichkeit der GmbH, 1966, S. 107 ff. und passim. 22 Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 10 ff.

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II. Bestimmtheitsgrundsatz und Kernbereichsschutz 1. Materielles oder formelles Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes? a) Der derzeitige Stand der Rechtsprechung Das traditionelle Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes fußt auf der vom Jubilar abgelehnten vertragsrechtlichen Beurteilung des Innenverhältnisses der Personengesellschaft. Die erste einschlägige Entscheidung des RG leitet aus § 317 BGB ab, dass die Mehrheitskompetenz für Änderungen des Gesellschaftsvertrags zulässig ist, erkennt aber zugleich an, dass die Änderung des Gesellschaftsvertrags für die der Mehrheitskompetenz unterworfenen Gesellschafter gefährlicher ist als die Fremdbestimmung einer im Vertrag offen gelassenen Leistung. Da eine schrankenlose Unterwerfung gegen die guten Sitten verstoßen würde, müsse ihre inhaltliche Tragweite begrenzt sein23. Daraus ergibt sich die in den folgenden höchstrichterlichen Entscheidungen immer wieder betonte Unterscheidung zwischen gewöhnlichen Beschlussgegenständen und „Vertragsänderungen und ähnlichen die Grundlagen der Gesellschaft berührenden oder in Rechtspositionen der Gesellschafter eingreifenden Maßnahmen, welche bei der im Gesellschaftsvertrag außerhalb eines konkreten Anlasses vereinbarten Unterwerfung unter den Mehrheitswillen typischerweise nicht in ihrer vollen Tragweite erfasst werden und angesichts der Unvorhersehbarkeit späterer Entwicklungen auch regelmäßig nicht erfasst werden können“24. Der in Gänsefüßchen gesetzte Satzteil ist ein Zitat aus dem Otto-Urteil vom 15.1.2007, das m. E. belegt, dass der BGH sich entgegen der Annahme des Jubilars25 auch in dieser jüngsten Äußerung noch nicht endgültig vom materiellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes verabschiedet und dem von ihm vertretenen formellen Verständnis26 angeschlossen hat. Verworfen wird nur die Auffassung, der Bestimmtheitsgrundsatz verlange die minutiöse Auflistung der von der Mehrheitskompetenz erfassten Beschlussgegenstände im Gesellschaftsvertrag, und das ist eine Sicht, die auch vom materiellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes getragen wird: Die minutiöse Auflistung ändert nichts daran, dass antizipierte Zustimmungen wegen der Unvorhersehbarkeit späterer Entwicklungen an einem Rationalitätsdefizit leiden, zumal bei Personengesellschaftsverträgen – anders als bei GmbH-Gesellschaftsverträgen – weder für die ursprünglichen noch für die nachträglichen Gesellschafter eine obligatorische fachkundige Beratung über die rechtlichen Risiken (worst caseSzenarien) durch einen beurkundenden Notar vorgesehen ist. Für die Deutung des Otto-Urteils durch den Jubilar spricht allerdings, dass es, obwohl es schon unter dem Etikett Bestimmtheitsgrundsatz eine als antizipierte Zustimmung verstandene Legitimationsgrundlage gefordert hat, „die auch Ausmaß und Um-

__________ 23 24 25 26

RGZ 91, 166 ff.; Haar (Fn. 16), S. 122 ff. Vgl. auch BGHZ 71, 53, 57 f.; 85, 350, 358. BGH, NJW 2007, 1685, 1686. Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f. Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 454 ff.; ders., ZHR 158 (1994), 205 ff.

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fang einer möglichen zusätzlichen Belastung der Gesellschafter erkennen lassen muss“, unter dem Etikett Kernbereichslehre „auf einer zweiten Stufe eine inhaltliche Wirksamkeitsprüfung“ vornimmt, die sich u. a. auf das Vorliegen einer antizipierten Zustimmung zum Mehrheitseingriff in sog. relativ unentziehbare Mitgliedschaftsrechte bezieht27. Das wirkt wie eine unentwirrbare Mischung miteinander unvereinbarer dogmatischer Ansätze, so dass m. E. zumindest noch unklar ist, ob die Rechtsprechung in Zukunft dem materiellen oder dem formellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes zu folgen gedenkt28. b) Die Personengesellschaft – ein überpersonaler Verband? Unabhängig vom Standpunkt der Rechtsprechung ist die Frage zu beantworten, welches der konkurrierenden Verständnisse des Bestimmtheitsgrundsatzes die besseren Argumente für sich hat. Im Ausgangspunkt ist dem Jubilar zuzustimmen: Man kann die Regelung der Rechtsstellung der Gesellschafter nicht – wie z. B. Flume will29 – von der Regelung ihrer Teilnahme am Status der Gesellschaft trennen. Die Rechte und Pflichten der Gesellschafter sind die „Wirkkräfte“ der Gesellschaft als Wirkungseinheit. Umgekehrt entscheidet der Status der Gesellschaft, insbesondere ihr Zweck mit über den Inhalt der Rechte und Pflichten der Gesellschafter. Auch die Ergebnisse der „Trennungstheorie“ sind befremdlich. Denn danach ist die Änderung des Zwecks der Gesellschaft der Mehrheitskompetenz zugänglich, nicht dagegen die Beschränkung des vertraglichen Anspruchs auf Gewinn30, obwohl die Zweckänderung offenbar den tieferen Eingriff in die Rechtsposition der Gesellschafter darstellt. Also mit dem Jubilar: Das Innenverhältnis der Personengesellschaft ist jenseits der rein schuldrechtlichen Innengesellschaft organisationsrechtlicher (= verbandsrechtlicher) Natur. Daraus allein lässt sich m. E. indessen nicht ableiten, dass die Personengesellschaft – wie der Jubilar annimmt31 – ein der normtypischen GmbH vergleichbar überpersonaler Verband ist oder auch nur sein kann. Sicher steht und fällt die Personengesellschaft heute normalerweise nicht mehr mit der Gesellschaftszugehörigkeit konkreter Personen. Namentlich OHG und KG sind nicht mehr nur Rechtsformen des „mitunternehmerischen Zusammenwirkens ihrer Gesellschafter“32, sondern nicht zuletzt um der Kontinuität der Unternehmensträgerschaft willen zu Verbänden mit vererblicher und übertragbarer Mitgliedschaft geworden. Aber daraus folgt noch nicht, dass sie überpersonal

__________ 27 BGH, NJW 2007, 1685, 1686, 1687. 28 Ähnlich schon Goette in FS Sigle, 2000, S. 145 f., der zwar S. 158 vom Bestimmtheitsgrundsatz als einer formellen Legitimation spricht, jedoch darin – wie die Lehre von der antizipierten Zustimmung – eine Sicherung sieht, die das Mitgestaltungsrecht über den Vertragsschluss hinaus perpetuiert. 29 Flume (Fn. 11), S. 216 ff. 30 Flume (Fn. 11), S. 216, 217 f. 31 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 59 ff., 1357. 32 Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 2.

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angelegte Verbände sind. Selbst die Stellung als Partei der rein schuldrechtlichen Innengesellschaft kann – wie jede Stellung als Vertragspartei, die nicht höchstpersönlich ist – vererblich und übertragbar sein. Die Begründung des Jubilars ist denn auch deutlich fundamentaler. Für ihn ist der Zweck der (Außen-)Personengesellschaft unabhängig von ihrer Struktur niemals die koordinierte Interessenverfolgung der Gesellschafter, sondern stets überindividuell, d. h. unabhängig von den Interessen konkreter Personen. Auf die Zwecke, die die Gesellschafter verfolgen, soll es bei der Außengesellschaft – anders als bei der rein schuldrechtlichen Innengesellschaft – generell nicht ankommen. OHG und GmbH haben danach nicht den Zweck, für ihre Gesellschafter Erträge zu erzielen, sondern den stets überindividuellen Zweck, das Gesellschaftsunternehmen zu betreiben. Die Anforderungen dieses Zwecks bestimmen nicht nur das Außen-, sondern auch das Innenrecht der Unternehmensträgergesellschaften: Ziel der Ausgestaltung der Rechte und Pflichten der Gesellschafter ist nicht der gerechte Interessenausgleich zwischen ihnen, sondern die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Unternehmens. Auf kollidierende Interessen der Gesellschafter ist lediglich Rücksicht zu nehmen, so dass diese sich entgegen den Implikationen des materiellen Bestimmtheitsgrundsatzes nicht unzulässig selbst entmündigen, wenn sie sich für Vertragsänderungen über die antizipierte Zustimmung hinaus der Mehrheitsentscheidung unterwerfen, auch dann nicht, wenn es um das mitunternehmerische Zusammenwirken konkreter Personen in Personengesellschaftsform geht33. Das Gebot zur Rücksichtnahme erfordert nicht Mitbestimmung, sondern Schutz vor übermäßiger Beeinträchtigung34. Nur für Art und Umfang der gebotenen Rücksichtnahme spielt es eine Rolle, ob der Gesellschafterkreis – wie bei der normtypischen Personengesellschaft – als geschlossener aus wenigen Mitunternehmergesellschaftern oder – wie bei der normtypischen GmbH – als offener aus wechselnden Anlagegesellschaftern besteht. Im Ergebnis wird so die Tätigkeit der Gesellschaft zum (Selbst-)Zweck, das Unternehmen vom Objekt zum Subjekt der Zweckverwirklichung. Dementsprechend heißt es im Handelsrechtslehrbuch des Jubilars, am konsequentesten wäre es, die wirtschaftliche Einheit Unternehmen als Rechtssubjekt anzuerkennen, aber das sei nicht geltendes Recht35. So sei zwischen Unternehmen und Unternehmensträger zu trennen, doch gelte diese Trennung nicht ohne weiteres für das Innenrecht der Unternehmen36. Überhaupt sei die Unternehmensträgerschaft „zu allererst ein Organisations- und Tätigkeitsrahmen, der die Rechtszuordnung im Außenverhältnis legitimiert“37. Zusammenfassend spricht der Jubilar von einem rechtspolitischen Bedürfnis nach Personifikation des Unternehmens, dem auch de lege lata schon weitgehend Rechnung getragen werden könne38.

__________ 33 34 35 36 37 38

Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 61, 83. Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f. Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 70. Karsten Schmidt, HR (Fn. 35), S. 80. Karsten Schmidt, HR (Fn. 35), S. 83. Karsten Schmidt, HR(Fn. 35), S. 86.

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Nun ist sicher nicht zu leugnen, dass diese Sicht die Entwicklungstendenzen der Praxis korrekt widerspiegelt. Die damit verbundene „Objektivation des Kapitalismus, die Versachlichung der Vermögensanlage, die Perpetuierung und Erhaltung vorhandener Unternehmen über die Klippen von Generationen hinweg, die Entpersönlichung höchstpersönlicher Unternehmen“39 ist für die ganz überwiegende Kautelarpraxis Programm. Der Gesetzgeber hat dem jedoch bisher allenfalls im Aktienrecht nachgegeben. Von der AG mag man sagen können, dass das Betreiben des Unternehmens ihr Zweck ist. Im Schrifttum heißt es teilweise sogar, die AG habe kein Unternehmen, sondern sei das Unternehmen40. Dafür lässt sich anführen, dass die Aktionäre nicht die Herren der AG, sondern nach § 119 AktG auf einen Katalog von Zuständigkeiten beschränkt sind und dass die Geschäftsführung dem Vorstand nach § 76 AktG in eigener Verantwortung obliegt, die sich nach h. M.41 nicht am Interesse der Aktionäre, sondern am Unternehmensinteresse, verstanden als praktische Konkordanz der Interessen von Aktionären, Arbeitnehmern und Allgemeinheit, zu orientieren hat. Bei allen anderen Unternehmensformen ist der Betrieb des Unternehmers dagegen zumindest von Gesetzes wegen nicht Zweck, sondern Mittel zur Förderung eines davon verschiedenen Gesellschaftszwecks. Am deutlichsten bringt das § 1 GenG zum Ausdruck, wonach Genossenschaften Gesellschaften sind, „deren Zweck darauf gerichtet ist, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern“. § 105 Abs. 1 HGB spricht zwar für die OHG (und mittelbar die KG) von einer Gesellschaft, deren Zweck auf den Betrieb eines Handelsgewerbes gerichtet ist. Aber Handelsgewerbe ist jedenfalls bei historischer Interpretation nicht mit Unternehmen gleichzusetzen. Lange hat man darunter eine selbständige, von der Absicht dauernder Gewinnerzielung getragene Tätigkeit verstanden42. Inzwischen ist man zwar – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Jubilars – vom Erfordernis der Gewinnerziehungsabsicht abgerückt, weil das Außenrecht der OHG – die Haftungs- und die Vertretungsregelung – nicht davon abhängen kann, mit welcher Zielsetzung die Gesellschaft tätig ist43. Aber dass deswegen der Betrieb des Unternehmens nicht zum Zweck der OHG geworden ist, belegt eindeutig die Auffangfunktion der OHG44. Auch die Genossenschaft im Sinne des § 1 GenG, für die definitionsgemäß der Betrieb des Unternehmens nur Mittel ist, wird zur OHG, wenn sie auf die Eintragung ins Genossenschaftsregister verzichtet.

__________ 39 So (bezogen auf die seinerzeit in der Kautelarpraxis dominierende GmbH & Co. KG) Wiethölter in Aktuelle Probleme der GmbH & Co KG, 1967, S. 11, 32. 40 Flume (Fn. 13), S. 48 ff. (der von Kapitalgesellschaft spricht, aber S. 62 die GmbH ausdrücklich ausnimmt). 41 BVerfGE 50, 290, 343; BGHZ 69, 334, 339; vgl. dazu Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 805 f. 42 So auch noch die Begründung zum RegE HRefG, BT-Drucks. 13/8444, 40 f.; Kraft/ Kreutz, Gesellschaftsrecht, 11. Aufl. 1999, S. 172. 43 Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, 23; Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 1 HGB Rz. 15 f. 44 Grundlegend Karsten Schmidt, Zur Stellung der OHG im System der Handelsgesellschaften, 1972.

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Im Normalfall bezweckt die (normtypische) OHG oder KG mit dem Betrieb des Unternehmens genauso die Erzielung von Erträgen für sich und damit die Gesamtheit der Gesellschafter wie die (normtypische) BGB-Gesellschaft, die das den Gesellschaftern gemeinsam gehörende Grundstück vermietet. Die Vermietung des Wohngrundstücks bzw. der Betrieb des Unternehmens sind Mittel zum Zweck. Was die Gesellschaft statt zur BGB-Gesellschaft zur OHG oder KG macht, ist nicht der unterschiedliche Zweck, sondern die unterschiedliche Tätigkeit. Offen bleibt, ob das Konzept des Jubilars als Rechtsfortbildungskonzept Zustimmung verdient. Wer die gesellschaftsrechtliche Kautelarpraxis in der Tradition der wirtschaftsrechtlichen Methode für das „lebende Recht“ hält, dem Rechtsprechung und Rechtswissenschaft in den Grenzen des zwingenden Gesetzesrechts und unter dem Vorbehalt der Wahrung unverzichtbarer Rechtswerte den Weg zu ebnen haben45, wird das bejahen. Wer einer solchen von Partikularinteressen gesteuerten Rechtsbildung nicht ohne weiteres traut, wird dagegen fragen, ob die Bedingungen erfüllt sind, unter denen Privatautonomie im Gesellschaftsrecht als Rechtserzeugungsinstrument funktioniert. Wenn der Zweck der Personengesellschaft nicht die Koordination der Interessen der am Abschluss des Gesellschaftsvertrags beteiligten Personen, sondern der Dienst an einem übergeordneten Anliegen ist, dessen Verwirklichung auch mit Wirkung für zukünftige Gesellschafter gesichert werden soll, dann können die Gründer für die rechtliche Organisation nicht die Vertragsfreiheit in Anspruch nehmen. Denn die Vertragsfreiheit beschränkt sich auf die Regelung der eigenen Angelegenheiten der Vertragsparteien. Gewiss kontrahieren die Gründer – wie der Jubilar einwendet – „in eigener Sache“46. Würden sie sich nicht mit dem übergeordneten Zweck identifizieren, so würden sie den Vertrag so nicht schließen. Aber das Körperschaftsrecht zeigt, wie unter I. dargelegt, dass das zur privatautonomen Legitimation der Regelwerke nur ausreicht, wenn auch die späteren Gesellschafter durch Freiwilligkeit der Mitgliedschaft ihr Einverständnis bekunden. Fehlt es daran, so führt, wenn man die Praxis nicht grundsätzlich in Frage stellen will47, kein Weg an der gerichtlichen Inhaltskontrolle vorbei, und zwar sowohl im Hinblick auf den Gründungsvertrag als auch im Hinblick auf spätere Änderungen durch Mehrheitsentscheidung48. Zuzugeben ist, dass es nach dem heutigen Stand der Praxis ganz ohne die gerichtliche Inhaltskontrolle nicht geht. Aber es fragt sich doch, ob ein Konzept, das ihre Notwendigkeit noch zusätzlich verstärkt, wirklich ein Fortschritt ist. Die bisherige Sicht erlaubt es, für das Innenverhältnis der normtypischen Personengesellschaft – das „mitunternehmerische Zusammenwirken der Gesell-

__________ 45 Grundlegend Geiler, Gruchots Beiträge 68 (1927), 593 ff. 46 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 121. 47 Reuter (Fn. 18), S. 79 ff. Dazu in der Sache kritisch Karsten Schmidt, in Formale Freiheitsethik oder materiale Verantwortungsethik, 2006, S. 9, 20 ff., 30 ff. 48 Noch weitergehend Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 173 (Inhaltskontrolle immer schon dann, wenn keine Vertragsverhandlungen stattfinden, sondern das neue Mitglied ein Statut akzeptieren muss).

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Zur Lehre Karsten Schmidts vom Innenrecht d. Personengesellschaft u. d. GmbH

schaft“49 – ungeachtet der Übertragbarkeit und Vererblichkeit der Gesellschafterstellung grundsätzlich auf die Vertragsfreiheit zu setzen. Indem sie die Mehrheitsentscheidung mittels des materiellen Bestimmtheitsgrundsatzes an die antizipierte Zustimmung der überstimmten Minderheit bindet, sichert sie auch dieser die privatautonome Legitimation, wo – wie das für Personengesellschaften praktisch ausnahmslos zutrifft – die Alternative der privatautonomen Legitimation durch aktuelle Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, insbesondere durch freiwilliges Verbleiben in der Gesellschaft ausfällt. Soweit die Personengesellschaft dadurch – wie der BGH annimmt50 – die Tauglichkeit als Rechtsform für einen großen und heterogenen Gesellschafterkreis verliert, trägt das bei zur Sicherung eines (im Vergleich mit der GmbH u. a.) relativ stärkeren personalen Bezugs des Anteilseigentums, ohne den die Sonderbehandlung der Personengesellschaft im Steuerrecht und Mitbestimmungsrecht unstimmig, wenn nicht sogar verfassungsrechtlich bedenklich ist. Freilich will der BGH die Vertragsänderung durch Mehrheitsentscheidung gerade in Fällen dieser Art – Publikumspersonengesellschaft, Familiengesellschaften mit dreistelliger Gesellschafterzahl – nicht nach Maßgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes von der (antizipierten) Zustimmung der Minderheit abhängig machen51. Zum Ausgleich erkennt er der überstimmten Minderheit jedoch ein außerordentliches Austritts- und Abfindungsrecht zu52, das ebenfalls die Tauglichkeit der Personengesellschaft als Rechtsform eines Unternehmens mit einem großen und heterogenen Gesellschafterkreis begrenzt. Der Jubilar hat den BGH im Anschluss an das Otto-Urteil von seinem Ansatz her folgerichtig aufgefordert, das Erfordernis der antizipierten Zustimmung auch für die Normalpersonengesellschaft zu verabschieden, und zwar offenbar ohne den Ausgleich durch ein außerordentliches Austritts- und Abfindungsrecht der Minderheit53. In meiner Sicht wäre das keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung des rechtlichen Status quo. 2. Der Kernbereichsschutz – eine Alternative zum materiellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes? a) Der Unterschied Der Jubilar rügt am Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes als eines (abgeschwächten) Ausflusses des Einstimmigkeitspinzips, es weise dem Bestimmtheitsgrundsatz eine Funktion zu, die dem Kernbereichsschutz zukomme54. Das ist folgerichtig für jemanden, der davon ausgeht, dass es nicht um die Beteiligung Betroffener an der Regelung eigener Angelegenheiten, sondern um die Sicherung eines Individualbereichs gegen übermäßige Unterordnung unter die

__________ 49 50 51 52 53 54

Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 2. BGHZ 71, 53, 57 f.; 85, 350, 358. BGHZ 71, 53, 58; 85, 350, 355. BGHZ 71, 53, 61; 85, 350, 361. Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 14. Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 8 f.; ders., GesR (Fn. 1), S. 456 ff.

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Anforderungen des überindividuellen Zwecks Betrieb des Gesellschaftsunternehmens geht. Wer – wie hier – den Zweck der Personengesellschaft in der Befriedigung der koordinierten erwerbswirtschaftlichen Interessen ihrer Gesellschafter sieht, wird umgekehrt den Geltungsanspruch des Kernbereichsschutzes im Personengesellschaftsrecht als problematisch empfinden. An sich stehen Bestimmtheitsgrundsatz und Kernbereichsschutz nebeneinander: Der (materielle) Bestimmtheitsgrundsatz verschafft ein Mitgestaltungsrecht, der Kernbereichsschutz gewährt Abwehrrechte. Aber es gibt zwischen beidem einen Zusammenhang: Wer nur Vertragsänderungen hinnehmen muss, denen er (wenigstens antizipiert) zugestimmt hat, kann unmittelbar unzumutbare Eingriffe in seine Rechtsposition verhindern. Abwehrrechte braucht nur, wer sich grundsätzlich Fremdbestimmung gefallen lassen muss. Dass der Kernbereichsschutz trotz der Geltung des materiellen Bestimmtheitsgrundsatzes in das Personengesellschaftsrecht Eingang gefunden hat, erklärt sich aus dem Leerlauf der antizipierten Zustimmung, wenn man sie – wie die h. M. dies bisher tut – bereits durch die Aufnahme ellenlanger Kataloge mit der Mehrheitskompetenz unterliegenden Gegenständen in den Gründungsvertrag gewährleistet sieht55. Solche Kataloge sind schlichte Rituale, die in keiner Weise sicherstellen, dass die Gesellschafter sich beim Erwerb der Mitgliedschaft auch nur annähernd die Zumutungen vergegenwärtigen, die in den fraglichen Angelegenheiten auf sie zukommen können, ganz abgesehen davon, dass häufig – z. B. beim Mitgliedschaftserwerb von Todes wegen, aber nicht nur dann – nicht einmal Gelegenheit besteht, etwaige Vorbehalte zur Geltung zu bringen. Diese Einsicht rechtfertigt es freilich nicht, auf das Erfordernis einer – wenigstens antizipierten – Zustimmung aller Gesellschafter zu Vertragsänderungen zu verzichten56, sondern sollte dazu veranlassen, es ernster zu nehmen, insbesondere zu verlangen, dass, soweit die Angabe der Beschlussgegenstände die Tragweite noch nicht erkennen lässt, auch Angaben über die möglichen Beschlussinhalte gemacht werden. b) Schwächen des Kernbereichsschutzes Eine derartige Stärkung des materiellen Bestimmtheitsgrundsatzes empfiehlt sich auch deshalb, weil die Kernbereichslehre keineswegs die Bewunderung verdient, die ihr gelegentlich zuteil wird57. Dem Gesetzesrecht ist sie unbekannt. Das gilt für das Personengesellschaftsrecht und das Kapitalgesellschaftsrecht. Wohl gibt es gesetzliche Belastungsverbote (§§ 707 BGB, 53 Abs. 3 GmbHG, 180 Abs. 1 AktG). Für Personengesellschaften äußern sie sich in einem Verbot abstrakter Abbedingung, für (offene) Kapitalgesellschaften in einer Schranke für die Unterwerfung unter die Mehrheitskompetenz für Ver-

__________ 55 Kritisch schon R. Fischer in FS Barz, 1974, S. 33, 41; Wiedemann in FS H. Westermann, 1974, S. 585, 590. 56 So zuletzt wieder H. Heinrichs, Mehrheitsbeschlüsse bei Personengesellschaften, 2006, S. 80 ff. 57 Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 219.

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trags-(Satzungs-)änderungen58. Weitergehende Grenzen der Selbstverpflichtung im Personengesellschaftsrecht und der Unterwerfung unter die Mehrheitskompetenz im Kapitalgesellschaftsrecht sind nicht vorgesehen. Das ist insbesondere im Hinblick auf das Kapitalgesellschaftsrecht bemerkenswert. Denn die Kernbereichslehre hat der Sache nach schon in der aktienrechtlichen Rechtsprechung des ROHG eine Rolle gespielt. Im Anschluss an die seinerzeit vertretenen Sonderrechtstheorien59 nahm das ROHG an, es gebe einen mehrheitsfesten Kern der Mitgliedschaft60. Mit welchem Kriterium die Zugehörigkeit zu diesem Kern zu bestimmen war, blieb jedoch ungeklärt. So war in der Praxis Kern der Mitgliedschaft (Sonderrecht), was das ROHG in seiner Entscheidungspraxis des Kernbereichsschutzes für würdig befunden hatte. Auch das Schrifttum war wenig hilfreich. Sarkastisch ist bemerkt worden, es habe wohl so viele Sonderrechtstheorien gegeben wie Autoren, die sich dazu geäußert haben61. Schließlich geriet der Kernbereichsschutz in schwer lösbare Konflikte mit den Flexibilitätsanforderungen der unternehmenstragenden Kapitalgesellschaften. Vor diesem Hintergrund ist die viel gescholtene HiberniaEntscheidung des RG62 zu sehen, die der zunehmenden Kritik an den Sonderrechtstheorien nachgegeben und sich unter Hinweis auf die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft zur Zulässigkeit einer unbegrenzten Mehrheitsherrschaft in der AG bekannt hat. Die moderne Kernbereichslehre hat die Schwächen der alten Sonderrechtstheorien nicht überwunden. Wie seinerzeit das ROHG bestimmt heute der BGH dezisionistisch darüber, welche Rechtspositionen zum Kernbereich zählen. Lediglich der wesentlich längeren „Regierungszeit“ des BGH ist es zuzuschreiben, dass die Praxis heute über ein breiteres Fundament aus „sicheren Bestandteilen des Kernbereichs“63 verfügt. Geblieben ist auch der Konflikt mit den Flexibilitätsanforderungen unternehmenstragender Gesellschaften. Der BGH hat bereits mehrfach auf die gesellschaftsrechtliche Wunderwaffe, die Treuepflicht der Gesellschafter, zurückgreifen müssen, um zu verhindern, dass einzelne Gesellschafter durch Verweigerung ihrer Zustimmung unternehmenswirtschaftlich notwendige Veränderungen blockierten64. Wenn man – wie es das Postulat der Wirkungswiderspruchsfreiheit der Rechtsordnung nahe legt – durch das Beharren auf der (modifizierten) Einstimmigkeit von Vertragsänderungen im Personengesellschaftsrecht die Personengesellschaften für nicht mehr zu rationalen Kompromissen fähige Mitgliederzusammensetzungen sperrt, kommt man im Personengesellschaftsrecht ohne ein so problematisches Institut wie die Kernbereichslehre aus. Da die Mehrheitskompetenz nicht ex lege

__________ 58 Wiedemann (Fn. 48), S. 359 f. (Personengesellschaftsrecht: unverzichtbare, Körperschaftsrecht: unentziehbare Rechte). 59 Vgl. dazu Roitzsch, Der Minderheitenschutz im Verbandsrecht, 1981, S. 25 ff. 60 ROHGE 14, 354; 19, 141; 25, 259, 266. 61 Roitzsch (Fn. 59), S. 26. 62 RGZ 68, 235, 246; vgl. dazu Wiedemann (Fn. 48), S. 408 f. 63 Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1, 18 f. 64 BGHZ 44, 40, 41 f.; 64, 253, 257; 98, 276, 279; BGH NJW 1985, 972, 973; 1985, 974, 975; 1987, 952, 954; Goette (Fn. 28), S. 145, 146 f.

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eingreift, lassen sich Reichweite und Grenzen der Mehrheitsmacht abschließend durch das ernst genommene Erfordernis einer (antizipierten) Zustimmung der übrigen Gesellschafter zu den Maßnahmen der Mehrheit ermitteln. Schwerer fällt der Verzicht auf den Kernbereichsschutz, soweit – wie in der AG und der (offenen) GmbH – die grundsätzliche Mehrheitskompetenz für Vertrags-(Satzungs-)änderungen gesetzlich festgelegt ist. Zwar hat der Gesetzgeber im Aktienrecht in zahlreichen Einzelregelungen einen außergesetzlichen Kernbereichsschutz überflüssig gemacht65. Damit hat er aber zugleich der Hibernia-Entscheidung des RG eine Absage erteilt; er teilt allgemein nicht die Auffassung, dass die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft einen Schutz der Minderheit erübrigt. Dem ist jedenfalls zuzustimmen, soweit das Recht zum Ausscheiden nicht als kurzfristiges Austritts- und Abfindungsrecht, sondern als Recht zur Übertragung der Mitgliedschaft auf andere gewährleistet ist. Dabei verschärft sich das Schutzbedürfnis der Minderheit in der GmbH im Vergleich mit dem der Minderheit in der (Publikums-)AG noch, weil die Mehrheit nicht auf den Beteiligungsmarkt angewiesen ist. Wenn die Mehrheit die Rechtsstellung der Minderheit – z. B. durch Beschränkung des Stimmrechts auf eine Mindestbeteiligung oder durch Schmälerung des Gewinnbeteiligungsrechts – wertloser macht, dann beeinträchtigt sie die Funktionsfähigkeit des Selbstschutzes, den das Recht zum Ausscheiden idealiter garantiert, ohne dass dies in Form verschlechterter Aussichten auf neues Beteiligungskapital auf sie zurückschlägt. Inwieweit das anerkannte außerordentliche Austritts- und Abfindungsrecht des GmbH-Gesellschafters bei Fehlen einer zumutbaren Veräußerungsmöglichkeit66 diesem Selbstschutz doch noch zur Wirksamkeit verhelfen kann, ist offen. Weder das Schrifttum noch die Rechtsprechung haben es bisher als Alternative zum Kernbereichsschutz diskutiert. Soweit die GmbH wegen des Ausschlusses der Übertragbarkeit ihrer Geschäftsanteile im Innenverhältnis einer normtypischen Personengesellschaft gleichsteht, empfiehlt sich die analoge Anwendung von Personengesellschaftsrecht, d. h. nach der hier vertretenen Auffassung: die Begrenzung der Mehrheitsherrschaft durch den materiellen Bestimmtheitsgrundsatz anstatt durch den Schutz des Kernbereichs.

III. Das Beschlussmängelrecht in Personengesellschaft und GmbH 1. Die Statutenänderung in der Personengesellschaft zwischen Vertrag und Beschluss Für den Jubilar ist die Einsicht in die ausschließlich verbandsrechtliche Natur des Innenverhältnisses der Personengesellschaft Grund genug, das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht (§§ 241 ff. AktG) nicht nur (ergänzend) auf die Genossenschaft, die GmbH und den Verein67, sondern auch auf die Personengesellschaft analog anzuwenden. Als einzige rechtsgeschäftliche Voraussetzung

__________

65 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 467. 66 Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), S. 1065. 67 Ausführlich Reuter in MünchKomm.BGB, 5. Aufl. 2006, § 32 BGB Rz. 53 ff.

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fordert er, dass die Gesellschafter sich im Gesellschaftsvertrag für die Geltung des Mehrheitsprinzips entschieden haben68. Wer – wie hier – im Hinblick auf die steuerrechtliche und mitbestimmungsrechtliche Behandlung einen gesicherten besonderen personalen Bezug der Personengesellschaft postuliert und deshalb die Mehrheitskompetenz für Vertragsänderungen lediglich in Form der abgeschwächten Einstimmigkeit (antizipierte Zustimmung der Minderheit) akzeptiert, tut sich freilich schon schwer damit, das Vorliegen dieser Voraussetzung uneingeschränkt zu bejahen. Unabhängig davon ist als unzweifelhafte Besonderheit der Personengesellschaft selbst im Vergleich mit der GmbH zu beachten, dass die Gesellschafter trotz der Existenz eines nach dem Mehrheitsprinzip entscheidenden Organs Gesellschafterversammlung ihren Gesellschaftsvertrag einvernehmlich jederzeit und formlos wirksam ändern können. Man kommt also gar nicht umhin, „Statutenänderungen“ anzuerkennen, deren Mängel im Prinzip nach Vertragsrecht, genauer: wie die Mängel des Gründungsvertrags zu beurteilen sind69. Soweit die Mehrheitskompetenz erheblich wird, weil nicht alle Gesellschafter zustimmen, sind zwar beschlussrechtsspezifische Mängel zu berücksichtigen: Nicht geladene oder nicht rechtzeitig über die Beschlussgegenstände informierte Gesellschafter machen den Beschluss grundsätzlich mangelhaft. Aber auch dann fehlt es an der gesicherten formalrechtlichen Ordnung der Mehrheitsbildung, an die das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht anknüpft. Insbesondere ergibt sich daraus ein relatives Minus an „Richtigkeit durch Verfahren“, die ihrerseits erforderlich ist, um zu rechtfertigen, dass – wie im Aktienrecht – Mängel nur kurz befristet geltend gemacht werden können oder dass es gar bei einer erfolgreichen gerichtlichen Geltendmachung durch einzelne Gesellschafter zu einem für und gegen alle wirkenden Urteil kommt70. Gewiss ist bei vielköpfigen Gesellschaften verlässlich mit einer AG-analogen formalen Organisation der Mehrheitsbildung zu rechnen. Bei Gesellschafterzahlen im hohen zweistelligen oder gar dreistelligen Bereich ist eine einigermaßen korrekte Mehrheitsbildung gar nicht anders möglich, so dass das Problem konkurrierender informeller einvernehmlicher Statutenänderung und das Problem der Mehrheitsbildung ohne hinreichende Richtigkeit durch Verfahren entfallen. Es läge im Trend der Rechtsprechung, wenn sie dem von ihm geschaffenen Sonderrecht der Publikumspersonengesellschaft nach der Aufgabe des materiellen Bestimmtheitsgrundsatzes die analoge Anwendung des aktienrechtlichen Beschluss- und Beschlussmängelrechts hinzufügte. Schon jetzt akzeptiert sie bekanntlich seine Geltung kraft Statuts71. Zu begrüßen wäre das

__________ 68 Grundlegend Karsten Schmidt, AG 1977, 205 ff., 243 ff.; ders. in FS Stimpel, 1985, 217 ff., 239 f., 242 f.; ders., ZGR 2008, 1, 26 ff. Selbst auf die Einführung des Mehrheitsprinzips verzichtend M. Schwab, Das Prozessrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 446 ff. 69 Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, § 709 BGB Rz. 109. 70 M. Schwab (Fn. 68), S. 557. 71 So OLG Celle, NZG 2006, 225 (bestätigt durch BGH NZG 2007, 582). Vgl. auch Goette, Diskussionsbeitrag, in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2007, 2008, S. 47.

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freilich nicht. Hätten Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, statt den Publikumspersonengesellschaften durch Rechtsfortbildung das Leben zu erleichtern, auf den hinderlichen Elementen des Personengesellschaftsrechts beharrt, so hätte der volkswirtschaftliche Widersinn von Unternehmen, die „planmäßig (Buch-)Verluste erwirtschaften“, vielleicht nicht das Ausmaß angenommen, das er mit der Folge der Vernichtung von Milliarden tatsächlich angenommen hat72. Aber ein Versuch, das Rad zurückzudrehen, verspricht auch hier wenig Erfolg. Im normalen Personengesellschaftsrecht sollte es jedenfalls dabei bleiben, dass die Mängel von Statutenänderungen genauso geltend zu machen sind wie Mängel des Gründungsvertrags und dass sonstige Beschlussmängel analog beurteilt werden. Auch der Vereinbarung des aktienrechtlichen Beschluss- und Beschlussmängelrechts sollte man angesichts der damit verbundenen Verkürzung des Rechtsschutzes für die Gesellschafter (Befristung für den Kläger, keine Beteiligung andersdenkender Gesellschafter auf Beklagtenseite) zurückhaltend begegnen. Soweit dadurch das Leben von Vielpersonengesellschaften erschwert wird, entspricht das der (steuerrechtlichen, mitbestimmungsrechtlichen) Behandlung der Personengesellschaft als einer Gesellschaft, die sich im Verhältnis zu den Kapitalgesellschaften durch einen größeren personalen Bezug des Anteilseigentums auszeichnet. 2. Die Statutenänderung in der GmbH Die GmbH ist der analogen Anwendung des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts deshalb eher zugänglich als das Personengesellschaftsrecht, weil § 53 GmbHG eine Statutenänderung durch einvernehmliche Änderung des Gesellschaftsvertrags ausschließt. Ein Teil der Literatur, zu dem der Jubilar freilich nicht gehört, verlangt sogar zwingend einen Versammlungsbeschluss; § 48 Abs. 2 GmbHG soll nicht anwendbar sein73. Vor diesem Hintergrund ist die Analogie zu den §§ 241 ff. AktG grundsätzlich zu billigen, zumal man ihr mit guten Gründen bereits gewohnheitsrechtliche Geltung zubilligen kann. Aber die grundsätzliche Billigung lässt offen, ob nicht doch Ausnahmen anzuerkennen sind. Bereits der Ansatz des Jubilars klammert die GmbH aus, wenn und soweit nach dem Gesellschaftsvertrag einstimmig entschieden werden muss. Das hat auch dann zu gelten, wenn ein Gesellschafter ausnahmsweise nach § 47 Abs. 4 GmbHG wegen Befangenheit vom Stimmrecht ausgeschlossen ist. Der Fall BGHZ 101, 113 ff., in dem der BGH § 242 BGB hat bemühen müssen, um zu verhindern, dass in einer Zweimann-GmbH ein Gesellschafter den Geschäftsanteil des anderen mangels rechtzeitiger Anfechtungsklage grundlos einziehen kann, hätte auf dieser Basis deutlich überzeugender gelöst werden können74. Die Ablehnung der analogen Anwendung der §§ 241 ff. AktG für die Personengesellschaft legt es an sich nahe, für die GmbH entsprechend zu urtei-

__________ 72 Ausführlicher Reuter in FS Mestmäcker, 1996, S. 271, 279 f., 281 f. 73 BGHZ 15, 328; Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 53 GmbHG Rz. 17; Zimmermann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 53 GmbHG Rz. 36. 74 Vgl. Reuter in MünchKomm.BGB (Fn. 67), § 32 BGB Rz. 59.

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len, soweit nach der hier vertretenen Auffassung wegen Unübertragbarkeit des Anteilsbesitzes die Mehrheitskompetenz nur nach Maßgabe des materiellen Bestimmtheitsgrundsatzes (antizipierte Zustimmung) zulässig ist. Indessen lässt sich eine solche Einschränkung der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung im GmbH-Recht angesichts der Dominanz der „geschlossenen“ GmbH nicht durchsetzen: Der Grundsatz würde dadurch zur seltenen Ausnahme. Ein Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung des Gleichartigen liegt in dieser Ungleichbehandlung von Personengesellschaft und GmbH nicht. Die stärkere gesetzliche Institutionalisierung der Willensbildung nach dem Mehrheitsprinzip, die das GmbH-Recht im Vergleich mit dem Personengesellschaftsrecht kennzeichnet, rechtfertigt den Unterschied.

IV. Schluss Die Herausgeber haben die Festschrift für Karsten Schmidt thematisch auf das Handels-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht begrenzt. Das ist korrekt, denn auf diesen Gebieten hat der Jubilar sich ganz besonders ausgezeichnet. Doch bleibt daran zu erinnern, dass es eine Reihe weiterer Fächer gibt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Kartellrecht, Bankrecht, Vereins- und Stiftungsrecht, Prozessrecht und Seerecht –, deren Vertreter ebenfalls Anlass haben, Karsten Schmidt als einen ihrer Großen zu ehren. Auch auf diesen Gebieten hat der Jubilar sich nämlich nicht nur „betätigt“, sondern maßgeblich zur dogmatischen Durchdringung und sachlichen Weiterentwicklung beigetragen. Nicht nur deshalb ist es im Fall Karsten Schmidt mit den üblichen Prädikaten, mit denen man angesehene Kollegen zu belegen pflegt, wie dem, sie gehörten zu den führenden Vertretern ihres Fachs o. ä., nicht getan. Vielmehr ist der Jubilar eine singuläre Erscheinung der jüngeren deutschen Rechtswissenschaft, einer ihrer ganz Großen, einer von der Art, die die wissenschaftliche Diskussion durch neue Ideen herausfordert und dadurch vor selbstgenügsamem Beharren auf Althergebrachtem bewahrt. Wer sich auf ihn einlässt, lernt viel, auch dann, wenn er einmal meint, nicht zustimmen zu können.

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Rechtsfragen der Scheinsozietät Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Scheinsozietät: Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen III. Die Scheinsozietät als „Berufsausübungsgesellschaft“ 1. Ansätze im Schrifttum 2. Die Position der Rechtsprechung 3. Eigene Bewertung

V. Zurechnung und Haftung VI. Insbesondere: Zur (analogen) Anwendung des § 130 HGB 1. Zum Regelungszweck des § 130 Abs. 1 HGB 2. Anwendung auf den „beitretenden“ Scheinsozius? VII. Zusammenfassung

IV. Zum Rechtsscheintatbestand

I. Einführung Der Jubilar, dem die folgenden Überlegungen (auch) in Erinnerung an viele Gespräche und Diskussionen in der Zeit seines Wirkens an der Bonner Fakultät gewidmet sind, hat zur Fortentwicklung des Rechts der Gesellschaft bürgerlichen Rechts durch seine anregenden und vielschichtigen Studien in mannigfacher Weise beigetragen1 und unser Denken über diese Gesellschaftsform wesentlich bereichert, zumal es zu den herausragenden Charakteristika im wissenschaftlichen Wirken des Jubilars gehört, eigenständige Positionen zu begründen und über Jahrzehnte offensiv – und meist mit Erfolg – zu entfalten, statt immer nur der Rechtsprechung des II. Senats in ihren Entwicklungen und Wendungen zu folgen. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts tritt uns in der Lebenswirklichkeit in vielfältigen „Anschauungstypen“2 entgegen, von denen eine – „Die Sozietät als Sonderform der BGB-Gesellschaft“3 – erst jüngst wieder das besondere Interesse des Jubilars gefunden hat. Der Beitrag entwirft ein „Charakterbild“ der Sozietät als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (im Folgenden: GbR), wobei – angesichts der Wandlungen in der Rechtsprechung der jüngeren Zeit naheliegend – die Haftungsfragen und -risiken im Detail ausgelotet und – mit Blick

__________ 1 Karsten Schmidt, Gesellschaft bürgerlichen Rechts – Welche Änderungen und Ergänzungen sind im Recht der BGB-Gesellschaft geboten?, in Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. III, 1983, S. 413; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, §§ 58–60; zur Rechtsfähigkeit der GbR s. den Rückblick bei Karsten Schmidt, NJW 2001, 993. 2 So der Ausdruck bei Karsten Schmidt, Gutachten (Fn. 1), S. 450 ff.; ausführliche Darstellung auch bei Ulmer in MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2004, vor § 705 BGB Rz. 34 ff. 3 Karsten Schmidt, NJW 2005, 2801.

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auf die Praxis – deren Bewältigung durch Versicherung durchleuchtet werden. Dies wird verbunden mit einer Warnung: Was (im Hinblick auf die Versicherbarkeit) unbedingt vermieden werden müsse, sei – vor allem bei angestellten oder ausgeschiedenen Sozien – der Tatbestand der Scheinsozietät4. Diese Rechtsfigur – im Schrifttum5 auch bisweilen als „Außensozietät“ bezeichnet – hat gerade in jüngster Zeit eine Reihe von Fragen aufgeworfen, denen im Folgenden näher nachgegangen werden soll.

II. Die Scheinsozietät: Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen Unter dem Begriff der Scheinsozietät werden herkömmlich Sachverhalte erfasst, in denen durch die handelnden Personen der Eindruck einer bestehenden (Personen-)Gesellschaft, also die Existenz einer GbR, einer OHG oder KG erweckt wird6, eine solche Gesellschaft aber objektiv nicht (auch nicht als fehlerhafte Gesellschaft7) existiert. Der Begriff der Scheinsozietät wird dabei – begrifflich nicht ganz sauber – auch verwendet im Zusammenhang mit dem Scheinsozius, der einer existierenden GbR nicht (auch nicht fehlerhaft) beigetreten ist, aber den Anschein erweckt hat, Gesellschafter der Sozietät zu sein8. Während der Tatbestand der Scheingesellschaft sich in der Rechtswirklichkeit eher selten verwirklichen mag9, scheint dies für den Bereich der Rechtsberatung anders zu sein. Da hier die Berufsordnung für Rechtsanwälte in § 8 BORA einen Hinweis auf eine gemeinschaftliche Berufsausübung auch dann zulässt, wenn die Anwälte in einem Anstellungsverhältnis oder als freie Mitarbeiter tätig sind10, kann durch eine entsprechende Gestaltung des Briefkopfs leicht der Eindruck einer existierenden Sozietät in Fällen hervorgerufen werden, in denen Anwälte als Angestellte für den Träger der Kanzlei arbeiten und insoweit gerade kein Gesellschaftsverhältnis besteht11. Insoweit mögen dann – je nach Fallgestaltung – die Tatbestände einer Scheingesellschaft (Scheinsozietät) oder einer Scheingesellschafterstellung (Scheinsozius) gegeben sein. Der Tat-

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4 Karsten Schmidt, NJW 2005, 2801, 2809. 5 Z. B. Hartung in Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 2. Aufl. 2004, § 59a BRAO Rz. 20 (wo der Begriff der „Scheinsozietät“ zusätzlich in die Klammer gesetzt ist); Eylmann in Henssler/Prütting (ebd.), § 8 BORA Rz. 2 („Außen- oder Scheinsozietät“); am weitestgehenden Henssler in Henssler/Prütting (ebd.), § 32 BORA Rz. 16 („Außensozietät, die vielfach auch missverständlich als Sozietät kraft Rechtsscheins bezeichnet wird“). 6 Dazu statt aller Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB, 2. Aufl. 2005 ff., Anh. § 5 HGB Rz. 9 sowie § 105 HGB Rz. 258. 7 Zur Unterscheidung s. nur Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), § 105 HGB Rz. 231. 8 BGH, NJW 2007, 2490, 2492 (im Tatbestand wird klargestellt, dass eine wirksame Gesellschaft bürgerlichen Rechts bestand und nur der für die Gesellschaft handelnde Anwalt der Gesellschaft nicht wirksam beigetreten, also ein Scheinsozius, war). 9 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), Anh. § 5 HGB Rz. 9. 10 Vgl. auch § 16 Abs. 7 Satz 1 der Berufsordnung der Bundessteuerberaterkammer (BOStB); dazu BGH, DB 2001, 381, 382. 11 Z. B. BGH, NJW 1999, 3040; OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619 = NJW 2006, 2862; OLG Celle, NJW 2006, 3431, 3432.

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bestand einer Scheinsozietät mag sich durch ein entsprechendes Auftreten nach außen aber auch dann verwirklichen, wenn Anwälte in Form einer Anwaltsbürogemeinschaft kooperieren, ohne zu einem gemeinsamen Zweck zusammen zu arbeiten; Bürogemeinschaften ohne gesellschaftsrechtliche Grundlage mögen sich etwa in der Weise etablieren, dass Bürokräfte oder aber Betriebsmittel (und Räume) zur Nutzung überlassen werden12.

III. Die Scheinsozietät als „Berufsausübungsgesellschaft“ Auch wenn die Scheinsozietät bzw. der Scheinsozius verbreitet als Ausprägung der allgemeinen Rechtsscheingrundsätze verstanden werden13, zeigen sich im Schrifttum Ansätze, die die Schein- bzw. Außensozietät ausdrücklich oder wenigstens im Ergebnis wie eine Sonderform der Sozietät – eine Außengesellschaft ohne gesellschaftsrechtliche Beziehungen im Inneren – deuten wollen. 1. Ansätze im Schrifttum Eine solche Position wird vor allem im Zusammenhang mit den durch das berufliche Standesrecht zugelassenen Formen der anwaltlichen Zusammenarbeit vertreten. So heißt es in § 8 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA), dass auf eine gemeinschaftliche Berufsausübung auch dann hingewiesen werden kann, wenn sie in Form eines Anstellungsverhältnisses oder einer freien Mitarbeit erfolgt. Und § 9 Abs. 1 BORA ergänzt, dass die in beruflicher Zusammenarbeit tätigen Personen für ihre Verbindung auch eine Kurzbezeichnung verwenden können. § 10 Abs. 1 Satz 4 BORA geht im übrigen davon aus, dass Angestellte oder als freie Mitarbeiter beschäftigte sozietätsfähige Personen aufgeführt werden können und – wenn ihre Namen in der Kurzbezeichnung Verwendung finden – aufgeführt werden müssen. Im Hinblick auf diese (auf § 59b Abs. 1 und 2 BRAO gestützten Satzungs-)Regelungen wird die Ansicht vertreten, dass bei Auftreten mehrerer Anwälte einer Kanzlei ohne Hinweis auf die internen Rechtsverhältnisse (freie Mitarbeit oder Angestelltenverhältnis) von einer „zumindest“ nach außen hin bestehenden BGB-Gesellschaft auszugehen sei; dasselbe gelte, wenn der Kanzleibezeichnung der Zusatz „Sozietät“ zugefügt werde14. Der Sache nach wird hier von einer Außen-GbR ohne gesellschaftliche Strukturen im Innenverhältnis ausgegangen, wobei das Auftreten im Rechtsverkehr bereits für das Vorliegen einer GbR ausreichen soll. In dieselbe Richtung zielt eine Position, die die Außensozietät, in der Kanzleiinhaber und Angestellte bzw. freie Mitarbeiter zusammenarbeiten, als eine im Außenverhältnis tätige „Berufsausübungsgesellschaft“ deutet15, wenn sie als Sozietät in Erscheinung tritt: Eine solche Berufsausübungsgesellschaft

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12 Dazu von der Recke in Büchting/Heussen (Hrsgr.), Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 9. Aufl. 2007, N 6 Rz. 135. 13 So Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), Anh. § 5 HGB Rz. 9; Hartung in Büchting/Heussen (Fn. 12), N 6 Rz. 50. 14 Eylmann in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 8 BORA Rz. 3. 15 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 32 BORA Rz. 16.

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sei auch dann existent, wenn entsprechende gesellschaftliche Strukturen im Innenverhältnis überhaupt nicht oder nicht zwischen allen zusammen arbeitenden Anwälten existierten. Konsequenz dieser Position ist die Folgerung, dass die Bezeichnung der Außensozietät als „Sozietät kraft Rechtsscheins“ missverständlich sei16. Der Sache nach wird damit die Schein-GbR als GbR ohne gesellschaftsrechtliches Innenverhältnis qualifiziert. 2. Die Position der Rechtsprechung In der Rechtsprechung lassen sich keine in der Sache so weit gehenden Aussagen nachweisen17. Vielmehr ist in den Urteilen im Gegenteil immer von der Anwendung der Rechtsscheingrundsätze18 bzw. von einer Scheinsozietät die Rede19. Allerdings fällt auf, dass die allgemeinen Rechtsscheingrundsätze keineswegs umfassend geprüft werden, sondern allein das Auftreten nach Außen als Rechtsscheintatbestand zu genügen scheint, um von der Stellung eines Scheinsozius auszugehen. Ob der Dritte auf den Rechtsschein vertrauen durfte und ob der Rechtsschein kausal für das Handeln des Dritten geworden ist, wird nicht (immer) angesprochen20. Dies gilt etwa für ein Urteil des OLG Saarbrücken, worin die Frage einer analogen Anwendung des § 130 Abs. 1 HGB auf den Scheinsozius abgehandelt wird, nicht aber die vorrangigen Fragen der Schutzwürdigkeit des Dritten sowie der Kausalität des gesetzten Rechtsscheins für dessen Handeln21. Im Urteil des BGH vom 3.5.2007 wird für das rechtsgeschäftliche Handeln eines Scheinsozius gleichfalls nur das Auftreten nach außen thematisiert, ohne dass die Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung im Übrigen erörtert würden22. Den Tendenzen zu einer Fortentwicklung der „Scheinsozietät“ zu einer eigenständigen, wie eine BGB-Gesellschaft zu behandelnden Gesellschaftsform wird indessen durch das (zum Teil vom Schrifttum nicht hinreichend zur Kenntnis

__________ 16 Henssler in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 32 BORA Rz. 16. 17 Soweit Eylmann in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 8 BORA Rz. 3 Fn. 5 auf das Urteil des OLG Hamm, NJW 1994, 868 verweist, ist dies zumindest irreführend, weil das Gericht unabhängig vom Auftreten der Anwälte von der Existenz einer GbR ausgegangen ist. 18 Z. B. OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619 (durch Briefkopf gesetzten Rechtsschein; S. 620: Scheingesellschafter). 19 BGH, NJW 2007, 2490, 2492; BGH, NJW 2001, 1056, 1061 („Haftung kraft Rechtsscheins“); BGH, NJW 1999, 3040, 3041; BGH, NJW 1996, 2308, 2309, 2310; OLG Celle, NJW 2006, 3431, 3432 („Anschein einer Sozietät“). 20 Dies verleitet dazu, die Rechtsprechung dahingehend zu interpretieren, dass „Scheinsozien wie echte Sozien“ haften, ohne dass es offenbar auf die Voraussetzungen der Rechtsscheingrundsätze im Einzelnen noch ankommen soll; Eylmann in Henssler/ Prütting (Fn. 5), § 8 BORA Rz. 2 mit Fn. 3. 21 OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619. 22 BGH, NJW 2007, 2490, 2492 Rz. 20. Der Leitsatz 1 des Urteils erweckt auf den ersten Blick zudem den Eindruck, dass die Rechtsscheingrundsätze auch bei deliktischem Handeln von Bedeutung werden sollten. Indessen geht es insoweit nur um die Qualifikation eines „Scheinsozius“ als „verfassungsmäßig berufener Vertreter“ i. S. v. § 31 BGB bei einer real existierenden BGB-Gesellschaft.

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genommene) Urteil des BGH vom 12.10.2000 eine Absage erteilt. Hier heißt es mit klaren Worten: „Hinter dem Begriff der „Scheinsozietät“ verbirgt sich nicht etwa eine Sonder- oder Parallelform der Sozietät, vielmehr dient dieser Terminus allein der schlagwortartigen Bezeichnung einer bestimmten, eine Haftung auslösenden Konstellation. Die mit diesem Schlagwort abgerufene Rechtsprechung des BGH findet sich einzig darin, dass im Interesse der Mandantschaft um deren Vertrauensschutzes willen unter Haftungsgesichtspunkten allein auf den erweckten Anschein angestellt wird, während die wahren Rechtsverhältnisse in die Bedeutungslosigkeit verwiesen werden.“23 3. Eigene Bewertung In der Sache ist zunächst den Aussagen des BGH-Urteils vom 12.10.2000 zu folgen: Aus dem Umstand, dass Anwälte nach außen den Anschein erwecken, als seien sie Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, folgt nicht, dass eine solche Gesellschaft als existent angenommen werden kann. Der Rechtsschein darf nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass die standesrechtlichen Regelungen selbst nichts anderes besagen: Die §§ 8, 9, 33 Abs. 1 BORA gehen zwar ausdrücklich davon aus, dass freie Mitarbeiter und angestellte Anwälte auf den Briefkopf genommen werden können, doch kann und will diese – berufsrechtliche – Vorgabe nichts an den rechtlichen Verhältnissen zwischen den Anwälten ändern. § 8 BORA unterscheidet ausdrücklich zwischen der Kundgabe der „gemeinschaftlichen Berufsausübung“ und dem der gemeinschaftlichen Berufsausübung zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zwischen den sozietätsfähigen Anwälten, die in einer Sozietät (BGB-Gesellschaft; Partnerschaft; GmbH; AG), in einer auf Dauer angelegten oder bloß durch tatsächliche Ausübung verfestigten Kooperation (Bürogemeinschaft)24 oder „in sonstiger Weise (Anstellungsverhältnis, freie Mitarbeit)“ bestehen kann. Daraus folgt, dass die berufsrechtlichen Regelungen das Auftreten der Anwälte im Rechtsverkehr als Scheinsozietät ermöglichen wollen, ohne dass dieses Auftreten seinerseits Rückwirkungen auf das der Zusammenarbeit zugrunde liegende Rechtsverhältnis haben müsste. Die Unterscheidung zwischen dem berufsrechtlich zulässigen Auftreten von angestellten Anwälten als „Sozien“ und dem der Zusammenarbeit zugrundeliegenden Rechtsverhältnis ist auch für das Urteil des BGH vom 25.4.1996 prägend, in dem der gesellschaftsrechtliche Zusammenschluss und das „Außensozietätsverhältnis“, das eine Haftung nach Rechtsscheingrundsätzen auslösen kann, einander gegenübergestellt werden25. Das Urteil mag freilich insoweit

__________ 23 BGH, DB 2001, 381, 382. Angesprochen ist hier allerdings die Frage einer Gleichstellung einer „Scheinsozietät“ mit einer GbR-Sozietät für Zwecke des Berufsrechts (Versicherungspflicht; Berufsregister für Wirtschaftsprüfer), nicht die Anwendung der Rechtsscheingrundsätze im rechtsgeschäftlichen Verkehr. 24 Eylmann in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 8 BORA Rz. 4. 25 BGH, NJW 1996, 2308, 2310.

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irritieren, als es im Hinblick auf das Vorliegen einer irreführenden Werbung gem. § 3 UWG a. F. die Aufnahme von angestellten Anwälten in den Briefkopf einer Anwaltskanzlei behandelt und hierbei die Termini „Sozius“ und „Sozietät“ auch auf die heute in § 8 BORA umschriebenen anderen Formen berufsrechtlicher Zusammenarbeit erstreckt und insoweit den Begriff der „Sozietät“ von seiner gesellschaftsrechtlichen Grundlage ablöst. Dass aber weiterhin zwischen Rechtsscheinsozietät („Außensozietätsverhältnis“) und Anwalts-GbR zu unterscheiden sein soll, wird mit den folgenden Worten klargestellt: „Entscheidend ist vielmehr, dass die Sozien sich im Innenverhältnis ermächtigt und verpflichtet haben, den Anwaltsvertrag mit Wirkung für und gegen alle Sozietätsmitglieder abzuschließen.“26 Die Rechtsprechung des BGH erteilt damit der Vorstellung einer „nach außen“ hin bestehenden GbR zwischen Anwälten, deren Rechtsverhältnis zueinander nicht gesellschaftsrechtlich strukturiert ist, eine Absage. Und dies zu Recht. Die Vorstellung einer GbR-Außengesellschaft ohne Vorliegen gesellschaftsrechtlicher Strukturen im Innenverhältnis ist mit den §§ 705 ff. BGB unvereinbar. Gewiss geben die §§ 705 ff. BGB den Gesellschaftern weitestgehende Möglichkeiten, das Innenverhältnis nach ihren Vorstellungen zu gestalten, – etwa die Geschäftsführung auf einzelne oder einen Gesellschafter zu konzentrieren (vgl. § 710 BGB). In einem solchen Fall stehen jedoch den von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschafter als Ausfluss der Gesellschafterstellung ein im Umfang des § 716 Abs. 2 BGB unentziehbares Kontrollrecht zu. Schon von daher erscheint es zwingend geboten, auch für das Innenverhältnis zwischen einer GbR (und sei es auch mit Gesellschaftern „erster und zweiter Klasse“) einerseits und hierarchisch strukturierten Arbeitsverhältnissen andererseits streng zu unterscheiden. Angestellte Anwälte oder freie Mitarbeiter sind aber nicht als Gesellschafter einer Anwalts-GbR anzusehen27.

IV. Zum Rechtsscheintatbestand Es entspricht der überkommenen Rechtsprechung, dass Rechtsanwälte, zwischen denen keine Sozietät (sondern etwa nur ein Anstellungsverhältnis) besteht, die aber nach außen hin den Anschein einer Sozietät erwecken, sich an dem von ihnen gesetzten Rechtsschein festhalten lassen müssen, dass der einzelne handelnde Rechtsanwalt sie sämtlich vertritt28. Diese Rechtsprechung hat ihre Relevanz auch insoweit behalten, als die Sozietät heute als rechtsfähige (Außen-)Gesellschaft zu behandeln ist29; der Rechtsscheintatbestand und das zurechenbare Verhalten muss sich dabei auf (möglicherweise) dreierlei be-

__________ 26 BGH, NJW 1996, 2308, 2310. 27 Für den Typus der Bürogemeinschaft ist es nicht ausgeschlossen, dass eine BGBGesellschaft im Hinblick auf die Anmietung von Räumen und die Beschäftigung von Personal, nicht aber für die Rechtsberatung besteht; Ulmer in MünchKomm.BGB (Fn. 2), vor § 705 BGB Rz. 39. 28 BGH, DB 2001, 380, 381. 29 BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056.

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ziehen: auf die Existenz einer Sozietäts-GbR, auf die Zugehörigkeit des handelnden Anwalts als Gesellschafter zu dieser GbR und die Zugehörigkeit des in Anspruch genommenen Anwalts zur GbR. Bei einer existierenden Sozietät ist für die Haftung der Sozietät als rechtsfähiger Gesellschaft (und damit der Gesellschafter gem. § 128 HGB in analoger Anwendung30) ein der GbR zurechenbarer Rechtsschein zu verlangen, wonach der handelnde Anwalt als Sozius und damit als vertretungsberechtigt anzusehen ist. Der BGH hat hierfür zuletzt wieder auf die Grundsätze der Duldungs- und Anscheinsvollmacht verwiesen31. Geht es nur um die Haftung des Scheinsozius für Verbindlichkeiten, die wirksam für die Sozietät begründet worden sind, bedarf es eines dem Scheinsozius zurechenbaren Verhaltens, aus dem der Rechtsverkehr auf seine Gesellschafterstellung schließen kann. Für die Existenz einer (Schein-)Sozietät wie auch für die Zugehörigkeit des handelnden und des in Anspruch genommenen Anwalts zur Sozietät ist das Auftreten der Personen im Rechtsverkehr entscheidend. Hier kann insbesondere durch ein gemeinsames Praxisschild, durch Briefbögen, Stempel usw. der Anschein einer Sozietät bzw. der Zugehörigkeit zu einer Sozietät geweckt werden32. Da es sich um die Setzung eines Rechtsscheintatbestands handelt, kommt es entscheidend darauf an, wie die angesprochenen Verkehrskreise den jeweils gesetzten Rechtsscheintatbestand verstehen dürfen. Hierzu hat der BGH etwa für den Briefkopf einer ARGE geurteilt, dass der baugewerbliche Rechtsverkehr hinsichtlich der Auflistung von Funktionsbezeichnungen in einem Briefkopf („technische Geschäftsführung …“; „kaufmännische Geschäftsführung …“; „Bauleitung …“) eher an die Benennung der Gesellschaftsorgane in einer körperschaftlich organisierten Arbeitsgemeinschaft als an die Benennung der Gesellschafter der ARGE denke33. Im Hinblick auf die Nennung eines Anwalts im Briefkopf einer Sozietät hat der Jubilar gegenteilig geurteilt34. Bei der Verwendung von Briefköpfen durch eine Rechtsanwaltskanzlei wird man zunächst auf die konkrete Ausgestaltung im Einzelfall abzustellen haben35: Werden im Briefkopf mehrere Anwälte genannt, dabei aber auf ein Anstellungsverhältnis oder auf die Position als freier Mitarbeiter hingewiesen, wird der Rechtsschein einer Gesellschafterstellung (oder gar der Existenz einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts) von vorneherein vermieden. In diese Richtung zielen Judikate, die von einem Scheinsozius oder einer Scheinsozietät (nur) ausgehen wollen, wenn es an einem klärenden Hinweis auf ein Angestelltenverhältnis im Briefkopf fehlt36.

__________ 30 BGH, NJW 2001, 1056. 31 BGH, NJW 2007, 2490, 2492. 32 BGH, DB 2001, 380, 381; BGH, NJW 1999, 3040, 3041; OLG Celle, NJW 2006, 3431, 3432; OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619. 33 BGHZ 146, 341, 359 = NJW 2001, 1056, 1061. 34 Karsten Schmidt, NJW 2005, 2801, 2809 Fn. 95. 35 BGH, NJW 1996, 2308, 2310. 36 OLG Celle, NJW 2006, 3431, 3432; OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619, 619.

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Indessen mag man sich fragen, ob nicht die bereits angesprochenen standesrechtlichen Vorgaben in den §§ 8, 9 (und 33 Abs. 1) BORA der Annahme entgegenstehen, dass die in einem Briefkopf oder einem Büroschild aufgeführten Anwälte als Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts angesehen werden können: Wenn berufsrechtlich auf die gemeinschaftliche Berufsausübung auch dann hingewiesen werden darf, wenn die Anwälte bloß in einer Kooperation, einem Angestelltenverhältnis oder gar im Wege der freien Mitarbeit zusammenarbeiten, so mag die Folgerung nahe liegen, dass der Rechtsverkehr bei Nennung dieser Personen im Briefkopf eben gerade nicht auf eine Gesellschafterstellung schließen darf. In diese Richtung deutet auch ein Urteil des OLG München, wonach angesichts der weit verbreiteten Aufnahme von freien Mitarbeitern und angestellten Anwälten in den Briefkopf von Kanzleien die Annahme, der Verkehr erwarte, dass jeder auf dem Briefkopf aufgeführte Anwalt als Gesellschafter der Sozietät angehöre, nicht (mehr) gerechtfertigt sei37. Dem steht freilich die Rechtsprechung des BGH mit der Aussage entgegen, wonach bei gemeinsamem Briefbogen oder Praxisschild der Anschein einer Sozietät und einer Zugehörigkeit des genannten Anwalts zur Sozietät geweckt werde38. Der BGH-Rspr. ist im Ergebnis jedenfalls insoweit zu folgen, als aus den standesrechtlichen Regelungen, die eine Information über die berufliche Zusammenarbeit ermöglichen wollen, nicht auf das Nichtvorhandensein entsprechender Verkehrserwartungen geschlossen werden kann. Die §§ 8, 9, 33 Abs. 1 BORA besagen nämlich nichts Näheres dazu, ob und in welcher Form die von der Rechtsprechung verlangten Klarstellungen zur Vermeidung der Rechtsscheinhaftung vorgenommen werden müssen. Denn letztlich geht es diesen berufsrechtlichen Normen allein darum, die Grenzen irreführender Werbung abzustecken39. Alles läuft damit auf die Frage zu, ob im Rechtsverkehr Erwartungen dahingehend bestehen, dass die auf dem Briefkopf genannten Anwälte allesamt als Gesellschafter einer GbR anzusehen sind, und bejahendenfalls, ob solche Erwartungen auch berechtigt sind. Auf den ersten Blick liegt es nahe, hinsichtlich solcher (zu vermutender) Verkehrserwartungen zwischen den Briefköpfen von Großkanzleien, bei denen eine Vielzahl von Anwälten aufgeführt werden, und den Briefköpfen von Kanzleien mit einer „überschaubaren“ Anzahl von Anwälten zu unterscheiden: Werden auf einem Briefkopf in vielen Spalten eine unüberschaubare Anzahl von Anwälten aufgeführt, liegt die Vermutung nahe, dass neben den Gesellschaftern auch die angestellten Anwälte aufgeführt werden; anders ist der Eindruck, wenn nur einige wenige Anwälte auf dem Briefkopf stehen. Indessen steht zu vermuten, dass hinsichtlich der Verkehrsanschauung feste Vorstellungen wohl nicht bestehen. Dies erlaubt dann eine Normativierung des Rechtsscheintatbestands dahingehend, dass der Rechtsverkehr berechtigter Weise von einer Gesellschafterstellung aller auf dem

__________ 37 OLG München, BB 2001, 592, 592, 593; s. a. Langenkamp/Jaeger, NJW 2005, 3238. 38 BGH, DB 2001, 381, 381. 39 Eylmann in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 8 BORA Rz. 1.

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Briefkopf (oder dem Büroschild) aufgeführten Anwälte ausgehen darf, solange nicht durch entsprechend klärende Hinweise oder Gestaltung des Briefkopfs gegenteilige Schlüsse gezogen werden können.

V. Zurechnung und Haftung Sind die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Rechtsscheintatbestands (Rechtsscheinsozietät; Rechtsscheinsozius) gegeben, kann das Handeln des „Gesellschafters“ einer Scheinsozietät bzw. des Scheingesellschafters einer existierenden GbR „nach den Grundsätzen“ der Duldungs- und Anscheinsvollmacht der Gesellschaft zugerechnet werden40. Das bedeutet im einzelnen: Soweit eine GbR nicht existiert, kommt eine Haftung der einzelnen Anwälte über § 128 HGB (in analoger Anwendung) nur in Frage, soweit sie jeweils für sich in zurechenbarer Weise den Rechtsschein einer existierenden Gesellschaft bürgerlichen Rechts und ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft gesetzt oder gegen einen durch die anderen Anwälte insoweit gesetzten Rechtsschein nicht pflichtgemäß vorgegangen sind41. Die Schutzwürdigkeit des Dritten, die bei positiver Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis von der realen Rechtslage fehlt, ist ebenso vonnöten wie die Kenntnis des Dritten vom Rechtsscheintatbestand (Scheinsozietät; Zugehörigkeit des Anwalts zu dieser Sozietät) und die Kausalität dieses Rechtsscheintatbestands für das rechtsgeschäftliche Handeln des Dritten42. Bei einer existierenden GbR ist das Handeln eines Scheinsozius der Gesellschaft zuzurechnen, wenn die vertretungsberechtigten Gesellschafter den Rechtsschein für die Soziusstellung (etwa durch die Gestaltung des Briefkopfes oder Büroschilds) veranlasst haben oder gegen das Auftreten des Scheinsozius als Sozius pflichtwidrig nicht vorgegangen sind43. Auch hier gilt, dass in jedem Fall die Schutzwürdigkeit des Dritten, dessen Kenntnis vom Rechtsscheintatbestand und ein Dispositionszusammenhang44 zwischen Rechtsscheintatbestand und rechtsgeschäftlichem Handeln gegeben sein müssen, damit die Sozietät durch das Handeln des Scheinsozius verpflichtet wird. Konsequenz des zurechenbaren Handelns des Scheinsozius ist die Haftung der übrigen Gesell-

__________ 40 BGH, NJW 2007, 2490, 2492. 41 Zur Prüfung des Rechtsscheintatbestands und der Rechtsfolgen: Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), Anh. § 5 HGB Rz. 16 ff.; ders., Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 10 VIII 3; Roth in Koller/Roth/Morck (Hrsg.), HGB, 6. Aufl. 2007, § 15 HGB Rz. 43 ff. 42 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), Anh. § 5 HGB Rz. 22–23; ders., Handelsrecht (Fn. 41), § 10 VIII 3.b.; Roth in Koller/Roth/Morck (Fn. 41), § 15 HGB Rz. 55–57. 43 Da bei einer GbR im Zweifel von einer Gesamtvertretungsmacht auszugehen ist, muss nicht nur ein Rechtsschein für die Gesellschafterstellung des Sozius gesetzt worden sein, sondern der Dritte auch von einer Einzelvertretungsmacht der GbRGesellschafter ausgehen dürfen. Fehlt es an letzterem oder an einem durch die Gesellschafter der GbR zurechenbar gesetzten Rechtsschein, haftet der Scheinsozius nach § 179 BGB. 44 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), Anh. § 5 HGB Rz. 23.

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schafter gem. § 128 HGB analog. Der Scheinsozius haftet bei eigenem zurechenbaren Handeln ebenfalls gem. § 128 HGB analog i. V. m. den allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen, da hinsichtlich der Vertretungsmacht als Gesellschafter und seiner Haftung ein Gleichlauf in den tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsscheingrundsätze gegeben ist45. Davon zu unterscheiden ist der Fall der Haftung des Scheinsozius bei rechtsgeschäftlichem Handeln eines vertretungsberechtigten Gesellschafters für die GbR. Hier setzt die Haftung gem. § 128 HGB in analoger Anwendung voraus, dass der Dritte nicht nur als schutzwürdig anzusehen ist (keine positive Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis von der fehlenden Gesellschafterstellung), sondern auch den Rechtsscheintatbestand – die Gesellschafterstellung des (Schein-)Sozius – kennt; dies bedeutet, dass der Mandant der das Büroschild oder aber den Briefkopf mit den entsprechenden Angaben tatsächlich zur Kenntnis genommen haben muss, und des weiteren, dass zwischen der Kenntnis vom Rechtsscheintatbestand (also Gesellschafterstellung des Scheinsozius) und der Vornahme des Rechtsgeschäfts – die Beauftragung der Sozietät mit einem Mandat (oder dem Abschluss eines Kaufvertrags) – ein Kausalzusammenhang bestehen muss. Der maßgebliche Test hierfür ist, ob bei Kenntnis von der wahren Rechtslage mit einer anderen Entscheidung des Dritten zu rechnen gewesen wäre46. Im Einzelnen wird man differenzieren müssen: Kennt der Dritte (etwa der Mandant) den (Schein-)Sozius und beauftragt er im Hinblick auf die Erfahrung bzw. Qualität des Anwalts die Kanzlei, kommt es dem Mandanten insoweit gar nicht auf eine Gesellschafterstellung des betreffenden Anwalts an: Der Auftrag würde auch erteilt, wenn der Mandant von der Position des Anwalts als der eines angestellten Anwalts wüsste. Nur dann, wenn der Geschäftspartner plausibel begründen kann, dass es bei der Beauftragung der Kanzlei ihm auch darum gegangen ist, den (Schein-)Sozius als Gesellschafter einer BGBGesellschaft in der Haftung zu haben, wird der notwendige Dispositionszusammenhang gegeben sein. Ist dagegen dem Mandanten der Anwalt nicht als solcher bekannt, dürfte der Nachweis, dass die Kanzlei nicht beauftragt worden wäre, wenn die Stellung des (angestellten) Anwalts als Nichtgesellschafter bei Vertragsschluss bekannt gewesen wäre, zumeist nicht überzeugend zu begründen sein. Dies mag im Einzelfall etwa bei kleineren Sozietäten mit einem überschaubaren Kreis von Gesellschaftern anders sein47.

__________ 45 Zweifel mag man hinsichtlich des Dispositionszusammenhangs für das Handeln des Dritten haben: Soweit es um die Vertretung der BGB-Gesellschaft als Vertragspartner geht, wird ein solcher Zusammenhang unschwer nachzuweisen sein, wenn der Dritte die Sozietät beauftragen will. Dass diese Beauftragung auch mit Rücksicht auf die Haftung des handelnden (Schein-)Sozius geschieht, wird oftmals weit weniger einleuchtend sein. Da aber in der Person des Handelnden die (Schein-)Gesellschafterstellung sowohl die Vertretungsmacht wie auch die Haftung begründet, ist der Dispositionszusammenhang notwendig gegeben. 46 Karsten Schmidt, Handelsrecht (Fn. 41) § 10 VIII 3.b.bb.; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 6 Rz. 77, plädiert diesbezüglich für eine Umkehr der Beweislast. 47 Dies mag etwa gelten, wenn der Dritte Verträge mit hohen Zahlungsverpflichtungen der Sozietät schließt.

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VI. Insbesondere: Zur (analogen) Anwendung des § 130 HGB Bei Neueintritt eines Gesellschafters in eine GbR erstrecken sich die Altverbindlichkeiten der Gesellschaft gem. § 130 Abs. 1 HGB in analoger Anwendung auch auf ihn48. Dies gilt im Hinblick auf das Urteil des BGH vom 7.4.2003 zumindest für alle einer BGB-Gesellschaft nach dem 7.4.2003 beigetretenen Gesellschafter49. Die Frage stellt sich, ob und unter welchen Voraussetzungen § 130 Abs. 1 HGB analog auch für den Beitritt eines Scheingesellschafters, also Scheinsozius, zur Anwendung kommt. Während das OLG Saarbrücken erst kürzlich eine Haftung des Scheingesellschafters für Altverbindlichkeiten abgelehnt50 und damit harsche Kritik auf sich gezogen hat51, wird im Schrifttum eine Haftung des beitretenden Scheinsozius befürwortet52. Möglicherweise neigt auch der Jubilar dieser Ansicht zu53. 1. Zum Regelungszweck des § 130 Abs. 1 HGB Die durch § 130 Abs. 1 HGB angeordnete Erstreckung des Prinzips der akzessorischen Haftung der Gesellschafter einer OHG – und bei analoger Anwendung der Gesellschafter einer GbR – auf Verbindlichkeiten, die bereits vor dem Eintritt in die Gesellschaft begründet worden sind, lässt sich nur schwer begründen. Denn die Altgläubiger erhalten mit dem neu beitretenden Gesellschafter einen neuen Schuldner, mit dem sie bei Begründung ihrer Forderung gar nicht rechnen konnten. Ein solches Geschenk des Himmels54 bedarf der besonders sorgfältigen Erklärung. Vertrauen in die Haftung des jeweiligen (zukünftigen) Kreises der Gesellschafter kann die Haftung des Beitretenden nicht rechtfertigen55. Der Jubilar sieht in § 130 Abs. 1 HGB (in vielleicht etwas grobkörniger Argumentation) das Prinzip „mitgefangen, mitgehangen“ verwirklicht56 – in juristische Kategorien übersetzt: eine Ergänzung des auf dem Abstraktionsprinzip beruhenden § 128 HGB57. Damit ist freilich nur das Verhältnis der beiden Normen zueinander beschrieben, nicht aber begründet, warum das Akzessoritätsprinzip auch auf Altverbindlichkeiten erstreckt wer-

__________ 48 BGHZ 154, 370 = NJW 2003, 1803. 49 BGH, NJW 2003, 1803, 1805. Für die vor diesem Datum beigetretenen Gesellschafter ist § 130 Abs. 1 HGB analog anzuwenden auf alle Altverbindlichkeiten, die der Gesellschafter bei seinem Eintritt in die Gesellschaft kennt oder wenn er deren Vorhandensein hätte erkennen können (also Verbindlichkeiten aus Verträgen, mit deren Existenz er rechnen musste, wie z. B. Versorgungsverträge, Mietverträge etc.). 50 OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619. 51 Lepcyk, NJW 2006, 3391, 3392, mit dem Vorwurf, das Gericht missachte die Grundsätze der Vertrauenshaftung. 52 Hartung in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 59a BRAO Rz. 48 (Haftung des Anwalts für Altverbindlichkeiten bei seiner Aufnahme in den Briefkopf). 53 Vgl. Karsten Schmidt, NJW 2005, 2801, 2809 Fn. 93. 54 Dauner-Lieb in FS Ulmer, 2003, S. 73, 76. 55 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), § 130 HGB Rz. 1. 56 Karsten Schmidt (Fn. 1), § 49 IV 1. 57 Karsten Schmidt in MünchKomm.HGB (Fn. 6), § 130 HGB Rz. 1.

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den soll, um damit Geschenke an die Altgläubiger zu verteilen. Zu Recht ist – vor allem mit Blick auf ausländische Rechte – darauf hingewiesen worden, dass diese Schärfe der Haftung sich keineswegs von selbst versteht58. Wenig überzeugend erscheint auch die Begründung des § 130 Abs. 1 HGB mit der Überlegung, die Norm diene der Sicherung der Gesellschaftsgläubiger, „denen es oft weder möglich noch zumutbar“ sei, „den derzeit aktuellen Gesellschafterbestand zu ermitteln.“59 Diese Überlegung, die sich sinnvoller Weise nur auf die Information über den Gesellschafterbestand bei Eingehung der Verbindlichkeit beziehen kann, mutet seltsam an: Gewiss mag sich der Gesellschafterbestand im Laufe der Zeit ändern, sodass die Gläubiger aus der heutigen Mitgliedschaft nicht auf die frühere Zusammensetzung der Gesellschafter zurückschließen können. Doch mag ein Blick in das Handelsregister genügen (§§ 107, 143 Abs. 2 HGB), um über den Gesellschafterbestand bei Abschluss des Rechtsgeschäfts Aufschluss zu geben60. Und dass § 130 Abs. 1 HGB nur dazu geschaffen wurde, um die Informationsprobleme der Gläubiger im Hinblick auf im Handelsregister nicht eingetragene OHGs zu erleichtern, lässt sich beim besten Willen nicht behaupten61. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 7.4.200362 Ansätze für eine plausible Begründung der Regelung in § 130 Abs. 1 HGB (nach-)geliefert: Da die uneingeschränkte Haftung der Gesellschafter einer Personengesellschaft für die Gesellschaftsverbindlichkeiten das notwendige Gegenstück für das Fehlen jeglicher Kapitalerhaltungsregeln darstelle, und der neu eintretende Gesellschafter mit dem Erwerb der Gesellschafterstellung dieselben Zugriffsmöglichkeiten (etwa in Form des Entnahmerechts) auf das Gesellschaftsvermögen erhalte wie die Altgesellschafter, sei § 130 Abs. 1 HGB als eine Kompensation für diese Zugriffsmöglichkeit zu verstehen63. Im Hinblick auf diese Begründung wird man sich einer analogen Anwendung des § 130 Abs. 1 HGB auf die GbR nicht verschließen können, bestehen bei ihr doch dieselben struk-

__________ 58 Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. II: Recht der Personengesellschaften, 2004, § 8 III 3 d) aa). 59 Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch, 2. Aufl. 2008, § 130 HGB Rz. 1. 60 Dies ist natürlich anders, soweit es um die analoge Anwendung des § 130 Abs. 1 HGB auf die beitretenden Gesellschafter zu einer GbR geht; vgl. auch BGH, NJW 2003, 1803, 1805. 61 Bei Grunewald, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2005, 1A Rz. 130, wird die ratio des § 130 Abs. 1 HGB dahingehend erläutert, dass der Geschäftsverkehr nicht zwischen im Moment des Beitritts bestehenden und später entstehenden Verbindlichkeiten unterscheide. Auch dies erscheint eher als eine schwache Grundlage für die Begründung einer u. U. weitgehenden Haftung eines der Gesellschaft beitretenden Gesellschafters, der von den Verbindlichkeiten keine Ahnung haben mag! Der viel beschworene Gläubigerschutz rechtfertigt keine windfall profits. 62 BGH, NJW 2003, 1803. 63 BGH, NJW 2003, 1803, 1804. Der BGH spricht anschaulich von einer „Komplementarität“ von Entnahmefreiheit und persönlicher Haftung. Ob die weiteren vom BGH genannten Argumente für die rechtspolitische Sinnhaftigkeit des § 130 Abs. 1 HGB wirklich zu tragen vermögen, kann an dieser Stelle dahinstehen.

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Rechtsfragen der Scheinsozietät

turellen Gefährdungen64. Dies wirft dann die Frage auf, ob auch der beitretende Scheinsozius der Haftung nach § 130 Abs. 1 HGB unterworfen ist. 2. Anwendung auf den „beitretenden“ Scheinsozius? Wird die „Außensozietät“ (Scheinsozietät) als eine Berufsausübungsgesellschaft und damit im Außenverhältnis als eine BGB-Gesellschaft ohne gesellschaftsrechtliches Innenverhältnis eingestuft65, ist der angestellte Anwalt in einer bestehenden BGB-Gesellschaft, wenn er auf dem Briefkopf erscheint, als echter Gesellschafter zu behandeln – mit der daraus folgenden Haftung für Verbindlichkeiten nach § 128 HGB analog66, die nach der Aufnahme des Anwalts im Briefkopf begründet werden. Konsequenterweise haftet dieser Anwalt für die vor diesem Zeitpunkt begründeten (Alt-)Verbindlichkeiten gem. § 130 Abs. 1 HGB in analoger Anwendung. Anders aber, wer – in zutreffender Weise – die „Außensozietät“ und den Scheinsozius als Probleme der Anwendung der allgemeinen Rechtsscheingrundsätze begreift: Für die Haftung des Scheinsozius für Verbindlichkeiten, die vor der Setzung des Rechtsscheintatbestands (also etwa der erstmaligen Aufnahme des Anwalts in den Briefkopf)67 für die wirksam existierende GbR durch einen ihrer Gesellschafter begründet worden sind, wird man sich fragen müssen, ob und inwieweit die tatbestandlichen Voraussetzungen der allgemeinen Rechtsscheingrundsätze im Hinblick auf die Haftung des Scheinsozius gem. § 130 Abs. 1 HGB überhaupt erfüllt sein können. Das OLG Saarbrücken ist in einem jüngeren Urteil im Hinblick auf eine Anwältin, die zunächst als freie Mitarbeiterin und später als angestellte Anwältin in einer Kanzlei tätig gewesen ist, um schließlich auf dem Briefkopf der Sozietät aufgenommen zu werden, mit keinem Wort auf die Voraussetzungen der allgemeinen Rechtsscheingrundsätze eingegangen, um stattdessen allein Frage zu erörtern, ob der Gesetzeszweck des § 130 Abs. 1 HGB eine (analoge) Anwendung der Norm auf den (GbR-)Scheingesellschafter für Altverbindlichkeiten rechtfertigen könne68. Indessen stellt sich – vor einer Prüfung des Gesetzeszwecks des § 130 Abs. 1 HGB – die Frage, ob die Eingehung der rechtsgeschäftlichen Beziehungen des Dritten zu der GbR von dem erst später in zurechenbarer Weise durch den Scheinsozius gesetzten Rechtsschein beeinflusst sein kann. Die Frage stellen heißt sie verneinen: Der Geschäftspartner kennt den später gesetzten Rechtsscheintatbestand nicht und für seine Disposition fehlt es insoweit an einer auch nur potentiellen Kausalität. Schon von daher können die tatbestandlichen Voraussetzungen der allgemeinen Rechtsschein-

__________ 64 In diesem Sinne BGH, NJW 2003, 1803, 1804; so bereits früher und ständig der Jubilar: z. B. Karsten Schmidt, GesR (Fn. 1), § 60 III 2.d; kritisch z. B. Dauner-Lieb in FS Ulmer, 2003, S. 73. 65 Dazu oben im Text unter III.1. 66 Hartung in Henssler/Prütting (Fn. 5), § 59a BRAO Rz. 48. 67 Genauer: vor Kenntnisnahme des Dritten vom Rechtsscheintatbestand. 68 OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619, 620 = NJW 2006, 2862.

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Wulf-Henning Roth

grundsätze nicht erfüllt sein69, weshalb eine Haftung des Scheinsozius für vor dem Zeitpunkt der Rechtsscheinsetzung begründete Verbindlichkeiten nicht entstehen kann70. Eine andere Sicht der Dinge mag sich bei der Durchführung von Dauerschuldverhältnissen dann ergeben, wenn der Geschäftspartner ein solches Vertragsverhältnis (auch) im Hinblick darauf fortsetzt (anstatt es zu beenden), dass der in den Briefkopf aufgenommene Anwalt als (Schein-)Gesellschafter der GbR beigetreten ist. Lediglich als Kontrollüberlegung braucht deshalb auf den besprochenen Gesetzeszweck des § 130 Abs. 1 HGB eingegangen zu werden: Sieht man ihn mit der Rechtsprechung des BGH darin, dass angesichts des Fehlens jeglicher Kapitalerhaltungsregeln dem Gläubiger der Personengesellschaft eine Kompensation für die Zugriffsmöglichkeiten des beigetretenen Gesellschafters auf das Gesellschaftsvermögen gewährt werden soll, so ist eine Anwendung des § 130 Abs. 1 HGB analog auf den Scheinsozius schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil dieser gerade kein Gesellschafter ist und daher (etwa als angestellter Anwalt) auch nicht die Zugriffs- (Entnahme-)möglichkeiten auf das Gesellschaftsvermögen hat71.

VII. Zusammenfassung 1. Die „Außensozietät“ ist eine Rechtsschein-GbR. Die Rechtsfigur der „Berufsausübungsgesellschaft“ als GbR ohne gesellschaftsrechtlich geprägtes Innenverhältnis ist abzulehnen. 2. Die standesrechtlichen Regelungen in den §§ 8, 9, 33 Abs. 1 BORA hinsichtlich der Information über die gemeinsame Berufsausübung haben keine Auswirkung auf das Rechtsverhältnis der Anwälte untereinander. Die Aufnahme eines angestellten Anwalts in den Briefkopf schafft i. d. R. den Rechtsschein einer Gesellschafterstellung. 3. Für die Zurechnung des Verhaltens eines Scheinsozius wie auch für dessen Haftung gem. § 128 HGB (analog) gelten allein die allgemeinen Rechtsscheingrundsätze. 4. Für eine (analoge) Anwendung des § 130 Abs. 1 HGB auf den „beitretenden“ Scheingesellschafter gelten die allgemeinen Rechtsscheingrundsätze. Deren tatbestandliche Voraussetzungen sind im Hinblick auf die Begründung und Haftung für Altverbindlichkeiten in aller Regel nicht erfüllt.

__________ 69 Eine Rechtsscheinhaftung für möglich halten (ohne nähere Begründung) allerdings Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 130 HGB Rz. 5; Koller in Koller/ Roth/Morck (Fn. 41), § 130 HGB Rz. 1. 70 Dies übersieht Lepcyk, NJW 2006, 3391, 3392, der dem Gericht vorwirft, die Grundsätze der Vertrauenshaftung zu missachten, diese Grundsätze aber dahingehend (miss-)versteht, dass ein Scheingesellschafter wie ein echter Gesellschafter zu behandeln sei. 71 OLG Saarbrücken, NZG 2006, 619, 620.

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Carsten Schäfer

Die „Bestandskraft“ fehlerhafter Strukturänderungen im Aktien- und Umwandlungsrecht – Zu neuen, rechtlich nicht vertretbaren Ausdehnungstendenzen und zu ihrer prinzipiellen Ungeeignetheit, missbräuchliche Anfechtungsklagen einzudämmen –

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Bestandskraft fehlerhafter Umwandlungen 1. Einführung: Die offene Frage nach der dogmatischen Einordnung des § 20 Abs. 2 UmwG 2. Welche Rechtsfolge ordnet § 20 Abs. 2 UmwG an? a) Bedeutungsgehalt des Ausdrucks „Entschmelzung“ in der Gesetzesbegründung b) Ausschluss der Heilungswirkung c) Fazit 3. Zu möglichen Gegengründen a) Fehlen eines handhabbaren „Entschmelzungsverfahrens“? b) Erweiterter Bestandsschutz im Freigabeverfahren? – Verhältnis zu § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG c) Unverhältnismäßigkeit der „Entschmelzungspflicht“? 4. Fazit III. Bestandskraft nach § 246a AktG 1. Einführung; Vergleich mit § 319 Abs. 6 AktG

2. Ausschluss der Heilungswirkung 3. Ewige Bestandskraft durch § 246a Abs. 4 Satz 2? a) Meinungsstand b) Stellungnahme aa) Verwirrung durch das Zusammenspiel aus Wortlaut, Systematik und Gesetzesbegründung bb) Keine Rückabwicklungsschwierigkeiten bei ex-nuncUnwirksamkeit cc) Irrelevanz des Verweises auf § 20 Abs. 2 UmwG dd) Bedeutung des Schadensersatzanspruchs in § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG? ee) Gesamtabwägung 4. Fazit IV. Der bessere Weg zur Beseitigung von Missbrauchsanreizen: Ausschluss der Kassation bei minder schweren Beschlussmängeln V. Zusammenfassung in Thesen

I. Einführung Das Interesse für den Bestandsschutz fehlerhafter Verbände und Strukturänderungen verbindet Jubilar und Autor;1 das Thema eignet sich zudem vorzüglich,

__________ 1 S. insbes. Karsten Schmidt, AcP 186 (1986) 421; ders., Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 6 IV, S. 154 ff.; ders., ZGR 1991, 373; Carsten Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002, insbes. S. 289 ff.

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das Allgemeine, hier die Lehre vom fehlerhaften Verband (LfV), im Besonderen nachzuweisen, nämlich in speziellen gesetzlichen Bestimmungen, die der Eintragung bestimmter Strukturänderungen Bestandskraft zuschreiben. So bewegt man sich leichthin auf einem Terrain, das Karsten Schmidt besonders am Herzen liegt, nämlich die „Herausbildung allgemeiner Lehren aus dem durch Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Anschauung vorgegebenen Material“ – kurz Institutionenbildung2. Der Verfasser hofft daher, dem verehrten Jubilar mit einem echten „Karsten-Schmidt-Thema“ ein willkommenes Geschenk zu machen. Der Gesetzgeber hat sich des Themas zunächst im UmwG 1994 angenommen; dort schließt § 20 Abs. 2 UmwG aus, dass Fehler des Verschmelzungsvertrages oder der Beschlüsse zur rückwirkenden Vernichtung der Verschmelzung führen. Die Norm lautet schlicht: „Mängel der Verschmelzung lassen die Wirkungen der Eintragung nach Absatz 1 unberührt“. § 131 Abs. 2 UmwG sagt Entsprechendes für die Spaltung, § 203 Abs. 3 UmwG für den Formwechsel. Außerdem kann im Falle einer gegen den Umwandlungsbeschluss gerichteten Anfechtungsklage die Gesellschaft gleichwohl im Wege des Freigabeverfahrens nach § 16 Abs. 3 UmwG die Eintragung der Strukturmaßnahme erreichen. Selbst wenn die Anfechtungsklage schließlich erfolgreich ist, kann der Kläger gem. § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG auch nicht als Schadensersatz die „Beseitigung der Wirkungen der Eintragung“ verlangen. Wie weit der hierdurch gewährte Bestandsschutz reicht, ist im Einzelnen freilich umstritten, namentlich ist ungeklärt, ob es sich bei den erwähnten Bestimmungen überhaupt um Anwendungsfälle der LfV handelt, wie insbesondere Karsten Schmidt schon früh vorgetragen hat3. Dass dem zuzustimmen ist, hat der Verfasser bereits an anderer Stelle ausgebreitet4, dies gilt es auf der Grundlage des gegenwärtigen Diskussionsstands zu überprüfen (sogleich unter II.). Eine weitere Facette hat im November 2005 das UMAG mit dem neuen § 246a AktG beigesteuert. Die Vorschrift führt das im Umwandlungsrecht inzwischen eingeübte Freigabeverfahren für Beschlüsse „über eine Maßnahme der Kapitalbeschaffung, der Kapitalherabsetzung […] oder einen Unternehmensvertrag“ ein. Anders als im Umwandlungsrecht vermittelt § 246a AktG Bestandsschutz nur für die im Wege der Freigabe ins Register gelangte Eintragung. Gilt deshalb im Falle des § 246a AktG etwas anderes als bei § 20 Abs. 2 UmwG? (dazu unter III.). Das Freigabeverfahren schlägt schließlich mühelos den Bogen zum Beschlussanfechtungsrecht des Aktionärs; denn wie der unlängst präsentierte Entwurf eines ARUG5 eindrucksvoll zeigt, setzt der Gesetzgeber Freigabeverfahren und

__________ 2 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 1), § 3 III 2, S. 53. 3 Karsten Schmidt, ZIP 1998, 181, 187 ff.; entsprechend schon zum alten Verschmelzungsrecht ders., AG 1991, 131 ff. 4 Carsten Schäfer (Fn. 1), S. 184 ff. 5 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (ARUG), abrufbar unter www.bmj.bund.de.

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„Bestandskraft“ fehlerhafter Strukturänderungen im Aktien- u. Umwandlungsrecht

Bestandskraft bewusst als ein Mittel zur Bekämpfung missbräuchlicher Anfechtungsklagen ein6. Das BMJ will erstmals ein – allerdings auf das Freigabeverfahren beschränktes – Quorum von 100 Euro einführen (näher unter IV.). Zudem schlägt der Entwurf vor, die alternativ zur Eintragung führende Interessenabwägung schon dann zugunsten der Gesellschaft ausfallen zu lassen, wenn die „Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre nach freier Überzeugung des Gerichts überwiegen und der Eintragung nicht die Schwere der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen entgegensteht.“ Dieses Konzept einer materiellen Beschränkung des Anfechtungsrechts mit den Mitteln der Bestandskraft ist indessen – so die Kernthese des nachfolgenden Beitrags – abzulehnen; der Gesetzgeber sollte sich bei nächster Gelegenheit vielmehr zu einer grundlegenden, methodisch und dogmatisch einwandfreien Lösung durchringen, nämlich einer grundlegenden Revision des Beschlussmängelrechts (dazu unter IV.).

II. Bestandskraft fehlerhafter Umwandlungen 1. Einführung: Die offene Frage nach der dogmatischen Einordnung des § 20 Abs. 2 UmwG Bestandskraft ist im Gesellschaftsrecht kein Gesetzesbegriff, sondern von heuristischer Art. Man mag darunter diejenigen Instrumente zusammenfassen, die der Aufrechterhaltung fehlerhafter (gesellschaftsrechtlicher) Rechtsgeschäfte mindestens für die Vergangenheit dienen; der Begriff umfasst dann die Regeln des fehlerhaften Verbands, die (nur) die Rückwirkung der Nichtigkeit bzw. Anfechtung ausschließen, ebenso wie die Figur der Heilung, die endgültig, also auch mit Wirkung für die Zukunft auf die materielle Rechtslage einwirkt7. Hier interessiert nun zunächst, ob § 20 Abs. 2 UmwG als gesetzlicher Ausdruck der Regeln des fehlerhaften Verbands zu verstehen ist8 oder als ein Fall von Heilung9 oder aber als ganz eigenartige Form eines zwar in die Zukunft wirkenden Bestandsschutzes, der aber ohne Einfluss auf die materielle Rechts-

__________ 6 Konsequent in diesem Sinne etwa auch Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 706 ff., 712 ff. 7 Casper, Die Heilung nichtiger Beschlüsse im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 57; siehe auch Wiedemann in Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2006, § 189 AktG Rz. 31. 8 So Kiem, Die Eintragung der angefochtenen Verschmelzung, 1991, S. 155 ff.; Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 133; ders., ZGR 1991, 373, 378; Chr. Schmid, ZGR 1997, 493, 510 ff.; der Sache nach auch schon Martens, AG 1986, 57, 63 f.; grundsätzlich auch Veil, ZIP 1996, 1065, 1068; ders., GmbHR 1996, 163 f. 9 So ausdrücklich Grunewald in Lutter, UmwG, 4. Aufl. 2009, § 20 UmwG Rz. 67 (und in GHEK, AktG, § 352a AktG Rz. 4); ihr folgend Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 3. Aufl. 2001, § 20 UmwG Rz. 97 f.; wohl auch Krieger, ZHR 158 (1994), 35, 45 f. – ebenso BayObLG, BB 2000, 477; OLG Hamm, DB 2001, 85, 86 (jeweils ohne erkennbares Problembewusstsein); dagegen ausdrücklich OLG Stuttgart, AG 2004, 271, 273.

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lage bleibt10. Mit „Heilung“ hätte letzteres freilich nichts zu tun;11 denn hierunter versteht man allein die reparierende Änderung der materiellen Rechtslage, die naturgemäß auch zum Ausschluss von Schadensersatzansprüchen führt12. – Die höchstrichterliche Rechtsprechung konnte die Frage bislang unentschieden lassen13. Es liegt schon auf den ersten Blick nicht fern, § 20 Abs. 2 UmwG als Ausdruck der LfV einzuordnen; denn diese ist auf bestimmte Strukturänderungen ebenso wie auf die Gründung anwendbar14, und für die Verschmelzung liegt eine Parallele zur Gründung sogar besonders nahe; denn es handelt sich entweder um eine der Sachgründung oder der Sachkapitalerhöhung vergleichbare Strukturänderung, jeweils verbunden mit dem liquidationslosen Erlöschen des übertragenden Rechtsträgers15. Es überrascht daher nicht, dass in der Literatur schon lange vor Inkrafttreten des § 352a AktG, jedenfalls der Sache nach, für die Anwendung der LfV auf die fehlerhafte Verschmelzung plädiert wurde16, um zu vermeiden, dass die Verschmelzungsfolgen für die Vergangenheit als ungeschehen betrachtet werden müssen. Dennoch ist es nicht selbstverständlich, § 20 Abs. 2 UmwG als gesetzliche Ausprägung der LfV anzusehen; denn hierfür müsste eben auch die Rechtsfolge passen. Weder dürfte ein Fall von Heilung vorliegen noch eine „Entschmelzung“, d. h. die ex-nunc-Unwirksamkeit, prinzipiell ausgeschlossen sein. Denn die LfV verhindert zwar die rückwirkende Beseitigung eines Rechtsgeschäfts nach den Regeln des allgemeinen Zivilrechts, nicht jedoch dessen Aufhebung für die Zukunft ab Geltendmachung des Mangels. Daher gilt im Grundsatz:

__________ 10 So Priester, NJW 1983, 1459, 1465; Köhler, ZGR 1985, 307, 324 (zu § 352a AktG); Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 20 UmwG Rz. 47; Vossius in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 20 UmwG (Stand 7/96) Rz. 375 f.; Kort, Bestandsschutz fehlerhafter Strukturänderungen, 1998, S. 265 f.; Sosnitza, NZG 1999, 965, 974; im Ergebnis auch die in Fn. 11 Genannten, allerdings unter der unzutr. Annahme, dass trotz Mängelheilung Schadensersatzansprüche nicht ausgeschlossen seien. 11 So aber noch Grunewald (Fn. 9), § 20 UmwG Rz. 67 ff. (und in GHEK, AktG, § 352a Rz. 4); ihr folgend Stratz (Fn. 9), § 20 UmwG Rz. 97 f. 12 Vgl. Karsten Schmidt, ZGR 1991, 373, 377 sowie eingehend Casper, Heilung (Fn. 7), S. 188 ff.; Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 242 AktG Rz. 7 zur Parallelfrage des Eintritts der Rechtmäßigkeit kraft Heilung in Bezug auf die Vorstandshaftung (§ 93 Abs. 2 AktG) für die Herbeiführung und Aufrechterhaltung nichtiger, aber geheilter Beschlüsse. 13 BGH, NJW 1996, 659 (noch zu § 352a AktG). 14 Vgl. nur, jeweils m. w. N., Karsten Schmidt (Fn. 1); ferner Ulmer in MünchKomm. BGB, 4. Aufl. 2004, § 705 BGB Rz. 323 ff.; Schäfer (Fn. 1). 15 Ausführlichere Begründung bei Schäfer (Fn. 1), S. 182 ff. 16 Vgl. Flechtheim in FS Zitelmann, 1913, S. 1, 26 f.; J.v.Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, 8. Aufl. 1958, § 48 II B 1 E; hierzu die Einordnung bei Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 135 f., der hierin mit Recht Versuche erkennt, die LfV auf Verschmelzungen auszudehnen.

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„Bestandskraft“ fehlerhafter Strukturänderungen im Aktien- u. Umwandlungsrecht

Nur wo die Abwicklung ex nunc sichergestellt ist, wirken die Regeln des fehlerhaften Verbands17. 2. Welche Rechtsfolge ordnet § 20 Abs. 2 UmwG an? a) Bedeutungsgehalt des Ausdrucks „Entschmelzung“ in der Gesetzesbegründung Zunächst gilt die Aufmerksamkeit demnach der Frage, welche Rechtsfolge mit der ungenauen Formulierung „lassen die Wirkungen der Eintragung unberührt“ in § 20 Abs. 2 UmwG, die sich auch in § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG wieder findet, eigentlich gemeint ist18. Die Begründung zum UmwG trägt insofern mehr zur Klarheit bei, als es oft dargestellt wird. Zwar rechtfertigt sie die Bestandskraft zunächst bloß mit dem schlichten Hinweis, dass die Vorschrift auf einer „allgemeinen Tendenz“ beruhe, gesellschaftsrechtliche Akte möglichst zu erhalten. Aufschlussreich ist sodann aber die folgende Passage:19 „Zudem ist eine ‚Entschmelzung‘ im Sinne einer Rückübertragung jedes einzelnen Vermögensgegenstandes praktisch nicht möglich. Die durch das Verschmelzungsrichtliniegesetz eingeführte Vorschrift des § 352a AktG soll deshalb für alle Verschmelzungen gelten. […] Als Möglichkeit für die wirtschaftliche Rückabwicklung einer Fusion, die sich nachträglich als unzweckmäßig erweist, steht die Spaltung nach dem Dritten Buch dieses Gesetzes zur Verfügung.“

Der Ausdruck „Entschmelzung“, der die Rückabwicklung einer fehlgeschlagenen Verschmelzung umschreibt, wird hier in einem eindeutigen Sinne verwendet. Vor Inkrafttreten des § 352a AktG hatte man unter „Entschmelzung“ nämlich stets die Rückabwicklung nach allgemeinem Zivilrecht verstanden; der Begriff bezeichnete den Zustand, wie er der damals vorherrschenden Ansicht entsprach, dass nämlich die übertragende Gesellschaft nur scheinbar erloschen, deren Vermögen nur scheinbar im Ganzen auf die übernehmende Gesellschaft übergegangen und – bei der Verschmelzung durch Neugründung – die übernehmende Gesellschaft nur scheinbar entstanden war20. Inzwischen wird der Begriff der „Entschmelzung“ dagegen überwiegend im Sinne eines actus contrarius zur Verschmelzung, mithin als Äquivalent zur Auflösung, gebraucht21. Demnach ist „Entschmelzung“ die ex-nunc-Abwicklung der fehlerhaften Verschmelzung durch Spaltung oder Ausgründung, was deren Wirk-

__________

17 Leichte Tendenzen in die Zukunft aber bei Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 136; ders., ZGR 1991, 373, 392; Krieger, ZHR 158 (1994), 35, 45; vgl. auch Timm, GmbHR 1989, 11, 17; Kleindiek, ZIP 1988, 613, 625 (beide bezogen auf Unternehmensverträge). 18 Insoweit übereinstimmend auch Bork, ZGR 1993, 343, 355, Fn. 50 (zum RefE); ders. in Lutter (Hrsg.) Kölner Umwandlungsrechtstage, 1995, S. 261, 266, der im Ergebnis allerdings der entgegen gesetzten Interpretation (jede Abwicklung ausgeschlossen) zuneigt. 19 BegrRegE zu § 20 bei Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 75. 20 Vgl. Kraft in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1990, § 352a AktG Rz. 36 ff. sowie die Nachweise bei Kiem, Verschmelzung (Fn. 8), S. 168 f.; Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 133 (Fn. 38), 135. 21 Kiem, Verschmelzung (Fn. 8), S. 170 ff.; Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 134.

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samkeit in der Vergangenheit nicht nur unberührt lässt, sondern geradezu voraussetzt22. Vor diesem Hintergrund ist recht eindeutig, dass § 20 Abs. 2 UmwG, wie schon die Vorläuferbestimmung des § 352a AktG23, lediglich eine „Entschmelzung“ im herkömmlichen Sinne verhindern will, nämlich die Rückabwicklung nach allgemeinem Zivilrecht. Denn nur diese führte zu praktisch kaum lösbaren Schwierigkeiten, und nur sie wurde gleichwohl vor Inkrafttreten des § 352a AktG bei Verschmelzungsfehlern überwiegend für unvermeidlich gehalten24. Klarer als mit den Worten „Entschmelzung im Sinne einer Rückübertragung jedes einzelnen Vermögensgegenstandes“ hätte man dieses Begriffsverständnis kaum ausdrücken können. Der explizite Hinweis auf die Spaltung in der zitierten Passage bekräftigt dies. b) Ausschluss der Heilungswirkung Dass die Eintragung nicht zur Heilung der Verschmelzungsmängel führen, sondern zumindest Schadensersatzansprüche gegen die hierfür Verantwortlichen unberührt lassen soll, ist ebenfalls eindeutig. Erstens nehmen die Motive zu § 20 UmwG25 auf § 352a AktG Bezug, dessen Begründung eine Heilungswirkung explizit negiert hatte26. Zweitens spricht § 20 Abs. 1 Nr. 4 UmwG27 im selben Zusammenhang, aber nur in Bezug auf die beiden dort genannten Mängel von Heilung. Es wäre also eine mehr als fragwürdige Gesetzestechnik, wenn der Gesetzgeber im zweiten Absatz desselben Paragraphen eine allgemeine Heilungswirkung anordnen wollte, dies aber mit völlig anderem Wortlaut, womit er zugleich der Regelung in Abs. 1 Nr. 4 jeden Anwendungsbereich nähme. Schließlich gewährt § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG im Rahmen des Freigabeverfahrens ausdrücklich einen besonderen Schadensersatzanspruch, wenn die Klage in der Hauptsache erfolgreich war (dazu II.3.b).

__________ 22 Kiem, Verschmelzung (Fn. 8), S. 171 f.; Chr. Schmid, ZGR 1997, 493, 518; der Sache nach auch Martens, AG 1986, 57, 64, der aber hier von „Ausgliederung“ spricht, worunter das UmwG 1994 ja einen Fall der partiellen Universalsukzession versteht; Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 134 verzichtet ganz auf einen Begriff für dieses Verfahren und spricht von eigentlicher (echter) oder errichtender oder obligatorischer Verschmelzung. 23 Dazu RegBegr. zum Verschmelzungsrichtlinie-Gesetz, BT-Drucks. 9/1065, S. 9 f. 24 Übereinstimmend Karsten Schmidt, ZGR 1991, 373, 391. 25 Bei Ganske (Fn. 19), S. 75. 26 RegBegr. zum Verschmelzungsrichtlinie-Gesetz, BT-Drucks. 9/1065, S. 20. Dort heißt es: „Sie [die Vorschrift] heilt insbesondere nicht den Verschmelzungsvertrag und die Hauptversammlungsbeschlüsse. […] Die Heilung sachlicher Mängel vorzusehen, würde einen zu weitgehenden und durch die Richtlinien nicht gebotenen Eingriff in allgemeine Grundsätze des Zivilrechts bedeuten.“ – Zu Unrecht kritisch zum Verständnis des Heilungsbegriffs in der Begr. Grunewald in GHEK, AktG, § 352a AktG Rz. 4, vgl. oben bei Fn. 12. 27 Ebenso Kiem, Verschmelzung (Fn. 8), S. 163 f.; die gegenteilige Ansicht von Grunewald (Fn. 9), § 20 UmwG Rz. 67 beruht auf einem abzulehnenden Verständnis des Heilungsbegriffs, vgl. dazu abermals oben bei Fn. 12.

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„Bestandskraft“ fehlerhafter Strukturänderungen im Aktien- u. Umwandlungsrecht

c) Fazit § 20 Abs. 2 UmwG schließt somit einerseits die Rückabwicklung einer fehlerhaften Verschmelzung nach allgemeinem Zivilrecht aus, andererseits bewirkt er keine Heilung von Verschmelzungsmängeln. Beides fügt sich somit bestens in die Regeln des fehlerhaften Verbands. Im Übrigen verhält sich die Verschmelzungsrichtlinie28 zur Natur der Bestandskraft indifferent, lässt sich also mit der bislang gefundenen Auslegung ohne weiteres vereinbaren29. Dieses Zwischenergebnis gilt es nun noch mit möglichen Gegenargumenten zu konfrontieren. 3. Zu möglichen Gegengründen a) Fehlen eines handhabbaren „Entschmelzungsverfahrens“? Scheitert die „Auflösung“ einer fehlerhaften Verschmelzung schon daran, dass verschmolzene Gesellschaften zwar wieder gespalten werden können, dass sich diese Spaltung aber nicht zwangsweise ebenso durchsetzen lässt wie die Auflösung einer „nichtigen“ Gesellschaft? Bei Lichte besehen bedarf es indessen keines besonderen Instruments nach Art der Nichtigkeitsklage (§ 275 AktG), um eine „Entschmelzung“ zu erzwingen; denn die Beschlussmängelklage kann deren Funktion übernehmen. Lediglich die Wirkung des Anfechtungsurteils (s. § 248 AktG) muss hierfür an die LfV angepasst, also um die Rückwirkung reduziert werden30. Unverkennbar ist zwar, dass die Spaltungsregeln, auf welche die Motive zum UmwG als probates Mittel zur Abwicklung „unzweckmäßiger“ Verschmelzungen verweisen31, Freiwilligkeit unterstellen32. Die Spaltung setzt ja voraus, dass die Geschäftsleitungen einen Spaltungsplan erarbeiten (§ 136 UmwG), dem die Mitgliederversammlung sodann zustimmen muss (§§ 125, 13 [128] UmwG). Aber das ist bei einer erfolgreichen Nichtigkeitsklage nach § 275 AktG nicht grundlegend anders. Dort bedarf die Auflösung der fehlerhaften Gründung ebenfalls noch der Umsetzung, nämlich im Wege eines anschließenden Liquidationsverfahrens (vgl. §§ 277 Abs. 1 i. V. m. 264 ff. AktG). Den Liquidatoren ist nur das Handlungsziel, nicht jedoch ein konkretes Handlungsprogramm vorgegeben. Auch die Hauptversammlung muss an verschiedenen Stellen mitwirken. Die festgestellte Unwirksamkeit der Verschmelzung ersetzt also bloß den Auflösungsbeschluss bzw. das Nichtigkeitsurteil (vgl. § 277 Abs. 1 AktG); denn die grundsätzliche Entschmel-

__________ 28 Dritte Richtlinie 78/855/EWG v. 9.10.1978, ABl. Nr. L 29 1/9 = Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 1999, Rz. 258 (S. 148 ff.). 29 Näher Schäfer (Fn. 1), S. 190 f. 30 S. nur Zöllner, AG 1993, 68, 75: Aufhebung der Beschlusswirkung ab Rechtskraft des Anfechtungsurteils; dem folgend Hüffer (Fn. 12), § 246a AktG Rz. 7a; ähnlich auch Hommelhoff, ZHR 158 (1994), 11, 31 f. – Näher Schäfer (Fn. 1), S. 378 ff. 31 Siehe oben 2. mit Nachw. in Fn. 19. 32 Deshalb hält Karsten Schmidt (ZGR 1991, 373, 392 f.) sie für untauglich, eine fehlerhafte Verschmelzung abzuwickeln, ebenso auch Grunewald (Fn. 9), § 20 UmwG Rz. 67 ff.

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zungspflicht des Vorstands bzw. die Mitwirkungspflicht der übrigen Gesellschafter ergibt sich aus der Unwirksamkeit des Beschlusses selbst33. Eine „Entschmelzung“ im Wege der Spaltung scheitert auch nicht an unbehebbaren tatsächlichen Schwierigkeiten. Denn die neuen Rechtsträger brauchen eben nicht exakt ihr ursprüngliches Vermögen zurückzuerhalten. Zwischenzeitliche Veränderungen zu akzeptieren, liegt vielmehr gerade in der Konsequenz einer bis zu ihrer Auflösung wirksamen Verschmelzung. Daher ist es nur folgerichtig, wenn man – entsprechend den für die Liquidation geltenden Regeln (§ 271 Abs. 2 AktG) – das bei der aufnehmenden Gesellschaft vorhandene Vermögen nach dem ursprünglichen Wertverhältnis auf die im Wege der Spaltung neu zu begründenden Gesellschaften verteilt34, was selbstverständlich nicht ausschließt, dass eindeutig zuzuordnende und noch vorhandene Vermögensgegenstände entsprechend ihrer Herkunft aufgeteilt werden35. Mit einer „Entschmelzung“ verbindet sich also keineswegs die „Rückübertragung jedes einzelnen Vermögensgegenstandes“. b) Erweiterter Bestandsschutz im Freigabeverfahren? – Verhältnis zu § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG Nach § 16 Abs. 3 Satz 6 Hs. 2 UmwG, der über §§ 125, 176 Abs. 1, 177 Abs. 1, 198 Abs. 3 UmwG auch bei den übrigen Umwandlungsformen gilt, kann „die Beseitigung der Wirkungen der Eintragung der Verschmelzung“ auch nicht als Schadensersatz verlangt werden. Diese Regelung ist in der Literatur verschiedentlich als Beleg dafür gewertet worden, dass eine „Entschmelzung“ im Sinne der ex-nunc-Abwicklung generell ausscheide und allenfalls auf Geldleistung gerichtete Schadensersatzansprüche verblieben36. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch auch diese Argumentation als nicht überzeugend. Man mag schon daran zweifeln, dass sich die Regelung eines Schadensersatzanspruchs, der auf den Eigenheiten des einstweiligen Rechtsschutzes beruht, überhaupt derart verallgemeinern lässt37. Denn hierdurch

__________ 33 Näher Schäfer (Fn. 1), S. 193 f. 34 Vgl. auch Kiem, Verschmelzung (Fn. 8), S. 174 („wertmäßige Wiederherstellung des früheren Zustands“); ähnlich auch Hommelhoff, ZGR 1990, 447, 465 (in Bezug auf Unternehmensverträge). 35 Auch ist dies in der Liquidation durchaus denkbar, wenngleich die Aufteilung einzelner Gegenstände unter Anrechnung auf die Liquidationsquote nur in der GmbH zweifelsfrei zulässig ist (vgl. Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2002, § 72 GmbHG Rz. 8, 10), während die Frage für die AG umstritten ist, vgl. für die – befürwortende h. M. – nur Sethe, ZIP 1998, 770, 772 (m. w. N.); a. A. namentlich Hüffer in GHEK, AktG, § 268 AktG Rz. 19 (der die Versilberung nur mit Zustimmung aller Aktionäre für abdingbar hält). 36 So etwa Grunewald (Fn. 9), § 20 UmwG Rz. 70 ff.; Marsch-Barner (Fn. 10), § 20 UmwG Rz. 47; Chr. Schmid, ZGR 1997, 493, 501; Bork in Lutter (Hrsg.), Kölner Umwandlungsrechtstage, 1995, S. 261, 266 f.; vgl. auch Karsten Schmidt, DB 1996, 1859, 1860, der es immerhin für möglich hält, in § 16 Abs. 3 Satz 6 Hs. 2 UmwG eine „verallgemeinerungsfähige“ Entscheidung des Gesetzgebers zu sehen. 37 Ähnlich auch Chr. Schmid, ZGR 1997, 493, 510 f.

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würde das prozessrechtliche Prinzip durchbrochen, dass Hauptsacheverfahren nicht durch solche des einstweiligen Rechtsschutzes substituiert werden dürfen38. – Vor allem aber ist nicht anzunehmen, dass § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG weitergehende Wirkung entfaltet, als seine Bezugsnorm. Wie § 20 Abs. 2 UmwG möchte er vielmehr nur die ex-tunc-Abwicklung der Verschmelzung verhindern. Hierfür spricht nicht nur, dass ein Schadensersatzanspruch bei einer Reihe von Fehlern für den durch eine fehlerhafte Verschmelzung verursachten Eingriff in die Mitgliedschaft ohnehin nicht angemessen zu kompensieren vermöchte39. Vielmehr lässt gerade der offensichtlich auf § 20 Abs. 2 UmwG abgestimmte Wortlaut erkennen, dass es lediglich darum geht, der Eintragung ihre Wirkungen nach § 20 Abs. 1 UmwG zu erhalten. Diese Wirkungen werden aber, wie gesehen, a limine nicht berührt, soweit nur für die Zukunft eine Entflechtung herbeizuführen ist. Wie es sich auch für § 246a AktG herausstellen wird, besteht der – sehr plausible – Zweck der Regelung also gerade darin, die von § 20 Abs. 2 UmwG angeordnete Bestandskraft gegen Schadensersatzansprüche zu sichern, damit sie nicht auf indirektem Wege ausgehöhlt werden kann. Dann ist es aber im Grunde selbstverständlich, dass die Regelung nicht weiter reichen kann, als die Bezugsvorschrift des § 20 Abs. 2 UmwG selbst. Die Gesetzesbegründung bestätigt dies40. Außerdem verlangt gerade die manifeste Reduktion der Rechtmäßigkeitskontrolle im Freigabeverfahren, erst recht bei dessen Verschärfung durch das ARUG (oben I.), dass die Eintragung der Verschmelzung notfalls wieder korrigiert werden kann41. Schon an diesem Zusammenhang zeigt sich im Übrigen, was sich bei § 246a AktG noch eindrucksvoller bestätigen wird: Das Freigabeverfahren ist ein rechtlich höchst zweifelhaftes Instrument, um das Problem des Missbrauchs der Anfechtungsklage zu bewältigen (dazu unter III.3.b, ee und 4.). c) Unverhältnismäßigkeit der „Entschmelzungspflicht“? Auch wenn man § 20 Abs. 2 UmwG im hier vorgetragenen Sinne versteht, ist schon gegenwärtig keineswegs zu befürchten, dass jeder Verschmelzungsfehler automatisch nach einer „Entschmelzung“ verlangt42. Erst recht gilt dies, wenn die kassationsfähigen Beschlussmängel in Zukunft erheblich eingeschränkt werden (dazu unter IV.). Schon die Verschmelzungs-Richtlinie schließt für be-

__________ 38 Vgl. nur Drescher in MünchKomm.ZPO, § 935 ZPO Rz. 1 ff. m. w. N. (im Zusammenhang mit der im Einzelnen strittigen Frage, ob eine sog. Befriedigungsverfügung sich mit dem Verfahrenszweck des einstweiligen Rechtsschutzes nach den §§ 935, 940 ZPO verträgt). 39 Martens, AG 1986, 57, 63; vgl. auch Bork in Lutter, UmwG (Fn. 9), § 16 UmwG Rz. 40 (Anspruch „relativ wertlos“). 40 BegrRegE zu § 16 bei Ganske (Fn. 19), S. 70; genauere Exegese bei Schäfer (Fn. 1), S. 196. 41 Ebenso Chr. Schmid, ZGR 1997, 493, 509 f. 42 Auch von den Befürwortern einer Entschmelzung vertritt niemand eine solche Radikallösung, vgl. Martens, AG 1986, 57, 63 ff.; Karsten Schmidt, AG 1991, 131, 136 f.; ders., ZIP 1998, 181, 187; Kiem, Verschmelzung (Fn. 8), S. 260 ff.; Chr. Schmid, ZGR 1997, 493, 516 ff.

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stimmte Fehler die Nichtigerklärung ausdrücklich aus, und das deutsche Recht ist darüber bekanntlich noch hinausgegangen43. Hinzuweisen ist im Übrigen auf die Möglichkeiten einer Heilung durch Bestätigung oder Neuvornahme. 4. Fazit § 20 Abs. 2 UmwG bzw. der umwandlungsrechtliche Bestandsschutz lassen sich – entgegen der wohl h. M. – friktionslos in die allgemeinen Regeln des fehlerhaften Verbands einpassen, die Vorschrift vermittelt somit Bestandskraft (nur) bis zur Nichtigerklärung des Beschlusses. Wortlaut und Normzweck sowohl des § 20 Abs. 2 UmwG als auch der hiermit korrespondierenden Vorschrift des § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG richten sich lediglich gegen eine „Entschmelzung“ nach dem Begriffsverständnis, wie es vor Inkrafttreten des § 352a AktG geherrscht hat, also gegen eine (echte) Rückabwicklung der Verschmelzung nach allgemeinem Zivilrecht. – Hat diese Interpretation der Bestandskraft Vorbildcharakter auch für die Auslegung des neueren § 246a AktG oder gelten hier andere Regeln? Dieser Frage ist der folgende III. Teil gewidmet.

III. Bestandskraft nach § 246a AktG 1. Einführung; Vergleich mit § 319 Abs. 6 AktG Seit dem 1.11.2005 erstreckt § 246a AktG, wie erwähnt (oben I.), das umwandlungsrechtliche Freigabeverfahren auf bestimmte aktienrechtliche Strukturänderungen. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war es, Anfechtungsklagen ihr immanentes Erpressungs-, also Missbrauchspotential zu nehmen44. Wie bei einer Umwandlung soll die Gesellschaft deshalb trotz erhobener Anfechtungsklage erreichen können, dass Kapitalerhöhung, Unternehmensvertrag etc. möglichst binnen drei Monaten bestandskräftig eingetragen werden. Anders als im Umwandlungsrecht fehlt jedoch der Bezug zu einer allgemeinen Bestandskraftregelung nach Art des § 20 Abs. 2 UmwG; vielmehr sieht § 246a Abs. 4 Satz 2 Hs. 1 AktG – bei im Wesentlichen gleichem Wortlaut – nur für die im Wege des Freigabeverfahrens erwirkte Eintragung vor, dass „nach der Eintragung Mängel des Beschlusses seine Durchführung unberührt“ lassen. Außerdem bestimmt § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG neuerdings, dass im Falle einer erfolgreichen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage das „Urteil nach § 248 Abs. 1 Satz 3 nicht mehr eingetragen werden [kann], wenn gem. § 246a Abs. 1 rechtskräftig festgestellt wurde, dass Mängel des Hauptversammlungsbeschlusses die Wirkung der Eintragung unberührt lassen.“ Diese Abweichungen könnten eine im Vergleich zum Umwandlungsrecht weiter reichende Bestandskraft rechtfertigen (s. sogleich unter 2.).

__________ 43 Dazu und zum Folgenden ausführlicher Schäfer (Fn. 1), S. 197 f. 44 BegrRegE, BT-Drucks.15/5092, S. 2; Überblick etwa bei Jahn, BB 2005, 5, 8 und Kolb, DZWIR 2006, 50 ff.

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Der vergleichende Blick auf das zweite aktienrechtliche Freigabeverfahren, das seit 2002 für die Eingliederung nach § 319 Abs. 5, 6 AktG und über § 327e Abs. 2 AktG auch für den „Squeeze out“ gilt, lässt überdies zunächst vermuten, dass gerade in Bezug auf die Bestandskraftwirkung keineswegs überall die gleichen Regeln gelten müssen. Denn bei § 319 Abs. 6 AktG fehlt schlicht jede Regelung hierzu45. Gilt also hinsichtlich der Bestandskraft in allen drei Fällen etwas anderes? 2. Ausschluss der Heilungswirkung Auf den ersten Blick scheint § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG für die heilende Wirkung der Eintragung zu sprechen; denn § 242 AktG befasst sich nun einmal mit der Heilung von Beschlussmängeln im Sinne einer Änderung der materiellen Rechtslage46. Indessen erhellt bereits der zweite Blick, dass gerade dies nicht gemeint sein kann. Auffällig ist schon, dass der – dort zweifelsfreie – Heilungserfolg der Eintragung in § 242 Abs. 1 AktG mit ganz anderen Worten beschrieben wird: „Die Nichtigkeit … kann nicht mehr geltend gemacht werden, wenn der Beschluss in das Handelsregister eingetragen worden ist.“ Demgegenüber verhindert § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG lediglich, dass eine erfolgreiche Anfechtungsklage „nicht mehr eingetragen“ werden kann. Die Mangelhaftigkeit des Beschlusses bleibt also unberührt; er kann unverändert für nichtig erklärt werden. Dass die Beschlussmängel nicht geheilt werden, bestätigt auch der daran geknüpfte verschuldensunabhängige Schadensersatzanspruch nach § 246 Abs. 4 Satz 1 AktG, der anderenfalls keinerlei Grundlage hätte. Die Motive fassen diese eigenartige Wirkung in die schönen Worte: „Der Beschluss ist folglich nichtig, seine Wirkungen haben aber Bestand.“47 Was immer dies bedeuten mag, in negativer Hinsicht steht jedenfalls fest, dass die nach § 246a AktG bewirkte Eintragung nicht zur Heilung von Beschlussmängeln führt48. Die Regelung des § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG ist demgemäß an dieser Stelle gänzlich fehlplatziert49. Welcher positive Sinn dem § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG beizulegen ist, soll im Folgenden aufzuklären versucht werden. 3. Ewige Bestandskraft durch § 246a Abs. 4 Satz 2? a) Meinungsstand Nach Inkrafttreten des UMAG haben die Autoren vieler Übersichtsbeiträge ohne Weiteres angenommen, dass § 246a AktG, obwohl er nicht als Heilungs-

__________ 45 Vgl. dazu die im Gesetzgebungsverfahren geäußerte Kritik des DAV-Handelsrechtsausschusses, ZIP 2005, 774, 780; ebenso auch Veil, AG 2005, 567, 575; ferner die Darstellung bei Büchel in FS Happ, 2006, S. 1, 4 f. 46 Nachw. oben bei Fn. 7, 12. 47 BegrRegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 28. 48 Wohl unstr. Ausdrücklich etwa Schütz, DB 2004, 419, 424; Winter in FS Happ, 2006, S. 363, 370 f. 49 So auch Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1636 (hat mit Heilungsfragen nichts zu tun).

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norm zu verstehen ist (oben 2.), eine Bestandskraftwirkung nicht nur für die Vergangenheit anordnet, sondern darüber hinaus auch verhindern will, dass die jeweilige Strukturmaßnahme mit Wirkung für die Zukunft abgewickelt werden muss50, ein fehlerhafter Beherrschungsvertrag also zu kündigen, eine fehlerhafte Kapitalerhöhung durch komplementäre Kapitalherabsetzung abzuwickeln ist usw. Auch in der Kommentarliteratur wird ganz überwiegend die Ansicht vertreten, § 246a Abs. 4 Satz 2 Hs. 1 AktG vermittele gleichsam ewige Bestandskraft51. Zur Begründung wird allerdings häufig nur eine Bemerkung in den UMAG-Motiven zitiert, wonach dem Freigabebeschluss die gleiche Wirkung zukommen soll wie der eingetragenen Verschmelzung nach §§ 16 Abs. 3, 20 Abs. 2 UmwG52. Gelegentlich wird noch hinzugefügt, dass die Erstreckung der Bestandskraft in die Zukunft der Rechtssicherheit diene und Rückabwicklungsprobleme vermeide53. Hinsichtlich der fehlerhaften Kapitalerhöhung wird außerdem betont, dass ein „praxistaugliches Reparaturkonzept“ noch nicht erprobt sei54. Auch der Ausschluss der Naturalrestitution nach § 246a Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 AktG wird gelegentlich als Beleg dafür gewertet, dass eine ex-nunc-Abwicklung der Strukturmaßnahme ausgeschlossen sei, der Aktionär seinen Schaden deshalb stets nur in Geld ersetzt verlangen könne55. Gelegentlich wird immerhin ein Vorbehalt für Fälle angebracht, in denen Aktionärsrechte „von der Gesellschaft in verfassungsrechtlich unerträglicher Weise beschnitten würden“56.

__________ 50 Hirschberger/Weiler, DB 2004, 1137, 1138; Erbo/Theusinger, BB 2006, 449, 452; Fassbender, AG 2006, 872, 880; Paschos/Johannsen, NZG 2006, 327, 330; Schütz, DB 2004, 419, 422; Spindler, NZG 2005, 825, 830; Wilsing, ZIP 2004, 1082; Veil, AG 2005, 567, 571 f. (mit dem Hinweis, dies sei rechtspolitisch vertretbar); Koch, ZGR 2006, 769, 798 f. 51 Hüffer (Fn. 12), § 246a AktG Rz. 5; Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 2008, § 246a AktG Rz. 30; Dörr in Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 246a AktG Rz. 37; Heidel, AktG, 2. Aufl. 2007, § 246a AktG Rz. 31; für das GmbH-Recht auch Ulmer in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2008, § 57 GmbHG Rz. 47a; ebenso Schürnbrand, ZHR 171 (2007), 731, 741 f.; und wohl auch Winter in FS Happ, 2006, S. 363, 369 f., 372, der jedenfalls de lege ferenda für umfassenden Bestandsschutz plädiert. 52 BT-Drucks. 15/5092 v. 14.3.2005, S. 27; darauf verweisend namentlich Heidel (Fn. 51), § 246a AktG Rz. 31; Schütz, DB 2004, 419, 422; Wilsing, DB 2005, 35, 39; Paschos/ Johannsen, NZG 2006, 327, 330. 53 Hirschberger/Weiler, DB 2004, 1137, 1138; der Hinweis auf Rückabwicklungsschwierigkeiten findet sich ferner etwa bei Erbo/Theusinger, BB 2006, 449, 452; Wilsing, ZIP 2004, 1082. 54 So Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 705; ihm folgend Veil, AG 2005, 567, 572. 55 Faßbender, AG 2006, 872, 880; Heidel (Fn. 51), § 246a AktG Rz. 31; Tielmann in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, 18.02 Rz. 9 f.; Schwab (Fn. 51), § 246a AktG Rz. 27 f.; Dörr (Fn. 51), § 246a AktG Rz. 37; Schürnbrand, ZHR 171 (2007), 731, 741 f.; Schütz, DB 2004, 419, 424 f. 56 Kort, BB 2005, 1577, 1578; vgl. auch Spindler, NZG 2005, 825, 830. – Der von Kort erwähnte Fall, dass eine Eintragung durch Freigabe erreicht wurde, ohne dass ein Beschluss gefasst wurde, dürfte allerdings kaum praktisch werden.

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b) Stellungnahme aa) Verwirrung durch das Zusammenspiel aus Wortlaut, Systematik und Gesetzesbegründung Martin Winter hat die Rechtsfolgenanordnung zu Recht als „verwirrend und unnötig kompliziert“ bezeichnet57. Auf den ersten Blick bewirkt § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG eine Heilung der Beschlussmängel, doch schon der zweite Blick hat gezeigt, dass eine erfolgreiche Anfechtungsklage unverändert zur Nichtigerklärung des Beschlusses nach § 248 Abs. 1 AktG führt (oben 2.). Zugleich ist in § 246a Abs. 3 Satz 4 AktG aber geregelt, dass das Registergericht an den Freigabebeschluss gebunden ist, also einzutragen hat. Der Beschluss stellt nicht etwa fest, dass die mit der Anfechtungsklage gerügten Mängel einer Eintragung nicht entgegenstehen, sondern sagt dies lediglich in Bezug auf die Erhebung der Anfechtungsklage58. Das ist auch konsequent, weil sich die Eintragung ohne Rücksicht auf den Mangel allein aus einer Interessenabwägung ergeben kann (und in der Praxis regelmäßig ergibt). Aussagen zur Bestandskraftwirkung für den Fall, dass die Anfechtungsklage sich als begründet erweist, lassen sich daraus nicht entnehmen. Und dies gilt auch für die weitere Bestimmung, dass Beschlussmängel die „Durchführung“ des Beschlusses unberührt lassen (Abs. 4 Satz 2). Vor diesem Hintergrund muss die Gewissheit der h. M. überraschen (oben a), dass aus dem Gesetz die ewige Bestandskraft der Maßnahme folgen soll. Denn für welche Zeit die Durchführung des Beschlusses unberührt bleibt, ist nach dem Wortlaut völlig offen. Soll die ex-nunc-Abwicklung einer mangelhaften Strukturmaßnahme auch für die Zukunft ausgeschlossen werden? – Oder soll nur die ex-tunc-Aufhebung der Folgen einer solchen Strukturmaßnahme verhindert werden, so dass die durch das Freigabeverfahren vermittelte Bestandskraft also nur bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens wirkt? Die eigenartige Vorschrift des § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG würde bei diesem Verständnis dem Nichtigkeitsurteil also nur seine Rückwirkung auf die Beschlussfassung nehmen. – Beide Varianten lassen sich ohne weiteres mit dem Normtext vereinbaren. Und auch die Gesetzesbegründung gibt keinen eindeutigen Aufschluss. Das gilt zunächst für die bereits unter 2. zitierte zusammenfassende Feststellung der Gesetzesbegründung, der Beschluss sei im Falle des § 246a AktG nichtig, seine Wirkungen hätten aber Bestand. Ferner sagt die Begründung zwar, bei erfolgreicher Anfechtungsklage könne der Kläger nur noch Schadensersatz, nicht jedoch die Beseitigung der Eintragungswirkung verlangen59. Sodann verweist sie aber auf die „gleiche Bestandskraft“, wie sie durch §§ 16 Abs. 3, 20 Abs. 2 UmwG gewährt werde – und dies bedeutet, wie gesehen (unter II.), dass die Maßnahme durchaus mit Wirkung für die Zukunft abgewickelt werden kann.

__________ 57 Winter in FS Happ, 2006, S. 363, 370 f.; ebenso auch Ulmer in Ulmer/Habersack/ Winter (Fn. 51), § 53 GmbHG Rz. 47a. 58 BT-Drucks. 15/5092 v. 14.3.2005, S. 27 re. Sp. 59 BegrRegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 28.

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Klar ist somit letztlich nur, dass die Wirkungen der Eintragung für die Vergangenheit nicht als ungeschehen behandelt werden dürfen, ob dies auch die Abwicklung der Maßnahme mit ex-nunc-Wirkung ausschließt, ist hingegen keineswegs gewiss. Es bedarf also noch weiterer Erwägungen zur Begründung des einen oder anderen Ergebnisses. Der Hinweis auf den Schadensersatz wird sich dabei als besonders zwiespältig erweisen. bb) Keine Rückabwicklungsschwierigkeiten bei ex-nunc-Unwirksamkeit Wie erwähnt, wird zur Begründung der durch § 246a Abs. 4 AktG – angeblich – vermittelten ewigen Bestandskraft oftmals auf anderenfalls zu besorgende Rückabwicklungsschwierigkeiten verwiesen. Praktisch unüberwindliche Schwierigkeiten wären aber nur zu besorgen, wenn die von § 246a Abs. 1 AktG erwähnten Strukturmaßnahmen für die Vergangenheit als ungeschehen behandelt werden müssen, nicht dagegen bei einer ex-nunc-Aufhebung ihrer Wirkungen. Das ist offensichtlich beim Abschluss eines Beherrschungsvertrages, der selbstverständlich wieder gekündigt werden kann (§ 297 AktG), gilt aber auch für die Kapitalerhöhung und sonstige Kapitalmaßnahmen60. Richtig ist zwar, dass es für das Unternehmen unbequem ist, eine Kapitalerhöhung, sofern die Heilung der Beschlussmängel ausscheidet, durch eine komplementäre Kapitalherabsetzung wieder zu beseitigen. Und richtig ist auch, dass die in der Literatur hierfür aufgezeigten Möglichkeiten61 noch der praktischen Erprobung harren62. Unüberwindlich sind die Hindernisse aber keineswegs63. Wie am Beispiel der Verschmelzung erläutert (oben II.3.), vermag die Anfechtungsklage die Funktion der Nichtigkeitsklage, den diese bei der Abwicklung fehlerhaft gegründeter Gesellschaften wahrnimmt, in vergleichbarer Weise auszufüllen. Im Vergleich zur Abwicklung einer fehlerhaften Verschmelzung dürften sich die praktischen Probleme sogar eher harmlos ausnehmen64. Dogmatisch gesehen, gibt es also keine Rechtfertigung, die Mangelhaftigkeit des Rechtsgeschäfts vollständig zu ignorieren. Andererseits ist unverkennbar, dass auch eine Abwicklung ex nunc ein erhebliches Erpressungspotential in sich birgt. Nur ist eine jenseits dogmatischer Rechtfertigung ausgedehnte Bestandskraft, verbunden mit dem Freigabeverfahren, kein überzeugendes Instrument, das Risiko missbräuchlicher Klagen zu limitieren (dazu unter IV.).

__________ 60 S. dazu im Einzelnen Schäfer (Fn. 1), S. 422 ff. (Kapitalmaßnahmen), S. 444 ff. (Kapitalherabsetzung). 61 Grundlegend Zöllner, AG 1993, 68; ferner Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994), 59 ff.; Kort, ZGR 1994, 291; ders., Bestandsschutz (Fn. 10), S. 200 ff.; Schäfer (Fn. 1), S. 422 ff. 62 So Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 704. 63 Das zeigen auch die von Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 704 f. aufgelisteten verbleibenden Probleme. 64 So auch Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1634.

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cc) Irrelevanz des Verweises auf § 20 Abs. 2 UmwG Dass der in der Gesetzesbegründung65 gegebene und vielfach aufgegriffene Hinweis auf die von § 20 Abs. 2 UmwG vermittelte Bestandskraft nicht für, sondern gegen die h. M. spricht, bedarf hier nur noch des klarstellenden Hinweises; denn die Ausführungen unter II. haben deutlich gezeigt, dass § 20 Abs. 2 UmwG gerade keinen ewigen, sondern nur bis zum Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsurteil reichenden Bestandsschutz gewährt. dd) Bedeutung des Schadensersatzanspruchs in § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG? Folgt aber nicht wenigstens aus der Bestimmung des § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG, wonach dem klagenden Aktionär der aus der Eintragung entstehende Schaden zu ersetzen ist, die ewige Bestandskraft der Maßnahme? Dass ein solcher Schluss jedenfalls nicht zwingend ist, liegt indessen auf der Hand. Denn auch wenn die Maßnahme nur bis zum Anfechtungsurteil wirksam bleibt, kann dem Kläger für die Zwischenzeit ein Schaden entstanden sein. Zudem kann der Ausschluss der Naturalrestitution in Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 selbstverständlich nur so weit reichen, wie die Bestandskraftwirkung nach Abs. 4 Satz 2 Hs. 1; denn die Regelung soll, wie § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG (dazu unter II.3.b), lediglich verhindern, dass die Bestandskraftwirkung mit den Mitteln des Schadensersatzes unterlaufen wird66, kann also keine weiterreichende Wirkung als die Bestandskraftanordnung selbst haben. Auch die in erster Linie für ersatzfähig gehaltenen Schadensposten sind ihrer Natur nach ganz unabhängig von der Reichweite der Bestandskraft. Nach h. M. soll der Kläger nämlich vor allem Erstattung der im Hauptsache- und Freigabeverfahren vergebens aufgewendeten Prozesskosten von der Gesellschaft verlangen können67. Soweit der Kläger daneben auch noch, wie die Gesetzesbegründung andeutet, bei einer rechtswidrigen Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss seinen Verwässerungsschaden geltend machen kann68, bedeutet das noch nicht viel für das Thema. Denn auch bei nur vorläufiger Bestandskraftwirkung würde ein solcher Verwässerungsschaden durch einen Komplementärakt nicht sicher kompensiert, insbesondere dann nicht, wenn es bei einer Kapitalerhöhung unter (rechtswidrigem) Bezugsrechtsausschluss nicht

__________ 65 BegrRegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 28. 66 So denn auch BegrRegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 29. 67 So im Anschluss an BegrRegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 28; Schwab in Karsten Schmidt/Lutter (Hrsg.), AktG, 2008, § 246a AktG Rz. 31; Hüffer (Fn. 12), § 246a AktG Rz. 13; Paschos/Johannsen, NZG 2006, 331. 68 BegrRegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 28; dem folgend z. B. DAV-Stellungnahme, NZG 2004, 555, 565; Göz/Holzborn, WM 2006, 157, 161; Tielmann in Happ, Aktienrecht, 3. Aufl. 2007, 18.02 Rz. 10; Hüffer (Fn. 12), § 246a AktG Rz. 13; Ihrig/Erwin, BB 2005, 1973, 1977; Spindler, NZG 2005, 825, 830.

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gelingt, durch Kapitalherabsetzung zur Einziehung gerade die durch die Kapitalerhöhung neu geschaffenen Aktien wieder zu vernichten69. Hinzu kommt, dass Schadensersatz zumindest bei schweren Mängeln offensichtlich keine angemessene Kompensation gewähren könnte. Bei den Prozesskosten wird mit guten Gründen bestritten, dass die von der prozessualen Erstattungspflicht nicht abgedeckten Kosten überhaupt als adäquat durch die Eintragung verursacht anzusehen seien70. Und auch beim Verwässerungsschaden lässt sich daran zweifeln, ob er wirklich fassbar wäre71. Jedenfalls böte ein regelmäßig bloß auf den Ersatz vergeblich aufgewandter Prozesskosten gerichteter Anspruch schwerlich angemessenen Ausgleich für die Beseitigung der normalen Anfechtungsfolgen72. Das gilt umso mehr, als nur dem Anfechtungskläger selbst ein Schadensersatzanspruch zuzubilligen ist, Dritten somit auch dann nicht, wenn sie als Nebenintervenienten am Freigabeverfahren beteiligt sind73. Das Konzept der Anfechtungsklage als Instrument des objektiven Rechtsschutzes ist folglich auf der Sekundärebene in sein Gegenteil verkehrt, was nicht eben für ein stimmiges Gesamtsystem spricht74. Schließlich ist sehr zweifelhaft, ob die Andeutung der Regierungsbegründung, der erfolgreiche Anfechtungskläger, könne „nur noch Schadensersatz“ verlangen, tatsächlich im Sinne einer ausschließlichen Kompensation in Geld(!) zu verstehen ist, wie viele anzunehmen scheinen. Zwingend ist dies keineswegs, und so wird denn auch erwogen, dass der Kläger bei einer fehlerhaften Kapitalerhöhung als Schadensersatz eine weitere, reparierende Kapitalerhöhung oder die Abtretung der ihm widerrechtlich vorenthaltenen neuen Anteile gegen Einlagen verlangen könnte75. ee) Gesamtabwägung Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt: Eine über den Zeitpunkt des Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsurteils nach § 248 Abs. 1 AktG hinausgehende

__________ 69 So bei Vermischung der jungen mit fehlerfreien alten Aktien, vgl. Zöllner/Winter, ZHR 158 (1994) 59, 92 ff.; Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 705 ff. – Seit den 1980er Jahren sind Banken und Börsen allerdings dazu übergegangen, die aus angefochtenen Kapitalerhöhungen folgenden jungen Aktien unter einer eigenen Wertpapierkennnummer zuzulassen, so dass sich diese Probleme erledigen (s. Winter a. a. O., S. 706). 70 Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1637; für § 16 Abs. 3 UmwG im Ergebnis ähnlich Kösters, WM 2000, 1921, 1929. 71 Veil, AG 2005, 567, 572 f.; für Funktionsunfähigkeit des Prinzips „Dulde und Liquidiere“ insoweit überzeugend auch Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1638. 72 Zutr. Karsten Schmidt in FS Happ, 2006, S. 259, 272 f.; ebenso auch Spindler, NZG 2005, 825, 830; Meilicke/Heidel, DB 2004, 1479, 1484 f. 73 Veil, AG 2005, 567, 572; Karsten Schmidt in FS Happ, 2006, S. 259, 272 ff.; a. A. für Nebenintervenienten aber Schwab (Fn. 51), § 246a AktG Rz. 29. 74 Mit Recht kritisch daher insoweit Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1638 f. („Schwachstelle, die sie ganz und gar unstimmig erscheinen lässt.“). 75 Ulmer in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 51), § 57 GmbHG Rz. 47a; s. a. Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 704 f.; anders wohl Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1637 f.

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Bestandskraft ist auch für § 246a AktG in Hinblick auf die dort geregelten Strukturmaßnahmen dogmatisch nicht zu rechtfertigen (oben bb). Sie wäre bislang auch beispiellos; denn der Verweis auf § 20 Abs. 2 UmwG führt in Wahrheit in die Irre (oben cc). Freilich könnte der Gesetzgeber sie gleichwohl angeordnet haben; denn er ist an die Regeln der Dogmatik nicht unbedingt gebunden. Die Dogmatik kann aber helfen eine uneindeutige Regelung so auszulegen, dass sie sich in das allgemeine System einfügen lässt. Insofern ist zunächst festzustellen, dass Wortlaut, Systematik und Gesetzesbegründung kein klares Ergebnis in Hinblick auf die Reichweite der Bestandskraft geben. Fest steht lediglich, dass einerseits keine Heilung bezweckt ist, andererseits eine Rückabwicklung ex tunc ausgeschlossen sein soll. Darüber hinaus gibt es gewisse Anzeichen in der Begründung, die auf einen weitergehenden Bestandsschutz hindeuten, namentlich die mehr oder weniger deutliche Vorstellung des Gesetzgebers, der Anfechtungskläger könne nur noch Schadensersatz (in Geld?) verlangen, wenn seine Klage erfolgreich war (oben dd). Gerade diese Vorstellung beruht jedoch auf zweifelhaften Annahmen zum möglichen Umfang des Schadensersatzes. Einerseits kommen die für ersatzfähig gehaltenen Schadensposten auch dann in Betracht, wenn man von einer Bestandskraftwirkung (nur) bis zur Nichtigerklärung des Beschlusses ausgeht. Andererseits vermöchte ein individueller und inhaltlich begrenzter Schadensersatzanspruch nur des Klägers gerade schwerwiegende Mängel nicht einmal ansatzweise zu kompensieren. Ferner ist unverkennbar, dass das in sich widersprüchliche Nebeneinander aus der Bestandskraft einer Maßnahme einerseits, und der Vernichtung des zugrunde liegenden Beschlusses andererseits, nicht in ein konsistentes System überführt werden kann76. Die dogmatische Widersprüchlichkeit ließe sich nach dem Vorbild des § 113 Abs. 3 Satz 4 VwGO zwar wohl dahin auflösen, dass der Anfechtungs- oder Nichtigkeitskläger seinen Antrag nach erfolgter Handelsregistereintragung auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Beschlusses umzustellen hat77. Doch vermöchte dies den Wertungswiderspruch zwischen aufrecht erhaltender Mangelhaftigkeit des Beschlusses und einem nicht kompensationsfähigen Schadensersatzanspruch keineswegs zu beseitigen. Man muss daher mit Zöllner bezweifeln, dass die ewige Bestandskraft mangelhaft beschlossener Kapitalveränderungen und Unternehmensverträge rechtlich vertretbar ist78. Es bleibt nach allem nur ein mögliches Argument von Gewicht gegen die Hypothese, dass auch die durch § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG bewirkte Bestandskraft den Regeln der LfV folgt. Es ist systematischer Natur: Nach der LfV kommt es prinzipiell nicht darauf an, auf welchem Wege die danach geschützte Eintragung von Strukturmaßnahmen erfolgt ist; § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG

__________ 76 Winter in FS Happ, 2006, S. 363, 370 f.; Ulmer in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 51), § 57 GmbHG Rz. 47a. 77 So der Vorschlag von Winter in FS Happ, 2006, S. 363, 370 f.; dem grds. folgend Ulmer in Ulmer/Habersack/Winter (Fn. 51), § 57 GmbHG Rz. 47a. 78 In FS Westermann, 2008, S. 1631, 1634.

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gilt jedoch – anders als die umwandlungsrechtliche Regelung (§ 20 Abs. 2 UmwG) – allein für die mittels Freigabeverfahren ins Register gelangte Eintragung. Müsste also aus diesem Grund nicht ein Gegenschluss für alle Eintragungen nahe liegen, die auf anderem Wege erfolgt sind, ein Schluss, der mit der LfV unvereinbar wäre? Indessen ist ein solches argumentum e contrario keineswegs gesichert. Der Gesetzgeber mag sich bloß auf den praktisch vorrangig bedeutsamen Weg der Eintragung im Falle einer angefochtenen Strukturmaßnahme beschränkt haben, ohne dass er deshalb für Eintragungen, die ausnahmsweise außerhalb dieses Verfahrens bewirkt wurden, insoweit etwas anderes anordnen wollte. Zwar hat er im Falle des § 246a AktG keine Registersperre verfügt; in der Praxis wird jedoch im Falle einer Anfechtung nicht eingetragen, sondern das Verfahren bis zur Entscheidung des Prozessgerichts ausgesetzt79. Das Freigabeverfahren stellt somit, wie von vornherein absehbar, bei Anfechtung den einzigen realistischen Weg zur Eintragung dar. Die ohne Freigabe erfolgte Eintragung bleibt mithin nur für die – ebenfalls nicht besonders wahrscheinlichen – reinen Nichtigkeitsgründe von gewisser Relevanz, sofern nämlich keine Beschlussmängelklage erhoben wurde. Dass auch dieser Fall nicht im Fokus des Gesetzgebers gestanden hat, ist indessen gleichfalls leicht nachvollziehbar. Unverkennbar wird mit der hier vertretenen These der gegenwärtig lebhaft geführte Streit gegenstandslos, ob ein Freigabeverfahren auch noch nach erfolgter Eintragung durchgeführt werden kann80. Denn das Freigabeverfahren vermittelt danach eben keinen weitergehenden Bestandsschutz als eine sonst erwirkte Eintragung. Aber das ist auch gut so81, zumal das Freigabeverfahren als ein schnell funktionierendes Mittel des einstweiligen Rechtsschutzes, um zur Eintragung zu gelangen, selbstverständlich auch bei diesem Verständnis der Bestandskraft seine – durchaus vielschichtige – Bedeutung behält, wie schon der Blick auf das Verfahren nach § 319 Abs. 6 AktG bestätigt, das ja ohne jede eigenständige Bestandskraftregelung auskommen muss (oben 1. a. E.). 4. Fazit Wie man es dreht und wendet: Die Regelung des Freigabeverfahrens ist gerade in Bezug auf die durch § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG vermittelte Bestandskraft unklar und verwirrend. Zwar deuten gewisse Anzeichen in der Gesetzesbegründung darauf hin, dass der Gesetzgeber von einer Bestandskraft ausging,

__________ 79 Vgl. die empirische Untersuchung bei Baums/Keinath/Gajek, ZIP 2007, 1629, 1648; dieser Befund war auch zu erwarten, vgl. etwa Veil, AG 2005, 567, 570 (Eintragung ohne Freigabe werde ohne „nennenswerte Bedeutung“ bleiben). 80 Dafür im Anschluss an eine Bemerkung der BegrRegE (BT-Drucks. 15/5092, S. 27) DAV-Handelsrechtsausschuss, ZIP 2005, 779; Ihrig/Erwin, BB 2005, 1973, 1974; Kort, BB 2005, 1577, 1580 f.; Winter in FS Happ, 2006, S. 363, 369; a. A. Schütz, NZG 2005, 5, 9; Zöllner in FS Westermann, 2008, 1631, 1633. 81 Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1633 (angesichts der Verfahrensdefizite kaum angängig, dass das Verfahren auch noch nach Eintragung betrieben werden könne).

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die über die Feststellung der Nichtigkeit eines angefochtenen Beschlusses hinausreicht. Und für eine solche „ewige Bestandskraft“ könnte auch sprechen, dass für die Fälle des § 246a Abs. 1 AktG eine allgemeine Regelung nach Art des § 20 Abs. 2 UmwG fehlt. Indessen sind die Andeutungen der Begründung ihrerseits nicht stringent, und für einen in der Sache unangebrachten Umkehrschluss aus § 246a Abs. 4 AktG spricht auf den zweiten Blick nur wenig (3.b, cc). Passt man die Regelung zudem in ein wertungsstimmiges Gesamtsystem ein, spricht alles dafür, die im Falle des § 246a AktG bewirkte Bestandskraft ebenso aufzufassen wie im Falle des § 20 Abs. 2 UmwG, und somit in allen Fällen – einschließlich des § 319 Abs. 6 AktG82 – einheitlich davon auszugehen, dass die Bestandskraft den Regeln der LfV folgt83, somit (nur) bis zur Feststellung der Nichtigkeit reicht. Wie bei §§ 16 Abs. 3, 20 Abs. 2 AktG bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass jeder Beschlussmangel durch einen komplementären Akt führen müsste, eine fehlerhafte Kapitalerhöhung mithin stets durch eine entsprechende Kapitalherabsetzung auszugleichen wäre usw. (dazu oben II.3.c). Namentlich bei Verfahrens- und Informationsmängeln, sofern überhaupt relevant, dürfte eine Heilung durch Bestätigungsbeschluss naheliegen84, und auch sonst ist an eine reparierende Kapitalerhöhung zu denken85. Andererseits ist es bei schwerwiegenden Mängeln kaum zu rechtfertigen, dass die bloß aufgrund einer Interessenabwägung, also ohne Rücksicht auf die Begründetheit der Klage, ins Register gelangte Eintragung soll ewige Bestandskraft wirken können86, zumal die – naturgemäß dürftige – Schadensersatzregelung offensichtlich keine angemessene Kompensation zu vermitteln vermag: Es lassen sich kaum kompensationsfähige Posten überhaupt ausmachen, und zudem ist der Schadensersatzanspruch auf den Anfechtungskläger beschränkt, was dogmatisch gar nicht zum Anfechtungsrecht als ein Instrument des objektiven Rechtsschutzes passt.

IV. Der bessere Weg zur Beseitigung von Missbrauchsanreizen: Ausschluss der Kassation bei minder schweren Beschlussmängeln Selbst diejenigen, die sich von der – zu einem guten Teil gewiss ergebnisgeleiteten – h. M. durch die hier vorgetragenen Argumente nicht abbringen lassen wollen (was aus praktischer Sicht nachvollziehbar wäre), werden zumindest anerkennen müssen, dass sich Freigabeverfahren und ewige Bestandskraft keineswegs in die Grundwertungen des bestehenden Beschlussmängelsystems einfügen lassen. Dehnt man die Bestandskraft über das hier gefundene Maß aus, ist sie jedenfalls bei schweren Mängeln rechtlich nicht mehr vertretbar,

__________ 82 Zur Anwendung der LfV auf die Eingliederung s. nur Schäfer (Fn. 1), S. 466 ff. 83 Die Vorzüge der Einheitlichkeit betonen aus praktischer Sicht auch Paschos/ Johannsen, NZG 2006, 330, 333. 84 Zu den prozessualen Auswirkungen vgl. auch Nießen, Der Konzern 2007, 239 ff. 85 Dazu die Hinweise in Fn. 75 (Ulmer, Winter). 86 Im Grundsatz zu Recht sehr kritisch deshalb Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1640 ff.; vgl. auch den – im Ausgangspunkt übereinstimmenden – Befund von Winter in FS Ulmer, 2003, S. 699, 717 ff.

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zumal sie – bei § 246a Abs. 4 AktG und § 16 Abs. 3 UmwG – an ein Instrument des vorläufigen Rechtsschutzes geknüpft ist, das ohne eine materielle Beurteilung des Mangels auskommt, und jede Schadensersatzregelung eine schon im Ansatz untaugliche Kompensation darstellt. Freigabeverfahren, gepaart mit ewiger Bestandskraft, mündeten mit anderen Worten in einen fundamentalen Systembruch. Gibt es somit keine dogmatische Rechtfertigung, die Mangelhaftigkeit des Rechtsgeschäfts in so weitgehendem Maße zu ignorieren, so ist doch andererseits das Missbrauchspotential der Anfechtungsklage nicht zu verkennen; und eben dieses war ja auch Regelungsanlass für die Einführung des § 246a AktG. Das Potential hängt aber entscheidend mit der ausnahmslosen Kassationswirkung des Anfechtungsurteils zusammen, die gegenwärtig völlig unabhängig von der Schwere des Mangels eintritt. Denn nach geltendem Recht führt potentiell jeder Verfahrensmangel, sogar der vom Kläger selbst provozierte, zur Vernichtung des Beschlusses – und gerade hierin liegt das eigentliche Problem; denn eine solche Regelung lädt zum Missbrauch geradezu ein. Man kann deshalb erwägen, wie jüngst wieder Bayer in seinem Gutachten zum Erfurter Juristentag 200887, die Anfechtungsbefugnis an einen „relevanten Beteiligungsbesitz“ zu knüpfen. Auch der RefE des ARUG will ein – mit 100 Euro Nennwert allerdings sehr niedriges – Quorum einführen, das indessen nicht die Anfechtungsbefugnis einschränken, sondern nur im Rahmen des Freigabeverfahrens nach § 246a AktG relevant sein soll; demnach würde die Eintragung eines Beschlusses immer dann ohne weiteres erfolgen, wenn das Quorum unterschritten wird, Kleinstaktionären würde also generell die Möglichkeit versagt, die Freigabe einer Strukturmaßnahme zu verhindern88. Das ARUG will nicht nur ein untaugliches Quorum einführen, es möchte außerdem die Interessenabwägung dadurch weiter effektuieren, dass es auf Seiten des Klägers nurmehr auf dessen eigene wirtschaftliche Interessen ankommen soll. Hierdurch würden die konstatierten inhärenten Mängel des Freigabeverfahrens indessen bloß noch verschärft:89 Wie gesehen, zielt dieses auf eine verdeckte materielle Beschränkung des Anfechtungsrechts, die zum einen viel zu grobschlächtig wirkt, weil sie die Schwere des Mangels völlig ausblendet, andererseits methodensynkretistisch ist, weil sie die Anfechtungsbefugnis als solche (vermeintlich) unberührt lässt. Indessen sollte die Bestandskraft eingetragener Strukturmaßnahmen sich nicht nur in ein dogmatisch stimmiges System einfügen, sondern vor allem auch nicht auf der bloßen Abwägung wirtschaftlicher Interessen beruhen. Diesem Ansatz eindeutig vorzuziehen ist eine wesentlich feiner abgestimmte Regelung; sie setzt freilich eine tiefer greifende Revision des Beschlussmängelrechts voraus und sollte bei den durch die Anfechtung erzeugten Rechtsfolgen ansetzen. Diese gilt es zu differenzieren; denn nicht jeder Mangel rechtfertigt die – im Grundsatz rückwirkende – Vernichtung des Beschlusses. Zu weit an-

__________ 87 Bayer, Gutachten zum 67. DJT, 2008, E 107 f. 88 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrichtlinie (ARUG), S. 64, abrufbar unter www.bmj.bund.de. 89 Vgl. schon Schäfer, NJW 2008, 2536, 2543.

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gemesseneren Resultaten gelangt, wer zwar einerseits am bewährten Kern des Anfechtungsrechts als ein Instrument des objektiven Rechtsschutzes (auch „Polizeifunktion“ genannt) festhält, andererseits aber dessen Kassationsfolge auf wirklich gewichtige Fälle beschränkt. Auch an dieser Stelle ist deshalb zum Abschluss auf den Vorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht90 hinzuweisen, der diese Grundgedanken zu einem konkreten Reformvorschlag verdichtet hat. Demnach erhält der Richter die Möglichkeit, bei minder schweren Mängeln zwischen verschiedenen anderen Rechtsfolgen auszuwählen, die im Ergebnis die Präventions- und Rechtskontrollfunktion der Anfechtung wahren, ohne aber die Wirksamkeit des Beschlusses, mithin die rechtsgeschäftliche Grundlage der Strukturänderung, zu berühren. Eine solche Lösung legt ihre Wertungen offen, indem sie das Anfechtungsrecht als solches modifiziert und so auf die Schwere des Mangels abstimmt; sie ist einer rechtlich nicht vertretbaren Ausdehnung der Bestandskraft eindeutig vorzuziehen. Rafft sich der Gesetzgeber zu diesem Weg auf, ist die h. M. nicht länger zu ihrer zweifelhaften (und hier abgelehnten) Interpretation der von § 246a AktG und § 20 UmwG vermittelten Bestandskraft gezwungen, die zwar ergebnisgeleitet ist, für die man aber auf Basis des geltenden Rechts aus Sicht der Praxis Verständnis haben muss.

V. Zusammenfassung in Thesen 1. Die Frage nach der Bestandskraftwirkung ist sowohl für § 20 Abs. 2 UmwG als auch für § 246a Abs. 4 AktG dahin zu stellen, ob diese als Anwendungsfälle der Lehre vom fehlerhaften Verband (LfV) einzuordnen sind und deshalb Bestandskraft nur bis zur Nichtigerklärung des zugrunde liegenden Beschlusses erzeugen oder ob sie darüber hinaus eine „ewige Bestandskraft“ bewirken, die sich nicht mehr in allgemeine Lehren einfügen lässt. Im ersten Fall ist nur die echte Rückabwicklung – nach allgemeinem Zivilrecht – ausgeschlossen, im zweiten Fall käme auch eine Auflösung mit Wirkung nur für die Zukunft nicht mehr in Betracht. 2. Sie ist dahin zu beantworten, dass sämtliche der tatbestandlich von § 20 UmwG und § 246a AktG, aber auch von § 319 Abs. 6 AktG erfassten Strukturänderungen sich als Anwendungsfälle der LfV qualifizieren. 3. Im Umwandlungsrecht richten sich Wortlaut und Normzweck sowohl des § 20 Abs. 2 UmwG als auch der hiermit korrespondierenden Vorschrift des § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG lediglich gegen eine „Entschmelzung“ nach herkömmlichem Begriffsverständnis, wie es vor Inkrafttreten des § 352a AktG geherrscht hat, also gegen eine (echte) Rückabwicklung der Verschmelzung nach allgemeinem Zivilrecht, die von deren anfänglicher Unwirksamkeit ausgeht.

__________ 90 Dem Arbeitskreis gehören an: Butzke; Habersack; Hemeling; Kiem; Mülbert; Noack; Schäfer; Stilz; Vetter; seine Vorschläge sind veröffentlicht in AG 2008, 617.

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4. Auch in Bezug auf § 246a AktG spricht entgegen dem Verständnis der h. M. alles dafür, die im Falle des § 246a AktG bewirkte Bestandskraft ebenso aufzufassen wie im Falle des § 20 Abs. 2 UmwG. Zwar deuten insofern gewisse Anzeichen in der Gesetzesbegründung darauf hin, dass der Gesetzgeber von „ewiger Bestandskraft“ ausging. Und hierfür könnte auch sprechen, dass für die von § 246a Abs. 1 AktG angesprochenen Fälle eine allgemeine Regelung nach Art des § 20 Abs. 2 UmwG fehlt. Indessen sind die Andeutungen der Begründung ihrerseits weder eindeutig noch stringent, und ein Umkehrschluss aus § 246a Abs. 4 AktG erscheint auf den zweiten Blick mehr als zweifelhaft. Folglich spricht im Gegenteil alles dafür, die „verwirrende“ Rechtsfolgenanordnung durch §§ 242 Abs. 2 Satz 5, 246a Abs. 4 AktG in dogmatisch stimmiger Weise auszulegen. 5. Freigabeverfahren und Bestandskraft sind rechtlich höchst angreifbare Instrumente, das Problem missbräuchlicher Anfechtungsklagen zu bewältigen. Stattdessen sollte das Anfechtungsrecht selbst derart umgestaltet werden, dass nurmehr schwere Mängel zur Kassation des betroffenen Beschlusses führen. Eine solche Lösung, die ihre Wertungen offen legt, ist einer Ausdehnung der Bestandskraft jenseits dogmatisch zu rechtfertigender Grenzen eindeutig vorzuziehen. Rafft sich der Gesetzgeber hierzu auf, ist die h. M. nicht länger zu ihrer ergebnisgeleiteten (und hier abgelehnten) Interpretation der von § 246a AktG und § 20 UmwG vermittelten Bestandskraft gezwungen.

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Kapitalmarktrechtliche Transparenz bei der Aktienleihe Inhaltsübersicht I. Die Ausgangslage II. Transparenz des Marktgeschehens als kapitalmarktrechtliches Gebot III. Die Begriffe Wertpapierleihe und Aktienleihe in der Praxis IV. Die rechtliche Ausgestaltung V. Exkurs: Stimmrechte aus geliehenen Aktien VI. Die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten 1. Das Problem 2. Die gesetzliche Ausgangslage und die Praxis der Aufsicht 3. Die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten des Darlehensnehmers/ Käufers

a) Rechtslage bei der einfachen Aktienleihe b) Besonderheiten bei der Kettenleihe 4. Die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten des Darlehensgebers/Verkäufers a) Verlust der Aktien aa) Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG? bb) Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpHG? b) Erwerb des Rückübertragungsanspruchs, § 25 WpHG 5. Ergebnis und Konsequenzen für die Kapitalmarkttransparenz VII. Schlussfolgerungen: Erweiterte Berichtspflichten bei der Wertpapierleihe?

I. Die Ausgangslage Die Wertpapierleihe, zumal die Aktienleihe, die Securities Lending Transactions, wie diese Geschäfte im internationalen Kapitalmarkt bezeichnet werden, stehen auf dem Prüfstand. Das hat gute Gründe. Die Aktienleihe ist Grundlage für Leerverkäufe1, sie war und ist Grundlage für Steuervermeidungsgeschäfte2, sie ist Grundlage für das Anschleichen an Zielgesellschaften3 und anderes mehr. Befürchtet werden erhöhte Risiken für die gute Ordnung im Kapitalmarkt. Die Vorwürfe lauten, Leerverkäufe seien Auslöser erhöhter Volatilität der Kurse. Die Wertpapierleihe werde im Squeeze-out-Verfahren missbräuchlich eingesetzt4. Infrage stehen die Interessen anderer Marktteil-

__________ 1 Anstelle anderer: Kienle in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 105 Rz. 54. 2 Unfried, Steuerrecht und Dividenden-Stripping, 1998, S. 73 ff. Zur Rechtslage nach der Unternehmenssteuerreform 2008: Siehe § 8b Abs. 10 KStG sowie dazu Nöcker in Herrmann/Heuer/Raupach/Prinz/Wendt, Jahresband 2008, Kurzkommentar Unternehmenssteuerreform 2008, § 8b KStG Rz. J 07–11; Häuselmann, DStR 2007, 1379; Schnitger/Bildstein, DStR 2008, 202. 3 Siehe dazu: Die Schaeffler-Methode, Börsen-Zeitung v. 16.7.2008. 4 OLG München v. 23.11.2006 – 23 U 2006/06, AG 2007, 173; Fröde, NZG 2007, 729.

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nehmer, und befürchtet werden verbotener Insiderhandel und Marktmanipulation5. Und endlich ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass die überkommene Vorstellung des Aktionärs als Mitglied einer Gesellschaft mit Mitverwaltungsrechten und Vermögensrechten und als Risikoträger durch die Wertpapierleihe in ihr Gegenteil verkehrt werden kann („Empty-Voting“)6. Das hat in vielen Ländern zu rechtspolitischen Diskussionen geführt. So hat, um nur drei Beispiele zu nennen, die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) (künftig Eidgenössische Finanzmarktaufsicht) für den 1. Januar 2009 eine Revision der Meldepflichten für die Wertpapierleihe geplant7. Die UK-Financial Services Authority (FSA) hat neue Regeln in ihrem Code of Market Conduct angekündigt. Seit Juni 2008 sind neue „short selling disclosure rules“ in Kraft8. Und die US-Securities and Exchange Commission (SEC) hat mitgeteilt, dass die Regulation SHO9 aus dem Jahr 2004 ergänzt werden soll. Ziel sei es, die Zulässigkeit „nackter Leerverkäufe“ weiter einzuschränken10. Und jüngst wird sogar ein umfassendes Verbot von Leerverkäufen diskutiert. Also schiefes Licht auf krumme Geschäfte? Mitnichten! Securities Lending Transactions sind im internationalen Kapitalmarkt ganz und gar üblich, und zwar in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen11. Es handelt sich um „anerkannte Instrumente der Finanzmärkte, die zur Effizienzsteigerung führen können“12. Das gilt auch für die Leerverkäufe13. Und ihr Volumen ist eindrucksvoll: Die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) hat für das Jahr 2007 geschätzt, dass 20 % der kurzfristigen Verbindlichkeiten der Banken im Wege des Securities Lending finanziert werden. Nach dem Liquiditätsausweis der EBK betragen diese kurzfristigen Verbindlichkeiten etwa 245 Milliarden CHF.

__________ 5 Exemplarisch sind die Vorgänge um Markus Straub, siehe dazu den Bericht in: Der Spiegel, Heft 31 v. 28.7.2008, S. 76; und exemplarisch ist der Fast-Zusammenbruch der Investmentbank Bear and Stearns im März 2008. Vermutet wird, dass der Absturz der Aktienkurse durch Leerverkäufe verursacht wurde. Die Vorgänge werden zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Beitrags durch die SEC untersucht, siehe FAZ v.12.8.2008, S. 21. 6 Siehe dazu: Offenlegungsstelle der SWX Swiss Exchange, Jahresbericht 2006, S. 2; Hu/Black, 79 S. Cal. L. Rev. 811 (2006), sowie Fleischer, ZGR 2008, 185, 215 ff. 7 Siehe dazu den Erläuterungsbericht Juni/Juli 2008 der Eidgenössischen Bankenkommission. 8 FSA: Short Selling Instrument 2008; zu finden auf der Homepage der FSA. 9 Die Regulation SHO enthält ein Paket von regulatorischen Maßnahmen; siehe etwa 17. CFR 242–200. 10 Zitiert nach Goldberg, Börsen-Zeitung v. 24.7.2008, S. 8. 11 Technical Committee of the International Organization of Securities Commissions (IOSCO), Committee on Payment and Settlement Systems (CPSS), Securities Lending Transactions: Market Development and Implications, Juli 1999, S. 6 ff. 12 Bundesverband Deutscher Industrie/Deutsches Aktieninstitut, Positionspapier und Stellungnahme zum Entwurf eines Berichts mit Empfehlungen an die Kommission zur Transparenz institutioneller Investoren (2007/2239/(INI)) des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments v. 30.4.2008, S. 3. 13 UK Financial Services Authority, Discussion Paper on short selling 2002: Short selling is „a legitimate investment activity which plays an important role in supporting efficient markets“. Siehe ferner in: International Securities Lending Association (ISLA), Securities Lending and Short Selling, Juni 2008.

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Kapitalmarktrechtliche Transparenz bei der Aktienleihe

Die Marktgröße des Securities Lending liegt folglich bei rund 150 Milliarden CHF14. Die rechtlichen Ausgestaltungen dieser Transaktionen reichen von den Securities Loan Transactions über die Repurchase Agreements bis hin zu den SellBuyback Arrangements15. Und dabei handelt es sich nicht um neue Entwicklungen. Vielmehr reicht die Praxis der Wertpapierleihe bis ins 19. Jahrhundert zurück. Aber erst mit Beginn der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich ein großer Markt für entsprechende Geschäfte entwickelt. Allerdings ist erst mit dem Beinahe-Zusammenbruch des LTCM-Hedgefonds (Long-Term Capital Management) im Jahr 1998 auch das Bewusstsein für die Risiken dieser Geschäfte gewachsen.

II. Transparenz des Marktgeschehens als kapitalmarktrechtliches Gebot Das Bouquet von Rechtsfragen, die sich bei den vorgenannten Rechtsgeschäften ergeben, reicht von der Vertragsgestaltung über die gesellschaftsrechtlichen Fragen, etwa ob der Entleiher von Aktien zur Ausübung des Stimmrechts befugt ist – bis hin zu den steuerlichen Fragestellungen. Im Folgenden soll nur gefragt werden, welche kapitalmarktrechtlichen Mitteilungspflichten nach den §§ 21 ff. WpHG bei der Aktienleihe begründet werden. Dabei hat man sich Folgendes vor Augen zu führen: Transparenz des Marktgeschehens ist das oberste kapitalmarktrechtliche Gebot. Transparenz ist Teil der Kapitalmarkt- und Finanzplatzkultur. Transparenz ist die Voraussetzung für das Vertrauen der Anleger und sie ist ein – unvollkommenes – Instrument, um Insiderhandel und Marktmanipulation abzuwehren. Deshalb finden sich im Wertpapierhandelsgesetz, dem Grundgesetz des Kapitalmarkts, vielfältige Transparenzgebote. Dazu gehören auch die Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten bei Veränderungen des Stimmrechtsanteils an börsennotierten Gesellschaften. Ihre normative Rechtfertigung steht heute nicht mehr im Zweifel. Probleme ergeben sich aber bei der Anwendung im Einzelfall. Das gilt nicht nur für die Zurechnungsvorschriften und ihre Grenzen, sondern auch für die Voraussetzungen und den Umfang der Rechtsfolgen. Und all dies gilt auch für die Mitteilungspflichten bei der Aktienleihe; denn hier gilt es, eine ausgewogene Lösung zu finden, die sich zwischen den Erwartungen des Marktes an eine Offenlegung einerseits und der Abwehr bürokratischer Maßnahmen andererseits bewegt, die niemandem nützen, aber wegen der entstehenden Kosten und den drohenden Rechtsfolgen bei Verletzung der Mitteilungspflichten Leid bei den Beteiligten verursacht.

__________ 14 The Investor v. 11.4.2008, S. 22. 15 Technical Committee of the International Organization of Securities Commissions (IOSCO), Committee on Payment and Settlement Systems (CPSS), Securities Lending Transactions: Market Development and Implications, Juli 1999, S. 6 ff.

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Mit den folgenden Überlegungen soll dem akademischen Freund Karsten Schmidt gedankt, der Wissenschaftler geehrt und der an neuen Entwicklungen hoch interessierte Beobachter („Das Kapitalmarktrecht hält auch sonst das Aktienrecht in Bewegung“16) neugierig gemacht werden.

III. Die Begriffe Wertpapierleihe und Aktienleihe in der Praxis Die Begriffe „Wertpapierleihe“ und „Aktienleihe“ werden im Markt als Oberbegriffe eingesetzt. Vermittelt werden soll, dass Wertpapiere oder Aktien zeitweise überlassen werden. Und dabei werden ganz unterschiedliche Erscheinungsformen den Begriffen zugeordnet. Das bedeutet, dass die Praxis nicht nach dem Rechtstyp, dem Pflichteninhalt der Vertragsparteien und ihren wirtschaftlichen Motiven unterscheidet17. Und das bedeutet, dass die Praxis auch Kaufgeschäfte wie „Repurchase Transactions“ und „Sell-Buyback Agreements“18 als Wertpapierleihe bezeichnet. Bei den Begriffen „Wertpapierleihe“ und „Aktienleihe“ handelt es sich deshalb um untechnische Begriffe19. Denn anders als bei der Leihe nach § 598 BGB, bei der nur der Besitz am Leihgut auf den Entleiher übergeht und die nämliche Sache zurückzugeben ist, wird im Rahmen der hier zu behandelnden Wertpapierleihe auch das Eigentum an den Aktien auf den „Entleiher“ übertragen. Die Bezeichnung „Leihe“ beschreibt daher, wie erwähnt, lediglich die Natur des Rechtsgeschäfts, dass nämlich die Wertpapiere nur vorübergehend beim Entleiher verbleiben und dem Verleiher zu diesem Zweck ein Rückübertragungsanspruch am Ende der Leihdauer zusteht.

IV. Die rechtliche Ausgestaltung Untersucht man die Leistungspflichten der Vertragsparteien, so zeigt sich, dass drei Vertragstypen zu unterscheiden sind, nämlich – das Wertpapierdarlehensgeschäft, – das Repo-Geschäft und – die Sell-Buyback-Arrangements. Bei einem Wertpapierdarlehen handelt es sich um ein Sachdarlehen, das gemäß § 607 BGB den Darlehensgeber zur Verschaffung des Eigentums an Aktien und den Darlehensnehmer zur Zahlung eines Darlehensentgelts sowie zur Ab-

__________ 16 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 769. 17 Vgl. auch Cahn/Ostler, AG 2008, 221, 223 f. 18 Siehe Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 1, 21 ff., sowie Gillor, Der Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte der Europäischen Bankenvereinigung (EMA), 2006, S. 28, 36. 19 Ausführlich zum Begriff Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 1, sowie Cahn/Ostler, AG 2008, 221 ff.

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nahme und zur Rückübertragung der Aktien am Fälligkeitstag verpflichtet20. Im Unterschied zum Repo-Geschäft erfolgt die Lieferung von Aktien beim Wertpapierdarlehen nicht in erster Linie zur Kreditsicherung. Im Vordergrund steht vielmehr die wirtschaftliche Nutzbarkeit der darlehensweise erworbenen Aktien21. Besonders deutlich wird dies bei den sog. Leerverkäufen, die mit Hilfe von Wertpapierdarlehen durchgeführt werden22. Der auf fallende Kurse spekulierende Leerverkäufer verkauft zu einem hohen Aktienkurs Aktien, die er sich zuvor im Wege der Wertpapierleihe gegen ein Darlehensentgelt „geliehen“ hat. Fällt der Kurs, deckt sich der Leerverkäufer zum späteren Zeitpunkt am Markt mit der notwendigen Anzahl an Aktien ein, um damit seine Rückübertragungspflicht aus dem Darlehensvertrag erfüllen zu können. Als Gewinn bleibt ihm die Differenz zwischen dem erzielten Kaufpreis beim Leerverkauf und den Aufwendungen für die Ermöglichung des Leerverkaufs (Überlassungsentgelt für die Wertpapiere plus Kosten für die Beschaffung der rückzuübertragenden Aktien am Ende der Laufzeit). Die während der Laufzeit anfallenden Dividenden und Bezugsrechte stehen indessen nach den jeweiligen Rahmenverträgen dem Darlehensgeber zu23, der mit den zusätzlichen Leihzinsen seinen Ertrag aus den verliehenen Aktien optimiert24. Bei den Repurchase Agreements, die in der Sprache des Marktes auch als Repo-Geschäfte bezeichnet werden, schließen die Parteien einen Kaufvertrag unter gleichzeitiger Vereinbarung, dass die selben oder gleichartige Aktien zum selben oder einem anderen Preis zu einem späteren Zeitpunkt von dem Erstverkäufer zurückgekauft werden25. Repo-Geschäfte, die überwiegend den echten Pensionsgeschäften i. S. d. § 340b HGB zugeordnet werden26 (dabei handelt es sich um ein Regelungsproblem der Bilanzierung), haben unterschiedliche Zwecke. Sie dienen u. a. der Absicherung von Krediten, wobei der Käufer die Wertpapiere als Kreditsicherheit erhält. Bei dieser Vertragsgestaltung werden die Wertpapiere zum Marktpreis zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses verkauft und übertragen, und zwar zuzüglich von „Zinsen“ im weiteren Sinne, die – je nach Vertragsgestaltung – auf den Rückkaufpreis aufgeschlagen werden. Aus Sicht der Vertragsparteien stellt daher die Transaktion zum Zeitpunkt des Rückkaufs eine Kreditgewährung dar. Dabei kann ein Spekulationselement hinzukommen, wenn zusätzlich zur Verzinsung die Kursentwicklung berücksichtigt wird.

__________ 20 Vgl. Cahn/Ostler, AG 2008, 221, 222; Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 34; Schwintowski/ Schäfer, Bankrecht, 2. Aufl. 2004, § 22 Rz. 14; Dörge, Rechtliche Aspekte der Wertpapierleihe, 1993, S. 37 ff.; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2004, Rz. 13.8. 21 Vgl. Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 28; Cahn/Ostler, AG 2008, 221, 223 f. 22 Siehe dazu und zu weiteren Zwecken Cahn/Ostler, AG 2008, 221, 223, sowie Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 27 ff., 54. 23 Vgl. Nr. 6 Abs. 1 des Rahmenvertrags für Wertpapierdarlehen des Bundesverbands Deutscher Banken. 24 Vgl. Cahn/Ostler, AG 2008, 221, 223. 25 Technical Committee of the International Organization of Securities Commissions (IOSCO), Committee on Payment and Settlement Systems (CPSS), S. 7. 26 Siehe dazu anstelle anderer: Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 20 und 35.

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Bei den Sell-Buyback-Arrangements schließen die Vertragsparteien zwei getrennte Kaufverträge. Dabei ist die Lieferung der Aktien aufgrund des zweiten Kaufvertrags, also durch den Käufer des ersten Kaufvertrags, gestundet. Auch diese Rechtsgeschäfte stellen wirtschaftlich die Gewährung eines Kredits dar, mit Aktien als Kreditsicherheit. Die Gegenleistung für die Überlassung des gezahlten Kaufpreises als Kredit erfolgt wiederum durch einen erhöhten (Rück-)Kaufpreis, in dem die Zinsen eingerechnet sind, vereinbart im zweiten Kaufvertrag.

V. Exkurs: Stimmrechte aus geliehenen Aktien Umstritten ist, ob der Entleiher befugt ist, die Stimmrechte aus den darlehensbzw. sicherungsweise erworbenen Aktien auszuüben. Die entsprechenden Rahmenverträge sehen insoweit keine Beschränkungen vor. Dort heißt es vielmehr, dass mit der Lieferung der Wertpapiere das unbeschränkte Eigentum und die uneingeschränkte Verfügungsbefugnis auf die andere Partei übergehen27. „Unter Berücksichtigung des Zwecks der Wertpapierleihe und der berechtigten Interessen des Verleihers“ wird in der Literatur indessen vertreten, die Ausübung der Stimmrechte sei vertragswidrig und damit als unzulässig anzusehen28. Das überzeugt nicht. Zu trennen ist vielmehr zwischen der Zulässigkeit und einer möglichen Sanktion der Stimmrechtsausübung aus geliehenen Aktien. Während der Entleihdauer ist der Entleiher Stimmrechtsinhaber, denn er ist Aktionär. Eine isolierte Übertragung von Aktien ohne Stimmrecht sieht das deutsche Aktienrecht nicht vor (Abspaltungsverbot)29. Der Entleiher kann daher das Stimmrecht selbst dann ausüben, wenn der Vertrag dies ausdrücklich untersagt, denn dabei handelt es sich lediglich um eine schuldrechtliche Vereinbarung, die das gesellschaftsrechtliche Stimmrecht unberührt lässt. Eine andere Frage ist deshalb, ob sich der Entleiher durch eine vertragswidrige Stimmrechtsausübung schadensersatzpflichtig macht. Der Stimmrechtsausübung steht auch nicht § 405 Abs. 3 Nr. 2 AktG entgegen30. Danach handelt ordnungswidrig, wer zur Ausübung von Rechten in der Hauptversammlung Aktien eines anderen benutzt, die er sich zu diesem Zweck durch Gewährung besonderer Vorteile verschafft hat. Die Ordnungsnorm wird im Zusammenhang mit dem ebenfalls unzulässigen Stimmenkauf (vgl. § 405 Abs. 3 Nr. 6, 7 AktG) gelesen und soll Umgehungstatbestände ein-

__________

27 Vgl. Nr. 4. Abs. 5 des Rahmenvertrags für Wertpapierpensionsgeschäfte (Repos) des Bundesverbands Deutscher Banken und Nr. 2 Abs. 2 des Rahmenvertrags für Wertpapierdarlehen des Bundesverbands Deutscher Banken. 28 Kümpel/Peters, AG 1994, 525, 529; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2004, Rz. 13.52. 29 Anstelle aller: Hüffer, AktG, 8. Aufl. 2008, § 8 Rz. 30. 30 So aber Kümpel (Fn. 28), Rz. 13.52 f.; ähnlich: Claussen, Bank- und Börsenrecht, 3. Aufl. 2003, § 9 Rz. 209; im Gegensatz dazu aber: Ekkenga in Claussen, Bank- und Börsenrecht, 4. Aufl. 2008, § 6 Rn. 205; Gesell, Wertpapierleihe und Repurchase Agreement im deutschen Recht, 1995, S. 129.

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fangen, wozu gerade auch die Aktienleihe gehört31. Voraussetzung nach § 405 Abs. 3 Nr. 2 AktG ist allerdings die Benutzung anderer (fremder) Aktien. Während der Entleihdauer verfügt der Darlehensnehmer als Eigentümer jedoch über eigene Aktien32. Aber selbst wenn man mit Blick auf den Wortlaut einen Eigentumswechsel fordert („… Aktien, die er sich … verschafft hat“) und man deshalb für § 405 Abs. 3 Nr. 2 AktG auf das wirtschaftliche Eigentum des Verleihers abstellen würde, wäre die Stimmrechtsausübung deswegen nicht etwa unwirksam. Im Gegenteil, aus den Ordnungsvorschriften folgt vielmehr, dass die Stimmrechtsausübung zwar möglich ist, der Täter jedoch mit einem Bußgeld rechnen muss. Im Einzelfall mag die Berufung auf den Stimmrechtsbesitz freilich rechtsmissbräuchlich sein, wenn Aktien allein zum Zwecke der Erreichung eines bestimmten Quorums, etwa zum Abschluss eines Beherrschungsvertrags oder zur Durchführung eines Squeeze-Outs ausgeliehen werden33. Für die hier relevante Frage nach den kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten der an der Aktienleihe beteiligten Parteien kann dies aber nicht entscheidend sein. Nach zutreffender herrschender Ansicht ist der Entleiher somit während der Entleihdauer als stimmrechtsberechtigt anzusehen, vorausgesetzt freilich, dass er die Aktien nicht weiterüberträgt34.

VI. Die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten 1. Das Problem Die voranstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass die rechtsgeschäftliche Ausgestaltung ganz unterschiedlich ist. Beim Wertpapierdarlehensgeschäft handelt es sich um ein Sachdarlehen. Bei den Repurchase Agreements und bei den Sell-Buyback-Arrangements handelt es sich um Kaufverträge. Gemeinsam ist, dass der Darlehensgeber und der Verkäufer der Aktien jeweils das Eigentum an den Aktien auf den Darlehensnehmer bzw. auf den Käufer übertragen und dieser Aktionär wird. Damit stellt sich einerseits beim Darlehensgeber bzw. beim Verkäufer und andererseits beim Darlehensnehmer bzw. beim Käufer der Aktien die Frage, ob sie mitteilungspflichtig sind. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass Darlehensgeber und Darlehensnehmer bzw. die Vertragsparteien des Kaufvertrags Vereinbarungen über die Ausübung von Stimmrechten treffen. Zu fragen ist,

__________ 31 Siehe Kümpel (Fn. 28), Rz. 13. 53 mit Verweis auf Geilen in KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1988 ff., § 405 AktG Rz. 96. 32 So Opitz in Schäfer/Hamann, 2. Aufl. 2007, § 22 WpHG Rz. 44, mit Hinweis auf die zivilrechtliche Eigentumslage. 33 Siehe die Nachweise bei Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 50 Fn. 1 und 2 (S. 985); OLG München v. 23.11.2006 – 23 U 2006/06, AG 2007, 173. 34 Uwe H. Schneider in Assmann/Uwe H. Schneider, 4. Aufl. 2006, § 22 WpHG Rz. 69; Burgard, BB 1995, 2073; Bayer in MünchKomm.AktG, 3. Aufl. 2008, § 22 Anh § 22 WpHG Rz. 21; Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 50 m. w. N. und dem Hinweis darauf, dass gegen eine Stimmrechtsbindung auch spricht, dass der Darlehensnehmer berechtigt ist, darlehensweise erhaltene Aktien weiterzuveräußern, ein Erwerber jedoch keinerlei Bindungen gegenüber dem Darlehensgeber unterliegt.

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ob dies Auswirkungen auf die Meldepflicht hat oder haben sollte. Und in die Überlegungen mit einzubeziehen ist die Kettenleihe, nämlich der Umstand, dass der Entleiher die Aktien weiterverleiht und weiterüberträgt und selbst nur kurzfristig Aktionär ist, wenn nicht ohnehin unmittelbar vom ersten Verleiher auf den zweiten Entleiher übertragen wird. Da es hier vielfältige Gestaltungen gibt, werden im Folgenden nur die Grundfälle in den Blick genommen. Ziel der Offenlegung bei der Wertpapierleihe sollte sein, dass der Markt erkennt, dass nur zeitweise Aktien übertragen werden, dass der Entleiher Aktionär wird und ihm die Stimmrechte zustehen, dass der Verleiher gegebenenfalls Einfluss auf die Ausübung der Stimmrechte hat und dass der Verleiher zu gegebener Zeit seine Aktien zurückerhält. 2. Die gesetzliche Ausgangslage und die Praxis der Aufsicht Weder §§ 20 ff. AktG noch die §§ 21 ff. WpHG handeln ausdrücklich von der Wertpapierleihe. Das bedeutet, dass die Vorgänge im Lichte der allgemeinen Vorschriften zu bewerten sind. Anders ist die Lage in der Schweiz. Nach Art. 12 der Verordnung der Eidgenössischen Bankenkommission über den Börsen- und Effektenhandel sind Leihgeschäfte der Meldepflicht nur dann unterstellt, „wenn der Borger der Beteiligungspapiere das Stimmrecht ausüben kann“. Und weiter heißt es: „Vergleichbare Geschäfte wie insbesondere die Veräußerung von Beteiligungspapieren mit Rückkaufverpflichtung (sog. „Repo-Geschäfte“) sind der Meldepflicht nur dann unterstellt, wenn der Erwerber der Beteiligungspapiere das Stimmrecht ausüben kann“. Dies wurde teilweise so verstanden, dass eine Meldepflicht erst dann entstehen sollte, wenn der Erwerber im Aktienbuch eingetragen ist. Und das wäre eine eindrucksvolle Vermeidungsstrategie gewesen. Um diese und andere Ungereimtheiten zu beseitigen, ist vorgesehen, ab 1. Januar 2009 Art. 12 Abs. 2 und 3 wie folgt zu fassen: „Meldepflichtig ist die Vertragspartei, welche im Rahmen solcher Geschäfte die Beteiligungspapiere vorübergehend übernimmt; bei Leihgeschäften der Borger, bei Geschäften mit Rückkaufsverpflichtung der Erwerber und bei Sicherungsübereignungen der Sicherungsnehmer. Bei Ablauf des Geschäfts entsteht für die zurückgebende Vertragspartei bei Grenzwertberührungen eine neuerliche Meldepflicht.“ Das bedeutet, dass künftig für den Verleiher, also den Darlehensgeber, bzw. Verkäufer keine Meldepflicht besteht. Die deutsche Aufsichtspraxis nimmt gelegentlich zu Einzelfragen Stellung, die sich bei der Auslegung der §§ 21 ff. WpHG ergeben. So heißt es im Jahresbericht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aus dem Jahr 200435: „Keine Besonderheiten bestehen bei der einfachen Wertpapierleihe. Da hier die verliehenen Aktien vom Darlehensnehmer nicht weiterveräußert werden dürfen, werden die Stimmrechte dem Darlehensgeber weiter zugerechnet“. Die Rechtsgrundlage für diese Zurechnung wird nicht genannt.

__________ 35 Jahresbericht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht 2004, S. 205.

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Nicht ausdrücklich erwähnt ist, ob auch der Darlehensnehmer meldepflichtig ist. Und weiter heißt es, Zurechnungsprobleme könnten sich aber bei der Ketten-Wertpapierleihe ergeben. Die BaFin geht davon aus, „dass schon im Zeitpunkt des Abschlusses des Wertpapierdarlehens und der Übertragung der Aktien an den Darlehensnehmer die Zurechnung zum Darlehensgeber endet. Bereits ab diesem Zeitpunkt hat der Darlehensgeber etwaig entstehende Meldepflichten zu beachten“. Auf eine tatsächliche Weiterveräußerung durch den Darlehensnehmer komme es nicht an. Und weiter wird an ziemlich versteckter Stelle36 ausgeführt, dass der Darlehensgeber wegen seines Rückforderungsanspruchs nicht meldepflichtig sei. Auch hier fehlt die Begründung. Im Entwurf eines Emittentenleitfadens Oktober 2008 wird unter I.2.5.2.2. diese Ansicht weitgehend bestätigt. Sowohl bei der einfachen Wertpapierleihe wie auch bei der Ketten-Wertpapierleihe geht die BaFin davon aus, „dass schon im Zeitpunkt des Abschlusses des Wertpapierdarlehens und der Übertragung der Aktie an den Darlehensnehmer die Zurechnung zum Darlehensgeber endet“. Der Darlehensgeber habe daher schon bei Verlust seines Eigentums die Schwellenunterschreitung zu melden. Erhalte er das Eigentum zurück, melde er eine Schwellenüberschreitung. Dies vorausgeschickt, ergibt sich für die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten der an einer Aktienleihe Beteiligten nachfolgendes Bild. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Jahr 2004 noch keine besondere Meldepflicht für Aktienerwerbsrechte aus Finanzinstrumenten bestand. § 25 WpHG wurde erst durch das Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz37 ins WpHG aufgenommen. 3. Die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten des Darlehensnehmers/Käufers a) Rechtslage bei der einfachen Aktienleihe Wenig problematisch stellen sich die Meldepflichten des Darlehensnehmers/ Käufers bei der einfachen Aktienleihe dar. Dieser ist nämlich nach der Übertragung der Aktien neuer Inhaber der „geliehenen“ Aktien. Er ist neuer Aktionär und demgemäß nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG meldepflichtig, sofern einer der dort genannten Schwellen erreicht oder überschritten wird. Für die Meldepflicht des Entleihers spielt es keine Rolle, ob er das Stimmrecht frei von Weisungen des Verleihers ausüben kann. Es findet auch keine Absorption statt, wenn und weil die Stimmrechte zugleich dem Verleiher zugerechnet werden, vorausgesetzt eine solche Zurechnung findet statt.

__________ 36 BaFin, Häufig gestellte Fragen zu den §§ 21 ff. WpHG, Stand 11.6.2007. 37 Gesetz v. 5.1.2007 zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz – TUG), BGBl. I S. 10.

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Werden am Ende der Leihzeit die Aktien wieder auf den Verleiher zurückübertragen, so hat der Entleiher entsprechend das Unterschreiten der Meldeschwelle mitzuteilen. Nicht offengelegt werden muss dagegen, welche Absichten der Entleiher mit den geliehenen Aktien verfolgt, ob insbesondere Leerverkäufe getätigt werden sollen, ob die Stimmrechte zur Einflussnahme in der Hauptversammlung eingesetzt werden sollen oder ob der Verleiher sich Weisungsrechte über die Ausübung der Stimmrechte vertraglich vorbehalten hat. Durch entsprechende Verteilung des wirtschaftlichen Risikos (Kursrisiko, Dividendenrisiko, etc.) wird ermöglicht, das ökonomische Risiko und das Stimmrecht zu entkoppeln (sog. Empty Voting38). b) Besonderheiten bei der Kettenleihe Zweifelhaft könnte allerdings sein, ob auch dann eine Meldepflicht wegen des Überschreitens relevanter Meldeschwellen entsteht, wenn der Darlehensnehmer im Rahmen einer Kettenleihe die Aktien kurzfristig weiterüberträgt. Nach Art. 9 der Schweizerischen Börsenverordnung-EBK in der Fassung vom 1.11.2007 ist ein vorübergehendes Erreichen, Über- oder Unterschreiten eines Grenzwertes innerhalb eines Börsentages (Intraday) nicht meldepflichtig. Ob dies mit dem Sinn und Zweck der Mitteilungspflichten zu vereinbaren ist, soll hier nicht weiter vertieft werden. Entscheidend ist, dass im deutschen Recht eine vergleichbare Regelung fehlt. § 21 WpHG kennt keine Mindesthaltedauer, weshalb auch ein kurzfristiges Über- oder Unterschreiten von Meldeschwellen mitteilungspflichtig ist39. Davon zu trennen ist die von der BaFin zugelassene Möglichkeit der tagesweisen Saldierung von Stimmrechtszu- und abnahmen40. Im Übrigen gelten für die Kettenleihe dieselben Grundsätze wie für die einfache Aktienleihe. Dabei ist die doppelte Beteiligungsrolle des Entleihers zu berücksichtigen, der sowohl Erwerber (1. Stufe) als auch Darlehensgeber oder Verkäufer (2. Stufe) der Leihaktien ist. Überträgt der Entleiher die erworbenen Aktien auf einen Dritten, hat er zunächst den Erwerb und sodann im Blick auf das zweite Rechtsgeschäft seinen Stimmrechtsverlust bei Unterschreiten einer relevanten Schwelle zu melden. Eine meldepflichtige Stimmrechtsunterschreitung tritt allerdings dann nicht ein, wenn ihm, dem Entleiher, die Stimmrechte aus den weiterübertragenen Aktien zugerechnet werden, die Weiterübertragung der Aktien also lediglich eine einfache Umschichtung darstellt. In diesem Fall wird keine Meldeschwelle über- oder unterschritten, sondern es ändert sich lediglich die anwendbare Norm, die zur Meldepflicht führt (dazu

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38 Siehe dazu: Offenlegungsstelle der SWX Swiss Exchange, Jahresbericht 2006, S. 2; Hu/Black, 79 S. Cal. L. Rev. 811 (2006), sowie Fleischer, ZGR 2008, 185, 215 ff. 39 BaFin, Häufig gestellte Fragen zu den §§ 21 ff. WpHG, Stand 11.6.2007. A. A. (teleologische Reduktion) Kümpel/Veil, Wertpapierhandelsgesetz, 2. Aufl. 2006, S. 155; Steuer/Baur, WM 1996, 1483; Assmann in Lutter/Scheffler/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 12 Rz. 12.72; wie hier etwa Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 64. 40 Siehe BaFin, Häufig gestellte Fragen zu den §§ 21 ff. WpHG, Stand 11.6.2007.

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sogleich bei den Meldepflichten des Verleihers unter 4.). Rücküberträgt der Dritte die Aktien wieder an den Entleiher, so hat Letzterer den (Rück-)Erwerb und bei einer anschließenden Weiterübertragung an den Verleiher oder an einen Vierten auch den Verlust der Stimmrechte zu melden, vorausgesetzt freilich, die in § 21 WpHG genannten Meldeschwellen werden berührt. 4. Die kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten des Darlehensgebers/Verkäufers a) Verlust der Aktien Spiegelbildlich zur Erwerbsmeldung des Entleihers kann die darlehensweise Übertragung der Aktien auf den Darlehensnehmer bzw. Käufer dazu führen, dass der Darlehensgeber bzw. Verkäufer wegen Unterschreitens einer nach § 21 Abs. 1 Satz 1 WpHG relevanten Schwelle meldepflichtig wird. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass bei der einfachen Umschichtung die Meldepflicht entfällt, wenn und weil sich an dem Anteil der gehaltenen Stimmrechte aus Aktien im Ergebnis nichts ändert. Die Verlustmeldung des Verleihers hängt damit entscheidend davon ab, ob die Stimmrechte aus den verliehenen Aktien auch nach der Aktienübertragung dem Verleiher weiter zuzurechnen sind. Als Zurechnungsgrund kommen sowohl § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Nr. 341 als auch Nr. 5 WpHG in Betracht. aa) Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG? Nach teilweise vertretener Ansicht sind die Stimmrechte aus den verliehenen Aktien dem Verleiher stets nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG zuzurechnen, „so dass bei ihm keine meldepflichtige Veränderung eintritt“42. Begründet wird dies damit, dass der Verleiher wirtschaftlicher Eigentümer der Aktien ist, da er nach der Ausgestaltung der jeweiligen Rahmenverträge den alleinigen Nutzen aus der Sache zieht und ihm die Wertsteigerung der Aktien zugute kommt43. Das Tatbestandsmerkmal „für Rechnung“ in § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG beschreibt indes einen Zustand, der typischerweise auf Treuhandverhältnisse zugeschnitten ist44. Die Stimmrechtszurechnung ist bei Treuhandfällen mit der Zurechnung der wirtschaftlichen Chancen und Risiken aus den Aktien gegenüber dem Treugeber verbunden. Eine treuhandgleiche Verbindung zwischen Verleiher und Entleiher liegt bei den typischen Aktienleihgeschäften

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41 Wurden die Aktien „lediglich“ zu Sicherungszwecken übereignet, handelt es sich also um ein Pensionsgeschäft i. S. d. § 340b HGB, soll nach Ansicht von Cahn/Ostler, AG 2008, 221, 230 mit Fn. 49, – entgegen der herrschenden Lehre – § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 (anstelle der Nr. 2) WpHG richtiger Zurechnungsgrund sein. 42 Kümpel (Fn. 28), Rz. 13. 51.; Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 34), § 22 Anh § 22 WpHG Rz. 21; möglicherweise auch Kienle (Fn. 1), § 105 Rz. 64. 43 Siehe Kümpel (Fn. 28), Rz. 13. 55. f.; vgl. auch Bayer in MünchKomm.AktG (Fn. 34), § 22 Anh § 22 WpHG Rz. 21. 44 Vgl. Uwe H. Schneider in Assmann/Uwe H. Schneider (Fn. 34), § 22 WpHG Rz. 45 ff.

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jedoch nicht vor. Zwar stehen nach den Master-Agreements45 die Dividenden und Bezugsrechte weiterhin dem Entleiher zu. Im Übrigen verfolgen die Parteien aber ganz unterschiedliche Ziele, ohne in einem besonderen Vertrauensverhältnis zueinander zu stehen. Die zum Teil postulierte Anknüpfung allein an das wirtschaftliche Eigentum als Zurechnungsgrund reicht bei bloßen Leihgeschäften daher weder im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 noch – hier ist das offensichtlich – im Rahmen der Nr. 3 WpHG aus46. Mit Blick auf Sinn und Zweck der kapitalmarktrechtlichen Meldepflichten kann nicht allein entscheidend sein, wer den Nutzen aus den Wertpapieren zieht und sie deshalb etwa auch während der Entleihdauer in seiner Bilanz auszuweisen hat. Vielmehr ist entscheidend, dass der Verleiher auch nach der Aktienübertragung die Möglichkeit hat, auf die Stimmrechtsausübung durch den Entleiher Einfluss zu nehmen47. Geht man hiervon aus, so findet im Regelfall keine Stimmrechtszurechnung gegenüber dem Verleiher nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG statt, denn die einschlägigen Master-Agreements sehen insoweit – wie eingangs erwähnt – keinerlei Stimmrechtsbeschränkungen zu Lasten des Entleihers vor. Unklar ist allerdings, von welcher Intensität die vorausgesetzte Möglichkeit der Einflussnahme sein muss, um eine Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG auszulösen. Ein einfaches Stimmrechtsausübungsverbot wird man wohl nicht genügen lassen. Die Folge wäre nämlich, dass keiner, weder der Entleiher noch der Verleiher, die Stimmrechte aus den Aktien ausüben könnte – ein Ergebnis, das mit Sinn und Zweck der Zurechnungsnorm nicht im Einklang steht. Ebenso ist fraglich, ob es jedenfalls genügt, dass die Papiere noch vor der nächsten (Jahres-)Hauptversammlung rückzuübertragen sind. Damit bleibe nämlich die Möglichkeit auch des Entleihers unberücksichtigt, seine (vorübergehende) Stimmrechtsmacht auf einer außerordentlichen Hauptversammlung geltend zu machen (vgl. dazu § 122 AktG). Als klaren Anwendungsfall des § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG wird man daher lediglich solche Aktienleihgeschäfte qualifizieren können, die dem Verleiher ein aktives Weisungsrecht einräumen, ob und wie der Verleiher die Stimmrechte aus den verliehenen Aktien auszuüben hat. Dabei muss es sich nicht um ein vertragliches Weisungsrecht handeln. Ausreichend, wenn auch regelmäßig schwer nachweisbar, ist die taktische Einflussnahmemöglichkeit.48 bb) Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpHG? Nimmt man allein die Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG in den Blick, so würde dies bedeuten, dass der Darlehensgeber nur dann nicht

__________ 45 Siehe insbesondere das Global Master Securities Lending Agreement (GMSLA), abrufbar auf der Homepage der International Securities Lending Association (ISLA). 46 Krit. zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise: Fleischer/Schmolke, ZIP 2008, 1501, 1505. 47 H. M., vgl. Uwe H. Schneider in Assmann/Uwe H. Schneider (Fn. 34), § 22 WpHG Rz. 71; Opitz in Schäfer/Hamann (Fn. 32), § 22 WpHG Rz. 48; v. Bülow in KölnKomm.WpHG, 2007, § 22 WpHG Rz. 80 und 84 jeweils m. w. N. 48 Anstelle anderer: v. Bülow in KölnKomm.WpHG (Fn. 47), § 22 WpHG Rz. 84.

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meldepflichtig ist, wenn er sich ein Weisungsrecht vorbehalten hat. Denn nur dann liegt eine qualifizierte Umschichtung vor. Dagegen wäre er meldepflichtig, wenn er sich kein Weisungsrecht vorbehalten hat. Überzeugend ist das Ergebnis gewiss nicht. Denn der Markt würde davon ausgehen, dass der Darlehensgeber endgültig seine Stimmrechtsposition aufgegeben hat, was aber ganz und gar nicht der Fall ist. Erwogen wird daher auch eine Zurechnung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpHG. Dabei ist streitig, ob hierfür der mit dem Darlehensgeschäft entstandene schuldrechtliche Rückerwerbsanspruch für die Stimmenrechtszurechnung ausreicht49. Die wohl herrschende Ansicht lehnt dies jedenfalls nach Einführung des § 25 WpHG n. F. ab50 – und erhält Unterstützung durch die Gesetzesbegründung zum Transparenzrichtlinien-Umsetzungsgesetz (TUG). Danach sollen nämlich ausdrücklich nur dingliche Erwerbsrechte